Migration und Herabsetzung: Invektive Dynamiken in italienischen Migrationserzählungen 9783839466148

Migrationsprozesse und die damit einhergehenden sozialen Konflikte in den Aufnahmegesellschaften sind mit vielgestaltige

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Migration und Herabsetzung: Invektive Dynamiken in italienischen Migrationserzählungen
 9783839466148

Table of contents :
Inhalt
Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung
Liebe, Verdacht, Invektivität
Documenting the Transnational Alps: THE MILKY WAY (2020)
Invektive Konstellationen und Identitätskonstruktion in Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed
Herabsetzung und Gewalt bezeugen
Tra divertissement e conflitto
Priva di identità?
Spazi di conflittualità
»Cinesi di merda«
Autor:innen

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Gabriel Deinzer, Franziska Teckentrup, Elisabeth Tiller (Hg.) Migration und Herabsetzung

Edition Kulturwissenschaft Band 283

Gabriel Deinzer studierte Romanistik (Französisch/Italienisch) an der Technischen Universität Dresden und an der Université de Haute-Alsace Mulhouse. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter im italianistischen Teilprojekt M des Sonderforschungsbereichs 1285 »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung« hat er seine Dissertation zu zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen verfasst. Franziska Teckentrup studierte Romanistik an den Universitäten in Tübingen, Aixen-Provence, Dresden und Trento. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt M des Sonderforschungsbereichs 1285 »Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung« und forschte dort zu aktuellen literarischen Immigrationserzählungen aus Italien. Elisabeth Tiller ist Professorin für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Sie leitete das SFB 1285-Teilprojekt M »Invektivität in literarischen und filmischen Darstellungen von Migration im Italien des 20./21. Jahrhunderts«. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Migrationserzählungen, Fiktionalität und Faktualität, Gender Studies, Raumtheorie sowie Frühneuzeitforschung.

Gabriel Deinzer, Franziska Teckentrup, Elisabeth Tiller (Hg.)

Migration und Herabsetzung Invektive Dynamiken in italienischen Migrationserzählungen

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 317232170 - SFB 1285.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Berit Weingart Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839466148 Print-ISBN 978-3-8376-6614-4 PDF-ISBN 978-3-8394-6614-8 Buchreihen-ISSN: 2702-8968 Buchreihen-eISSN: 2702-8976 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung Zur Einführung Gabriel Deinzer, Franziska Teckentrup und Elisabeth Tiller.............................7 Liebe, Verdacht, Invektivität Migrationsbezogene Stereotype und deren narrative Verhandlung bzw. Fortschreibung in L’amore non perdona (2015) von Stefano Consiglio Gabriel Deinzer..................................................................... 23 Documenting the Transnational Alps: THE MILKY WAY (2020) Sabine Schrader ................................................................... 49 Invektive Konstellationen und Identitätskonstruktion in Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Maria Kirchmair ..................................................................... 71 Herabsetzung und Gewalt bezeugen Sex work und Migration in Le ragazze di Benin City (2007) und Il mio nome è Wendy (2007) Berit Weingart ..................................................................... 99 Tra divertissement e conflitto L’invettività nella scrittura di Ornela Vorpsi e Milton Fernàndez Silvia Camilotti.................................................................... 135 Priva di identità? Postmigrantische Perspektiven und Invektivität Franziska Teckentrup ............................................................. 153

Spazi di conflittualità Amiche per la pelle di Laila Wadia Lara Michelacci ................................................................... 183 »Cinesi di merda« Dystopische Variationen migrationsbezogener Invektivität in T. Pincios Cinacittà (2008) und A. Scuratis La seconda mezzanotte (2011) Elisabeth Tiller .................................................................... 205 Autor:innen ...................................................................... 259

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung Zur Einführung Gabriel Deinzer, Franziska Teckentrup und Elisabeth Tiller

Literarische und filmische Migrationserzählungen entstehen in Italien mit deutlich wachsender Frequenz seit den frühen 1990er Jahren. In der Regel wird in diesen Narrationen das nach 1989 in Italien virulent werdende Konfliktfeld ›Immigration‹ thematisiert, gelegentlich aber ebenso das aufgegriffen, was Italien seit dem späten 19. Jahrhundert bis hinein in die 1970er Jahre war: ein typisches Emigrationsland, das nicht nur phasenweise nahezu eine Million Menschen pro Jahr ›verloren‹ hat, sondern gerade auch in den 1950er und 1960er Jahren starken Binnenmigrationswanderungen ausgesetzt war. Mit der nach 1989 verstärkt anhebenden Immigration wandelt sich Italien in kürzester Zeit zum Einwanderungsland und wird zusehends durch Konkurrenzen und Konfrontationen gezeichnet, die das Thema ›Migration‹ bis heute zu einem zentralen Element der öffentlichen, der politischen Diskurse machen. Fiktionale Inszenierungen dieser spannungsgeladenen Gemengelage haben sich seither in der literarischen wie der filmischen Produktion zu einem Marktfaktor entwickelt. Migrationserzählungen intervenieren in die anhaltenden gesellschaftlichen Diskussionen und strukturieren Problembereiche, zeigen ›typische‹ Migrationskonstellationen oder ›übersetzen‹ Einzelschicksale in medienspezifisch modellierte, genregerecht aufbereitete und entsprechend emotionalisierte Narrativvariationen, welche die Vielfalt des Erlebens und Erleidens von Migration nachvollziehbar machen. Die Narrationen schließen das gesellschaftliche Konfliktfeld also nicht nur narrativ auf, sondern liefern zugleich eine kognitive Rahmung, die spezifische Aspekte von Migration scharf stellt, möglicherweise reflexiv macht oder aber ›normalisiert‹. Mit dem vorliegenden Sammelband möchte das Teilprojekt M Invektivität in literarischen und filmischen Darstellungen von Migration im Italien des 20./21. Jahr-

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Gabriel Deinzer, Franziska Teckentrup und Elisabeth Tiller

hunderts des Sonderforschungsbereichs 1285 Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung zum Ende der Förderphase einige Überlegungen und Ergebnisse zusammentragen, die sich – nicht zuletzt im Gespräch mit vielen Kolleg:innen – konturiert und zueinander gefügt haben. Wir möchten auf diesem Wege Impulse für weitere Untersuchungen geben und dem Nachdenken über gesellschaftliche Selbstverständigung sowie die moderierenden Potenziale von Narrationen einige Aspekte zur Seite stellen, die uns und einigen unserer Diskutant:innen in der Beschäftigung mit Migrationserzählungen durch die Linse der Invektivitätsanalytik bedenkenswert scheinen. Das durch den SFB 1285 erarbeitete Forschungsfeld zur Invektivität 1 verfolgt seit Juli 2017 das Ziel, aus interdisziplinärer Perspektive Konstellationen und Dynamiken der verbalen, gestischen oder ikonographischen Herabsetzung sowie Kennzeichen von deren gesellschaftlicher Verhandlung zu beschreiben, zu analysieren und theoretisch einzukreisen. Dabei rückt ein breites Spektrum alltäglicher Kommunikations- und Interaktionsformen in den Blick, das von Schelt- und Schimpfworten über Spott, Schmähung, Lästerung, Beschämung und Bloßstellung bis zu Ausgrenzung via Hassrede reicht. Das die aufgezählten Herabsetzungsphänomene verbindende Moment definiert Gerd Schwerhoff wie folgt: Als deren gemeinsame ›invektive‹ Qualität soll verstanden werden, dass hier stets mittels verbaler (mündlicher oder schriftlicher) oder nonverbaler (gestischer oder bildlicher) Kommunikationsakte Bewertungen von Personen oder Gruppen vorgenommen werden, die geeignet sind, ihre soziale Position negativ zu verändern, sie zu diskriminieren und gegebenenfalls auszuschließen.2 Diese abwertenden Kommunikations- und Interaktionsformen haben jedoch nicht nur destruktive Effekte – in Gestalt sozialer Marginalisierung und Exklusion sowie resultierender psychophysischer Verletzungen aufseiten der Invektierten –, sondern sind zugleich produktiv, indem sie etwa über die Devalorisierung der ›Anderen‹ Identitäts- und Gemeinschaftsbildung vorantreiben.

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Vgl. hierzu Ellerbrock, Dagmar et al.: »Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften«, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2 (2017), S. 2–24. Schwerhoff, Gerd: »Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept«, in: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 1–36, hier S. 11f.

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung

Auf Phänomenebene manifestiert sich Invektivität somit als ein zentraler Motor gesellschaftlicher Transformation, der die Aushandlung und Veränderung sozialer Positionierungen bzw. kultureller Ordnungen und der damit verbundenen Praktiken dynamisiert. Auf analytischer Ebene dient Invektivität hingegen als kognitive Schnittstelle, die konfliktförmige Konstellationen und Dynamiken sowohl im sozialen Raum als auch in medialen Settings transhistorisch und kulturübergreifend erfassbar macht. Das Konzept der Invektivität bezieht sich dabei nicht allein auf einzelne Kommunikationsakte. Es fokussiert vielmehr im selben Maße auf deren Ermöglichungszusammenhänge – also darauf, in welchen sozialen und situativen Kontexten, diskursiven Rahmungen sowie medialen Umgebungen ein kommunikatives Geschehen zu Invektivgeschehen wird. Die Gesamtheit der jeweiligen Bedingungsfaktoren wird invektivitätstheoretisch als Konstellation beschrieben.3 Im Rahmen solcher Konstellationen ist in Hinblick auf die Frage nach dem invektiven Gehalt einer (Sprech-)Handlung nicht zwangsläufig die Absicht der sich Äußernden oder Agierenden entscheidend. Ausschlaggebend ist vielmehr, ob die entsprechenden Äußerungen oder Verhaltensweisen durch die Adressierten/Betroffenen bzw. das Publikum als dritter Partei im Bunde als herabsetzend aufgefasst werden. Demnach verschiebt sich der Fokus bei der Deutung invektiver Akte von der Intentionalität auf den Aspekt der Anschlusskommunikation,4 welche die Form unmittelbarer körperlicher bzw. emotionaler Reaktionen, sprachlicher Kommentierungen oder auch späterer medialer bzw. kultureller Verarbeitungen annehmen kann – nicht zuletzt in literarischen und filmischen Erzählungen. Im Verlauf derartiger Anschlusskommunikationen ist es durchaus möglich, dass ein invektives Ereignis mehrmals umgedeutet und unterschiedlich bewertet wird. Invektivgeschehen gestaltet sich demzufolge als dynamischer, in der Zeit kontingenter Prozess. Neben Invektivkonstellationen und -dynamiken, die aus singulären Akten in spezifischen Ermöglichungszusammenhängen hervorgehen, sowie Invektivgeschehen, das sich von Ermöglichungszusammenhängen über invektive Konstellationen bzw. Akte bis zu deren möglicherweise lange anhalten Effekten erstreckt, stehen bei der Auseinandersetzung mit Invektivität darüber hinaus Formen ›struktureller‹ Herabsetzung im Blick. Gemeint sind Invektivitätsformen, die in sozialen, diskursiven und medialen Routinen ›normalisiert‹

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Vgl. D. Ellerbrock et al.: Invektivität, S. 12. Vgl. ebd., S. 8f.

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sind und folglich in Gestalt ›institutionalisierter‹ Wiederholung gesellschaftliche Ordnung bzw. Ordnungsvorstellungen formen. Im Migrationskontext geschieht das beispielsweise durch Verwaltungsprozeduren, die asymmetrische Machtverhältnisse zwischen staatlichen Behörden und migrierten Menschen fortlaufend aktualisieren,5 oder in öffentlichen Diskursen bzw. der medialen Berichterstattung, die automatisierte othering-Prozesse befördern, also zugewanderte Personen als ›Andere‹ markieren und pauschal mit pejorativen Gruppenstereotypen wie etwa essenzialisierter ›Kriminalität‹ belegen.6 Derartige, in den Aufnahmegesellschaften stabilisierte Abwertungsstrukturen werden wiederkehrend in Literatur und Film aufgegriffen, medienund genrespezifisch inszeniert sowie in der Regel kritisch verhandelt: Die Erzählungen zeichnen scharf, wie mit Blick auf als Migrant:innen gelesene Menschen Differenzsetzungen und Hierarchisierungen sozialer Beziehungen vorgenommen werden. Sie profilieren derart die prekäre Schwellenexistenz der betroffenen Subjekte, die auf dem schmalen Grat zwischen administrativer und/oder sozialer Anerkennung bzw. ebensolchem Ausschluss jederzeit kippen kann und sich durch tiefgreifende existenzielle Unsicherheit auszeichnet. Vereinzelt operieren Migrationserzählungen aber auch in einem affirmativen othering-Gestus, der den Modus der VerAnderung etwa im Sinne von Genreerfordernissen ungebrochen dynamisiert. *** Vor dem historischen Hintergrund der mehrdimensionalen Migrationsgeschichte Italiens im 20. Jahrhundert7 befasste sich das Teilprojekt M primär 5

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Solche invektiv gesättigten Verwaltungsprozeduren werden u.a. im Dokumentarfilm Fuocoammare (2016) von Gianfranco Rosi inszeniert (vgl. hierzu Tiller, Elisabeth: »Invektivität und Migration. Konstellationen in Gianfranco Rosis Fuocoammare (2016)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 109–133 (http://web.fu-berlin.de/phin /beiheft20/b20t06.pdf). Zur kritischen Inszenierung des Stereotyps des:der kriminellen Migrant:in vgl. Deinzer, Gabriel: »Die narrative Modellierung medieninduzierter Invektivität in Mohsen Mellitis Io, l’altro (2007)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 134-153 (ht tp://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t07.pdf) und Teckentrup, Franziska: »›Il razzista non sorride‹ – Das komische als Vermittlungsmodus invektiver Dynamiken in Amara Lakhous’ Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 154–175 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t08.pdf). Für einen Überblick über Italiens Migrationsgeschichte in ihren verschiedenen Dimensionen vgl. Tiller, Elisabeth: »Italien vom Emigrations- zum Immigrationsland«, in: Ant-

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung

mit Migrationserzählungen der Gegenwart, also Filmen und Texten, die nach 1990 entstanden sind – die aber nicht nur aktuelles Immigrationsgeschehen, sondern ebenso die italienische Emigration bis in die 1970er Jahre, die Binnenmigration nach dem Zweiten Weltkrieg oder den italienischen Kolonialismus bis 1943 zum Thema haben. Gegenstand unserer Untersuchungen war dabei nicht das migrationsinduzierte Invektivgeschehen im Realraum, sondern vielmehr dessen bereits analytisch disponierte, narrativ-ästhetische Modellierung in Literatur und Film. Als Medien der sozialen Verständigung und der gesellschaftlichen Selbstbespiegelung eignet diesen eine dezidiert politische Qualität, insofern Erzählungen sich als ästhetisch durchgebildete Verhandlungsmedien begreifen lassen, die realweltliche Diskurse aufgreifen und sich zugleich in diese einschreiben. Ausgangspunkt für unsere Überlegungen war die Annahme, dass Invektivphänomene Migration in allen ihren Phasen vom Aufbruch über Flucht und/oder transnationale Wanderung bis hinein in die Aufnahmegesellschaft begleiten. Gerade Ankunft und Etablierung in der Aufnahmegesellschaft sind von Prozessen asymmetrischer Differenzierungen flankiert, deren Konkurrenzen und Kontrastierungen mannigfaltige Formen von Invektivakten und Invektivgeschehen hervorbringen. Das Projekt widmete sich deshalb zum einen dem kritischen Potenzial von Migrationserzählungen, die durch pointierte Herausarbeitung von Invektivphänomenen invektive Konstellationen und Dynamiken reflexiv werden lassen. Zum anderen interessierte die Option der Fortschreibung und Legitimierung herabsetzender Deutungsmuster bzw. daraus resultierender gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen. Uns ging es folglich um erzählstrategisch sortierte und ästhetisch geformte (Meta)Invektivität. Dabei schließen sich das Generieren metainvektiver Reflexivität und invektiver Kodierungen innerhalb derselben Erzählung nicht zwangsläufig aus: Beide Formen, bisweilen miteinander verflochten oder sich wechselseitig überkreuzend, können in ein und demselben literarischen bzw. filmischen Text koexistieren. Migrationsfilme oder -texte können aber ebenso durchgehend auf der Ebene metainvektiver Reflexivität operieren, oder – in seltenen Fällen – ausschließlich invektive Kodierungen platzieren. ***

je Lobin/Eva-Tabea Meineke (Hg.), HANDBUCH Italienisch. Sprache – Literatur – Kultur, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2021, S. 556–561.

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Gabriel Deinzer, Franziska Teckentrup und Elisabeth Tiller

Literarische und filmische Inszenierungen von Invektivgeschehen lassen sich als Beobachtungen zweiter Ordnung begreifen, insofern Migrationserzählungen im Zusammenspiel von histoire- und discours-Ebene soziale Herabsetzungsphänomene narrativ aufbereiten, um diese – ästhetisch ausgestaltet und genrekonform inszeniert – konturiert sichtbar zu machen.8 Erzählungen markieren auf diese Weise invektive Dimensionen kurrenter Denk- und Verhaltensmuster sowie strukturelle Ungleichheiten, die aufgrund ihres Normalisierungsgrades in der Regel unbemerkt bleiben. Sie dienen somit als Medien kultureller (Selbst-)Reflexion, die bislang Unhinterfragtes, kollektiv Ignoriertes oder lediglich partiell Wahrgenommenes kritisch ausstellen und für die Rezipierenden in eine nachvollziehbare Gestalt bringen. Der Umstand, dass es sich bei Literatur und Film um ›langsame‹ Medien handelt, die soziale Konfliktlagen aus mehr oder minder großem zeitlichem Abstand fokussieren, führt zu einer analyseförderlichen reflexiven Distanz: In den mitunter komplex konstruierten Erzählungen werden nicht nur invektive Kommunikationsakte abgebildet, es geraten vielmehr zugleich kausale gesellschaftliche Voraussetzungen, verflochtene interaktive Dynamiken sowie die Auswirkungen auf das marginalisierte/verletzte Individuum bzw. die invektierte Gruppe in den Blick. Auf diesem Wege unterbreiten Migrationsnarrationen Immersionsangebote, welche die Invektiverfahrungen migrierter Menschen/Figuren, etwa aufgrund von Rassifizierung und othering, für die Leser:innen/Zuschauer:innen auch ohne eigene respektive familiale Migrationsgeschichte ›miterlebbar‹ machen. Das Erzählen ›struktureller‹ Invektivität kann wiederum den prekären Schwellenstatus (post-)migrantischer Figuren zwischen administrativer bzw. sozialer Anerkennung und Verweigerung derselben augenfällig werden lassen, ebenso wie die auf der Basis von Dif-

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D. Ellerbrock et al.: Invektivität, S. 19. Die im Folgenden beispielhaft aufgeführten filmischen bzw. literarischen Modi zur Herstellung metainvektiver Reflexivität werden in den Dissertationsschriften von Gabriel Deinzer und Franziska Teckentrup ausführlich behandelt, vgl. dazu Deinzer, Gabriel: Erzählte Invektivität – Invektive Erzählungen: metainvektive Reflexivität und invektive Kodierungen in zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen. Dissertation TU Dresden 2022, bzw. Teckentrup, Franziska: Narrationen der Herabsetzung. Literarische Inszenierungen von Invektivität in zeitgenössischen Immigrationserzählungen aus Italien. Dissertation TU Dresden 2022. Vgl. hierzu auch Tiller, Elisabeth: »Metainvektive Reflexivität«, in: Dagmar Ellerbrock/ Heike Greschke/Jan-Philipp Kruse (Hg.), Schlüsselkonzepte der Invektivität. Begriffe, Perspektiven, Potentiale, Frankfurt/New York: Campus 2023, im Erscheinen.

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung

ferenzsetzungen operierenden gruppenspezifischen oder gesellschaftlichen Hierarchisierungsmechanismen und Asymmetrisierungsprozesse. Die medienvergleichende Ausrichtung unserer Überlegungen offenbarte Parallelen und Differenzen zwischen filmischen und literarischen Erzählungen. Beispielsweise ist das Spiel mit Genremustern in zahlreichen Narrationen beider Medien ein zentrales Kennzeichen – im Falle des Films etwa mit dem Roadmovie oder in der Literatur mit dem Kriminalroman.9 Die Verwendung genretypischer Erzähl- und Darstellungsweisen zielt darauf ab, an die Rezeptionsgewohnheiten des italienischen Publikums anzuknüpfen. Diese medienübergreifende Strategie lässt sich somit als ein Mechanismus kultureller Übersetzung begreifen,10 der den Rezipierenden Flucht- und Einwanderungsgeschichten in Form etablierter narrativer Schemata zugänglich macht. Komische Effekte, die gegebenenfalls Teil spezifischer Genrekonventionen sind und mitunter durch Stereotypwiederholungen und -übertreibungen erzeugt werden, konstituieren einen weiteren Modus kultureller Übersetzung, mithilfe dessen die invektiv gesättigten Weltdeutungen bzw. Grenzziehungen zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ zum Verlachen freigegeben werden.11 Zugleich wird durch humorvolle Aufarbeitung die Rezeption (potenziell) erleichtert, indem grundständig ernste, gesellschaftlich formative, zuweilen todförmige Thematiken in eine ›eingängige‹ Gestalt gebracht werden (vgl. die Beiträge von Camilotti und Teckentrup). Testimonial narratives ermöglichen es wiederum, Invektivakte unmittelbar mit scheinbar authentischem Erleiden und subjektiven Bewältigungsstrategien zu verschalten (vgl. die Beiträge von Kirchmair und Weingart), also emotionale Nähe und Miterleben zu simulieren. Genrerahmungen wie Dystopien erlauben hingegen, invektive Kodierungen ungebrochen zu lancieren und totalitäre Lebenswelten bzw. Untergangsszenarien mit der Migrationsthematik kurzzuschließen (vgl. den Beitrag von Tiller). Rauminszenierungen spielen in Hinblick auf die narrativ-ästhetische Verhandlung von Invektivität in Literatur und Film immer wieder eine wichtige 9

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Für vertiefende Ausführungen zu genrehaftem Erzählen im Zusammenhang mit der Herstellung metainvektiver Reflexivität in filmischen und literarischen Einwanderungsnarrationen vgl. G. Deinzer: Erzählte Invektivität, sowie F. Teckentrup: Narrationen der Herabsetzung. Zum Terminus der kulturellen Übersetzung vgl. etwa Wagner, Birgit: »Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept«, in: Anna Babka/Julia Malle/ Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume, Wien: Turia + Kant 2012, S. 29–42. Vgl. F. Teckentrup: Il razzista non sorride.

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Rolle: Im erzählten Raum und anhand erzählter Grenzen werden soziale Ordnungen, individuelle Zugehörigkeiten, intersubjektive Dynamiken, invektiv gesättigte Konfliktlagen und deren Subvertierung anschaulich (vgl. dazu die Beiträge von Deinzer, Kirchmair, Michelacci, Schrader, Teckentrup, Tiller und Weingart). Die Verortung der Charaktere in räumlich verankerten Ordnungen sowie deren spezifische Bewegungsoptionen verweisen dabei auf Aspekte wie die im Invektivgeschehen scharfgestellten sozialen oder juristischen Lizenzen, die involvierten Machtdynamiken, Selbst- bzw. Fremdpositionierungen, den jeweiligen Körperlichkeitsstatus oder die Optionen zur individuellen Identitätskonstruktion. Hinsichtlich der medialen/erzählerischen Möglichkeiten bestehen selbstredend auch Differenzen zwischen Literatur und Film. Das filmische Medium ist beispielsweise von einer spezifischen Audiovisualität und folglich von verschiedenen Ausprägungen multimodalen Erzählens gekennzeichnet, die nicht zuletzt für die Herstellung metainvektiver Reflexivität genutzt werden. Ein zu diesem Zweck wiederholt eingesetztes Mittel sind Nah- und Großaufnahmen, welche die Narration momentan durchbrechen und derart eine reflexive Pause schaffen, in der den Zuschauenden die jeweilig dargestellte Herabsetzung auf dem eingefangenen Gesicht und seiner von Erstaunen, Schmerz, Wut oder einem Gemisch dieser Emotionen gezeichneten Mimik buchstäblich vor Augen tritt (vgl. hierzu den Beitrag von Deinzer). Die Literatur kennt ebenfalls eigene Potenziale der narrativen Vermittlung; u.a. die interne Fokalisierung, die über die Bindung des Erzählvorgangs an die Perspektive einer invektierten Figur auf Herabsetzungserfahrungen basierende Verletzungen in ihrer Intensität und Dauerhaftigkeit verdeutlicht. Die Wirkmacht von Invektiven, welche mehr oder minder langanhaltende Effekte auf die Identitätskonstruktion der betroffenen Subjekte zeitigen, wird auf diese Weise nachvollziehbar in Szene gesetzt (vgl. dazu die Beiträge von Kirchmair, Teckentrup und Weingart). Differenzen sind weiterhin auf inhaltlicher Ebene festzumachen: Während in filmischen Immigrationserzählungen in synchroner Hinsicht primär der Ankunftskontext eine Rolle spielt und auf diachroner Ebene historische – z.B. koloniale – Bezüge kaum berücksichtigt, allenfalls implizit und lediglich punktuell integriert werden (vgl. dazu den Beitrag von Schrader),12 wird zumal in jüngeren literarischen Texten nicht 12

Die bisher weitgehend fehlende Repräsentation von Italiens Kolonialgeschichte im italienischen Nachkriegskino im Allgemeinen und in zeitgenössischen Immigrationsfilmen im Speziellen wird u.a. von Derek Duncan konstatiert: »It is worth noting that

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung

selten eine Verbindung zwischen gegenwärtigem migrationsinduziertem Invektivgeschehen und Italiens kolonialer Vergangenheit gezogen.13 Darüber hinaus finden Herkunftskontexte von (post-)migrantischen Protagonist:innen stärkere Beachtung, wobei mitunter die im Herkunftskontext gemachten Herabsetzungserfahrungen als Grund für Auswanderung aufgezeigt werden (vgl. den Beitrag von Camilotti). Die Integration der jeweiligen Vergangenheit trägt zudem maßgeblich zur Komplexität der mehrdimensionalen, oft hochgradig individualisierten Figuren bei, die sich in zahlreichen Erzählungen mit vereinfachenden Stigmatisierungen als ›Immigrant:innen‹ konfrontiert sehen – wodurch ein metainvektiv wirksamer Kontrastierungseffekt erzeugt wird (vgl. die Beiträge von Michelacci, Teckentrup und Weingart). *** Zuweilen generieren die hier im Fokus stehenden filmischen und literarischen Einwanderungserzählungen nicht nur metainvektive Reflexivität, sondern auch oder ausschließlich invektive Kodierungen. Dies geschieht beispielsweise immer dann, wenn stereotype Eigenschaftszuschreibungen an migrierte Menschen bzw. gesellschaftlich geteilte Repräsentationsweisen abwertenden Charakters unkritisch oder intentional in die jeweilige Narration einbezogen und folglich reproduziert werden – z.B. wenn die migrantischen Protagonist:innen als (potenzielle) Kriminelle, als skrupellose Geschäftsleute oder als Prostituierte gezeichnet werden. Die Reproduktion solcher stereotypen Darstellungen steht dabei im Kontext dominanter Diskurse über Immigration nach Italien: Mit Blick auf die genannten Beispiele

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postwar Italian cinema has shown little interest in returning to the colonial past, at least in a direct, referential manner« (Duncan, Derek. »Shooting the Colonial Past in Contemporary Italian Cinema. Effects of Deferral in Good Morning Aman«, in: Cristina Lombardi-Diop/Caterina Romeo (Hg.), Postcolonial Italy. Challenging National Homogeneity, New York u.a.: Palgrave Macmillan 2012, S. 115–124, hier S. 116). Áine O’Healy bezeichnet wiederum Italiens koloniale Aktivitäten in Ostafrika als »a chapter in Italian history that […] has been largely ignored in recent Italian cinema« (O’Healy, Áine. »(Non) è una somala. Deconstructing African Femininity in Italian Film«, in: The Italianist 29 (2009), S. 175–198, hier S. 177). Vgl. dazu u.a. Kirchmair, Maria: Postkoloniale Literatur in Italien. Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen, Bielefeld: transcript 2017; Romeo, Caterina: Riscrivere la nazione. La letteratura italiana postcoloniale, Firenze: Le Monnier Università 2018, sowie F. Teckentrup: Narrationen der Herabsetzung.

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Gabriel Deinzer, Franziska Teckentrup und Elisabeth Tiller

handelt es sich zum einen um den Diskurs über öffentliche Ordnung und nationale Sicherheit, der Zuwanderung primär als Bedrohung für die italienische Aufnahmegesellschaft in Szene setzt; zum anderen um den Diskurs über humanitäre Hilfe, der zugewanderte Personen als ›Opfer‹ einer existenziellen Notlage sieht – sei es im Zusammenhang von Flucht oder, spezifischer, von Zwangsprostitution – und sie somit auf die soziale Position Rettungsbedürftiger ohne eigene Handlungsmacht herabsetzt. Auch wenn diese Diskurse samt damit einhergehender Stereotypisierungen mit kritischem Impuls in eine Migrationserzählung eingebracht werden, kann es dazu kommen, dass sie partiell fortgeschrieben werden. Dementsprechend zeichnen sich zumal filmische, aber auch literarische Immigrationsnarrationen in der Regel durch ein Nebeneinander bzw. Überschneidungen invektiver Kodierungen und metainvektiver Reflexivität aus (vgl. hierzu die Beiträge von Deinzer und Weingart). Hier sei erneut hinzugefügt: In literarischen Texten kann auch ausschließlich der Modus metainvektiver Reflexivität (vgl. hierzu den Beitrag von Teckentrup) oder jener der invektiven Kodierung (vgl. hierzu den Beitrag von Tiller) zum Einsatz kommen. Analog zur Entstehung metainvektiver Reflexivität realisieren sich invektive Kodierungen nicht allein auf histoire-Ebene – die Ebene des discours hat dabei ebenfalls eine zentrale Rolle inne: Neben der Tatsache, dass migrantische Figuren in der erzählten Welt mit stereotypen Attributen wie Kriminalitätsneigung oder Prostitutionsnähe in Beziehung gesetzt werden, geht es stets auch darum, mit welchen narrativen Mitteln bzw. Mustern, mit welchen ästhetischen Verfahren ein solcher Bezug hergestellt wird. So kann die Reproduktion des herabsetzenden Stereotyps des:der ›kriminellen Migrant:in‹ damit in Zusammenhang stehen, dass die Figur des:der Zugewanderten in ein whodunit-Schema eingebunden wird. Selbst wenn die betroffene Figur sich am Ende nicht als der:die gesuchte Täter:in erweist, sondern lediglich dazu dient, in der Spannungsökonomie der Erzählung einen falschen Verdacht zu erwecken, bleibt der stereotype Konnex zwischen Migration und Delinquenz (teilweise) erhalten – zumal, wenn die migrantischen Figuren unter Anwendung bestimmter Inszenierungsmodi als ›bedrohlich‹ vorgeführt werden. Die Fortschreibung der stereotypen Relationierung von Migrant:innen-Figuren mit Prostitution mag wiederum daraus resultieren, dass von ihnen beispielsweise im Rahmen eines trafficking narrative erzählt wird, das migrantische Sexarbeiterinnen als ›Opfer‹ inszeniert, die nur durch einen (europäischen) Mann aus ihrer Situation befreit werden können (vgl. den Beitrag von Weingart).

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung

*** Den Auftakt zu den hier versammelten Überlegungen macht Gabriel Deinzers Beitrag zu L’amore non perdona (2015) von Stefano Consiglio – einem Filmdrama, welches das Verhältnis zwischen einer französischstämmigen Italienerin und einem marokkanischen Hafenarbeiter im süditalienischen Bari in Szene setzt. Die Analyse konzentriert sich auf die narrativen Muster, die verwendet werden, um von einer interkulturellen Liebesbeziehung zu erzählen und dabei die Herabsetzungen zu problematisieren, welche die Protagonist:innen in der Diegese aufgrund ihrer Liaison erleiden müssen. Ein besonderes Augenmerk gilt den spezifisch filmischen Mitteln – allen voran den Nah- und Großaufnahmen –, die dazu dienen, das intradiegetische Invektivgeschehen kritisch zu reflektieren. Neben dieser Fokussierung der Herstellung metainvektiver Reflexivität interessiert sich der Beitrag dafür, wie bestimmte migrationsbezogene Alteritätskonstrukte, nicht zuletzt das Stereotyp des:der kriminellen Migrant:in, durch die Filmerzählung fortgeschrieben werden. Zudem wird gezeigt, dass die Erzählung von Immigration und Invektivität in L’amore non perdona als narrativer Steigbügel dient, um weiterführende gesellschaftliche Themenkomplexe wie das spannungsreiche Verhältnis von Berufs- und Privatleben zu diskutieren. Sabine Schrader setzt sich im Anschluss mit dem französisch-italienischen Dokumentarfilm The Milky Way (2020) von Luigi D’Alife auseinander, der die Seealpen als transkulturellen Lebens- und Migrationsraum modelliert und damit ein Plädoyer für Bewegungsfreiheit sowie zwischenmenschliche Unterstützung liefert. Der durch Mobilität und Hilfsbereitschaft gekennzeichnete Raumzusammenhang der Alpi Marittime/Alpes Maritimes fungiert im Film als Gegenentwurf zu den europäischen Nationalstaaten und ihren Grenzziehungen, die migrierte Menschen in der Regel herabsetzenden administrativen Prozeduren unterziehen oder sie generell ausschließen. Dass Geflüchtete und Migrierte deshalb immer wieder den Gefahren klandestiner Grenzüberschreitungen ausgesetzt werden, zeigt D’Alife mit Blick auf durchs Gebirge führende Fluchtrouten und die jüngere Historie des dort immer schon virulenten Fluchtgeschehens. Vor diesem Hintergrund widmet sich Schrader dem intermedialen Zusammenspiel von Dokumentation und Animation als hybridisierenden Repräsentationsmodi in D’Alifes Film, der eine Geschichte anhaltender Solidarität mit Flüchtenden erzählt. Schrader zeigt dabei, wie D’Alifes multimodale, transhistorische Inszenierung von Migration eine Alternative zur massenmedialen Berichterstattung über Einwanderung in Italien

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offeriert, in deren Rahmen zugewanderte Personen auf herabsetzende Weise als Invasoren und Bedrohung der öffentlichen Ordnung dargestellt werden. Maria Kirchmair analysiert die in Wu Ming 2 und Antar Mohameds Text Timira. Romanzo meticcio (2012) erzählten Invektivkonstellationen mit Blick auf deren Einfluss auf die Identitätskonstruktion der italo-somalischen Protagonistin Isabella Marincola. In der fiktionalisierten Lebensgeschichte Marincolas, eng verwoben mit der italienischen Kolonialgeschichte und der spezifisch italienischen Postkolonialität, werden historische Ereignisse und Narrative mithilfe der Erinnerungen einer Schwarzen14 Italienerin kritisch reflektiert. Kirchmair zielt in ihrer Analyse auf die soziohistorischen Umstände und invektiv gesättigten Aushandlungsprozesse, innerhalb derer sich die Identität der Hauptfigur konstituiert. Sie zeigt dabei, wie die lebenslangen Auswirkungen invektiver Konstellationen und Strukturen auf Marincolas Identitätskonstitution im Roman narrativiert werden. Der erzählten Bewegung im Raum, die als fortwährend identitätstransformierendes Geschehen inszeniert wird, misst Kirchmair besondere Bedeutung bei. In den Blick gerät außerdem das performative Potenzial literarischer Darstellungen: Timira lässt sich als antirassistisch engagierte Literatur rubrizieren, die Invektivgeschehen immer wieder explizit markiert und darüber eine Überprüfung von Geschichtsrepräsentationen einfordert. Das Thema sex work rahmt die beiden testimonial narratives Le ragazze di Benin City (2007) von Isoke Aikpitanyi und Laura Maragnani sowie Il mio nome è Wendy (2007) von Wendy Uba und Paola Monzini, mit deren Invektivitätsaspekten sich Berit Weingart beschäftigt. Diese in Zusammenarbeit mit italienischen Ko-Autorinnen entstandenen Niederschriften der Lebensgeschichten zweier nigerianischer Migrantinnen, die ihr Überleben in der Aufnahmegesellschaft innerhalb des italienisch-nigerianischen Systems der Zwangsprostitution organisieren mussten, geben dokufiktionale Einblicke in das Erleben von Invektivität unter den Bedingungen der doppelten Illegalität von Migration und sex work, von ethnischem othering, Misogynie und Gewalt.

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Mit der Großschreibung des Adjektivs ›Schwarz‹ schließen wir an dessen Verwendung in der Kritischen Weißseinsforschung an: Die Schreibweise markiert ›Schwarz‹ als ein soziales Konstrukt, das spezifische Herabsetzungsformen generiert, hebt also auch auf geteilte Erfahrungen als Schwarz wahrgenommener Menschen ab, vgl. dazu etwa Eggers, Maureen Maisha/Kilomba, Grada und Piesche, Peggy (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weissseinsforschung in Deutschland, Münster: Unrast 2005, S. 13.

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung

Dabei interessieren Weingart insbesondere die Narrativierungsmodi der invektiven Residuen dieser vermeintlich ›authentisch‹ erzählten Gemengelage sowie die Effekte der ihrerseits invektivitätsanfälligen transnationalen Autorschaft, die Markterfordernissen zuarbeitet. Weingart zeichnet die vielfältigen invektiven Dynamiken nach, die aus der Verschränkung von Migration, sex work, Zeugenschaft und Publikation in der italienischen Aufnahmegesellschaft resultieren. Silvia Camilotti befasst sich in ihrem Beitrag mit Il paese dove non si muore mai (2006) von Ornela Vorpsi sowie Bracadà (2008) von Milton Fernàndez. Im Hinblick auf Invektivität untersucht sie zweierlei: Zum einen analysiert sie mithilfe des Konzepts der Intersektionaliät die intradiegetischen Invektivkonstellationen und -dynamiken, die in den Texten aufgerufen werden. Vorpsis Kurzroman fokussiert beispielsweise primär den Herkunftskontext der albanischen Protagonistin zur Zeit des Hoxha-Regimes und beschreibt die in diesem Kontext gesellschaftlich sedimentierten Abwertungen von Frauen als Push-Faktor, der zur Auswanderung treibt. Zum anderen fragt Camilotti nach den performativen Effekten der invektiv gesättigten Sprache, die in beiden Erzählungen zur Anwendung kommt. Sie arbeitet heraus, dass ein solcher Sprachgebrauch bei Vorpsi just dazu eingesetzt wird, die in der erzählten Welt stattfindenden Herabsetzungen zu kritisieren, während Fernàndez, so ihre Interpretation, mit dem Register des politisch Korrekten spiele – ein sprachliches Spiel mit devalorisierenden Stereotypen, das auf die Erheiterung der Leser:innen abziele, jedoch im Gegensatz zu Il paese dove non si muore mai keine kritische Dimension besitze. Bei Franziska Teckentrup stehen anhand ausgewählter Texte aus der 2005 erschienenen Anthologie Pecore nere Inszenierungen postmigrantischer Invektivitätserfahrungen im Fokus. Die dort versammelten Narrationen von Gabriella Kuruvilla, Igiaba Scego und Ingy Mubiayi erzählen die von Ausund Abgrenzungsmechanismen geprägten Selbstwerdungsprozesse von Protagonistinnen, die in Italien aufgewachsen sind, jedoch, als Menschen mit familialer Migrationserfahrung, von der italo-italienischen Mehrheitsgesellschaft als ›fremd‹ gelesenen werden. Da die jeweilige Identitätssuche stets in spezifische gesellschaftliche Zusammenhänge gebettet ist, fokussieren die Texte das individuelle Erleben der Figuren und zeichnen die subjektiven Effekte von Herabsetzungs- und Exklusionserfahrungen scharf; dabei geraten auch mit Nachdruck die Ermöglichungszusammenhänge des Invektivgeschehens in den Blick. Teckentrup untersucht deshalb die Inszenierungsmodi, vermittels derer die Erzählungen komplexe postmigrantische Lebensentwürfe

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und -realitäten in Szene setzen, gesellschaftspolitische Kritik üben und einen sozialen Wandel porträtieren, als dessen Ausdruck die Texte selbst gelten können. Lara Michelacci setzt sich mit Amiche per la pelle (2007) von Laila Wadia auseinander, um anhand dieser Erzählung die Narrativierung migrationsinduzierter Konfliktualität über die Inszenierung des erzählten Raumes nachzuvollziehen. Im Zentrum ihrer Überlegungen steht der Mikrokosmos eines multiethnischen condominio, in dessen Rahmen – aufgerufen ist das überkodierte Dispositiv des Hauses – sich einerseits die Entstehung bzw. die Austragung von sowohl transkulturellen innerhäuslichen Konflikten als auch solchen zwischen den migrantischen Bewohner:innen und der umgebenden italienischen Aufnahmegesellschaft abspielt; andererseits wird innerhalb des Hauses die Formierung von Gemeinschaften zwischen den von der Aufnahmegesellschaft marginalisierten weiblichen Figuren mit unterschiedlichen Herkunftskontexten inszeniert und reflexiv gemacht. Besondere Aufmerksamkeit widmet Michelacci folgerichtig den vier migrantischen Frauenfiguren, die sich in den weiblich besetzten häuslichen Räumen begegnen: Auf diese Weise werden invektive Deutungsmuster und Formen struktureller Invektivität in den Vordergrund gerückt, mit denen sich die erzählten Protagonistinnen konfrontiert sehen. Der Beitrag fokussiert dabei die Verhandlung einer gemeinsamen Sprache, von Zugehörigkeiten, Identitäten und Interessengemeinschaften sowie die daraus entspringende Etablierung eines bergend-häuslichen Solidar-Raumes inmitten der Grenz-Stadt Triest. Elisabeth Tiller wendet sich abschließend zwei Thematisierungen der chinesischen Migration nach Italien zu, die in das Genre der Dystopie eingeschrieben sind und, von italo-italienischen Autoren verfasst, eine in der klimakatastrophischen Zukunft liegende chinesische Herrschaft einmal über Rom, einmal über Venedig erzählen: Tommaso Pincios Cinacittà (2008) und Antonio Scuratis La seconda mezzanotte (2011). Während jeweils eine apokalyptische Klimawandel-Rahmung die geschilderten klimatischen Veränderungen dystopisch zuspitzt und als Endzeitszenerien fortlaufend kritisch narrativiert, wird die als Effekt des Klimawandels lancierte gewaltgesättigte Machtausübung der Chines:innen als totalitäre Herrschaft aus der Perspektive der wenigen verbliebenen Italiener:innen geschildert. Die in beiden Fällen ungebrochene invektive Kodierung der jeweiligen chinesischen Dominanz bzw. der dominierenden Chines:innen erfolgt einmal innerhalb eines Erinnerungstextes im Modus iterativer invektiver Beschimpfung, im zweiten Fall als detaillierte Darstellung eines brutalen chinesischen Regimes, das überlebende

Literarische und filmische Migrationserzählungen durch die Brille der Invektivitätsforschung

Venezianer:innen für seine Zwecke versklavt. Die Überlegungen des Beitrags laufen auf die Frage zu, ob die in den Romanen von Pincio und Scurati an keiner Stelle problematisierte invektive Kodierung chinesischer Migration lediglich genrespezifisch legitimiert ist. *** Wir hoffen, mit diesem Band nicht nur einen literatur-, film- und kulturwissenschaftlichen Einblick in die Invektivitätsforschung zu geben, sondern deren heuristische Aussagekraft gerade in medialen Kontexten, zumal in literarischen wie filmischen Konfliktnarrationen, einleuchtend zu illustrieren. Das Nachdenken über Migrationserzählungen gewinnt in unseren Augen erheblich, wenn man die in den Erzählungen fokussierten Modi polarisierender Interaktion einer systematischen Durchsicht unterzieht – und auf diese Weise die politische Aussagekraft von Narrationen ernst nimmt, die sich mit gesellschaftlichen Problemlagen auseinandersetzen. *** Unser abschließender Dank gilt der Invektivitäts-Kollegin Ludovica Sasso, die sich der italienischsprachigen Beiträge angenommen, sowie Margaret Thompson, die sich um den englischsprachigen Beitrag gekümmert hat.

Bibliografie Deinzer, Gabriel: Erzählte Invektivität – Invektive Erzählungen: metainvektive Reflexivität und invektive Kodierungen in zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen, Dissertation TU Dresden 2022. Deinzer, Gabriel: »Die narrative Modellierung medieninduzierter Invektivität in Mohsen Mellitis Io, l’altro (2007)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 134-153 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t07.pdf). Duncan, Derek: »Shooting the Colonial Past in Contemporary Italian Cinema. Effects of Deferral in Good Morning Aman«, in: Cristina LombardiDiop/Caterina Romeo (Hg.), Postcolonial Italy. Challenging National Homogeneity, New York u.a.: Palgrave Macmillan 2012, S. 115–124.

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Ellerbrock, Dagmar et al.: »Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften«, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2 (2017), S. 2–24. Kirchmair, Maria: Postkoloniale Literatur in Italien. Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen, Bielefeld: transcript 2017. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012. O’Healy, Áine. »(Non) è una somala. Deconstructing African Femininity in Italian Film«, in: The Italianist 29 (2009), S. 175–198. Romeo, Caterina: Riscrivere la nazione. La letteratura italiana postcoloniale, Firenze: Le Monnier Università 2018. Schrader, Sabine/Tiller, Elisabeth (Hg.): Agency und Invektivität in zeitgenössischen italienischen Migrationserzählungen. Kino und Literatur (= PhiNBeiheft 20/2020: http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20i.htm). Teckentrup, Franziska: Narrationen der Herabsetzung. Literarische Inszenierungen von Invektivität in zeitgenössischen Immigrationserzählungen aus Italien, Dissertation TU Dresden 2022. Teckentrup, Franziska: »›Il razzista non sorride‹ – Das Komische als Vermittlungsmodus invektiver Dynamiken in Amara Lakhous’ Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 154–175 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t08.pdf). Tiller, Elisabeth: »Italien vom Emigrations- zum Immigrationsland«, in: Antje Lobin/Eva-Tabea Meineke (Hg.), HANDBUCH Italienisch. Sprache – Literatur – Kultur, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2021, S. 556–561. Tiller, Elisabeth: »Invektivität und Migration. Konstellationen in Gianfranco Rosis Fuocoammare (2016)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 109–133 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t06.pdf). Tiller, Elisabeth: »Metainvektive Reflexivität«, in: Dagmar Ellerbrock/Heike Greschke/Jan-Philipp Kruse (Hg.), Schlüsselkonzepte der Invektivität. Begriffe, Perspektiven, Potentiale, Frankfurt/New York: Campus 2023, im Erscheinen. Schwerhoff, Gerd: »Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept«, in: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 1–36. Wagner, Birgit: »Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept«, in: Anna Babka/Julia Malle/Matthias Schmidt (Hg.), Dritte Räume, Wien: Turia + Kant 2012, S. 29–42.

Liebe, Verdacht, Invektivität Migrationsbezogene Stereotype und deren narrative Verhandlung bzw. Fortschreibung in L’amore non perdona (2015) von Stefano Consiglio Gabriel Deinzer

Immigration und Herabsetzung filmisch erzählen Das Filmdrama L’amore non perdona (ITA, FRA 2015, R: Stefano Consiglio) erzählt die Liebesgeschichte von Adriana (Ariane Ascaride) und Mohamed (Helmi Dridi) – einer sechzigjährigen verwitweten Italienerin französischer Abstammung, die als Krankenpflegerin arbeitet, und einem nach Italien eingewanderten Marokkaner Anfang dreißig, der am Interporto von Bari als Verlader beschäftigt ist.1 Die beiden begegnen sich zu Beginn der histoire in der Notaufnahme des Ospedale Sant’Antonio, wohin sich Mohamed mit starken Magenschmerzen begeben hat und wo er von Adriana versorgt wird. Die Tatsache, dass sie sich auf Französisch verständigen können, schafft sogleich eine gewisse Nähe zwischen ihnen – insbesondere für Mohamed, der die italienische Sprache nur bedingt beherrscht. Nach seiner Entlassung benötigt er entzündungshemmende Injektionen. Er erkundigt sich bei Adriana, ob sie ihm die Spritzen verabreichen würde, wozu sie sich bereiterklärt. Sie vereinbaren, dass er hierfür zu ihr kommt. Als er sie das erste Mal zuhause aufsucht, geben 1

Auf der Internetseite der Apulia Film Commission ist in einem Beitrag von Anfang November 2013 bezüglich des Drehortes zu lesen: »Da lunedì 4 novembre e per 5 settimane di lavorazione fino al 10 dicembre, iniziano a Bari le riprese del film L’amore non perdona di Stefano Consiglio. Girato interamente a Bari (e un giorno a Tangeri in Marocco), è prodotto dalla Bibi Film con il finanziamento di Apulia Film Commission« (vgl. https://www.apuliafilmcommission.it/inizio-riprese-lamore-non-perdona-di-stef ano-consiglio-con-ariane-ascaride/). Der konkrete lokale Kontext, in dem der Film entstanden ist, spielt jedoch innerhalb der erzählten Welt keine besondere Rolle.

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sie sich der gegenseitigen sexuellen Anziehung hin. Im Folgenden nähern sie sich emotional immer weiter an, was Widerstand in Adrianas sozialem Umfeld hervorruft: unter den Kolleg:innen und vor allem aufseiten ihrer Tochter Maria Ida (Francesca Inaudi). Adriana hegt aber auch unabhängig von der äußeren Ablehnung Zweifel an der Richtigkeit ihrer Verbindung zu Mohamed, ist sie doch älter als dessen Mutter. Vor dem Hintergrund dieser intradiegetischen Konfliktkonstellation gestaltet sich die Narration schließlich als ein Hin und Her von Distanzierung und erneuter Annäherung, bis die Protagonist:innen am Ende zusammenfinden. Zum Zwecke der Entfaltung der eben skizzierten Handlung werden narrative Schemata eingesetzt, die in der italienischen Spielfilmproduktion zum Thema ›Einwanderung‹ wiederkehrend zur Anwendung kommen. Eines dieser Erzählmuster ruft zwei Figuren verschiedener Herkunft auf, die sich im Migrationszusammenhang – zumeist im Ankunftskontext – kennenlernen und sich sukzessive zu einem interkulturellen Paar entwickeln. Dieses Erzählmuster kennt diverse Spielarten: Es kann die Form einer Erzählung von gleichgeschlechtlicher Solidarität annehmen2 oder sich – wie bei Consiglio – in der Geschichte einer heterosexuellen Liebesbeziehung konkretisieren. Im letztgenannten Fall existieren nochmals zwei Subausprägungen, insofern die Darstellung des jeweiligen amourösen Verhältnisses in manchen Filmen komödiantisch, in anderen dramatisch modelliert wird.3 Ein anderes narratives Schema, das in filmischen Immigrationsnarrationen rekurrent ist und ebenfalls in L’amore non perdona genutzt wird, erzählt von Verdächtigungen, die sich in der Diegese auf migrantische Figuren richten.4 So findet sich in Consiglios Film ei2

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Ein Beispiel hierfür ist Mar nero (2008) von Federico Bondi. Inszeniert wird die Beziehung zwischen Gemma, einer hilfsbedürftigen Witwe aus Florenz, und deren rumänischer Pflegerin Angela. Der Film erzählt davon, wie sich Gemmas anfängliche Ablehnung von Angela – eine Ablehnung, die sich auch aus ihrer Trauer um den verstorbenen Ehemann sowie der Wut über die Abwesenheit des Sohnes speist – in gegenseitige Verbundenheit und Unterstützung wandelt. Beispiele für den komödiantischen Einsatz des Erzählens einer interkulturellen Liebesbeziehung sind etwa Billo – Il Grand Dakhaar (2007) von Laura Muscardin, Bianco e nero (2008) von Cristina Comencini oder Bangla (2019) von Phaim Bhuiyan. Im Hinblick auf dramatische Modellierungen dieses narrativen Schemas sind unter anderen La straniera (2009) von Marco Turco sowie Fiore gemello (2018) von Laura Luchetti zu nennen. Für eine ausführliche Beschreibung und Diskussion der hier thematisierten Erzählmuster vgl. Deinzer, Gabriel: Erzählte Invektivität – Invektive Erzählungen: metainvektive Reflexivität und invektive Kodierungen in zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen. Dissertation TU Dresden 2022.

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ne Sequenz, in der Adriana vorübergehend den Argwohn hegt, Mohamed habe eine ihrer Halsketten entwendet. Ihr Schwiegersohn Rocco, ein Polizist, teilt ihr außerdem zu einem späteren Zeitpunkt der histoire mit, dass Mohameds Cousin Feisal unter Verdacht stehe, einem illegalen Netzwerk anzugehören, das Kinderpornografie produziere und verbreite. Über das punktuelle Erzählen von derartigen Verdachtsmomenten erhält das invektiv gesättigte Stereotyp des:r kriminellen Migrant:in Einzug in die Erzählung.5 Dies geschieht in den angesprochenen Verdächtigungsszenarien auf unterschiedliche Weise. Während im ersten Fall das Stereotyp problematisiert wird, indem in Szene gesetzt wird, wie sich Adriana durch dieses zu einer falschen Verdächtigung verleiten lässt, kommt es in letzterem zu dessen Fortschreibung: Der Verdacht gegen Feisal wird im weiteren Verlauf der Narration nicht mehr thematisiert und bleibt über die zeitlichen Ränder der erzählten Welt hinweg bestehen. In Consiglios Film ist folglich beides zu beobachten: zum einen die kritische Reflexion der stereotypen Assoziation von migrierten Personen bzw. Figuren mit Kriminalität, zum anderen deren Reproduktion – eine Ambivalenz, die im Folgenden noch eine Rolle spielen wird. Auch das Erzählen der interkulturellen Begegnung zwischen Adriana und Mohamed steht in Relation zu Invektivgeschehen. Durch die Anwendung dieses narrativen Musters kommt es jedoch zu keiner partiellen Affirmation auf Migrant:innen gerichteter Zuschreibungen pejorativen Charakters. Vielmehr dient es dazu, die intradiegetischen Herabwürdigungen zu kritisieren, welchen die italienische Protagonistin aufgrund ihrer Beziehung zu einem wesentlich jüngeren arabischen Mann ausgesetzt ist. Die nachfolgenden Überlegungen widmen sich deshalb im Rahmen der Beschreibung der genannten Erzählschemata einer doppelten invektivitätszentrierten Fragestellung: Einerseits ist zu thematisieren, inwiefern L’amore non perdona als Medium von Invektivität fungiert – im Sinne der affirmativen Aktualisierung von stereotypen Zuweisungen abwertender Eigenschaften an zugewanderte Personen respektive Figuren. Andererseits interessieren die Modi der filmischen Herstellung von metainvektiver Reflexivität: Damit sind

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Ein weiteres abwertendes Stereotyp, das im Rahmen des Erzählens der genannten Verdachtsmomente kritisch vorgeführt wird, ist dasjenige des jungen Ausländers, der einer älteren Frau seine Liebe nur vortäuscht, um sich an ihr zu bereichern. Dieses Stereotyp wird über die Figur Maria Idas in die Erzählung eingebracht und im Folgenden durch die Darstellung der Authentizität des amourösen Verhältnisses von Adriana und Mohamed dekonstruiert (vgl. unten).

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spezifische narrative sowie ästhetische Verfahren – zum Beispiel Nah- und Großaufnahmen – gemeint, die eingesetzt werden, um bestimmte Herabsetzungsgeschehen als solche zu inszenieren und dergestalt kritisch zu reflektieren.6

L’amore non perdona als typischer Immigrationsfilm7 Consiglios Film reiht sich aufgrund seiner eben skizzierten narrativen Eigenschaften in ein seit den 1990er Jahren stetig anwachsendes Korpus italienischer Spielfilme ein, die Immigration nach Italien zum Inhalt haben.8 Darüber hinaus weist er weitere textexterne wie -interne Merkmale auf, die als typisch für Immigrationsfilme gelten können. Eine zusätzliche Gemeinsamkeit offenbart sich, wenn man sich vergegenwärtigt, wer L’amore non perdona verantwortet: ein italienischer Mann, der selbst nicht migriert ist. Wie die vorhandene Forschung bis heute wiederholt aufgezeigt hat,9 sind die zur Diskussion stehenden filmischen Einwanderungsnarrationen mehrheitlich das Resultat der Arbeit aus Italien stammender Regisseur:innen männlichen Geschlechts, die keine Migrationsbiografie besitzen. (Post)migrantische Filmemacher:innen hingegen bilden nach wie vor eine Minderheit. Das hat zum einen mit der vergleichsweise kurzen italienischen Immigrationsgeschichte zu tun, zum anderen damit, dass die Filmförderung in Italien den Besitz der italienischen 6

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Für nähere Ausführungen zu literarischen und filmischen Immigrationserzählungen als Medien von metainvektiver Reflexivität bzw. Invektivität (invektiven Kodierungen) vgl. die Einleitung zu vorliegendem Band. Der Terminus ›Immigrationsfilm‹ referiert hier auf Spielfilme, die von Einwanderung nach Italien erzählen. Es handelt sich somit um eine inhaltliche Begriffsbestimmung und keine wie auch immer geartete Gattungsbezeichnung. Die aus dem FWF-geförderten Projekt Cinema delle migrazioni in Italia dal 1990 hervorgegangene Filmografie bietet einen ersten Überblick über das Korpus, vgl. Casale, Mario V. et al.: »Filmografia commentata del cinema di migrazione«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 176–234 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t 09.pdf). Neben filmischen Immigrationsnarrationen sind darin auch Spiel- und einzelne Dokumentarfilme verzeichnet, die Auswanderung aus Italien bzw. Binnenmigration auf italienischem Territorium zum Gegenstand haben. Vgl. Schrader, Sabine/Tiller, Elisabeth: »Migration nach Italien. Handlungsfähigkeit und Dynamiken der Herabsetzung in Literatur und Film. Eine Einleitung«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 1-15, hier S. 6 (http://web.fu-berlin.de/phin/ beiheft20/b20t01.pdf).

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Staatsbürgerschaft voraussetzt. Hinzu kommt ein grundsätzlicher Mangel an (nicht) staatlichen Förderstrukturen.10 Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in der italienischen Filmlandschaft gar keine Regisseur:innen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte gäbe, die sich mit der Einwanderungsthematik beschäftigen: Anzuführen sind etwa Fariborz Kamkari, Laura Halilovic und Suranga D. Katugampala.11 Auch auf textinterner Ebene manifestieren sich, neben dem Einsatz der genannten Erzählmuster, zahlreiche Parallelen zum Gros der italienischen Immigrationsfilme. So konzentriert sich die Handlung auf den Ankunftskontext, sprich Italien. Die Vorgeschichte von Mohameds Auswanderung wird dabei weitgehend ausgespart. Zudem steht – mehr noch als das Erleben des marokkanischen Protagonisten – dasjenige der französischstämmigen Italienerin Adriana im Vordergrund. Auf diese inhaltliche Ausrichtung wird auch in einigen Onlinebesprechungen von L’amore non perdona hingewiesen. Marco Bolsi beispielsweise stellt fest: »Il centro emotivo del film resta comunque il personaggio di Adriana, […].«12 Daria Pomponio hebt hervor, dass diese personale bzw. figurale Schwerpunktsetzung sich ebenso auf der ästhetischen Ebene widerspiegele: »Ed è proprio il fatto che il film sia costruito tutto intorno al viso dell’attrice a costruire il vero pregio e la principale originalità di L’amore non perdona: un virtuale lungo primo piano che, da solo, è già perfettamente in grado di raccontarci innumerevoli storie.«13 Ein solcher Fokus auf die Erfahrungen bzw. die Umgangsweisen der Aufnahmegesellschaft und ihrer Vertreter:innen mit den zugewanderten ›Anderen‹ ist charakteristisch für einen Großteil der italienischen Spielfilmproduktion zum Thema ›Immigration‹, wie Áine O’Healy konstatiert.14 Ein weiteres für das Filmkorpus typisches Merkmal besteht darin, dass das Erzählen von Einwanderungsgeschehen für die Problematisierung zusätzli10

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Vgl. S. Schrader/E. Tiller: Agency und Invektivität, S. 6 sowie O’Healy, Áine: Migrant Anxieties. Italian Cinema in a Transnational Frame, Bloomington: Indiana University Press 2019, S. 213. Vgl. zu den genannten Filmemacher:innen das Nachwort »Accented and Transnational Filmmaking in Italy« in Á. O’Healy: Migrant Anxieties, S. 213–228. Bolsi, Marco: »L’amore non perdona, di Stefano Consiglio«, in: Sentieri Selvaggi vom 07.04.2015 (https://www.sentieriselvaggi.it/lamore-non-perdona-di-stefano-consiglio/). Pomponio, Daria: »L’amore non perdona di Stefano Consiglio«, in: QUiNLAN. Rivista di critica cinematografica vom 04.09.2015 (https://quinlan.it/2015/04/09/lamore-non-perd ona/). Vgl. Á. O’Healy: Migrant Anxieties, S. 2.

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cher sozialer Gemengelagen und gesellschaftlich geteilter Normvorstellungen genutzt wird. In Consiglios Film geht es einerseits um eine tief ins Privatleben hineinreichende Arbeitswelt, die – so die Inszenierung – familiäre Bindungen schwächt, andererseits stehen Konventionen im Blick, die vermeintlich altersgemäßes Verhalten regulieren wollen. Gegenstandsbereiche wie der Umgang mit älteren Menschen oder dysfunktionale Familienverhältnisse (vgl. etwa in beiderlei Hinsicht Mar nero (2008) von Federico Bondi) werden in filmischen Narrationen von Immigration nach Italien oft mitverhandelt. Vito Zagarrio kommt daher zu folgendem Schluss: »The theme of migration has by now become one of the most pressing trends in contemporary story-telling, constituting a pretext for describing the whole of the ex-›Bel Paese‹, and a filter of reflecting its identities in transformation.«15 Zeitgenössische italienische Immigrationsfilme besitzen demnach in vielen Fällen eine stark ausgeprägte sozialkritische Dimension, insofern sie im Kontext der Einwanderungsthematik gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und Prozesse diskutieren.

Das Erzählen einer interkulturellen Liebesbeziehung und die Herabsetzung Adrianas Die erste Szene von L’amore non perdona zeigt Adriana, die sich eingehend im Spiegel betrachtet.16 Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und dreht sich hin und her, um den Sitz ihres Kleides zu begutachten. Auf der Tonebene ertönt ein Klingeln. Schnell schlüpft sie in elegante Schuhe mit Absatz und eilt, die Worte »Già qui!« murmelnd, zur Tür, wobei sie sich einen weißen Kittel überstreift. Sie öffnet: Vor ihr steht Mohamed. Er ist gekommen, um sich eine Spritze gegen seine Gastritis verabreichen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt wissen die Zuschauenden jedoch noch nichts Näheres darüber, welcher Art die Relation zwischen den beiden Hauptfiguren ist. Nachdem Adriana ihn medizinisch versorgt hat, kommen sie sich körperlich näher und haben Sex. Die Eröffnungssequenz endet mit einer Nahaufnahme der Protagonistin, die glücklich lächelnd am Morgen danach erwacht.17 Hier springt die Narra-

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Zagarrio, Vito: »Imagined Journeys. Italian Directors and Immigration«, in: Emma Bond et al. (Hg.), Destination Italy. Representing Migration in Contemporary Media and Narrative, Oxford u.a.: Lang 2015, S. 325-344, hier S. 343. 00:00:05-00:00:31. 00:04:27-00:04:54.

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tion einen Tag in der Chronologie der erzählten Ereignisse zurück: Es wird zur Anschauung gebracht, wie Adriana und Mohamed sich zum ersten Mal im Krankenhaus begegnen und wie Mohamed sich im Anschluss an seine Entlassung bei ihr erkundigt, ob sie ihm mit den entzündungshemmenden Injektionen behilflich sein könnte.18 Der Film beginnt also in medias res und legt sogleich den Fokus auf die interkulturelle Beziehung von Adriana und Mohamed. Nach der Analepse setzt sich die Erzählung in der Gegenwart der Diegese fort: Adriana berichtet einer befreundeten Kollegin schwärmerisch von ihrer Nacht mit Mohamed.19 Diese entgegnet, dass ihr ›Araber‹ Angst einjagten, da sie einen immer so eigenartig ansähen, so dass man gar nicht wisse, was sie von einem wollten oder dächten. Der Topos der ›Fremdheit‹ wird eingeführt. Consiglios Film thematisiert demnach von Anfang an die Wahrnehmung von zugewanderten Personen als ›Andere‹ – eine Wahrnehmung, welche die Basis für stereotype Ansichten und invektives Verhalten bildet, wie im Verlauf der Handlung demonstriert wird. Im Gespräch mit der Kollegin, die sich zwar skeptisch, aber noch nicht offen abweisend zeigt, deutet sich bereits die Ablehnung an, die Adriana im Folgenden aufgrund ihres Verhältnisses zu einem wesentlich jüngeren und zudem arabischen Mann erfährt. Mit einer ähnlichen Form voreingenommener Skepsis gegenüber arabischstämmigen Personen und, davon ausgehend, ebenfalls gegenüber denjenigen, die mit ihnen in Kontakt stehen, reagiert wenig später auch ein Nachbar Adrianas.20 Nach einer weiteren gemeinsam verbrachten Nacht ist sie gerade dabei, Mohamed an der Wohnungstür zu verabschieden, als der Nachbar die Treppe herunterkommt. Sein Hund fängt angesichts des Unbekannten an zu bellen, woraufhin er mit scheelem Blick auf Mohamed fragt, ob bei Adriana alles in Ordnung sei. Sie bedankt sich und versichert ihm, dass dem so sei. Sein Misstrauen drückt sich nicht zuletzt in seiner Nachfrage »Sicuro?« aus. Adriana bestätigt abermals, dass es ihr gut gehe. Der Nachbar zieht von dannen, während sie in Lachen ausbricht. Noch kann sie die Reaktionen ihres sozialen Umfelds mit Humor nehmen. Es überwiegt die Freude ob ihrer Liaison mit Mohamed. Dies wird sich allerdings mit zunehmender Frequenz und Heftigkeit des äußeren Widerstands gegen ihre Liebschaft ändern. Das Erzählen einer interkulturellen Beziehung entfaltet sich somit entlang einer 18 19 20

00:04:55-00:08:22. 00:10:49-00:11:27. 00:17:24-00:17:58.

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bestimmten Dramaturgie, die dem Wandel der emotionalen Befindlichkeit der Protagonistin von anfänglichem Glück zu späterer Verzweiflung folgt. Ein derartiger dramaturgischer Entwicklungsbogen, der die allmähliche Zerrüttung des Gefühlslebens der weiblichen Hauptfigur vorführt, transportiert nicht zuletzt Kritik an den auf Adriana gerichteten, invektiv gesättigten Sprech- und Handlungsweisen, indem er deren herabsetzende Effekte und verletzende Auswirkungen inszeniert. Bevor die Ablehnung, die Adriana vonseiten ihrer Bekannten und Familienangehörigen erdulden muss, ihr immer mehr zusetzt, sind es am Anfang des Films vor allem eigene Zweifel aufgrund des großen Altersunterschieds zwischen ihr und Mohamed, die sie dazu führen, die Verbindung zu ihm infrage zu stellen. Hinzu kommen Bedenken hinsichtlich der Frage, was wohl die Tochter Maria Ida und ihr Enkel Jonathan davon hielten. Nachdem sie sich das zweite Mal geliebt haben,21 murmelt sie auf Französisch: »C’est une folie … une folie!« Als Mohamed fragt, warum sie im Hinblick auf sie beide von einer Verrücktheit spreche, antwortet sie: »Tu trouve ça normal qu’une femme de mon âge fait ça? J’ai une fille, un petit fils.« Beim anschließenden Abendessen erkundigt sie sich nach Mohameds Familie.22 Er erklärt ihr, dass er neben Vater und Mutter zwei Schwestern sowie drei Brüder habe, die er mit dem Geld unterstütze, das er am Interporto von Bari verdiene. In diesem Zusammenhang erfährt Adriana schließlich auch, dass Mohameds Mutter jünger als sie selbst ist.23 21 22 23

00:12:16-00:13:07. 00:13:08-00:15:04. Als Mohamed Adriana beim Abendessen mitteilt, dass er es schön finde, dass sie Französisch spreche, antwortet sie ihm, dass sie ursprünglich aus Frankreich komme (00:15:05-00:16:39). Ihr aus Bari stammender Großvater sei auf Arbeitssuche dorthin migriert – so wie Mohamed, der sich mit dem Ziel, zu arbeiten, nach Italien begeben habe. Da ihr Vater stolz auf seine Herkunft gewesen sei, habe er ihr einen italienischen Vornamen gegeben. Später habe sie auch einen Italiener geheiratet. Sie sei ihm begegnet, als sie mit einer Freundin das Land ihrer Großeltern bereist habe. Vor sieben Jahren sei er plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben. In Adrianas Bericht findet sich also ein Verweis auf Italiens Emigrationsgeschichte. Sie zieht eine Parallele zwischen ihrem Großvater und Mohamed, sprich zwischen dem historischen Auswanderungs- und dem gegenwärtigen Einwanderungsgeschehen (für einen Überblick über die italienische Migrationshistorie vgl. Tiller, Elisabeth: »Italien vom Emigrationszum Immigrationsland«, in: Antje Lobin/Eva-Tabea Meineke (Hg.), HANDBUCH Italienisch. Sprache – Literatur – Kultur, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2021, S. 556–561). Dieser Verweis bleibt jedoch auf die Abendessenssequenz beschränkt. Er wird im Folgenden

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Als Adriana am nächsten Tag das Krankenhaus verlässt, wird sie von Maria Ida und Jonathan empfangen.24 Die Tochter teilt ihr mit, sie habe einen unvorhergesehenen Anruf aus dem Büro erhalten und müsse sich kurzfristig mit einem wichtigen Klienten zum Abendessen treffen. Rocco, ihr Mann, sei im Schichtdienst. Deshalb bittet sie Adriana, auf Jonathan aufzupassen und ihn über Nacht bei sich zu behalten. Mit der Bemerkung, ihre Mutter habe ja nun, da die Arbeit vorbei sei, sowieso nichts zu tun, eilt Maria Ida zum Auto und fährt davon. An dieser Stelle zeichnet sich bereits ab, dass die Tochter lediglich eine sehr eingeschränkte Kenntnis des Lebens der eigenen Mutter besitzt und es als selbstverständlich erachtet, dass diese jederzeit zur Verfügung steht, wenn sie oder ihr Mann aufgrund beruflicher Verpflichtungen nicht in der Lage sind, sich um ihr Kind zu kümmern. Während die überrumpelte Adriana den Satz mit leiser Stimme in der ersten Person Singular wiederholt – »No, non ho niente da fare.« –, blickt sie auf den bislang nicht beachteten Mohamed, der sie ebenfalls vor dem Krankenhaus mit einem Rosenstrauß erwartet. Sie nimmt die Hand ihres Enkels und geht an ihm vorüber, ohne ihm Beachtung zu schenken. Am darauffolgenden Tag begibt sie sich zu seiner Unterkunft und erklärt ihre Liaison für beendet.25 Dabei wird sie äußerst deutlich: »Toi et moi, on doit plus se voir. C’est fini! J’ai rien contre toi, mais c’est une histoire absurde qui détruit ma vie et je ne veux pas devenir folle.« Mohamed versucht, etwas zu erwidern, doch sie lässt ihn nicht aussprechen. Stattdessen fügt sie hinzu : »Tu dois comprendre, c’est mieux pour toi aussi. Ça n’a aucun sens d’être avec une vieille femme comme moi.« Hier resümiert Adriana also erneut Gründe für die von ihr herbeigeführte Trennung: die zwischen ihnen herrschende Altersdifferenz sowie die Unordnung, welche die Liebschaft für sie auf emotionaler und familiärer Ebene stiftet. Sie beschließt ihren Diskurs mit den harten, im Imperativ formulierten Worten: »Disparais de ma vie!« Als Mohamed wenig später wieder ins Ospedale Sant’Antonio eingeliefert wird – er leidet neuerlich an Magenbeschwerden –, trifft Adriana kurzerhand

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nicht noch einmal aufgegriffen und spielt keine Rolle für die weitere Verhandlung der Immigrationsthematik in L’amore non perdona. Hier ist zu konstatieren, dass schon dieser kurze Verweis eine Seltenheit darstellt: In italienischen Einwanderungsfilmen wird kaum auf Italiens Auswanderungsgeschichte referiert. Dies kann neben den im Vorangegangenen erörterten Charakteristika als ein zusätzliches Merkmal des zur Diskussion stehenden Filmkorpus betrachtet werden. 00:17:59-00:19:03. 00:22:47-00:25:15.

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die Entscheidung, ihn mit nach Hause zu nehmen und dort zu pflegen.26 Im Anschluss an seine Genesung schlägt sie ihm vor, bei ihr einzuziehen – ein Vorschlag, den er dankend annimmt. Sie ist nun bereit, ihre Beziehung gegen die äußeren Widerstände zu verteidigen. Die Entschlossenheit, an ihrer Liebe festzuhalten, wird jedoch in der erzählten Welt auf harte Bewährungsproben gestellt, die sie zunehmend zermürben. Zunächst ist das verletzende, da abweisende Verhalten der vermeintlich befreundeten Arbeitskollegin zu nennen, deren anfängliche Skepsis gegenüber Adrianas Verhältnis sich in offene Ablehnung wandelt. Als sie nach der Pflege von Mohamed in den Dienst zurückkehrt, wird sie von der Kollegin mit der spöttischen Frage empfangen, ob ihr »amichetto« sich inzwischen erholt habe.27 Adriana erkundigt sich, woher die andere davon wisse. Sie erhält zur Antwort, dass man im Krankenhaus nur noch darüber spreche. In der Annahme, sie habe es mit einer Freundin zu tun, gesteht sie der Kollegin ihre Verliebtheit. Deren Reaktion fällt äußerst harsch aus: Ob Adriana sich nicht schäme, mit einem ›Araber‹ und noch dazu einem Mann, der ihr Sohn sein könnte, zusammen zu sein? Ob sie denn nicht an ihre Tochter denke? In der Rede der Kollegin manifestieren sich zwei Aspekte, die innerhalb der Diegese – in der Terminologie des Sonderforschungsbereichs 128528 – den soziokulturellen Ermöglichungszusammenhang der dargestellten invektiven (Sprech-)Handlungen bilden: einerseits das auf Mohamed bezogene othering durch die Zuschreibung, ›arabisch‹ zu sein,29 andererseits diejenigen 26 27 28

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00:27:36-00:28:32. 00:31:02-00:31:58. Vgl. Ellerbrock, Dagmar et al.: »Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften«, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (2017), S. 2–24. Anna Babka definiert othering folgendermaßen: »Der Prozess des othering besagt, dass durch bestimmte Diskurse, Handlungen und Verfahren die ›Anderen‹ im Gegensatz zum ›Eignen‹ in ihrer Alterität allererst erzeugt werden« (Babka, Anna: »Gayatri C. Spivak«, in: Dirk Göttsche et al. (Hg.), Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017, S. 21–26, hier S. 23). Demnach identifiziert das Konzept des othering ›Andersartigkeit‹ als diskursive Konstruktion, die entlang verschiedener Differenzkategorien wie ›Rasse‹, ethnische Zugehörigkeit, Herkunft oder Geschlecht hergestellt wird. Solche Alteritätskonstruktionen sind dabei stets relational und reziprok, also auf Konzeptualisierungen des ›Eigenen‹ bezogen. Zudem sind die entsprechenden Differenzdiskurse mit sozialen Praktiken – nicht zuletzt der Herabsetzung (vgl. ebd.) – verbunden. Auch Stuart Hall verweist auf diesen Zusammenhang von Diskurs(en) und sozialer Praxis in Bezug auf das von ihm beschriebene rassistische

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Normvorstellungen, die Adrianas Verbindung zu einem ausländischen und vor allem jüngeren Mann als nicht akzeptabel erscheinen lassen. In Bezug auf den Aspekt des othering ist hinzuzufügen, dass dieses durch die Kollegin noch nicht mit eindeutig pejorativen Attribuierungen verbunden wird. Gleichwohl aktualisiert es eine polarisierende und hierarchisierende ›Wir‹-›Sie‹Unterscheidung, die das Fundament für die Zuweisung devalorisierender Eigenschaften an die ›Anderen‹ konstituiert: z.B. für die wiederkehrende Relationierung von zugewanderten Personen mit Delinquenz oder das Stereotyp des jungen Ausländers, der einer älteren Frau seine Liebe vortäuscht, um sich an ihr zu bereichern – ein Stereotyp, das zu einem späteren Zeitpunkt der histoire von Maria Ida vorgebracht und in der Folge kurzfristig durch Adriana übernommen wird. Die stereotypgeleitete Abwertung Mohameds als suspekt wahrgenommener ›Araber‹, die in den Worten der Kollegin mitschwingt, wird allerdings erst im Rahmen des Erzählens der oben aufgerufenen Verdachtsmomente in ein kritisches Licht gerückt. Zuvor legt der Film, wie erwähnt, seinen Fokus auf die emotionalen Belastungen, die sich für Adriana aus dem abweisend-herabsetzenden Verhalten ihres sozialen Umfelds ergeben. So wird vorgeführt, wie sie nach der Konfrontation mit der Kollegin im Umkleideraum des Krankenhauses sitzt und weint.30 Adriana ist dabei von den Schultern aufwärts im Profil zu sehen. Auf dieses Close-up folgt eine Großaufnahme ihres Gesichts. Sie dreht den Kopf in Richtung der Kamera, bis sie für wenige Sekunden direkt ins Objektiv blickt. Die Fiktion der erzählten Ereignisse wird solchermaßen kurz durchbrochen, denn Adrianas Blick macht auf das Aufnahmegerät aufmerksam und markiert die Vermitteltheit des Gezeigten. Der vorübergehende Bruch mit der »Illusion des ununterbrochenen Geschehensflusses«31 schafft ein reflexives Moment, welches das bereits durch den Einsatz der Großaufnahme akzentuierte Verletztsein der weiblichen Hauptfigur zusätzlich hervorhebt.

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othering: Durch die Klassifizierung von Menschen nach Hautfarbe sowie die damit einhergehenden auf- bzw. abwertenden Eigenschaftszuschreibungen würde die soziale Welt in eine intelligible, da binär und hierarchisch geordnete Gestalt gebracht. Diese ›Intelligibilitätsordnung‹ habe eine handlungsanleitende Funktion, da sie im Hinblick auf die rassifizierten Individuen und Gruppen bestimmte soziale Praktiken (de-)legitimiere (vgl. Hall, Stuart: The Fateful Triangle. Race, Ethnicity, Nation, Cambridge: Harvard University Press 2017, S. 81). 00:31:59-00:32:20. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart J.B. Metzler Verlag 2012, S. 146.

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Im Folgenden findet sich eine weitere, ähnlich gestaltete Inszenierung. Adriana wird in der Arbeit von der Schule ihres Enkels angerufen.32 Dieser sei erkrankt und man könne seine Mutter nicht erreichen. Sie eilt in die Schule, um Jonathan abzuholen, doch die Direktorin verweigert ihr, ihn mit nach Hause zu nehmen. In der Zwischenzeit sei es gelungen, Maria Ida zu informieren. Adriana schlägt vor, bei Jonathan zu warten, bis ihre Tochter eintrifft. Auch das lehnt die Direktorin ab. Es wird zwar nicht expliziert, aber aus dem intradiegetischen Kontext lässt sich schließen, dass sie von Adrianas Liebesverhältnis weiß und sich deshalb ihr gegenüber derart abweisend verhält. Nach der abermaligen Zurückweisung der Protagonistin wird gezeigt, wie sie sich mit beiden Händen an das Geländer der zum Eingang der Schule führenden Treppe klammert und um Beherrschung ringt.33 Sie wird erneut in einer Nahaufnahme eingefangen, die auf ihrem Gesicht verharrt, während sie schwer atmend versucht, sich zu beruhigen. Im Gegensatz zur Szene im Umkleideraum blickt Adriana an dieser Stelle jedoch nicht direkt in die Kamera. Mithilfe des bereits etablierten Modus des In-Szene-Setzens von Adrianas Schmerz werden die ihn verursachenden Herabwürdigungen problematisiert und metainvektive Reflexivität generiert.34 Im die weibliche Hauptfigur betreffenden Herabsetzungszusammenhang werden die Anfeindungen der Tochter als besonders schmerzhaft für Adriana präsentiert. Als sie Maria Ida von ihrer Liaison mit Mohamed erzählt, äußert diese als Erstes die Besorgnis, ihre Mutter könne vorhaben, dem »arabo che ha trent’anni meno di [lei]« die Wohnung zu überschreiben. Dann fügt sie noch hinzu: »Non ti rendi conto che quello ti sta prendendo in giro?« Maria Ida unterstellt Mohamed folglich auf stereotype Weise, dass er sich nur mit ihrer Mutter abgebe, um einen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen. Adriana versucht vorerst, auf das Unverständnis der Tochter einzugehen: »Lo so che per te non è facile da capire, ma io con lui sono felice come non lo ero più da tanto tempo.« Als Maria Ida sich unnachgiebig zeigt und ihr an den Kopf wirft, dass sie die »barzelletta dell’ospedale«, also die Witzfigur des Krankenhauses geworden sei, schickt sie sich an zu gehen. Da sagt die Tochter, die offensichtlich schon vorher über die Liebschaft ihrer Mutter Bescheid wusste: »Dicono tutti

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00:41:48-00:42:57. 00:42:58-00:43:25. Vgl. Tiller, Elisabeth: »Metainvektive Reflexivität«, in: Dagmar Ellerbrock/Heike Greschke/Jan-Philipp Kruse (Hg.), Schlüsselkonzepte der Invektivität. Begriffe, Perspektiven, Potentiale, Frankfurt/New York: Campus 2023, im Erscheinen.

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che sei divantata una puttana.« Im nächsten Augenblick schreit sie auf, wendet sich ab und duckt sich, weil die erboste Adriana sich mit erhobener Faust zu ihr umdreht. Im gleichen Moment ertönt auf der extradiegetischen Tonspur eine spannungsgeladene musikalische Komposition. Die Sequenz endet mit einer neuerlichen Nahaufnahme von Adriana, die, mit den Tränen kämpfend, die Hand sinken lässt und Maria Ida letztlich den Rücken kehrt.35

Das Erzählen von Verdachtsmomenten und die Herabsetzung Mohameds Die alltäglichen Konfrontationen, denen Adriana sich vom Anfang ihrer Liaison an ausgesetzt sieht, gehen nicht spurlos an ihr vorbei. Zum einen belasten sie sie emotional, zum anderen beeinflussen sie ihre Wahrnehmung von Mohamed. Die stereotypen Annahmen, welche die Arbeitskollegin und vor allem die Tochter im Hinblick auf ihren Partner äußern, setzen sich vorübergehend bei ihr fest. Sie führen dazu, dass sie an der Redlichkeit seiner Beweggründe für ihr Zusammensein zu zweifeln beginnt. Das zeigt sich in jener Sequenz, in der sie eine Halskette, ein Geschenk ihres verstorbenen Ehemanns, sucht und diese zunächst unauffindbar ist.36 Als Mohamed von einem Abendessen mit seinem ehemaligen Mitbewohner Hamid nach Hause kommt und sich angesichts der Unordnung in der Wohnung bei Adriana erkundigt, was geschehen sei, antwortet sie, dass sie ihre Kette nicht finden könne. Er mutmaßt, dass sie sie eventuell verloren habe, woraufhin sie in einen Wutanfall ausbricht: Nein, sie habe sie nicht verloren, sie sei verschwunden. Sie habe überall gesucht. Mohamed möchte wissen, was sie zu sagen beabsichtige, ob sie wohl glaube, dass er oder sein Freund die Kette gestohlen hätten.37 Es müsse ihr doch klar sein, dass das nicht stimme. Adriana reagiert noch wütender: Sie frage sich, was er von ihr wolle, ob er sich über sie lustig mache, ob er das Ziel verfolge, dass sie ihm ihre Wohnung überschreibe. Sie beendet ihre Tirade mit dem Satz : »Qu’est-ce que je sais des gens comme vous?« Indem Adriana gegenüber Mohamed von ›solchen wie euch‹ spricht, reproduziert sie die in ihrem sozialen Umfeld vorherr-

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00:38:09-00:39:48. 00:44:07-00:45:51. Hamid hatte ihn zuvor bei Adriana abgeholt und hätte somit rein hypothetisch die Möglichkeit gehabt, das Schmuckstück an sich zu nehmen.

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schende Unterscheidung zwischen ›Uns‹ und den zugewanderten ›Anderen‹. Sie macht sich demnach das durch ihre soziale Umgebung praktizierte othering Mohameds zu eigen und übernimmt dessen Kategorisierung als ›Araber‹ sowie die damit einhergehenden abwertenden Eigenschaftszuschreibungen. So greift sie die Unterstellung der Tochter auf, er unterhalte lediglich eine Beziehung zu ihr, um sich an ihr zu bereichern. Die durch derartige Unterstellungen geweckten Zweifel an seiner Ehrlichkeit konkretisieren sich nicht zuletzt in dem Verdacht, er habe ihre Halskette entwendet – also in der Aktualisierung des Stereotyps von dem:r kriminellen Migrant:in.38 Doch Adriana täuscht sich mit ihren Anschuldigungen. Am Morgen nach der Auseinandersetzung fällt ihr plötzlich ein, wo sie die Kette versteckt hat: auf dem oben an der Wand angebrachten Spülkasten im Bad. Sie hat sich folglich von stereotypen Annahmen über migrierte Menschen, insbesondere über deren vermeintlich wesenhafte Kriminalität, zu einer falschen Verdächtigung verleiten lassen. Schuldbewusst begibt sie sich auf die Suche nach Mohamed, der am Vorabend infolge des Streits türenknallend davongestürmt war. Als sie ihn schließlich findet, kommt es zur Versöhnung,39 anlässlich derer Mohamed Adriana einen Heiratsantrag macht, um vor den Augen ihrer Kritiker die Aufrichtigkeit ihrer Liebe unter Beweis zu stellen.40 Durch die Inszenierung von Adrianas Täuschung und ihrem anschließenden Schuldeingeständnis, das in der erzählten Welt zu einer Stärkung ihrer Verbindung zu Mohamed führt, werden bestimmte Formen migrationsinduzierter Invektivität reflexiv gemacht: Das Erzählen eines Verdachtsmoments und der zugehörigen intradiegetischen Auswirkungen dient der Problematisierung abwertender Stereotypisierungen von zugewanderten Personen, allen voran der auf diese gerichteten Zuschreibung, delinquent zu sein.41

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Eine ausführliche Thematisierung der narrativen Verhandlung bzw. Fortschreibung des Stereotyps des:r kriminellen Migrant:in in italienischen Immigrationsfilmen findet sich in G. Deinzer: Erzählte Invektivität. Hier resümiert Adriana noch einmal die Gründe für ihr ungerechtes Verhalten: Sie sei von Angst ergriffen worden und habe dieser nachgegeben. Ihre Angst und das resultierende Handeln werden dabei im Film explizit auf den Einfluss ihres sozialen Umfelds zurückgeführt: Adriana erklärt, dass sie im Krankenhaus von allen verspottet werde, dass darüber hinaus Maria Ida nicht mehr mit ihr spreche und ihren Kontakt zu Jonathan unterbinde. 00:45:52-00:50:50. Io, l’altro (2007) von Mohsen Melliti ist ein weiterer Immigrationsfilm, in dem das Erzählen von intradiegetischen Verdachtszusammenhängen dazu genutzt wird, migrati-

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Beim zweiten in L’amore non perdona dargestellten Verdächtigungsgeschehen verhält es sich hingegen anders, insofern das Stereotyp des:r kriminellen Migrant:in in diesem Fall nicht kritisch reflektiert, sondern im Gegenteil ungebrochen reproduziert wird.42 Nachdem Adriana und Mohamed geheiratet und ihre Hochzeitsreise im marokkanischen Tanger bei Mohameds Familie verbracht haben, wird Adriana von ihrer Tochter angerufen und gebeten, allein zu ihr nach Hause zu kommen. Dort wird sie von ihrem Schwiegersohn, dem Polizisten Rocco, unterrichtet, dass ein Cousin Mohameds, ein gewisser Feisal, in Verdacht stehe, Teil eines internationalen Netzwerks zu sein, das Kinderpornografie produziere und im Internet verbreite.43 Auch hier wird der enorme soziale Druck vorgeführt, dem sich Adriana – nicht zuletzt vonseiten ihrer Tochter – ausgesetzt sieht und der ihr Verhalten gegenüber Mohamed maßgeblich beeinflusst: Maria Ida fordert, dass ihre Mutter ihr Verhältnis beende, weil sie sonst alle riskierten, in diese unschöne Angelegenheit hineingezogen zu werden – vor allem Rocco, der um seine Beförderung fürchten müsse. Adriana sträubt sich zunächst gegen den Gedanken, ihre Relation zu Mohamed aufzulösen, willigt aber schließlich ein, als die Tochter sie emotional erpresst mit dem Vorwurf, dass die eigene Familie ihr wohl gar nichts bedeute. Da sie

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onsbezogene Invektivitätsformen wie das abwertende Stereotyp des:r kriminellen Migrant:in kritisch zu reflektieren. In Mellitis Film wird das betreffende narrative Muster nicht nur punktuell eingesetzt, sondern über die gesamte Erzählung hinweg entfaltet. Es geht um die auf Sizilien lebenden Fischer Giuseppe und Yousef. Die beiden pflegen ein freundschaftliches, ja brüderliches Verhältnis, das sich jedoch im Verlauf der Handlung in offene Feindschaft verkehrt. Diese Entwicklung ist darauf zurückzuführen, dass Giuseppe vom Argwohn befallen wird, dass sein Freund und Partner ein Terrorist gleichen Namens sein könnte, von dessen internationaler Fahndung er fortwährend im Radio hört. Io, l’altro inszeniert also ebenfalls eine persönliche Täuschung, die von einem falschen Verdacht provoziert wird. Durch das Vorführen der daraus resultierenden sozialdestruktiven Effekte – Yousef wird am Ende der Narration von Giuseppe in seiner nachrichtenmedial befeuerten Paranoia ermordet – wird die an der Wurzel der Verdächtigung liegende stereotype Assoziation von migrierten Personen mit Delinquenz problematisiert. Für eine tiefergehende Analyse des Films aus der Invektivitätsperspektive vgl. Deinzer, Gabriel: »Die narrative Modellierung medieninduzierter Invektivität in Mohsen Mellitis Io, l’altro (2007)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 134–153 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t07.pdf). 01:05:22-01:07:45. Es handelt sich dabei um eben jenen Cousin, den Mohamed Adriana in Marokko als »mon préféré« vorstellt mit der Bemerkung, dass sie wie Brüder seien – um Feisal also, der sich als Einziger aus Mohameds Familie offen gegenüber Adriana zeigt und ihr ein Hochzeitsgeschenk macht (00:57:26-00:59:43).

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sich selbst nicht imstande fühlt, mit Mohamed Schluss zu machen, vereinbaren sie, dass ihr Schwiegersohn dies für sie übernehmen solle. Die folgende Gesprächssequenz zwischen Rocco und Mohamed setzt das gesamte Ausmaß der Verletzungsmacht des Vorgehens von Adrianas Angehörigen in Szene.44 Sie führt vor Augen, dass nicht nur Adriana, sondern auch Mohamed gleichermaßen darunter leidet. Dessen Schmerz wird in der erzählten Welt durch Roccos rabiates Vorgehen zusätzlich verstärkt: Bevor er Mohamed Adrianas Trennungsentschluss mitteilt, versetzt er ihm einen ersten Stoß, indem er von den gegen Feisal laufenden Ermittlungen spricht. Mohamed entgegnet aufgebracht, dass sein Cousin zu so etwas nicht fähig sei. Rocco erwidert seinerseits, dass die Untersuchungen seiner Kollegen das noch bestätigen würden. Auf die polizeilichen Nachforschungen und deren etwaiges Ergebnis wird jedoch im weiteren Verlauf der histoire nicht mehr eingegangen. Ob Feisal schuldig ist oder nicht, wird im Film nicht aufgeklärt, der Verdacht bleibt also bestehen. Während die stereotype und abwertende Assoziation von als Migrant:innen gelesenen Personen mit Kriminalität bezüglich des marokkanischen Protagonisten Mohamed problematisiert wird, kommt es im Zusammenhang mit der Nebenfigur Feisal zu ihrer Fortschreibung. Am Beispiel von L’amore non perdona wird demzufolge evident, was für viele italienische Immigrationsfilme gilt – dass sie nämlich nicht nur Medien metainvektiver Reflexivität, sondern ebenso Medien von Invektivität sein können. Im Hinblick auf ihre (meta-)invektiven Anteile – auf die (nicht) geleistete kritische Reflexion von bestimmten migrationsbezogenen Invektivitätsformen bzw. deren (partielle) Reproduktion – erweisen sich italienische Immigrationsfilme immer wieder als ambivalent.45 Nachdem Rocco Mohamed mit der Information über den gegen Feisal bestehenden Verdacht überrumpelt hat, kommt er auf den eigentlichen Anlass seines ›Besuchs‹ zu sprechen: die angebliche Tatsache, dass Adriana nichts mehr mit ihm und »i [suoi] parenti che sfruttano i ragazzini« zu tun haben wolle. Mohamed erkundigt sich, ob Adriana von Roccos Anwesenheit bei ihm wisse. Als dieser ihm antwortet, dass just sie ihn schicke, greift er zu einem Küchenmesser und fügt sich eine Schnittwunde auf der linken Wange zu, um seinen Schmerz auszudrücken. Der Vorgang wird in einem Close-up gefilmt, das im Anschluss eine Weile auf Mohameds Gesicht ruht, das nun vom Schnitt 44 45

01:07:46-01:08:29. Für die detaillierte Untersuchung und Beschreibung dieser Ambivalenz mit Blick auf ein größeres Filmkorpus vgl. G. Deinzer: Erzählte Invektivität.

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sowie tiefer Traurigkeit gezeichnet ist. Analog zur Inszenierung der Erniedrigungen, die Adriana in ihrem sozialen Umfeld über sich ergehen lassen muss, werden also auch im Rahmen des In-Szene-Setzens der von Mohamed erlittenen Herabsetzungen Nah- und Großaufnahmen eingesetzt. Das reflexive Potenzial, das Close-ups im Kontext der Darstellung von Invektivität im Sinne der kritischen Vermittlung von persönlicher Betroffenheit per se entfalten, wird in Bezug auf die devalorisierende Produktion von otherness noch einmal gesteigert: Derart semantisch bzw. emotional aufgeladene Close-ups sind in der Lage, die dem othering zugrundeliegenden Mechanismen der Differenzsetzung sowie die damit verbundenen Auf- bzw. Abwertungsstrukturen nicht nur offenzulegen, sondern zu unterlaufen, gar umzukehren. Klassische Mechanismen der pejorativen Alteritätskonstruktion arbeiten mit der Homogenisierung der als ›anders‹ markierten Menschen zu einer Gruppe, deren Mitglieder vermeintlich alle gleich sind. Die derart geschaffene ›Sie‹-Gruppe wird polarisierend von einem ›Wir‹ unterschieden und diesem hierarchisierend unterstellt. Das ›Wir‹ wird also einer Aufwertung, das ›Sie‹ einer Abwertung unterzogen.46 Das reflexive Potenzial von Nah- und Großaufnahmen, das diesen Mechanismen entspringende Herabgewürdigtsein der ›veranderten‹ Personen bzw. Figuren zu problematisieren, gründet im Vermögen, eine – mit Thomas Elsaesser und Malte Hagener gesprochen – »über Intention und Mitteilung hinausreichende Sichtbarkeit«47 zu generieren. Indem Close-ups die Vielfalt an Ausdrücken und Regungen ausstellen, die sich synchron auf dem jeweiligen Gesicht manifestieren, konterkarieren sie die Entindividualisierung der gezeigten ›Anderen‹, welche aus deren (invektiv aufgeladener) diskursiver Homogenisierung resultiert. Die dem Zuschauerblick ausgesetzten Gesichter führen demnach Menschen als fühlende Individuen vor, womit auch die polarisierende Gruppenunterscheidung zwischen ›Wir‹ und ›Sie‹ aufgehoben wird. Das hierarchisierende Moment wird letztlich dadurch nivelliert, dass die Be- bzw. Getroffenen in ihrer Verletzbarkeit in Szene gesetzt werden, um ein (An)Erkennen jenes Schmerzes

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Für eine zusammenfassende Explikation der genannten Mechanismen am Beispiel von rassistischem othering vgl. Rommelspacher, Birgit: »Was ist eigentlich Rassismus?«, in: Paul Mecheril/Claus Melter (Hg.), Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau Verlag 2009, S. 25–38, hier S. 29. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2017, S. 80.

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anzubahnen, der durch die Hierarchisierung sowie die damit einhergehenden herabsetzenden Eigenschaftszuschreibungen verursacht wird.

Jenseits von Migration und Invektivität: Arbeit und Familie in der Kritik Im Anschluss an die durch Maria Ida sowie Rocco herbeigeführte Beendigung der Beziehung von Adriana und Mohamed fokussiert der Film gemäß seiner bisherigen figuralen Schwerpunktsetzung auf die Effekte, die dieser Bruch in der weiblichen Hauptfigur hervorruft – während der marokkanische Protagonist lediglich am Ende der Handlung noch einmal einen Auftritt erhält. So folgt auf die Trennung eine Sequenz, die Adrianas desolate Gemütslage veranschaulicht. Den Auftakt konstituiert eine Szene, in der sie ein Foto ihrer Hochzeit mit Mohamed betrachtet.48 Die erste Einstellung zeigt das Hochzeitsfoto aus der Nähe, wobei ihre Finger über das Abbild von Mohamed streichen. Daran schließen zwei Aufnahmen an, die Adriana als Blicksubjekt etablieren: eine Halbtotale – sie sitzt am Wohnzimmertisch und hält das von ihr fixierte Foto in Händen – sowie ein Close-up, das ansichtig werden lässt, wie sie zu weinen beginnt. Am Schluss dieses point of view shot wird erneut zum Hochzeitsfoto geschnitten, das nun vor der Kamera verschwimmt. Adrianas tränenverschleierter Blick sowie ihr Trennungsschmerz werden also filmästhetisch modelliert. In der folgenden Szene kommt zur Anschauung, wie sie in den Straßen von Bari an einem Mann vorbeiläuft, der, von hinten gesehen, Mohamed sein könnte.49 Sie zögert einen Moment, dann heftet sie sich an dessen Fersen, bis sie feststellen muss, dass es sich nicht um Mohamed handelt. Daraufhin bleibt sie für einige Augenblicke wie verloren auf dem Bürgersteig stehen, bevor sie sich umdreht und mit apathischer Miene ihres Weges geht. Adrianas Gefühlskrise wird weiterhin auf histoire-Ebene vermittelt: Sie beantragt die Versetzung in ein anderes Krankenhaus und wehrt die Annäherungsversuche ihrer Tochter ab.50 Zudem wird den Zusehenden ein Einkauf im Supermarkt gezeigt, bei dem sie ausschließlich tiefgefrorene Ware und vier

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01:08:30-01:09:09. 01:09:10-01:10:03. 01:10:04-01:10:39 und 01:11:54-01:12:45.

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Flaschen Rotwein erwirbt.51 Den Abschluss der Darstellung ihrer prekären Verfassung bildet eine kurze Episode, in der sie abends allein auf der Couch vor sich hin dämmert, nachdem sie eine der Weinflaschen ausgetrunken hat.52 Die mise en scène ist dabei vielsagend, insofern sie die Niedergeschlagenheit der weiblichen Hauptfigur symbolisiert: Das Zimmer ist in Zwielicht getaucht, auf dem Couchtisch steht die leere Flasche. Im Hintergrund läuft der Fernseher, der als Sinnbild der Abwesenheit Mohameds fungiert, war er es doch, der ihr das Gerät zum sechzigsten Geburtstag geschenkt hat. In der beschriebenen Sequenz kulminiert die Dramaturgie, die in L’amore non perdona dem Erzählen einer interkulturellen Liebesbeziehung von Beginn an eingeschrieben ist und als Inszenierung der fortschreitenden emotionalen Zerrüttung der Protagonistin den roten Faden der Narration ausbildet. In der Diegese gelingt es Maria Ida schließlich, Adriana aus ihrer häuslichen Zurückgezogenheit zu holen. Sie lädt sie gemeinsam mit Rocco zu einem Abendessen inklusive Tanz und Musik ein.53 Nach dem Essen erzählt sie, dass sie ehedem Vater und Mutter in solchen Situationen kaum wiedererkannt hätte, so anders wären sie beim Tanzen gewesen. Dem Verweis auf die Lebensfreude der Eltern, die diese in der Wahrnehmung der Tochter fremd erscheinen ließ, begegnet Adriana mit bitterer Ironie: »È vero, i genitori non ballano, non ridono troppo e non fanno mai l’amore.« Sie steht auf und fängt an, ausgelassen mit einem Unbekannten zu tanzen. Es folgt eine Montage-Einheit, die Einstellungen der Tanzenden mit Aufnahmen des am Tisch zurückgebliebenen Ehepaars bzw. von Maria Ida alterniert.54 Diese wird in zwei Close-ups eingefangen, in denen sie bedrückt wirkt. Im zweiten dreht sie den Kopf in Richtung Rocco, als wolle sie etwas zu ihm sagen, zögert, wendet sich wieder ab und senkt betreten den Blick. Der Dynamik und Lebhaftigkeit Adrianas wird demnach die Trägheit des jüngeren Paars sowie die Beklommenheit der Tochter entgegengestellt. Die beschriebene Montage-Einheit ist Teil mehrerer Episoden, in denen Maria Idas Beziehungs- bzw. Familien- und, damit verbunden, ihr und auch Roccos Arbeitsleben thematisiert werden. Adrianas Tochter wird in diesem intradiegetischen Zusammenhang von Privat- und Berufswelt als unzufrieden vorgeführt – eine Unzufriedenheit, die in der erzählten Welt aus der

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01:10:40-01:11:53. 01:12:46-01:13:09. 01:13:10-01:14:17. 01:14:18-01:15:07.

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Entfremdung von Mann, Kind und Mutter resultiert, welche wiederum darin ihre Ursache hat, dass sie und Rocco aufgrund zeitintensiver Beschäftigungsverhältnisse kaum in der Lage sind, ihre familiären Bindungen zu pflegen. Über die Figur Maria Idas wird also der Themenkomplex ›Arbeit und Familie‹ leitmotivisch in die Filmnarration eingebracht und nicht zuletzt problematisiert – insofern inszeniert wird, wie die beruflichen Anforderungen Maria Idas und Roccos den Familienzusammenhalt schwächen. Dieser Themenkomplex ist ab Maria Idas erstmaligem Auftritt in der histoire präsent: ab der bereits besprochenen Szene, in der sie Jonathan in Adrianas Obhut gibt. Er manifestiert sich des Weiteren in einem Gespräch, das sie mit ihrer Mutter führt, kurz nachdem diese das erste Mal mit Mohamed Schluss gemacht hat.55 Es geht um den bevorstehenden Urlaub, zu dem Adriana von der Tochter eingeladen wird, zu dem sie aber nicht mitkommen möchte. Maria Ida versucht, sie trotz der Absage dazu zu bewegen, sich ihnen anzuschließen, weil sie fürchtet, keine Aufsicht für ihr Kind zu haben: »Dovevi pensare a noi almeno. A Jonathan fa piacere stare con te.« Adriana insistiert, dass sie zwischendurch Zeit zu dritt verbringen sollten: »Ma una volta state insieme, tutti i tre.« Maria Ida erwidert wiederum, dass sie gehofft habe, ein wenig mit Rocco allein sein zu können: »Io volevo stare un po’ da sola con Rocco. Non lo vedo mai. Ha lavorato come un matto quest’anno. C’è una promozione nell’area.« Maria Ida charakterisiert ihren Mann folglich als einen Menschen, der sich für Erfolg im Beruf aufarbeitet und deswegen nur selten zuhause anwesend ist. Außerdem offenbart sich auch hier Maria Idas Unzufriedenheit, artikuliert sie doch den Wunsch nach bzw. den Mangel an Zweisamkeit mit Rocco. Durch das Gespräch wird mithin das Bild einer Familie entworfen, in der die einzelnen Mitglieder wenig Kontakt zueinander haben: Das gilt für die Eltern sowie für deren Verhältnis zu ihrem gemeinsamen Sohn. Darüber hinaus ist die Relation zwischen Mutter und Tochter davon betroffen. Maria Ida ist während der gesamten Erzählung in einem fort auf dem Sprung. So bleibt sie beim Besuch ihrer Mutter, anlässlich dessen besagte Unterhaltung stattfindet, zunächst im Mantel in der Küche stehen. Erst als Adriana sie bittet, sich zu setzen und eine Tasse Tee mit ihr zu trinken, nimmt sie Platz. Analog zu den anderen Mutter-Tochter-Konversationen in L’amore non perdona beschränkt sich die Kommunikation, abgesehen vom Streitthema ›Mohamed‹, weitgehend auf praktische Fragestellungen wie die Betreuung von Jonathan. Lediglich die Bindung zwischen nonna und Enkel erscheint als eng und stabil. 55

00:25:30-00:27:31.

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An dieser Stelle bestätigt sich die Beobachtung des eingangs zitierten Vito Zagarrio, dass die narrative Verhandlung der Einwanderungsthematik im zur Diskussion stehenden Filmkorpus häufig dazu dient, weitere gesellschaftliche Gemengelagen sowie die damit einhergehenden sozialen Veränderungen und Auswirkungen erzählend aufzugreifen. In Consiglios Film meint dies konkret den als konfliktbehaftet inszenierten Zusammenhang von Privat- und Arbeitswelt. Letztere wird dabei kritisch perspektiviert, insofern zur Darstellung kommt, wie die beruflichen Verpflichtungen Maria Idas und Roccos ihr familiäres Leben ›negativ‹ beeinflussen, indem sie zwischenmenschliche Distanz und dadurch Gefühle der Unzufriedenheit sowie Bekümmertheit aufseiten von Adrianas Tochter generieren.

Abschließende Betrachtungen Nach der Tanzveranstaltung sucht die angetrunkene Adriana Mohamed in dessen Bleibe am Stadtrand auf.56 Mohamed sitzt vor seiner Unterkunft an einem Lagerfeuer. Sie versucht zu erklären, dass sie das Geschehene keinesfalls gewollt habe, sondern durch ihr soziales Umfeld dazu gezwungen worden sei. Sie wünsche sich nach wie vor, mit ihm zusammen zu sein. Mohamed lehnt ihren Annäherungsversuch ab und entfernt sich. Niedergeschlagen geht Adriana zur Straße, um sich auf den Heimweg zu machen. In ihrer Trauer gibt sie nicht acht und wird von einem heranbrausenden Motorrad angefahren. Als sie nach der Kollision zu sich kommt, liegt sie in Mohameds Armen, der ihr zulächelt und meint, dass das Motorrad sie zum Glück nur gestreift habe. Er fragt, ob sie ihm nun endlich vertraue. Sie antwortet: »Je te le jure!«, worauf sie hinzufügt: »Andiamo a casa!« Dabei fährt die Kamera nah an Adrianas Gesicht heran, um dessen Strahlen in Anbetracht der neuerlichen Wiedervereinigung einzufangen. Die letzte statisch gefilmte Szene zeigt die beiden Hauptfiguren, die sich im Morgengrauen den Lungomare entlang in Richtung Innenstadt begeben, wobei der Abspann einsetzt.57 Aus der Sicht der Zuschauenden kommen sie von rechts unten ins Bild, folgen der Straße, die eine Kurve zu dessen linkem Rand beschreibt, wo sie aus ihm heraustreten. In dem Moment, als sie es verlassen, verschwimmt die Aufnahme und die Straßenbeleuchtung, die ihren 56 57

01:16:35-01:21:54. 01:21:55-01:24:59.

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Hintergrund auf mittlerer Höhe durchzieht, löst sich in ein Band aus diffusen Lichtpunkten auf. Hier besteht eine ästhetische Analogie zu den Immigrationsfilmen Quando sei nato non puoi più nasconderti (2005) von Marco Tullio Giordana und Mediterranea (2015) von Jonas Carpignano: Deren finale Einstellungen gehen ebenfalls in vage Flächen aus Schatten und farbigen Lichtkreisen über. In allen drei Fällen vermittelt die abschließende Auflösung des Bildes ein offenes Ende, welches das weitere Schicksal der migrantischen Protagonist:innen (Ayiva in Mediterranea) bzw. der migrantisch-italienischen Figurenpaare (Alina und Sandro in Quando sei nato respektive Mohamed und Adriana in L’amore non perdona) im Ungewissen lässt. Stella Lange konstatiert im Hinblick auf den Schluss von Carpignanos Film mit Bezug auf eine Analyse von Eleanor Paynter: Die letzte lange, unscharfe Einstellung zeigt das wechselnde und zugleich verschwommene Lichterfarbenmeer. Aus Paynters Sicht […] wird aus diesem offenen ambivalenten Ende, das zwischen einem Akt der möglichen Selbstermächtigung und einer Unterordnung in die herrschenden Verhältnisse changiert, jedenfalls nicht deutlich, wie Ayiva sich letztlich entscheidet bzw. welchen Status er in der italienischen Gesellschaft letzten Endes erhält.58 Langes Rede von einem »ambivalenten Ende, das zwischen einem Akt der möglichen Selbstermächtigung und einer Unterordnung in die herrschenden Verhältnisse changiert«, ist auf L’amore non perdona übertragbar.59 Die Entschei58

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Lange, Stella: »Verflüchtigende Bilder am Rande von Europa. Räume des Prekären in Emanuele Crialeses und Jonas Carpignanos Migrationsdramen«, in: Marina Ortrud M. Hertrampf/Beatrice Nickel (Hg.), (T)Räume der Migration (= PhiN-Beiheft 18/2019), S. 169–190, hier S. 186 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft18/b18t11.pdf). Ähnliches gilt für Quando sei nato: Nachdem der zwölfjährige Sandro die in etwa gleichaltrige, aus Rumänien stammende Alina aus einer Migrant:innensiedlung in der Mailänder Peripherie befreit hat – sie hatte ihn vorher per Handy zur Hilfe gerufen, weil sie dort von ihrem Bruder oder Freund gegen ihren Willen festgehalten und zur Prostitution gezwungen wurde –, sitzen die beiden verlassen an einer Baustelle in der nächtlichen Großstadt. Zwar haben die jugendlichen Hauptfiguren ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und eigenmächtig gehandelt, aber ihre Zukunft liegt dennoch völlig im Unklaren. Das betrifft insbesondere Alina: Wird sie ein weiteres Mal Reißaus nehmen oder bei Sandro bleiben und sich mit den italienischen Behörden in Kontakt setzen? Sollte dies der Fall sein, wird sie in ihr Heimatland zurückgebracht werden oder in einer Pflegefamilie unterkommen? Auf all diese Fragen gibt der Film keine Antwort. Stattdessen verdeutlicht er deren Offenheit sowie die damit verbundenen Unwägbarkeiten auf visueller Ebene durch die angesprochene Verschleierung der letzten Einstellung von Sandro und Alina.

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dung Adrianas und Mohameds, sich trotz der erfahrenen äußeren Widerstände abermals zusammenzutun, kann sicherlich als eine Form der – zumindest vorläufigen – Emanzipation von der dargestellten gesellschaftlichen Ordnung gedeutet werden. Aus der Perspektive einer imaginären Weiterführung der Erzählung erscheint es jedoch unwahrscheinlich, dass mit dem erneuten Einstehen füreinander die Ablehnung und die damit verbundenen Herabsetzungen verschwänden. Unter Berücksichtigung der sozialen Zusammenhänge, die in Consiglios Film narrativ modelliert und als durch Invektivität geprägt in Szene gesetzt werden, drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass der Alltag des interkulturellen Paares nach wie vor von Diskriminierung und Ressentiments bestimmt sein würde. Die hypothetische Frage nach dem dauerhaften Fortbestehen der Verbindung jenseits der erzählten Ereignisse ist somit nicht zu beantworten. Das Happy End erweist sich als ambivalent, weil es die Möglichkeit des nochmaligen Scheiterns der Beziehung von Adriana und Mohamed aufgrund der bestehenden Verhältnisse beinhaltet – interpretierbar als unterordnende Angleichung an die aufgerufenen sozialen Konditionen. In diesem offen-ambivalenten Ausgang manifestiert sich eine Darstellungsweise von Einwanderung nach Italien, die L’amore non perdona über Quando sei nato und Mediterranea hinaus mit vielen weiteren Immigrationsfilmen verbindet. Eine solche Repräsentationstendenz führt den Aufenthalt der migrantischen Figuren im Ankunftskontext als (vorübergehende) existenzielle Krise vor, die häufig auch die italienischen Protagonist:innen betrifft. Den Hintergrund solcher ins Ungewisse mündenden Krisennarrationen bildet wiederholt die Inszenierung Italiens als Land, das von zahlreichen sozialen Spannungen sowie ökonomischen Problemen gekennzeichnet ist und daher den zugewanderten Personen – aber ebenso den nicht migrierten Italiener:innen – keine Möglichkeit zur persönlichen bzw. gemeinsamen Entfaltung bietet. Die hier im Fokus stehenden Immigrationsfilme liefern also regelmäßig eine umfassende Krisendiagnose der italienischen (Aufnahme-)Gesellschaft, wobei mithilfe narrativer Muster wie des Erzählens von interkulturellen Liebesbeziehungen oder Verdachtsmomenten die gesellschaftliche Wirksamkeit migrationsinduzierter Invektivitätsformen ausgelotet wird. Von der analytischen Metaebene aus betrachtet ist in Bezug auf diese filmischen Verhandlungen herabsetzender Eigenschaftszuschreibungen in Einwanderungszusammenhängen jedoch festzustellen, dass manche von ihnen zuweilen nicht nur reflexiv gemacht, sondern gleichfalls fortgeschrieben werden, wie Consiglios Filmerzählung exemplarisch zeigt.

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Filmografie Bangla (ITA 2019, R: Phaim Bhuiyan) Bianco e nero (ITA 2008, R: Cristina Comencini) Billo – Il Grand Dakhaar (ITA, SEN 2007, R: Laura Muscardin) Fiore gemello (ITA 2018, R: Laura Luchetti) Io, l’altro (ITA 2007, R: Mohsen Melliti) L’amore non perdona (ITA, FRA 2015, R: Stefano Consiglio) La straniera (ITA 2009, R: Marco Turco) Mar nero (ITA, FRA, ROU 2008, R: Federico Bondi) Mediterranea (ITA, FRA, GER, USA, QAT 2015, R: Jonas Carpignano) Quando sei nato non puoi più nasconderti (ITA, FRA, GBR 2005, R: Marco Tullio Giordana)

Bibliografie Babka, Anna: »Gayatri C. Spivak«, in: Dirk Göttsche et al. (Hg.), Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag 2017, S. 21–26. Bolsi, Marco: »L’amore non perdona, di Stefano Consiglio«, in: Sentieri Selvaggi vom 07.04.2015 (https://www.sentieriselvaggi.it/lamore-non-perdona-di-stefan o-consiglio/). Casale, Mario V. et al.: »Filmografia commentata del cinema di migrazione«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 176–234 (http://web.f u-berlin.de/phin/beiheft20/b20t09.pdf). Deinzer, Gabriel: Erzählte Invektivität – Invektive Erzählungen: metainvektive Reflexivität und invektive Kodierungen in zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen. Dissertation TU Dresden 2022. Deinzer, Gabriel: »Die narrative Modellierung medieninduzierter Invektivität in Mohsen Mellitis Io, l’altro (2007)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 134-153 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t07.pdf). Ellerbrock, Dagmar et al.: »Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften«, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (2017), S. 2–24. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius 2017.

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Hall, Stuart: The Fateful Triangle. Race, Ethnicity, Nation, Cambridge: Harvard University Press 2017. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart J.B. Metzler Verlag 2012. Lange, Stella: »Verflüchtigende Bilder am Rande von Europa. Räume des Prekären in Emanuele Crialeses und Jonas Carpignanos Migrationsdramen«, in: Marina Ortrud M. Hertrampf/Beatrice Nickel (Hg.), (T)Räume der Migration (= PhiN-Beiheft 18/2019), S. 169–190 (http://web.fu-berlin.de/phin/be iheft18/b18t11.pdf). O’Healy, Áine: Migrant Anxieties. Italian Cinema in a Transnational Frame, Bloomington: Indiana University Press 2019. Pomponio, Daria: »L’amore non perdona di Stefano Consiglio«, in: QUiNLAN. Rivista di critica cinematografica vom 04.09.2015 (https://quinlan.it/2015/04/ 09/lamore-non-perdona/). Rommelspacher, Birgit: »Was ist eigentlich Rassismus?«, in: Paul Mecheril/ Claus Melter (Hg.), Rassismustheorie und -forschung, Schwalbach am Taunus: Wochenschau Verlag 2009, S. 25–38. Schrader, Sabine/Tiller, Elisabeth (Hg.): Agency und Invektivität in zeitgenössischen italienischen Migrationserzählungen. Kino und Literatur (= PhiNBeiheft 20/2020: http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20i.htm). Schrader, Sabine/Tiller, Elisabeth: »Migration nach Italien. Handlungsfähigkeit und Dynamiken der Herabsetzung in Literatur und Film. Eine Einleitung«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 1-15 (http://we b.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t01.pdf). Tiller, Elisabeth: »Metainvektive Reflexivität«, in: Dagmar Ellerbrock/Heike Greschke/Jan-Philipp Kruse (Hg.): Schlüsselkonzepte der Invektivität. Begriffe, Perspektiven, Potentiale, Frankfurt/New York: Campus 2023, im Erscheinen. Tiller, Elisabeth: »Italien vom Emigrations- zum Immigrationsland«, in: Antje Lobin/Eva-Tabea Meineke (Hg.), HANDBUCH Italienisch. Sprache – Literatur – Kultur, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2021, S. 556–561. Zagarrio, Vito: »Imagined Journeys. Italian Directors and Immigration«, in: Emma Bond et al. (Hg.), Destination Italy. Representing Migration in Contemporary Media and Narrative, Oxford u.a.: Lang 2015, S. 325-344.

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Internetquellen https://www.apuliafilmcommission.it/inizio-riprese-lamore-non-perdona-di-stefanoconsiglio-con-ariane-ascaride/

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Introduction The bilingual French-Italian documentary The Milky Way (Italy 2020, R: Luigi D’Alife)1 is a plea for human rights in the age of Europe’s isolation from the Global South; in this sense, it is a human rights film in that it endows vulnerable protagonists – refugees, as well as French and Italian volunteers – with humanity and empathy. The Milky Way thereby draws a parallel between the Italian emigration after the Second World War (drawn as animated sequences) and the flight around 2018. Towards the end of the documentary, the viewer witnesses a demonstration by the citizen-movement, Tous Migrants (All Migrants)2 . It is brought to our attention that in 2018, 5,202 refugees made the crossing between Clavière in Italy and Montgenèvre in France, 401 of them in January and February alone – in other words, in the depths of winter. That averages out at around seven people per day or, more typically, per night (so as not to be visible in the dark). The end of the film is both: a résumé of the topic of The Milky Way and a denunciation, in that it takes a critical attitude towards national borders. Border regimes are revealed as structural invective disparagements, which define participation in political agency and humanity through arbitrarily mecha1

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Luigi D’Alife (*1986) is a documentary maker and director. His initial work was prompted by his passionate reaction to the Kurdish/Turkish border dispute (see the short documentary The Cizre massacre (2015–16) and his first feature film Binxet – Sotto il confine [2017]). At the beginning of 2018, he turned his attention back to the border between Italy and France (see his documentary The Western Border [2018–20]) (cf. https://milky waydoc.com/who-we-are/?lang=en). Tous Migrants is a pacifist citizen’s movement of awareness and advocacy born in September 2015 around the humanitarian crisis of migrants in Europe (cf. https://tousmigr ants.weebly.com/).

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nisms of inclusion and exclusion. My focus is therefore less on these invective disparagements and more on understanding the documentary as a response to them by showing solidarity beyond borders. My initial thesis is that the staging of the landscape, specifically of the mountains, is of particular importance because The Milky Way features the Maritime Alps as a historical space and a contact zone of transcultural encounters.3 I will argue that this is achieved cinematically in a highly interesting interplay of documentary modes combined with numerous intra- and intermedial references. In order to show the synchronous dimension of the transcultural area, D’Alife primarily shows the landscape as interconnected space. The filmmaker thus functions as an (visual) anthropological researcher or as an investigative reporter, even if we do not see him in the picture. For the viewer, the impression remains that he/she “witnesses the historical world as represented by someone who actively engages with […]”4 . For the purpose of showing the historical and medial constitution of collective memory of the Maritime Alps, D’Alife incorporates narratives and the visual language of animated sequences, photographs, and of the classics such as Il cammino della speranza (Path to Hope) (Italy 1950, R: Pietro Germi). The Milky Way is therefore an interplay of different strategies of staging collective memory, interviews, real-life and re-enacted action, and animation, intending to engage and reflect a collective memory of human solidarity and the mediatisation against invective constellations.

Documenting Humanity – Subverting Invectivity Films represent, reformulate, transform, and/or reflect discourses of disparagement and invectivity. In his doctoral thesis Erzählte Invektivität – Invektive Erzählungen: metainvektive Reflexivität und invektive Kodierungen in zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen (2022), Gabriel Deinzer worked out how hegemonic invective disparagements have been perpetuated in numerous Italian

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Cf. Pratt, Mary Louise: “Arts of the Contact Zone”, in: Profession (1991), pp. 33–40. Cf. Welsch, Wolfgang: “Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen”, in: Irmela Schneider/Christian Werner Thomsen (eds.), Hybridkultur, Cologne: Wienand Verlag 1997, pp. 67–90. Nichols, Bill: Introduction to Documentary, Bloomington: Indiana University Press 2005, p. 116.

Documenting the Transnational Alps: THE MILKY WAY (2020)

feature films since 1990. My second thesis is that contemporary Italian documentaries in particular are less likely to adopt invective perspectives and instead, present aesthetically innovative narratives of solidarity, since the documentary is usually beyond the commercial mainstream production and distribution, and thus also beyond commercial constraints. A very good example of this is The Milky Way, whose production and distribution differ from many mainstream films. The Milky Way was financed by crowdfunding on social media and in collaboration with Amnesty International and SMK Videofactory. The film collective SMK is an extremely successful independent Italian initiative. It was founded in Bologna in 2009 as a channel for aesthetically exciting, political documentaries with a counter-cultural approach, but above all, according to its own statement, to make distribution more open and democratic.5 The films are accessible online via the in 2013 founded in-house streaming platform openddb (open distribuzione dal basso), as “La prima rete distributiva di produzioni indipendenti in Europa”6 . In Italy, documentary filmmaking is a particularly experimental area of cinematographic research. Documentaries on migration not only deal with the multitude of migrants, but also with the range of perspectives, concepts of reality, and their mediatisation.7 Today, the traditional effects of authenticity are thoroughly bound up with mass-media-provoked attention economics, so the documentaries try to get behind conventionalised narratives and images disseminated by the mass media, to give a (more) human account of migration and transcultural societies. Directors like Dagmawi Yimer and Gianfranco Rosi opt for long, leisurely, often stylised shots that create a kind of epic slowness. In other words, they rely on unhurried editing and contemplative, lyrical cinematography to oppose forms of dramatised storytelling fabricated by the mass media.8 Others, like Andrea Paco Mariani in The Harvest (2017) or Sergio Basso 5 6 7

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Cf. https://www.smkvideofactory.com https://www.openddb.it/ Cf. Angelone, Anita/Clò, Clarissa: “Other visions: Contemporary Italian documentary cinema as counter-discourse”, in: Studies in Documentary Film 5 (2011), pp. 83–89. Cf. Zhang, Gaoheng: “Documentary films on migrations in Italy: Characteristics and ethics”, in: Journal of Italian Cinema and Media Studies 6 (2018), pp. 8–14. Cf. Schrader, Sabine: “Soltanto il mare. Lampedusa als Grenzzone dokumentieren”, in: Schrader/Tiller (eds.), Agency und Invektivität (2020), pp. 84–108 (http://web.fu-berli n.de/phin/beiheft20/b20t05.pdf); Cf. Winkler, Daniel: “Intermediale Strategien in Jakob Brossmanns Lampedusa im Winter (2015) und Gianfranco Rosis Fuocoammare (2016)”, in: Romanische Forschungen 132 (2020), pp. 193–219.

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in Dimmi chi sono (Sarita) (2019), for example, combine the documentary’s participatory mode with musical scenes in order to tie in with the cinematographic traditions of Indian migrants.9 Transnational festivals of human right films of the last decades show how aesthetically rich not only the Italian, but also the European cinematic production is in undermining the repetition of invective constellations such as othering, or the racial discrimination or exclusion of migrated people.10

The Strength of Mountains In investigating the rich seam of thirty years of cinema across fiction and the highly interesting documentaries that are concerned with migration in Italy, I have noticed their habit of honouring the Italian landscape, especially the mountains, and specifically the Alps, which are often presented as a positive counterpoint to an Italian xenophobic society or as a promise of transnationalism.11 The staging of the sea and the islands, such as Lampedusa, is less sub9

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Cf. Schrader, Sabine: “Fuocoammare (2016) tra documentario e finzione”, in: Christian Rivoletti et al. (eds.), Forme ibride e intrecci intermediali. Da Giotto e Dante alla narrativa e alla docufiction contemporanee, Frankfurt/Main: Peter Lang 2022, pp. 241–257. Cf. Schrader, Sabine: “Paesaggio sacro, Bollywood e transculturalità in The Harvest (2017)”, in: Leonardo de Franceschi/Ivelise Perniola (eds.), Migrazioni, cittadinanze, inclusività. Narrazioni dell’Italia plurale, tra immaginario e politiche per la diversità, Rome: tabedizioni 2022, pp. 215–228. Cf. Tascon, Sonia: “Considering Human Rights Films, Representation, and Ethics: Whose Face?”, in: Human Rights Quarterly 34 (2012), pp. 864–883. Cf. Hiltunen, Kaisa: “Recent documentary films about migration: in search of common humanity”, in: Studies in Documentary Film 13 (2019), pp. 141–155. Cf. Ostrowska, Dorota: “‘The migrant gaze’ and ‘the migrant festive chronotope’ - programming the refugee crisis at the European human rights and documentary film festivals. The case of the One World International Human Rights Documentary Film Festival (2016)”, in: Studies in European Cinema 16 (2019), pp. 266–281. E.g. Il vento fa il suo giro (The Wind Blows Round) (Italy 2005, R: Giorgio Diritti) and La prima neve (First Snowfall) (Italy 2013, R: Andrea Segre). Cf. Schrader, Sabine: “Memoria e nostalgia ne Il vento fa il suo giro (Giorgio Diritti)”, in: William Hope et al. (eds.), Un Nuovo Cinema Politico Italiano? Vol. 1: lavoro, migrazione, relazioni di genere, Leicester: Troubador 2013, pp. 163–173. Cf. Schrader, Sabine: “Transkulturelles italienisches Kino zwischen Dokumentation, Heimatfilm und Melodrama. Andrea Segres Io sono Li (2011) and La prima neve (2013)”, in: Eva Maria Meineke/Eugenio Spedicato (eds.), Aufgeschlossene Beziehungen. Italien und Deutschland im transkulturellen Dialog.

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verting because it typifies the emergency discourse of the refugee crisis to establish the concept of the Fortress Europe. The narratives and iconography of the landscape of mountains seem to take another path. The Milky Way is set in the Maritime Alps, which have formed a border between Italy and France for thousands of years, separating and connecting diverse peoples and cultures, and providing well-established migratory routes. For centuries, both goods and people have passed through these routes, which have long since become a transgressive counterpart to stateness. While Italians sought their fortunes in foreign lands throughout the twentieth century, over the last few decades it has been first Balkan refugees and, more recently, African migrants crossing the border. But back to the film’s idea of the mountains. Landscape trains the gaze under which nature – even culturalised, built-up nature – proves to be landscape.12 Historically, a primary medium of this aesthetic experience is painting, which in The Milky Way is marked rather by the slowness of the images. One instance of the landscape experience is the technique of cameraman Nicola Zambelli,13 who, as will be seen in the following, shows us the mountains from a superordinate commenting perspective. This in turn is often also the perspective of the inhabitants, then evoked by a subjective camera, but not of the refugees, who seem to have no eyes for the Italian landscape. The mountains are the setting of The Milky Way, but they do not act as mere set decoration. Although they function like ‘transition shots’ in a classicist cinema sense, they are openers to “indicate in the narrative a spatio-temporal change in action!”14 Their visual staging is something like a counter-image to the national boundaries and the accompanying invective constellations. The Alpine landscape is thus not staged as a border that necessarily has an invective function. The Milky Way narrates the mountains as a place of transit through three parallel narrative strands (a) about the migration of Italians in the 1950s

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Literatur, Film, Medien. Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte, Vol. 9, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, pp. 285–300. Cf. Frank, Hilmar/Lobsien, Eckhard: “Landschaft”, in: Karlheinz Barck et al. (eds.), Ästhetische Grundbegriffe, Vol. 3, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, p. 619. Cf. Lefebvre, Martin: “Between Setting and Landscape in the Cinema”, in: Martin Lefebvre (ed.), Landscape and Film, London/New York: Routledge 2006, p. 27. Nicola Zambelli is known for his social documentaries, among which Cowboy Makedonski (Italy/Macedonia 2018, R: Fabio Ferrero) and The Harvest (Italy 2017, R: Andrea Paco Mariani). He is also a visual artist and photographer (cf. https://nicolazambelli.com/). M. Lefebvre: Between Setting and Landscape in the Cinema, p. 33.

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to France in animated sequences; (b) through interviews with the actual refugees and the local inhabitants – the mountaineers – on both sides of the border; and (c) contrastingly, through the concept of subversive solidarity, for ski tourists.

Figure 1: Mountains as connected space. Luigi D’Alife, TheMilky Way, 2020, Italy.

The film also visually shows the interconnected space, beginning with a paradigmatic image: the viewer sees the mountains and a tunnel (Figure 1). The establishing shot has not been captured by the camera; instead, it is drawn in black and white. Then, a train appears and the viewer boards. We see a mixed group of people riding the train. Immediately, this scene reminds us of the difficult journeys made through the mountain passes by many southern Italians on their way to France after the Second World War. We see snow-covered mountains and trees, overhead cables and a tunnel – the mountains, which are not characterised in detail, are shown as a place of transit and as a culturally connected space. The drawing is dynamic; it places the viewer in the middle of the picture. It is safe to assume that this initial image points to the central thrust of the film, the Maritime Alps as a bridge for cultural encounters, a meeting place, and an intersection. In his relevant study The Alps: Space, Culture, History, the Swiss historian Jon Mathieu has pointed out the crucial role of the Maritime Alps as a border and quotes the famous Zedler’s Universal Encyclopaedia from 1732, in which the

Documenting the Transnational Alps: THE MILKY WAY (2020)

Maritime Alps are defined as “a frontier built by nature”15 . However, this border – and this is the first dominant aspect of the transcultural film narrative – has long since ceased to be perceived as natural. It is now seen as an arbitrary barrier, “an invented line, adjusted 200 times”16 , according to Davide, one of the film’s interviewees. The camera shows Davide high up in the mountains in winter; the slight low angle perspective opens the medium shot towards the sky, and thus with this shot, suggests that the mountaineer is a superior or sublime figure (Figure 2).

Figures 2–3: Mountaineers and mountains as living environment. Luigi D’Alife, The Milky Way, 2020, Italy.

In The Milky Way, as in the drawn establishing shot, the Alps are a shared environment and therefore cannot be thought of unless in connection with humans, for it is humans who make it possible to appeal to each other for help when borders are crossed and danger is encountered. Thus, the visual and narrative staging of the mountain region as an area of transfer is used to debunk nation-state and European border regimes. We repeatedly see the mountains in long, panoramic shots which mostly, though not always, include connecting features such as bridges, roads, or pipelines. Sometimes in the numerous long or extreme long shots, these connecting lines are drawn rather coincidentally at the edge of open frames or, as in the following figure, the bridge is even located in the centre of the image (Figure 3). Landscape, Martin Lefebvre argues, following Eisenstein, is quite a free element in film and can express that which is otherwise inexpressible.17 Therefore, D’Alife visualises the mountains 15 16 17

Mathieu, Jon: Die Alpen: Raum – Kultur – Geschichte, Stuttgart: Reclam 2015, p. 23 [my translation]. 27:46 min. “But if landscape can fulfil this function, according to Eisenstein, it is because – like music – it is ʻthe freest element of film, the least burdened with servile, narrative tasks,

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as a contact zone to explore transculturality behind the national border regime. In this way, the visuality in The Milky Way performs an interconnected borderscape. After the animated sequence in the establishing shot, the camera’s gaze shifts. The viewer moves in real action from the mountain views to the inside of the station café, which can be understood to be another place of exchange. The diegetic soundtrack offers the roaring of cars; the visual and auditory levels transmit the impression of human vitality and encounters. Thus, the first narrative thread, which is concerned with the local Italian and French residents, is established. What is then narrated and shown is not an ancient mountain spectacle, but everyday mountain life. Each of the inhabitants is presented through their everyday activities, such as drinking coffee, carving wood, or driving a car, which the camera captures with long, lingering shots. This is how, throughout the film, a series of French and Italian locals are introduced. They talk about life on one of the oldest Alpine passes, and about the border as an arbitrary line that, in their daily lives, not only fails to function as a barrier, but simultaneously reinforces their collective identity as mountaineers. Their territorially-specific experiences have created a sense of community and solidarity that chimes with the subtitle of the film: “Nessuno si salva da solo” (“No one saves himself on his own”). Two dominant narratives of the Alps of the past 50 years are brought to bear here, having been analysed by the geographer-historians Debarbieux and Rudaz in their substantial text The Mountain – A Political History from the Enlightenment to the Present.18 First, the film ties in with the perception pattern of the joint region and the living environment, which has become important in the second half of the 20th century. The film brings this perception to life in a particularly visual way, such as through the paradigmatic drawing at the beginning of the documentary. Second, Debarbieux and Rudaz describe how the former foreign, nineteenth-century word mountaineer (alpinista) has been proudly adop-

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and the most flexible in conveying moods, emotional states, and spiritual experiencesʼ (Eisenstein 1987, p. 217). Part of the value of this definition lies in how it throws into relief landscape’s conflictual or tense relationship with narrative” (Eisenstein, Sergej M.: Nonindifferent Nature. Cambridge: Cambridge University Press 1987, qtd. by Lefebvre, Martin: “Introduction”, in: Martin Lefebvre (ed.), Landscape and Film, London/New York: Routledge 2006, p. XII). Cf. Debarbieux, Bernard/Rudaz, Gilles: The Mountain. A Political History from the Enlightenment to the Present, Chicago/London: The University of Chicago Press 2015, pp. 132–133; as a European Ecoregion cf. pp. 274–278.

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ted for use by the locals, in particular over the last 50 years.19 Through interviews, The Milky Way stages the mountaineers as positive transcultural border crossers. In the film the concept of the mountaineer also acquires a connotation that transcends nations and borders. Therefore, the French and Italian local inhabitants are not only interconnected with each other, but being mountaineers means helping illegal refugees in the past and present. To make his argument water-tight, D’Alife does not include any opposing perspectives in his film. The dangers of crossing the mountains, which lurk especially in the wintertime for non-mountain dwellers, and specifically in this context for the refugees crossing the pass at night, are presented in two ways – through the locals who talk about survivors suffering from frostbite, or those who did not make it, and through the accounts of the refugees themselves. The camera protects the identity of the African men by filming them, for example, from behind, or, in the case of frostbite victims, by filming only their damaged feet. By observing the details provided in these close-ups, the cold is almost tangible. The men (as in many migrant films, the women are under-represented) talk about their various attempts to escape, first to Europe and then, after years in Italy without any prospect of decent work, to France or Great Britain. In my opinion, the refugees’ vulnerability is best expressed in a visual way, through the night-time exterior shots where the lighting lends a blueish tint to the re-enacted sequences in the snow and reinforces the feeling of cold (Figures 4–5). And ultimately, this vividly portrayed vulnerability is a precondition for structural invective disparagements, because the refugees have to surrender themselves to the forces of nature through the necessary clandestine border crossing. The shots are strengthened acoustically with the sounds of trudging footsteps and panting, almost gasping breath. In these re-enactments, the handheld camera stays close to the subjects, providing a subjective, almost random bias. The migrants and rescue parties appear lost in the snowy landscape, which seems to be an endless expanse where it is not always clear which way is up. There are lights in the distance suggesting a destination, but they are always the same lights, and they are always the same distance away. In these sequences D’Alife shows perilous, life-threatening mountains, but it becomes clear through the narratives that without borders, but with knowledge and/or local assistance, the danger can be overcome.

19

Cf. ibid., pp. 77–79 and 135–136.

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Figures 4–5: Attempt to cross the border. Luigi D’Alife, TheMilky Way, 2020, Italy.

From the middle of the film, D’Alife introduces the third narrative and the eponymous place name, The Milky Way (‘Via Lattea’, ‘La Voie Lactée’), referring to one of the oldest French-Italian skiing areas. It is located in a valley with its own microclimate around 1,850 meters above sea level, and it links the towns of Clavière, Montgenèvre, Briançon, Bardonecchia, Sestriere, Sansicario, and Sauze d’Oulx. While the south-face provides an average of 300 days of sunshine per year, the easterly wind from Italy comes over the high mountain ridges, ensuring record-breaking snowfalls. The quite frequently-shown marketing slogan, “Skiing without borders”, appears cynical in this context: In interviews with tourists, it is the ski area that transcends national borders and which is singled out for the highest praise. Unlike the previous staging of the mountains, here D’Alife features spectacular bird’s-eye views (Figure 6) like those that were an integral feature of Arnold Fanck’s mountain films.20 Fanck’s mountain cinema creates archetypically beautiful and impressive shots of the individual conquering the mountain, to remythologise nature.21 However, in my opinion, the remake of the spectacular character of these few images is rendered ironic by the use of other previous images. For the skier, one of the dangers of alpinism lies in the lift, from which he/she could tumble. The camera shows a corresponding picture, then it shows other images. When the snow begins to thaw, the belongings of those who have fled (or perhaps died) in the snow

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Together with Odo D. Tauern, Bernhard Villinger and Rolf Bauer, Arnold Fanck established the company Berg- und Sportfilm GmbH in Freiburg in 1920. Among his films are The Holy Mountain (1926); The White Stadium (1928, documentary); The White Hell of Pitz Palu (1929, with G. W. Pabst); Storm over Mont Blanc (1930); and The White Ecstasy (1931). Cf. Brandlmeier, Thomas: “Sinngezeichen und Gedankenbilder – Vier Abschnitte zu Arnold Fanck”, in: Jan Christopher Horak (ed.), Berge, Licht und Traum – Dr. Arnold Fanck und der deutsche Bergfilm, Ausstellungskatalog, Munich: Bruckmann 1997, pp. 69–83. Cf. Klecker, Cornelia/Quendler, Christian (eds.), Mountain Cinema (= Spec. Issue of The New Review of Film and Television Studies 21) (forthcoming).

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are visually revealed, like their scattered clothes (Figure 7), shoes, or lost immigration papers. Significantly, the viewers cannot identify what is left there in the mountains, just as the identities of the fugitives remain unknown. These images are fleeting but impactful. They make up a classic contrast montage, pitting the Western desire for extreme alpine sports, i.e. the myth of alpinism, against the hardships of the Global South.

Figures 6–7: Splendid landscape and scattered clothes. Luigi D’Alife, TheMilky Way, 2020, Italy.

While discussing Fanck’s world of mountain skiing and masculine vitality in 1931, Béla Balázs famously asked, “Can greatness be depicted in any other way than by measuring it against the relative smallness of everyday human life?”22 “Yes, it can,” The Milky Way seems to answer – namely, in the shape of human agency and everyday life carried out in the spirit of solidarity. This almost polemical encapsulation of the discourses of flight and prosperity are made evident at intersections such as those that lie in the Maritime Alps. The end of the film is dissolved into a fantasy or fairy tale sequence when the three refugees who have been intercepted and deported back to Italy literally adopt the motto “Skiing without borders” by weaving down The Milky Way to reach the railway station on the French side. Finally, what has felt fictional is proven possible through the final scene of the 1950s story of Italian migrants in the last animated sequences. Some of the Calabrians have made it across the border, thanks to help from the locals. Thus, the Alps are shown as a place of age-old humanity and solidarity, barring any disparagement. With its staging of the landscape of the Maritime Alps, The Milky Way thus contrasts the idea of

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Gotto, Lisa: “Modellierungen in Eis und Schnee”, in: Sabiene Autsch/Sara Hornäk (eds.), Material und künstlerisches Handeln – Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst, Bielefeld: transcript 2017, p. 203 [translated by Sabine Schrader].

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nations and of Europe, which is characterised by invective structures in establishing borders, with a locally anchored, borderless, or invective-free countermodel.23

The Intermedial Poetics of the Documentary Initially, the title The Milky Way suggests that it might bear an intramedial reference to films with almost identical names, such as the absurd, slightly surreal picaresque La voie lactée (The Milky Way, 1969) by Luis Buñuel, set on the Camino de Santiago, or the Serbian, also surreal, fairy-tale-like film by Emir Kusturica, On the Milky Road (2016). In fact, the title of D’Alife’s film refers to the reality of life in the ski resort of the same name, and the staging of the alpine habitat as a historical transit space; there are no marked references to the quoted films. Perhaps even more notable is the interplay of reality effects and the animated sequences. As Annabelle Honess Roe notes in Animated Documentary, “theirs is a marriage of opposites, made complicated by different ways of seeing the world”24 . On the one hand, there remains a problematic belief in documentary film’s indexical rendering of reality,25 i.e. the assumption of a privileged relationship between the representation and the represented object captured in a transparent, sincere, and authentic way that neither obscures nor shows bias towards the object. On the other hand, animation is regarded as fictional and artificial. These problematic presuppositions have been repeatedly discussed in research, and I would like to substantiate the ideas in The Milky Way. The classically animated drawings by draughtsman and illustrator Emanuele Giacopetti26 show the collective memory of emigration by a prototypical story

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The emphasis on the local in Italian cinema is of course no coincidence; in fact, Italian cinema is known to have strong regional roots. Honess Roe, Annabelle: Animated Documentary, New York: Palgrave Macmillan 2013, p. 1. Cf. Wortmann, Volker: Authentisches Bild und authentisierende Form, Cologne: von Halem 2003. Cf. Gunning, Tom: “Moving Away from the Index: Cinema and the Impression of Reality”, in: differences 18 (2007), pp. 29–52. Emanuele Giacopetti (*1982) has collaborated with Graphic News on La bolla di Ventimiglia, Il cammello che sputò sul Terzo Reich, Ritorno al futuro since 2015, and in 2016 he did the multimedial report Do you remember Balkan Route? He participated in the volume Yum! (B Comics) and collaborated with RSI (Swiss Radio & TV) for the animations in the program Signs of the times. In 2018 he published his first book, Il regno animale,

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from a first-person perspective of 1950s Italian emigration across the Maritime Alps. The animation sequences open and close the film, and serve to create a story that parallels the present-day situation; but they also give it a rhythm, popping up at roughly twenty-minute intervals in order to advance the historical narrative. At the beginning, we see the tunnel, the train, and the point after the train arrives at Bardonecchia, the last stop before the border to France. The story then flashes back to show us what motivated the two brothers, a woman, and a group of other Calabrians to flee through Italy. Giacopetti uses black and white and a wide variety of grey tones, plus the occasional red, to highlight various features; this selectivity in turn sparks our imaginations. He begins by recounting the historical exploitation of agricultural workers in Calabria, the workers’ failed attempts to rebel against it, and the resulting emigration via France to Belgium. He draws more with red in this context in order to emphasise the dramatic situation of exploitation. A closer look at the history of Italy shows that from 1949 to 1950 there were more peasant revolts in the south. For example, farm labourers occupied uncultivated land near Melissa, in Calabria. Their violent expulsion cost lives, and those who could abandon the area to find paid work did so in France, Belgium, or Germany. After the flashback, Giacopetti dedicates his attention to the border. The small community of migrants is then surprised by the snow on the mountains. Rosa, one of the group, flees from the border patrol into the woods and falls to her death in a river. One of the brothers will make it to France through the pass, thanks to the support of the locals. The images are clearly drawn, but through the texture and tone, they also seem painterly (Figure 8). In more than one case, we observe a playing with our horizons of expectation which are conditioned by the media. With regard to the documentaries, the animation is also presented in an imitative mode, to use Paul Wells’s words, because the animation employs the “generic conventions of documentary forms”27 . One of these is the voice-over: an old man’s voice recounts his flight and arrival in the mountains, the snowstorm, and the hope of finding work in the Belgian mining industry. Via the acoustic track, the ‘artificial

27

with Bébert Publishing House. Cf. his self-representation (https://milkywaydoc.com/ who-we-are/?lang=en). Wells, Paul: “The Beautiful Village and the True Village: A Consideration of Animation and the Documentary Aesthetic”, in: Art and Animation (1997), pp. 40–45.

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drawings’ can be indexed and made to seem authentic.28 Reaching beyond the confines of pure documentary is the classic cinematic montage of panoramic snowy landscapes – first a long shot, then a close-up. The drawings concentrate on the quintessential migratory experiences, such as the arrival at the border station and the waiting – another crucial and highly invective aspect of migration. We also found these quintessential scenes in the other sequences showing the contemporary migration: the African migrants are filmed passing the time by playing cards or crossing the border. Another filmic technique that serves to engage the viewer is the animator’s exploitation of depth of field (Figure 9), through which he brings the crucial aspects into sharp focus (here, the people and the mining). It is a technique we rarely find elsewhere in The Milky Way.

Figures 8–9: Painterly drawing and filmic depth of field. Luigi D’Alife, TheMilky Way, 2020, Italy.

An important cinematic pre-text for the animation sequences is the fictional film Il cammino della speranza, one of the first Italian productions to deal with the emigration of Italians in the post-war period. The film’s director Pietro Germi (and his screenwriters, Federico Fellini and Tullio Pinelli) tell the story of the emigration of Sicilian (not Calabrian) miners through a melodramatic road movie. At the end of the film – just like in the animation – they get caught in a snowstorm in the Maritime Alps, losing one person during the flight. But they are able to leave Italy thanks to the support of the locals – in this case, the French and Italian border patrol. The respective arrivals in the snowy mountains – in The Milky Way as a drawn prologue and at the end of the film Il cammino della speranza – point to analogous imagery in the depictions of the border station, the later snowstorm, and the feeling of strangeness in the seemingly extinct village. But, while Il cammino della speranza is a film about nation-

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Ward, Paul: Documentary: The Margins of Reality, London: Wallflower 2005, p. 98.

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building and italianità,29 The Milky Way also shows hopes and disappointments viewed from the border. In The Milky Way, Italy is no more than the epitome of futurelessness for the African refugees, as one of them states resignedly in the interview.30 The references to the always repetitive migration stories, their audiovisual reflection in cinema, and the arbitrary political borders between the Global South and Fortress Europe are what are most relevant in The Milky Way. The arrival scene in The Milky Way is again estranged in the drawn sequences, evoking the genre of the Western film (Figures 10–11), whose cinematic iconography contains the concept of threatening strangeness and the archaic confrontation of man against man, or man against the wilderness. In my opinion, the recourse to the mode of the Western is a quite common technique in contemporary Italian migration films, such as the fiction film Into Paradiso (Italy 2010, R: Paola Randi) or the documentary musical The Harvest (Italy 2017, R: Andrea Paco Mariani).31

Figures 10–11: Iconography of the Western genre. Luigi D’Alife, TheMilky Way, 2020, Italy.

The drawings are reminiscent of the collective memory of emigration while simultaneously imitating the filmic medium. To put it somewhat sweepingly, one could say that the media interconnections reflect the interconnections of the borderscape. With regard to intermedia encounters, The Milky Way ties in 29

30 31

Rascaroli, Laura: “Solid Borders, Fluid Nation: On Pietro Germi’s Il cammino della speranza (1950)”, in: Sabine Schrader/Daniel Winkler (eds.), The Cinemas of Italian Migration: European and Transatlantic Narratives, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2013, p. 21. 59:11 min. Cf. Lange, Stella: “‘Raster des Westerns’ als Reflexion über gesellschaftspolitische Prekarisierung am Beispiel der Migrationskomödie Into Paradiso (2010)”, in: Schrader/Tiller (eds.), Agency und Invektivität (2020), pp. 39–61 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20 /b20i.htm). Cf. S. Schrader: Paesaggio sacro, pp. 215–228.

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with two other techniques that are employed quite frequently in Italian migration films. In the diegetic-sound in the radio broadcast, the locals and the viewers hear about the flight, or rather, about the many attempts to escape. Therefore, the documentary reflects the variety of mediated and/or mediatised images which are set against the unmediated subjective worlds of individuals, and use their startling conjunction to make a point. The micro- and macro-histories of emigration are also given authenticity through photographs and newspaper cuttings that are owned by one of the interviewees. The viewers are confronted with small private archives and photographs (Figure 12), which are shown in order to give evidence of rescue operations that took place mainly in the 1950s, but also during the Second World War. Photography and film thus become a way of facing the past and experiencing its ambivalence. Photographs, we know from Roland Barthes, presuppose an ontological presence, but are themselves always a sign of disappearance. For the reference to the real does not disappear with photography and film; rather, their media apparatuses invite us to consider the paradoxes involved in bearing witness to the real. According to Barthes, this is the effect of the photographic medium, which is false at the level of perception, but true at the level of time: “car la photographie, c’est l’avènement de moi-même comme un autre: une dissociation retorse de la conscience d’identité”32 . This interplay of the technical audiovisual media and the fictional, drawn history of migration thus seems to be verified by the small archive. At the same time, the helpfulness and solidarity of the people are given a believable history.

Figures 12: Media archive and photographs. Luigi D’Alife, TheMilky Way, 2020, Italy.

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Barthes, Roland: La chambre claire. Notes sur la photographie, Paris: Seuil 1980, p. 184.

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In Conclusion The Milky Way shows the Maritime Alps as a transcultural human landscape, while the invective disparagements producing boundaries are presented as artificial. The mountains seem to promise a supra-historical concept of everyday authenticity beyond archetypically charged, spectacular landscapes. In doing so, The Milky Way conjures up the positive legend of the mountaineers, who have not joined together to serve the nation or protect its borders, but – as one of the interviewees puts it – to fulfil a ‘human duty’. To demonstrate this creed of the documentary film, D’Alife chooses a plurimedial approach, staging numerous types of media, including photographs and newspaper articles of the 1950s. D’Alife now puts the regional narratives of the inhabited environment and of the mountaineer into a transcultural perspective. Thus, The Milky Way performs the mountains as a historically known narrative of a living environment to ‘naturalise’ human rights. The solidarity of the people is as fixed as the rocks. The use of the animated sequences highlights yet another aspect. In the literature on animated documentaries, we often find the inclusion of animated sequences justified in terms of the absence of extant imagery, as was the case with the contemporary transcultural documentary Giallo a Milano (Made in Chinatown) (2009) by Sergio Basso, which uses animation to depict flight from China. According to Honess Roe, the drawn image also stands in for the unspoken, the forgotten, and the repressed.33 But in terms of the Italian cinema of migration, I would like to argue that the opposite is the case. There is a flood of available photographs and films, mostly of the Mediterranean Sea, which are marked by uniformity. The same goes for the ongoing discourse around the migration crisis. This “overdose of lowest-common-denominator media images”34 not only leads to narration in prima persona (first-person narration), as Bertozzi observed of Italian documentaries in general more than 10 years ago,35 but in recent years has also stamped the mediatisation of migration into documentary filmmaking in a whole host of ways. In the The Milky Way, one of the protagonists comments on this paradoxical situation between the mass media’s floating images, which are mostly images of boats capsizing at sea, while the victims of other border crossings – such as the mountain passes of

33 34 35

Cf. A. Honess Roe: Animated Documentary, pp. 155–169. Bertozzi, Marco: Storia del documentario italiano. Immagini e culture dell’altro cinema, Padova: Marsilio 2008, p. 305. Cf. ibid.

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the Maritime Alps – are given relatively little attention. He says in French, “One death is enough!”36 and asks how to narrate death. The documentary seems to be an answer. On the one hand, the less-represented mountains in Italian migration cinema generate everyday narratives of solidarity, and on the other hand, animation sequences offer a fundamentally different way of thinking about and presenting transcultural communities. In other words: The Milky Way negotiates transcultural, hybrid narratives through hybrid modes and different media in order to garner authenticity beyond the mass media coverage and its invective structures.

Filmography Cowboy Makedonski (Italy/Macedonia 2018, R: Fabio Ferrero) Dimmi chi sono (Italy/Germany 2019, R: Sergio Basso) Fuocoammare (Italy 2016, R: Gianfranco Rosi) Giallo a Milano (Italy 2009, R: Sergio Basso) Il cammino della Speranza (Italy 1950, R: Pietro Germi) Il vento fa il suo giro (Italy 2005, R: Giorgio Diritti) Into Paradiso (Italy 2010, R: Paola Randi) La prima neve (Italy 2013, R: Andrea Segre) La voie lactée (France 1969, R : Luis Buñuel) On the Milky Road (Serbia 2016, R: Emir Kusturica) The Harvest (Italy 2017, R: Andrea Paco Mariani) The Milky Way (Italy 2020, R: Luigi D’Alife)

References Angelone, Anita/Clò, Clarissa: “Other visions: Contemporary Italian documentary cinema as counter-discourse”, in: Studies in Documentary Film 5 (2011), pp. 83–89. Barthes, Roland: La chambre claire. Notes sur la photographie, Paris: Seuil 1980. Bertozzi, Marco: Storia del documentario italiano. Immagini e culture dell’altro cinema, Padova: Marsilio 2008. 36

54:19 min.

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Internet Sources https://milkywaydoc.com/who-we-are/?lang=en https://nicolazambelli.com/ https ://tousmigrants.weebly.com/ https://www.openddb.it/ https://www.smkvideofactory.com

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Invektive Konstellationen und Identitätskonstruktion in Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed Maria Kirchmair

Während die koloniale Expansion in Ost- und Nordafrika für die Positionierung Italiens als eigenständige europäische Nation in den Diskursen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle spielte, aktualisieren spätere bzw. heutige Erzählungen der Kolonialgeschichte jenseits der offiziellen Historiografie sowohl das nationale Selbstverständnis als auch das kollektive Gedächtnis – wie der in diesem Beitrag fokussierte Roman Timira (2012) von Wu Ming 2 und Antar Mohamed demonstriert. Vermittels fiktionaler Potenziale vermögen literarische Texte das Archiv dominanter Geschichtsdarstellungen zu öffnen und dessen Leerstellen zu thematisieren, wodurch sie soziokulturelle Ordnungen performativ zu verändern versuchen. Die zeitgenössische literarische Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit und ihren weitreichenden Folgen verleiht zum einen jenen Stimmen Ausdruck, die seither ungehört, unsichtbar, unartikuliert blieben. Zum anderen weist das Interesse für koloniale und postkoloniale Themen auch eine politische Konnotation auf, bildete es sich doch im Kontext von Protesten gegen die Diskriminierung von Migrant:innen heraus und stellt ein lineares Geschichtsverständnis in Frage. Wu Ming 2 bemerkt hierzu: »[R]accontare il passato significa sempre evocare interrogativi sul presente. Mettere in scena l’impresa coloniale italiana vuol dire fare i conti con il razzismo e il colonialismo di oggi.«1 Timira fiktionalisiert eine bislang marginalisierte Vergangenheitsversion der italosomalischen Kolonialgeschichte, der Amministrazione Fiduciaria Italia1

Wu Ming 2 zit. in Brioni, Simone: »Pratiche ›meticce‹: narrare il colonialismo italiano a ›più mani‹«, in: Franca Sinopoli (Hg.), Postcoloniale italiano. Tra letteratura e storia, Aprilia: Novalogos 2013, S. 89–119, hier S. 110.

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na della Somalia (AFIS) der 1950er Jahre sowie der postkolonialen politischen Verflechtungen – und verwebt diese erzählerisch mit den Migrations- und Exilerfahrungen der Hauptfigur, die wiederholt invektiv aufgeladene Konfliktsituationen erlebt. Die im Text dargestellten invektiven Konstellationen und Kommunikationsakte markieren psychische Prozesse auf Figurenebene, »die wiederum durch die gesellschaftliche Rahmung in der Erzählung die Tragweite der inszenierten Thematik erfahrbar werden lassen«2 . Im Stil der New Italian Epic3 verschränkt Timira Archivmaterial mit Fiktion, individuelle mit kollektiver Erinnerung und Familiengedächtnis mit Historiografie, weshalb im Folgenden zunächst das Erzählverfahren in den Blickpunkt rückt, bevor der Fokus auf die Darstellung und kritische Thematisierung von Invektivität aus der Perspektive der Protagonistin Isabella Marincola/Timira Hassan gelegt wird.4

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Schrader, Sabine/Tiller, Elisabeth: »Migration nach Italien. Handlungsfähigkeit und Dynamiken der Herabsetzung in Literatur und Film. Eine Einführung«, in: Dies. (Hg.), Agency und Invektivität in zeitgenössischen italienischen Migrationserzählungen. Kino und Literatur (= PhiN-Beiheft 20/2020: http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t0 1.pdf), S. 1–15, hier S. 9. Der Begriff New Italian Epic wurde 2008 vom Autorenkollektiv Wu Ming geprägt und seither in der Kultur- und Literaturszene Italiens kontrovers diskutiert. Die New Italian Epic bezeichnet jene Texte »der zeitgenössischen italienischen Narrativik, die sich unter Distanznahme von postmoderner Beliebig- und Belanglosigkeit wieder einem sozialen und politischen Engagement verpflichtet fühlen« (Schaefer, Christina: »Wu Ming, New Italian Epic und der Entwurf eines neuen Italien«, in: Marc Föcking/Michael Schwarze (Hg.), Una gente di lingua, di memorie e di cor. Italienische Literatur und schwierige nationale Einheit von Machiavelli bis Wu Ming, Heidelberg: Winter 2015, S. 187–204, hier S. 191). Mit ihrem Plädoyer für einen »ritorno al futuro« akzentuiert die Gruppe die Bedeutung der Zukunft und fordert einen gesellschaftlichen und literarischen Wandel, den sie selbst anbahnen will (vgl. Wu Ming: New Italian Epic. Letteratura, sguardo oliquo, ritorno al futuro, Torino: Einaudi 2009). Die neue engagierte Literatur positioniert sich kritisch einerseits auf politischer Ebene hinsichtlich der Entwicklungen in Italien und weltweit seit dem Ende des Kalten Krieges, andererseits auf literarischer Ebene gegenüber der unterstellten postmodernen Vernachlässigung des Politischen und des Rückzugs ins ausschließlich Ästhetische. Im Konzept der New Italian Epic sind »narrative Komplexität« (C. Schaefer: Wu Ming, New Italian Epic, S. 194) und »Subversion von Sprache und Stil« (ebd.) zentral; ein wesentlicher Punkt ist zudem, »Verantwortung für die Zukunft« (ebd.) zu übernehmen; vgl. die Website des Bologneser Schriftstellerkollektivs Wu Ming: https://www.wumingfoundation.com. An dieser Stelle erlaube ich mir auf meine Monografie hinzuweisen, die eine erweiterte Version des vorliegenden Beitrags enthält: Kirchmair, Maria: Postkoloniale Literatur

Invektive Konstellationen und Identitätskonstruktion in Timira

Timira. Romanzo meticcio: Darstellungsweisen des Hinterfragens Wie der Buchuntertitel und der Klappentext informieren, handelt es sich bei Timira in gattungsspezifischer Hinsicht um einen romanzo meticcio, einen »hybriden Roman«, der durch kollektives Schreiben entstand – »[un romanzo scritto] da un cantastorie italiano dal nome cinese, insieme a un’attrice italosomala ottantacinquenne e a un esule somalo con quattro lauree e due cittadinanze«5 . Das Buchprojekt war zunächst konzipiert »come lavoro a quattro mani«6 zwischen Isabella Marincola und Wu Ming 2, der über mehrere Monate ihre Gespräche auf Band aufzeichnete; dann erst fiel die Entscheidung, mit der Narrativierung zu beginnen, »[…] il lavoro sulla scaletta, le discussioni su come e quanto romanzare la vicenda, cosa inventare e cosa no, quali episodi mettere sulla pagina«7 . Anfänglich intendierte Wu Ming 2, den Inhalt dieser Interviews eigenhändig in eine literarische Form zu bringen, jedoch – so

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in Italien. Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen, Bielefeld: transcript 2017. Wu Ming 2/Mohamed, Antar: Timira. Romanzo meticcio, Torino: Einaudi 2012, hier Klappentext. Während Wu Ming 2 als Teil des Kollektivs Wu Ming mehrere Romane, z.B. 54 (2002), Manituana (2007), Altai (2009) u.a., sowie unter dem Pseudonym Luther Blissett den Erfolgsroman Q (1999) publizierte, ist Timira Antar Mohameds literarische Erstveröffentlichung. Wu Ming bedeutet auf Mandarin »ohne Namen«; die jeweilige Ziffer bezieht sich auf die einzelnen Mitglieder des Autorenkollektivs in alphabetischer Ordnung. So verbirgt sich hinter Wu Ming 2 Giovanni Cattabriga (vgl. ht tps://www.wumingfoundation.com/giap/che-cose-la-wu-ming-foundation/). Wu Ming 2/Mohamed, Antar zit. in SIC Blog: »Timira: intervista a Wu Ming 2 e Antar Mohamed«, https://www.scritturacollettiva.org/blog/timira-intervista-wu-ming-2-antarmohamed vom 20.06.2012. Ebd. Dem Romanprojekt ging eine etwa neunjährige Vorbereitungszeit voraus: Antar Mohamed lernte Wu Ming 2 im Jahr 2003 kennen und regte zuerst eine Rekonstruktion der Geschichte seines Onkels Giorgio Marincola an, des vermutlich einzigen italo-somalischen Mitglieds der Resistenza. Wu Ming 2 kontaktierte schließlich Isabella Marincola, um mehr über ihr Leben zu erfahren, »[m]a prima ancora di parlare di un romanzo, c’erano tante ore di chiacchiere, interviste, pomeriggi passati insieme e registrati su nastro« (ebd.), bevor sie die ersten Kapitel skizzierten; vgl. folgendes Textzitat, das den kollektiven Schreibvorgang schildert: »Abbiamo trascorso un anno a cercare la ricetta per un racconto comune: uno sbobina, l’altro corregge, uno ricerca, l’altro ricorda, uno inventa, l’altro contesta, uno legge, l’altro interrompe, uno scrive, l’altro riscrive« (Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 346). Nach dem Tod seiner Mutter am 30. März 2010 trat Antar Mohamed als Ko-Autor an ihre Stelle, wodurch sich die Dynamik des Schreibprozesses änderte, nicht aber der Arbeitsmodus.

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jedenfalls die Textinszenierung – erschien ihm dieses Vorhaben schließlich zu ›kolonialistisch‹: »[…] sono venuto alle tue coste come un europeo d’altri tempi, per trasformare le tue terre nella mia colonia.«8 Formal wird diese in Timira akzentuierte Metanarrativität in vier Brieffragmenten an Isabella Marincola entfaltet, in denen Wu Ming 2 über seine Rolle als Teil des kollektiven Schreibprozesses reflektiert und Fragen der literarischen Repräsentation problematisiert, etwa nach der Legitimität, jemand anderes Geschichte zu fiktionalisieren, also nach dem Verhältnis zwischen Autor:in und Figur. Allen voran thematisiert die Lettera intermittente n. 39 die Herausforderungen des Darstellens der Lebenserinnerungen einer Frau wie Isabella Marincola und die narrativen Strategien, die sich hierfür eignen, ohne ihre Geschichte zu vereinnahmen bzw. ohne die mündliche Erzählung der Protagonistin durch das Vertextungsverfahren der Autoren zu ›kolonialisieren‹. Isabella Marincola und Antar Mohamed überzeugten Wu Ming 2 schlussendlich, »la scrittura e le fatiche, le lodi e gli insuccessi [a metà]«10 zu teilen: Isabella Marincolas/Timira Hassans Vita wurde somit zum Gegenstand der Narration, während Wu Ming 2 und Antar Mohamed den Schreibprozess realisierten und als Autorenpaar firmieren.11 Das kollektive Verfassen des Romans, das auf den Erzählungen Isabella Marincolas basierte, sowie die partielle Interaktion zwischen der realen wie fiktionalen Protagonistin mit den Autoren konnten laut Wu Ming 2 vermeiden, dass Timira eben keine problematische Repräsentation geworden sei – im Sinne von: »[L]a donna che porta

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Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 344. Vgl. ebd., S. 342–346. Ebd., S. 344. Warum auf dem Buchcover allein Wu Ming 2 und Antar Mohamed als Autoren angeführt sind, erläutert Wu Ming 2 in einem Interview wie folgt: »Poi in copertina abbiamo scritto solo due nomi perché al momento di firmare il lavoro finito, l’autrice e protagonista Isabella Marincola/Timira Hassan non era più su questa terra, e non ci sembrava onesto attribuirle la co-responsabilità di uno scritto sul quale purtroppo non ha potuto dare un parere definitivo« (Wu Ming 2/A. Mohamed zit. in SIC Blog: »Timira«, https://www.scritturacollettiva.org/blog/timira-intervista-wu-ming-2-antar-mo hamed). Diese Entscheidung der Autoren scheint aus meiner Sicht nicht ganz unproblematisch, wie auch Giuliana Benvenuti kritisch anmerkt: »Autori che in realtà sono tre, però in copertina ce ne sono scritti due, che sono due uomini, mentre la donna è la protagonista del libro: questo mi ha posto qualche problema« (Benvenuti, Giuliana zit. in Wu Ming: »#Timira Cut ’n’ Paste«, https://www.wumingfoundation.com/giap/201 2/07/timira-cut-n-paste/vom 05.07.2012).

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una testimonianza di vita e l’uomo esperto che la interpreta.«12 Zugleich ist sich Wu Ming 2 kritisch bewusst, dass er als männlicher weißer Italiener und angesichts seiner literarischen Profession einen übermäßigen Einfluss auf die kollektive Gestaltung des Romanprojekts auszuüben riskierte, wie er explizit anmerkt: »Scrivere insieme, cinquanta e cinquanta, non è garanzia di nulla, e anzi può diventare lo schermo dietro il quale nascondere ulteriori soprusi, con l’aggravante della buona volontà.«13 Der programmatische Wille, nicht allein, sondern kollektiv zu schreiben, verweist auf ein hybrides Gattungskonzept. So betonen die Autoren auch in den Titoli di coda, dem der Narration angehängten Paratext,14 den kollektiven Charakter ihres Romans: »Qualsiasi narrazione è un’opera collettiva.«15 Die skizzierten metanarrativen Reflexionen über das kollektive Erzählen untermauern Simone Brioni zufolge die Wichtigkeit, Geschichten wie jener Isabella Marincolas Evidenz zu verleihen, um nicht zuletzt

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Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 344. Simone Brioni gibt indes zu bedenken, dass Timira nicht »la verità-di-Isabella« (Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 505) narrativ inszeniert, sondern angesichts des kollektiven Schreibprozesses allenfalls eine Interpretation oder Version davon (vgl. S. Brioni: Pratiche ›meticce‹, S. 104). Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 345. Die Titoli di coda stellen ein paratextuelles Kennzeichen dar, das Genette zufolge die Leser:innen vor Missverständnissen bewahrt (vgl. Genette, Gérard: Fiktion und Diktion, München: Fink 1992, S. 89): In der Tat informiert dieser Abspann detailliert über die unzähligen bibliografischen Quellen, die teils journalistischen, teils wissenschaftlichen Referenztexte oder die intermedialen wie intertextuellen Zitate, präzisiert also das Vertextungsverfahren der Erzählung und trägt zur Bedeutungskonstitution des Romans entscheidend bei. Vgl. hierzu auch die von Franziska Teckentrup verfasste Dissertation Narrationen der Herabsetzung. Literarische Inszenierungen von Invektivität in zeitgenössischen Immigrationserzählungen aus Italien (TU Dresden 2022), in der Timira ebenfalls in Bezug auf Invektivität in den Blick genommen wird, wobei die intermediale Komponente des Romans im Vordergrund steht. Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 503. Zum hybriden Gattungskonzept von Timira bemerken die Autoren außerdem: »Tutti i romanzi sono meticci, proprio come gli individui. Eppure, così come ci sono persone che riescono a occultare questa loro caratteristica, allo stesso modo ci sono romanzi che negano la loro natura ibrida, che preferiscono non metterla in piazza. Questo, invece, è un romanzo programmaticamente meticcio, che dichiara di esserlo fin dalla copertina, che poteva presentarsi ai lettori solo rivendicando una lingua, una struttura e un autore esplicitamente ibridi. Ce lo imponeva la vicenda, anch’essa meticcia, che abbiamo raccontato« (Wu Ming 2/ A. Mohamed zit. in SIC Blog: »Timira«, https://www.scritturacollettiva.org/blog/timira-i ntervista-wu-ming-2-antar-mohamed).

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rassistische und sexistische Diskriminierung in der Vergangenheit ebenso wie heute zu demaskieren.16 Timira fiktionalisiert also die Erinnerungen der wenige Monate nach Beginn des Romanprojekts verstorbenen Isabella Marincola, die aus der Perspektive einer Italienerin schwarzer Hautfarbe über sieben Jahrzehnte italo-somalische Geschichte – von den Anfängen des Faschismus bis zum Ende des Kalten Krieges und dem Ausbruch der Unruhen in Somalia – sowie ihre Erfahrungen als Flüchtende erzählt: all dies vor dem Hintergrund des allgemeinen sozialen und politischen Wandels im Italien der 1990er Jahre. Der Roman entrollt eine auf zwei alternierenden Zeitebenen angelegte story, die als Abfolge relativ kurzer Episoden mit wechselnden Erzählperspektiven Gegenwart und Vergangenheit verschränkt. Vom fiktiven Zeitpunkt des Erzählens 1991/92 aus wird in Flashbacks Isabella Marincolas Lebensgeschichte vor dem Hintergrund der kolonialen und postkolonialen Vergangenheit Italiens und Somalias retrospektiv dargestellt. Die Handlung beginnt mit Isabellas Geburt 1925 in Mogadischu als außereheliche Tochter von Ashkiro Hassan (Aschirò Assan) und Giuseppe Marincola, zu diesem Zeitpunkt Militäroffizier im kolonialen Italienisch-Somalia. Giuseppe Marincola erkennt Isabella sowie den zwei Jahre zuvor geborenen Giorgio offiziell an und bringt seine beiden Kinder ins faschistische Italien. Während Giorgio seine Kindheit bei Giuseppes Bruder in Kalabrien verbringt, wächst die kleine Isabella mit der Familie ihres Vaters in Rom auf, »tra odio e diffidenza o, nella migliore delle ipotesi, curiosità«17 . Wie ihr Bruder besitzt auch Isabella Marincola die italienische Staatsbürgerschaft, wobei sie dessen ungeachtet aufgrund ihrer Hautfarbe zeitlebens diskriminiert wird. Als Erwachsene nennt sie sich Timira und wählt den Familiennamen ihrer Mutter, Hassan bzw. Assan in der italianisierten Version.18 Von Anfang der 1960er Jahre bis 1991 lebt Isabella Marincola/Timira Hassan in Mogadischu, 16 17

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Vgl. S. Brioni: Pratiche ›meticce‹, S. 95. Margara, Niccolò: »Postcolonialismo italiano. La molteplicazione dei punti di vista: La presa di Macallè, Regina di fiori e di perle, Timira«, in: Laura Dolfi (Hg.), Oltre i confini. Testi e autori dell’esilio, della diaspora, dell’emigrazione, Volume secondo, Parma: Mup Editore 2013, S. 121–160, hier S. 129. Was die Schreibweise des Familiennamens betrifft, gestaltet sich diese im Roman nicht einheitlich, sondern variiert zwischen Hassan, Hasan und Assan. Ich gebrauche im vorliegenden Beitrag Hassan; dies entspricht der Textverwendung in einem mit Timira Hassan unterzeichneten Brief der Protagonistin an ihre Mutter (vgl. Wu Ming 2/ A. Mohamed: Timira, S. 327–331) oder im Archivio fotografico als Teil der Titoli di coda in Zusammenhang mit Fotos von Ashkiro Hassan (vgl. ebd., S. 523).

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bevor sie nach Ausbruch des Bürgerkrieges nach Italien zurückkehrt, wo sie die staatlichen Verwaltungsabläufe im Vorfeld der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus mit einer Vielzahl bürokratischer Hürden konfrontieren. Der episodische Bericht dieses mühevollen Neuanfangs in Italien, der für die Protagonistin mit invektiven Dynamiken und Konstellationen verbunden ist, worauf ich in meinen Ausführungen später noch näher eingehen werde, bildet die Erzählgegenwart des Romans.19 Bei Timira handelt es sich somit nicht nur auf Grund der pluralen Autorschaft um einen romanzo meticcio, sondern auch hinsichtlich des Plots, der Erzählstruktur, Figurenkonzeption, Erzählinstanzen und der Sprache(n), sowie mit Blick auf die zwischen den fiktionalen Erzählungen eingefügten faktualen Texte, beispielsweise historische Dokumente, Archivmaterialien, Briefe und Fotografien. Mehrsprachigkeitsaspekte lassen sich tendenziell für die in Somalia verorteten Episoden stärker konstatieren, wobei einzelnen Lexemen häufig somalische oder mit dem Italienischen hybridisierte Sätze, Syntagmen und idiomatische Wendungen hinzugefügt werden.20 In einigen Textabschnitten kommt es zusätzlich zu einer sprachlichen Hybridisierung durch die Inszenierung des von Isabella Marincolas Stiefmutter Flora Virdis gesprochenen Sardischen. Dies betrifft auch einzelne Dialekte der Täler im Nordosten Italiens, wo Isabella Marincolas Bruder Giorgio als Partisan der Resistenza gekämpft hatte und wohin sie sich auf Spurensuche begibt. Wu Ming 2 erläutert insbesondere in Zusammenhang mit den im Val di Fiemme/ Fleimstal angesiedelten Episoden, dass dieses Erzählverfahren nicht primär auf einen Realitätseffekt ziele, sondern darauf, ein Gefühl sprachlichen Fremdseins zu evozieren, um die Leser:innen das »spaesamento linguistico«21 der Protagonistin nachempfinden zu lassen. Dies zeigt sich im folgenden invektiv aufgeladenen Kommunikationsakt zwischen einem Barbesucher in Stramentizzo und Isabella Marincola/Timira Hassan: »– Malendréta! Allora è 19

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Bezüglich der zeitgeschichtlichen Kontextualisierung bemerkt Antar Mohamed in dem bereits zitierten Interview: »Ci sembrava interessante porre l’accento sull’Italia di quel periodo: confusa, spiazzata dalla fine della Guerra Fredda e dall’inizio di Tangentopoli, spaventata dai profughi albanesi e dagli ›extracomunitari‹. In quest’Italia precaria, Isabella si ritrova profuga, anche se cittadina italiana, senza fissa dimora, Migrante da un tetto a un altro […]« (Wu Ming 2/A. Mohamed zit. in SIC Blog: »Timira«, https://www.scritturacollettiva.org/blog/timira-intervista-wu-ming-2-antar-mohamed). Vgl. N. Margara: Postcolonialismo italiano, S. 156. Wu Ming: #Timira Cut ’n’ Paste, https://www.wumingfoundation.com/giap/2012/07/tim ira-cut-n-paste/

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per quello che parli bene la nostra lingua. La Somalia era nostra, sti agni, no? Ti l’às emparà a scola, l’italiano. – Perché, mi scusi, lei dove l’ha imparato? In famiglia?«22 Neben Diaspora- und Migrationserfahrungen thematisieren postkoloniale literarische Texte auch die Kolonialvergangenheit, ihre Kontinuität und Folgen in den betroffenen Ländern bzw. Gesellschaften, die daraus resultierenden transnationalen und transkulturellen Beziehungen sowie die vielfach absente, undifferenzierte oder problematische Auseinandersetzung mit (post)kolonialer Geschichte in den ehemaligen imperialen Metropolen. Dadurch tragen sie zur Dekonstruktion eurozentristischer Repräsentationen bei. Auch Timira antworte, so Silvia Camilotti, »a un immaginario ancora molto intriso di pregiudizi nei confronti dell’altro da sé […] e di ignoranza sul tema della storia coloniale italiana«23 . Über den Einbezug von »Erinnerungsfiguren«24 des Familiengedächtnisses wie Fotografien und Briefen, vor allem jedoch historischen Archivdokumenten, juristischen Texten und Medienberichten stellt Timira gewissermaßen einen ›realistischen‹ Gegenentwurf zu verbreiteten kollektiven Fiktionen und Imaginationen über die koloniale Vergangenheit sowie die postkoloniale Gegenwart dar.25 Über Jahrzehnte wurde in Italien die kolonialistische Expansion in Nord- und Ostafrika aus dem kollektiven Bewusstsein, der nationalen Geschichtsschreibung und der politischen Verantwortung verdrängt und banalisiert. Bis heute entzieht sich der italienische Staat einer kritischen Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit nicht zuletzt unter dem Vorwand der – verglichen mit Frankreich oder Großbritannien – begrenzten geografischen Ausdehnung und der relativ kurzen historischen Dauer von rund 60 Jahren (1882–1941 bzw. 1943). So erscheint die Kolonialgeschichte in der offiziellen Historiografie als ein Narrativ der Auslassungen und des (Ver-)Schweigens sowie der Verharmlosung von Kolonialverbrechen.26 Der diskursiv sti22 23 24

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Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 151. Camilotti, Silvia: »Timira. Romanzo meticcio. Recensione« (https://www.ilgiocodeglisp ecchi.org/libri/scheda/timira-romanzo-meticcio). Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann/ Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 9–19, hier S. 12. Vgl. Tiller, Elisabeth: »Krise und Erneuerung. Die faktuale Offensive des Fiktionalen«, in: lettere aperte 1 (2014: https://www.lettereaperte.net/images/ausgabe-1/pdfs/la1_tiller .pdf), S. 33–50, hier S. 47. Die Idee eines Kolonialimperiums, das auch Gebiete südlich des Mittelmeers umfassen würde, war seit dem späten 19. Jahrhundert in der italienischen Literatur und im politi-

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lisierte Mythos der italiani brava gente spielte Nicola Labanca zufolge für die Erinnerungskultur eine nicht zu unterschätzende Rolle, evozierte er doch das Selbstbild eines gütigen, wohlmeinenden Nationalcharakters, welches bis in die 1960er Jahre medial konstruiert wurde und sich durch alle Gesellschaftsschichten und über das gesamte politische Spektrum zog.27 Dieses auch im

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schen Diskurs präsent. Im Kontext des Krieges Italiens gegen das Osmanische Reich in Libyen 1911/12 trugen Dichter:innen und Schriftsteller:innen wie Giovanni Pascoli (La grande proletaria si è mossa, 1911), Gabriele D’Annunzio (Canzoni della gesta d’oltremare, veröffentlicht im Corriere della Sera zwischen Oktober 1911 und Januar 1912), Enrico Corradini und andere wesentlich zur Entstehung und Verbreitung kolonialer Mythen und nationalistischer Positionen in der italienischen Öffentlichkeit bei – »under the guise of esthetic […] categories, only to be recycled into the stereotypes and lexicon that nourished and perpetuated the work of racism in ordinary life and in popular culture« (Re, Lucia: »Italians and the Invention of Race: The Poetics and Politics of Difference in the Struggle over Libya, 1890–1913«, in: California Italian Studies 1 (1/2010: https://escholar ship.org/content/qt96k3w5kn/qt96k3w5kn.pdf?t=r9pe6z), S. 1–66, hier S. 12. Vgl. Labanca, Nicola: »Storia e memoria del colonialismo italiano, oggi«, in: Immacolata Amodeo/Claudia Ortner-Buchberger (Hg.), Afrika in Italien – Italien in Afrika: Italoafrikanische Beziehungen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2004, S. 161–178. Nach ihrem Ende wurde die Kolonialzeit in der italienischen Historiografie, den Schulbüchern und dem kulturellen Gedächtnis nahezu unsichtbar gemacht – geblieben sind die kolonialen Mythen im Interesse einer politischen Klasse, die lange Zeit den Zugang zu historischen Archiven blockierte. Noch Mitte der 1960er Jahre erschienen in der populären Wochenzeitung Domenica del corriere illustrierte Publikationen in Serie, die sich dem Thema ›Italien in Afrika‹ widmeten und den sanften Charakter der italienischen Kolonialunternehmung rühmten (vgl. N. Labanca: Storia e memoria del colonialismo italiano, oggi, S. 169). Im Unterschied zu anderen ehemaligen Kolonialmächten fehlten in Italien die Brisanz und Präsenz von Dekolonialisierungsprozessen oder antikolonialistischen Unabhängigkeitskämpfen, die z.B. in Großbritannien in Zusammenhang mit der Suezkrise oder in Frankreich während des Algerienkrieges die mediale Berichterstattung dominierten – »fu quindi più facile, ma non meno storicamente inesatto, dipingersi come ›Italiani brava gente‹«, bemerkt Labanca (ebd., S. 175) in diesem Zusammenhang. Eine komplexere Phase in der Kolonialerinnerung eröffnete sich Ende der 1980er und verstärkt seit den 1990er Jahren, als eine staatliche postkoloniale Verantwortung zögerlich anerkannt wurde und das Eingeständnis folgte, dass der italienische Kolonialismus weder anders, noch humaner oder toleranter als jener anderer Länder war. Ende der 1990er Jahre kam es erstmals zu engagierten Stellungnahmen von höchsten staatlichen Autoritäten: Der systematische Einsatz von Giftgas im Äthiopienkrieg wurde 1996 vom damaligen Verteidigungsminister Domenico Corcione offiziell bestätigt. Oscar Luigi Scalfaro erklärte in seiner Funktion als Staatspräsident 1997 auf seinem historischen Besuch in Addis Abeba vor dem äthiopischen Parlament, dass Italien während des Kolonialismus schwere Verbrechen begangen habe, und auch der

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kollektiven Gedächtnis lange Zeit dominante und sehr spezifische Geschichtsbewusstsein, also die Relation zwischen sozialem Selbstbild und kollektiver Erinnerung, wird in Timira infrage gestellt und korrigiert. In einem Interview betonen Wu Ming 2 und Antar Mohamed, das Erzählen von Geschichte(n) stelle ein kollektives Moment dar, unabhängig davon, ob es allein, zu zweit oder in der Gruppe praktiziert werde. Darin machen sie eine Analogie zur Identität aus, die ebenfalls eine Narration sei, »che costruiamo insieme agli altri e nella quale ci attribuiamo un ruolo«28 . In Timira treffen sich diese kollektiven Prozesse: Über das Erzählen von Geschichte(n) reflektiert die Hauptfigur Isabella Marincola/Timira Hassan ihre im Kontext invektiver Dynamiken und Konstellationen erfolgte Identitätskonstruktion, wie im weiteren Verlauf dieser Romananalyse dargelegt werden soll.

Familiäre Diskontinuitäten oder: »[…] un familiare disagio«29 Im Sinne eines poststrukturalistischen Theorieverständnisses gehe ich davon aus, dass Identität in sozialen und kulturellen Aushandlungsprozessen diskursiv hervorgebracht wird, sich somit als Effekt von Diskursen unabschließbar konstituiert. Innerhalb des ›Ichs‹ werden grundsätzlich Aspekte individueller und personaler Identität unterschieden. Das im Individuum reflexiv gewordene Bild der eigenen, sich von allen anderen unterscheidenden Einzelzüge bzw. das am Körper entwickelte Bewusstsein von Einzigartigkeit wird als »individuelle Identität«30 bezeichnet. Diese bezieht sich auf »die Kontingenz ei-

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ehemalige Ministerpräsident Massimo D’Alema verurteilte auf einem Staatsbesuch in Libyen die koloniale Vergangenheit. Nicola Labanca bewertet die Stellung des Kolonialismus im italienischen kollektiven Gedächtnis zusammenfassend wie folgt: »[P]er la memoria collettiva italiana, il passato coloniale non ha il carattere aspro e divaricante ad esempio di quello del fascismo, né l’ethos compattante o divaricante della Resistenza, né trascina con sé i grandi temi dell’identità nazionale, come accade col ricordo della Grande Guerra. Si presenta come qualcosa di al tempo stesso più ›lungo‹, meno ›connotato‹ ideologicamente, più ›normale‹ e più coinvolgente […], ormai più lontano. La sua è una memoria ormai più imprecisa, meno specifica, più generica« (ebd., S. 173). Wu Ming 2/A. Mohamed zit. in SIC Blog: »Timira« (https://www.scritturacollettiva.org/b log/timira-intervista-wu-ming-2-antar-mohamed). Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 266. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C.H. Beck 2005, S. 131.

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nes Lebens mit seinen ›Eckdaten‹ von Geburt und Tod«31 , auf die körperliche Dimension der Existenz und die individuellen Grundbedürfnisse, wie Jan Assmann erläutert, an dessen Ausführungen ich mich hier anlehne.32 »Personale Identität«33 beschreibt hingegen die durch die Teilnahme an einem Sozialgefüge entwickelten subjektiven Rollen, Eigenschaften sowie Kompetenzen und bezieht sich auf die soziale Anerkennung des Individuums. Sowohl der Prozess der Sozialisation, also der Einordnung der:s Einzelnen in eine Gemeinschaft sowie das Erlernen gesellschaftlicher Normen und Werte, als auch der Prozess der Individuation, der Selbstwerdung des Menschen, in dessen Verlauf sich die Wahrnehmung der eigenen Individualität bzw. der Unterschiedenheit von anderen zunehmend verfestigt, verlaufen demgemäß in kulturell vorgezeichneten Bahnen. Beide Identitätsaspekte korrelieren mit einem Bewusstsein, »das durch Sprache und Vorstellungswelt, Werte und Normen einer [oder mehrerer] Kultur[en] und Epoche[n]«34 geformt wird. Identität erscheint somit als »ein gesellschaftliches Konstrukt und [ist] als solches immer kulturelle Identität«35 . Im Unterschied zur kollektiven Identität, die »reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit«36 meint, versteht Assmann unter kultureller Identität »die reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur«37 . In Timira konstruiert sich Isabella Marincolas Identität zuallererst über ihre Identifikation mit der italienischen Sprache und Kultur. Dennoch fühlt sich die Protagonistin wiederholt veranlasst, die perfekte mündliche wie schriftliche Beherrschung ihrer Muttersprache zu demonstrieren, die sie in mehreren Textpassagen selbstbewusst den Vorurteilen jener Sprecher:innen entgegenhält, die sich im Infinitiv oder einem rudimentären Italienisch an sie wenden. Zuweilen korrigiert sie deren grammatisch oder lexikalisch nicht präzisen Gebrauch der italienischen Sprache. Als Instrument der Emanzipation und Identitätsformation kommt der Sprache auch eine soziale Funktion zu: »Se sei italiano e hai la pelle scura, […] [d]evi dimostrare che sei davvero italiano, devi essere più italiano degli altri«38 , so die metainvektive Schlussfolgerung der 31 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 132. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 134. Ebd. Wu Ming 2/A. Mohamed, Timira, S. 449.

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Protagonistin. Zeitlebens den sozialen Effekten invektiver Dynamiken in Form von rassistischer Diskriminierung ausgesetzt, kämpft die textinterne Isabella Marincola unermüdlich für ihre Anerkennung als italienische Staatsbürgerin. In folgendem Textzitat erinnert sie sich an den Rassismus der 1930er Jahre, den sie als ›imperial‹ schildert: Menschen schwarzer Hautfarbe wurden weniger als ›bedrohlich‹, sondern in invektiver Manier eher als ›exotisch‹ wahrgenommen, Isabella Marincola entsprechend von der paternalistischen Sichtweise jener Zeit zu einer symbolischen Figur des »kolonialen Abenteuers« gemacht und als »schöne Abessinierin« betrachtet, die Dante und Carducci rezitiert. Den Rassismus der Gegenwart empfindet sie hingegen als schroff und feindselig: Il razzismo che ho conosciuto da ragazza era molto diverso da quello di oggi. La gente era più curiosa che ostile, almeno in apparenza. Negli anni Trenta, molti vedevano in me l’icona dell’avventura coloniale e mi vezzeggiavano come una bertuccia ammaestrata. Erano entusiasti di questa ›bella abissina‹ che parlava italiano e faceva la riverenza, ma si guardavano bene dall’invitarmi per una merenda con le figliole. Col tempo, quelle coccole zuccherose si evolsero in direzioni opposte: da una parte, l’approccio sessuale esplicito, offensivo; dall’altra, lo sguardo indiscreto, come filtrato dai rami di una siepe. A teatro, in tram, per la strada: ovunque andassi mi sentivo studiata, con gli occhi e con le parole.39 Als Italienerin schwarzer Hautfarbe erlebt Isabella Marincola, so gibt der Text dies wieder, aber nicht nur den Paternalismus des Impero, sondern zugleich Formen soziokulturell sedimentierter Invektivität: Sie erfährt als junge Erwachsene in der Nachkriegszeit rassistisch aufgeladenen Sexismus, als viele während des Kolonialismus und Faschismus sozialisierte Männer auf eine schwarze Frau nach wie vor Fantasien ständiger sexueller Verfügbarkeit projizieren. In Somalia hingegen fühlt sich Isabella Marincola/Timira Hassan wiederholt religiöser Diskriminierung ausgesetzt, wird sie doch häufig als »gaal«, als ›Ungläubige‹ diffamiert.40 Der Rassismus der Gegenwart schmerzt 39 40

Ebd., S. 169. Hinsichtlich des Aspekts, dass Isabella Marincola/Timira Hassan sowohl in Italien als auch in Somalia Herabsetzungen ausgesetzt ist, sei auf den Beitrag »Zwischen den Welten: Ausgrenzung (post-)kolonial« von Franziska Teckentrup und Gabriel Deinzer (Kat. Nr. 4–6) im Rahmen einer Ausstellung des SFB 1285 Invektivität: Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung in Zusammenarbeit mit der SLUB Dresden verwiesen. Der Beitrag ist über den Online-Katalog der Ausstellung abrufbar: https://www.slub-d

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die Protagonistin allerdings über die Maßen, da in diesem Kontext ihre Identität als italienische Staatsbürgerin im Namen der Gleichung ›italienisch = weiß‹ infrage gestellt wird. Im Unterschied zu anderen Fremdheitserfahrungen liegt die Gewalt dieser rassistischen und hochgradig invektiven Diskriminierung in ihrer Unvorhersehbarkeit. Die reale Isabella Marincola kam im Alter von zwei Jahren nach Italien, besuchte die Schule während des Faschismus, studierte, wuchs in die italienische Kultur hinein und zog niemals, so der Text, auch nur annähernd ihre italienische Staatsangehörigkeit in Zweifel – nicht, weil ihr Vater sie 1925 als legitime Tochter anerkannte, sondern angesichts ihrer internalisierten und reflexiv gewordenen kulturellen Identität.41 Als junge Erwachsene verlässt die Protagonistin Isabella Marincola nach Jahren der Entbehrung und des Leidens das Haus und die Familie ihres Vaters; dies in erster Linie, um ihrer Stiefmutter zu entkommen, die ihr hasserfüllt, also aggressiv invektiv begegnet und in Isabella stets die lebendige Verkörperung des Betrugs ihres Gatten sieht.42 Um sich ihren Lebensunterhalt zu ver-

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resden.de/besuchen/ausstellungen-corty-galerie/archiv-der-ausstellungen/ausstellungen-20 20/schmaehung-provokation-stigma-medien-und-formen-der-herabsetzung/stereotype-sti gmata/zwischen-den-welten-ausgrenzung-post-kolonial. Vgl. Wu Ming 2/Santoro, Giuliano: »La guerra razziale. Tra Affile e il colonialismo rimosso« (https://www.dinamopress.it/news/la-guerra-razziale-tra-affile-e-il-colonialismorimosso). Die Erinnerungen an die Misshandlungen durch ihre Stiefmutter Flora Virdis schmerzen Isabella Marincola unverändert auch im Erwachsenenalter: »Fin dall’inizio mi aveva odiato proprio perché non poteva mimetizzarmi. Se avesse potuto dire in giro che ero figlia sua, forse, prima o poi, sarebbe riuscita perfino a volermi bene. Invece avevo la pelle scura, segno indelebile dell’avventura di mio padre con una mignotta africana. E in quanto femmina, dovevo pure somigliarle, a quella lì, ed ecco perché Flora mi picchiava tanto volentieri, mentre lasciava in pace Giorgio, oltre al fatto che lui era il primogenito, arrivato a Roma quando aveva ormai dieci anni, e non essendo abituato a incassare sberle, poteva pure saltargli il grillo di restituirle« (Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 146). Kurz nach Kriegsende 1945 entscheidet sich die Protagonistin, ein neues Leben zu beginnen, unabhängig von der Familie ihres Vaters, der bedauert, seiner Tochter nicht jenes Leben in Italien geboten zu haben, das er sich einst durch die offizielle Anerkennung seiner Kinder mit Ashkiro Hassan erhoffte: »– Pensavo di essermi comportato da gentiluomo, – disse mio padre. – E invece ho rovinato la vita a tutti quanti. Avrei voluto rispondere. Dirgli che i gesti nobili servono solo a chi li compie. Dirgli che una benda non basta per curare una ferita, ma alla lunga la nasconde e la fa incancrenire. Avrei voluto rispondere, ma non trovai le parole« (ebd., S. 147). Jahre später blickt Isabella Marincola kritisch auf das koloniale Patriarchat, das auch ihr Vater vertrat, wie folgender Textauszug vermittelt: »Anch’io,

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dienen, beginnt Isabella Marincola im Rom der 1940er Jahre als Aktmodell für den bulgarischen Bildhauer Assen Peikov zu arbeiten. Sie posiert auch für Renato Guttuso, bevor sie als Theater- und Filmschauspielerin Erfolge feiert. In folgender Textpassage erzählt sie eine Episode in Peikovs römischem Atelier, wo eines Tages der bekannte Journalist Indro Montanelli erscheint und sie rassistisch erniedrigt: »Se durante il lavoro qualcuno bussava alla porta dello studio, avevo a portata di mano un telo per coprirmi, e anche così, con quella toga improvvisata, era difficile non sentirsi in imbarazzo. L’uomo col cappello nero arrivò una mattina presto: avevo appena cominciato a mettermi in posa. […] Assen mostrò all’ospite i suoi pezzi più recenti, poi vennero verso di me e quello prese a studiare la scultura in lavorazione. – Questa come la intitolate? – domandò incuriosito. – La prima donna, – rispose l’altro. – Uhm … E la signorina, qui, sarebbe la modella? Assen annuì e l’ospite storse il naso, in un’imitazione riuscita delle ubbie da critico d’arte. – Le manca qualcosa, – disse alla fine. – Non mi direte la mela, vero? Questa è Lilith, non Eva. – No, non la mela. Piuttosto … una banana, eh? O magari delle noccioline … A voi piacciono le noccioline, vero, signorina? – A dire il vero non le ho mai mangiate, – risposi con voce asettica. – Ma se me ne compra un sacchetto, le assaggio volentieri. […] – Chi era quel cretino? – domandai non appena se ne fu andato. – Indro Montanelli. Non lo conosci? – Quello che scrive su ›La Domenica del Corriere‹?

per lungo tempo, mi sono raccontata che mio padre è stato un gentiluomo, che ha fatto un gesto generoso, molto insolito per quei tempi. Darci il suo cognome, il nome dei nonni. Ma ora che ascolto mia madre, […] mi rendo conto che devo accettarlo: sono figlia di una violenza, e lo sarei anche se i miei genitori si fossero tanto amati, come in un bel fotoromanzo. L’amore ai tempi delle colonie è impastato di ferocia. Un pugnale affilato minaccia e uccide, anche se lo spalmi di miele. Sono la figlia di un razzista, uno che in tutti i modi ha cercato l’oblio per la sua avventura africana. Uno che con le sue bugie ha rovinato la vita di sei persone, compresa Flora Virdis« (ebd., S. 375).

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– Proprio lui. Gli piace scherzare, ma non è cattivo. Dicono che in Africa avesse una moglie bambina e che le abbia voluto bene. – Immagino, – dissi ripiegando il telo. – Come un cane da grembo.«43 Wie die beispielhaft invektiv aufgeladene Szene zeigt, gestehen selbst prominente Persönlichkeiten des kulturellen Lebens im Italien der 1940er und 1950er Jahre wie Montanelli einer schwarzen Frau nicht annähernd einen gleichwertigen Platz in der Gesellschaft zu. Der reale Montanelli äußerte sich im Übrigen mehrmals öffentlich über sein im Textauszug angedeutetes sexuelles Verhältnis mit einem 12-jährigen eritreischen Mädchen, als er in den 1930er Jahren während der italienischen kolonialfaschistischen Invasion Soldat in Äthiopien war. Seine ohne Bedauern vorgebrachten Erinnerungen verweisen auf die Absenz jeglichen Problembewusstseins hinsichtlich seiner Position als kolonialer Unterdrücker.44 In Timira berichtet die Protagonistin Isabella Marincola von Begegnungen mit Intellektuellen und Künstler:innen der unmittelbaren Nachkriegszeit, wobei im Text mehrfach Kontinuitäten zwischen dem Italien unter Mussolini und jenem unter De Gasperi enthüllt werden: Während die zumeist männlichen Hauptakteure des kulturellen Lebens das Land aus dem Faschismus in die Republik navigieren, scheint sich ihr Verhalten gegenüber einer jungen Frau mit schwarzer Hautfarbe nicht wesentlich von jenem während des Impero zu unterscheiden. Von der heuchlerischen und bigotten, oftmals 43 44

Ebd., S. 171f. Die koloniale Ideologie ging Hand in Hand mit der Eroberung der Körper kolonialisierter Frauen. In Italienisch-Ostafrika war die als madamato oder madamismo bezeichnete Praktik, d.h. sexuelle Beziehungen und zeitweiliges Zusammenleben mit äthiopischen, eritreischen oder somalischen Frauen, unter den Kolonisatoren weit verbreitet. Montanelli sprach erstmals 1972 während der Fernsehsendung L’ora della verità von Gianni Bisiach über sein Verhältnis mit dem Mädchen namens Dastè (anderen Quellen zufolge Destà): »Era una bellissima ragazza bilena [i bilen sono un gruppo etnico eritreo, ndr] di 12 anni, scusatemi, ma in Africa è un’altra cosa. Così, l’avevo regolarmente sposata, nel senso che l’avevo comprata dal padre« (Montanelli, Indro zit. in https: //www.ilpost.it/2019/03/10/statua-indro-montanelli-imbrattata/vom 10.03.2019). Die in der Sendung anwesende Autorin Elvira Banotti erklärte Montanelli damals unmissverständlich, dass das, was er über seine ›zwölfjährige Braut‹ gesagt hatte, eine Vergewaltigung war und kritisierte ihn scharf: »Il vostro era veramente il rapporto violento del colonialista che veniva lì e si impossessava della ragazza di 12 anni […]« (Banotti, Elvira zit. ebd.). Zehn Jahre später änderte Montanelli in einem Interview mit Enzo Biagi das Alter des Mädchens von 12 auf 14 Jahre; in seiner Rubrik im Corriere della Sera vom 12.02.2000 rechtfertigte der Journalist sein Verhalten erneut – selbst nach Jahrzehnten.

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chauvinistischen und rassistischen Gesellschaft jener Jahre wird die Protagonistin Isabella Marincola wiederholt als schwaches, willenloses ›Objekt‹ und Verkörperung des ›Anderen‹ wahrgenommen. Dieser höchst reale Nexus zwischen Rassismus und Sexismus, der die kolonialen Diskurse charakterisierte und u.a. das Stereotyp der ›bella abissina‹, also der den europäischen Kolonisatoren gefügigen Frauen in den Kolonien konstruierte, wirkte in der postkolonialen Gesellschaft fort und findet sich in veränderter Form selbst in der Gegenwart, wie etwa die Polemiken infolge einer Protestaktion des feministischen Kollektivs Non Una Di Meno am Mailänder Montanelli-Denkmal zeigen – wurde doch das problematische Verhalten des Journalisten von Teilen der italienischen Öffentlichkeit mit dem Kontext seiner Zeit gerechtfertigt.45 Timira thematisiert dieses Überdauern des kolonialen Imaginären auch nach Ende der Kolonialzeit in eindringlicher Weise. Insofern lässt sich der Roman als politische Literatur mit antirassistischem Engagement beschreiben.

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Am 8. März 2019 besprühten einige Aktivistinnen des Kollektivs Non Una Di Meno im Zuge der Diskussionen über die Entfernung umstrittener Statuen in den Vereinigten Staaten und in verschiedenen europäischen Ländern die Bronzeskulptur für Montanelli in Mailand mit Farbe, um damit ein Zeichen gegen sexuelle und koloniale Gewalt zu setzen: »ricordare e dare giustizia alla ragazzina di 12 anni che Montanelli comprò come schiava sessuale in Etiopia durante la guerra. Una donna (di cui sappiamo solo il nome: Dastè) rimasta senza nome e senza voce nei dibattiti pubblici« (Non Una Di Meno zit. in El Bacha, Zad: »La vicenda di Montanelli non è solo ›passato‹: è anche il nostro presente«, https://www.vice.com/it/article/59x4y3/statua-montanelli-colonialismo). Die Farbaktion löste eine heftige Kontroverse zwischen jenen Stimmen aus, die Montanellis Handlungen »im Kontext der Gewohnheiten« italienischer Soldaten in den Kolonien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sehen wollen, und denjenigen, für die eine Rechtfertigung seines Verhaltens eine Form der Verdrängung begangener Kolonialverbrechen darstellt. Wenn heute über Montanelli gesprochen wird, so Zad El Bacha, spreche man auch von der kolonialen Ideologie, in der er handelte, und von ihren konkreten Auswirkungen. Selbst noch in der Gegenwart wirkt der koloniale Blick auf die Körper von Migrant:innen, betrachtet sie mitunter als ›exotische Objekte‹ oder als ›Bedrohung‹, markiert Differenzen und Machtpositionen, agiert also invektiv. Das Problem ist struktureller Art und das Ziel der Aktion an der Montanelli-Statue ist es, eine Analyse der Struktur der Gewalt und der Folgen des italienischen Kolonialismus in Gang zu setzen (vgl. Z. El Bacha: »La vicenda di Montanelli non è solo ›passato‹«, https ://www.vice.com/it/article/59x4y3/statua-montanelli-colonialismo; vgl. S. Brioni: Pratiche ›meticce‹, S. 112).

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Während sich die Hauptfigur Isabella Marincola/Timira Hassan in Italien häufig als »ospit[e] a casa propria«46 oder als »contraddizione vivente«47 fühlt, erkennt sie in Theater und Film das Potenzial für Widerstand gegen die allseits praktizierten invektiven Handlungen: Insbesondere die Theaterbühne ermöglicht der Protagonistin, den Fokus auf die Stimme und den Körper zu lenken und dadurch die aufgrund ihrer Hautfarbe erfahrene Ablehnung sowie die diskriminierenden Blicke herauszufordern. Isabella Marincola setzt sich bewusst den Zuschauer:innen aus, denn diese Position erlaubt ihr »[…] vedere la gente in platea, soggiogare i loro sguardi anche solo per pochi secondi. Nel cinema il rapporto col pubblico era troppo indiretto e quel che a me piaceva era proprio quel rapporto, finalmente rovesciato rispetto alla mia vita di tutti i giorni«48 . Der Text macht also klar, dass die Arbeit als Theaterschauspielerin für Isabella Marincola angesichts des direkten, körperlichen Kontakts mit dem Publikum eine Strategie der Selbstermächtigung darstellt. Als Mitglied des Theaterensembles von Tatiana Pavlova spielt Isabella Marincola 1949 in Lunga notte di Medea von Corrado Alvaro die Rolle der Layalé, Medeas Sklavin, in einer gefeierten Produktion mit Bühnenbild und Kostümen von Giorgio de Chirico und Musik von Ildebrando Pizzetti. Im Text rezitiert die Protagonistin Isabella Marincola dazu einen Monolog der Layalé »che mi parve subito divinamente scritto«49 : Ora non puoi tornare là donde sei partita. Ora sai che la vita è la ricchezza adoperata come forza. La potenza come giustizia. Nei tuoi paesi, la ricchezza dorme custodita nelle miniere, difesa dai mostri e proibita a tutti. Ma già uno v’è arrivato e l’ha rapita. Questo lo chiamano un eroe. E te, una donna tradita. All’uomo basta una sola parola: Vittoria. Vi sarà sempre denaro per compensare chi canta le lodi del vincitore. E vi saranno sempre quelli che canteranno le lodi di chi perde. Con le parole si può rendere giusto l’ingiusto, diritto il torto, buono il malvagio. Ma chi canta il vinto sarà prediletto dagli Dèi. E così il mondo andrà avanti, facendo il male e lodando il bene.50 Diese Neubearbeitung des antiken Mythos interpretiert die Figur der Medea nicht mehr als Rache suchende Frau, sondern schlägt eine Inszenierung vor,

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Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 459. Ebd., S. 449. Ebd., S. 236. Ebd. Alvaro, Corrado zit. in Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 236.

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die Medea als »l’antenata di tutte le donne che hanno subito la persecuzione razziale, di tutte quelle che vagano senza passaporto, da una nazione all’altra, e abitano i campi di concentramento, i campi profughi«51 präsentiert. Medea tötet ihre Kinder nicht aus blinder Wut, so die in Timira narrativierte Interpretation Alvaros, sondern »[v]uole estinguere il seme di una maledizione sociale e di razza, e quindi li uccide, in qualche modo per salvarli, in uno slancio disperato di amore materno«52 . Emotional berührt von Alvaros Werkerschließung imaginiert die narrative Figur Isabella ihre Mutter Ashkiro Hassan als moderne Medea, die sie, anstatt sie nach Italien zu schicken, in der Wiege getötet hätte. Währenddessen erobert die Protagonistin mit dieser Produktion nach und nach die italienischen Theater und gelangt schließlich nach Palermo, wo sie Lamberto, ihrem zweiten Ehemann begegnet, mit dem sie einige Jahre später Somalia besucht und ihre leibliche Mutter kennenlernt.

Abb: Isabella Marincola (links) in einer Filmszene aus Risoamaro (Italien 1949, R: Giuseppe De Santis)

(Quelle: http://dormirajamais.org/marcovaldo1/)

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Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 237. Ebd.

Invektive Konstellationen und Identitätskonstruktion in Timira

Zum Leben der jungen Schauspielerin in Rom Ende der 1940er Jahre gehören, so der Text, regelmäßige Besuche im Antico Caffè Greco in der Via Condotti, einem der ältesten Künstlerlokale der Stadt. Isabella Marincolas Hoffnungen auf eine Filmkarriere erfüllen sich allerdings nur ansatzweise, stellen sich doch die Versprechen auf Titelrollen zumeist als flüchtige Illusionen heraus: »Ennio Flaiano diceva che se avessero tratto un film da Tempo di uccidere […] avrebbe chiesto alla produzione di farmi interpretare la protagonista, una ragazza etiope. Ma erano promesse da Caffè Greco, impegnative come un sorso di vino […]«53 . Ihre bedeutendste Filmrolle spielt Isabella Marincola dann tatsächlich in Riso amaro (1949) unter der Regie von Giuseppe De Santis, worin sie eine Arbeiterin auf den Reisfeldern verkörpert. Wie der Text berichtet, reist Isabella schließlich 1956 erstmals nach Mogadischu, den seit ihrer Kindheit affektiv aufgeladenen Sehnsuchts- und Wohnort ihrer Mutter Ashkiro Hassan.54 Die Protagonistin von Timira kehrt also als Erwachsene an ihren Geburtsort in Somalia zurück. In literarischen Texten funktionieren Hallet/Neumann zufolge die wechselnden Verortungen von Figuren zwischen erzählten Räumen als bedeutungs- und identitätsstiftende Akte.55 Wie zuvor dargelegt, erscheint die Gesellschaft »nicht als eine dem Einzelnen gegenüberstehende Größe, sondern als konstituierendes Element seines Selbst«56 . Identität formt sich somit gesellschaftlich und wird zugleich kulturell geprägt. Bewegen sich Individuen zwischen verschiedenen sozialen und kulturellen Ordnungen, wird ihre Identität durch den veränderten sozialen und kulturellen Kontext konstruiert – räumliche Bewegung bewirkt also eine Identitätstransformation. Da jegliche Raumerfahrung untrennbar an die individuelle Körperlichkeit gebunden ist, erleben Personen Orte und Räume nicht nur entsprechend kultureller Raumkonzepte, sondern über sinnliche, individuell formierte Raumwahrnehmung. Dabei fungiert der Körper für die räumliche Verortung des Individuums sowie für die Erfahrung 53 54

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Ebd., S. 235. Nachdem sich Isabella Marincola die Lüge über die wahre Identität ihrer Mutter enthüllt, fungiert diese im Text mehr und mehr als Projektionsfläche: »Quel che mi interessava era sapere tutto su nostra madre, visto che a me avevano fatto credere che fosse Flora Virdis (in somalo Aschirò Assan) e che la mia pelle fosse più scura per via del sole di Mogadiscio« (Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 103). Vgl. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit: »Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 11–32, hier S. 25. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 132.

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von Räumen »als Orientierungszentrum, über das eine sinnhafte, sinnliche Beziehung zum Raum hergestellt wird«57 . In Timira wird die figurale Raumwahrnehmung über Sinnesmodalitäten des Sehens, Hörens, Riechens und Tastens vorwiegend in den intern fokalisiert erzählten Episoden dargestellt: »Volevo scendere in strada, mescolarmi ai somali, sentire sulla pelle i loro sguardi e valutarne il peso«58 . Wie das Zitat vermittelt, erlebt Isabella Marincola die Körperlichkeit der Welt als Teil der Erfahrung ihres Selbst. Durch den Eintritt in einen neuen kulturellen, sozialen, familiären Kontext verbindet sich das Überschreiten von Grenzen für die Hauptfigur mit einer Änderung ihres Selbst.59 Just in diesen erfahrenen Grenzsituationen oder Übergängen konkretisiert sich Isabella Marincolas/ Timira Hassans Identitätssuche, die angesichts der aus dem Kolonialismus resultierenden diskontinuierlichen Familienkonstellation mit einer stets präsenten Gefühlsambivalenz korreliert. Fühlte sich die Protagonistin während ihrer Kindheit in der scheinbar vertrauten Umgebung häufig verloren, reflektiert sie dieses Unbehagen im Erwachsenenalter als ›Dezentrierung‹ ihres Selbst. Sie erkennt das Potenzial eines offenen oder beweglichen Identitätsbegriffs und sinnt darüber in folgendem Gedankengang nach: »Mi domandai se questo non fosse un vantaggio: la capacità di provare, in ogni situazione, un familiare disagio.«60

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W. Hallet/B. Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur, S. 27. Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 266f. Vgl. Borsò, Vittoria: »Grenzen, Schwellen und andere Orte. ›…La geographie doit bien etre au cœur de ce dont je m’occupe‹«, in: Vittoria Borsò/Reinhold Görling (Hg.), Kulturelle Topografien, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 13–41, hier S. 22; vgl. Waldenfels, Bernhard: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 31. Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 266. Stuart Hall beschreibt »moderne Identitäten« als »dezentriert«, »zerstreut« und »fragmentiert« (vgl. Hall, Stuart: »Kulturelle Identität und Globalisierung«, in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt: Suhrkamp 1999, S. 393–441, hier S. 393). Moderne Gesellschaften werden seit dem späten 20. Jahrhundert durch einen strukturellen Wandel transformiert, »der die kulturelle Landschaft von Klasse, Geschlecht, Sexualität, Ethnizität, ›Rasse‹ und Nationalität, in der wir als gesellschaftliche Individuen fest verortet sind, fragmentier[t]« (S. Hall: Kulturelle Identität und Globalisierung, S. 394). Diese Transformationen spalten auch die personale Identität und untergraben mitunter die Selbstwahrnehmung von Individuen, so Hall weiter. In der postkolonialen Theorie wird dieser Verlust einer stabilen Selbstwahrnehmung als ›Zerstreuung‹ oder ›Dezentrierung des Subjekts‹ bezeichnet (vgl. ebd.). Der Begriff der ›Zerstreuung‹ (dislocation) wurde erstmals von Ernesto Laclau (1990) benutzt, auf den

Invektive Konstellationen und Identitätskonstruktion in Timira

Freiheit und Selbstbestimmung sind Isabella Marincolas wichtigste Anliegen. Figural lässt sich die Protagonistin als willensstark, gebildet und von scharfsinniger Intelligenz charakterisieren. Sie beschließt nach der Trennung von Lamberto, vorerst in Mogadischu zu bleiben, kehrt jedoch infolge einer ungewollten Schwangerschaft nach Rom zurück, um eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Nach einer Ellipse von drei Jahren wird den Leser:innen in Form eines Briefes Isabella Marincolas/Timira Hassans an ihre Mutter mitgeteilt, dass sie den Somalier Mohamed Ahmed kennengelernt habe, der an der Universität Rom Politikwissenschaften studiert und sie heiraten möchte. Die Narration rafft die von der Hauptfigur als autodiegetische Erzählstimme berichteten Ereignisse unbeschwerten Lebens im Mogadischu der 1960er Jahre: Isabella und Mohamed heiraten und bekommen ihr einziges gemeinsames Kind – Antar. Die Protagonistin nennt sich fortan Timira Hassan, unterrichtet an den scuole superiori Michelangelo Buonarroti, gibt Nachhilfe in Latein und Griechisch und führt das Leben einer modernen emanzipierten Frau. Der Text informiert mitunter über das somalische Schulsystem sowie den Einfluss Italiens auf die Konzeption dieses elitären und im Wesentlichen italozentrischen Systems. Da sich die politischen Verhältnisse in Somalia nach der Unabhängigkeit nur unzureichend stabilisieren, gelingt es Siad Barre, sich 1969 an die Macht zu putschen – ein für Isabella Marincola/Timira Hassan und ihre Familie folgenschweres Ereignis. Mohamed Ahmed, ehemals Kabinettschef der gestürzten Regierung von Ali Shermarke, wird inhaftiert und wendet sich nach Jahren der Demütigung, Perspektivlosigkeit und Arbeitsmigration in SaudiArabien verstärkt dem Islam zu. Temporäre Medikamentenabhängigkeit und Suizidgedanken stürzen Isabella Marincola/Timira Hassan in eine Lebenskrise, auch das Verhältnis zu ihrer Mutter Ashkiro Hassan entwickelt sich nicht so innig wie anfänglich erhofft. Irrtümer, Fehler und Scheitern zwingen zu ständiger Veränderung und würden daher wie Medizin gegen das Alter(n) wirken, so Isabella Marincola, denn » […] quando non cambi proprio più, vuol dire che sei morto«61 . Leben identifiziert die Protagonistin also mit Veränderung und Bewegung. Als 1991 der somalische Bürgerkrieg ausbricht, kehrt Isabella Marincola/ Timira Hassan schließlich endgültig nach Italien zurück – eine unfreiwilli-

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Stuart Hall referiert und erläutert, eine zerstreute Struktur zeichne sich dadurch aus, dass ihr »Zentrum verdrängt und nicht durch ein anderes, sondern durch ›eine Vielfalt von Machtzentren‹ ersetzt wird« (ebd., S. 398). Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 480.

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ge, aber alternativlose Remigration in ihre alte ›Heimat‹: »Quando l’alternativa al caos è la legge di Dio amministrata dagli uomini, allora è il momento di fuggire da entrambi«62 . Die in der Erzählgegenwart verorteten Episoden fiktionalisieren die von der faktualen politischen Krisensituation auferlegten und somit nicht frei gewählten Handlungen und Erfahrungen Isabella Marincolas, die angesichts sozialpolitischer, ökonomischer und familiärer Umstände notgedrungen unterwegs ist. Infolge des Ausnahmezustandes, so informiert der Text, wird in Italien ein Gesetz erlassen, das aus Somalia geflohenen italienischen Staatsangehörigen eine finanzielle Unterstützung in der Höhe von 11 Millionen Lire zuspricht. Die Auszahlung dieser Summe knüpft sich an drei formale Voraussetzungen – konkret an die Bescheinigung der Repatriierung durch das Außenministerium, eine amtliche Meldung in einer italienischen Stadt oder Gemeinde und schließlich die Ausstellung des Flüchtlingsstatus durch die Präfektur des Wohnortes. Bei der Suche nach einem (hierfür notwendigen) dauerhaften Wohnsitz und nach einem Auskommen vertraut die Protagonistin Isabella Marincola auf die Unterstützung ihres Sohnes Antar, der seit mehreren Jahren in Bologna studiert, sich selbst allerdings in prekären Lebensverhältnissen durchschlägt und seiner Mutter wiederholt nur provisorische Unterkünfte vermitteln kann. Die Protagonistin verbringt einige Monate in den Dolomiten, bevor sie, zurück in Bologna, eine Arbeit in der Altenpflege annimmt. Ehe allerdings die offizielle Wohnsitzmeldung und ihr Personalausweis eintreffen, wird sie gekündigt und lebt vorübergehend in der WG ihres Sohnes. Die in Zusammenhang mit der Erlangung des Flüchtlingsstatus sowie des staatlich zugesicherten Geldbetrages geschilderten Verwaltungsvorgänge, die Isabella Marincola/Timira Hassan zur Geflüchteten im eigenen Land werden lassen, also Machtasymmetrien aktualisieren und sozialen Ausschluss produzieren, können als invektiv gesättigtes othering beschrieben werden, das sich auf institutioneller Ebene realisiert. Angesichts all der verwaltungstechnischen Widersprüche stellt sich die Protagonistin die Frage, welchen Status sie denn eigentlich innehat: Ist sie eine italienische Staatsbürgerin, eine Vertriebene, eine Geflüchtete oder eine vor dem Krieg in Somalia nach Italien Evakuierte? Wie kann sie als Geflüchtete in einem Land gelten, dessen Staatsbürgerschaft sie zugleich besitzt? Mehr denn als Geflüchtete fühlt sie sich ohnehin als Flüchtende. Diese Reflexionen über die politischen Rahmenbedingungen Anfang der 1990er Jahre in Italien fungieren gewissermaßen 62

Ebd., S. 41.

Invektive Konstellationen und Identitätskonstruktion in Timira

als Folie der Identitätsbildung oder als »Oberflächenmarkierung der SelbstKonstitution«63 der Hauptfigur. Im Verlauf ihrer Recherche zu Begriffen wie »profugo«, »rifugiato« und »sfollato« stößt sie auf das Lemma für »cittadinanza«, deren Bedeutung das von der Protagonistin konsultierte fiktive Lexikon folgendermaßen definiert: »Sostantivo femminile, vincolo di appartenenza a uno stato, richiesto e documentato per il godimento di diritti e l’assoggettamento a particolari oneri. Può essere vista come un rapporto giuridico tra lo stato e una persona fisica«64 . Wenn nun eine Person physisch existiert und alle Voraussetzungen für die italienische Staatsangehörigkeit erfüllt, jedoch in Wirklichkeit das Leben einer Geflüchteten führt, dann fehlt in dem als Staatsbürgerschaft bezeichneten juristischen Verhältnis nicht der:die Bürger:in, sondern der souveräne Staat, so die Kritik der Erzählinstanz, welche die Protagonistin aus der Du-Perspektive fokalisiert. Als italienische Staatsbürgerin schwarzer Hautfarbe scheint Isabella Marincola/Timira Hassan paradoxerweise zu einer Flüchtenden im Land ihrer Staatsangehörigkeit zu werden, das zunehmend selbst in eine Krise schlittert. Im Italien der Jahre 1991/92 durchlebt die Protagonistin in der Tat eine existenzielle Grenzerfahrung, in der sie simultan Geflüchtete und Staatsbürgerin ist, ohne von den Institutionen gehört zu werden. Schon Gayatri Chakravorty Spivak hat auf die hegemoniale Strukturiertheit des ›Hörens‹ hingewiesen. Dies wirft Fragen nach einer latenten Präsenz von Subalternität in europäischen Ländern wie Italien auf: Spivaks Aussage, dass Subalterne nicht sprechen können, kann dahingehend gedeutet werden, dass sie, selbst wenn sie es immer wieder versuchen, nie gehört werden.65 Dies trifft zwei63 64 65

E. Tiller: Krise und Erneuerung, S. 34. Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 461. Vgl.: »So, ›the subaltern cannot speak‹, means that even when the subaltern makes an effort to the death to speak, she is not able to be heard, and speaking and hearing complete the speech act« (Spivak, Gayatri Chakravorty: »Subaltern Talk. Interview with the Editors«, in: Donna Landry/Gerald MacLean (Hg.), The Spivak Reader. Selected Works of Gayatri Chakravorty Spivak, New York, London: Routledge 1996, S. 287–308, hier S. 292). Gayatri Spivak aktualisierte das auf Antonio Gramsci zurückgehende Konzept der Subalternität für die postkoloniale Theorie. Der Begriff »subaltern« beschreibt Subjektpositionen, die innerhalb eines kolonialisierten Territoriums von allen Mobilitätsformen abgeschnitten sind. In den Quaderni del carcere (1929–1935) bezeichnete Gramsci jene Individuen als Subalterne, »die keiner hegemonialen Klasse angehören, die politisch unorganisiert sind und über kein Klassenbewusstsein verfügen« (Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld: transcript 2005, S. 69, in Anlehnung an

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fellos auf Isabella Marincola/Timira Hassan während ihrer Odyssee durch die staatlichen Verwaltungsinstitutionen zu, als sie vielfach mit struktureller Invektivität konfrontiert ist. Von den Wechselfällen des Lebens, persönlichen Kompromissen und rassistischer Ausgrenzung gezeichnet, vermag die Protagonistin dennoch unermüdlich Fluchtwege zu öffnen und verhandelt widerständig ihre Identität in ihrer alten neuen ›Heimat‹ als italienische Staatsbürgerin: »– È questo il mio paese, l’Italia. Ed è stato il governo italiano a portarmi qua: non la guerra, non i somali e nemmeno la speranza. Io sono italiana. Un’italiana dalla pelle scura«66 . Der historische Kontext macht ohnehin Neupositionierungen nötig: Der

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Gramsci 1999 [1934]). Gramsci ging davon aus, so Castro Varela/Dhawan, »dass das hegemoniale Unterdrückungssystem, das die Subalternen ausbeutet, durch [deren] Gewinnung eines Klassenbewusstseins und/oder durch das Eingehen einer Allianz mit der städtischen Arbeiterklasse gestürzt werden könne« (ebd.). Diese Vorstellung der Subalternen als potenzielle revolutionäre Kraft wurde von Spivak übernommen, kontextualisiert und weiterentwickelt. In ihrem einflussreichen Essay Can the Subaltern speak? erörtert Spivak die Frage, ob die Subalternen für sich selbst sprechen können oder davon abhängig sind, dass für sie gesprochen wird – und sie mithin repräsentiert werden, anstatt sich selbst zu repräsentieren. Spivak kritisiert mit ihrem Text etwa die Positionen Michel Foucaults und Gilles Deleuzes, deren Ablehnung ideologietheoretischer Positionen zu einer Sichtweise führe, welche die Subalternen als klassisch-humanistische Subjekte konstruiert, die sich ihrer sozialen Lage kritisch bewusst sind und entsprechend Widerstand leisten (vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant 2008; vgl. M. Castro Varela/N. Dhawan: Postkoloniale Theorie, S. 72f.). Foucault argumentiert etwa, die Menschen seien durchaus in der Lage, für sich selbst zu sprechen und seien nicht auf die Intellektuellen angewiesen, um über ihre Lage zu reflektieren. Die Intellektuellen sind selbst »Teil dieses Machsystems«, so Foucault, »die Vorstellung, sie seien die Agenten des ›Bewusstseins‹ und des Diskurses, gehört selbst zu diesem System. Die Rolle des Intellektuellen besteht nicht darin, sich ›etwas vorweg oder etwas seitab‹ zu platzieren, um die stumme Wahrheit aller auszusprechen; sie besteht vielmehr darin, dort gegen die Formen einer Macht zu kämpfen, wo er zugleich Gegenstand und Instrument dieser Macht ist: in der Ordnung des ›Wissens‹, des ›Bewusstseins‹ und des ›Diskurses‹« (Foucault, Michel: »Die Intellektuellen und die Macht: ›Les intellectuels et le pouvoir‹ (Gespräch mit G. Deleuze; 4. März 1972)«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg., unter Mitarbeit von Jacques Lagrange), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. II (1970–1975), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 382–393, hier. S. 384). Für Spivak geben Foucault und Deleuze damit ihre Verantwortung gegenüber den Entmächtigten auf (vgl. M. Castro Varela/N. Dhawan: Postkoloniale Theorie, S. 73, 76). Wu Ming 2/A. Mohamed: Timira, S. 395.

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somalische Staat implodierte im Jahr 1991, aber auch in Italien vollzogen sich Anfang der 1990er Jahre grundlegende politische Veränderungen wie der Übergang von der Ersten zur Zweiten Republik. Hierhin kehrt Isabella Marincola nach 30 Jahren in Somalia zurück, jedoch ist es am Ende nicht der italienische Staat, der ihr ein Dach über dem Kopf bereitstellt. Zieht sich der Staat zurück, scheint kein anderer Ausweg zu bleiben, als sich an eine karitative Organisation zu wenden. Darauf spielt das letzte Kapitel in Timira durch die detaillierte Beschreibung der Prozession zu Ehren der Madonna di San Luca an, »colei che mostra la via, protettrice dei viaggiatori e quindi anche dei profughi […]. Una Madonna nera, marroncina, mulatta«67 . Timira problematisiert damit den allgemeinen sozialen und politischen Umbruch Italiens Anfang der 1990er Jahre und besonders die Krise der staatlichen Institutionen. Ihre Wanderungen führen die Protagonistin zwar von einer persönlichen Demütigung zur nächsten, allerdings besteht kein Zweifel, wer dieses Debakel zu verantworten hat: Der italienische Staat, der Personen wie Isabella Marincola selbst Ende des 20. Jahrhunderts einfach nicht vorsieht und kein soziales Netz anbietet. Im Text hingegen wird die Protagonistin als Heldin des Alltags inszeniert, die trotz widrigster Rahmenbedingungen nicht aufgibt und neue Räume freilegt bzw. freizulegen gezwungen ist, um zu überleben. Auf Vermittlung von Don Marino beziehen Isabella Marincola und Antar Mohamed schließlich eine Wohnung in Bologna. Das Angewiesensein auf Wohltätigkeit bzw. karitative Unterstützung markiert für die Protagonistin jedoch das Gegenteil von Rechtsstaatlichkeit: »Di fronte all’elemosina si può solo ringraziare, perché la beneficenza è il contrario del diritto«68 , so die explizite Kritik am italienischen Staat, der sich im Umgang mit postkolonialen Biografien seiner Verantwortung zu entledigen scheint. Timira ist also in der Tat politische Literatur mit antirassistischem Engagement, thematisiert der Text doch die Kontinuität von kolonial-rassistischen Dynamiken der Herabsetzung auch nach dem Ende der Kolonialzeit. Im Sinne der New Italian Epic forciert Timira ein erzählerisches Aushandeln kultureller und politischer Themen und reflektiert mit dem dadurch erzeugten narrativen Modus der ›Problematisierung‹ Invektivgeschehen kritisch. Im Mittelpunkt steht das Zusammenspiel von Medialität und ›Realität‹ im Narrativen, oder anders gesagt, das performative Potenzial realitätsaffiner fiktionaler Tex-

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Ebd., S. 489. Ebd., S. 491.

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te.69 Da dieses gesellschaftspolitische Engagement über den gesamten Text hinweg politische Versäumnisse in der lückenhaften Geschichtsaufarbeitung sowie der offiziellen Erinnerungskultur Italiens aufzeigt, werden die Leser:innen ermutigt und durchaus angehalten, über den Text hinaus hegemoniale Repräsentationen kolonialer und postkolonialer Geschichtsdarstellungen zu hinterfragen, auf invektive Konstellationen hin zu überprüfen und dergestalt eine kritische ›Gegenöffentlichkeit‹ zu bilden.

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Vgl. E. Tiller: »Krise und Erneuerung«, S. 47f.; vgl. S. Schrader/E. Tiller: »Migration nach Italien«, S. 9.

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Herabsetzung und Gewalt bezeugen Sex work und Migration in Le ragazze di Benin City (2007) und Il mio nome è Wendy (2007) Berit Weingart

Italienische Erzählungen zu sex work und Migration »Ce l’hanno con te perché sei donna. E nera. E puttana. E debole.«1 Il mio nome non è Wendy2 von Wendy Uba und Paola Monzini sowie Le ragazze di Benin City von Isoke Aikpitanyi und Laura Maragnani, beide 2007 veröffentlicht, schildern aus der Ich-Perspektive die Lebensgeschichten zweier junger nigerianischer Frauen, die unter falschen Versprechungen nach Italien gebracht und in die Prostitution3 auf den Straßen Mailands und Turins gezwungen werden. Dabei beschreiben die Erzählerinnen sowohl die Mechanismen eines

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Maragnani, Laura/Aikpitanyi, Isoke: Le ragazze di Benin City. La tratta delle nuove schiave dalla Nigeria ai marciapiedi d’Italia, Milano: Melampo 2007, S. 74. Uba, Wendy/Monzini, Paola: Il mio nome non è Wendy, Bari: Laterza 2007. Eneze Modupe-Oluwa Baye/Silke Heumann oder Laura María Augustín begreifen sex work als oftmals informelles Arbeitsverhältnis, das durchaus auch aufgrund ökonomischer, physischer oder psychischer Zwänge eingegangen wird und in Verbindung mit Differenzkategorien wie race häufig ausbeuterische Formen annimmt. Sie sprechen sich gegen eine Stereotypisierung, Kriminalisierung und Viktimisierung der in diesem Bereich tätigen Frauen aus. In diesem Beitrag werden deshalb zumeist die Begriffe sex work, sex worker, Sexarbeit und Sexarbeiterinnen verwendet. Dabei soll keineswegs eine Verharmlosung vorgenommen, sondern auf die Komplexität des Themenfeldes jenseits binärer Täter-Opfer-Relationen hingewiesen werden. Vgl. hierzu: Baye, Eneze Modupe-Oluwa/Heumann, Silke: »Migration, Sex Work and Exploitative Labor Conditions«, in: Gender, Technology and Development 18 (2014), S. 77–105, hier S. 81 (https:// www.tandfonline.com/doi/full/10.1177/0971852413515322), und Augustín, Laura María: Sex at the Margins. Migration, Labour Markets and the Rescue Industry, London/ New York: Zed Books 2007, S. 53.

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italienisch-nigerianischen Systems, das auf irregulärer Migration und sexueller Ausbeutung beruht, als auch die traumatischen Erfahrungen und Gedanken von Nigerianerinnen auf dem italienischen Straßenstrich. Obwohl die Bücher unabhängig voneinander veröffentlicht wurden, die Protagonistinnen verschiedenen Ethnien angehören und die Texte stilistisch unterschiedlich verfahren, finden sich zahlreiche Überschneidungen. Die histoire der Erzählungen folgt demselben Muster: Sie beginnt in der Kindheit und beleuchtet dann die Migration nach Italien, die dort erlebten Schwierigkeiten und traumatischen Erlebnisse, schildert den Ausstieg aus der Sexarbeit mithilfe eines italienischen Mannes, die Integration in die Ankunftsgesellschaft und letztendlich die Entfremdung vom Geburtsland. Beide Texte ähneln sich in der Raumstruktur und im Figureninventar, machen jedoch auf unterschiedliche Weise invektive Konstellationen in der Verschränkung von Ethnizität mit dem Feld der sexuellen Dienstleistungen narrativ zugänglich. Die Überschneidungen von Migration und sex work wurden bereits in Romanen wie Princesa von Fernanda Farias de Albuquerque und Maurizio Janelli (1994),4 Younis Tawfiks La Straniera (2001)5 oder Sole bruciato von Elvira Dones (2001)6 thematisiert und in der Sekundärliteratur besprochen.7 Im Gegensatz dazu handelt es sich bei Il mio nome non è Wendy und Le ragazze di Benin City um relativ wenig zur Kenntnis genommene Veröffentlichungen. Der vorliegende Beitrag geht mit Blick auf diese in Kooperation zwischen nigerianischen Sexarbeiterinnen und italienischen Journalistinnen bzw. Soziologinnen entstandenen Erzählungen der Frage nach, wie das intersektionale Zusammenwirken von sex work und Migration mit invektiven Phänomenen in Form von othering, Herabsetzung, Gewalt und strukturell verfestigten Pejorisierungsprozessen verhandelt und dargestellt wird. Von Interesse ist hierbei neben den Erzähltechniken, die auf unterschiedliche Weise invektive Konstellationen literarisieren – zum Teil metareflexiv operieren, zum Teil selbst invektive Muster reproduzieren –

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Farias de Albuquerque, Fernanda/Janelli, Maurizio: Princesa, Athēna: Ekdoseis Delphini 1994. Tawfik, Younis: La straniera, Milano: Bompiani 2001. Dones, Elvira: Sole bruciato, Milano: Feltrinelli 2001. Vgl. etwa Comberiati, Daniele: Scrivere nella lingua dell’altro. La letteratura degli immigrati in Italia (1989–2007), Oxford/Bern/Berlin u.a.: Lang 2010, S. 25; Burns, Jennifer: Migrant Imaginaries. Figures in Italian Migration Literature, Oxford/Bern/ Berlin u.a.: Lang 2013, S. 31ff.; Bond, Emma: Writing Migration through the Body, Cham: Palgrave Macmillan 2018, S. 91–100.

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auch die Frage nach der transnationalen Co-Autor:innenschaft der beiden vorliegenden Texte.

Erzählungen der Anderen: testimonial narratives und letteratura a quattro mani Betrachtet man die wenigen Rezensionen und Artikel zu Il mio nome non è Wendy und Le ragazze di Benin City, stellt sich umgehend ein gewisses Unbehagen bezüglich des Genres ein: Il mio nome non è Wendy wird von Federico Longo als Roman gewertet und charakterisiert als »di una veridicità e attendibilità terrorizzante«8 . Anna Catanzaro beschreibt Le ragazze di Benin City hingegen als »storia di 50 ragazze [!] nigeriane« und schlägt eine andere GattungsZuordnung vor: »più che rappresentare un’inchiesta giornalistica, si dirama sotto forma di racconto.«9 Monica Massari zitiert Il mio nome non è Wendy als »biographical book«10 . Nicoletta Mandolini spricht sowohl von einer »composizione biografica« als auch von einer »confessione autobiografica«.11 Beide Texte, so wird klar, zeichnen sich durch hybride Vertextungsverfahren aus, die an auto- oder dokufiktionale12 Repräsentationsmodi erinnern. Durch 8

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Longo, Federico: »›Il mio nome non è Wendy‹ di Wendy Uba e Paola Monzini«, in: Lo Specchio di Carta. Osservatorio sul Romanzo Italiano Contemporaneo (2011), o.S. (https://lospecchiodicarta.it/2011/07/31/il-mio-nome-non-e-wendy/). Catanzaro, Anna: »Recensione sulle ragazze di Benin City«, in: IL GHIGNO Libreria (2008), o.S. (https://ilghignolibreria.wordpress.com/2008/03/29/recensione-sulle-ragazzedi-benin-city/). Massari, Monica: »The Other and her Body. Migrant Prostitution, Gender Relations and Ethnicity«, in: Cahiers de l’Urmis 12 (2009), S. 1–16, hier S. 9 (http://urmis.revu es.org/787). Mandolini, Nicoletta: »Prostituzione e violenza nella letteratura italiana della migrazione. L’esperienza della tratta in Le ragazze di Benin City e Il mio nome non è Wendy«, in: Carla Carotenuto et al. (Hg.), Pluriverso italiano. Incroci linguistico-culturali e percorsi migratori in lingua italiana. Atti del Convegno internazionale Macerata-Recanati, 10–11 dicembre 2015, Macerata: Edizioni Università di Macerata 2018, S. 389–402, hier S. 394. Agnes Bidmon und Christine Lubkoll liefern eine Minimaldefinition, »[…] die besagt, dass sich dokufiktional verfahrende Medienformate auf der Ebene der histoire mit durch verschiedene Quellen verbürgten und damit als real geltenden zeitgeschichtlichen oder zeitgenössischen Ereignissen, Konstellationen oder Personen auseinandersetzen und hierfür auf der Ebene des discours Darstellungsweisen, die sowohl traditionellen Praktiken des Dokumentierens als auch des Fingierens entsprechen, mit-

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die nigerianisch-italienische Co-Autor:innenschaft werden jedoch weitere Fragen aufgeworfen. Während die zitierten Rezensionen die Erinnerung der Sexarbeiterinnen als Hauptbestandteil der Erzählungen benennen und eine (auto)biografische Lesart stützen, sprechen Jennifer Burns und Nicoletta Mandolini von »›testimonial‹ narratives« bzw. von »libri [di] testimonianza«.13 Testimonial narratives zeichnen sich durch die autodiegetische Lebenserzählung marginalisierter, aus (ehemals) kolonisierten Ländern stammender Menschen und eine dezidiert politische Ausrichtung aus, die sich häufig in der Anklage von Ungerechtigkeit und Unterdrückung äußert.14 Gemein ist diesen Erzählungen die Rezeption durch ein westliches Publikum, das sie als kulturelle Artefakte auffasst.15 Die Texte, die hier im Mittelpunkt stehen, lassen sich außerdem in eine italienische Tradition des Phänomens einordnen, die den Beginn der sogenannten ›Migrationsliteratur‹ in Italien markiert. Autor:innen mit Migrationserfahrung nahmen in den 1990er Jahren aufgrund ihrer noch geringen Zahl eine Sonderstellung auf dem Buchmarkt ein. Die ersten Werke lassen sich daher größtenteils innerhalb einer letteratura a quattro mani verorten, die durch eine Zusammenarbeit mit italienischen Journalist:innen, Übersetzer:innen und/oder Herausgeber:innen gekennzeichnet ist. Oftmals gestaltete sich diese Zusammenarbeit – von mündlicher Schilderung über

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hilfe intramedialer, intermedialer oder transmedialer Verfahren verknüpfen.« Agnes Bidmon/Christine Lubkoll: »Dokufiktionalität in Literatur und Medien. Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Dokufiktionalität in Literatur und Medien. Erzählen an den Schnittstellen von Fakt und Fiktion, Boston: De Gruyter 2021, S. 1–23, hier S. 10. In Bezug auf literarische Dokufiktion verweist Markus Wiegandt auf narrative Techniken, die weder als entschieden journalistisch noch literarisch gelten und hebt die Erweiterung des Geltungsbereichs der verhandelten Einsichten in die reale Welt hervor. Vgl. Wiegandt, Markus: Chronisten der Zwischenwelten. Dokufiktion als Genre. Operationalisierung eines medienwissenschaftlichen Begriffs für die Literaturwissenschaft, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017, S. 18 und 24. J. Burns: Migrant Imaginaries, S. 13 und N. Mandolini: Prostituzione e violenza, S. 389. Vgl. Mücke, Ulrich: »Testimony/Testimonio«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Handbook of Autobiography/Autofiction, Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 669–674, hier S. 669. Gillian Whitlock subsumiert unter diesem Begriff sowohl in kolonialen als auch postkolonialen Kontexten entstandene autofiktionale Erzählungen, die sich mit den ethischen, politischen und historischen Implikationen globaler Ereignisse wie Sklaverei, Apartheid und Migration auseinandersetzen. Vgl. Whitlock, Gillian: Postcolonial Life Narratives. Testimonial Transactions, Oxford: Oxford University Press 2015, S. 10. Vgl. G. Whitlock: Postcolonial Life Narratives, S. 6.

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die Übersetzung bis zu gleichberechtigtem Schreiben – nicht einfach, zumal sie maßgeblich durch die Dichotomie zwischen linguistisch ›starkem‹ und ›schwachem‹ Subjekt geprägt war.16 Ungeachtet unterschiedlicher Verschriftlichungsanlässe und Ästhetisierungsgrade wurden die Werke von Autor:innen mit Migrationserfahrung oder -hintergrund durchgehend als Tagebücher und Dokumente, als Zeugenberichte einer fremden Minderheit gelesen, die sich mit Ausgrenzung, Rassismus und dem Infragestellen der eigenen Identität konfrontiert sieht. Armando Gnisci fasst dies folgendermaßen zusammen: »I testi pubblicati dai migranti diventano dei testimoni delle culture della recente immigrazione o, al massimo, vengono prevedibilmente presentati come latori di messaggi di pace e di buona convivenza alla società italiana.«17 Während die Zusammenarbeit in Autor:innenpaaren durchaus darauf angelegt war, invektive Dynamiken im Kontext der Migration nach Italien herauszustellen, zeigt sich auch innerhalb dieser (Veröffentlichungs-)Strategie selbst eine invektive Dimension, insofern die migrantischen Autor:innen auf ihre Rolle als Informant:innen reduziert und somit künstlerisch delegitimiert wurden. Die Möglichkeit eines eigenständigen Auftrittes auf dem Buchmarkt blieb ihnen verwehrt.18 Der Wunsch nach eigener künstlerischer Produktion in italienischer Sprache sowie eine zunehmend kritische, auch theoretische Ausformung der transkulturellen und postkolonialen Literatur veranlasste schließlich viele der ersten ›Migrationsautor:innen‹, eigene Wege zu gehen und auf den Modus der Co-Autor:innenschaft zu verzichten. Die anhaltende gesellschaftliche Problematisierung migrationsgebundener Themen führt

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Vgl. D. Comberiati: Scrivere nella lingua dell’altro, S. 55. Armando Gnisci zitiert nach Sinopoli, Franca: »La critica sulla letteratura della migrazione italiana«, in: Armando Gnisci (Hg.), Nuovo planetario italiano. Geografia e antologia della letteratura della migrazione in Italia e in Europa, Troina: Città Aperta Ed 2006, S. 87–110, hier S. 87. Armando Gnisci differenziert hier zwischen »scrittori migranti« und »migranti che scrivono«: Ersteren, die als Autor:innen Raum und Zeit durchqueren sowie ihr Leben und ihre Sprache verändern und Zweiteren, die ihre Migrationserfahrung dokumentieren, indem sie Märchen, Erzählungen und Gedichte verfassen. Zit. nach F. Sinopoli: La critica sulla letteratura della migrazione italiana, S. 97. Daniele Comberiati schreibt diesbezüglich: »I testi sono presi in considerazione solamente come testimonianze, autobiografie o diari: sembra che gli scrittori immigrati non abbiano diritto ad una ricerca estetica, ma siano solo il tramite per far conoscere agli italiani aspetti ignorati della loro società.« D. Comberiati: Scrivere nella lingua dell’altro, S. 54.

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allerdings nach wie vor zum öffentlichen Interesse an einer Sparte von Erzählungen, die, aus einer Kooperation von ›Betroffenen‹ und italo-italienischen Autor:innen hervorgegangen, ›aus erster Hand‹ stammende und gegebenenfalls mittels drastischer Darstellungen lancierte Themen wie irreguläre Migration, Menschenhandel, Ausbeutung, Rassismus oder Prostitution fiktionalisieren und in humanitäre Diskurse einbetten.19 Auch in Il mio nome non è Wendy und Le ragazze di Benin City lassen sich, wie Nicoletta Mandolini nachzeichnet, Charakteristika erkennen, die an eben jene letteratura a quattro mani erinnern: Sebbene a livello temporale siano usciti ad oltre quindici anni di distanza dalla comparsa delle opere di debutto della cosiddetta letteratura italiana della migrazione e nonostante facciano riferimento ad una fase in cui la critica e l’editoria stavano cominciando a concentrarsi sulla produzione narrativa dei cosiddetti autori migranti di seconda generazione, le opere sono testi stilisticamente e contenutisticamente riconducibili a quella che, con Armando Gnisci, è possibile definire ›prima ondata‹ del fenomeno.20 Sowohl die Aufmachung der Titel als auch ihre Vermarktung stellen statt der literarischen vielmehr die soziale Dimension des Erzählten heraus und appellieren an das Mitgefühl der potenziellen Leser:innen. Dies erreichen beide Werke, wie in der letteratura a quattro mani der 1990er Jahre üblich, zunächst über Paratexte, die das Erzählte im Vorhinein oder nachträglich mit dem Realraum 19

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Hier sind bspw. Fabio Gedas Nel mare ci sono i coccodrilli. Storia vera di Enaiatollah Akbari (2010) und seine Fortsetzung Storia di un figlio. Andata e ritorno (2020) zu nennen. Vom kritischen und metareflexiven Potenzial einer solchen Zusammenarbeit zeugen etwa Wu Ming 2 und Antar Mohamed mit Timira (2012) oder Melania Mazzucco mit Io sono con te. Storia di Brigitte (2016). Eine umfangreiche Zusammenstellung hat Jacopo Ferrari in einem Konferenzbeitrag vorgenommen: »Trent’anni dopo. Nuove autobiografie di immigrati africani in Italia«. Unveröffentlichter Konferenzbeitrag. Convegno internazionale: La lingua italiana in Africa. L’Africa nella lingua italiana. Università per stranieri di Siena, 3–4 novembre 2021 (https://air.unimi.it/handle/2434/883839?mode= full.2249). N. Mandolini: Prostituzione e violenza, S. 389, sowie Gnisci, Armando: Creolizzare l’Europa. Letteratura e migrazione, Roma: Meltemi 2003, S. 7–14. Laut Jennifer Burns kann das Fortbestehen bestimmter Formate, Genres und Erzählmodi auf eine »foundational quality« dieser frühen Beispiele zurückgeführt werden. Der Rekurs auf diese literarischen Muster kann für ›neue‹ Autor:innen das Einfügen in bestehende Strukturen und das Bedienen einer ›Nische‹ bedeuten. Vgl. J. Burns: Migrant Imaginaries, S. 16.

Herabsetzung und Gewalt bezeugen

sowie mit einer deutlich politischen Intention in Verbindung bringen. So tritt Paola Monzini im Vorwort zu Il mio nome non è Wendy in den Vordergrund: zum einen, um Kontextualisierungsarbeit zu leisten, zum anderen, um Eingriffe in die Zeugenberichte Wendys (Änderung von Namen und Orten, Arrangieren der Chronologie, Glättung und Aufarbeitung des Erzählstils) zu rechtfertigen. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die paratextuelle Rahmung von Le ragazze di Benin City durch die Zurückhaltung der Co-Autorin aus. In der Danksagung Isoke Aikpitanyis werden 45 Sexarbeiterinnen unter Pseudonym genannt und ihre weitere Entwicklung kurz nachgezeichnet: »Hanno generosamente offerto a questo libro le loro storie e le loro voci.«21 Diese Aufzählung wird ausdrücklich der Protagonistin/Erzählerin/Autorin Isoke zugeschrieben: »Le note biografiche sono a cura di Isoke.«22 Ein kurzes Postskriptum verweist zudem auf Aikpitanyis Initiative für nigerianische Sexarbeiterinnen und ruft zur Unterstützung auf, wofür eine Mailadresse hinterlegt ist.23 Es lässt sich folglich ein bewusstes Verwischen der Grenzen zwischen literarischem und nicht-fiktionalem Schreiben erkennen, nicht zuletzt tritt die Protagonistin Isoke gleichzeitig auch als Autorin und Aktivistin auf.24 Dieses Verfahren spiegelt sich innerhalb der Erzählung wider, die durch die vermeintlich ungefilterte Rede der Erzählerin dominiert wird.25 Die Struktur des Textes ist von einer zeitlichen und ortsgebundenen Diskontinuität sowie Gedankensprüngen und Zäsuren geprägt, wobei die erzählten Episoden der Protagonistin mit jenen ihrer nigerianischen Kolleginnen verwoben werden. Der Effekt einer Ansprache durch die Erzählerin wird durch die Nutzung des ›tu‹, Wiederholungen, indirekte oder erlebte Rede, Ellipsen, Ausrufe sowie rhetorische Fragen 21 22 23 24

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L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 205. Ebd., S. 211. Ebd., S. 213. Einzelne, wörtlich übernommene Passagen finden sich auch in einem Zeitschriftenbeitrag zum Thema. Hier ist nicht klar, ob für die Veröffentlichung weitere Interviews durchgeführt wurden, die auch auf aussagekräftige Beispiele des Textes zurückgegriffen haben, oder ausschließlich Le ragazze di Benin City als Quelle genutzt wurde. Vgl. Anna Paola Peratoner: »Isoke e le altre. Il femminicidio in tempi di razzismo istituzionale«, in: Deportate, esuli, profughe. Rivista telematica di studi sulla memoria femminile 16 (2011), S. 35–49 (https://www.unive.it/pag/fileadmin/user_upload/diparti menti/DSLCC/documenti/DEP/numeri/ n16/04_16_DEPPeratoner_c.pdf ). Graziella Parati spricht von »ventriloquized first-person migration narratives«. Parati, Graziella: Migration Italy. The Art of Talking Back in a Destination Culture, Toronto/ Buffalo/London: University of Toronto Press 2005, S. 74f.

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verstärkt und kreiert den Effekt der Übertragung eines mündlichen Berichts oder Interviews in eine schriftliche, narrative Form.26 Il mio nome non è Wendy hingegen erzählt die Lebensgeschichte der Protagonistin mittels einer linearen chronologischen Struktur, die ihrer Bewegung vom nigerianischen Herkunftsort nach Italien folgt. Dies ähnelt dem didaktischen Aufbau früher Migrationserzählungen, die einen klaren Entwicklungscharakter aufweisen: Die Reise, die Beherrschung der italienischen Sprache und die persönliche Entfaltung verlaufen parallel zum Streben nach Anerkennung des politisch-juristischen Status der Hauptfiguren.27 Dies kann als kultureller Übersetzungsvorgang gewertet werden, der an Passagen sprachlicher Übersetzung gekoppelt ist, welche die Muttersprache(n) der Protagonistin evozieren und topisch auf den ethnischen Hintergrund der Autorin verweisen: Unter das leicht verständliche italienische Vokabular mischen sich kursiv hervorgehobene Wörter oder Sätze auf Englisch und Igbo, die für den:die Leser:in umschrieben und erklärt werden.28 Beide Texte stellen auf unterschiedliche Weise – durch die Sugges26

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Mehrmals kündigt die Erzählerin bspw. das Ende der Geschichte an: »Il resto della storia già lo sai«; »L’ultima storia che ti racconto è quella di mia sorella«; »Adesso la mia storia si ferma qui. Anche se mi chiedi ancora questo, ancora quello: basta. Non so più cosa dirti. Cosa dirvi.« Den endgültigen Abschluss des Erzählten formuliert die Protagonistin durch eine Bitte an den:die Leser:in: »Augurami solo di essere anche un po’ felice./Mi basta./Grazie.« L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 177, 199, 201 und 202. In der Struktur lassen sich starke Parallelen zu Pap Khoumas und Salah Methnanis Debutwerken sowie Garane Garanes Il latte è buono (2005) finden. Während Maria Kirchmair in Bezug auf Garane auf den Entwicklungsroman verweist, erkennt Nicoletta Mandolini in der Erzählung Wendys Stileme des Bildungsromans. Vgl. hierzu D. Comberiati: Scrivere nella lingua dell’altro, S. 56; Kirchmair, Maria: Postkoloniale Literatur in Italien. Raum und Bewegung in Erzählungen des Widerständigen, Bielefeld: transcript 2017, S. 155 sowie N. Mandolini: Prostituzione e violenza, S. 391. Birgit Wagner begreift kulturelle Übersetzung in Anlehnung an Homi K. Bhabha als »Übertragung von Vorstellungsinhalten, Werten, Denkmustern, Verhaltensmustern und Praktiken eines kulturellen Kontexts in einen anderen. Kulturelle Übersetzung kann in diesem Sinn durch literarische und filmische Repräsentationen geleistet werden, aber auch durch Praktiken des täglichen Lebens und der Politik.« Wagner, Birgit: »Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept«, in: Anna Babka et al. (Hg.), Dritte Räume. Homi K. Bhabhas Kulturtheorie. Kritik, Anwendung, Reflexion, Berlin/Wien: Turia + Kant 2012, S. 29–42, hier S. 30. Im Fall von Il mio nome non è Wendy illustriert die Erzählerin auf diese Weise häufig Anekdoten oder besonders emotionale Erlebnisse aus ihrer Kindheit oder zitiert Fachbegriffe, die sich im Umfeld der italienischen Straßenprostitution entwickelt haben. Oft handelt es sich hierbei um Ob-

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tion von Unmittelbarkeit einerseits und die pädagogische Vermittlung andererseits – eine als fremd markierte geographische und kulturelle Herkunft der Autorinnen heraus. Parallel zur Platzierung auf dem Buchmarkt und der paratextuellen Kopplung an den Realraum wird suggeriert, die Narrativierungen der migrationsinduzierten und geschlechtsbezogenen invektiven Konstellationen und Gewalthandlungen als ›authentisch‹ zu rezipieren.29

Bodies of evidence: Körperlichkeit, Invektivität und Gewalt Zentrales Thema in den Erzählungen sind Stereotypisierungen, verbale und nonverbale invektive Akte sowie die extreme physische und sexuelle Gewalt, die sich gegen die nigerianischen Sexarbeiterinnen richten. Die Darstellung dieser Phänomene erfolgt über Figurenbeschreibung anderer Sexarbeiterinnen, Handlungen und Aussagen der Freier, sowie über Innensicht und Selbstwahrnehmung der Erzählerinnen. Wie im Eingangszitat erkennbar, verhandeln die Texte die intersektionale Verbindung von Hautfarbe, Geschlecht und Sexualisierung und beschreiben den Körper der Sexarbeiterinnen als Projektionsfläche für Gier, Hass und Gewaltfantasien anderer. Der Körper ist zum einen das Kapital, mit dem die nigerianischen Frauen ihr Überleben in Italien und das Abbezahlen ihrer Schulden sichern. Er ist zum anderen Gegenstand von Erniedrigung, Gewalt und Schmerz. Die literarische Verarbeitung der Haut birgt dabei als Schnittstelle und Übergang zwischen Innerlichkeit und Außen sowohl ästhetisches als auch analytisches Potenzial: Die geschilderten, über die Haut aufgenommenen Eindrücke des Körpers führen so zu einer besonderen emotionalen Einbindung der Rezipient:innen und machen invektive Dynamiken sicht- und erlebbar.30 Auch wenn ein starker Fokus auf

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jekte oder Phänomene, die kein treffendes italienisches Äquivalent haben, wie bspw. palm wine, bell out, no man’s land, osusu, voodoo, contribution, compound oder joint. Emma Bond stellt die Verknüpfung vermeintlicher Authentizität mit Migrationserzählungen heraus: »This debate around the issue of ›authenticity‹ is particularly relevant to the forum of migration literature, precisely because of the marketing and editorial strategies that are put into place around such texts – strategies that do not concern works by more ›mainstream‹ writers.« E. Bond: Writing Migration through the Body, S. 59. Laut Shoshana Felman mobilisieren diese Darstellungen »[…] the imaginative capability of perceiving history – what is happening to others – in one’s own body, with the power of sight (of insight) usually afforded only by one’s own immediate

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den individuellen Erfahrungen der Protagonistinnen sowie deren Gefühlen, Gedanken und deren Innerlichkeit liegt, verbleiben diese keinesfalls losgelöst von ihrer Körperlichkeit,31 handelt es sich doch auch um »[…] symbolic bodies; bodies confined in power relations, dominion and market relations; bodies as goods of consumption or exchange; bodies which are in all cases instrument and symbol of relations […].«32 Als Instrument sowie Symbol sozialer Beziehungen und Machtstrukturen sind sie, wie Gillian Whitlock in Bezug auf testimonial narratives formuliert, »bodies of evidence«33 . Vor allem die Haut erweist sich als zentrales Medium der Darstellung gesellschaftlicher Dynamiken: als Schlachtfeld, Zeichen von Andersartigkeit oder Zugehörigkeit sowie Projektionsfläche des Blicks.34 Sie fungiert dabei sowohl als Trägerin von Wissen als auch als Agentin in der Konstruktion sozialer Welt.35 Dies kann, so zeigen die Erzählungen, durchaus im positiven Sinne geschehen: Die sogenannten dermal oder skin marks, in bestimmten Mustern angeordnete Einritzungen der Haut, werden als Text lesbar und dienen den nigerianischen Figuren als Erkennungszeichen untereinander sowie Abgrenzung gegenüber Außenstehenden.36 Während skin marks für Isoke ein Zeichen der Verbundenheit und des

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involvement.« Felman, Shoshana: »Camus’ The Plague, or a Monument to Witnessing«, in: Dies./Dori Laub, Testimony. Crises of Witnessing in Literature, Psychology and History, New York: Routledge 1992, S. 93–119, hier S. 108. Vgl. auch Schrader, Sabine/Tiller, Elisabeth: »Migration nach Italien: Handlungsfähigkeit und Dynamiken der Herabsetzung in Literatur und Film. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Agency und Invektivität in zeitgenössischen italienischen Migrationserzählungen. Kino und Literatur, S. 1–15, hier S. 9 (= PhiN-Beiheft 20/2020: http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b 20t01.pdf vom 09.02.2023). J. Burns: Migrant Imaginaries, S. 13. M. Massari: The Other and her Body, S. 9. G. Whitlock: Postcolonial Life Narratives, S. 49. Sara Ahmed bezeichnet die Haut als »a border that feels« und erachtet deren Berührung, als Form der Verletzlichkeit oder des Verletzlich-Machens, schließlich als konstitutiv für Hierarchien im Kontext kolonialer und geschlechtsbezogener Gewalt. Ahmed, Sara: Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London: Routledge 2000, S. 45. Vgl. hierzu Jennifer Burns: »The body and the skin are also the carriers of markers of culture, ethnicity, and socio-economic status – be they modes of dress, skin decoration, jewellery, beards and hairstyles, or simply colour of the skin.« J. Burns: Migrant Imaginaries, S. 13. Emma Bond erläutert die Kommunikationsebenen von skin marks wie folgt: »Such inscriptions and marks allow the body to function as a kind of text that can be deciphered and read through a variety of visual and tactile codes and practices. […] For ex-

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Vertrauens bedeuten, stehen sie in Wendys Wahrnehmung für das Fremdsein, da das Einritzen der Haut innerhalb ihrer ethnischen Gruppe keine gebräuchliche Praxis ist.37 Neben den Aus- und Einschlusskriterien, die sich auf bestimmte Ethnien beziehen und innerhalb der von den Erzählerinnen meist als Kollektiv konstruierten Gruppe der Sexarbeiterinnen operieren, werden darüber hinaus von und nach ›außen‹ wirksame Differenzkategorien beschrieben. In der großen Mehrzahl der Fälle stehen die positiven Assoziationen der Erzählerinnen mit der Wahrnehmung der italienischen Mehrheitsgesellschaft in Kontrast. Der Blick von ›außen‹ wird häufig durch die Freier, deren Aussagen und Handlungen in den Text eingeflochten, wohingegen die Internalisierung dieser Wahrnehmungsmuster und der aus ihr resultierende negative Einfluss auf das Körperbild der Sexarbeiterinnen durch die Formung und Modifikation ihres Körpers verdeutlicht wird.38 Während Wendy beispielsweise die dunkle Hautfarbe einiger ihrer Kolleginnen als schön empfindet und sprachlich hervorhebt – »Susan lì era bellissima: alta, magra, scura scura […]«39 – illustrieren beide Erzählungen zugleich den Wunsch nigerianischer Frauen nach hellerer Haut und schildern so die ungesunden wie schmerzhaften Prozeduren, denen sich diese hierfür unterziehen: Le ragazze passano ore e ore a cercare di farsi diventare la pelle bianca. Usano il Ferl White per togliere le cellule morte, il Cletosh per le piccole imperfezioni della pelle, e cento gel e creme e unguenti per cui spendono tutti i mesi un loro piccolo patrimonio. Sono creme schiarenti e arrivano fin dal Canada, e di cui in Africa fanno sempre la più meravigliosa delle pubblicità.40 Hier wird auf das Phänomen des passing angespielt: Die Möglichkeit, als weiß oder zumindest ›mixed race‹41 wahrgenommen zu werden, westlichen Schönheitsidealen zu entsprechen und somit einer extremen Sichtbarkeit zu entge-

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ample, marks impressed on the skin can point to individual, familial or societal codes or stories themselves.«, E. Bond: Writing Migration through the Body, S. 32. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 62f. Emma Bond: »›Skin Memories‹. Expressions of Corporeality in Recent Trans-national Writing in Italian«, in: Dies./Guido Bonsaver/Federico Faloppa, Destination Italy. Representing Migration in Contemporary Media and Narrative, Oxford/Bern/Berlin u.a.: Lang 2015, S. 241–256, hier S. 247. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 84. L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 162. Wendy führt als Schönheitsideal afroamerikanische Sängerinnen an: »Una via di mezzo tra il nero e il bianco. Così belle e così chiare da poter passare per bianche.

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hen.42 Denn ebendiese Sichtbarkeit des schwarzen Körpers zieht den urteilenden Blick auf sich und kennzeichnet ihn als »other«, als »strange body«.43 Dieser »radikal andere Körper« verfügt nicht nur über dunkle Haut, sondern auch bestimmte Formen, Proportionen und Größen, die durch koloniale Stereotype und Klischees festgesetzt sind und ihn so zum Gegenstand abwertender Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster machen.44 Oft gehen diese Stereotype mit der Fixierung und Monumentalisierung einzelner körperlicher Merkmale einher, hinter welche die Person in Ihrer Ganzheit zurücktritt und abgewertet wird.45 Dies wird in Il mio nome non è Wendy deutlich, wenn die Erzählerin die Signalwirkung bestimmter Frisuren und Kleidungsstücke beschreibt, die dazu dienen, Körperstellen von besonderem Interesse für die Klienten in

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Cioè. Non proprio. Quasi, diciamo.« W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 162. Der Begriff des passing wurde insb. durch den 1929 erstmals veröffentlichten gleichnamigen Roman von Nella Larsen bekannt: Passing. Blacksburg (VA): Wilder Publications 2010. Vgl. S. Ahmed: Strange Encounters, S. 46. Die narrative Gestaltung der Diskrepanz zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit migrantischer Figuren in italienischen Erzählungen wird beispielsweise von Emma Bond und Monica Massari erläutert: Vgl. Massari, Monica: »Corpi in transito. Prostituzione migrante, relazioni di genere e modelli culturali«, in: Anna Elia/Pietro Fantozzi (Hg.), Tra globale e locale. Esperienze e percorsi di ricerca sulle migrazioni. Soveria Mannelli: Rubbettino editore 2013, S. 107–119, hier S. 114, sowie E. Bond: Skin Memories, S. 246. Das bekannteste Beispiel hochgradig diskriminierender kolonialer Repräsentationspraktiken ist die sogenannte »Black Venus« Sarah Baartman, welche die Darstellung schwarzer* Frauen nachhaltig prägte. Aufgrund ihres großen Gesäßes wurde ihr Körper zum Inbegriff abweichender und exotischer Schönheit und unter der Vorgabe der ethnographischen Forschung erotisierend ausgestelllt. Vgl. Zambelli, Elena: »Between a Curse and a Resource. The Meanings of Women’s Racialised Sexuality in Contemporary Italy«, in: Modern Italy 23 (2018), S. 159–172, hier S. 162 (https://doi.org/doi:1 0.1017/mit.2017.64). Monica Massari beschreibt diese Fixierung auf einzelne Körperteile als inhärenten Mechanismus von Pornographie und Prostitution, der insb. auf Frauen zutrifft, die als ›anders‹ oder ›exotisch‹ wahrgenommen werden: »Clients’ choice is made on the basis of a kind of menu of the various body organs they have in front of them, onto which they project their fantasies and desires. Women are often chosen on the basis of the fantasies connected with single body parts which are used in a totally instrumental way, completely disregarding the person in her integrity.« M. Massari: The Other and her Body, S. 10.

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Szene zu setzen.46 Vor allem die Fetischisierung des Gesäßes schwarzer Frauen ist ein invektiv konnotierter Allgemeinplatz populärkultureller Repräsentationen47 und wird in zahlreichen Passagen in Le ragazze di Benin City thematisiert. So beschreibt Isoke scherzhaft den Körper ihrer Kollegin Itohan, die Reaktion der Freier sowie den Umgang der jungen Frau mit dieser Behandlung, die an das Setting einer Menschenschau erinnert: »Lasciami dire che era una ragazza piena di vita. Aveva vent’anni e rideva sempre e aveva un sedere grosso così, che tutti i clienti si avvicinavano pieni di meraviglia. Quasi non riuscivano a credere. Posso toccare? dicevano. E lei rideva.«48 Itohan reagiert zum einen humorvoll auf die rassistische Herabsetzung, zum anderen, indem sie sich diese Fixierung für ihr Geschäft zunutze macht: Itohan era cicciotella, con un sedere imponente. La prendevamo sempre in giro per via di quel sederone che portava in giro, e lei allora rideva: quando sono sul marciapiede i bianchi vengono tutti meravigliati a chiedere, ma posso toccare? Come no, basta pagare. E quelli pagavano e toccavano.49 Der exotische Körper wird zu Itohans erotischem Kapital, das durch Wahrnehmungen der Andersartigkeit geprägt ist. Auch wenn der exotisierende Blick der Freier im Fall von Itohan scheinbar wohlwollend aufgefasst und kommerziell nutzbar gemacht wird, also auch Handlungsspielräume eröffnet, ist der Körper der Sexarbeiterinnen oftmals negativen Reaktionen und Handlungen ausgesetzt.50 Als Träger sich überlagernder Differenzkategorien ist er Gegen46

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Eine spezifische, mit Extensions verflochtene Frisur trägt den zynischen Namen »Welcome in Italy« und macht die Freier auf neu eingetroffene und zumeist unerfahrene Frauen aufmerksam. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 78. Vgl. Akeia A. F. Benard: »Colonizing Black Female Bodies Within Patriarchal Capitalism. Feminist and Human Rights Perspectives«, in: Sexualization, Media, & Society (2016), S. 1–11, hier S. 2 (https://doi.org/10.1177/2374623816680622), und Rosetta Giuliani Caponetto: »Blaxploitation Italian Style. Exhuming and Consuming the Colonial Black Venus in 1970s Cinema in Italy«, in: Cristina Lombardi-Diop/Caterina Romeo, Postcolonial Italy. Challenging National Homogeneity, New York: Palgrave Macmillan 2012. S. 191–203, hier S. 193. L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 142. Ebd., S. 24. Siehe hierzu das Phänomen des »Benevolent Racism«, das Rasheed Araeen wie folgt beschreibt: »›Positive‹ stereotyping is based on a fascination for the difference of those who are considered to be outsiders: ›They are not like us; they cannot therefore do what we do. But we must admire and value what they do within their own cultures since they are part of our society. ›« Araeen, Rasheed: »The Art of Benevo-

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stand invektiver Kommunikationsakte, die nicht selten von physischer Gewalt begleitet werden. Besonders greifbar wird dies durch die Beschreibung von gewalttätigen Klienten, die durch die Bezahlung der Dienstleistung davon ausgehen, Frauen in ihrer Gesamtheit als Objekt und Produkt erworben zu haben: Dicono: cazzo ti lamenti, bastarda. I soldi li hai avuti. Succhia. Girati. Dammi il culo. E giù botte se dici di no. Hanno l’ossessione del culo, gli italiani che vanno a cercare le ragazze sul marciapiede. Dicono: voglio fare quello che con mia moglie non faccio mai. E giù botte. Scene da film porno, da film horror, comunque da film violento. Chissà cosa guardano e cosa sognano questi uomini, mentre la moglie dorme tranquilla al loro fianco.51 Mit dem Begriff »bastarda« wird zunächst eine Beleidigung aufgerufen, die mit Semantiken des Tierreichs und der Unreinheit operiert und auf eine Dehumanisierung der Betroffenen abzielt.52 Der Erzählerin, die hier im verallgemeinernden »tu« für zahlreiche Sexarbeiterinnen spricht, wird weiterhin der Status eines Instruments zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse zugewiesen. Dazu zählt auch die aufgerufene »ossessione del culo«, die extrem gewaltvoll ausagiert wird: »Efe per esempio non riesce quasi più a camminare. Un cliente le ha sfondato l’ano. Era come una bestia, dice Efe.«53 Angesichts dieses Gewaltaktes verortet die Betroffene ihrerseits den Täter außerhalb des Bereichs des Menschlichen. Eine weitere Dimension der Herabwürdigung zeigt sich in der binären Einteilung von Frauen in Sexarbeiterin und Ehefrau, ›Hure‹ und ›Heilige‹. In dieser paradoxen Konstellation bietet erstere für die Freier einen vermeintlichen Ausweg aus den als restriktiv empfundenen bürgerlichen Geschlechterrollen; simultan dazu wird sie jedoch verachtet und als Mensch

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lent Racism«, in: Third Text 14 (2000), S. 57–64, hier S. 59 (https://doi.org/10.1080/0 9528820008576853). Zur Rolle des weiblichen, schwarzen Körpers als ›Objekt‹ zwischen Ressource und Ware vgl. E. Bond: Writing Migration through the Body, S. 97 sowie E. Zambelli: Between a Curse and a Resource, S. 160. L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 72. Vgl. Israel, Uwe/Müller, Jürgen: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Körper-Kränkungen. Der menschliche Leib als Medium der Herabsetzung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2021, S. 11–14, hier S. 12. L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 73. Diese Episode wird aufgrund ihrer Brutalität und Schockwirkung nahezu im Wortlaut von Anna Paola Peratoner für ihren bereits erwähnten Beitrag verwendet, also als nicht-fiktional und beispielhaft gelesen. Dabei wird allerdings der Name der Betroffenen verändert. Vgl. A.P. Peratoner: Isoke e le altre. Il femminicidio in tempi di razzismo istituzionale, S. 39.

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abgewertet.54 Gleichwohl werden übergriffige sexuelle Fantasien bzw. Erwartungen von der Erzählerin mit Pornografie und Gewaltfilmen assoziiert und die rohe physische Gewalt vonseiten der Freier beschrieben. Auch in Il mio nome non è Wendy wird eine zentrale Episode brutaler, erniedrigender und traumatischer körperlicher Übergriffe geschildert. Diese wird in einem eigenen Kapitel aufgegriffen, das die Erzählerin mit dem bürokratischen Euphemismus »L’Aggressione« betitelt und der lakonischen Bemerkung »In autunno ho avuto una brutta storia« einleitet.55 Darin beschreibt sie, wie sie von drei Jugendlichen entführt, zusammengeschlagen, vergewaltigt und ausgeraubt wird: Mi hanno fatta andare sul sedile di dietro, mi hanno tolto le calze e le hanno usate per legarmi le mani. Poi mi è rimasto in mente solo il ragazzo con la testa rasata che mi riempiva di botte. Quando ero ormai tramortita mi hanno violentato a turno. Alla fine mi hanno fatta uscire dall’auto, mi hanno spinto e mi hanno buttato per terra.56 Die Erzählerin nimmt eine distanzierte Position zum Geschehen ein und folgt dem zeitlichen Ablauf des Angriffs. Weder werden ihre eigenen Gefühle während der Tat reflektiert, noch stellt sie Hypothesen zum Charakter und den Beweggründen der Täter an – einziger Anhaltspunkt bleibt für sie und somit auch den:die Leser:in der rasierte Schädel eines der Jugendlichen. Die Tragweite der Tat für die Protagonistin wird erst im Nachhinein deutlich, wobei die Rückschau nüchtern ausfällt: »Non sapevo che cosa fare. Avevo dolori dappertutto a causa delle violenze subite […] Ero terrorizzata: non ero mai stata così male in vita mia.«57 Diese Distanz lässt sich ebenfalls bei der Beschreibung von Gewaltakten gegen Wendys Kolleginnen erkennen, die nicht wörtlich wiedergegeben, sondern indirekt und in Form von Andeutungen erzählt werden: »In queste occasioni ognuna aveva la sua storia da raccontare […] Le

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Für die Sexarbeiterin bedeutet dieses Paradoxon, dass ihr »[…] einerseits eine gesellschaftlich notwendige Funktion innerhalb der bürgerlich-patriarchalen Sexual- und Geschlechterordnung zugewiesen wird, sie andererseits als ein außerhalb der Gesellschaft stehendes, moralisch und sexuell degeneriertes Individuum betrachtet wird.« Gerheim, Udo: Die Produktion des Freiers. Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie, Bielefeld: transcript 2012, S. 69; vgl. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017, S. 142. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 136. Ebd., S. 136f. Ebd., S. 137.

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altre ragazze invece parlavano tanto e spesso riferivano cose veramente brutte: ho sentito che molte venivano picchiate […].«58 In starkem Kontrast dazu zeichnet sich die Erzählerinnenrede in Le ragazze di Benin City durch die explizite Wiedergabe rassistischer und frauenfeindlicher Beleidigungen aus, die eng an den Kontext sexueller Gewalt gekoppelt sind: »A volte gli uomini dicono delle cose, mentre ti violentano. Brutta negra, dicono per esempio. Cazzo vieni a fare qui, schifosa puttana. Stattene in mutande a casa tua. Tornatene nella foresta insieme alle scimmie. Ecco che cosa dicono.«59 Mit diesen auf die Person, ihre Hautfarbe und ihre Tätigkeit abzielenden Äußerungen wird die betreffende Person nicht nur an einen randständigen sozialen Ort verwiesen, sondern völlig außerhalb des Sozialen positioniert.60 Die Gleichsetzung mit Primaten, zentrales und hochgradig invektives Bild der Rassen- und Kolonialideologie, spricht den betroffenen Frauen gar jede Menschlichkeit ab.61 Diese Beleidigungen geschehen im vermeintlich Verborgenen – werden jedoch durch die Schilderungen der Erzählerin sichtbar gemacht und lösen durch die zahlreichen Grenzüberschreitungen (des Sagbaren, der körperlichen Integrität) Schockwirkung bei dem:der Leser:in aus. Im textuellen Umfeld dieser Gewaltdarstellungen wird durch Gedankensprünge sowie die Verwendung des ›tu‹ und des Imperativs eine zusätzliche Unmittelbarkeit erzeugt.62 Regelmäßig verweist die Erzählerin hier auf die außersprachliche Realität und etabliert eine Art im Präsens verankerte Rahmenhandlung, die in einem primären oralen Erzählakt besteht: »È andata così.«; »Proprio così«; »[…] avevo le labbra tutte spaccate e l’occhio…quest’occhio qui…[…]63 An die Stelle der italo-italienischen Co-Autorin tritt eine italo-italienische Leser:innenfigur, die direkt angesprochen wird, sei es über diese eindringliche Adressierung und die emotionale

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W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 91. L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 74. Kuch, Hannes/Herrman, Steffen Kitty: »Symbolische Verletzbarkeit und sprachliche Gewalt«, in: Steffen K Herrmann/Sybille Krämer/Hannes Kuch (Hg.), Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Bielefeld: transcript 2007, S. 181–210, hier S. 192. Vgl. R. Giuliani Caponetto: Blaxploitation Italian Style, S. 193. Dies lässt die Präsenz der Co-Autorin als Interviewpartnerin und aufzeichnende Person erahnen: »So solo che una sera mi hanno quasi ammazato di botte, e ancora non capisco come posso essere qui a raccontartelo. Ascolta.«; »Scusami se faccio fatica.« L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 192 und 168. L. Maragnani/I. Aikpitanyi, S. 37 und 43.

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Einbindung, sei es über die distanzierte Beschreibung und den Effekt der Entfremdung.64 Deutlich wird allemal, wie eng Kommunikationsakte invektiven Charakters mit körperlicher Gewalt verwoben sind. Es erfolgt also keine Eskalation per se, die von verbaler in körperliche Gewalt mündet, sondern ein Zusammenwirken, das sowohl sprachlich als auch physisch von einer De-Humanisierung, einer interaktiven Respektlosigkeit und, wenn nicht von Vernichtungswillen, so zumindest von einem Hinnehmen des ›Verschwindens‹ der betreffenden Person gekennzeichnet ist.65 Während in theoretischen Überlegungen zu sprachlicher Gewalt Beleidigungen in letzter Konsequenz mit dem sozialen Tod in Verbindung gebracht werden,66 handelt es sich in den beiden betrachteten Texten vielmehr um Beleidigungsgeschehen, das Lebensgefahr zur Folge hat: Diese geht von der sowohl verbal als auch körperlich ausagierten Aberkennung des Lebenswertes der Frauen vonseiten der Freier aus. Neben den bereits zitierten Situationen der Todesnähe (»quando ero ormai tramortita«; »mi hanno quasi ammazzata«67 ) schildern die Erzählerinnen außerdem Morde an Kolleginnen, die, so die juristische Definition, von Vernichtungswillen herrühren. Wie gesehen wird zwar eine Verbindung zum Konsum gewaltverherrlichender und pornografischer Inhalte gezogen, dabei aber keine lineare Kausalität mit der potenziell tödlichen Gewalt durch die Freier hergestellt. Vielmehr machen die Erzählerinnen auf die Verwobenheit vielfältiger Herabsetzungs- und Gewaltformen aufmerksam und illustrieren eindrücklich deren gemeinsamen Ursprung, der in ihrer prekären Position als schwarze Sexarbeiterinnen zu verorten ist: Le italiane che sanno e che chiudono gli occhi su quello che fanno i loro uomini. Che quando una di voi viene stuprata finisce sul giornale e succede un casino che non finisce più. Mentre quando è stuprata una di noi non fa mai notizia. Pensi: in fondo se l’è andata a cercare. Ma un’africana stuprata

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Zur imaginierten Leserin in Le ragazze di Benin City siehe unten. Martin Endreß formuliert Gewalt als Schädigung oder Gleichgültigkeit gegenüber der körperlich-persönlichen Integrität Anderer. Vgl. M. Endreß: »Grundlagenprobleme einer Soziologie der Gewalt. Zur vermeintlichen Alternative zwischen körperlicher und struktureller Gewalt«, in: Michael Staudigl (Hg.), Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht, Paderborn: Fink 2014, S. 87–113, hier S. 107. H. Kuch/S. K. Herrman: Symbolische Verletzbarkeit und sprachliche Gewalt, S. 192. Vgl. Anm. 56 und 62.

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è un’italiana salvata […] Pensa a noi come una sorta di calmiere sessuale. L’imbuto in cui finiscono tutte le violenze.68 Erneut erscheint durch das »una di voi« ein Gegenüber, das nun als italienische Frau imaginiert und in die Verantwortung genommen wird.69 Des Weiteren wird die bereits erwähnte Kategorisierung als ›Hure‹ mit der Differenzierungskategorie race verknüpft. Isoke macht auf diesem Wege klar, dass physische und insbesondere sexuelle Gewalt gegen nigerianische Sexarbeiterinnen von der italienischen Mehrheitsgesellschaft als ›Berufsrisiko‹ rubriziert und kollektiv geduldet wird.

Strukturelle Invektivität: (Über)leben in der ›doppelten Illegalität‹ Die bislang aufgerufenen Beleidigungen und Angriffe sind zweifelsohne Taten, die theoretisch einer sozialen Ächtung unterliegen und eindeutig justiziabel sind. Dass sie dennoch gesellschaftlich hingenommen werden, zeugt von einer automatisierten und systematisch verankerten Weigerung, die physische und psychische Integrität schwarzer Sexarbeiterinnen zu schützen – und fällt somit unter den von Martin Endreß formulierten Gewaltbegriff.70 Es handelt sich neben punktuellen (wenn auch wiederkehrenden) invektiven Kommunikationsakten und Gewalthandlungen um verstetigte, in Strukturen verfestigte Mechanismen der Herabsetzung und Ausgrenzung, die sich als strukturelle Invektivität bezeichnen lassen.71 Die Gesellschaft drängt die

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L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 139. Vgl. N. Mandolini: Prostituzione e violenza, S. 396. Vgl. M. Endreß: Grundlagenprobleme einer Soziologie der Gewalt, S. 107. Dies macht auch Gillian Wylie deutlich, wenn sie auf die Verknüpfung direkter und struktureller Gewalt hinweist: »But harm to bodies is not only caused by intentional physically violent acts. It is enabled by social, political and economic structures which deprive people of the fullness of life. Inequitable distribution of resources, unequal access to decision making, discrimination and oppression all constitute violence […]« G. Wylie: »Human Trafficking as Gendered Violence: Doing Cultural Violence«, in: Williamson Sinalo, Caroline/Mandolini, Nicoletta (Hg.), Representing Gender-Based Violence. Global Perspectives, Cham: Springer International 2023, S. 69–88. hier S. 77. Elisabeth Tiller fasst strukturelle Invektivität als »Machttechniken, […] die durch strukturelle Musterbildung (etwa auf diskursiv-medialer Ebene) und Entfaltung von administrativen Prozeduren (auf institutioneller Ebene) migrationsbedingte Konfrontationen in machtstrategisch kodierte Bezeichnungs- und Hand-

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betroffenen Frauen in eine Position der sozial, politisch und institutionell Außenstehenden, die durch ihre Hautfarbe sichtbar und verstärkt wird. Dabei befinden sie sich in einem Spannungsfeld zwischen Diszipliniert- und Vergessenwerden: Zum einen konzentrieren sich auf ihrem Körper machtpolitische Vorgänge wie die Regulierung von Migration und Prostitution. Die permanente Angst vor und die Konsequenzen von staatlichen Zugriffen werden erzählerisch veranschaulicht, indem die Protagonistinnen beispielsweise die institutionellen Hürden beschreiben, die sie daran hindern, Misshandlungen zur Anzeige zu bringen. Die Erzählungen illustrieren die Hilflosigkeit gegenüber der Gewalt vonseiten der Freier, die durch das kollektive, auch institutionelle Wegsehen oder weitere Gewalt von Ordnungskräften potenziert wird. Daraus resultiert eine massive Isolation der betroffenen Frauen, die sich auch in der Nichtzulassung zu grundlegenden Rechten und Dienstleistungen wie der Krankenversorgung äußert. Selbst schwer verletzte Frauen begeben sich aus Furcht vor den Behörden nicht in ärztliche Obhut: A volte le ragazze ridotte molto male finiscono al pronto soccorso. Ma devono essere veramente ridotte molto, ma molto male. Incoscienti o in coma. Al pronto soccorso non è che le trattino coi guanti. Dovrebbe essere rispettata la privacy, ma chi mai dice che la legge valga anche per le puttane nere e clandestine? A volte medici e infermieri sono cattivi, a volte addiritura strafottenti. Chiamano la polizia. La polizia prende svogliatamente la tua denuncia, poi per prima cosa ti dà il foglio di via.72 Wie im Zitat anklingt, zeichnet sich Situation der Frauen aus der Perspektive des Staates maßgeblich durch deren Status der ›doppelten Illegalität‹ aus. So sind sie erstens irregulär eingewandert, besitzen keinen Aufenthaltsstatus und zumeist nicht einmal gültige Ausweisdokumente, was sie in ein Leben in der sozialen Randständigkeit sowie in informelle Arbeitsverhältnisse drängt. Sie betätigen sich deswegen zweitens im Feld der sexuellen Dienstleistungen, die in Italien als moralisches Vergehen gelten und strengen Regelungen unterlie-

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lungsschemata pressen, die sehr spezifische Invektivitäts-Marker aufweisen.« Tiller, Elisabeth: »Invektivität und Migration: Konstellationen in Gianfranco Rosis Fuocoammare (2016)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 109–133, hier S. 110 (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t06.pdf). L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 73.

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gen.73 Auch ihre berufliche Tätigkeit ist somit von Kriminalisierung betroffen und von der Gefahr geprägt, jederzeit verhaftet werden zu können: Senza documenti non puoi cercare un altro lavoro, non puoi prendere una casa, non puoi avere la patente. E non puoi andare a scuola, non puoi andare dal dentista o dal medico. Non puoi assolutamente fare niente. Il permesso di soggiorno è il punto da cui puoi cominciare una nuova vita. Essere come tutti gli altri. Smetterla di sognare e mettere invece i tuoi sogni alla prova della realtà.74 Dieser Status der ›doppelten Illegalität‹ hat, wie Isoke in dieser Passage explizit anspricht, direkte Konsequenzen auf die Gesundheitsversorgung der Sexarbeiterinnen sowie ihre Einstellung zu staatlichen Organen, die grundsätzlich durch Misstrauen gekennzeichnet ist. Wendy schildert das Verhältnis zur Polizei als ambivalent: Im Gegensatz zu Isoke konstatiert sie ein Gefühl der Sicherheit angesichts der Polizeipräsenz in der Nähe des Arbeitsplatzes: »La polizia era per noi una presenza strana: da una parte ci aiutava perché controllava quello che succedeva intorno […]«75 Zum anderen verweist sie auf die Gefahr, die von den Polizisten ausgeht und beschuldigt sie der Korruption und Kriminalität: »[…] ma, al tempo stesso, ci spaventava, sia perché avevamo paura di finire in prigione, sia perché tanti poliziotti erano approfittatori e ladri.«76 Zumeist führt dieses kritische Zusammenspiel verschiedener Machtverhältnisse, so der Text, zum Verbleib der Frauen in der Sexarbeit und einem Zustand kontinuierlicher Angst. Neben der Skepsis gegenüber Polizei und Ärzt:innen ist das Verhältnis zur Justiz durch Enttäuschung charakterisiert. Den Ausführungen Isokes zufolge produziert eine Anzeige gewalttätiger Freier oder Polizisten in der Regel aus Perspektive der Sexarbeiterinnen lediglich den Eindruck von Untätigkeit bzw. Unfähigkeit der Behörden: »La mamma [di un amico, Anm. 73

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Das Gesetz Nr. 1423/1956 sieht vor, dass Prostitution als »contraria alla morale pubblica o al buon costume« gehandelt wird und verfolgt werden kann. Es gestattet Einsatzkräften, Platzverweise (sogenannte »fogli di via«) für die gesamte Kommune auszusprechen, die bis zu drei Jahre gelten und bei Nichteinhaltung mit einer Strafe von bis zu sechs Monaten Gewahrsam geahndet werden können. Vgl. Repubblica Italiana: legge n. 1423/1956: Misure di prevenzione nei confronti delle persone pericolose per la sicurezza e per la pubblica moralità, in: Gazzetta Ufficiale 327 (1956) (https://ww w.gazzettaufficiale.it/eli/id/1956/12/31/056U1423/sg). L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 138. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 113. Ebd.

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B.W.] l’ha accompagnato anche dal maresciallo dei carabinieri e dal sostituto procurature della Repubblica. Nessuno ha fatto niente […] Qualche giornale gliel’ha pubblicata nella pagina delle lettere. E anche stavolta nessuno ha fatto niente.«77 Besonders der Ausstieg aus der Prostitution geht mit massiven institutionellen Hürden einher. Oftmals erfordert ein solcher Schritt die Zusammenarbeit mit der Justiz und ist an eine Anzeige der Mamans und Hintermänner gebunden. Wendy behauptet in einem Verweis auf den historischen und geographischen Hintergrund ihrer Geschichte, hierbei einen Präzedenzfall geschaffen zu haben: Mi hanno seguito degli psicologi, che venivano a parlare con me. Erano bravi, ma avevo difficoltà a fidarmi. Dopo un mese, quando stavo un po’ meglio, loro stessi mi hanno accompagnato a fare la denuncia. Sono stata la prima ragazza a denunciare i propri sfruttatori, l’unica, in tutta la regione […] Alla fine però sono rimasta molto delusa perché non è successo nulla di concreto, nel senso che non c’era stato un processo vero e proprio. La mia denuncia si è conclusa con un nulla di fatto.78 Auch Isoke entscheidet sich trotz der finanziellen und sozialen Auswirkungen für eine Anzeige, gelangt aber zu der Erkenntnis, nicht gehört und ernst genommen zu werden: »Ho fatto la denuncia e ho pagato pure l’avvocato per costituirmi parte civile al processo, ma di risarcimento non ho avuto un soldo. E del processo non ho saputo più niente.«79 Um ihre Ausführungen zu authentifizieren, ergänzen die Erzählerinnen ihre persönlichen Erfahrungen durch die Nennung von Fakten, in diesem Falle durch Verweise auf Namen, konkrete Organisationen oder die Gesetzeslage zu Immigration und Menschenhandel. In Il mio nome non è Wendy formuliert die Erzählerin eine negative Beurteilung der Einwanderungsbestimmungen und des italienischen Asylsystems, wobei sie explizit auf das betreffende Gesetz verweist: »All’ospedale ho capito che sono molte le ragazze che vorrebbero denunciare ma, per tanti motivi, non ci riescono, anche se dal 1998 c’è una legge che le sostiene.«80 Wendy bemängelt die unzureichende Anwendung der gesetzlichen Regelungen, obwohl viele der Zwangsprostituierten zu einer Anzeige bereit wären. Isoke formuliert

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Ebd., S. 111. Ebd., S. 139. L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 189. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 174.

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die gleiche Kritik und beklagt ebenso, dass das Gesetz zumeist nicht konsequent umgesetzt würde. Analog zu Wendy liefert sie eine kurze Beschreibung der juristischen Rahmenbedingungen: »Io dico allora: perché non applicano alle ragazze l’articolo 18-bis della legge sull’immigrazione? Quello che dice che non sei obbligata a fare la denuncia o a entrare in una comunità per avere i documenti?«81 Die Erzählungen referieren hier auf Artikel 18 des Migrationsgesetzes Nr. 286/1998 (»Soggiorno per motivi di protezione sociale«), das die Ausstellung einer Aufenthaltsgenehmigung vorsieht, sobald sich die Geschädigte entscheidet, entweder über die Vermittlung durch NGOs oder direkt mit der Justiz zusammenzuarbeiten.82 Grundsätzlich ist eine humanitäre Aufenthaltsgenehmigung nur möglich, wenn ein Fall schwerer Ausbeutung und Gewalt vorliegt sowie der Ausstieg aus der Zwangsprostitution mit konkreter Gefahr verbunden ist. Die Betroffenen müssen außerdem eine zentrale Rolle bei der Überführung der Täter spielen.83 Wie beide Texte und die darin enthaltenen Stimmen verschiedener Sexarbeiterinnen zeigen, erfordert der Schutz der eigenen psychischen und körperlichen Integrität das Aufrufen verschiedener Erzählmuster. So wird im Zusammenhang mit Aufenthaltsgenehmigungen und Hilfsangeboten die Notwendigkeit deutlich, ein bestimmtes Narrativ zu bedienen, das eine klare Täter:innen-Opfer-Differenzierung, Zwangsprostitution und das Ausbrechen aus mafiösen Strukturen enthält. Erfüllen sie dieses narrative Schema nicht, werden migrierte Sexarbeiterinnen als ›doppelt kriminell‹ behandelt: Als irreguläre Einwanderinnen sind sie stets bedroht, abgeschoben zu werden; als Straßenprostituierte laufen sie Gefahr, ihres Arbeitsplatzes oder sogar ihrer Aufenthaltsstadt verwiesen zu werden.84 Hieraus resultiert,

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L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 147. Repubblica Italiana: legge n. 286/1998: Testo unico delle disposizioni concernenti la disciplina dell’immigrazione e norme sulla condizione dello straniero, in: Gazzetta Ufficiale 191 (1998) (https://www.gazzettaufficiale.it/eli/id/1998/08/18/098G0348/sg). Die humanitäre Aufenthaltsgenehmigung ist sechs Monate gültig, kann um ein Jahr verlängert und später in eine bildungs- oder arbeitsgebundene Aufenthaltsgenehmigung umgewandelt werden. Vgl. hierzu: Presidenza del Consiglio dei Ministri, Dipartimento per le Pari Opportunità/European Commission: »Trafficking in Human Beings«, Roma o.J. (https://ec.europa.eu/anti-trafficking/sites/antitrafficking/files/traffic king_in_human_beings_italy.pdf). Michela Turno: »›Dai che mi vesto da puttana!‹ Cultural Representations of Prostitution in Italy, 1955–1990«, unveröffentlichte Dissertation, University of Leicester 2012, S. 59 (https://figshare.com/ndownloader/files/18220619).

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so die Erzählungen, ein Leben in urbanen und sozialen Ausnahmeräumen sowie ein kontinuierlicher juristischer Schwebezustand, der die Existenz der migrierten Sexarbeiterinnen vor Ort nicht anerkennt. Die Erzählerinnen illustrieren die strukturelle Invektivität der italienischen Gesellschaft gegenüber nigerianischen Sexarbeiterinnen, indem sie zum einen das intersektionale Zusammenwirken von Ethnizität, Sexarbeit und Armut, zum anderen die Verwobenheit verbaler Herabsetzungen mit physischer und institutionell verfestigter Gewalt literarisch verarbeiten.

Zwischen Kritik und Klischee Wie bereits vermerkt, verlassen beide Erzählerinnen den Rahmen des erzählten Geschehens, um Fakten und Hintergründe zu den Einwanderungsbestimmungen und den staatlichen Maßnahmen zur Kontrolle von sex work zu liefern. Das Beispiel Isokes zeigt, dass dieses Ausbrechen aus der Lebensgeschichte aber auch erfolgt, um dazu aufzurufen, die Situation der nigerianischen Sexarbeiterinnen durch juristisches und gesellschaftliches Handeln zu verbessern. Isoke formuliert in Bezug auf die mangelhafte Unterstützung durch den Staat eine explizite Kritik, die sie an die Gesprächspartnerin und imaginierte Leserin adressiert: Dici: ma perché l’Italia deve farsene carico. Dico: perché allora non hai capito niente. Perché il marciapiede ci ha devastato la vita. Ci ha rovinato psicologicamente e a volte anche fisicamente. Ci è costato la salute e la speranza e la felicità. Ma mica l’abbiamo scelto noi, il vostro marciapiede. È la domanda dei vostri uomini che ha creato il business, e con il business noi, le migliaia di vittime. Siamo le vittime, noi, non dimenticarlo. E voi i carnefici. Anche le donne.85 Hier wird erneut die italienische Zivilgesellschaft, werden nicht zuletzt explizit italo-italienische Frauen dazu angehalten, Verantwortung zu übernehmen und sich der eigenen Rolle im Machtkomplex der Zwangsprostitution bewusst zu werden.86 Auch Wendy formuliert eine klare Intention, die in den Realraum

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L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 139. Zu dieser Einschätzung gelangt auch Nicoletta Mandolini: »Le donne italiane, come ben emerge da questo passaggio, sono l’altro da biasimare perché conniventi all’interno di un dispositivo socio-culturale di schiaccianti egemonie che margina-

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hineinreicht und feldspezifisches Wissen vermittelt: »La mia intenzione era di far conoscere ad altri, che non sanno, come succedono certe cose, come si comprano e si vendono le persone, e far vedere che c’è un altro modo, per chi arriva da solo in un paese straniero, di guadagnare.«87 Zeichnen sich die Werke einerseits durch eine engagierte Haltung im Beschreiben sozialer Missstände sowie den Willen zur Veränderung der Situation aus, so perpetuieren sie andererseits in der italienischen Gesellschaft vorherrschende Klischees und Abwertungen. Sie formulieren somit die Auswirkungen invektiver Kommunikationsakte, physischer Gewalt und struktureller Invektivität auf das Leben der Figuren, schreiben jedoch auf der discours-Ebene invektive Beschreibungsmuster und Kategorisierungen fort. Dies betrifft zunächst die Darstellungen der Herkunftsorte der Sexarbeiterinnen, die den in Europa zirkulierenden ›Afrika‹Klischees entsprechen: Den Schauplatz ihrer Kindheit beschreibt Wendy für den:die Leser:in aus einer westlichen Perspektive heraus. Dabei stellt sich das Gefühl einer radikalen, aber idyllischen Fremdheit ein. Sie zieht den Vergleich zu einem italienischen Dorf der 1950er Jahre, was zum einen eine temporale Rückwärtsgewandtheit suggeriert, zum anderen eine Verbindung zum Vorwissen der italienischen Leserschaft herstellt.88 Der archaischen Darstellung ihrer Heimat stellt die Erzählerin ihre Wahrnehmung verschiedener europäischer Orte als sauber, gepflegt, reich und modern gegenüber; dies ist ebenso in Le ragazze di Benin City zu beobachten.89 Es lassen sich klare Dichotomien zwischen Europa und Afrika, Natur und Bebauung, Wärme und Kälte, Kollektiv und Einsamkeit, Kindheit und Erwachsenenalter, Spiritualität und Materialismus sowie authentischem und nicht authentischem Leben erkennen.90 Auch in der Beschreibung der Klienten – regelrechten Typologien, die Faktoren wie Zahlungsfähigkeit und Gefahrenpotenzial, Alter, Hygiene sowie de-

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lizzano la migrante, la espongono alla violenza e la privano di qualsiasi possibilità espressiva; allo stesso tempo, tuttavia, sono le interlocutrici che, in virtù della comune appartenenza di genere e della condivisa esperienza di subordinazione, sono investite della responsabilità di identificarsi con le nigeriane prostituite.« N. Mandolini: Prostituzione e violenza, S. 396. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 181. Vgl. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 6f. Vgl. L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 16. Vgl. Romeo, Caterina: »Racial Evaporations. Representing Blackness in African Italian Postcolonial Literature«, in: Cristina Lombardi-Diop/Caterina Romeo (Hg.), Postcolonial italy. Challenging National Homogeneity, New York: Palgrave Macmillan 2012, S. 221–236, hier S. 224.

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ren soziale, kulturelle und geographische Herkunft einbeziehen – sind sedimentierte Vorurteile zu erkennen. Diese Kategorisierungen basieren auf den Erfahrungen der Sexarbeiterinnen, die untereinander ausgetauscht und als kollektives Wissen empfunden werden. In die Einschätzungen über die Freier mischen sich mithin auch massive Ressentiments, die Rassismen der italienischen Gesellschaft übernehmen und/oder aus der Übertragung negativer Erlebnisse aus dem Straßenstrich auf gesamte Personengruppen resultieren. Dementsprechend beschreibt Isoke die regelmäßigen Angriffe und Diebstähle am Arbeitsplatz als das Werk von ›Marokkanern‹, einem pejorativ-verallgemeinernd verwendeten Begriff für nordafrikanisch gelesene Männer: »Poi ci sono quelli che rubano e che picchiano […] arrivano i marocchini che vanno a cercare il posto dove le ragazze si cono cambiate i vestiti e portano via tutto.«91 Wendy übernimmt rassistische Vorurteile gegenüber Männern aus dem Maghreb, dem arabischen Raum, Albanien und Rumänien, ohne je in direktem Kontakt mit ihnen gewesen zu sein: Non ho mai avuto nessun contatto con nordafricani e albanesi. Fin dall’inizio le altre mi avevano detto che potevano creare problemi, non pagavano ed erano feroci. Con gli arabi soprattutto mi avevano detto di non andare, che erano cattivi. […] Anche i rumeni e tutti quelli dell’Est Europa non li ho mai frequentati. Sapevo che bevono, picchiano e rapinano.92 Ihre schlechte Meinung zu Süditalienern begründet sie mit eigenen Begegnungen, räumt aber ein, dass es sich hierbei um Zufall handeln könnte. Sie reproduziert dennoch Klischees und übernimmt unkritisch Vorurteile des antimeridionalismo93 : »Anche tra gli italiani ho notato delle differenze. Le persone del Sud spesso erano più cattive. Forse a me non piacevano perché parlavano un italiano strano. O forse è stata solo una coincidenza, ma le brutte esperienze che ho avuto le ho avute con dei meridionali […]«94

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L. Maragnani/I. Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 74. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 93f. Zum Thema antimeridionalismo und dessen Rolle in der italienischen Identitätsbildung siehe beispielsweise Antonino De Francesco: La palla al piede. Una storia del pregiudizio antimeridionale, Milano: Feltrinelli 2012; Giuliani, Gaia/Lombardi-Diop, Cristina: Bianco e nero. Storia dell’identità razziale degli italiani, Firenze: Mondadori Education 2013, S. 107ff. und Giuliani, Gaia: Il colore della nazione, Firenze: Le Monnier Università 2016, S. 51ff. W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 94.

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Die Erzählungen folgen zudem dem Muster des trafficking narrative, das aus Film, Fernsehen, Spendenaufrufen, den Print- und sozialen Medien bekannt ist: ein naives Opfer wird im afrikanischen Herkunftsland, häufig Nigeria, durch organisierte Menschenhändler mit Migrations- und Arbeitsangeboten geködert und nach Europa gebracht, wo diese von den Mamans, ehemaligen Sexarbeiterinnen, kontrolliert und sexuell ausgebeutet werden. Die rekrutierten Zwangsprostituierten arbeiten, um horrende Summen, vermeintliche Schulden, an die ihrerseits von Geschäftsmännern und Zuhältern abhängigen Mamans abzugeben. Ein Ausstieg aus der Sexarbeit, das suggerieren auch die beiden Erzählungen, ist lediglich durch einen Aufstieg innerhalb des Systems und damit die Ausbeutung anderer Frauen als Maman oder mittels ›Rettung‹ durch (und Bindung an) einen europäischen Mann möglich.95 Dieses trafficking narrative belässt globale, neokoloniale Asymmetrien als Auslöser für vielfältige Formen der Zwangsarbeit im Verborgenen, indem es eine wiederkehrende Konstellation an gleichermaßen anders- und fremdartigen Opfern und Tätern perpetuiert und das westliche Sicherheitsgefühl alarmiert.96 Die Beschreibung der Frauen als gefallene Mädchen mit einfachem Charakter sowie Spielball archaischer Praktiken und afrikanischer krimineller Organisationen bedient ein leicht wiedererkennbares Muster, das Soziolog:innen auch im öffentlichen Diskurs Italiens wahrnehmen: Gendered constructions and expectations of ›victim-like‹ behaviours contribute to the commonly held view that victims of sex trafficking are abused women who need to be recuperated or rehabilitated from a state of complete powerlessness. Furthermore, expectations of vulnerability and victim-

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Vgl. Wylie, Gillian: »Representing Human Trafficking as Gendered Violence: Doing Cultural Violence«, in: Caroline Williamson Sinalo/Nicoletta Mandolini (Hg.), Representing Gender-Based Violence. Global Perspectives, Cham: Springer International 2023, S. 69–88, hier S. 75. »Colonial legacies continue to inscribe impoverishment, restrictive migration regimes prevent transnational mobility for work, but at the same time neo-liberal globalization needs precarious migrant labour. Yet, in cultural representations, ›trafficking is not discussed‹ as tied to contemporary practices of imperialism, or as produced by uneven global capitalism […] These manifestations of structural violence are masked by simple narratives of wounded innocence wronged by unscrupulous criminals, awaiting rescue by the Western hero.« Ebd., S. 80.

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hood are not only gendered, but are also intersected with racialised and classed constructions.97 Diese Erwartungshaltung spiegelt sich u.a. in folgender Aussage der Erzählerin Isoke wider: »Vedi, tutte le ragazze vanno al lavoro e in testa hanno solo due pensieri. Il primo è: forse questa sera è la sera che incontro qualcuno che mi aiuta. L’altro dice: speriamo che stasera non mi succeda niente.«98 Komplementär zu einer solchen Viktimisierungstendenz artikulieren die beiden Erzählerinnenfiguren ein starkes Bedürfnis, nicht als bloße Unterdrückte, sondern als handlungsmächtige Individuen mit komplexen Persönlichkeiten wahrgenommen zu werden. Obgleich Isoke mit der Anklage der italienischen Frauen klarstellt, wer die Leidtragenden dieses Machtkomplexes sind, möchte sie sich dennoch nicht dauerhaft und ausschließlich als Betroffene der Straßenprostitution fühlen: »Non voglio fare la vittima in eterno.«99 Demgemäß gibt es in den illustrierten Lebensgeschichten und Figuren Abweichungen, Uneindeutigkeiten, Graustufen, die das vereinfachte Erzählmuster zur nigerianischen Zwangsprostitution aufbrechen. In ihren Ausführungen zum Menschenhandel präzisiert Wendy: »Non c’è solo la prostituzione.«100 Und auch in den Dynamiken unter den Sexarbeiterinnen zeigen sich vielfältige Beziehungen, die von Misstrauen, Ausbeutung und Gewalt, aber ebenso von Freundschaft und Solidarität zeugen; unterschiedliche Biographien, welche die Dichotomie zwischen Zwangsprostitution und Sexarbeit, Täter:innen und Opfer in Frage stellen: »Susan mi aveva anche raccontato che in Nigeria faceva già questo mestiere prima di partire. Lavorava in un hotel, ma guadagnava molto meno. Secondo lei lavorare in Europa era più di classe che lavorare in Africa.«101 Wenngleich die Urheber sexueller und körperlicher Gewalt klar als Täter benannt und mitunter mittels stereotyper Darstellungen beschrieben werden, verweisen die Erzählerinnen darauf, dass ein Großteil dieser Männer aus unauffälligen »uomini normali« besteht: »Un sacco di brava gente che

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Crowhurst, Isabel: »Caught in the Victim/Criminal Paradigm. Female Migrant Prostitution in Contemporary Italy«, in: Modern Italy 17 (2012), S. 493–506, hier S. 494 (h ttps://doi.org/10.1080/13532944.2012.707000). 98 Maragnani/Aikpitanyi: Le ragazze di Benin City, S. 69. 99 Ebd., S. 201. 100 W. Uba/P. Monzini: Il mio nome non è Wendy, S. 181. 101 Ebd., S. 117.

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ha fatto fortuna grazie al traffico delle ragazze di Benin City.«102 Die Erzählerinnen versuchen also auch, Zuschreibungen aufzubrechen, die sich auf die Überschneidungen von Hautfarbe, Geschlecht und Beruf beziehen und somit nigerianische Sexarbeiterinnen auf vielfältige Weise abwerten. Dazu gehört, dass sie zwar klassische trafficking-Geschichten erzählen, aber bemüht sind, die komplexe Beziehung der Sexarbeiterinnen zu den Mamans, die verschwimmenden Grenzen zwischen Freiwilligkeit und Zwang, die strukturelle Gewalt vonseiten der italienischen Gesellschaft vorzuführen und ein simplizistisches Täter-Opfer-Narrativ zu vermeiden. Letztendlich dient die Referenz auf Stereotype, Gemeinplätze und gängige Erzählmuster vor allem dazu, auf Probleme hinzuweisen, die nicht nur Einzelschicksale, sondern eine marginalisierte Gruppe von Menschen betreffen. In Zusammenarbeit mit den vermittelnden Co-Autorinnen stellen sie ihre Perspektive zur Verfügung, um für ein Kollektiv zu sprechen und für dieses politische Veränderungen zu erwirken: […] when an individual identified with a minority enters, through literary production, the field of the majority, it is almost impossible that the experience he articulates will not be received as representative of the minority as a collective. […] By probing the interiority of migrants, as expressed in migration narratives, and by reading their work as the stories of individuals, a connection of affect and imagination can be forged, which is as powerful as a political commitment, or indeed, by Deleuze and Guattari’s definition, is itself ›political‹.103

Fazit: Erzählungen als soft weapon Obwohl Autor:innen mit Migrationserfahrung oder -hintergrund die italienische Literaturlandschaft thematisch sowie stilistisch geöffnet und überkommene Konzepte von Nationalliteratur und Kanonisierung in Frage gestellt haben, wird unter dem Label des ›Migrantischen‹ subsumierte Literatur weniger 102 Der Mythos der italiani brava gente ist noch heute wichtiger Bestandteil der italienischen Selbstwahrnehmung, der insb. im Zusammenhang mit der Kolonialgeschichte, jedoch auch bezüglich Fragen des Alltagsrassismus in Italien eine kritische Auseinandersetzung sowie die Reflexion der eigenen Schuld massiv behindert. Siehe hierzu beispielsweise M. Kirchmair: Postkoloniale Literatur in Italien, S. 21. 103 J. Burns: Migrant Imaginaries, S. 12.

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ästhetisch, sondern primär sozialkritisch gelesen. Insbesondere die kooperative Form des transkulturellen Schreibens, etwa in Gestalt des testimonial narrative oder der letteratura a quattro mani, erscheint als prädestiniert für die Adressierung sozialer und politischer Problematiken im Zusammenhang mit Migration. Migrationsliteratur bedient aber auch die Nachfrage nach Erzählungen des:der kulturell Anderen, die eine ›fremde‹ Perspektive auf westliche Gesellschaften liefern, und, als ›authentisch‹ rezipiert, Themen wie Diskriminierung, Marginalisierung und Gewalt anhand der Biographien betroffener Individuen verarbeiten.104 Diesen Aspekt betont Susanne Gehrmann insbesondere in Bezug auf durch westliche Co-Autor:innen verschriftlichte testimonial narratives, die sich seit den 1990er Jahren im Zuge von Menschenrechtsdiskursen etablieren und in die Mechanismen des globalen Literaturmarktes einbetten: Indeed, today the anthropological practice to generate self narratives, lives on in co-authored testimonial texts of ›minority groups‹ from the global South be they HIV/AIDS-victims, child soldiers, or women, whose oral or roughly written accounts serve as raw material for journalists and human rights’ activists to be transformed into a readable written book aimed at a Western based publishing industry, media, and readership.105 Graham Huggan argumentiert in diesem Kontext mit Pierre Bourdieus Begriff des kulturellen Kapitals: Postkoloniale Schriftsteller:innen bewegten sich in einem geografisch und zeitlich übergreifenden, wenn auch historisch wandelbaren Feld kultureller Produktion, das als Schauplatz von Kämpfen zwischen verschiedenen Wertesystemen durch eine grundsätzliche Ungleichheit geprägt ist.106 Hierbei definiert Huggan postcoloniality – im Gegensatz zu postcolonialism – als ein System kultureller Wertzuschreibungen, das sich an den weltweiten Markt kultureller Produktion und dessen Machtstrukturen anpasst: »Postcoloniality, put another way, is a value-regulating mechanism within the global late-capitalist system of commodity exchange. Value is constructed through

104 Jennifer Burns beschreibt diese Erwartungshaltung wie folgt: »The perception that migrants come to writing because they have a story to tell about Italy, and to tell specifically to Italians about Italy, is a powerful one which is borne out by some texts, particularly early ones«, ebd., S. 10. 105 Gehrmann, Susanne: »Postcolonial Times«, in: M. Wagner-Egelhaaf, Handbook of Autobiography/Autofiction, S. 923–963, hier S. 945. 106 Graham Huggan: The Postcolonial Exotic. Marketing the Margins, London/New York: Taylor and Francis 2002, S. 5.

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global market operations involving the exchange of cultural commodities and, particularly, culturally ›othered‹ goods.«107 Erzählungen des Marginalen besitzen dabei einen spezifischen Wert auf dem Literaturmarkt: Huggan spricht von einem systematischen Exotismus, der sich durch die Produktion und Fetischisierung von »otherness« auszeichne.108 Postkoloniale Autor:innen würden nicht nur als ›authentische‹ Kommentator:innen, Übersetzer:innen und Mittler:innen des Exotischen, sondern oftmals auch als lebende ›Exemplare‹ dieses radikal Fremden empfunden.109 Nicht zuletzt heben sowohl Huggan als auch Gillian Whitlock die didaktische Komponente in der europäischen und angloamerikanischen Rezeption testimonialer Erzählungen postkolonialer Autor:innen hervor. Diese scheinen einen vermeintlich ›authentisch-inwendigen‹ Blick auf die dargestellten Herkunftsgesellschaften, -bräuche und -lebensformen zu liefern und als (pseudo-)anthropologisches Material nutzbar zu sein: »Literature emerged as a valuable tool for the student of African customs, a notion reinforced by the provision of glossaries and other paratextual phenomena – introductory essays, photographs and illustrations, the paraphernalia of annotation.«110 Derartige Formen des Erzählens, so Whitlock, erwiesen sich zudem in Diskursen über Menschenrechte und zur Unterstützung sozialer Kampagnen als extrem nützlich, wo sie als ›soft weapon‹ eingesetzt werden.111 Dies zeigt sich beispielhaft in den beiden betrachteten Texten, die in ihrer Vermarktung und literarischen Gestaltung maßgeblich auf die Fremdheit der Autorinnen, der Protagonistinnen sowie der beschriebenen Milieus und Praktiken setzen. Während das Phänomen der Zwangsprostitution in Le ragazze di Benin City über 107 Ebd., S. 6. 108 Vgl. ebd., S. 11ff. Den Begriff des Exotismus fasst Huggan wie folgt: »For the exotic is not, as is often supposed, an inherent quality to be found ›in‹ certain people, distinctive objects, or specific places; exoticism describes, rather, a particular mode of aesthetic perception – one which renders people, objects and places strange even as it domesticates them, and which effectively manufactures otherness even as it claims to surrender to its immanent mystery«, ebd., S. 13; Herv. i. Orig. 109 »They may still be seen, in spite of themselves, as more or less reliable commentators, and as both translators and exemplars of their own ›authentically‹ exotic cultures«, ebd., S. 26. 110 Ebd., S. 53. 111 Vgl. G. Whitlock: Postcolonial Life Narratives, S. 203. Whitlock beschreibt die in testimonial narratives erzeugte emotionale Einbindung westlicher Leserschaften als »ethics of sentimental association between metropolitan subjects and the suffering of distant strangers«, ebd., S. 196.

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die direkte Adressierung der Leser:innen auch als italienisches Problemfeld gekennzeichnet wird, erscheint es in der Erzählung Wendy Ubas mitunter als ›Randproblem‹ verkommener Moralvorstellungen, archaischer Praktiken und krimineller Organisationen ›afrikanischer‹ Provenienz. Damit ähnelt diese Erzählung aber ebenjenen trafficking narratives, die im Sinne einer Forderung nach Kontrolle und Kriminalisierung von sex work und Immigration interpretiert und in entsprechende politische Diskurse eingebettet werden können.112 Es lassen sich hier auf mehreren Ebenen invektive Dynamiken identifizieren: erstens im Entstehungskontext der Erzählungen, der durch die Asymmetrie der Autor:innen und die Erwartungshaltung des italienischen Publikums gegenüber testimonial narratives geprägt ist; zweitens in den Erzählmustern, die auf verschiedene stereotype Darstellungen von Migration und Sexarbeit bzw. Sexarbeiterinnen zurückgreifen. Andererseits rücken beide Texte mithilfe der Literarisierung betroffener Stimmen ein Problemfeld ins Bewusstsein der Leser:innen, das in der italienischen Öffentlichkeit häufig im Rahmen einer entindividualisierenden Berichterstattung invektiven Charakters verhandelt wird.113 Mit der Rezeption der Narration(en) beider Autorinnen, die in den Paratexten jeweils die befreiende Wirkung des Erzählens hervorheben, gehen weitere positive Effekte einher. Die Rückkoppelung der Erzählung Isoke Aikpitanyis mit dem Realraum lässt sich anhand der weiteren Biografie der Autorin nachvollziehen: ihr Buch hat ihr als soft weapon dabei geholfen, gemeinsam mit ihrem Partner Initiativen für Aussteiger:innen – sowohl aus der Sexarbeit als auch aus der Klientenrolle – ins Leben zu rufen.114

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Gillian Wylie stellt kritisch die Perspektive staatlicher Behörden und öffentlicher Diskurse bezüglich Sexarbeit und Menschenhandel heraus: »Deploying policing, border guards and military forces, to ›fight trafficking‹ has become integral to securitized border politics across the global North. Several authors note that representations of trafficking in the public sphere spike when concerns about migration control are in the public eye.« G. Wylie: Representing Human Trafficking As Gendered Violence, S. 81. Vgl. Gabriel Deinzer: »Die narrative Modellierung medieninduzierter Invektivität in Mohsen Mellitis Io, l′altro (2007)«, in: Schrader/Tiller, Agency und Invektivität (2020), S. 134–153, hier S. 134ff. (http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t07.pdf) sowie I. Crowhurst: Caught in the Victim/Criminal Paradigm, S. 496f. Vgl. Monica Coviello: »L’ex cliente di prostitute che aiuta gli uomini a non diventare complici della schiavitù«, in: Vanity Fair vom 19.02.2018 (https://www.vanityfair.it/ news/storie-news/2018/02/19/claudio-magnabosco-ex-cliente-prostitute-isoke-moglie).

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Tra divertissement e conflitto L’invettività nella scrittura di Ornela Vorpsi e Milton Fernàndez Silvia Camilotti

L’analisi dei due testi letterari oggetto del presente contributo mira a mostrare come l’invettività possa rivelarsi un dispositivo versatile in termini di scopi che si aspira a perseguire quando la si declina sia in termini strutturali sia a livello di singolo enunciato. I due autori presi in considerazione, Ornela Vorpsi e Milton Fernàndez, sono accomunati dalla scelta di scrivere in una lingua, l’italiano, che per entrambi è straniera e parlata nel paese destinatario della loro prima (nel caso di Vorpsi) emigrazione e che consente loro un distacco emotivo e un’occasione di sperimentazione. Le opere Il paese dove non si muore mai (2006)1 e Bracadà (2008)2 rappresentano due esempi in cui le costellazioni invettive assumono forme e scopi del tutto eterogenei, che verranno indagati a partire dagli spunti offerti da due chiavi di lettura: l’intersezionalità, che si incentra sul piano dei contenuti guardando alle condizioni dei singoli personaggi e alle relazioni che si innescano tra loro, e la performatività degli enunciati che presentano un carattere invettivo. Emigrata dall’Albania all’inizio degli anni Novanta in Italia e successivamente spostatasi in Francia, Vorpsi ha scelto l’italiano come lingua d’esordio

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Vorpsi, Ornela: Il paese dove non si muore mai, Torino: Einaudi 2006. Fernàndez, Milton: Bracadà, Napoli: Michele Di Salvo Editore 2008.

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narrativo,3 una decisione che spiega nella postfazione4 al suo testo poiché si tratta di una lingua »svestita d’infanzia« che, in quanto tale, le ha consentito un distacco che in altro modo non avrebbe ottenuto: »la potevo modulare, formulare, manipolare, potevo raccontare quello che altrimenti non avrei potuto raccontare, aiutata anche dall’incoscienza di non possederla«5 . L’italiano, lingua senza passato, appare necessario, come scrive anche Comberiati, »per affrontare gli anni vissuti in Albania sotto il regime comunista e per distaccarsene criticamente«6 . Anche l’epigrafe de Il paese dove non si muore mai segnala subito una presa di distanza, nonché indica la cifra stilistica e l’approccio nei confronti della propria terra d’origine che attraverserà tutte le pagine: »Dedico questo libro alla parola umiltà, che manca al lessico albanese. Una tale mancanza può dar luogo a esiti assai curiosi nell’andamento di un popolo.«7 Appare interessante che la performatività del linguaggio si misuri anche negli effetti che l’assenza di un lessema produce: l’idea di sopravvivenza eterna che viene sintetizzata nel titolo (Il paese dove non si muore mai) rappresenta uno degli effetti della mancanza di umiltà, data la convinzione di una invincibilità immortale attribuita a un intero popolo. Il tagliente sarcasmo, che si esprime in una lingua »asciutta, secca, che lavora per sottrazione«8 , con anche venature sprezzanti, caratterizza dunque la scrittura di questo romanzo sfaccettato, costruito a partire da tanti personaggi femminili che si intrecciano in un tessuto unico, che lo rendono multifocale, secondo la definizione che ne dà Morace: La multifocalità, infatti, frantuma il punto di osservazione unico, mette in crisi il principio del narratore e del personaggio centrale, dell’autore e dell’eroe, frammenta le prospettive creando un diverso fuoco per ogni personaggio. In tal modo essa mette in crisi il concetto stesso di romanzo come narrazione

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Per la complessa, dal punto di vista linguistico, genesi e storia editoriale del romanzo, pubblicato prima in francese da ActesSud e poi rivisto in italiano dall’autrice stessa, si veda Comberiati, Daniele: Scrivere nella lingua dell’altro. La letteratura degli immigrati in Italia (1989–2007), Losanna: Peter Lang 2010. Si precisa che nell’edizione Einaudi del 2006, da cui sono tratte le citazioni, non è presente la postfazione, di cui si è preso visione nell’edizione digitale di Minimum Fax del 2018. Ibid. D. Comberiati: Scrivere nella lingua dell’altro, p. 227. O. Vorpsi: Il paese, epigrafe. Morace, Rosanna: Letteratura-mondo italiana, Pisa: Edizioni ETS 2012.

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unitaria, enunciando tanto nei contenuti quanto nelle forme la frammentazione del reale.9 Nel caso specifico il punto di vista della narratrice, espresso in prima persona, evolve e si presenta prima bambina, poi giovane donna e si alterna a storie di altre figure femminili raccontate in terza persona che tuttavia sono accomunate da destini simili e soprattutto da uno sguardo caustico. Tale scelta trova continuità anche nel passaggio dall’epigrafe al primo capitolo, sul cui titolo »Campa, campa e non crepa l’albanese« si è soffermata Crivelli: ›Campa, campa e non crepa l’albanese‹ […] offre almeno tre importanti indizi per il percorso interpretativo del romanzo: il primo riguarda il registro, dato che il tema della morte è messo in scena sin dall’inizio in modo esplicitamente irrispettoso, sfrontato, palesemente e volutamente abbassando il tono tragico a un tono di canzonatura infantile; il secondo riguarda le valenze testuali connesse al tema dell’appartenenza etnica, poiché il titoletto dichiara che la prospettiva di osservazione adottata dall’autrice di origine albanese nei confronti del proprio paese e dei suoi connazionali-capre, sarà intenzionalmente priva di compassione, tagliente e critica; il terzo concerne infine la prospettiva in cui l’autrice condurrà la narrazione, poiché l’uso del verbo ›crepare‹ esclude che il racconto intenda alludere ai propri oggetti focali (l’Albania e la morte) in chiave sentimentale, nostalgica o metafisica e punta invece a enfatizzarne piuttosto la dimensione più brutalmente realistica e corporea.10 Lo sguardo di chi scrive si sviluppa dunque lungo un asse che si incentra su una materialità greve raccontata con stile canzonatorio e dal carattere estremamente invettivo, che una lingua straniera certamente facilita. L’immortalità tanto evocata, tuttavia, viene meno a due condizioni: quando riguarda alcune categorie che il pensiero unico predominante marginalizza per una serie di ragioni (arbitrarie) e quando si attraversano i confini nazionali, uscendo dalla protezione/rete/giogo di »Madre-Partito«. A tale proposito, il capitolo finale, intitolato amaramente »Terra promessa«, descrive il disincanto totale di una giovane madre, emigrata in Italia con la figlia per inseguire il

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Ibid., p. 95. Crivelli, Tatiana/Camilotti, Silvia: Che razza di letteratura è? Intersezioni di diversità nella letteratura italiana contemporanea, Venezia: Edizioni Ca’Foscari 2017, p. 26.

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sogno in un paese desiderato e idealizzato, che si scontra invece con dinamiche non troppo dissimili, in termini di relazioni tra uomini e donne, rispetto a quelle che si è lasciata alle spalle. Un uomo le si rivolge infatti scambiandola per una prostituta. A commento della scena leggiamo nel testo: »In questa terra, gli albanesi hanno capito che possono morire. Nonostante il loro animo rapace e coraggioso, cominciano a sentire che le vertebre dolgono veramente, che la testa può fare tanto di quel male, i denti anche… i rimedi delle nonne albanesi qua non funzionano.«11 Oltre al disincanto che rivela la terra promessa come un luogo solamente idealizzato ma che nei fatti mostra tutta la sua durezza, appare rilevante segnalare lo stereotipo inferiorizzante che subito colpisce una donna straniera, intesa alla stregua di una prostituta:12 scena che rivela da una parte lo sguardo etnocentrico e sessista in cui molte donne straniere si imbattono e dall’altra la richiesta di prestazioni sessuali legate allo sfruttamento e alla reificazione del corpo femminile che attraversa le frontiere. Il riferimento alla nozione di categoria ci permette di introdurre la chiave di lettura offerta dagli studi intersezionali, da intendersi come strumento euristico e metodologico volto a privilegiare le relazioni tra i personaggi e le dinamiche che portano alla loro marginalizzazione e a processi di othering, in cui gli atti invettivi diventano a loro volta strumento di difesa e offesa. La variabilità interpretativa a cui si presta il paradigma intersezionale lo ha reso versatile e applicabile in una molteplicità di ambiti;13 uno dei pilastri che lo sostengono è appunto il concetto di categoria. Leslie McCall ha indicato tre approcci nel suo uso: • •

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il primo – di matrice poststrutturalista – le si oppone, vista l’irriducibilità delle identità a categorie; il secondo considera le relazioni e le differenze interne a una categoria e ha inaugurato lo studio dell’intersezionalità;

O. Vorpsi: Il paese, p. 110–111. Si veda l’articolo di Weingart in questo volume. Ne parla nei seguenti termini Davis: »Its lack of clear-cut definition or even specific parameters has enabled it to be drawn upon in nearly any context of inquiry. The infinite regress built into the concept – which categories to use and when to stop – makes it vague, yet also allows endless constellations of intersecting lines of difference to be explored« (Davis, Kathy: »Intersectionality as buzzword. A sociology of science perspective on what makes a feminist theory successful«, in: Feminist Theory 9 [2008], pp. 67–85).

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il terzo considera i rapporti tra categorie, sebbene quest’ultimo lasci aperto il rischio di riduzionismo che la nozione di categoria implica.14

In tale sede si farà ricorso alla seconda declinazione, osservando quali fattori costitutivi producono dinamiche di marginalizzazione e come all’interno si attivi il dispositivo dell’invettività. Secondo l’approccio intersezionale, i processi di othering, conseguenti a atti denigratori, sono necessariamente multidimensionali, nel senso che la discriminazione coinvolge ed è alimentata da una pluralità di fattori intrecciati e sovrapposti;15 inoltre produce effetti tangibili, materiali, particolarmente focalizzati, nel caso di questo romanzo, sul tema del corpo. Come indicato da Crivelli, la dimensione della fisicità nella sua accezione più brutalmente realistica attraversa la scrittura ed è uno dei fattori che produce marginalizzazione nelle protagoniste. La narrazione si struttura, come anticipato, su una voce narrante in prima persona alternata a una serie di drammatiche vicende, che »rappresentano una sorta di corollario alle esperienze della protagonista, dando al lettore la possibilità di incrociare più vite nell’Albania di Hoxha e fornendogli la certezza che la quotidianità fosse composta di privazioni e compromessi«16 . Di fatto, le vite che si raccontano potrebbero essere accorpate in un’unica categoria all’interno di quella della comunità nazionale albanese, in quanto accomunate da una serie di caratteristiche che, intrecciate, producono subordinazione: l’avvenenza dei loro corpi, in primo luogo, oggetto di sguardi avidi maschili (e non solo di sguardi) che si scontra con la bruttezza delle donne che incarnano posizioni di potere e che lo esercitano spesso con violenza. L’esercizio del potere violento si riversa infatti nei confronti di giovani donne colpevoli di essere attraenti, ma non solo: nella gerarchia delle differenze, l’essere madri senza marito o figlie senza padre, che spesso risulta recluso (per ragioni anche politiche), le rende oggetto di sopruso, come la prossima citazione chiaramente indica: »Ero figlia di un condannato politico, quindi dovevo impregnarmi d’educazione comunista più degli altri perché ero a rischio, anche a causa della mia avvenenza, che mi stava conducendo senza dubbio alla

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McCall, Leslie: »The Complexity of Intersectionality«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 30 (2005), pp. 1771–1800. Si veda a tale proposito Marchetti, Sabrina: »Intersezionalità«, in: Caterina Botti (a cura di): Le etiche della diversità culturale, Firenze: Le Lettere 2013, pp. 133–148. D. Comberiati: Scrivere nella lingua dell’altro, p. 230.

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perdizione.«17 Fisicità e condizione familiare non conformi si intrecciano per aggravare la condizione della voce narrante che non esita a dichiarare, in un altro passaggio: »Io mi ci trovo male nella comunità dei tanti, la disciplina mi va ancora peggio«18 , a dimostrazione dell’invettività strutturale che la riguarda in quanto marginalizzata da procedure e pratiche socialmente radicate in quel contesto socio-culturale. Dinamiche invettive coinvolgono anche la passione per la lettura e la curiosità delle donne protagoniste, attitudini guardate con molto sospetto e foriere di processi di othering: si tratta ad esempio del caso di due donne, madre e figlia, condannate all’ergastolo, che, oltre a essere avvenenti, leggono libri, non danno confidenza ad altre donne e sono state internate perché »non tenevano una buona condotta, le hanno punite per immoralità«19 . Secondo la prospettiva intersezionale, quindi, entro il gruppo indotto alla compattezza dall’imposizione politica, la differenza generata dall’infrazione – anche involontaria – della norma (che incrocia la passione per la lettura, l’avvenenza o l’assenza di una figura maschile) produce effetti sui corpi che subiscono le peggiori offese, se non la morte. Secondo l’approccio intersezionale, le tante figure femminili incarnano molteplici alterità al centro di costellazioni invettive che si traducono in atti denigratori e dunque in processi di othering che emergono progressivamente nel testo: la giovinezza, la bellezza che spicca in una società che dovrebbe essere di tutti uguali, l’essere senza un padre, il possesso di uno sguardo interlocutorio/critico, ma a tratti anche ingenuo, l’amore per la lettura, la solitudine sia rispetto al gruppo sociale che a quello familiare sono tutti elementi che alimentano le dinamiche invettive. Appare questo il caso in cui, dopo il divorzio dei genitori, la madre riprende il cognome da nubile e alla figlia resta quello del padre: Abisso. Secondo la legge, di cognome appartenevo a quello che amavo meno. Adesso sentivo dire dalla nonna, dal nonno e dallo zio che i miei capelli erano rossi come i suoi, e mi chiamavano con disprezzo ›la rossa‹ o ›la rossaccia‹ per avvicinarmi di più a mio padre. Non ero del loro sangue, ero razza di gambe storte come le sorelle di mio padre, sarei diventata schizofrenica come mio cugino: ›Non puoi fare altrimenti, è scritto nel sangue.‹ Alla fine

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O. Vorpsi: Il paese, p. 19. Ibid., p. 79. Ibid., p. 47.

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sarei diventata troia come mio padre, anzi io ero già una troia, si vedeva dal mio sguardo furbo. Poi con lui avrei aperto un negozio di puttanerie.20 La crudezza del linguaggio esprime i processi di othering cui la protagonista è sottomessa come conseguenza di dinamiche invettive strutturali a cui pare impossibile sfuggire. Spicca anche il profondo biasimo verso la società tutta, ossessionata dalla questione della puttaneria, consustanziale ad essa, su cui torneremo. Le parole fanno cose, traendo spunto dagli scritti di John L. Austin,21 e nel caso in esame risulta particolarmente evidente in quanto gli atti invettivi sono performativi: il loro potere performativo si estrinseca in questo testo contro donne incarnanti delle alterità all’interno di un gruppo ai fini di perpetuare e stabilire un ordine dato, mediante la loro eliminazione o denigrazione fisica. Tuttavia l’impiego di discorsi di carattere denigratorio assume anche un altro valore, di reazione nei confronti di un potere che viene screditato e offeso e che si concretizza nel medesimo ambito semantico, ossia quello del corpo, trasformando l’invettività da subita a contromobilitata. Emerge, infatti, come a posizioni di potere corrisponda una fisicità descritta sempre spietatamente: »La moglie è una sorta di militare, leggermente baffuta e una peluria abbondante le ricopre i polpacci; il marito è un funzionario del ministero, divora con gli occhi le belle ragazze ma chiude gli occhi a tutti i vizi quando passa con la moglie.«22 O ancora: »Gambe molto storte (la mia fantasia ha sempre cercato disperatamente di capire come quell’insieme scomposto potesse confluire in un bacino), espressione dura, labbra carnose rosse di rossetto, e gran comunista. Suo marito era qualcosa di politicamente importante, e così compagna Dhoksi con le gambe storte a scuola dettava legge.«23 Le donne del partito restano sostanzialmente antifemminili e i loro mariti fedifraghi e sessualmente insaziabili. I discorsi invettivi mettono al centro il potere attivandosi sul medesimo piano su cui questo agisce, la fisicità dei corpi; inoltre, il controllo su di essi appare una vera e propria ossessione: Quando passi per la strada, i loro sguardi t’incrociano penetrandoti fino al midollo, così a fondo che il tuo essere diventa trasparente. Una volta den-

20 21 22 23

Ibid., p. 41. Austin, John L.: Come fare cose con le parole (a cura di Marina Sbisà e Carlo Penco), Bologna: Marietti 2019. O. Vorpsi: Il paese, p. 48. Ibid., p. 19.

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tro di te, questo sbirciare diventa un’arte meticolosa. A casa si ripresentava lo stesso discorso: ‒ Non ti preoccupare, – è mia zia che parla, – ti manderemo dal medico per vedere se sei vergine o no –. Mi lacera con lo sguardo minaccioso mormorando tra i denti, e io, anche se ho solo tredici anni e non ho ancora visto quello che gli uomini hanno nei pantaloni (un mistero che ha qualcosa a che fare con la puttaneria), mi sento una puttana compiuta. Lo sguardo di mia zia mi disonora.24 L’efficacia performativa delle parole si esprime in tutta la sua crudezza. Riprendendo la distinzione di Austin tra atti linguistici illocutori, in cui a parola corrisponde subito un’azione (»esecuzione di un atto nel dire qualcosa«25 ) e perlocutori, in cui la parola attiva conseguenze che non corrispondono all’atto linguistico in quanto tale (»dire qualcosa produrrà spesso, o anche normalmente, certi effetti consecutivi sui sentimenti, i pensieri, o le azioni di chi sente, o di chi parla, o di altre persone: e può essere fatto con lo scopo, l’intenzione o il proposito di produrre questi effetti«26 ), emerge come nel contesto in cui si muovono i personaggi si sviluppino atti linguistici di entrambe le tipologie: quelli che si traducono subito in azione, quando ad esempio l’autorità sentenzia la colpevolezza di un soggetto che implica la sua immediata reclusione, e quelli che producono effetti intenzionalmente (sebbene Austin consideri anche l’involontarietà) tra cui si colloca l’offesa. Potremmo, in altri termini, parlare di potere fisico del linguaggio, in quanto il discrimine tra la denigrazione simbolica a livello linguistico e la punizione corporale appare sottile, e in ogni caso la seconda è conseguenza della prima. Le donne colpevoli del più inaccettabile dei fatti, rendere evidente, mediante una gravidanza, di aver intrecciato relazioni sessuali fuori dal matrimonio, compiono il gesto estremo spinte da ciò che si scatenerebbe implacabile contro di loro, »mettendo fine alle loro sofferenze e a volte alla vergogna«27 : il giudizio oltraggioso della comunità non lascerebbe via di scampo. Lo fanno gettandosi in un lago e misurando, ancora una volta, la differenza interna al gruppo: il suicidio non è tra le aspirazioni principali di questo paese, che nella lotta per una sopravvivenza decente scorda il rifugio che può dare la morte. Però, che io sappia, nel lago non vanno a morire gli uomini, o almeno gli uomini

24 25 26 27

Ibid., p. 8. J. L. Austin: Come fare cose con le parole, p. 131. Ibid., p. 132. O. Vorpsi: Il paese, p. 58.

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albanesi non soffrono il mal d’amore al punto di spingersi fin lì, e poi loro non rimangono incinti, non hanno bisogno di simili gesti disperati.28 La vergogna che spinge a togliersi la vita nasce anche dall’insostenibile carico di denigrazione che verrebbe loro rivolto dalla comunità. L’invettività si può dunque considerare a pieno titolo performativa in quanto produce conseguenze efficaci: nel caso peggiore la morte, in altre situazioni il senso di inadeguatezza e vergogna della donna cui sono rivolte. La voce narrante, in virtù del fatto che sta crescendo senza padre e risulta carina, viene subito considerata perduta: »Diventerai una gran troia […] un giorno ci piomberai a casa col ventre riempito […] Mangeremo la vergogna con il pane.«29 Questa accusa si sospende solo in una occasione: »La malattia era sempre un periodo di gioia, le sgridate finivano […] smettevo di essere puttana. Questo fino al giorno della guarigione, a partire dal quale ricominciavano gli insulti, tornavo ad essere puttana.«30 Le dinamiche invettive entro cui la giovane si colloca funzionano come dispositivi di isolamento all’interno del gruppo, evidenziando i processi di esclusione sociale messi in atto in un contesto dato – quello che Austin definisce le circostanze dell’enunciazione – e divenendo anche delle spinte all’emigrazione, poiché acquisiscono un ruolo significativo nelle varie tappe del processo migratorio. Tali dinamiche assumono tuttavia anche un altro significato, quello della rivolta, della contromobilitazione. Le descrizioni fisiche spietate delle donne di potere o della sessualità mai soddisfatta degli uomini trasformano infatti l’invettività in un’arma potente sia di offesa che di difesa. Se dunque da una parte essa funziona come un dispositivo che conferma le norme e l’ordine sociali, compattando il gruppo che le esercita e etichettando offensivamente chi da queste si discosta, dall’altra mette a nudo la brutalità e la volgarità di donne e uomini servi di Madre-Partito. In entrambe le situazioni, produrre atti invettivi significa fare cose con le parole, a conferma che il linguaggio può ferire,31 infliggendo anche dolore fisico. L’idea che le parole feriscano »si fonda su una relazione inseparabile e incongrua tra corpo e parola ma anche tra la parola e i suoi effetti«32 . Tale rela-

28 29 30 31 32

Ibid., p. 59. Ibid., p. 9. Ibid., p. 11. Butler, Judith: Parole che provocano. Per una politica del performativo, Milano: Raffaello Cortina Editore 2010, p. 5. Ibid., p. 18.

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zione è in primo piano nel testo, che si apre in nome del corpo marchiato come colpevole: Così scorre la vita nel paese dove tutto (tranne quello che succede agli altri) è eterno. Ma ci sono cose che appartengono alle case di questa gente più della morte. Una di queste, senza esagerare, è quasi il centro della loro vita. La questione della puttaneria. Quanto li appassiona, quanto infiamma i loro cuori (che si accendono per un niente), a quali febbri e deliri conduce! È la questione vitale, interessa i vecchi e i giovani, i colti e gli incolti. Ci sono regole che nello spirito di un popolo nascono così, in modo naturale, come le foglie su una pianta. Queste regole da noi si fondano su un’unica tesi: una ragazza bella è troia, e una brutta – poverina! – non lo è. In questo paese una ragazza deve fare molta attenzione al suo ›fiore immacolato‹, perché ›un uomo si lava con un pezzo di sapone e torna come nuovo, mentre una ragazza non la lava neanche il mare!‹ L’intero mare.33 La similitudine che naturalizza la regola applicandola senza distinzioni a un intero popolo scorre sul filo del sarcasmo spietato e rappresenta una strategia che vede nella riappropriazione del linguaggio ingiurioso e nella sua messa in atto una forma di rivendicazione: »La possibilità politica di rielaborare la forza dell’atto linguistico contro la forza dell’ingiuria consiste in un’appropriazione indebita della forza delle parole rispetto a quei contesti precedenti. Il linguaggio che si oppone alle offese delle parole, tuttavia, deve ripetere quelle offese proprio rimettendole in atto.«34 Seguendo il ragionamento di Butler, Vorpsi non cede alla censura, ma, al contrario, esplicita l’offesa che viene rivolta alle donne non conformi ai dettami del regime descrivendola come questione connaturata a un intero popolo, addirittura ›vitale‹. Potremmo, ancora con Butler, definire la scelta di Vorpsi una »contromobilitazione«35 : Il nome con il quale si viene chiamate mette in una posizione di subordinazione e, allo stesso tempo, mette in grado di operare, producendo uno scenario in cui è possibile agire a partire da quest’ambivalenza, una serie di effetti che eccede le intenzioni che animano l’appello […]. La parola che ferisce diventa uno strumento di resistenza quando viene nuovamente messa in campo distruggendo il territorio nel quale operava in precedenza.36 33 34 35 36

O. Vorpsi: Il paese, p. 7. J. Butler: Parole che provocano, p. 59. Ibid., p. 234. Ibid.

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Il linguaggio caustico e crudo, che non lascia trasparire alcuna pacificazione con il paese d’origine, viene rivolto contro il paese stesso, raccontandone l’orizzonte culturale e sociale con estrema criticità. I discorsi connessi alle forme dell’invettività non assumono mai, in questo romanzo di Vorpsi, toni iperbolici, eccessivi, urlati, bensì lucidi e taglienti e si distanziano molto in tal senso dal romanzo Bracadà di Milton Fernàndez, una delle prime opere pubblicate da una figura estremamente poliedrica: scrittore, regista, attore, fondatore di una casa editrice, animatore culturale di origini uruguayane e da molti anni residente in Italia. La caricatura è infatti la cifra caratteristica di questo romanzo e si applica sia alle vicende, al limite dell’incredibile, sia alla lingua che le descrive, esasperata e terreno di sperimentazione ludica. Il protagonista, nonché voce narrante, si ritrova intrappolato in una successione vorticosa di eventi che cerca in modo goffo di gestire; svolge il mestiere di maschera alla Scala di Milano, vive in un quartiere che definisce ironicamente Parioli, ha disinvolte frequentazioni sessuali ed è circondato da una serie di figure anticonvenzionali ed eccentriche. Il romanzo esprime sin dal titolo un divertissement linguistico, che attraversa l’intero testo e che si rispecchia nelle vicende raccontate. La prospettiva intersezionale mostra come la marginalizzazione e i processi di othering siano conseguenze di atti invettivi che si attivano coinvolgendo molteplici livelli: le relazioni si sviluppano tra singoli individui che si collocano all’incrocio di più marginalità, per ricorrere alla metafora che Kimberlé Crenshaw ha usato per spiegare con tale approccio la condizione delle donne nere negli Stati Uniti;37 i personaggi sono tutti, a loro modo, portatori di alterità che li discostano dalla norma socialmente stabilita, ma è forse più corretto de-

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»The point is that Black women can experience discrimination in any number of ways and that the contradiction arises from our assumptions that their claims of exclusion must be unidirectional. Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination« (Crenshaw, Kimberlé: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: a Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: Karen J. Maschke (a cura di), Feminist Legal Theories, New York/London: Garland Publishing 1997, pp. 57–80).

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clinare l’accezione di margine che si applica loro in termini di eccentricità. Il protagonista si presenta infatti come segue: La mia umile dimora forse l’ho già accennato, sita nella zona adiacente ad una delle più importanti arterie commerciali della città, è null’altro che un fazzoletto di due stanze senza cesso costruito secondo i canoni architettonici nati dalla proverbiale stitichezza lombarda. Da qualche tempo il quartiere è stato preso d’assalto dalla filibusta africana e pullula di negozietti che fanno le delizie delle signore di Piazza San Babila, le quali godono d’ingresso libero e senza stupro dalle dieci alle quattro meno un quarto, cosa che permette loro di fare poi dei figuroni regalando maschere e sandali di pelle di cammello comperate nell’ultimo loro eccitantissimo safari nei pressi di Timbuctù. Ho perso il filo…ah, sì… dicevo, quartiere popolare con cintura medio borghese. Zona degradata, secondo uno del ›sindacato inquilini‹, che quando ci incontrava correva poi a sciacquarsi le mani.38 Comprendiamo già da questa citazione l’orientamento del romanzo, che ignora intenzionalmente la filosofia del politicamente corretto: i fenomeni invettivi non risparmiano alcuno dei personaggi, alimentano i luoghi comuni nei confronti di tutte le categorie rappresentate, siano essi stranieri spacciatori, donne sole anziane pettegole e ficcanaso, colletti bianchi borghesi stressati, mogli insoddisfatte e fedifraghe, donne innamorate ingenue e ingannate; dal punto di vista formale, il continuo ricorso all’iperbole e la ripresa di stilemi del linguaggio parlato e colloquiale assecondano e alimentano tali rappresentazioni volutamente stereotipate. Uno degli aspetti che segnala la marginalità dell’io narrante è data in primo luogo dal contesto abitativo degradato e dalle sue frequentazioni: le relazioni che instaura con gli altri, infatti, ci dicono implicitamente di lui. Una figura che gli ruota intorno, ad esempio, si caratterizza anch’essa per il suo essere fuori norma, eccentrica: Dalle parti di Via Procaccini soggiornava l’Antonio, quello di Sanginetto. Il testa di minchia più insaccato che sia mai riuscito a incrociare, e dire che ne ho frequentati di scombinati. Questo è uno di quelli che quando lo vedi ti viene voglia di chiedere scuse al Lombroso per l’incomprensione. Fronte stretta, occhi piccoli, sopracciglia in linea continua da orecchio a orecchio… roba del

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M. Fernàndez: Bracadà, p. 73.

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genere. E uno sguardo diffidente, come se ti chiedesse in continuazione: ›Mi stai prendendo per il culo, te?‹.39 Inoltre, questa improbabile figura vive anche oltre i limiti della legge: Forse non l’ho ancora detto, anche se mi sembra di averlo accennato. L’Antonio spacciacchiava. Bèh, sì, faceva il pùscer, nel tempo libero. Magari anche in quello pieno, su questo non ci metterei le mani sul fuoco. Niente di grosso. Robina. Un po’ d’erbetta. Qualche scaglia di marocco. Arrotondava, che male faceva.40 In questo caso la denigrazione si focalizza sul piano dell’accettabilità fisica: la costellazione invettiva si riferisce infatti a un contesto socio-culturale che considera precisi canoni estetici, fuori dai quali scattano i processi invettivi; al contrario, sul piano della trasgressione della norma intesa in senso giuridico, emerge un atteggiamento ironicamente assolutorio che non si traduce in biasimo da parte dell’io narrante. Da sottolineare come le scelte linguistiche rinviano a una serie di linguaggi settoriali che intrecciano il gergo della strada – visti i riferimenti al mondo dello spaccio – ma anche quello dei giovani, sebbene il fattore dell’età sia assente. Tuttavia, da quest’ultimo linguaggio vengono mutuati numerosi elementi, come anche altre citazioni dimostreranno. L’intenzionalità comica e ammiccante si esplica nel ricorso frequente alla denigrazione che non risparmia alcuno dei personaggi ed ha lo scopo evidente di provocare la risata in chi legge e che linguisticamente si concretizza nell’uso del turpiloquio, di diminutivi ironizzanti e assolutori (»robina«, »erbetta«), nella distorsione in senso riduzionista e giustificatoria applicata al verbo (»spacciacchiava«), nonché nella ripresa di un anglicismo reso secondo la grafia italiana (»pùscer«), scelta molto frequente nel testo. Quest’ultima occorrenza rientra peraltro tra gli elementi che Michele Cortelazzo menziona come caratterizzanti l’uso della lingua nei giovani.41 Piano dei contenuti e della lingua risultano dunque coerenti e l’uno specchio dell’altra, a cavallo tra diversi linguaggi settoriali ma privi di fini, come nel romanzo di Vorpsi, di denuncia; la performatività degli atti linguistici invettivi si evidenzia in questo testo di Fernàndez nella ricerca dell’effetto comico della sperimentazione formale. 39 40 41

Ibid., p. 15. Ibid., p. 39. Cortelazzo, Michele A.: »Il parlato della lingua«, in: Storia della lingua II. Scritto e parlato, Torino: Einaudi 1994, pp. 291–317.

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Anche lo sdoganamento del lessico sessuale, tipico del linguaggio giovanile,42 persegue il medesimo fine e rappresenta un’altra peculiarità nel testo: Il Nicolino faceva il calzolaio. Bene o male non lo so. Faceva il calzolaio, punto. Era alto suppergiù un metro e mezzo e parlava un miscuglio di siculo e patuà che nessuno era mai riuscito a decifrare a cuor sereno. Si diceva che ad Aosta avesse fatto il militare. Può darsi. A volte la patria chiude gli occhi e dò cojo cojo. In ogni caso si faceva capire. Anche perché dotato di una mimica eccezionale e di uno sguardo che, quando voleva, discorreva perfino in esperanto. Era anche un gran porcone, diciamola tutta, il picciotto. Non ne perdonava una. Le coriste ormai si rifiutavano di scendere nel suo atelièr. Avevano piazzato una vertenza sindacale risoltasi alla fine con un accordo tra le parti e grande incazzatura del Nicolino, il quale era ora costretto a fare su e giù lungo i piani per le prove delle calzature. Lui sosteneva che se riesci a prendere il piede ad una donna il resto è fatto. Non so se sia mai riuscito a farsi qualcuna. Di là dalla pungente carestia che affligge il settore è difficile immaginarsi una con una fame portata a tale estremo. Lui comunque ci provava con tutte. Ogni lasciata è persa, sosteneva, quindi tampinava soprattutto le divorziate. Molti lo chiamavano Scarpediem. Io no. Continuai a dargli del Nicolino. Non per niente. Era permaloso come un’iguana, il micro, e avevo capito già da tempo che avrei fatto bene a tenermelo buono.43 Anche a proposito di questo personaggio, al pari di tutte le altre figure che prenderanno parte alle vicende, la penna dell’autore non lesina in termini di caratterizzazione fisica e di rapporti problematici con gli altri: è emigrato dal sud d’Italia, parla un linguaggio difficilmente comprensibile e vorrebbe, ma non ha, relazioni con le donne. In questa galleria di personaggi assurdi, la cifra resta sempre lo sberleffo spinto che si prende gioco delle frustrazioni dei singoli. Gli effetti ludici sono qui perseguiti ricorrendo ancora all’internazionalismo riportato secondo la grafia italiana (»patuà«), all’enfasi, alla suffissazione giocosa (»porcone«), ossimorica rispetto alla descrizione fisica del personaggio (alto un metro e mezzo) e il diminutivo del nome proprio; da rilevare,

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Tra i tratti dell’uso giovanile del linguaggio, si segnala: »Disponibilità del lessico sessuale, sempre meno tabuizzato dalla comunità parlante sia in senso proprio sia in senso traslato, o l’influsso dell’inglese, che nei giovani può dar luogo anche a numerosi pseudoanglicismi occasionali« (M. Cortellazzo: Il parlato della lingua, p. 292). M. Fernàndez: Bracadà, p. 151.

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sempre a fini comici, gli apporti regionali, in questo caso non milanese bensì romano, ma oramai parte delle parole di lunga durata e dunque stabilizzati (»do cojo cojo«). Anche la figura retorica della similitudine ottiene effetti ludici in quanto il termine di paragone con l’iguana è un nonsense con fine comunque ingiurioso. Osserviamo dunque un ritratto impietoso, ma non aspro, funzionale a perseguire una comicità sbracata che ammicca a chi legge: la denigrazione prodotta dall’invettività si fonda sulla descrizione dello scardinamento dell’ordine sociale, giuridico, etico che tutti i personaggi praticano e che resta priva di giudizio critico da parte della voce narrante. Bracadà presenta dunque una lingua che attinge al serbatoio della marginalità e del giovanilismo, ma non in chiave rivendicativa, la cui performatività si misura nell’effetto comico cui aspira, a livello extra-testuale. Occorre rilevare come il testo presenti dunque una forte omogeneità dal punto di vista linguistico poiché il piano della lingua è rappresentativo di un’unica categoria di individui accomunati dal fatto di collocarsi fuori norma (qualsiasi essa sia), descritti con un linguaggio espressionista che infrange le regole tradizionali, inserendo espressioni colloquiali, anche regionali (moltissimi gli apporti dal dialetto milanese a partire da »sciura«, occorrenza molto frequente nel testo) e tendenti al basso. Il linguaggio intensamente connotato e politicamente scorretto nei confronti di qualsiasi categoria (nessuna pare destinata a salvarsi, che si tratti di italiani, stranieri, uomini e donne, persino animali) alimenta il vortice in cui questa galleria folle di figure da commedia dell’arte prive di freni inibitori è trascinata ed esprime ininterrottamente la loro trasgressione: dei codici di condotta nelle relazioni tra uomini e donne, costellate da menzogna e tradimento, nonché della legge (lo spaccio, la guida in stato di ebbrezza, il vivere al limite). Ciò che si può considerare l’ordine che regola i rapporti e la società viene continuamente sovvertito e il linguaggio riflette e accentua tale continua infrazione inserendola all’interno di processi e interazioni di natura invettiva. La denigrazione nei confronti dei vari personaggi nasce dall’enfasi del loro status di sovvertitori dell’ordine precostituito, sia esso sociale, etico, giuridico. Questa procrastinata inversione dello status quo che fa continuo ricorso ad atti invettivi non si pone, tuttavia, alcun obiettivo critico, come accadeva ne Il paese dove non si muore mai, ma paradossalmente si risolve nel rientro nel solco della norma: la relazione fedifraga vede la fine, per cui una coppia ritrova il suo equilibrio matrimoniale e il protagonista-voce narrante accetta le sue responsabilità di padre e abbandona il quartiere degradato. Tale stabilizzazione si riflette anche nella lingua, che vede un progressivo ridimensionamento della sua cif-

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ra iperbolica e spinta. Le costellazioni invettive entro cui ogni personaggio era collocato perdono la loro performatività in maniera inversamente proporzionale alla progressiva stabilizzazione e ricostruzione dell’ordine tradizionale. L’autore ha voluto dunque sperimentare, esasperando parallelamente forma e contenuto: il ricorso a processi comunicativi e a interazioni di natura denigratoria diventa il codice che connota un gruppo di individui accomunati dall’essere diversi, fuori norma, vittime di processi di othering che incrociano più marginalità ma da cui non hanno – eccezione fatta per il personaggio che dice io – intenzione di emanciparsi; anche perché non subiscono la pressione di modelli che li vorrebbero omologare o cancellare, come nel caso di Vorpsi. Il carattere performativo del linguaggio offensivo, dunque, se ne Il paese dove non si muore mai si estrinseca nel tentativo, intra-testo, di eliminare chi incarna un’alterità rispetto al discorso di regime da una parte e di rispondere alle spinte autoritarie dall’altra facendosene beffe, in Bracadà non presenta un carattere esplicitamente politico e si misura soprattutto nel tentativo di sortire l’effetto comico nei lettori e nelle lettrici. Forme e scopi delle dinamiche invettive risultano, in conclusione, estremamente divergenti, seppure accomunati da una performatività che agisce intra ed extra testo: nel caso di Vorpsi si evidenziano le relazioni aspre e conflittuali tra i personaggi nella società albanese, nella scrittura di Fernàndez si mira a spingere la rappresentazione dei personaggi oltre i limiti del politicamente corretto infrangendo la normatività di una lingua appresa come seconda. Da tale punto di vista risulta interessante come esperienze o, nel caso di Bracadà, vere e proprie sperimentazioni linguistico-letterarie vengano realizzate da un autore e una autrice che hanno necessariamente un approccio distaccato nei confronti dell’italiano, appreso da adulti, che permette loro di maturare uno sguardo esterno che consente maggiore distacco e libertà sia di contenuto sia di forma.

Bibliografia Austin, John L.: Come fare cose con le parole (a cura di Marina Sbisà e Carlo Penco), Bologna: Marietti 2019. Butler, Judith: Parole che provocano. Per una politica del performativo, Milano: Raffaello Cortina Editore 2010. Comberiati, Daniele: Scrivere nella lingua dell’altro. La letteratura degli immigrati in Italia (1989–2007), Losanna: Peter Lang 2010.

Tra divertissement e conflitto

Cortelazzo, Michele A.: »Il parlato della lingua«, in: Storia della lingua II. Scritto e parlato, Torino: Einaudi 1994, pp. 291–317. Crenshaw, Kimberlé: »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: a Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: Karen J. Maschke (a cura di), Feminist Legal Theories, New York/London: Garland Publishing 1997, pp. 57–80. Crivelli, Tatiana/Camilotti, Silvia: Che razza di letteratura è? Intersezioni di diversità nella letteratura italiana contemporanea, Venezia: Edizioni Ca’ Foscari 2017. Davis, Kathy: »Intersectionality as buzzword. A sociology of science perspective on what makes a feminist theory successful«, in: Feminist Theory 9 (2008), pp. 67–85. Fernàndez, Milton: Bracadà, Napoli: Michele Di Salvo Editore 2008. Marchetti, Sabrina: »Intersezionalità«, in: Caterina Botti (a cura di), Le etiche della diversità culturale, Firenze: Le Lettere 2013, pp. 133–148. McCall, Leslie: »The Complexity of Intersectionality«, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 30 (2005), pp. 1771–1800. Morace, Rosanna: Letteratura-mondo italiana, Pisa: Edizioni ETS 2012. Vorpsi, Ornela: Il paese dove non si muore mai, Torino: Einaudi 2006.

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Priva di identità? Postmigrantische Perspektiven und Invektivität Franziska Teckentrup

Postmigrantische Narrationen in der italienischen Literatur Ab den frühen 2000er Jahren erhalten in Italien vermehrt postmigrantische Protagonist:innen Einzug in literarische Erzählungen.1 Belange von Men1

Zum Begriff des ›Postmigrantischen‹ und dessen Verwendung vgl. etwa die Ausführungen von Schramm, Ring Petersen und Wiegand: »[T]hree major tendencies can be distinguished: first, when the term was initially applied around 2010, it was used to engender a specific focus on postmigrant subjects, i.e. descendants of migrants who did not migrate themselves, but who are often perceived and labelled as ›migrants‹ or ›foreigners‹ in the public discourse […] Implicit in this use of the term is […] a strong criticism of the processes of othering and the marginalization and migrantization of people with multiple backgrounds and belonging. Second, since roughly 2013, the idea of postmigration has been applied as an analytical perspective on society and culture […]. [A] postmigrant perspective offers an inclusive and differentiated view on societal struggles for recognition, equality etc., because it does not focus on a specific group in society marked as ›migrants‹ or ›ethnic minority‹. […] Third, the term has been used as descriptor for contemporary society as a ›postmigrant society‹. […] This concept has provided a more comprehensive perspective of the ongoing conflicts, ambivalences and negotiations taking place in societies shaped by migration. The notion of a postmigrant society highlights the often forgotten and oppressed history of migration and challenges the traditional logic of integration, based on the assumption of a stable and sedentary ›we-group‹, into which the ›Other‹ is expected to integrate. Here it is also the case that the prefix ›post‹ does not imply that migration has terminated, but that the object of study is how society has been influenced by earlier and ongoing migration movements« (Schramm, Moritz/Ring Petersen, Anne/Wiegand, Frauke: »Introduction«, in: Schramm/Ring Petersen/Moslund, Reframing Migration, S. 3–10, hier S. 5). Für weitere Ausführungen vgl. etwa Schramm, Moritz/Ring Petersen, Anne/Wiegand, Frauke: »Academic Reception«, in: Schramm/Ring Petersen/Moslund, Reframing Migration, S. 11–25.

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Franziska Teckentrup

schen, die selbst in Italien geboren bzw. aufgewachsen sind und lediglich über eine familial vermittelte Migrationserfahrung verfügen, geraten so in den Fokus: Dies betrifft u.a. Diskriminierungserfahrungen aufgrund struktureller Invektivität – etwa in institutionellen Kontexten – sowie individuelle Rassifizierungserlebnisse, welche für die von der erzählten italo-italienischen Gesellschaft bisweilen als ›fremd‹ bzw. zumindest ›divers‹ gelesenen Figuren oftmals die Verschärfung oder gar den Auslöser eines inneren Zugehörigkeitskonflikts bedeuten. Häufig nehmen die Texte Perspektiven Jugendlicher oder junger Erwachsener ein, die sich auf der Suche nach ihrem Platz in der erzählten Welt befinden und sich nicht nur gesellschaftlichen, sondern zuweilen auch familiären Erwartungen ausgesetzt sehen, die durch die Herkunftskultur der Vorfahr:innen geprägt sind. Diese Narrationen bemühen sich, die spezielle Komplexität der Adoleszenz und des frühen Erwachsenenalters postmigrantischer Subjekte einzufangen – möglichst ohne generalisierenden Festschreibungen und einer monolithischen Wahrnehmung postmigrantischer Menschen Vorschub zu leisten: Dem wirken narrative Techniken wie der Einsatz von Polyphonie und Multiperspektivität in den jeweiligen Erzählungen entgegen, oder beispielsweise Veröffentlichungskonzepte in Form einer Zusammenführung von Texten in Anthologien, die unterschiedliche postmigrantische Lebensentwürfe und -wirklichkeiten auffächern.2 Ihren Peak erfuhren die Inszenierungen des ›Postmigrantischen‹ Igiaba Scego zufolge Mitte der 2000er Jahre, als eine Vielzahl an – mitunter autobiographisch grundierten – Texten junger Autor:innen der sogenannten ›seconda generazione‹ auf den Markt drängte, der bereits seit den 1990er Jahren eine Nische für Immigrationserzählungen bot: Le case editrici medie e piccole davano spazio ai nuovi autori e le storie fiorivano letteralmente da ogni dove […] E in mezzo a questa fioritura migran-

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Prominente Beispiele für Erzählsammlungen (unter Beteiligung) der genannten Autorinnen sind etwa Scego, Igiaba (Hg.): Italiani per vocazione, Fiesole: Cadmo 2005; Mubiayi, Ingy/Scego, Igiaba (Hg.): Quando nasci è una roulette. Giovani figli di migranti si raccontano, Milano: Terre di mezzo 2007; Masri, Muin Madih u.a.: Amori bicolori. Racconti, Roma/Bari: Laterza 2008; Kuruvilla, Gabriella: Milano, fin qui tutto bene, Roma: Laterza 2012; Wadia, Laila: Se tutte le donne, Siena: Barbera 2012; Kuruvilla, Gabriella: È la vita, dolcezza, Milano: Morellini 2014; Scego, Igiaba (Hg.): Future. Il domani raccontato dalle voci di oggi, Firenze: Effequ 2019. Zum Phänomen vgl. auch Romeo, Caterina: Riscrivere la nazione. La letteratura italiana postcoloniale, Firenze: Le Monnier Università 2018, S. 39f.

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te siamo capitati noi, figli e figlie di quella migrazione […] Intorno al 2005 abbiamo preso le nostre penne o i nostri computer e abbiamo cominciato a raccontarci, e lo stiamo ancora facendo.3 2005 erscheint auch die von Flavia Capitani und Emanuele Coen kuratierte Erzählsammlung Pecore nere,4 die Kurzprosa von vier Autorinnen vereint, die in je zwei Narrationen postmigrantische Lebensentwürfe präsentieren, wobei das Thema der Identitätssuche im Vordergrund steht. Die Texte zeichnen sich stilistisch durch einen ironischen Tonfall aus, der, mehr oder weniger ausgeprägt, praktisch alle Narrationen durchzieht. Dies stellte, wie eine der Verfasserinnen bemerkt, eine Vorgabe der Herausgeber:innen dar, um der Leser:innenschaft den Zugang zu erleichtern: »Il tono narrativo richiesto dall’editore è volutamente ›ironico e leggero‹: l’ironia e la leggerezza, infatti, permettono al lettore di avvicinarsi con maggiore facilità all’argomento trattato, e di entrare in situazioni anche dolorose con il sorriso sulle labbra.«5 Tatsächlich wurde der Anthologie in der Folge eine verhältnismäßig große Aufmerksamkeit zuteil, ebenso wie den darin vertretenen Schriftstellerinnen Igiaba Scego, Laila Wadia, Gabriella Kuruvilla und Ingy Mubiayi, die – bis auf die im Alter von 20 Jahren migrierte Wadia – alle als Nachkommen migrierter Menschen

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Scego, Igiaba: »Nota della curatrice«, in: Igiaba Scego (Hg.), Future. Il domani raccontato dalle voci di oggi, Firenze: Effequ 2019, S. 7–18, hier S. 11. Capitani, Flavia/Coen, Emanuele (Hg.): Pecore nere. Racconti, Roma: Laterza 2005. Der Titel der Erzählsammlung wurde von verschiedenen Seiten als diskutabel bezeichnet; vgl. dazu bspw. C. Romeo: Riscrivere la nazione, S. 39, sowie Camilotti, Silvia: »A dieci anni da ›Pecore nere‹, continuità e svolte«, in: mediAzioni 19 (2016), http://mediazioni .sitlec.unibo.it. Clarissa Clò stellt fest: »Pecore Nere […] reveals up front the racial background of the authors and capitalizes, perhaps too fetishistically, on this difference. Yet ›black sheep‹ also suggests that while the authors are of a different skin color, they are, nonetheless, already members of the family, and by extension the nation, and contribute to Italy’s culture in ways that complicate commonsense understandings of it« (Clò, Clarissa: »Hip Hop Italian Style. The Postcolonial Imagination of Second-Generation Authors in Italy«, in: Cristina Lombardi-Diop/Caterina Romeo (Hg.), Postcolonial Italy. Challenging National Homogeneity, New York: Palgrave Macmillan 2012, S. 275–291, hier S. 278). Kuruvilla, Gabriella: »Intorno all’autobiografia. L’uso dell’ironia nella rappresentazione di sé e degli altri«, in: Silvia Camilotti (Hg.), Lingue e letterature in movimento. Scrittrici emergenti nel panorama letterario italiano contemporaneo, Bologna: Bononia University Press 2008, S. 107–123, hier S. 115.

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in Italien aufwuchsen.6 Zehn Jahre später, als Scego in einem Beitrag für Internazionale Bilanz zieht, konstatiert sie, den italienischen Journalist:innen sei es schwergefallen, die vier Frauen einzuordnen, »quelle quattro ›straniere‹ che parlavano così bene l’italiano e sapevano tante cose sull’Italia […] All’epoca non era nemmeno entrata nell’uso la formuletta magica ›seconda generazione‹ che un po’ spiegava le cose, anche se non in modo ottimale.«7 Die Nachfahr:innen migrierter Personen seien im öffentlichen Diskurs kaum präsent gewesen und entsprechend unbeholfen habe sich der Umgang mit der postmigrantischen Kondition gestaltet. Mitte der 2000er Jahre erfährt das Thema zunehmend Beachtung.8 In Italien entsteht beispielsweise 2005, im Publikationsjahr von Pecore nere, die Rete G2, ein von postmigrantischen Akteur:innen gegründetes Netzwerk, aus dessen durch die Popkultur beeinflussten soziokulturellen Aktivitäten im Jahr 2008 ein fotoromanzo sowie eine CD hervorgehen.9 Die Rete G2, die »i diritti negati alle seconde generazioni senza cittadinanza italiana e l’identità come incontro di più culture«10 als ihre zwei Hauptthemen identifiziert, engagiert sich sowohl für eine allgemeine Sichtbarkeit der seconda generazione als auch 6

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Igiaba Scego wurde 1974 in Rom geboren, nachdem ihre Eltern aufgrund des Staatsstreichs 1969 aus Somalia fliehen mussten. Ihre Kollegin Laila Wadia, geboren 1966 im heutigen Mumbai, zog 1986 als Stipendiatin nach Italien, wo sie heute in Triest lebt, während Gabriella Kuruvilla (*1969 in Mailand) als Tochter einer italienischen Mutter und eines indischen Vaters in Italien aufwuchs. Ingy Mubiayi (*1972 in Kairo) kam als Kind einer ägyptischen Mutter und eines kongolesischen Vaters im Alter von vier Jahren nach Rom. Die Biographien der Schreibenden sowie eventuelle autobiographische Elemente innerhalb der Texte erhielten im Zusammenhang mit Migrationserzählungen besondere Aufmerksamkeit. Scego, Igiaba: »Siamo ancora pecore nere«, in: Internazionale vom 21.01.2015. In Italien, das sich erst ab den 1990er Jahren verstärkt zum Einwanderungsland wandelt, mehren sich zu diesem Zeitpunkt langsam die postmigrantischen Stimmen der ›seconda generazione‹. Einen weiteren Faktor bilden die Ereignisse im Ausland, zumal die Proteste in den Pariser banlieues, obschon die Situationen in Italien und Frankreich sich massiv unterscheiden; siehe dazu auch die Ausführungen von Gabriella Kuruvilla, deren Erzählsammlung È la vita, dolcezza durch die Geschehnisse in Paris inspiriert ist; vgl. weiterhin das von Lorenzo Mari geführte Interview vom 11.03.2016 (https://newital ians.eu/wp-content/uploads/2016/05/Kuruvilla.pdf). Zur Rete G2 vgl. https://www.secondegenerazioni.it/. Clarissa Clò befasst sich in einem Beitrag näher mit der Rolle popkultureller Phänomene in der kulturellen Produktion postmigrantischer Autor:innen, unter anderem auch mit der Arbeit der Rete G2, vgl. C. Clò: Hip Hop Italian Style. https://www.secondegenerazioni.it/

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für eine breitere gesellschaftliche Debatte – etwa rund um die Frage nach der italienischen Staatsbürgerschaft, die aufgrund der Anwendung des ius sanguinis auch in Italien geborenen Angehörigen der G2 oft verwehrt bleibt. An der rechtlichen Situation sowie an konkreten politischen Maßnahmen üben auch einige der in Pecore nere versammelten Narrationen Kritik, so zum Beispiel Scegos Salsicce oder Mubiayis Documenti, prego.11 Ein besonderes Merkmal dieser Texte besteht darin, dass die realweltlichen gesellschaftlichen Bezüge stets mit dem Thema der persönlichen Identitätssuche verwoben werden, wodurch der Einfluss der invektiven Strukturen und Denkmuster des Systems, in dem selbige sich vollzieht, scharfgezeichnet wird. Indem die Erzählungen mit ihren Protagonist:innen Angehörige der sogenannten G2 (oder, wie in Kuruvillas Text Ruben, der G3) als Teil der italienischen Gesellschaft ins Zentrum rücken, bilden sie zugleich einen sozialen Wandel ab, dem, Scegos obiger Feststellung zufolge, zum Zeitpunkt der Publikation des Bandes kaum Beachtung geschenkt wurde.12 Sie nehmen entsprechend die der Gesellschaft inhärente, diskursiv jedoch vernachlässigte Heterogenität in den Blick, die allein mittels der Figurenkonzeptionen und -konstellationen reproduziert und innerhalb der Narrationen zudem oft explizit durch die Erzählinstanz oder die erzählten Charaktere thematisiert bzw. diskutiert wird. Insofern sie – wie Erzählungen generell, die sich als ways of worldmaking begreifen lassen13 – aus der Gesellschaft entstehen und zugleich in sie zurückwirken, 11

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Abgesehen von Ingy Mubiayi, die sich bis auf eine gemeinsam mit Igiaba Scego herausgegebene Anthologie nach Pecore nere weitestgehend aus dem Geschäft zurückzieht, veröffentlichen die Schriftstellerinnen auch in den folgenden Jahren zahlreiche Texte. Zu den Autorinnen und den thematisch-stilistischen Entwicklungen ihrer Texte vgl. etwa Silvia Camilottis »A dieci anni da Pecore nere, continuità e svolte«. Ähnliches äußert eine Figur in Cristina Ali Farahs 2011 erschienenem Roman Il comandante del fiume, der ebenfalls einen postmigrantischen Protagonisten in den Mittelpunkt stellt – dort erfolgt die Feststellung der gesellschaftlichen Ignoranz gegenüber der Existenz der G2 mit expliziter Referenz auf die italienische Kolonialzeit: »[N]on ne vogliono sapere niente di noi […] Noi cresciuti qui, figli di genitori eritrei, etiopi, somali, le ex colonie insomma. Gli italiani manco sanno che esistiamo« (Ali Farah, Ubah Cristina: Il comandante del fiume, Roma: 66thand2nd 2014, S. 145. Zu Erzählungen als ways of worldmaking (in Rekurs auf Nelson Goodman) vgl. Nünning, Ansgar: »Wie Erzählungen Kulturen erzeugen. Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie«, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2013, S. 15–53, hier S. 18, sowie Nünning, Ansgar/ Polland-Schmandt, Imke: »Introducing the Cultural Work of Fictions: Theoretical and

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eignet ihnen ein performatives Moment, das kulturelle Wissensbestände und kollektiv geteilte Weltdeutungen kritisch befragt und potenziell beeinflusst.14 Da es sich bei den Texten sowohl um Speicher- als auch um Verbreitungsmedien von ›kulturellem Wissen‹, Wert- und Normvorstellungen handelt, wohnt ihnen gesteigertes reflexives Potenzial inne; etwa in Hinblick auf Deutungsmuster, die Invektivkommunikation Vorschub leisten. Das Einspeisen der marginalisierten Blickwinkel und Lebenswirklichkeiten in den öffentlichen Diskurs wirkt der konstatierten Unterrepräsentation entsprechender Identitäten entgegen. Zugleich wird Fremdpositionierungen widersprochen, die, einer binär strukturierten Unterscheidung in ›Einheimische‹ und ›Fremde‹ folgend, postmigrantische Individuen Menschen mit eigener Migrationserfahrung gleichsetzen und auf diese Weise die komplexen postmigrantischen Realitäten ignorieren. Die literarischen Inszenierungen wollen also einen Beitrag zur Anerkennung und Dynamisierung des Wandels leisten, den sie portraitieren und als dessen Ausdruck sie sich lesen lassen: In dieser Hinsicht erfüllen die Texte eine eminent politische Funktion.15 Der in den Narrationen vorherrschende Fokus liegt auf den Erfahrungen junger Angehöriger der G2 – in Pecore nere vorwiegend weiblichen Geschlechts –, die in der italienischen Gesellschaft heranwachsen. Die Kopplung des postmigrantischen Blickwinkels mit Figuren einer spezifischen Altersgruppe scheint insofern opportun, als es sich bei Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter um sensible Entwicklungsphasen handelt, anhand derer sich aufgrund der Verzahnung von Selbstfindungsbewegungen (inklusive Berufswahl oder der Emanzipation vom Elternhaus) und sozialem Ordnungssystem, gegebenenfalls in Rivalität zu etwaigen familiären Erwartungen, die Wirkung von gesellschaftlichem Invektivgeschehen auf das Individuum besonders anschaulich illustrieren lässt.16 Dass eine vollständige Zugehörigkeit

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Conceptual Explorations«, in: Ansgar Nünning/Imke Polland-Schmandt (Hg.), The Cultural Work of Fictions. Trajectories of Literary Studies in the 21st Century, Trier: WVT 2021, S. 1–20, hier S. 10. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012, S. 22. Vgl. zu diesem Aspekt auch die Überlegungen von Mark Stein in Black British Literature. Novels of Transformation, Columbus: Ohio State University Press 2004, S. 22f. Für ausführliche Überlegungen zur Darstellung von Invektivität mittels adoleszenter postmigrantischer Figuren erlaube ich mir, auf meine Dissertationsschrift zu literarischen Inszenierungen von Invektivität in zeitgenössischen Immigrationserzählungen aus Italien zu verweisen, vgl. Teckentrup, Franziska: Narrationen der Herabsetzung. Li-

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zur ›Gesellschaft‹ sowie die Möglichkeit einer komplexen Identität jenseits monolithischer Kulturvorstellungen punktuell oder kontinuierlich in Zweifel gezogen oder nicht anerkannt werden, fordert diese sich in einer per se störanfälligen Altersphase befindliche Gruppe in den Narrationen besonders heraus, insofern die Selbsteinschätzung der jugendlichen Figuren als handlungsfähige Subjekte ›gestört‹ wird.17 Die altersbedingt ohnehin virulente Frage nach der eigenen Identität und dem Platz im sozialen Gefüge verkompliziert sich für die Angehörigen der sogenannten G2: Potenzielle Folgen der Diskrepanzen zwischen Eigenwahrnehmung und Fremdzuschreibungen, die etwa als nacherzählte Kommunikationsakte eingebracht sind, werden in den Texten in ihrer Problematik für das im Selbstwerdungsprozess begriffene postmigrantische Individuum anschaulich. Entsprechende Ereignisse finden sich – oft intern fokalisiert, vielfach auch in der Retrospektive – nicht nur wiedergegeben, sondern bereits reflexiv-kommentierend eingeordnet. In stilistisch-thematischer Hinsicht macht Clarissa Clò spezifische Merkmale aus, die in Erzählungen der ›zweiten Generation‹ – wenngleich sich der Begriff bei Clò auf die Verfasser:innen bezieht – gehäuft auftreten, nämlich: […] the skilled manipulation of Italian language, local dialects, and youth jargon, the pungent use of irony, the savvy deployment of popular cultural references, the representation of characters with hybrid identities, the dramatization of the intergenerational conflict, and the complicated confrontation with Italian institutions.18 Diese Charakteristika stehen in direktem Zusammenhang zur Inszenierung von herabsetzenden bzw. ausgrenzenden Kommunikationsakten und Invektivkonstellationen, wie auch ein Blick auf ausgewählte Texte der Sammlung Pecore nere zeigt.

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terarische Inszenierungen von Invektivität in zeitgenössischen Immigrationserzählungen aus Italien. Dissertation TU Dresden 2022. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Vera King in »Adoleszenz und Ablösung im Generationenverhältnis. Theoretische Perspektiven und zeitdiagnostische Anmerkungen«, in: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 5 (2010), S. 9–20. C. Clò: Hip Hop Italian Style, S. 278.

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Keine, eine oder viele? Identität in Igiaba Scegos Salsicce Das invektive Potenzial verbaler wie non-verbaler Vermittlung von Zuordnungen und Erwartungen wird in den Texten u.a. durch die In-den-Blick-Nahme der daraus resultierenden Auswirkungen auf das Subjekt beobachtbar. Einige situative Rahmungen kehren unter Variationen in verschiedenen Erzählungen wieder, wodurch der Eindruck besonderer Signifikanz entsteht: Dies gilt beispielsweise für die Betonung der vermeintlichen ›Fremdheit‹ postmigrantischer Individuen durch andere Figuren oder das (scheinbare) Einfordern einer Positionierung bezüglich der Zugehörigkeit zur elterlichen oder der italienischen Kultur. Das kontinuierliche Hinterfragen erschwert den Protagonist:innen bisweilen die Suche nach der eigenen Identität und die Selbstverortung innerhalb der Gesellschaft, wie etwa in Scegos Salsicce. Bereits auf den ersten Seiten des Textes verweisen zahlreiche Indizien auf den Status der autodiegetischen Erzählerin, einer Italienerin mit somalischen Vorfahr:innen, als ›Einheimische‹: Sie bedient sich des römischen Dialekts, beschreibt eine »solita mattina«19 in der Hauptstadt – »la solita minestra«20 – und integriert die Gepflogenheiten um die italienische Tradition des Ferragosto in ihre Erzählung, wodurch sie wie selbstverständlich auf ein mit der italo-italienischen Leser:innenschaft geteiltes ›kulturelles Wissen‹ rekurriert. Mit der Verkäuferin Rosetta, bei der die Protagonistin die titelgebenden Würstchen kauft, anhand derer sie ihre italienische Identität zu beweisen gedenkt, pflegt sie offensichtlich ein herzliches Verhältnis: Als Stammkundin räumt Rosetta ihr regelmäßig Rabatt ein. Offensichtlich weiß Rosetta auch um die muslimische Herkunft der Erzählerin, deren Bestellung sie aus ebendiesem Grund erstaunt, weshalb diese sich genötigt sieht, eine Nachbarin vorzuschieben: Quindi, dopo essermi irrigidita (ma non molto), le ho mentito dicendo: »Sono per la vicina, cara Rosetta«. Mi ha fatto un bel pacco la Rosetta, niente da obbiettare, ma lo sconto me lo sono giocato quando ho nominato la vicina. Rosetta odia la mia vicina da quando ha osato criticare la disposizione delle decorazioni natalizie del 1999.21

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Scego, Igiaba: »Salsicce«, in: Flavia Capitani/Emanuele Coen (Hg.), Pecore nere, Roma/ Bari 2005, S. 23–36, hier S. 24. Ebd. Ebd., S. 25.

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Der Protagonistin ist demzufolge auch der nachbarschaftliche Zwist bekannt, obgleich dieser Jahre zurückliegt. Darüber hinaus rekurriert sie auf die alte italienische Währung, wenn sie in einem kurzen, als mündlicher Sprachgebrauch markierten Einschub beiläufig bemerkt: »[L]a povera padella non poteva appellarsi nemmeno in cassazione, era povera e l’avvocati coi mijardi (pardon, coi mijoni, io parlo ancora in vecchie lire) nun li teneva.«22 Der behände Registerwechsel in die gesprochene Sprache und die Betragsangabe in Lire, die aufgrund der Bedeutungslosigkeit der Zahl den komischen Effekt der ironischgrotesken Passage verstärken, tragen ebenfalls zur Figurencharakterisierung bei. Durch die Vertrautheit mit dem quartiere und seinen Bewohner:innen, das in den Text eingespeiste kulturspezifische Wissen und, auf sprachlicher Ebene, den dialektal eingefärbten Sprachgebrauch wird die Erzählerin narrativ unzweifelhaft als der italienischen Gesellschaft und ihrem römischen Viertel zugehörig markiert. Zugleich sieht sich die Protagonistin in der erzählten Welt mit Fremdzuschreibungen konfrontiert, die ihre Herkunft infrage stellen oder eine Positionierung bezüglich der ›kulturellen Identitäten‹ einfordern. Illustriert wird dies etwa anhand einer in die Erzählung implementierten erinnerten Episode, in der eine Prüferin die Protagonistin während eines mündlichen Examens nach deren gefühlter Zugehörigkeit fragt: »[L’esaminatrice] [n]on era una persona sgradevole e l’esame stava andando piuttosto bene […] E poi il patatrac! Quella domanda odiosa sulla mia identità del cazzo! Più somala? Più italiana? Forse 3/4 somala e 1/4 italiana?«23 Als Schwarze muslimische Italienerin verkörpert die Protagonistin für ihre italienische Umwelt einen Widerspruch, die sie schon aufgrund ihrer Hautfarbe nicht als ›vollständige‹ Italienerin akzeptiert.24 Ebenso wird eine Zugehörigkeit zur Kultur Somalias, narrativ durch die Verwendung somalischer Lexeme markiert, durch ihre weitere Verwandtschaft hinterfragt, die Erwartungen an die Figur formuliert oder die ›italienischen‹ Züge der Protagonistin kommentiert und bewertet. Die Betonung der wahrgenommenen Alterität der Figur entfaltet invektiv-exkludierende Wirkung – zumal ob der situativen Irrelevanz in der ersten Episode.

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Ebd. Ebd., S. 28. Zum literarischen Hinterfragen der vermeintlichen Inkompatibilität von Schwarzsein und einer nationalen italienischen Identität vgl. auch Lombardi-Diop, Cristina/Romeo, Caterina: »Italy’s Postcolonial ›Question‹. Views from the Southern Frontier of Europe«, in: Postcolonial Studies 18 (2015), S. 367–383, hier S. 372f.

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Wie Romina Linardi feststellt, erlebt die Protagonistin ihre ›Bikulturalität‹ vor allem dann als belastend, wenn andere Figuren diese als problembehaftet darstellen.25 Der Text setzt die Effekte der ausgrenzenden Kommunikation in Szene, die das Selbstverständnis des als ›anders‹ interpretierten Individuums beeinträchtigen. So erklärt die Erzählerin wiederholt, dass sie sich bisweilen ›ohne Identität‹ oder gar als ›Nichts‹ fühle: Per esempio sono niente sull’autobus quando sento la frase »questi stranieri sono la rovina dell’Italia« e mi sento gli occhi della gente appiccicati addosso tipo big bubble. Oppure quando una donna somala (di solito qualche parente lontana) nota che la mia pipì fa più rumore della sua grazie ad un getto più potente. Esco dal bagno ignara del fatto che la mia pipì sia stata spiata e noto uno sguardo cattivo posato sulla mia spalla sinistra. Infine il commento velenoso »ma tu sei una nijas, c’hai ancora il kintir. Non troverai mai marito.«26 Diese Einzelbegegnungen stellen, wie die Verwendung des Präsens in den Temporalsätzen und die locuzione avverbiale »al solito« indizieren, in ihrer herabwürdigenden Dimension keine singulären Ereignisse dar, sondern werden vielmehr als exemplarisch markiert. Durch den Verweis aus beiden kulturellen Kontexten – die Zugehörigkeiten scheinen sich wechselseitig auszuschließen – gerät die Erzählerin in ein invektiv flankiertes ›Dazwischen‹ und zur Person »senza identità«27 . Eine Wahl zwischen den beiden Kulturen vermag die Protagonistin nicht zu treffen: In zwei Listen zu je 13 Punkten zählt sie auf, in welchen Momenten und während welcher Aktivitäten sie sich ›somalisch‹ bzw. ›italienisch‹ fühle, wobei der letzte Punkt jeweils lautet: »[Quando] faccio 100 altre cose, e chi se le ricorda tutte!«28 Sie gebe dadurch weder einer der beiden Seiten Vorrang noch etabliere sie Gegensätze, konstatiert Lucia Quaquarelli: »La protagonista è quello e questo insieme. Senza che intervengano giudizi di valore o gerar-

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Linardi, Romina: Transkulturalität, Identitätskonstruktion und narrative Vermittlung in Migrationstexten der italienischen Gegenwartsliteratur. Eine Analyse ausgewählter Werke von Gabriella Kuruvilla, Igiaba Scego, Laila Wadia und Sumaya Abdel Qader, Frankfurt a.M./New York: Peter Lang 2017, S. 161. I. Scego: Salsicce, S. 30. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29 resp. 30.

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chie. Senza che si profilino opposizioni o lacerazioni.«29 Scheint die Festlegung auf eine ›kulturelle Identität‹ im interpersonalen Kontakt erstrebenswert und eine nicht klar erkennbare Zugehörigkeit als Mangel, wird die Pluralität für das Subjekt selbst als Bereicherung der individuellen Identität inszeniert.30 Am Ende der Narration – die Protagonistin hat die Würstchen, Symbol der Entscheidung für eine der ›kulturellen Identitäten‹, nämlich die italienische, zwar zubereitet, sich jedoch übergeben, noch während sie sie zum Mund führen wollte – hält die Erzählerin fest, letztlich bleibe sie doch immer die gleiche, »[e] se questo dà fastidio, d’ora in poi me ne fotterò!«31 Dieses Votum für ›ihre‹ Individualität und die Verweigerung, sich einem dichotomisch organisierten Schema zu unterwerfen, lassen sich als Form der Selbstbestimmung und des empowerment begreifen: Waren es zuvor andere, die ihr eine vollständige Zugehörigkeit absprachen, beschließt die Erzählerin an dieser Stelle selbst, sich nicht festlegen zu lassen. Den Ausgangspunkt der ›Identitätskrise‹ der Protagonistin bildet die sogenannte Legge Bossi Fini, die im Juli 2002 verabschiedet wurde und eine Verschärfung der gültigen Einwanderungsbedingungen zur Folge hatte. Besonders die Verordnung zur Abnahme digitaler Fingerabdrücke der »extracomunitari« löst bei der Erzählerin Verunsicherung aus: La mia ansia è cominciata con l’annuncio della legge Bossi-Fini: A tutti gli extracomunitari che vorranno rinnovare il soggiorno saranno prese preventivamente le impronte digitali. Ed io che ruolo avevo? Sarei stata un’extracomunitaria, quindi una potenziale criminale, a cui lo Stato avrebbe preso le impronte per prevenire un delitto che si supponeva prima o poi avrei commesso? O un’italiana riverita e coccolata a cui lo Stato lasciava il beneficio del dubbio, anche se risultava essere una pluripregiudicata recidiva? […] Perché umiliare così la gente? E perché creare scompensi in altra gente non sicura della propria identità? Quelle maledette impronte avevano svegliato in me un demone che si era assopito da tempo immemorabile. Avevo sperato che quel

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Quaquarelli, Lucia: »Chi ›siamo‹ io? Letteratura italiana dell’immigrazione e questione identitaria«, in: Lucia Quaquarelli (Hg.), Certi confini. Sulla letteratura italiana dell’immigrazione, Milano: Morellini 2010, S. 43–58, hier S. 49. Vgl. dazu auch R. Linardi: Transkulturalität, Identitätskonstruktion und narrative Vermittlung in Migrationstexten der italienischen Gegenwartsliteratur, S. 162f. I. Scego: Salsicce, S. 35.

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demone non si svegliasse mai. Ma poi sono arrivate loro: le impronte, quelle maledette, fottutissime impronte.32 Die Narration flicht auf diese Weise aktuelle politische Maßnahmen der extratextuellen Realwelt in die fiktive, semantisch verdichtete Erzählwelt ein, die – obgleich mit ironischem Unterton – als institutionalisierte Invektivität markiert werden. Dass die Erzählerin ihre Identität durch den Verzehr von Würstchen zu beweisen gedenkt, »[p]er dimostare […] di avere impronte made in Italy a denominazione di origine controllata«33 , erzeugt eine komische Wirkung. Das Gesetz dient als Aufhänger für die zuweilen absurd überzeichneten Überlegungen zur kulturellen Identität der Protagonistin, die zwar die italienische Staatsbürgerschaft besitzt, sich jedoch zugleich nicht vollständig zugehörig fühlt. Das Komische kann an dieser Stelle zum einen als Mittel begriffen werden »per rendere più avvicinabili delle vicende anche sofferte«34 . Zum anderen ist es Teil einer Referenz auf die mehrfach aufgerufene commedia all’italiana, in welche sich als typisch italienisches Genre die Charakterisierung der Hauptfigur als ›Einheimische‹ einschreibt.35 Dadurch, dass der Text insgesamt in einem leichten, ironisch geprägten Stil gehalten ist, stechen die ernsten, sarkastisch-bitteren Reflexionen, welche die Erzählerin angesichts einer Zeitungsmeldung über die Gewalt eines weißen Polizisten gegenüber einem Schwarzen Minderjährigen anstellt, besonders hervor: Sono stufa di leggere notizie così! Perché cavolo ci pestano sempre? […] Mi sento una papabile al pestaggio. Sarei perfetta, nessuno alle spalle per difendermi. Un capro perfetto, la perfetta »negra« da picchiare […] Sono nera e penso che essere neri sia una sfiga assoluta. Non c’è scampo, sei già condannato ad essere oggetto di occhiatacce di traverso – nella migliore delle ipotesi – o di pestaggi, roghi, lapidazioni, stupri, crocifissioni, omicidi – nella peggiore. […] Ci accusano di avere la coda di paglia, di invocare il razzismo alla minima sciocchezza, ma vuoi sapere una cosa? Il razzismo ahimè non è

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Ebd., S. 26. Ebd., S. 34. G. Kuruvilla: Intorno all’autobiografia, S. 115. Zur intermedialen Referenz auf die commedia all’italiana vgl. auch Bosco, Alessandro: »›Salsicce‹ in salsa postcoloniale. La riscrittura della ›Commedia all’italiana‹ in un racconto di Igiaba Scego«, in: Frank Schöpp/Sylvia Thiele (Hg.), Kultursprache Italienisch – eine Standortbestimmung, Stuttgart: ibidem 2020, S. 275–291.

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una burla. Cazzo, vorrei che fosse una megaburla globale, una farsa da internet, ma la realtà è che se sei nero devi convivere con il sospetto.36 Das Einbinden ernster Elemente und Reflexionen erfüllt im komischen Text eine mahnende Funktion, welche die Leser:innenschaft immer wieder an die gravierenden Effekte rassistisch-marginalisierender Dynamiken und Strukturen erinnert.37

Zugehörigkeit und bodies out of place in Ingy Mubiayis Concorso Ingy Mubiayis Erzählung Concorso fokussiert die postmigrantische Suche nach Zugehörigkeit auf Ebene der Figurenkonstellation – mittels zweier Schwestern, Töchter einer alleinerziehenden ägyptischen Muslima, die zwei gegensätzliche Strategien verkörpern, welche Mubiayi als »le due grandi tendenze che animano le seconde generazioni« bezeichnet.38 Die Jura-Studentin Hayat, autodiegetische Erzählerin des Textes, identifiziert sich praktisch vollständig mit der italienischen Kultur, verkehrt ausschließlich mit Italiener:innen und interessiert sich nicht für die Herkunft oder Religion ihrer Mutter, zumal diese selbst nicht praktiziert. Ihr Name ist Hayat ein Ärgernis, deutet er doch auf ihre arabische Abstammung hin; sie zöge es vor, in der italo-italienischen Gesellschaft in keinerlei Hinsicht als Tochter einer migrierten Person aufzufallen. In der Diegese befasst sie sich mit möglichen Zukunftsperspektiven und ist entschlossen, einen Beruf zu ergreifen, der ihre Integration in die italienische Gesellschaft vervollkommnet. Ihre Schwester Magda, deren Name keinerlei Rückschlüsse auf ihre Herkunft zulässt, verkörpert die zweite von Mubiayi benannte Tendenz und hat sich – offenbar erst in jüngster Vergangenheit – ganz dem Islam zugewandt. Die Mutter der beiden in Rom geborenen Mädchen stammt aus Kairo, ist nur mit den elementaren Regeln des Islam vertraut und zeigt sich laut Erzählerin verwundert, als ihre 25-jährige Tochter Magda verkündet, ein Kopftuch tragen zu wollen. Als ›runde‹ Figur verfügt sie über eine komplexe Identität, die weder ihren Herkunftskontext negiert noch auf 36 37 38

I. Scego: Salsicce, S. 33. Vgl. dazu auch die Ausführungen in G. Kuruvilla: Intorno all’autobiografia, S. 117ff. Mubiayi, Ingy: »Uno sguardo ›al contrario‹: l’ironia come strategia letteraria«, in: Silvia Camilotti (Hg.), Lingue e letterature in movimento. Scrittrici emergenti nel panorama letterario italiano contemporaneo, Bologna: Bononia University Press 2008, S. 89–105, hier S. 101.

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ihn fixiert ist. Ihre Töchter hingegen fühlen sich jeweils angehalten, eine ›Kultur‹ zu wählen, und entsprechen damit, so Mubiayi, einer gesellschaftlichen Tendenz: Ho l’impressione che viviamo in un momento storico per cui ci è richiesta con una certa insistenza di dichiarare la nostra appartenenza, o meglio una nostra identità. Quest’ultima viene considerata come finita, immutabile e legata al territorio (padani, siciliani, arabi, africani) oppure alle tendenze sessuali (orgogliosi di essere omossessuali) o ancora legata alla religione (se si è cattolici si deve votare una legge piuttosto che un’altra; se si è musulmani non si può pensare che in un modo). Queste due sorelle, quindi, non fanno altro che seguire lo stesso percorso, agitandosi in meccanismi già esistenti. Nell’interesse comune, sia degli stranieri che degli autoctoni, sarebbe opportuno lavorare per uscire da questi meccanismi.39 Bevorzugter Treffpunkt der drei Frauen ist das Badezimmer, in dem sie außerdem ihre jeweiligen präferierten Radiosendungen verfolgen, die ihren individuellen Vorlieben Rechnung tragen. Der Raum gerät auf diese Weise zum semantisch aufgeladenen Knotenpunkt der Erzählung, zum dritten Raum, in dem sich die verschiedenen Lebensentwürfe und Weltdeutungen begegnen. Im Zuge ihrer Hinwendung zum Islam erklärt Magda das Badezimmer jedoch zum Ort der Stille und untersagt dort jegliche Kommunikation, was sich metaphorisch als Abbruch eines Dialogs begreifen lässt. Im Laufe der Erzählung werden die drei Frauen jedoch in einen (vermeintlichen) Kriminalfall verwickelt, den sie nur gemeinsam aufklären können. In der letzten Szene des Textes finden sich die Figuren schließlich wieder im Badezimmer ein, wo sie erneut munter miteinander kommunizieren – das Bild löst ein, was Mubiyai als notwendige ›Synthese‹ und Versöhnung der beiden von den Schwestern verkörperten Tendenzen beschreibt, die es zu vollziehen gelte.40 Eine dynamische, verschiedene Elemente verwebende Identität, die sich kulturellen Dogmen widersetzt, kann als von der Narration postuliertes Ideal begriffen werden. Aufgrund ihrer Hautfarbe wird die Protagonistin Hayat trotz ihrer völligen Assimilation oft als ›fremd‹ gelesen, etwa im universitären Kontext, wo die Prüfer:innen sie regelmäßig für eine Erasmus-Studentin halten: »Quando spiego con perfetto accento romano che vivo qui dalla nascita, mi sembrano un

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Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 101.

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po’ imbarazzati.«41 Als Hayat sich im Laufe der Erzählung zum commissariato begibt, um sich einen Eindruck von der Institution zu verschaffen, da sie über eine berufliche Laufbahn in diesem Umfeld nachdenkt, ist der Beamte am Informationsschalter ebenfalls überzeugt, es handele sich bei ihr um eine immigrierte Person. Indem er sich eines rudimentären Italienisch bedient und die junge Frau anschreit, gibt er ihr zu verstehen, dass er sie nicht für des Italienischen mächtig hält: »Intanto che cerco di formulare una domanda moderatamente intelligente lui, scandendo e gesticolando, mi urla: ›UFFICIO STRANIERI DRITTO POI DESTRA PORTA GRANDE A DESTRA‹, e mi porge un numerino.«42 Der Umstand, dass der Beamte der Protagonistin keine Gelegenheit lässt, ihr Anliegen überhaupt zu formulieren, sowie der invektiv aufgeladene Modus, in dem er seine ›Erklärung‹ äußert, drücken seine Geringschätzung gegenüber migrierten Menschen aus, zu denen er Hayat rechnet: Wie Scegos Salsicce inszeniert auch Concorso die Auffassung, eine familiäre Migrationsgeschichte und die Zugehörigkeit zur italienischen Nation schlössen sich wechselseitig aus. Zugleich wird diese Annahme in beiden Narrationen als unzutreffend entlarvt, indem die betreffenden Figuren durch die Attribution entsprechender Gewohnheiten und Kenntnisse als ›Einheimische‹ charakterisiert werden. Auf diese Weise findet sich indirekt die Frage aufgeworfen, woran sich italianità im Sinne einer vermeintlichen ›italienischen Identität‹ knüpft.43 Darüber hinaus wird die Unsichtbarkeit postmigrantischer Individuen im öffentlichen Diskurs reflexiv gemacht: Deren Existenz in der italienischen Gesellschaft ist sich ein großer Teil der erzählten Bevölkerung aufgrund mangelnder Repräsentation augenscheinlich nicht bewusst. An der Figur Hayats, die eine vollkommene Anpassung anstrebt und die, wie die Erzählung nahelegt, lediglich aufgrund ihres Äußeren sowie ihres Namens als ›fremd‹ identifiziert wird, stellt der Text strukturelle Benachteiligungen aus, welche diese Merkmale absolut setzen. Deren Wirkmacht zeigt sich besonders in ihren Überlegungen in Hinblick auf eine mögliche Berufswahl. Trotz ihres eindeutigen Bekenntnisses zur italienischen Kultur 41 42

43

Mubiayi, Ingy: »Concorso«, in: Capitani/Coen, Pecore nere (2005), S. 109–138, hier S. 115. Ebd., S. 120. Werden im Text die administrativen Hürden migrierter Figuren innerhalb der Institutionen nur angedeutet, bilden sie in Mubiayis zweiter Erzählung innerhalb der Anthologie den Mittelpunkt: Documenti prego erzählt von der bürokratischen Odyssee einer Familie, die eine Aufenthaltsgenehmigung erlangen möchte. Zum Konstrukt einer italianità und dessen Verarbeitung in postkolonialen Texten vgl. Benvenuti, Giuliana: »L’Italianità nel tempo della letteratura della migrazione«, in: Moderna 9 (2012), S. 207–218.

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und Gesellschaft findet die Figur sich diesbezüglich mit Einschränkungen konfrontiert – nicht wegen juristischer bzw. administrativer Hürden, sondern vielmehr ob der fehlenden Akzeptanz in der Bevölkerung. Ihren Plan, Anwältin zu werden, sieht sie durch Vorbehalte aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit gefährdet, da sich, so die Sorge, kaum Klient:innen von einer Schwarzen Anwältin vertreten lassen würden: »Chi mai accetterà di essere rappresentato da un avvocato nera? Potevo pensarci prima.«44 Eine Laufbahn bei den Carabinieri schließt sie aufgrund ihrer Herkunft aus – »come farebbero a risalire al mio trisavolo e da lì giù a grappolo per tutti i familiari alla ricerca di una qualche macchia che possa contaminare il motto ›Fedeli nei secoli‹?«45 – ebenso wie eine Tätigkeit für die Camera dei Deputati: »Non me la sono proprio sentita. Mi faceva male al cuore mettere in imbarazzo tutta un’ala di onorevoli con la mia presenza: mentre loro inveiscono contro ogni tipo di contaminazione, io con il mio muso negro sarei stata una contraddizione in termini. Quindi ho lasciato perdere.«46 Der unbedingte Wunsch der Figur, potenzielle Irritationen zu vermeiden, beeinträchtigt ihren Lebensweg folglich erheblich. Einzig die Ausschreibung für die polizia dello Stato kommt für sie infrage: »Magari divento ispettore, poi commissario e via via su fino a questore. Dai, un questore donna, nera e musulmana a Roma! Sto impazzendo.«47 Der ironische Ton suggeriert, dass die Erzählerin die Idee einer Schwarzen, muslimischen questore für wenig realistisch hält. Der Schwarze, weibliche Körper in einer höheren Position wird als Bruch mit der weißen Norm verstanden, als body out of place, wie es Nirmal Puwar formuliert: »Not being the somatic norm, they don’t have an undisputed right to occupy this space.«48 Durch das Einbinden der Überlegungen Hayats in den Erzähldiskurs lässt die Narration die trotz ihrer perfekten Integration bestehenden Einschränkungen in der Berufswahl reflexiv werden und verweist zugleich auf die Unterrepräsentation von Personen nicht italo-italienischer Herkunft in öffentlichen Ämtern. Ihre arabische Abstammung, die sich in ihrem Aussehen und ihrem Namen manifestiert, empfindet die Protagonistin als Hindernis, das sie nicht

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Ebd., S. 115. I. Mubiayi: Concorso, S. 116. Ebd., S. 117. Ebd. Puwar, Nirmal: Space Invaders. Race, Gender and Bodies out of Place, Oxford/New York: Berg 2004, S. 8.

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zuletzt davon abhält, finanzielle Unterstützung durch einen sponsor anzuwerben: Chissà, se mi chiamassi Francesca o Giovanna e non avessi questo cognome che comincia per Abd, cioè servo, forse sarei più tranquilla, adesso. Se fossi una Maria Rossi non starei qui a pensare se compilare o meno questo modulo. Lo farei e aspetterei. Magari cercandomi uno sponsor. Perché avrei la certezza che nessuno inarcherebbe le sopracciglia alla vista di un cognome che significa servo e un nome con l’acca aspirata che vogliono infiltrarsi nelle libere e democratiche istituzioni. Non c’è spazio qui per servi né per acca aspirate, vorrebbe dire quel sopracciglio, quindi depennata subito, senza possibilità d’appello. Anche se siamo in uno Stato di diritto.49 Die Zweifel Hayats, aufgrund derer sie eine Karriere als Anwältin verwirft, sich weder bei den Carabinieri noch bei der Camera degli Deputati bewirbt und sich ebenso wenig einen Sponsor sucht, lassen sich als Effekte vorangegangener Ungleichheitserfahrungen in der erzählten Welt lesen. Die Erzählung macht auf diese Weise vielfältige Erfahrungen struktureller Invektivität sichtbar, die speziell das postmigrantische Individuum in seinem Lebensentwurf beeinträchtigen. Die Beschreibung gelingt umso eindrücklicher, als die Umstände aus der Perspektive einer praktisch komplett angepassten Figur geschildert werden, die selbst im erzählten Italien gängige Vorurteile und Deutungsmuster internalisiert zu haben scheint: So assoziiert die Erzählerin die ›zingari‹, denen sie im Laufe der Handlung begegnet, umgehend mit Kriminalität, spöttelt über den Glauben ihrer Schwester und fragt sich ironisch, ob langsam eigentlich alle Menschen in Rom Arabisch sprächen. Die Erzählerin, deren Vorurteile im Laufe der Narration wiederlegt werden – etwa durch die Zeichnung der Figur eines »ragazzino zingaro«50 , der sich als sympathisch und vertrauenswürdig erweist – wird so zum »occhio del lettore«, wie Mubiayi schreibt.51 Auch Hayat begegnet dem ihr ›Fremden‹ mit Skepsis, die sich jedoch als ungerechtfertigt erweist.52 Das Paradox, das durch die eigene Marginalisierungserfahrung 49 50 51 52

I. Mubiayi: Concorso, S. 119. Ebd., S. 135. I. Mubiayi: Uno sguardo ›al contrario‹, S. 102. Die Erzählperspektive setzt Mubiayi in ihren Texten bewusst ein, um den Blickwinkel zu hinterfragen und zu verkehren: In der Narration Famiglia etwa wählt sie einen weißen, männlichen Erzähler, dessen Blick auf seine Schwarze Frau bei ihrem Kennenlernen stark von exotisierenden Stereotypen beeinflusst ist, wie seine Vorstellung von ei-

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der Erzählerin bei gleichzeitiger Applikation von Stereotypen auf andere erzeugt wird, hat einen komischen Effekt zur Folge und lässt die unhinterfragte Übernahme invektiv geprägter, automatisierter Muster beobachtbar werden. An der Figur Hayats wird so zum einen die Wirkungsweise der »luoghi comuni«53 anschaulich. Zum anderen bezeugt sie, die selbst in wirtschaftlich stabilen Verhältnissen lebt, die prekären Verhältnisse der migrantischen Nebenfiguren – sowohl jene im »campo nomadi«54 , in das ihre Ermittlungen sie führen, als auch diejenigen einer migrierten alleinerziehenden Mutter ohne gültige Papiere, die nicht nur unter widrigsten Bedingungen lebt, sondern sich nicht einmal an die Polizei wenden kann, als ihr Sohn verschwindet. Die Integration der Lebensumstände dieser Figuren in die Erzählung trägt dazu bei,

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nem gemeinsamen Discobesuch zeigt: »Allora era una studentessa mulatta prossima a una laurea in Economia e Commercio, e io pensai: ›Ecco un’extracomunitaria che potrà farmi conoscere il sotteraneo mondo dell’immigrazione.‹ […] Finalmente avrei avuto il mio lasciapassare e sarei potuto entrare là dentro, in uno di quei locali con degli energumeni neri vestiti delle loro tuniche colorate con i Ray-Ban calati sul naso, e tonnellate di oro dappertutto. Avevo una gran voglia di percorrere quel corridoio buio che ti porta a una sala piena di fumo, con delle luci basse, che fanno intravedere divani di colori sgargianti tutto intorno al perimetro della sala […] E quei corpi, privi di ogni grazia se presi nella loro immobilità. Ma poi appena una nota di musica si libra nell’aria, diventano leggiadri, armoniosi. La zona pelvica ti si rivela come il luogo dove tutto ha inizio e tutto ha fine […] Insomma immaginavo maschi e femmine avvinghiati in simulazione di amplessi. E io lì in mezzo con la mia bella mulatta. Niente di ciò successe« (Mubiayi, Ingy: »La famiglia«, in: Scego, Italiani per vocazione, S. 105-117, hier S. 110ff.). Der Blick sei jener einer Person, die nicht offen rassistisch agiere, zugleich jedoch durch die Medien vermittelte Vorstellungen aktualisiere, so Mubiayi, vgl. I. Mubiayi: Uno sguardo ›al contrario‹, S. 93. Die Feststellung, dass seine Freundin sich nicht anmutig zur Musik bewegt und sie einzig keltische Tänze praktiziert, irritiert den Erzähler, wodurch die Narration zugleich metainvektive Reflexivität generiert. Ein solcher ›Perspektivenwechsel‹, in dem Schwarze Figuren und ihre Lebenswirklichkeiten aus dem Blickwinkel weißer Figuren geschildert werden, dient dabei nicht nur der Konfrontation mit Stereotypen, sondern bietet den Lesenden die Möglichkeit, dem Verstehensprozess der Perspektivträger:innen zu folgen. In der dystopischen Kurzgeschichte Lamiere von Esperance H. Ripanti beispielsweise, die 2019 in der von Scego herausgegebenen Anthologie Future publiziert wurde, wird ebenfalls ein weißer männlicher Blickwinkel eingenommen: Dort allerdings bemüht sich ein junger Mann, die Zugehörigkeitsfragen und Rassismuserfahrungen seiner Schwarzen Freundin nachzuvollziehen, wodurch die Perspektive der jungen Frau narrativ gebrochen und in einen weißen Erfahrungshorizont eingepasst wird. I. Mubiayi: Concorso, S. 113. Ebd., S. 132.

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weitere Dimensionen von migrationsbezogener Invektivität abzubilden, die nur in indirektem Zusammenhang mit der Protagonistin stehen.

Invektivität aus Außenseiterperspektive in Gabriella Kuruvillas India In Gabriella Kuruvillas Erzählung India manifestiert sich die Identitätsproblematik im Verlauf einer Indienreise, welche die Protagonistin Marly gemeinsam mit ihrem Partner unternimmt.55 Zuletzt hatte sie das Land während ihrer Kindheit in Begleitung ihres indischen Vaters besucht. Ihr damaliger Kulturschock und das damit verbundene Fremdheitsempfinden – narrativ über die olfaktorische Ebene erfasst – hatten ihren Vater zutiefst gekränkt, der, wie die Erzählerin annimmt, von einem intuitiven Zugehörigkeitsgefühl von ihrer Seite ausgegangen war: [V]enivo assalita da odori diversi da quelli a cui ero abituata. Troppo intensi e forti, a stordirmi. E infatti cercavo di non avvicinarmi a nulla e a nessuno, per mantenere una distanza di sicurezza che mi proteggesse dall’estraneo […] Non so se fosse per questo, ma mio padre era esasperato […] Non sapeva come gestirmi. E integrarmi. In quel luogo da cui era uscito, non scappato, e in cui era rientrato, portando con sé me: un pezzo del suo presente che tirava calci al suo passato. Così mi ha detto: »Con me, qui, non verrai mai più. Se vorrai ci tornerai da sola quando avrai 18 anni.«56 Indem der Vater sich in der Folge weigert, Marly in einer weiteren Auseinandersetzung mit seiner Herkunftskultur zu unterstützen, erschwert er ihr eine Annäherung und beeinträchtigt so den Individuationsprozess seines Kindes. Marlys Gefühl der Unvollständigkeit wird mehrfach im Text greifbar, wenn sie sich als »enigma da decifrare«57 beschreibt oder ihre Situation mit einem Puzzle vergleicht, das sie zusammenzusetzen versuche, »senza averne i pezzi«58 . Während etwa in Scegos Erzählung Salsicce der angedeutete intergenerationale Konflikt aus familiären Erwartungen und Rollenbildern resultiert, kommt es

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Diese in Pecore nere veröffentlichte Erzählung ist, wie die Autorin in einem Interview erklärt, eine Neubearbeitung eines Teils ihres unter dem Pseudonym Viola Chandra veröffentlichten Romans Media chiara e noccioline, der 2001 bei DeriveApprodi erschien. Kuruvilla, Gabriella: »India«, in: Capitani/Coen, Pecore nere (2005), S. 69–82, hier S. 70. Ebd., S. 78. Ebd., S. 82.

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in India durch den von väterlicher Seite herbeigeführten Bruch für die Protagonistin zu Orientierungsschwierigkeiten, insofern sie keinerlei positives Verhältnis zur indischen Kultur aufbaut:59 Das Land wird für Marly ein zu meidender Raum, zum »spazio da escludere, perché da lì ero stata esclusa.«60 Zugleich empfindet sie die Unkenntnis der Kultur jedoch als Leerstelle ihrer eigenen Identität. Daraus ensteht ein ambivalentes Gefühl gegenüber »quella cultura che non mi è mai appartenuta. E che da sempre è mia.«61 Ihre Abneigung wächst im Verlauf der Reise, zumal sie sich von der Bevölkerung ebenfalls zurückgewiesen fühlt: »La mia ostilità cresce, e viene ricambiata.«62 Die Feindseligkeit liest sie in den Reaktionen auf ihre Person – die Menschen, so Marly, starrten sie entweder an oder ignorierten sie absichtlich: Bramini che non rispondono alle mie domande, e continuano a camminare andando oltre, fingendo di non vedermi. Mentre mi chiedo: Mi ha sentito? Esisto? Migliaia di uomini, fermi nel piazzale degli autobus, che mi fissano ostinati, senza tregua, ridendo tra di loro. Portandomi a urlare esasperata, contro uno – contro nessuno – contro tutti, nel vuoto totale del troppo, dell’insostenibile: »Cosa vuoooooiiiiiiiiii?« Cosa volete? Cos’ho? Un urlo disperato che provoca altri sguardi e altre risate, come risposta.63

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Beispiele für die Darstellung intergenerationaler Konflikte finden sich neben der bereits erwähnten Erzählung Salsicce etwa in Mubiayis Kurzgeschichte Documenti prego (ebenfalls in Pecore nere, s.o.). Dort fühlt sich die Protagonistin durch die von Rollenbildern geprägten mütterlichen Erwartungen an sie als Tochter dazu angehalten, die administrativen Schritte einzuleiten, die für eine Aufenthaltserlaubnis notwendig sind – allerdings nimmt die Geschichte eine unerwartete Wendung, als die Mutter schließlich den Bruder um die Erledigung der Aufgaben bittet. In Kuruvillas Text Nero a metà hingegen, Teil ihrer Erzählsammlung È la vita, dolcezza (2008), gerät der Protagonist in Konflikt mit seinem Schwarzen Vater, der sich von seiner Herkunft vollkommen abgrenzt: »Si veste all’italiana, mangia all’italiana, pensa all’italiana. Pensa di essere italiano. Ne ha bisogno. Ha bisogno di sentirsi uguale agli altri pur essendo assolutamente diverso da loro. A volte esagera […] Non so come aiutarlo, frenarlo, riportarlo alle sue origini. Le sue origini, che faccio assolutamente mie. Mi assumo la responsabilità di essere un nero, essendo un meticcio. Esagero anch’io« (Kuruvilla, Gabriella: »Nero a metà«, in: Kuruvilla, È la vita, dolcezza (2014), S. 23–33, hier S. 31f.). G. Kuruvilla: India, S. 70. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Ebd.

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Die Hoffnung, dank ihres Äußeren, das sie als ›typisch indisch‹64 bezeichnet, nicht aufzufallen oder gar als ›zugehörig‹ wahrgenommen zu werden, bewahrheitet sich nicht. Verhalten und Kleidungsstil markieren Marly als ›Touristin‹ aus dem Westen; der einzige Status der ihr, wie sie feststellt, entspricht, und auf den sie sich beruft, wenn sie demonstrativ auf der Straße raucht, im Bikini baden geht und sich dezidiert westlich kleidet.65 Die ostentative Ablehnung der in der erzählten indischen Gesellschaft vorherrschenden Normen und Werte lässt sich als Respons auf die als invektiv aufgefassten Blicke begreifen, die ihr eine Zugehörigkeit zum väterlichen Herkunftskontext abzusprechen scheinen; ein Wunsch, den die Erzählerin explizit äußert: »Ma io volevo essere considerata una di loro, uguale a loro. Mentre gli sbattevo in faccia la mia diversità […].«66 Die damit einhergehende psychische Belastung konkretisiert sich im Text symbolisch im physischen Befinden der Protagonistin, die auf der Reise erkrankt. Einzig ihr Freund Davide stellt für sie aufgrund seines Interesses an der indischen Kultur eine Brücke zu den Einheimischen dar: Er wird auf diese Weise als Mittlerfigur inszeniert, welche die Aufgabe des überforderten Vaters übernimmt. Das beschriebene Oszillieren zwischen Un- und Übersichtbarkeit infolge ihrer Alterität sowie der Ablehnung aufgrund ihrer Erscheinung verbindet Marly mit weiteren randständigen Figuren. Ihre spezielle, biographisch bedingte ›Außenseiterrolle‹ und die Sensibilisierung für die Belange immigrierter Menschen durch ihren Vater suggerieren der Erzählerin sowohl in Italien als auch in Indien die Identifikation mit marginalisierten Personen, an deren Schicksal sie emotional Anteil nimmt. Im italienischen Kontext reagiert sie besonders empathisch auf die Herabwürdigungserfahrungen migrierter Menschen: Sfido continuamente. Ma cedo quando, in Italia, lo straniero, l’emarginato è l’altro. È l’escluso che cerca di integrarsi, e che viene trattato con disprezzo o compassione. È colui che, comunque, chiede l’elemosina: chiede qualcosa che solo l’altro può dargli. Quindi dipende. È mancante: e mentre mi identifico vorrei colmare la sua mancanza, per renderlo completo. […] E guardando gli extracomunitari più emarginati, in Italia, mi commuovo […]. [V]edo la sofferenza di mio padre. Il suo sradicamento. Vedo la soffe-

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Ebd., S. 75. Vgl. ebd., S. 74. Ebd., S. 73.

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renza di un ragazzo appena arrivato in Italia che, da benestante e rispettato, si ritrova povero e umiliato: da un professore di medicina che appoggia i piedi sulla scrivania, davanti a lui, mentre lo interroga. E, inesorabilmente, lo boccia. Vedo la sofferenza di un medico che vuole diventare primario, e che la mattina ritrova la sua auto bruciata: è più che un avvertimento.67 Ausprägungen struktureller Invektivität bzw. Herabwürdigungen in der interpersonalen Kommunikation, mit denen sich nach Italien immigrierte Menschen konfrontiert sehen, erhalten solchermaßen Einzug in den Text, der den postmigrantischen Blick als außergewöhnlich geschärft für die Invektiverfahrungen dieser Personengruppe inszeniert. Durch die anaphorische Rhythmisierung wird die exemplarische Aufzählung der Situationen, die vom Rassismus der italienischen Gesellschaft und dem prekären Status der Eingewanderten zeugen, innerhalb der Erzählung akzentuiert, welche auf diese Weise metainvektive Reflexivität generiert. Die eigenen oder familial vermittelten Erfahrungen bedingen eine starke emotionale Involvierung, der die Rezipierenden durch die Perspektivierung der Narration zu folgen eingeladen werden. Vor allem zu Menschen aus dem afrikanischen oder indischen Kontext verspüre sie große Verbundenheit, erklärt die Erzählerin: »[O]gni volta che vedo un indiano o un africano, in Italia, spero che mi riconosca: che veda in me una della sua famiglia, una figlia.«68 Der letzte Zusatz macht klar, dass auch für diese Empfindung der Verlust der väterlichen Unterstützung in den Identitätskämpfen ausschlaggebend ist. Die Invektivität, welche die Erzählerin in Indien perzipiert, wird durch die parallele sprachliche Gestaltung – die Strukturierung des Textes mittels Anaphern – zur Beschreibung der in Italien beobachteten Herabsetzungen in Bezug gesetzt. Im indischen Kontext identifiziert Marly sich mit einem schmutzigen, bettelnden Mädchen in zerrissenen Kleidern, das eine Maus an einer aus Schnur gefertigten Leine mit sich führt, wofür es von den Händlern angespuckt wird. In diesem Bild verdichtet sich für die Erzählerin ihr eigenes Gefühl des Ausgestoßen- und Geächtetseins. Dass das Vergleichssubjekt ein Kind ist, verleiht zum einen dem Handeln der erwachsenen Figuren zusätzliches invektives Potenzial, zum anderen wird so ein Bezug zur erzählten Biographie hergestellt, insofern Marly sich seit ihrer Kindheit aus dem kulturellen

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Ebd., S. 77. Ebd.

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Erfahrungsraum ihres Vaters ausgeschlossen fühlt:69 »E ho dissolto lo sguardo perché mi sentivo troppo simile a lei, e temevo che tutti se ne accorgessero«, erklärt die Erzählerin ihre Reaktion auf das Mädchen.70 Die Ähnlichkeitsbeziehung, die nach Ansicht Marlys zwischen ihr selbst und dem Kind besteht und die auf den marginalisierten Status abzielt, versucht die junge Frau zu verschleiern: Das Gefühl der Ausgrenzung, das sich an dieser Stelle im Text manifestiert, lässt die Figur mit ihrem Wunsch nach Zugehörigkeit verletzlich wirken, während die zur Schau getragene, provokative Ablehnung als Bewältigungsstrategie markiert wird, die greift, als ihr die Vermeidung der väterlichen Herkunftskultur nicht mehr möglich ist. Neben dem invektiv strukturierten Kastensystem fokussiert die Erzählerin vorrangig auf die inferiore Position der Mädchen und Frauen in der indischen Gesellschaft. Von dieser will Marly sich deutlich abgegrenzt wissen, was sie durch ihre Körpersprache zu vermitteln sucht: »E ho mantenuto lo sguardo, per sentirmi assolutamente diversa da loro, e volevo che tutti se ne accorgessero.«71 Der syntaktische Parallelismus zwischen der Beschreibung der Begegnung mit dem kleinen Mädchen und jener mit den indischen Frauen akzentuiert die Verbindung zwischen den beiden Situationen, in denen Marly bemüht ist, ihrer Außenwelt non-verbal etwas über sich selbst zu kommunizieren bzw. zu verbergen. Die Wahrnehmung durch die anderen erweist sich zumal in Indien für die Protagonistin, die sich zu positionieren sucht, als essentiell. Beschreibungen von Invektivkonstellationen und invektiven Dynamiken in verschiedenen Kontexten durchziehen den gesamten Text: In Hinblick auf Goa, das die Erzählerin als »colonizzato dagli occidentali«72 bezeichnet, betont Marly vor allem die Marginalisierung der indischen Personen, die einzig der Bewirtung der westlichen Gäste dienten: »Gli indiani, visti come corpo estraneo alla loro stessa patria, sembrano esistere solo per offrire servizi […] La loro presenza dà comunque fastidio. Come sugli autobus del Sudafrica, in pieno apartheid, vengono tollerati solo se stanno al loro posto: quello più scomo69

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Vgl. dazu die Passage, in der Marly ihr Verhältnis zu Indien infolge der väterlichen Reaktion beschreibt: »Quella terra, per me, per troppi anni, ha rappresentato uno spazio irraggiungibile, irreale e immaginario, quasi magico: talmente impalpabile, e inafferrabile, da sembrarmi inconsistente, e inesistente. Uno spazio da evitare con cura, da aggirare. Da non conoscere: cancellare. Uno spazio da escludere, perché da lì ero stata esclusa«, ebd., S. 71. Ebd., S. 74. Ebd. Ebd., S. 78.

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do.«73 Zugleich verweist sie auf den sexualisierten Blick der indischen Männer auf westliche Frauen, die in Bikinis am Strand liegen und von ersteren um gemeinsame Fotos gebeten werden. Auch Marly, die in Badekleidung Bier trinkt, lässt einen jungen Mann ein Foto mit sich schießen, mit dem dieser ihrer Interpretation nach ironischerweise bei seinen Freunden prahlen werde, er sei mit einer »ragazza straniera« zusammen gewesen: »Vorrei dirglielo: ›Fesso, potrei essere tua sorella.‹ Potrei. Ma non mi capirebbe. Non conosco l’hindi, balbetto l’inglese, parlo solo italiano.«74 Nach ein paar Tagen, so Marly, sei ihre Haut so dunkel gewesen, dass keiner mehr eine Aufnahme mit ihr habe machen wollen. Die Figur bleibt im Zwischenraum verortet, in dem sie sich aufgrund der Diskrepanz zwischen ihrer kulturellen Sozialisierung und ihrem Erscheinungsbild befindet und das sich im erzählten Raum manifestiert: Der Text endet mit einem Aufenthalt des Paares in Kovalam »che non è ancora Goa ma non è già più India.«75

Abschließende Betrachtungen Ein grundsätzliches Verdienst dieser drei Erzählungen besteht darin, dass sie einen Beitrag zur bis dahin rudimentären diskursiven Präsenz postmigrantischer Subjekte leisten. Auffällig ist der starke Fokus auf den Aspekt der Identitätskonstruktion, »un’attenzione tematica quasi ossessiva alla questione identitaria«,76 die sich innerhalb spezifischer soziokultureller Umstände vollzieht und geprägt ist durch Aus- bzw. Abgrenzungsdynamiken. In der interpersonalen Begegnung formiert sich das Subjekt, wobei es sich mit Fremdzuschreibungen konfrontiert sieht. Beeinflusst werden die Figuren in der italienischen Gesellschaft zuweilen durch stark rassistisch geprägte Invektivkommunikation, zuweilen durch das Infragestellen ihrer Zugehörigkeit, wenn ihnen etwa durch die Frage nach der Herkunft signalisiert wird, dass sie als ›fremd‹ gelesen werden. Etwaige familiäre bzw. intergenerationale Konflikte, die eine Auseinandersetzung mit dem elterlichen Herkunftskontext einfordern oder verhindern, beeinflussen den Individuationsprozess der überwiegend jungen

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Ebd. Ebd, S. 78. Ebd., S. 81. L. Quaquarelli: Chi ›siamo‹ io?, S. 45.

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Charaktere: Indem beispielsweise der Protagonistin in Scegos Erzählung Salsicce von beiden Seiten eine vollständige Zugehörigkeit abgesprochen wird, gerät sie in eine Identitätskrise. Die Wirkmacht solcher Fremdzuschreibungen wird durch den Einsatz einer autodiegetischen, postmigrantischen Erzählinstanz anschaulich, deren Erleben die Leser:innenschaft folgt. Die Narrationen lassen auf diese Weise den Einfluss herabwürdigender Kommunikationsakte auf das Individuum reflexiv werden und legen zudem das invektive Potenzial vermeintlich harmloser Verhaltensweisen offen – wie der omnipräsenten Frage nach der Herkunft. Ausführliche Kommentare und begleitende Erläuterungen der Ich-Erzählerinnen schlüsseln die Verletzungserfahrungen sowie die beeinträchtigten Selbstwerdungsprozesse für die Leser:innenschaft politisch auf und arbeiten auf diese Weise der bisweilen explizit didaktischen Ausrichtung der Erzählungen zu. Die speziellen Herausforderungen postmigrantischer Adoleszenz werden also durch die Verarbeitung in kulturellen Artefakten, nicht zuletzt literarischen Texten, in die gesellschaftliche Diskussion eingespeist, wodurch bislang marginalisierte Perspektiven ins Bewusstsein der italo-italienischen Leserschaft gelangen. Durch die Inszenierung komplexer postmigrantischer Identitäten als Teil der italienischen Gesellschaft portraitieren die Texte einen sozialen Wandel. Binär strukturierte Deutungsmuster die zwischen ›italienisch‹ und ›fremd‹ unterscheiden, werden in den Erzählungen, deren Protagonistinnen unstrittig als ›Einheimische‹ gelten müssen, delegitimiert. Sowohl die sprachliche Gestaltung – etwa die von Clarissa Clò identifizierten stilistischen Charakteristika, nämlich »the skilled manipulation of Italian language, local dialects, and youth jargon«77 – als auch die Ortskenntnisse der Figuren, ihr kulturspezifisches Wissen, die Verweise auf italienische Medienprodukte etc., tragen implizit zur Hinterfragung einer vermeintlich homogenen italianità bei. Indem in den verschiedenen Erzählungen individualisierte Figuren mit je eigenen Lebensentwürfen und -realitäten auftreten, wird einer monolithischen Wahrnehmung als ›stranieri‹ widersprochen – »non esiste uno straniero doc come non esiste un italiano doc a meno che l’italiano doc non sia riconoscibile nella macchietta: ›mafia, spaghetti e mandolino‹«, schreibt Gabriella Kuruvilla.78 Deutungsmuster, wer oder was als ›italienisch‹ gelten kann, werden in den Texten unterlaufen und potenziell modifiziert; die Bedeutsamkeit der Kategorie der ›ethnischen Herkunft‹ wird kritisch reflexiv gemacht. Schwierigkeiten, 77 78

C. Clò, S. 278. G. Kuruvilla: Intorno all’autobiografia, S. 115.

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mit denen sich die postmigrantischen Protagonist:innen konfrontiert finden – etwa die Figur Hayats, die sich in ihrer Berufswahl eingeschränkt sieht – lassen die ›unsichtbare‹ weiße Norm augenfällig werden und weisen auf die Unterrepräsentation rassifizierter Personen in bestimmten Rollen bzw. sozialen Positionen hin. Strukturelle Benachteiligung spielt dabei ebenso eine Rolle wie gesellschaftlich sedimentierte Invektivität in Form verbreiteter Deutungsmuster, die, so die Sorge der Hauptfigur des Textes Concorso, ihr eine Karriere als Schwarze Anwältin vereiteln würden. Diese Umstände prangert Scego auch in der nota della curatrice zu dem 14 Jahre später publizierten Erzählband Future an, die sie als modernes J’accuse verstanden wissen möchte: »La nostra scuola, la nostra università, la nostra letteratura, la nostra politica è bianca. È raro trovare un professore universitario afrodiscendente, un maestro di scuola musulmano, una scrittrice di origine cinese, una banchiera che viene dal Bangladesh.«79 Auch die rechtliche Situation habe sich kaum verbessert, erklärt sie unter Verweis auf die legge Bossi-Fini und das weiterhin geltende ius sanguinis, die bereits in Pecore nere als invektive Praktiken thematisiert werden.80 In Future, das Texte neuer literarischer Stimmen vereint, schlägt die Autorin also bereits im Vorwort kämpferische und anklagende Töne an, während sich die in Pecore nere versammelten Erzählungen in weiten Teilen durch den von den Herausgebenden erbetenen leichten, ironischen Stil auszeichnen.81 Diese komischen Elemente können zum einen als Zugeständnis an die Rezipierenden begriffen werden, deren Lektüreerlebnis sich auf diese Weise trotz problembehafteter Thematiken potenziell amüsant gestaltet. Das gemeinsame Lachen, das durch die ironischen Spitzen hervorgerufen wird, welche die Erzählinstanzen zuweilen gegen andere, zuweilen gegen sich selbst richten, provoziert darüber hinaus tendenziell einen Sympathiezuwachs gegenüber den postmigrantischen Erzählerinnen und wirkt gemeinschaftsstiftend. Zum anderen kann der Einsatz von Humor als Form des Coping begriffen werden; als Strategie also, die den Erzählenden Distanznahme zum erzählten 79 80

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I. Scego: Nota della curatrice, S. 15. Kolonialismusbezüge, wie sie vermehrt in späteren Erzählungen hergestellt werden, sind in der Anthologie von 2005 noch seltener und impliziter u.a. in Scegos Salsicce, vgl. dazu etwa A. Bosco: ›Salsicce‹ in salsa postcoloniale. In den vorangegangenen Jahren, so Scego, hätten auf der literarischen Bühne kaum neue postmigrantische Schriftstellerinnen debütiert, vielmehr habe sich die postmigrantische kulturelle Produktion in andere Bereiche wie die Musik verlagert, vgl. I. Scego: Nota della curatrice, S. 14.

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Invektivgeschehen ermöglicht, Ausdruck einer »voglia di allontanarsi da un dolore.«82 In den betrachteten Texten verebbt die Komik jedoch, wenn über prekäre Lebensbedingungen oder Invektiv- sowie Gewalterfahrungen anderer berichtet wird. Indem die Erzählungen sowohl postmigrantische als auch migrationsbezogene Invektivität und gesellschaftliche Ungleichheit ganz allgemein thematisieren, werden sie zu kritischen Medien, die gesellschaftliche Missstände reflexiv werden lassen. Aus diesem Grunde finden die Narrationen aus Pecore nere längst in der Schule u.a. im Italienischunterricht Einsatz, zuweilen als didaktisch aufbereitetes Lektürematerial, um Diskussionen über Themenkomplexe wie ›Identität‹, ›interkulturellen Dialog‹ oder ›Postkolonialismus‹ anzuregen.83 Die Texte verfügen dadurch über eine relativ große Reichweite und leisten so einen metainvektiven Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs über den sozialen Wandel in Italien, auf den sie zugleich selbst Einfluss nehmen.

Bibliografie Ali Farah, Ubah Cristina: Il comandante del fiume, Roma: 66thand2nd 2014. Benvenuti, Giuliana: »L’Italianità nel tempo della letteratura della migrazione«, in: Moderna 9 (2012), S. 207–218. Bosco, Alessandro: »›Salsicce‹ in salsa postcoloniale. La riscrittura della ›Commedia all’italiana‹ in un racconto di Igiaba Scego«, in: Frank Schöpp/ Sylvia Thiele (Hg.), Kultursprache Italienisch – eine Standortbestimmung, Stuttgart: ibidem 2020, S. 275–291. Camilotti, Silvia: »A dieci anni da ›Pecore nere‹, continuità e svolte«, in: mediAzioni 19 (2016), http://mediazioni.sitlec.unibo.it. Capitani, Flavia/Emanuele Coen (Hg.): Pecore nere. Racconti, Roma: Laterza 2005.

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Ebd., S. 117. Vgl. dazu auch die Ausführungen in A. Bosco: ›Salsicce‹ in salsa postcoloniale, sowie in Cicala, Domenica Elisa: »Didattica della letteratura in chiave interculturale. ›Pecore nere‹: Identità multiple tra culture e società«, in: Julia Blandfort/Magdalena Silvia Mancas/Evelyn Wiesinger (Hg.), Minderheit(en): Fremd? Anders? Gleich? Beiträge zum XXVII. Forum Junge Romanistik in Regensburg (15.-18. Juni 2011), Frankfurt a.M.: Peter Lang 2013, S. 97–107.

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Cicala, Domenica Elisa: »Didattica della letteratura in chiave interculturale. ›Pecore nere‹: Identità multiple tra culture e società«, in: Julia Blandfort/ Magdalena Silvia Mancas/Evelyn Wiesinger (Hg.), Minderheit(en): Fremd? Anders? Gleich? Beiträge zum XXVII. Forum Junge Romanistik in Regensburg (15.-18. Juni 2011), Frankfurt a.M.: Peter Lang 2013, S. 97–107. Clò, Clarissa: »Hip Hop Italian Style. The Postcolonial Imagination of SecondGeneration Authors in Italy«, in: Cristina Lombardi-Diop/Caterina Romeo (Hg.), Postcolonial Italy. Challenging National Homogeneity, New York: Palgrave Macmillan 2012, S. 275–291. King, Vera: »Adoleszenz und Ablösung im Generationenverhältnis. Theoretische Perspektiven und zeitdiagnostische Anmerkungen«, in: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 5 (2010), S. 9–20. Koschorke, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012. Kuruvilla, Gabriella: »India«, in: Flavia Capitani/Emanuele Coen (Hg.), Pecore nere. Racconti, Roma: Laterza 2005, S. 69–82. Kuruvilla, Gabriella: »Intorno all’autobiografia. L’uso dell’ironia nella rappresentazione di sé e degli altri«, in: Silvia Camilotti (Hg.), Lingue e letterature in movimento. Scrittrici emergenti nel panorama letterario italiano contemporaneo, Bologna: Bononia University Press 2008, S. 107–123. Kuruvilla, Gabriella: Milano, fin qui tutto bene, Roma: Laterza 2012. Kuruvilla, Gabriella: È la vita, dolcezza, Milano: Morellini 2014. Kuruvilla, Gabriella: »Nero a metà«, in: Gabriella Kuruvilla, È la vita, dolcezza, Milano: Morellini 2 2014, S. 23–33. Kuruvilla, Gabriella, Interview von Lorenzo Mari vom 11.03.2016, https://newit alians.eu/wp-content/uploads/2016/05/Kuruvilla.pdf. Linardi, Romina: Transkulturalität, Identitätskonstruktion und narrative Vermittlung in Migrationstexten der italienischen Gegenwartsliteratur. Eine Analyse ausgewählter Werke von Gabriella Kuruvilla, Igiaba Scego, Laila Wadia und Sumaya Abdel Qader, Frankfurt a.M./New York: Peter Lang 2017. Lombardi-Diop, Cristina/Caterina Romeo: »Italy’s Postcolonial ›Question‹. Views from the Southern Frontier of Europe«, in: Postcolonial Studies 18 (2015), S. 367–383. Masri, Muin Madih u.a.: Amori bicolori. Racconti, Roma/Bari: Laterza 2008. Mubiayi, Ingy/Igiaba Scego (Hg.): Quando nasci è una roulette. Giovani figli di migranti si raccontano, Milano: Terre di mezzo 2007.

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Spazi di conflittualità Amiche per la pelle di Laila Wadia Lara Michelacci

La presenza di donne e uomini migranti nelle società europee, e nel nostro caso in quella italiana, ci spinge oggi a porci domande su quelle pratiche culturali e situazioni quotidiane che riattivano la porosità e la commistione culturale, artificiosamente negata dai nazionalismi e dalla costruzione di »comunità immaginate«, nell’idea che il pluralismo culturale nelle società contemporanee sia un dato di fatto: il conflitto si verifica nella capacità e nella volontà di riconoscerlo o meno.1 Gli spazi e la territorialità costituiscono, dunque, il sostrato di conflitti che si misurano nel quotidiano anche per rispondere alle domande identitarie di chi vive in una società dove i confini si sfilacciano e dove il confronto con l’Altro/Altra spesso sfocia nell’attivazione di contese per l’occupazione degli spazi pubblici o privati, come le piazze, i centri storici o le case popolari. Si tratta di una conflittualità culturale che spesso produce forme invettive, scontri aperti per una prossimità che rende problematico il vivere con culture diverse. Da qui l’istanza di alcune scritture migranti nei confronti di una società italiana che tende all’esclusione e a relegare ai margini, nelle periferie o nei luoghi abusivi. Tuttavia alcune scritture sembrano evocare tipologie diverse di comunità

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Miceli, Simona: Un posto nel mondo. Donne migranti e pratiche di scrittura, Cosenza: Pellegrini 2019, p. 20. Miceli fa riferimento al concetto di ›comunità immaginate‹ elaborata da Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York: Verso 1983 (poi nell’edizione aggiornata del 2006) e al lavoro di Rebughini, Paolo: In un mondo pluralista. Grammatiche dell’interculturlità, Torino: Utet 2014.

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anche per l’impegno, spesso delle figure femminili, nel cercare una lingua comune e un codice interpretativo che consenta di non archiviare la cultura di origine e di integrare le varie forme di diversità. Le ragioni di questo saggio si esplicano soprattutto nel tentativo di cercare una risposta allo sgretolamento identitario di fronte alla violenza epistemologica della ›società di arrivo‹. Lo spazio appare come il luogo privilegiato del conflitto e dell’invettiva ma anche la possibile risposta con la formazione di comunità inedite e che agiscono dal margine. Per tali ragioni appare emblematico il caso di Amiche per la pelle (2007) di Laila Wadia,2 narratrice, interprete e docente presso l’Università di Trieste, dove si è trasferita nel 1986. Nel 2010 pubblica Come diventare italiani in 24 ore. Il diario di un’aspirante italiana,3 nel quale si immagina cosa dovrebbe fare un immigrato per ottenere il QI (quoziente d’italianità) se avesse solo 24 ore di tempo a disposizione. In tal modo ironizza sugli stereotipi che popolano un certo mondo di fare ›italiano‹ nei confronti dei migranti e soprattutto »smantella con ironia graffiante la confortante arretratezza del senso comune nazionale«.4 Alla vigilia dei festeggiamenti per il 150° anniversario dell’Unità, la presunta domanda di D’Azeglio sul »fare gli italiani«5 si trasforma in un ironico rovesciamento delle parti, dove chi guarda riconosce la frantumazione di una identità continuamente messa in crisi dai particolarismi e dalle differenze fra nord e sud. Lo stesso discorso vale per la lingua che è il tramite di quel senso di ›appartenenza‹ che si oppone alla ›politica di appartenenza‹ e stabilisce, come dicevamo, delle ›comunità immaginate‹ sotto l’egida di confini definiti.6 Wadia che di professione è anche traduttrice, e quindi conosce i meccanismi di acquisizione della lingua, assume una posizione metadiscorsiva: »Quando...ho deciso di scrivere in italiano – ha dichiarato – […] ho detto: ›Voglio fare parte, non voglio usare la lingua, voglio che la lingua usi me‹. E lì ho deciso di fare un investimento, lì è stato, credo, il momento... la scrittura come... mo-

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Wadia, Laila: Amiche per la pelle, Roma: edizioni e/o 2007. Wadia, Laila: Come diventare italiani in 24 ore. Il diario di un’aspirante italiana, Siena: Barbera 2010. Pezzarossa, Fulvio/Gazzoni, Andrea: »Tra le righe migranti«, in: Nigrizia 129 (2011), pp. 41–56, qui p. 47. Hom, Stephanie Malia: »On the Origins of Making Italy. Massimo D’Azeglio and ›Fatta l’Italia, bisogna fare gli Italiani‹«, in: Italian Culture 31 (2013), pp. 1–16. Sul concetto di ›italianità‹ si veda Benvenuti, Giuliana: »L’italianità nel tempo della letteratura della migrazione«, in: Moderna 14 (2012), pp. 207–218.

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mento di voler far parte«7 . In tal modo si può riattivare il meccanismo di trasmigrazione della cultura e fare in modo che »lo spazio-tempo postcoloniale«8 si trasformi in un luogo dove sia possibile »decostruire e trasgredire l’idea che la differenza distingua e divida«9 nell’ottica, come ha visto Fulvio Pezzarossa, di »ridisegnare ovunque situazioni ispirate alle dislocazioni, ai transiti e ai flussi«10 . Per Lucia Quaquarelli, »gli scrittori migranti italiani si esprimono fin da subito in direzione più del riconoscimento del valore interculturale e interlinguistico della lingua letteraria che in termini di conquista, riscrittura e rivincita«11 . Tale fattore distingue il panorama italiano da quello europeo, ad esempio anglosassone e francofono, perché la letteratura italiana ha avuto un ruolo fondamentale nella costruzione dello stato unitario e quindi delle forme narrative che hanno tenuto insieme, anche concettualmente, il territorio e la lingua.12 Soprattutto negli anni Novanta la produzione culturale dei migranti si è collocata all’interno di una esclusiva funzione sociale ed educativa relegata alla periferia della letteratura nazionale e considerata terreno marginale di studio e proposte editoriali. La letteratura migrante degli esordi, infatti, celebra la lingua italiana e il messaggio interculturale sotteso ai testi. Come ha osservato Graziella Parati, Italian has become the language shared by many groups of migrants from Africa, Asia and eastern Europe, groups that do not share any other common language. The narratives created in Italian by migrants themselves define their present history and the history of migration, and address a large reading public. The need to respond to the alarmist discussions of invading foreign identities makes it impossible for migrant writers to write in any other language than Italian.13

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Le parole di Wadia sono riportata in S. Miceli, Un posto nel mondo, p. 182. Ibid. L. Quaquarelli, Lucia: Narrazione e migrazione, Milano: Morellini 2015, p. 85. Pezzarossa, Fulvio: »Altri modi di leggere il mondo. Due decenni di scritture uscite dalle migrazioni«, in: Fulvio Pezzarossa/Ilaria Rossini (a cura di), Leggere il testo e il mondo. Vent’anni di scritture della migrazione in Italia, Bologna: Clueb 2011, pp. VII-XXXIII, qui p. IX. L. Quaquarelli: Narrazione e migrazione, p. 66. Ibid., p. 12. Parati, Graziella: Migration Italy. The Art of Talking Back in a Destination Culture, Toronto: University of Toronto Press 2005, p. 59.

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Una posizione di fatto opposta a quella di Laila Wadia che, in qualità di traduttrice, conosce le valenze semantiche e utilizza la lingua come campo di sperimentazione per superare il concetto stesso di confine e di appartenenza territoriale. In un’intervista a Simona Miceli ha dichiarato: Mi piace contaminare la lingua italiana, che trovo molto bella, con metafore e colori diversi. Perché secondo me... io vedo il mondo... con occhi diversi, vedo colori diversi da una persona che vive qua, se io vedo rosso, per me è un rosso vermiglione. Ci sono persone che non sanno neanche cos’è il vermiglione, no? Se vedo il giallo, per me è il giallo curcuma. E quindi io ho questo retaggio di... di metafore diverse, di percezioni diverse, di peso diverso dato anche alle parole. [...] Entra in gioco questa ibridizzazione, cioè questa voglia di mescolare, innestare, sperimentare e... non giusto per, non per essere la novità e per strabiliare, ma per riflettere quello che veramente sei: una persona dalla doppia, tripla, quadrupla identità, no? [...] Io, se mi devo definire, credo di definirmi una scrittrice post-nazionale e trans-lingue.14 Da questa prospettiva, Amiche per la pelle (edizioni e/o 2007) di Laila Wadia può essere assunto come case-study per la rappresentazione identitaria e per la stratificazione dei conflitti necessariamente giocati su molteplici piani: lingua, cultura e percezione del sé.15 ›L’identità‹,16 infatti, sostiene Stuart Hall,

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Le parole di Wadia sono riportate in S. Miceli: Un posto nel mondo, p. 182. Un concetto che Wadia ribadisce anche nella recente intervista in occasione dell’uscita del suo nuovo romanzo Il giardino dei frangipani: »Le parole, per me, sono un’arma: un’arma di emancipazione, di inclusione e di difesa. Senza, mi sono trovata spesso inerme, esposta, fragile. Nella mia cultura di origine, molta enfasi viene posta anche sulla sacralità delle parole: non vengono spese giusto così, perché sono un dono concesso soltanto a noi esseri umani. Coniugando questi due concetti, le parole sono un’arma sacra, non un attacco, ma una difesa dal male« (Concorso Letterario Lingua Madre, disponibile online all’indirizzo: https://concorsolinguamadre.it/il-giardino-dei-frangipani-di-laila-wad ia/). Quaquarelli, Lucia: »Rappresentazione del conflitto nella letteratura italiana della migrazione«, in: Italies 4 (2010), pp. 401–410. Sulle problematicità della discussione si veda Remotti, Francesco: L’ossessione identitaria, Roma/Bari: Laterza 2010, e Camilotti, Silvia: Ripensare la letteratura e l’identità. La narrativa italiana di Gabriella Ghermandi e Jarmila Očkayová, Bologna: Bononia University Press 2012, pp. 7–72.

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deve passare attraverso »the narrow eye of the needle of the other«17 prima di costruirsi e affermare sé stessa. Per tale motivo Wadia mette in scena le dinamiche di uno spazio condominiale capace di rappresentare il microcosmo del conflitto.18 Da questa angolatura, infatti, si misurano più da vicino le disparità sociali e i conflitti linguistici che spesso si confrontano sui gesti quotidiani e nelle aree comuni. Già James Graham Ballard con Il condominio (1975) aveva raccontato la suddivisione degli spazi come metafora del potere e come predominio economico, in una gerarchia rigorosamente predefinita.19 Wilder, uno dei protagonisti del romanzo di Ballard, riconosce con precisione ciò che genera ingiustizia: della vita nel suo condominio, era il modo in cui un insieme apparentemente omogeneo di professionisti ad alto reddito si era strutturato in tre campi disuniti e ostili. Le vecchie suddivisioni sociali, basate su potere, capitale ed egoismo, si erano riaffermate anche lì come in qualsiasi altro posto. Di fatto, il grattacielo si era già suddiviso nei tre gruppi sociali classici, la classe inferiore, la classe media, la classe superiore.20 Con Ballard assistiamo allo slittamento »dall’individuo, dall’identità stabile che esercita la sua funzione in insiemi contrattuali, alla persona che recita dei ruoli nelle tribù affettive«.21 In questo caso la comunità si spezza, con l’infrazione dei principi sociali sul controllo della violenza, e la deriva di quella apparente 17

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Hall, Stuart: »Cultural Identity and Diaspora«, in: Jonathan Rutherford (a cura di), Identity. Community, Culture, Difference, London: Lawrence and Wishart 1990, pp. 222–237, qui p. 225. Si veda il caso del condominio, definito da Cancellieri il ›Mondominio‹, di Porto Recanati prevalentemente abitato da migranti; cfr. Cancellieri, Adriano: »Towards a Progressive Home-Making: The Ambivalence of Migrants’ Experience in a Multicultural Condominium«, in: Journal of Housing and the Built Environment 32 (2017), pp. 49–61. Cfr. Marrone, Gianfranco: Figure di città. Spazi urbani e discorsi sociali, Milano: Mimesis 2013, p. 17, e sui luoghi dove si relegano i fantasmi dell’alterità si veda Bauman, Zygmunt: Vite di scarto, Roma/Bari: Laterza 2005. Ballard, James Graham: Il condominio, Milano: Feltrinelli 2003, p. 58. L’accostamento a Ballard si deve a Taddeo, Raffaele: »Il condominio spazio ritrovato nella letteratura della migrazione?«, in: El Ghibli 6, 26 (2009), il saggio, senza numerazione di pagine, è consultabile online all’indirizzo: https://archivio.el-ghibli.org/index.php%3Fid=1&issue= 06_26§ion=6&index_pos=2.html. Si veda anche il romanzo di Perec, George: La vie mode d’emploi, Paris: Hachette 1978. Maffesoli, Michel: Il tempo delle tribù. Il declino dell’individualismo nelle società postmoderne, Milano: Guerini Studio 2004, p. 23.

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e gerarchica comunità verticale non fa altro che associare la decadenza dell’individuo alla decadenza dello spazio che, però, non porta alla percezione di un senso. Per Robert Laing, uno dei protagonisti della vicenda, l’unica soluzione è l’attesa insignificante sul balcone del condominio mentre consuma il cosciotto del suo cane alsaziano.22 Nel romanzo di Laila Wadia la suddivisione per ordini e gerarchie è proiettata sulla città: Il centro storico di Trieste incorpora tre tipologie di case. L’elegante Borgo Teresiano sfoggia imponenti palazzi color pastello. […] Poi c’è la Città vecchia con le sue vie strette in un abbraccio popolano, le sue palazzine degradate […]. [V]ia Ungaretti appartiene ad una terza fascia del centro storico, quella di cui parrebbe che sia il sole che il Comune si siano dimenticati. […] A differenza delle altre case nella via, che si appoggiano l’una contro l’altra come i vecchi nell’autobus per non cadere, la palazzina al numero 25, una volta color malva, è a sé stante. È tozza e sciatta, come una donna che si è lasciata andare con gli anni, ed è una luce triste quella che traspare oggi dai suoi occhi velati di lacrime.23 Il tema del condominio ritorna anche nel romanzo di Amara Lakhous, Scontro di civiltà per un ascensore a Piazza Vittorio, pubblicato nel 2006 (sempre per le Edizioni e/o) e ambientato in uno stabile romano nel quartiere limitrofo alla stazione centrale.24 Com’è noto, il romanzo racconta la vita all’interno di un palazzo ottocentesco che si affaccia su Piazza Vittorio e dove convive, in una sequenza di incomprensioni e scontri per l’uso dell’ascensore, una comunità multietnica. In maniera non troppo dissimile da Wadia, Lakhous tratteggia la dimensione dello scontro culturale in una pluralità di voci che si diramano nello spazio angusto e sepolcrale dell’ascensore intorno a cui ruota la trama.25 Il 22 23 24

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Chiurato, Andrea: Là dove finisce la città. Riflessioni sull’opera di J. G. Ballard, Bologna: Clueb 2013, p. 42. L. Wadia: Amiche, p. 7. Parati, Graziella: »Where Do Migrants Live? Amara Lakhous’s ›Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio‹«, in: Italianistica 28 (2010), pp. 431–446. Cfr. inoltre Derobertis, Roberto: »Storie fuori luogo. Migrazioni, traduzioni e riscritture in Scontro di civiltà per un ascensore a piazza Vittorio di Amara Lakhous«, in: Italian Studies in Southern Africa/Studi d’Italianistica Nell’Africa Australe 21 (2008), pp. 215–241. Cfr. Ferrari, Francesco: »Il mio nome è Amede’. Nomi e passing in Amara Lakhous«, in: Scritture migranti. Rivista di scambi interculturali 7 (2013), pp. 65–93, qui pp. 70–71.

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romanzo richiama direttamente il Pasticciaccio di Gadda nella scelta del noir poliziesco e per l’uso di »un plurilinguismo creativo«26 ed è teatro di un omicidio che infrange la pace apparente del condominio. In Gadda il disordine del delitto si ricompone in un ordito geometrico con il palazzo d’oro di via Merulana che si trasforma in un intreccio di spazi pazientemente ordinato: E il palazzo, poi, la gente der popolo lo chiamaveno er palazzo d’oro. Perché tutto er casamento insino ar tetto era come imbottito da quer metallo. Drento poi, c’erano du scale, A e B, co sei piani e co dodici inquilini cadauna, due per piano. Ma il trionfo più granne era la scala A, piano terzo, dove ce staveno de qua li Balducci co li fiocchi pure loro, e in faccia a li Balducci ce steva na signora, na contessa, che teneva nu sacco ’e solde pure essa, na vedova.27 Il trionfo numerologico dello scrittore milanese sembra ripetersi nella struttura del romanzo di Wadia, dove i numeri segnano un confine esatto nella gerarchia del palazzo. Qui la suddivisione è per tipologie di illuminazione: Di solito offrono tre tipi di illuminazione. Al primo piano, grazie ai lampadari di carta e riso con draghi acrobatici della famiglia Fong, la luce è rossa e soffusa. L’appartamento accanto è sfitto, e la signora Fong (o Meigui, più nota come Bocciolo di rosa) spera un giorno di poterselo permettere. Ora i ragazzi (tra figli e nipoti per il momento ne ha sei) sono piccoli e si arrangiano come possono, ma quando cresceranno avranno bisogno di più spazio… Al secondo piano, a sinistra, la luce ricorda un cimitero a novembre. Più che una lampadina, sembra che il Sig. Rosso accenda un lumino. La finestra accanto appartiene alla famiglia albanese dei Dardani, e stare a casa loro è come essere dentro Star Trek – solo neon, blu e verdi. Al piano terzo abitiamo noi, i

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Comberiati, Daniele: »A quale tribù appartieni? Identità italiana e Risorgimento nelle opere degli scrittori migranti«, in: Matteo Brera/Carlo Pirozzi (a cura di), Lingua e identità a 150 anni dall’unità d’Italia, Firenze: Cesati 2012, pp. 145–164, qui p. 147. Gadda, Carlo Emilio: Quer pasticciaccio brutto de via Merulana, in: Carlo Emilio Gadda, Romanzi e racconti II, Milano: Garzanti 2007, p. 19. Cfr. Crispino, Ida: »La struttura ›condominiale‹ della narrativa del secondo Novecento: Carlo Emilio Gadda e Dino Buzzati«, in: Andrea Campana/Fabio Giunta (a cura di), Natura Società Letteratura. Atti del XXII Congresso ADI – Associazione Degli Italianisti (Bologna, 13–15 Settembre 2018), Roma: Adi editore 2020, pp. 1–16, e, negli atti dello stesso convegno, Armentano, Emira: »Il ›condominio‹ in letteratura: da luogo della modernità a nonluogo della postmodernità. Quando il condominio si trasforma in iper-centro-inclusivo«, pp. 1–10.

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Kumar, originari di Sholapur, in India, e a destra la famiglia Zigovic, profughi bosniaci.28 Il condominio è lo spazio vitale di cinque famiglie di nazionalità diverse (un italiano, una coppia di bosniaci, una coppia di cinesi, una coppia di indiani, un’altra di albanesi) e si sviluppa in tre piani per un totale di cinque appartamenti di cui uno abitato dal sig. Rosso, un iroso triestino appassionato di Saba, Ungaretti, Quasimodo e sostenitore del duce. Wadia rappresenta »il processo di sedentarizzazione dei migranti nella dimensione italiana«29 in una duplice istanza di adeguamento al nuovo contesto e alla lingua del luogo di destinazione.30 La casa è pertanto il »luogo capace di offrirci la possibilità di una prospettiva radicale da cui guardare, creare, immaginare alternative e nuovi mondi«31 secondo una angolatura che è in questo caso strettamente femminista come la comunità di donne che abitano lo spazio di via Ungaretti 25. Raffaele Taddeo ha notato che: La scrittrice di origine indiana sembra voler far rivivere nel condominio triestino quelle relazioni solidaristiche, possibili solo fra la povera gente; la gente che scopre di avere un unico destino, che sa di navigare in una stessa barca, sempre nelle precarietà di un possibile naufragio. È la stessa logica di esistenza che si può trovare nel film the Millionaire oppure nel testo di Christiana De Caldas Brito 500 temporali.32

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L. Wadia: Amiche, p. 8. Pezzarossa, Fulvio: »Una casa tutta per sé. Generazioni migranti e spazi abitativi«, in: Lucia Quaquarelli (a cura di), Certi Confini. Sulla letteratura italiana dell’immigrazione, Milano: Morellini 2010, pp. 59–117, qui p. 72. Chambers, Ian: »La casa del linguaggio«, in: id.: Sulla soglia del mondo. L’altrove dell’Occidente, Roma: Meltemi 2003, pp. 209–210. In Amiche per la pelle si legge (p. 53): »La cosa che mi colpisce di più di questo piccolo e perfetto mondo multiculturale che siamo riusciti a creare in via Ungaretti è l’idioma in cui ci confidiamo le cose. Provenienti dai quattro angoli del mondo ci troviamo in questo stretto lembo di terra, schiacciata tra il peso dell’est con le mille opportunità che riserverà e dell’ovest con la gloria che fu, a comprenderci con una lingua adottiva. È uno sforzo che abbiamo fatto noi, non per semplice necessità, ma per la voglia di diventare amiche, di poter andare oltre un semplice ›Buongiorno, come stai?‹ scambiato per le scale.« hooks, bell: Elogio del margine. Razza, sesso e mercato culturale, Milano: Feltrinelli 1998, p. 68. hooks definisce la casa, dove le donne tornano dopo aver lavorato al servizio dei bianchi, come »una comunità di resistenza« (p. 27). R. Taddeo: Il condominio, senza numerazione di pagine.

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Come ha scritto Chiara Giuliani, in Amiche per la pelle »il palazzo is investigated for its role of constructing a sense of community and for becoming a transnational space of identity negotiation«33 . Il tono appare dunque come quello della favola dove tutto si ricompone, dove l’italiano xenofobo – medium di una invettività strutturale – accusa tutti di essere dei ›negri‹,34 indipendentemente dal colore della pelle. Il romanzo si chiude su una irreale atmosfera di pace con il sig. Rosso che lascia in eredità a ciascuna delle famiglie di via Ungaretti 25 una ingente somma di denaro, dopo essersi occupato dell’educazione letteraria di Kamla, la figlia di Shanti, che è la voce narrante del romanzo. Insomma il dramma si scioglie, l’incubo dello sfratto – che è al centro del plot – lascia posto all’esaltazione del valore della comunità che nel frattempo si è organizzata per far ristrutturare, con i fondi delle Comunità Europea, il palazzo acquistato dai Fong. Si potrebbe certo parlare di un «terzo spazio di enunciazione», un luogo dove anche il medium linguistico mette in luce mondi simbolici interstiziali e necessariamente in-between.35 Il condominio si configura come il luogo del ›be-longing‹, secondo la definizione di Elspeth Probyn,36 in una dimensione che è allo stesso tempo di transito e definizione per compattarsi sul piano della favola e dell’happy-ending ma senza delineare spazi utopici di autorappresentazione come difesa dall’invettività strutturale della società italiana nei confronti dei migranti. Il romanzo sembra alludere a un’assenza di conflittualità dove lo stereotipo agisce per scalfire solo in superficie i dissidi della società contemporanea e proporsi invece come modello per un’educazione interculturale. Potremmo ipotizzare una invettività implicita che conferma gli stereotipi ma non mette in crisi il sistema di riferimento se non con il mezzo sottile dell’ironia. Di certo, come ha visto Chiara Giuliani, »in the case of Amiche per la pelle, the palazzina and the ways in which its residents experience it empower the characters (especially the female characters) to recalibrate their own identity in relation to the city of Trieste, to Italy but more significantly in relation to each other«37 . 33 34 35 36 37

Giuliani, Chiara: Home, Memory and Belonging in Italian Postcolonial Literature, London: Palgrave Macmillan, 2021, p. 13. Cfr. Giuliani, Gaia: Race, Nation and Gender in Modern Italy. Intersectional Representations in Visual Culture, London: Palgrave MacMillan 2019. Bhabha, Homi: I luoghi della cultura, Roma: Meltemi 2001, p. 225. Probyn, Elspeth: Outside Belonging, New York: Routledge 2015, p. 6; il volume è citato da C. Giuliani: Home, Memory and Belonging in Italian Postcolonial Literature, p. 117. Ibid. Rita Wilson (»Topographies of Identity«, in: Patrizia Sambuco (a cura di), Italian Women Writers, 1800–2000. Boundaries, Borders, and Transgression, London: Fairl-

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La città al margine, in bilico rispetto alla sua dimensione mitteleuropea, riflette il tentativo delle amiche di trovare un punto di equilibrio. Sarà un caso ma la casa editrice e/o che pubblica nel 2007 Amiche per la pelle è la stessa dell’Amica geniale di Elena Ferrante (2011), il romanzo che a livello planetario ha determinato il successo del brand della ›sorellanza‹.38 Una consapevolezza apertamente dichiarata da Wadia che dedica Se tutte le donne a »le mie sorelle, / belle / radiose / operose /speranzose, / ma spesso / troppo silenziose«39 . Se teniamo conto della ›invettività strutturale‹ della società italiana, di razzismo culturale e violenza epistemologica, fra Stuart Hall e Spivak,40 non possiamo fare a meno di considerare qui, in Amiche per la pelle, il femminile come ›spazio di conflittualità‹. Una sorta di passaggio tra la sfera pubblica, contaminata da invettività, e l’agone sociale, la piazza e il centro, fino a un restringimento sulla dimensione privata, il condominio e la casa che sono le territorialità per eccellenza delle donne in Amiche per la pelle. Già Lidia Curti in un saggio del 2007 sottolineava, a proposito della raccolta Pecore Nere41 :

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eigh Dickinson University Press 2015, pp. 110–111) invita a riflettere sull’ambientazione del romanzo di Wadia: »[G]eographically and historically, Trieste is the border city, par excellence: situated at the crossroads between the Italian, Slav, and Austrian worlds, its border has shifted at different times, as historical and political circumstances changed, bringing with it a redefinition of identity at each move«. Cfr. Cao, Claudia/Guglielmi, Marina (a cura di): Sorelle e sorellanza nella letteratura e nelle arti, Firenze: Cesati 2018. Come scrive De Rogatis, Tiziana (Elena Ferrante. Parole chiave, Roma: edizioni e/o 2018, p. 61) a proposito dell’Amica geniale: »Il legame tra le due amiche genera una particolare porosità tra la sfera interiore e quella sociale, che travasano l’una nell’altra attraverso una serie di rifrazioni infinite del discorso. È l’interrogazione ora angosciosa, ora euforica, ora semplicemente sintonica di un’amica sull’altra, oppure l’ipotetico o effettivo giudizio o intervento dell’una sulla vita dell’altra«. Lo stesso vale per la comunità femminile di Amiche per la pelle. Wadia, Laila: Se tutte le donne, Siena: Barbera 2012, p. 7. Il titolo è un omaggio a Quando tutte le donne del mondo di Simone de Beauvoir. Hall, Stuart: The Fateful Triangle: Race, Ethnicity, Nation, a cura di K. Mercer, Cambridge (MA)/London: Harvard University Press 2017. Sulla donna come soggetto ›silenziato‹ cfr. Spivak, Gayatri Chakravorty, Critica della ragione postcoloniale, Roma: Meltemi 2004, p. 248. Capitani, Flavia/Coen, Emanuele (a cura di): Pecore nere. Racconti, Roma/Bari: Laterza 2005. La raccolta contiene anche Curry di pollo di Wadia. Cfr. inoltre Quaquarelli, Lucia: »Salsicce, curry di pollo, documenti e concorsi. Scritture dell’immigrazione di ›seconda generazione‹«, in: Narrativa 28 (2006), pp. 53–65.

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For a migrant the house is a way of confirming one’s existence in the elsewhere, as well as providing the material basis to escape the initial conditions of exclusion and poverty […]. The kitchen is central in these representations and so is food. The families represented in these tales, even when relatively affluent, use the kitchen to study and work, to write documents, to receive friends, to discuss and make decisions. It is above all the place for all the crucial confrontations with the new culture: kinds of food, ways of cooking and eating underline cultural diversity.42 La cucina e i cibi sono i mediatori dell’ibridazione, ma rappresentano anche l’identità di chi non vuole abbandonare la cultura di origine. Nel racconto Curry di pollo,43 Wadia mette a confronto lo scontro identitario fra Anandita, la giovane protagonista del racconto, e i genitori indiani nella prospettiva opposta di chi afferma la cultura di origine e di chi rivendica il desiderio di conformarsi alla nuova realtà. Il cibo, in questo caso, »funziona come una specie di comunità immaginata, un anello di congiunzione che collega i membri della famiglia/comunità«44 , perché l’esperienza del curry nella cultura occidentale passa attraverso i cibi di produzione industriale contrariamente alla raffinata sapienza culinaria della famiglia indiana ancora una volta di pertinenza femminile. In Amiche per la pelle Wadia immagina uno spazio privilegiato di incontro fra amiche/sorelle, uno »space as a practiced place«45 secondo la definizione di De Certeau. La proposta che emerge dal romanzo è dunque quella di un nuovo tipo di comunità essenzialmente femminile nei luoghi (inclusa la palazzina) e nelle modalità di aggregazione.46 Seguendo questa linea, Margherita

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Curti, Lidia: »Female Literature of Migration in Italy«, in: Feminist Review 87 (2007), pp. 60–75, qui p. 72. Si veda anche Curti, Lidia: La voce dell’altra. Scritture ibride tra femminismo e postcoloniale, Roma: Meltemi 2006, p. 214 (e in particolare il capitolo »Vicino a casa. Lontano da casa: voci da un impero minore«). Wadia, Laila: »Curry di pollo«, in Capitani/ Coen, Pecore nere, pp. 39–52. Horn, Vera: »Assaporare la tradizione. Cibo, identità e senso di appartenenza nella letteratura migrante«, in: Revista de Italianística XIX – XX (2010), pp.155-175, qui p. 163. De Certeau, Michel: The Practice of Everyday Life, Berkeley: University of California Press 1984, p. 117. L. Wadia: Amiche, pp. 52–53: »Mi domando se sarei diventata amica di queste donne in altre circostanze. Se fossi rimasta in India, mi sarei mai trovata attorno a un tavolo con una cinese? Avrei mai confidato le mie paure a una bosniaca? Avrei mai parlato intimamente con un’albanese musulmana?« Sulla descrizione dei cinesi nel romanzo cfr. Zhang, Gaoheng: »Contemporary Italian Novels on Chinese Immigration to Italy«, in: California Italian Studies 4 (2013), pp. 1–38.

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Pampinella ha notato che la scrittrice »investigates and imagines the future of Italian society as she follows the journey of the four female friends from a marginalized position to a liminal position that strongly alludes to a future integration and appropriation of a location of culture in the Italian destination culture«47 . In tal senso, Laura, l’insegnante di italiano delle amiche, assume la funzione di specchio nel nuovo processo identitario che si consuma all’interno della palazzina di via Ungaretti. Se le amiche rappresentano »transnational migrants that span different geographical spaces«48 , l’insegnante di italiano agisce secondo il punto di vista della donna occidentale che non sa riconoscere lo spazio dell’altra. Tuttavia, il rapporto di solidarietà che si stabilisce tra le quattro amiche/sorelle si misura proprio sul piano linguistico, su una lingua comune di cui Laura, pur con le sue ambiguità, è portavoce. Per questa ragione l’insegnante di italiano ha una funzione fondamentale all’interno della piccola comunità e, malgrado tutto, assume anche il ruolo di modello su cui confrontarsi e riconoscere le differenze. Si potrebbe aggiungere che emblematicamente Shanti e Laura mettono insieme la dicotomia, espressa da Mohanty, che richiama la differenza fra la donna oppressa occidentale e la donna oppressa nel terzo mondo: a paternalistic attitude towards women in the third world […] third-world women as a group or category are automatically and necessarily defined as: religious (read »no progressive«), family oriented (read «traditional«), legal minors (read »they-are-still-not-conscious-of-their-rights«), illiterate (read »ignorant«), domestic (read »backward«) and sometimes revolutionary (read »their-country-is-in-a-state-of-war; they-must-fight!«). This is how the »third-world difference« is produced.49 Laura è la mediatrice culturale, un’attivista impegnata nel Comitato per la salvaguardia dei fiori del Carso e nel Comitato per il bilinguismo a Trieste, ma – invece

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Pampinella, Margherita: »From Marginality to Integration. Appropriation of Space through Sociolinguistic Competence in Laila Wadia’s Amiche per la pelle«, in: Forum Italicum 49 (2015), pp. 74–91. Il saggio fa naturalmente riferimento al saggio di G. Parati: Migration Italy, p. 70. Cfr. R. Wilson: Topographies of Identity, pp. 107–122. Mohanty, Chandra Talpade: »Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses«, in: Feminist Review 30 (1988), pp. 61–88, qui p. 88.

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di agire come mediatrice culturale per ambedue i lati – rappresenta lo spirito dell’Occidente (cieco e di conseguenza invettivo perché si considera superiore): Assieme ai verbi irregolari e alla »s« impura, cerca d’inculcarci l’importanza di questa libertà, e spesso ci parla di quello che l’emancipazione femminile ha significato per la sua città natale. A volte, però, sembra dimenticarsi che non sempre viene offerta la stessa possibilità a chi è nato altrove.50 Con le parole di Rosi Braidotti si può osservare che l’insegnante italiana non sembra tenere conto del luogo di provenienza delle sue studentesse: […] l’idea della politica della collocazione è dirimente e, una volta tradotta in teoria del riconoscimento delle molteplici differenze esistenti tra donne, può evidenziare l’importanza di rifiutare ogni generalizzazione sulle donne per tentare invece di essere il più possibile consapevoli del luogo del quale si parla.51 Come ha scritto Laura Lazzari, »la messa in scena di un proficuo dialogo interculturale permette alle protagoniste di provenienza diversa di sperimentare l’auspicato concetto di ›interazione‹«52 . Lo sguardo occidentale dell’insegnante sulle tradizioni appartenenti ad altre culture non fa altro che ripetere dicotomie del diverso e istituire categorie di inferiorità (in termini di giudizio sulle usanze degli altri) con sguardi che provengono da una sola angolatura.53 50

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L. Wadia: Amiche, p. 54. Margherita Pampinella (»From Marginality to Integration. Appropriation of Space through Sociolinguistic Competence in Laila Wadia’s Amiche per la pelle«, p. 84) richiama le riflessioni di Wendy Pojmann (Immigrant Women and Feminism in Italy, Burlington [Aldershot]: Ashgate 2015, p. 164) sulla risposta delle femministe italiane all’immigrazione: »As Italian women have reached out to migrant women, there has been an overwhelming tendency to approach them as pupils to be educated in the way of western women’s emancipation. The one-sidedness of women’s associations shows that Italian women are not always aware of how they, too, can benefit from working with, and not on behalf of, migrant women«. Braidotti, Rosi: Soggetto nomade. Femminismo e crisi della modernità, a cura di Anna Maria Crispino, Roma: Donzelli 1995, p. 85. Lazzari, Laura: »Identità e alterità nel romanzo ›Amiche per la pelle‹ di Laila Wadia«, in: Altrelettere del 26.11.2014, pp. 1–20, qui pp. 16–17. Un caso emblematico di questo atteggiamento è analizzato da Gaia Giuliani che si sofferma sulla produzione televisiva di un programma di viaggi come Alle falde del Kilimangiaro (RAI 3): »What I have called elsewhere symbolic anthropophagy, that is, the most relevant dynamic of Italian (hetero-referential) racism, is here apparently reduced to a mere ›scopic regime‹. What AFDK [scil. Alle Falde del Kilimangiaro] reveals is both the

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L’ostilità, e lo scandalo, si manifestano apertamente dopo che Shanti le comunica che il suo è stato un matrimonio combinato: »Ma come hai potuto accettare che i tuoi genitori scegliessero un compagno per te? Com’è possibile che succeda una cosa così a una donna istruita nel ventunesimo secolo? Non vivevi mica in un villaggio sperduto! Non credi che avresti dovuto avere voce in capitolo?«54 L’incredulità di Laura assume un carattere invettivo nella misura in cui non riesce a percepire la distanza che la separa dal mondo di Shanti e il tono accusatorio denuncia la separazione dei piani e la difficoltà di costruire una comunità integrata sulle differenze culturali. Come ha scritto Manuela Coppola: »The experience of migration and diaspora inevitably entails a renegotiation and redefinition of the notions of home and identity as related to normative prescriptions«55 . In modo particolare sono proprio le scrittrici a ridiscutere i paradigmi convenzionali che s’insinuano nel linguaggio e nello spazio.56 Sono infatti le donne a proporre nuovi canoni e a mediare la propria identità in un continuo processo di dislocazione identitaria a partire dal legame profondo con la dimensione orale del racconto e con le esperienze del quotidiano.57

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permanence of racist, colonial elements and discursive practices in Italian mass culture and their effectiveness in shaping the nation’s gaze on itself and its Others« (G. Gaia: Race, Nation and Gender in Modern Italy, p. 214). L. Wadia: Amiche, pp. 56–57. Coppola, Manuela: »Rented space. Italian Postcolonial Literature«, in: Social Identities 17 (2011), pp.121-135, qui p. 129. Da notare che da Amiche per la pelle è stato liberamente tratto il film diretto da Gigi Roccati Babylon sisters nel 2017. Il film ripete il tema dell’amicizia e dello sfratto ma trasforma la favola di Wadia in una sorta di bollywood stereotipata. Shanti si scopre infatti ballerina e le amiche mettono in piedi una scuola di ballo che le salva dalla rovina. Potremmo leggere la trasposizione transmediale come una sorta di esaltazione dell’imprenditoria femminile nell’evidente proposizione di uno stereotipo glamour come quello del ballo. Il film tuttavia perde la connotazione conflittuale che possiamo ritrovare, ad esempio, nel film di Kechiche Cous cous (2007), dove il centro è il cibo come dimensione identitaria di solidarietà e unione, tema peraltro caro a Wadia in Curry di Pollo e Mondopentola. Cfr. M. Coppola: Rented space, p. 128; »Problematizing the subject position of the native, postcolonial women writers thus cast a critical and defamiliarizing gaze on national spaces and identities which advocates for a rediscussion of conventional borders«. Cfr. Di Nuzzo, Annalisa: »Etnografie letterarie e Migrazioni. Scritture di Donne Migranti«, in: EtnoAntropologia 8 (2020), pp.103-119. Si veda, ad esempio, Sabelli, Sonia: »I corpi e le voci delle ›altre‹. Generazioni e migrazioni in Christiana de Caldas Brito e Fernanda Farias de Albuquerque«, in: Margarete Durst/Sonia Sabelli (a cura di), Questioni

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La lettera di sfratto alle famiglie, che è al centro del romanzo di Wadia, arriva a tutti i condomini e quasi nessuno ha il coraggio di aprirla. C’è scritto che il palazzo non è a norma e che le locazioni sono abusive. Shanti, a proposito, nota: l’italiano è una lingua armoniosa. Mancando di gutturali e suoni duri e volgari, persino un’imprecazione sembra una sonata. La prima volta che ho pronunciato una bestemmia mi è venuto da ridere, perché il suono era così dolce. Ma adesso questa espressione »abusivi«, che oramai è l’apoteosi di tutti i miei interrogativi, mi fa venire i brividi. Mai in nessuna lingua che conosco, una parola mi ha fatto sentire così sporca, inutile e inerme.58 L’invettività amministrativa si gioca sul piano linguistico e la condizione dei migranti nella palazzina appare giuridicamente precaria. L’ingiunzione di legge assume una valenza polisemica perché abusivi non sono solo gli spazi ma anche la condizione di chi si trova a vivere dislocato. Etimologicamente: ›Ab usus‹, che conduce al male, che usa violenza. La parola che è, e si configura, come usurpazione e che implica una vittima. Ancora una volta, la protagonista del romanzo avverte la precarietà della propria esistenza e subisce, attraverso la parola, un attacco alla percezione del sé in quanto parte di uno spazio e di una città. Shanti, d’altra parte, insiste sull’identità che la fascia e la riveste,59 l’abito avvolgente che richiama la madre e impone la distanza rispetto all’esilio triestino: Essere avvolta nei vari strati di cotone impregnato ancora dell’odore della mia città natale è come tornare tra le braccia tiepide di mia madre. Mi aiuta a riacquistare sicurezza, mi dà un senso di stabilità, qualcosa su cui contare. Il sari è un abito favoloso, aiuta a nascondere i sentimenti. Puoi usare la parte drappeggiata sulla spalla per asciugare una lacrima, nascondere un rossore, velare un cuore a pezzi. Le mie amiche non mi hanno vista quasi mai in un

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di genere. Tra vecchi e nuovi pregiudizi e nuove o presunte libertà, Pisa: ETS 2013, pp. 85–108. L. Wadia: Amiche, p. 104. Cfr. su questo aspetto legato all’esperienza identitaria, Camilotti, Silvia: »La letteratura della migrazione in lingua italiana e i suoi riflessi sul concetto di identità culturale: una casistica provvisoria«, in: Pezzarossa/ Rossini, Leggere il testo e il mondo (2011), pp. 219–229, qui 224.

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sari, solo una volta a capodanno, credo. Ormai, grazie al negozio della cugina di Bocciolo di rosa, vesto sempre all’italiana. Per anni e anni io e le mie vicine abbiamo cercato di mimetizzarci, ma ora ho voglia di fare vedere chi sono davvero: Shanti Kumar, una donna quasi trentenne dell’India centrale, tenera, ma tenace, con un suo lavoro indipendente di babysitter, che parla benino l’italiano e ama cucinare il curry. Sono diventata una specie di ibrido culturale e linguistico, ma il mio cuore è sempre rimasto in un sari: devi srotolare le cinque iarde di soffice e luccicante patina occidentale per sentire il suo vero battito.60 Esiste senz’altro un richiamo profondo allo spazio interiore che è immagine della dimensione privata della casa e del condominio.61 La Palazzina diventa figura del materno, il luogo in cui si percepisce di stare al sicuro – in modo parziale anche dall’invettività contro i migranti che si addensa sul condominio – e di agire autonomamente: »Il mio soggiorno riflette la vita che ci è stata offerta in occidente. Si respira una vaga nostalgia per la nostra madrepatria, che si ritrova nei cuscini colorati sparpagliati per la stanza e nelle miniature mogul su seta che Ashok ha appeso dietro al divano con delle puntine bianche.«62 Eppure anche nella radicale nostalgia della casa di origine, la favola di Wadia tratteggia una via d’uscita rispetto alla conflittualità. La via della community of practice è la lingua dove tace il conflitto e dove la mediazione è necessaria soprattutto perché è legata al femminile.63 E in Amiche per la pelle il linguaggio degli altri, degli italiani, è solo un’istanza delle amiche: I nostri mariti […] non comprendono il nostro bisogno di imparare l’italiano alla perfezione. Ai loro occhi spendere tre euro a testa all’ora e passare set-

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L. Wadia: Amiche, pp. 139–140. »Esiste in questo romanzo una sorta di legame affettivo con la casa, con l’abitazione comune e collettiva. Lo spazio interno è privilegiato rispetto agli altri spazi perché è lì che si svolge la vita di relazione, di costruzione dei propri sogni o di frantumazione delle proprie speranze« (R. Taddeo, Il condominio, senza numerazione di pagine). L. Wadia: Amiche, pp. 39–40. Secondo Irigaray il discorso non è mai neutro e universale e nasconde sempre una dimensione sessuata e culturale. La scrittura femminile non potrà quindi che essere percepita come un qualcosa di rivoluzionario, perché sconosciuta e nuova. Cfr. Irigaray, Luce: I tre generi in Sessi e genealogie, Milano: La Tartaruga Edizioni 1986, p. 198, e Irigaray, Luce: Questo sesso che non è un sesso. Sulla condizione sessuale, sociale e culturale delle donne, Milano: Feltrinelli 1980, p. 110.

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timane intere a declinare verbi è uno spreco, un delitto, quasi. A Bobo non importa parlare spruzzando l’italiano con parole nella sua lingua e in triestino, Ashok sbaglia spesso accento, e Besim e il signor Fong sono così parchi di parole che i loro sbagli passano quasi inosservati.64 Come già ripetuto più volte, nella ricerca postcoloniale o di migrazione, la lingua diventa un luogo di redenzione e il comune denominatore di un incontro possibile: Their mutual engagement, made possible by interactions in a shared language, forces them to negotiate their identities by redefining, deconstructing and reconstructing them. As they make sense of themselves and their relationships, they take on the role of core members in the development of their community of practice, whose next stated goal becomes gaining membership of a larger community of practice, constituted by the people of Trieste.65 Per concludere, si potrebbe osservare che lo spazio del conflitto, fuori e dentro il condominio, implica la pratica di un linguaggio comune dove si attenuano le tensioni e dove la conflittualità è introiettata per approdare a un senso di appartenenza che è prima di tutto quello della casa e dello spazio domestico, sia pure liminale e di confine. Solo mediando la propria origine e la propria identità le quattro protagoniste riescono a superare il paradigma invettivo che si sperimenta nell’agone sociale e nel confronto con gli italiani. Trieste, d’altra parte, è un luogo di frontiera come il palazzo in cui agisce la comunità femminile di Laila Wadia. Un margine, tuttavia, di cui è possibile fare l’elogio perché solo da lì, e da quelle istanze, con le parole di bell hooks, si avvia il processo di redenzione: Il mio è un invito deciso. Un messaggio da quello spazio al margine, che è luogo di creatività e potere, spazio inclusivo in cui ritroviamo noi stessi e agiamo con solidarietà, per cancellare le categorie colonizzato/colonizzatore. Marginalità come luogo di resistenza. Entrate in quello spazio. Incontriamoci lì. Entrate in quello spazio. Vi accoglieremo come liberatori.66

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L. Wadia: Amiche, p. 59. M. Pampinella: »From Marginality to Integration. Appropriation of Space through Sociolinguistic Competence in Laila Wadia’s Amiche per la pelle«, pp. 86–87. hooks, bell: Elogio del margine; traduzione e cura di Maria Nadotti; Scrivere al buio. Maria Nadotti intervista bell hooks, Napoli: Tamu, 2020, p. 133.

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Spazi di conflittualità

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»Cinesi di merda« Dystopische Variationen migrationsbezogener Invektivität in T. Pincios Cinacittà (2008) und A. Scuratis La seconda mezzanotte (2011) Elisabeth Tiller

Abb. 1: Invektive Positionierungen in IosonoLi (ITA 2011, R: Andrea Segre) und Questa notteèancora nostra (ITA 2008, R: Paolo Genovese/Luca Miniero)

Chinesisches Italien Die chinesische Immigration nach Italien ist bereits seit 1918 im Gange1 und damit kein Subphänomen der Post-1989-Immigration, die das ehemalige Emigrationsland binnen weniger Jahre zur Immigrationsgesellschaft transformierte.2 Gleichwohl hat die chinesische Immigration erst in den 1

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Vgl. hierzu Chu, Mark: »›Non voglio morire cinese‹. Crisi e conflitto in La seconda mezzanotte di Antonio Scurati«, in: Narrativa 35/36 (2014), 129–141, hier S. 129; Comberiati, Daniele: »Dystopic Worlds and the Fear of Multiculturalism«, in: Simone Brioni/Daniele Comberiati (Hg.), Italian Science Fiction, Cham: Springer 2019, S. 163–182, hier S. 174; Zhang, Gaoheng: »Contemporary Italian Novels on Chinese Immigration to Italy«, in: California Italian Studies 4 (2013), S. 1–38, hier S. 2 und 8. Vgl. hierzu Tiller, Elisabeth: »Italien vom Emigrations- zum Immigrationsland«, in: Antje Lobin/Eva-Tabea Meineke (Hg.), HANDBUCH Italienisch. Sprache – Literatur – Kultur, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2021, S. 556–561.

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letzten Jahren merkliche Spuren in Literatur3 und Film4 (vgl. Abb. 1) hinterlassen. Diese Erzählungen sind in der Regel entweder von sino-italienischen oder italo-italienischen Autor:innen verfasst bzw. von italo-italienischen Regisseur:innen abgedreht worden, was den allgemeinen Befunden zu italienischen Migrationserzählungen entspricht. Während das italienische Filmfördersystem, da an die Staatsbürgerschaft geknüpft, generell italoitalienische Regisseur:innen bevorzugt,5 sind im Bereich der Migrationsliteratur oft Autor:innen produktiv, die über eigene oder (etwa als Zugehörige zur Zweiten Generation) familiale Migrationserfahrung verfügen.6 Ergänzt 3

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Zur chinesischen Immigration in der italienischen Literatur nach der Jahrtausendwende vgl. G. Zhang: Contemporary Italian Novels; zur sino-italienischen Literatur vgl. ebd., S. 5, sowie Pedone, Valentina: »La nascita della letteratura sinoitaliana. Osservazioni preliminari«, in: Clara Bulfoni/Silvia Pozzi (Hg.), Atti del XIII Convegno dell’Associazione italiana studi cinesi. Milano, 22–24 settembre 2011, Milano: Franco Angeli 2014, S. 310–321; Pedone, Valentina: »Nuove declinazioni identitarie: quattro narratori dell’esperienza sinoitaliana«, in: Ayse Saraçgil/Letizia Vezzosi (Hg.), Lingue, Letterature e Culture Migranti, Firenze: Firenze University Press 2016, S. 101–120; Pedone, Valentina: »Self-Narration as a ›Social Action‹ in the Works of the Sino-Italian Author Hu Lanbo«, in: Gaoheng Zhang/Mario Mignone (Hg.), Exchanges and Parallels between Italy and East Asia, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing 2020, S. 292–303. Seit den mittleren 2000er Jahren entstehen Dokumentar- und Spielfilme zum Thema chinesische Immigration wie bspw. Questa notte è ancora nostra (ITA 2008, R: Paolo Genovese/Luca Miniero), Cenci in Cina (ITA 2009, R: Marco Limberti), Giallo a Milano (ITA 2009, R: Sergio Basso), Io sono Li (ITA 2011, R: Andrea Segre), Il futuro è troppo grande (ITA 2014, R: Giusy Buccheri/Michele Citone/Marco Leopardi) oder Doris & Hong (ITA 2015, R: Leonardo Cinieri Lombroso); vgl. hierzu auch Pedone, Valentina: »In the eye of the beholder. The Orientalist representation of Chinese migrants in Italian documentaries«, in: Journal of Italian Cinema & Media Studies 6 (2018), S. 81–95. Vgl. hierzu den Beitrag von Gabriel Deinzer in diesem Band sowie Deinzer, Gabriel: Erzählte Invektivität – Invektive Erzählungen: metainvektive Reflexivität und invektive Kodierungen in zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen. Dissertation TU Dresden 2022; vgl. ebenso Schrader, Sabine/Tiller, Elisabeth: »Migration nach Italien. Handlungsfähigkeit und Dynamiken der Herabsetzung in Literatur und Film. Eine Einleitung«, in: Schrader/Tiller (Hg.), Agency und Invektivität (2020), S. 1-15 (http://web.fu -berlin.de/phin/beiheft20/b20t01.pdf). Vgl. hierzu den Beitrag von Franziska Teckentrup in diesem Band sowie Teckentrup, Franziska: Narrationen der Herabsetzung. Literarische Inszenierungen von Invektivität in zeitgenössischen Immigrationserzählungen aus Italien. Dissertation TU Dresden 2022.

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wird dieses literarische Migrations-Korpus durch Texte einiger weniger italo-italienischer Autor:innen, die das Migrationsthema ihrerseits vor dem Hintergrund ihrer Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft aufgreifen. Charakteristisch für literarische Migrationserzählungen ist dabei die Darstellung von Geschehen aus Betroffenenperspektive (oder jener von Betroffenen nahestehenden Figuren), die den migrationsbedingten Erfahrungen bzw. den erlittenen Folgen der Konfliktlagen in der Aufnahmegesellschaft mehr oder weniger große Aufmerksamkeit schenkt. Diese werden mitunter als invektives Geschehen7 erzählt, als durchlebte Herabsetzungen, Beleidigungen, Bloßstellungen, Diskriminierungen, Beschämungen oder Exklusionsakte, die jeweils Verletzungen zur Folge haben. In der Regel als sprachliche, gestische, bildgestützte oder strukturelle8 Gewalt gekennzeichnet und problematisiert sowie bezüglich der Ermöglichungszusammenhänge und der Effekte analytisch disponiert, wird erzähltes Invektivgeschehen durch unterschiedliche narrative Verfahren scharfgezeichnet9 und derart im Modus ›metainvektiver Reflexivität‹10 einer (selbst)kritischen Rezeption durch die intendierten italienischen Rezipient:innen überantwortet. Während filmische Migrationserzählungen den Modus metainvektiver Reflexivität des Öfteren mit invektiven Kodierungen kombinieren, also Akte der Herabsetzung bzw. der Pejorisierung der sozialen Position von migrierten Figuren ungebrochen in ihre dann ambivalente Inszenierung einfügen11 – etwa in Gestalt der affirmativen Ingebrauchnahme von invektiven Aussagen und Erzählmustern, Stereotypen oder Klischees –, ist das im Kontext literarischer Migrationserzählungen selten der Fall. In literarischen Migrationserzählungen herrscht vielmehr ein politisch-moralisch unterlegter Duktus

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Zum Analysekonzept der Invektivität vgl. Ellerbrock, Dagmar et al.: »Invektivität – Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften«, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (2017), S. 2–24. Zur Darstellung struktureller Gewalt in filmischen Migrationserzählungen vgl. Tiller, Elisabeth: »Invektivität und Migration: Konstellationen in Gianfranco Rosis Fuocoammare (2016)«, in: Schrader/Tiller (Hg.), Agency und Invektivität 2020, S. 109–133 (ht tp://web.fu-berlin.de/phin/beiheft20/b20t06.pdf). Vgl. hierzu F. Teckentrup: Narrationen der Herabsetzung. Vgl. hierzu die Einführung zu diesem Band sowie Tiller, Elisabeth: »Metainvektive Reflexivität«, in: Dagmar Ellerbrock/Heike Greschke/Jan-Philipp Kruse (Hg.), Schlüsselkonzepte der Invektivität, Frankfurt a.M./New York: Campus 2023, im Erscheinen. Vgl. hierzu G. Deinzer in diesem Band und G. Deinzer: Erzählte Invektivität.

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vor, der im Sinne metainvektiver Reflexivität auf Defizite in der gesellschaftlichen Interaktion zwischen migrierten und autochthonen Figuren/Menschen hinweist und – gelegentlich mit explizit didaktischem Anspruch – auf kollektive Bewusstseinsänderung, neue Diskurspolitiken oder auch verstärkte wissenschaftliche Aufarbeitung (etwa des italienischen Kolonialismus) dringt. Mit Blick auf die chinesische Migration nach Italien,12 die wie gesagt kein neues, sondern ein inzwischen über ein Jahrhundert andauerndes Wanderungsgeschehen mit spezifischen, historisch gewachsenen Konfliktfeldern darstellt, finden sich neben der generell wachsenden Zahl chinesischer Figuren innerhalb literarischer (Konflikt)Narrationen auch zwei Texte, die das Thema in überraschender Form variieren. Chinesische Migration wird in beiden Fällen mit einer weiteren gesellschaftlichen Problemlage – dem in den Texten je disruptiv beschriebenen Klimawandel – verbunden und zu zwei dystopischen Schaustücken geformt, die jeweils eine in die Zukunft verlegte chinesische Herrschaft über Rom bzw. Venedig und die dort verbliebenen Römer:innen und Venezianer:innen erzählen: also einen radikalen Gesellschaftswechsel fiktionalisieren. Beide Romane statten diese chinesische Herrschaft über ehemals italienische Territorien mit einem gewaltreichen Subtext aus, der die vorgenommene Inversion der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Verhältnisse per se invektiv auflädt. Der Erzählmodus ist – un-

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Istat, das Istituto Nazionale di Statistica, beziffert die Zahl der in Italien lebenden nicht italienischen Menschen für den 01.01.2022 bei einer Wohnbevölkerung von ziemlich genau 59 Mio. auf 5,03 Mio., das sind 8,5 % der Bevölkerung. Davon stammen 3,3 Mio. aus Ländern außerhalb der Europäischen Union. Die weitaus größte nicht italienische community stellen (auch schon 2010) die Rumän:innen (2022: 1.083.771/2010: 887.763), in weitem Abstand gefolgt von Albaner:innen (2022: 419.987/2010: 466.684) und Marokkaner:innen (2022: 420.172/431.529). An vierter Stelle dieses Rankings scheinen schließlich die Chines:innen auf (2022: 300.216/2010: 188.352), gefolgt von den Ukrainer:innen, welche zu Beginn des Jahres 2022 noch die fünfte Position einnehmen (2022: 225.307/2010: 174.129) (http://stra-dati.istat.it; https://www.istat.it/it/files/ /2011/09/ReportStranieriResidenti.pdf). Die Präsenz von amtlich erfassten Chines:innen in Italien hat sich also zwischen 2010 und 2022 beinahe verdoppelt, auch die rumänische community ist sichtbar angewachsen. Chines:innen stellen auch 2010 lediglich die viertgrößte Immigrant:innengruppe in Italien, das sei hier noch einmal festgehalten. Für die historische Kontextualisierung liefert D. Comberiati: Dystopic Worlds, S. 174, die nicht ganz uninteressante Zahl von 1.824 Chines:innen, die im Jahre 1986 in Italien amtlich vermerkt wurden.

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terstützt insbesondere durch das Genre der Dystopie13 und die ›entmachtete‹ italo-italienische Erzählperspektive – entsprechend affiziert, von antichinesischem Ressentiment geprägt14 und im Verbund mit der climate change fiction (cli-fi)-Rahmung15 nachhaltig apokalyptisch gestimmt. In Tommaso Pincios Cinacittà. Memorie del mio delitto efferato (2008)16 wird ein aufgrund der enorm gestiegenen Temperaturen für die früheren Bewohner:innen nicht mehr besiedelbares Rom in einer nahen Zukunft erzählt, in der, nachdem die italienische Stadtbevölkerung längst nach Norden geflohen ist, beinahe nur noch nachgezogene und offensichtlich hitzeresistente

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Dystopien, die in den vielen kursierenden Definitionsversuchen als negative Gegenstücke zu ›eutopischen‹, also positiven Utopien figurieren, gelten gelegentlich als die für das 20. Jahrhundert typische Form der Utopie, »deren Welt eine Schreckensvision entspringt«, so Hiltrud Gnüg (Gnüg, Hiltrud: Utopie und utopischer Roman, Stuttgart: Reclam 1999, S. 18). Rolf Eickelpasch und Armin Nassehi weisen aus soziologischer Perspektive darauf hin, dass »Utopien in Form literarischer und sozialphilosophischer Texte entstehen«, und zwar »vor dem Hintergrund sozialstruktureller Wandlungsprozesse. Stets sind solche Prozesse von legitimatorischen, kritischen, reflektierenden, sie befördernden, gegen sie angehenden, kurz: sie deutenden Diskursen begleitet worden – und stets hatten und haben utopische wie dystopische Thesen und Gegenthesen darin den Part gespielt, die Kontingenz der Welt sinnhaft handhabbar zu machen, ihre Bestimmbarkeit zu sichern oder zumindest ihr Gegenteil als Horizont aufscheinen zu lassen« (Eickelpasch, Rolf/Nassehi, Armin: »Vorwort«, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 7–9, hier S. 7). Dem sei eine literaturwissenschaftliche Dystopie-Definition zur Seite gestellt, die ganz ähnliche Potenziale benennt: »Briefly, dystopian literature is specifically that literature which situates itself in direct opposition to utopian thought, warning against the potential negative consequences of arrant utopianism. At the same time dystopian literature generally also constitutes a critique of existing social conditions or political systems, either through the critical examination of the utopian premises upon which those conditions and systems are based or through the imaginative extension of those conditions and systems into different contexts that more clearly reveal their flaws and contradictions« (Booker, Marvin Keith: Dystopian Literature. A Theory and Research Guide, Westport (Conn.): Greenwood Press 1994, S. 3). Vgl. hierzu insb. M. Chu: Non voglio morire cinese, S. 139ff. Vgl. hierzu Chiafele, Anna: »Climate Change: Eco-Dystopia in Antonio Scurati’s La seconda mezzanotte«, in: Quaderni d’italianistica 42 (2021), S. 5–30; Mengozzi, Chiara: »La letteratura italiana all’epoca della crisi climatica«, in: Narrativa 41 (2019), S. 23–39. Pincio, Tommaso: Cinacittà. Memorie del mio delitto efferato, Torino: Einaudi 2008.

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Chines:innen ihren Geschäften nachgehen. In Antonio Scuratis La seconda mezzanotte (2011)17 treffen wir auf ein im Zuge der andauernden Klimakatastrophe im Jahre 2072 von einer riesigen Welle bereits zerstörtes Venedig, das wenig später vom chinesischen Medienkonzern TNC aufgekauft wurde, um in Teilen der einstigen Stadt einen Vergnügungspark zu errichten. Dort können sich die Reichen der chinesisch dominierten Welt 2092 dann alles kaufen, was als hemmungslose Lusterfüllung denkbar ist. Wir finden also in beiden Texten Thematisierungen der chinesischen Migration nach Italien in Gestalt von massenhaftem Zuzug und totalitär ausgeformter Machtübernahme vor, die in Zukunftsszenarien erzählt werden, welche als negative Utopien ausgestaltet sind – als Dystopien, die Aspekte wie repressive Machtausübung und zerstörerische Ausbeutung im Rahmen eines ökonomischen ›Kannibalismus‹ selbstredend überspitzt inszenieren. Überschnitten wird dies mit cli-fi-Elementen im Kontext von disruptiv forcierter Erderwärmung und Klimakrise, die in beiden Romanen eine tragende Rolle spielen, zudem überhaupt erst Anlass bieten, die chinesische Präsenz in Italien quantitativ, politisch sowie ökonomisch auszubauen und darüber schließlich eine chinesisch dominierte Gesellschaft zu konsolidieren. Die Genre-Rahmungen zielen dabei per definitionem auf eine apokalyptische Ebene ab: Die chinesische Herrschaft ist als Indikator des endgültigen Untergangs markiert. Pincios Cinacittà spielt über den zentralen Mord-Plot zudem mit crime novel-Elementen,18 Scurati hingegen lässt mit dem handlungsleitenden Gladiatorenthema immer wieder Historienthriller bzw. Sandalenfilme durchklingen,19 die das Thema der zukünftigen chinesischen mit Motiven der antiken römischen Weltherrschaft (bzw. deren Ende) überblenden. Sowohl bei Pincio als auch bei Scurati stehen demzufolge chinesische und italienische Migration, Unterdrückung von Italiener:innen, exzessive Gewalt und Tod vor der Folie des klimabedingten Weltuntergangs im Mittelpunkt – womit sich Pincios und Scuratis Romane weitab der ›gängigen‹ italienischen Migrationserzählungen positionieren. Gleichwohl werden sie in der Forschung durchaus

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Scurati, Antonio: La seconda mezzanotte, Milano: Bompiani 2011. Vgl. hierzu Jurisic, Srecko: »Roma città-azienda. Cinacittà di Tommaso Pincio«, in: Narrativa 31/32 (2010), S. 199–214, hier S. 202f., sowie das dort angehängte Interview mit Pincio (Jurisic, Srecko: »Intervista a Tommaso Pincio (Roma-Pescara, aprile 2009)«, in: Narrativa 31/32 (2010), S. 215–220, hier 218f.), der den Text als Simenon-artig beschreibt. Vgl. hierzu M. Chu: Non voglio morire cinese, S. 136.

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als Teil der Migrationsliteratur aufgerufen.20 Primäres Interesse erfährt dort allerdings die climate change-Rahmung,21 wobei gleichwohl zumindest ansatzweise nach möglichen Gründen gesucht wird, warum in beiden Fällen eine gewaltreich-skrupellose chinesische Vorherrschaft ausmodelliert wird.22 Herausragendes Kennzeichen der Texte ist jedoch deren grundständig-xenophobe invektive Kodierung, die im Falle Pincios vermittels expliziter sprachlicher Herabsetzung der chinesischen Neurömer:innen durch den römischen Ich-Erzähler erfolgt, der aus der Rückschauperspektive die Vorgeschichte seiner Verurteilung als Mörder in stark affizierter Manier berichtet. Bei Scurati hingegen wird die invektive Kodierung vorwiegend über die Inszenierung der chinesischen Unterdrückung bzw. der sklavischen Ausbeutung der verbliebenen Venezianer:innen im Jahre 2092 eingebracht, die als ethnisch gegängelte Prostituierte und Gladiatoren für das Funktionieren des so grausamen wie profitorientierten Vergnügungsbetriebs in Nova Venezia geradestehen müssen. Wie das jeweils vonstattengeht, wie also den beiden fiktionalen Texten – die ja innerhalb von nur drei Jahren publiziert wurden und einen deutlichen Bezug zur realen chinesischen Migration nach Italien aufweisen – eine invektive Kodierung implantiert wurde, die ohne reflexive Brechungen auskommt, gilt es im Folgenden zu erörtern. Ein kurzer Blick auf den literarischen Kontext der invektiven Thematisierung chinesischer Einwanderung nach Italien jenseits der ›Migrationsliteratur‹ mag in diesem Zusammenhang hilfreich sein. Gaoheng Zhang lässt seinen Überblick zum aktuellen Erzählen der chinesischen Migration nach Italien23 nicht von ungefähr mit einem Verweis auf Roberto Savianos Gomorra von 200624 beginnen, dem Beststeller über das Wirken der neapolitanischen Camorra, der mit einer Szene im Hafen von Neapel einsetzt, welche das Thema ›chinesische Migration‹ direkt aktiviert: mit dem vom Ich-Erzähler wiedergegebenen Bericht eines Kranfahrers, wie sich eines Tages beim Beladen eines Schiffes hoch in der Luft ein Container voller gefrorener chinesischer Leichen

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So bei M. Chu: Non voglio morire cinese, für Scurati; bei D. Comberiati: Dystopic Worlds, sowie bei G. Zhang: Contemporary Italian Novels, für Pincio. Vgl. A. Chiafele: Climate Change, und C. Mengozzi: La letteratura italiana. Chiafele bspw. sieht hier eine Klammer zu China als führendem Verursacher von Umweltverschmutzung und Klimawandel, vgl. A. Chiafele: Climate Change, S. 21. Vgl. G. Zhang: Contemporary Italian Novels. Saviano, Roberto: Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della camorra, Milano: Mondadori 2006.

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öffnete, die zu Dutzenden auf den Boden fielen und zersprangen – um in Windeseile von herbeigeeilten Chines:innen zurückgepackt oder entsorgt zu werden. Dieses (un)heimliche chinesische Wirken im Hafen von Neapel, der nicht nur ein realer Hotspot chinesischer Interessen, sondern insbesondere ein zentraler Umschlagplatz für die Geschäfte der Camorra ist, fungiert in Savianos docufiction zum einen als effektreiches Intro in die Camorra-Recherche, zum anderen als Auftakt zu einem ›chinesischen‹ Erzählstrang, der wenig später die Rolle chinesischer Textilexporte nach Italien und jene chinesischer Textilfabriken in Italien25 mit Blick auf die Markenfälschungsgeschäfte der Camorra beleuchten wird. Die hier insinuierte Verbindung zwischen chinesischer Produktion respektive chinesischem Geschäftsgebaren in Italien sowie Unlauterkeit bzw. Profitinteressen des (chinesischen wie italienischen) organisierten Verbrechens indiziert Aspekte, die in italienischen Plots mit chinesischer Beteiligung häufig aufgerufen werden: Diese hantieren offenkundig gerne mit einem attribuierten hemmungslosen Gewinnstreben, das wahlweise für Chines:innen essenzialisiert oder globalen staatlichen Interessen Chinas subsumiert wird. Hinzu kommt die Unterstellung steter Nähe zum chinesischen organisierten Verbrechen – für Zhang ein übergreifendes Merkmal italienischer Ausarbeitungen: »The most significant unifying narrative element is the Chinese mafia.«26 Durch die prominente Platzierung dieser Aspekte in Savianos Gomorra und der enormen Reichweite des Textes ist davon auszugehen, dass

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In der Tat heben die ökonomischen Aktivitäten der chinesischen community diese Immigrant:innengruppe von allen anderen migrantischen communities in Italien ab, vgl. G. Zhang: Contemporary Italian Novels, S. 3. Zhang weist auch darauf hin, dass die chinesischen Einwander:innen im Gegensatz zu vielen anderen Immigrant:innengruppen nicht postkolonial belastet ist: »Unlike North African immigrants, Chinese immigrants in Italy lack an acute sense of European colonialism, given that the most ambitious Italian colonial intervention in China consisted of a concession Territory in Tianjin from 1901 to 1947« (G. Zhang: Contemporary Italian Novels, S. 5). G. Zhang: Contemporary Italian Novels, S. 30. Die Thematisierung der chinesischen Mafia macht Zhang als eines der drei zentralen Themen in Italien erschienener Texte zur chinesischen Migration aus (vgl. G. Zhang: Contemporary Italian Novels, S. 8). Auch M. Chu: Non voglio morire cinese, S. 131, bestätigt das italienische Klischee von den ›kriminellen‹ Chines:innen: »i ›cinesi‹ sono associati nell’immaginaire italiano soprattutto alla criminalità – non mancano certamente stereotipi e generalizzazioni collegati alle Triadi o alla ›mafia cinese‹«.

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diese Relationierungen zumindest in den Folgejahren eine klischeenahe Nachhaltigkeit erfahren haben. Die chinesische Konkurrenz im Sektor der Textilindustrie, die Saviano durch die Camorra-Linse öffnet, motiviert – vier Jahre nach Saviano (sowie zwei Jahre nach Pincio und ein Jahr vor Scurati) – einen weiteren italienischen Bestseller, der dieses Problemfeld aus dem camorristischen Kontext löst und in die Toskana, genauer in die Textilstadt Prato versetzt: Edoardo Nesis 2011 mit dem Premio Strega prämiertes Storia della mia gente. La rabbia e l’amore della mia vita da industriale di provincia (2010)27 schildert den Verdrängungswettbewerb im Textilsektor in Gestalt eines semifiktionalen, larmoyanten, anti-chinesischen Erfahrungsberichts, der auf Nesis ehemalige Rolle als mittelständischer Textilfabrikant in Prato referiert: Der Unternehmer Nesi musste das Familienunternehmen aufgrund der chinesischen Konkurrenz 2004 verkaufen. Die vom Autor Nesi 2010 in autofiktionaler Form präsentierte Abrechnung mit der zweitgrößten chinesischen community in Italien,28 die in Prato in den letzten Jahrzehnten in der Tat den alteingesessenen Textilsektor neu sortiert hat, greift also ihrerseits den Gestus der Augenzeugenschaft auf, der schon bei Saviano die diskursive Polarisierung zwischen der italienischen Wir-Gruppe – siehe Nesis Titelgebung – und den invektiv positionierten Chines:innen authentifiziert hatte. Der Fall Edoardo Nesi wird im Text als exemplarisch ausgeflaggt und mit stereotypgeleitetem antichinesischem Ressentiment flankiert:29 chinesische Illegalität betreffend, chinesische Ausbeutung (die der chinesischen Arbeiter:innen durch die skrupellosen chinesischen Leiter der illegalen Betriebe) sowie deren unfaire Teilhabe am textilökonomischen Wettbewerb. Das in einer irreversiblen Krise befindliche, sich stark wandelnde Prato wird zur »città dei cinesi«30 , zur »città invasa da un’armata silenziosa e impaurita che molti temono sia solo la prima avanguardia dell’invasione che

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Nesi, Edoardo: Storia della mia gente. La rabbia e l’amore della mia vita da industriale di provincia, Milano: Bompiani 2010. Vgl. G. Zhang: Contemporary Italian Novels, S. 13/14. Der Text liefert auch antideutsche Verallgemeinerungen mit Referenz auf die Rolle der deutschen Besatzungssoldaten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, die in Prato vor ihrem Rückzug sämtliche Textilfabriken vermint hatten: »Difficile capire il perché senza invocare l’innata, noncurante crudeltà del popolo tedesco che finiva per incarnarsi nelle azioni innominabili di quell’esercito […]« (E. Nesi: Storia della mia gente, S. 26). Ebd., S. 107.

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verrà«31 – also zum Hotspot einer bereits eingeleiteten disruptiven Invasion. Nesi macht die chinesischen Immigrant:innen in bester Verschwörungsrhetorik zur Vorhut eines Angriffskriegs, zu einem »giovanissimo esercito di ricattati«32 , die durch höhere Interessen in zerstörerische Rollen gezwungen würden. Der Autor aktiviert die Verschwörungsrhetorik dabei durchgängig aus Perspektive der topischen Opferrolle der »noi occidentali«33 und changiert kalkulierend zwischen rassistisch austarierten invektiven Beschimpfungen der chinesischen ›Anderen‹ sowie pseudologischen rhetorischen Fragen, die ihrerseits invektiv kodiert sind.34 Die chinesischen Akteur:innen des Illegalen35 beherrschen selbstverständlich überhaupt nicht oder nur ansatzweise, dann aber ›betrügerisch‹ das Italienische (»danno l’idea di saper parlare l’italiano molto meglio di quanto sembri dalle loro parole smozzicate«36 ), wissen nichts über ihren Aufenthaltsort37 und arbeiten in Prato mit aus China importierten Stoffen in hunderten von illegalen Produktionsräumlichkeiten. Die chinesischen Textilsklav:innen müssen dort auch unter übelsten Bedingungen schlafen: »Tutto è sporco, orribilmente sporco. Lerci sono il pavimento, le cucitrici, i cubicoli senza finestre e senz’aria dove sono ricavate i giacigli. Lerce le coperte, lerci i bagni. Tutto è orribilmente trascurato […]«38 , so berichtet der Ich-Erzähler als Anwesender bei einer Razzia. In einem daran anschließenden Gedankenexperiment rund um eine durch eine Nichtigkeit eingeleitete, hypothetische Auseinandersetzung zwischen einem jungen sino-italienischen Studenten der Zweiten Generation aus Prato und einem kleinbürgerlichen Jedermann, ebenfalls aus Prato, der seinen Job in

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Ebd., S. 114/115. Ebd., S. 115. Ebd., S. 117. Vgl. etwa ebd., S. 115: »Eppure come si fa a convivere con un’illegalità così diffusa e così evidente, praticata da migliaia di persone tutte appartenenti a un unico gruppo etnico che della nostra legalità, quand’anche la conosce, se ne infischia altamente? Dovremmo forse cominciare a pensare che non sia giusto considerare illegale un fenomeno così grande e ubiquo e apparentemente inarrestabile? Finiremo per introdurre due standard di legge, uno per cinesi e uno per gli italiani?«. Vgl. ebd., S. 116: »finché queste persone entreranno in Italia da fuorilegge, da fuorilegge vivranno«. Ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 118: »ti chiedi se sappiano dov’è l’Italia, dov’è Firenze, dov’è Prato«. Ebd., S. 112.

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der Textilindustrie verloren hat (und deshalb denkt: »sono i cinesi che mi hanno rubato il lavoro«39 ), erhält der emotional aufgewühlte pratesische Jedermann vom Ich-Sprecher seinem Groll entspringende invektive Beschimpfungen in den Mund gelegt, welche die beginnenden Handgreiflichkeiten begleiten. Über das iniziale »vaffanculo«40 für »questo cretino cinese«41 schreit der Wütende den »ragazzino cinese del cazzo«42 nun als »maledetto cinese di merda, accidenti a chi ti ci ha portato«43 an. Der wiederum muss folgerichtig an die aufgesprühten rassistischen Slogans in den Straßen denken (»CINESI TUTTI APPESI«44 ) und beginnt sich körperlich zu wehren, bevor der immer aufgebrachtere Jedermann (»brutto bastardo cinese di merda, ti piace picchiare i vecchi, eh«45 ) die Situation weiter eskaliert, andere Chinesen hinzukommen usf. Obgleich der Ich-Sprecher dieses Gedankenexperiment abschließend erneut distanzierend als ebensolches sowie als ›Alptraum‹ klassifiziert, sind die unilateralen Beschimpfungen gesetzt und bilden den Abschluss der stark emotional aufgeladenen Textabschnitte zur katastrophisch konnotierten sino-italienischen Textilkonkurrenz in Prato. Der Ich-Sprecher konzentriert also seine invektiv kodierten Einlassungen zu dieser Konkurrenz auf eine Polizei-Razzia in einer illegalen chinesischen Textilfertigung sowie auf eine hypothetisch todförmige Alltagsauseinandersetzung, die den chinesischen Part, verschwörungstheoretisch unterlegt, zum einen dem Erzählmuster der chinesischen Illegalität bzw. Kriminalität einschreibt, zum anderen chinesische Migrant:innen offen invektiv attackiert. Diese Invektivakte sind zwar als Alptraumkomponenten ansatzweise reflexiv gestellt: Nachdem allerdings der semantische Tenor der ersten Hälfte des Nesi-Textes ausschließlich auf die Exposition von ›Schuldigen‹ an der prateser Textilmisere abzielt, demaskiert sich die vorgebliche Brechung ihrerseits rasch als rhetorische Finte. Dass explizite Feindseligkeit als mehrfach variierter, stets emotionalisierter Diskursmodus in Bezug auf chinesische Migration im Italien des Jahres

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Ebd., S. 128, Kursivsetzung im Text. Ebd., S. 130/131. Ebd., S. 131. Ebd. Ebd. Ebd., S. 132, Majuskeln im Text. Ebd., S. 133.

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2010 offenkundig kein Störpotenzial birgt, vielmehr als normalisierter Standard gelten muss, macht nicht zuletzt die Verleihung des wichtigsten italienischen Literaturpreises für Nesis Text deutlich – was nun den Einstieg in Pincios zwei Jahre zuvor erschienenen Roman erleichtern mag, der Nesis buzzwords wie ›Invasion‹ und ›ökonomische Verdrängung‹ längst als Leitmotive seines dystopischen Gedankenexperiments funktionalisiert hatte.

Tommaso Pincios Cinacittà. Memorie del mio delitto efferato (2008) Pincios dystopischer Roman Cinacittà – ein Wortspiel als Kombination der 1937 eröffneten römischen ›Filmstadt‹ Cinecittà und der Übersetzung von chinatown46 – wurde im Jahre 2008 veröffentlicht und figuriert deshalb nicht nur als einer der ersten fiktionalen Texte eines italo-italienischen Autors, der die chinesische Migration nach Italien aufgreift,47 sondern ist zweifellos der erste, der zu diesem Stoff einen Plot erzählt, welcher in eine disruptive, sogar apokalyptische, da vom Klimawandel stark gezeichnete Zukunft verlegt ist.48 Pincios Fließtext umfasst 330 Seiten und ist in neun betitelte Kapitel unterteilt, wobei deren Überschriften mit dem jeweils ersten Satz identisch sind. Jedem Kapitel finden sich ein oder mehrere Motti vorangestellt, die nur lose mit dem Inhalt verbunden sind; sie stammen, außer im Falle des ersten Mottos und eines Mao Zedong49 zugeschriebenen Ausspruchs, von italienischen, spanischen und vielfach chinesischen Autor:innen (bzw. Sprecher:innen) oder

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Im Text wird der längst nach Dänemark geflohene beste Freund des Ich-Sprechers, Giulio, der erklärter Chines:innenhasser ist (»non sopportava i cinesi in generale«, ebd., S. 128), als Namensschöpfer benannt (T. Pincio: Cinacittà, S. 7/8). G. Zhang: Contemporary Italian Novels, nennt für die 1990er Jahre lediglich zwei Romane, die das Thema ›chinesische Migration‹ aufgreifen: Mohsen Melliti: I bambini delle rose (1995) und Gao Liang: Il cavaliere delle nuvole. Alla ricerca dei ›Perché‹ della vita (1997). Im neuen Jahrtausend ruft Zhang neben Pincio, Saviano und Nesi folgende Romane auf: Laila Wadia: Amiche per la pelle (2007, vgl. den Beitrag von Michelacci in diesem Band), Marco Wong: Nettare rosso: storia di un’ossessione sessuale (2010/2011), Maurizio Matrone: Piazza dell’Unità (2011), Yang Xiaping: Come due farfalle in volo sulla Grande Muraglia (2011), Luigi Ballerini: Non chiamarmi Cina! (2012), Lanbo Hu: Petali di orchidea (2012). Pincios Cinacittà ist somit auch einer der ersten cli-fi-Romane in Italien – nach Alessio Grosso: Apocalisse bianca (2004) und Laura Pugno: Sirene (2007). T. Pincio: Cinacittà, S. 97.

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werden als »canto malavitoso romano« bzw. als »proverbio medioevale romano«50 gekennzeichnet – womit dem Text ein ironischer Anstrich verabreicht wird, der allerdings mit seinem Duktus nachhaltig kontrastiert. Der aus der Rückschauperspektive eines verurteilten Mörders berichtende Erinnerungstext präsentiert einen namenlosen römischen Ich-Erzähler (»sono nato a Roma«51 ), der annähernd chronologisch, aber mit vielen analeptischen Einschüben, also besser: scheinbar assoziativ die Entwicklungen und Ereignisse schildert, die auf der Mikroebene seiner individuellen Lebensumstände und der Makroebene des katastrophischen Klimawandels zu seinem Gefängnisaufenthalt im römischen Gefängnis Regina Coeli geführt haben. Der Entschluss zur Niederschrift, »l’illuminazione«52 , entstammt, so erläutern die Erinnerungen an ihrem Ende, der Lektüre einer Mao-Biografie53 – der Vita privata del presidente Mao, verfasst von einem der ehemaligen Leibärzte Maos, welche der Ich-Sprecher, offenkundig bereits geraume Zeit einsitzend, von seinem Anwalt Trevi kurz zuvor zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte.54 Die Leser:innen wissen zu diesem Zeitpunkt längst, dass der IchSprecher während der Ereignisse, die zum Mord an seiner 21-jährigen55 chinesischen Geliebten, »la mia dolcissima Yin«56 , einer Prostituierten, geführt hatten, eine Marx-Biografie gelesen hatte – deren langweilige, deshalb über

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Ebd., S. 53 und S. 283. Ebd., S. 5. Ebd., S. 332. Aus dieser Lektüre memoriert der Ich-Sprecher insbesondere Passagen zum Sex-Leben Maos, was wiederum auf das Vorleben des Ich-Sprechers referiert. Mao habe geglaubt, so der Ich-Sprecher, durch Sex mit jungen Frauen sein Leben zu verlängern: »[Mao] credeva che avere ripetuti rapporti sessuali con donne giovani allungasse la vita, così si appartava nottetempo nelle segrete stanze della Città Proibita, quella di Pechino ovviamente. Lí si dedicava alla conquista della longevità, intingendo la sua punta di giada nel succoso nettare di fiorellini di loto appena sbocciati« (T. Pincio: Cinacittà, S. 333). Die hieraus resultierende Anfrage beim chinesischen Gefängnisdirektor hatte aufgrund der Mao-Erleuchtung dann selbstverständlich Erfolg: »Il direttore si compiacque: il presidente Mao era un modello per tutti. Mi concesse il permesso di tenere carta e penna. Così cominciai a scrivere la biografia che avete per le mani, le memorie del mio delitto efferato« (T. Pincio: Cinacittà, S. 334). Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 332.

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ein Jahr anhaltende Lektüre57 allerdings keine tieferen Spuren hinterlassen hat; gleichwohl ruft der Ich-Sprecher den Marx-Biografie-Lesevorgang in seinen Erinnerungen fortwährend auf. Die Marx- bzw. Mao-Biografie-Rezeption werden zudem von Pincio zu Ende des Textes noch einmal sehr hoch gehängt, womit deren mehr oder minder satirische Rolle akzentuiert wird. Der IchSprecher kondensiert seine abschließende ›Moral von der Geschicht‹ nämlich auf abstruse Weise just über diesem Lesestoff: Una buona morale per l’orrendo delitto di cui vi ho narrato potrebbe essere: leggete tante biografie. Una sola non è sufficiente. Guardate me che ho sprecato una caterva di tempo su quella di Marx. Avessi letto subito la vita privata del presidente Mao non mi troverei qui adesso. Per non inguaiarsi bisogna beccare la biografia giusta.58 Die Lebenserzählung des Ich-Sprechers wird also zu Ende noch einmal in einen pseudo-autoironischen Duktus überführt, der zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr glaubhaft ist – hatte sich der Ich-Sprecher doch bis dahin zum einen als zu naiv und lebensunklug geschildert, um autoironische Schlussfolgerungen erzeugen zu können, zum anderen sich derart invektiv und gewaltaffin positioniert, dass (feine) Ironie als abwegige Attribuierung erscheinen muss. Die Verweise auf die Biografien von Marx und Mao sind mitnichten die einzigen intra- oder intermedialen Referenzen, die in Cinacittà vorzufinden sind. Im Text werden eine ganze Reihe von Autor:innen und Romantitel59 genannt. Zudem wird immer wieder auf Künstler60 oder Comics61 verwiesen (der Ich-Erzähler ist nämlich – wie der Autor selbst62 – Freizeit-Comic-Zeichner

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Vgl. ebd., S. 15: Gleichwohl behauptet der Ich-Sprecher hier, die Marx-Biografie sei höchst interessant gewesen (»interessantissima«). Die Mao-Biografie verschlingt der Ich-Sprecher hingegen in nur zwei Wochen (vgl. ebd., S. 332). Ebd., S. 335. Die Liste umfasst Dante, Marco Polo, Mary Shelleys Frankenstein, Stendhal, Dostojewskis Schuld und Sühne, Ezra Pound, Anne Frank u.a. U.a. Mantegna, Raphael, Caravaggio, Degas, Monet, Rodin, Toulouse-Lautrec, Giorgio De Chirico, Picasso und Warhol. U.a. Diabolik, L’Uomo Ragno, I Fantastici Quattro und Susan Storm. Vgl. hierzu Pincio in einem Interview von 2009 (S. Jurisic: Intervista, S. 216): »Da ragazzo sognavo di fare il pittore, così mi iscrissi all’Accademia di Belle Arti. Terminati gli studi ho scoperto a malincuore di non disporre del talento necessario. Ho appeso i pennelli al chiodo per iniziare a lavorare in un’importante galleria d’arte, proprio come il protagonista del mio romanzo.«

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und -Künstler). Ganz offenkundig dienen dem Ich-Erzähler aber Spielfilme als zentraler medialer Fundus seiner Weltdeutungen:63 Zu Beginn gesteht er, dass er alles, was er über die Vergangenheit Roms wusste, aus Spielfilmen übernommen hatte, etwa dem Sandalenkino made in Hollywood wie Spartacus und Ben Hur, oder aus 1950er-Jahre-Komödien mit Alberto Sordi – bevor sein gebildeter Freund Wang (»il mio dotto cinese«64 ) ihn mit profunden historischen Kenntnissen eines Besseren belehrte. Auch zum Sex-und-ProstitutionsErzählstrang ist eine passende Filmnennung eingeflochten: Neben den japanischen Pornos, die der Ich-Erzähler bevorzugt und in Massen konsumiert, findet auch L’impero dei sensi/Im Reich der Sinne (JPN 1976, R: Nagisa Oshima) in den Text,65 womit die thanatologische Progression der Besessenheit des IchSprechers aufgerufen ist. Paul Newman scheint mehrfach auf, und immer wieder Fellini: Der namenlose Ich-Erzähler wird beispielsweise von seinem chinesischen Freund und späteren Gegenspieler Wang ab einem bestimmten Zeitpunkt Marcello genannt66 – nach dem Klatschreporter Marcello (Marcello Mastroianni) in Fellinis La dolce vita (1960), einem der prägendsten RomFilme des 20. Jahrhunderts (wobei der Ich-Sprecher Fellinis La dolce vita mit 63

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Und seiner Metaphorik; im Rückblick auf die Gerichtsverhandlung heißt es zu einer dort getätigten Aussage eines Zeugen: »è che mi sembrava di rivedere il film di quella fatale parte della mia vita« (T. Pincio: Cinacittà, S. 315). Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 125. Vgl. ebd., S. 191–193. Wang leitet diese für den Ich-Sprecher unverständliche Namensgebung – er hasst den Namen Marcello – auf den neuen Wohnort des Ich-Sprechers zurück, ein Zimmer nämlich im ehemals berühmten Hotel Excelsior an der Via Veneto (die Straße, in der Fellini u.a. für den Film gedreht hatte), wo der notorisch klamme IchSprecher auf Vermittlung Wangs nun für wenig Geld leben darf. Er bewohnt dort just jenes Zimmer, in welchem Kurt Cobain erstmals versucht hatte, Selbstmord zu begehen – ein Ort, der wiederum vom Autor Pincio in einem 2008 veröffentlichten Paratext (Pincio, Tommaso: »Come è nato Cinacittà« [https://www.tommasopincio.com/lanterna2 .html]) als Geburtsort der Romanidee benannt wird (Pincio sollte dort ein Interview mit der RAI für einen Beitrag zum Tod von Kurt Cobain machen). Die Romanidee wird nun wie folgt beschrieben: »Il fatto è che stavo scrivendo un romanzo sulle nostre paure. Temiamo i romeni perché stuprano le donne, gli zingari perché rubano i bambini e gli africani perché spacciano la droga. I cinesi li temiamo perché ci appaiano una comunità misteriosa e impenetrabile, dedita a loschi e fumosi affari. La diffidenza nei riguardi dello straniero non è che un riflesso della neonata ossessione per la sicurezza. Criminalità e immigrazione sono soltanto la superficie, increspature di un mare nei cui abissi si nasconde una triste realtà: siamo diventati un paese pauroso.«

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Mastroianni und Anita Ekberg eben nicht kannte und erst durch Wang auf diesen Rom-Film gestoßen wird).

Abb. 2: Tommaso Pincio: Cinacittà, Torino: Einaudi 2008, Cover.

Das dem ersten Kapitel vorangestellte Motto, das hier (im Gegensatz zu den folgenden Motti) tatsächlich eine leitmotivische Funktion erhält, greift eine Passage aus einem weiteren Fellini-Rom-Film auf (Roma, ITA 1972) und zitiert einen amerikanischen Schriftsteller, der gegen Ende von Fellinis Roma vom intradiegetischen Fellini interviewt wird: Vi domanderete perché mai uno scrittore americano viva a Roma. Prima di tutto perché mi piace i romani che ci frega niente se sei vivo o morto: sono neutrali, come i gatti. Roma è la città delle illusioni, non a caso qui c’è la Chiesa, il governo, il cinema, tutte cose che producono illusione, come fa tu come fa io. Sempre più il mondo si avvicina alla fine perché

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troppo popolato con le macchine, veleni. E quale posto migliore di questa città. Morta tante volte e tante volte rinata, quale posto più tranquillo per aspettare la fine da inquinamento, sovrappopolazione? È il posto ideale per vedere se il mondo finisce o no.67 Diese im Italienischen fehlerdurchwebte Aussage des amerikanischen Schriftstellers geleitet die Leserschaft vor Lektürebeginn – zusammen mit der Covergestaltung, die ein Gemälde Tommaso Pincios benutzt (Abb. 2)68 – mit einer ganzen Reihe von klischeehaften Signalwörtern in den nachfolgenden Romund Migrationstext. Bei Fellini wird aus migrantischer Perspektive Roms Selbstbezogenheit und die Illusionsaffinität der Stadt hervorgehoben, wird die Ewigkeit Roms im Sinne eines iterativ-transhistorischen Sich-ImmerNeu-Erfindens bemüht, wird schließlich Roms Eignung zur unbeeindruckten Erwartung der Apokalypse behauptet: Pincio wählt also ausgerechnet den überbordenden Geschichtenerzähler Fellini als Gewährsmann für einen RomText, der in der Tat nach Disruption und Gesellschaftswechsel das nahende Ende beobachtet – das aber ausgesprochen non-fellinesk erledigt. Die Stadt Rom neigt folglich dystopisch dem Ende zu, wobei die temporale Situierung der histoire scheinbar im Vagen verbleibt. Der Zukunfts-Plot ist jedoch über wenige Informationen zum ungefähren Alter des Ich-Sprechers einzugrenzen, insofern wir erfahren, dass dieser Ich-Sprecher nach einem KunstStudium in einer renommierten römischen Galerie einen Job angeboten bekommen69 und sich für einige Jahre in das römische Kunstmarkt-Geschehen eingegliedert hatte. Während dieser Galeristen-Phase ereignet sich im Gefolge des Tangentopoli-Korruptionsskandals (1992/93), der die sogenannte Erste Republik zum Einsturz brachte, im Beisein des Ich-Erzählers ein Vorfall mit Bettino Craxi (der mehrfach in den Erinnerungen eine Rolle spielt) – der »giorno delle monetine«70 , als Craxi vor seinem römischen Hotel von Hunderten empörter Menschen mit Münzen und anderem beworfen wurde (es handelt sich um den 30. April 1993): die einzige Referenz auf Ereignisse der realen Welt innerhalb von Cinacittà. Das Alter des Ich-Sprechers kann zu diesem Zeitpunkt vage auf etwa 25–30 Jahre geschätzt werden. Das zweite Historisierungs-Indiz liefert der Ich-Sprecher mit seinen Erinnerungen an den Mordprozess. Er

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T. Pincio: Cinacittà, S. 3. Das Gemälde ist ohne Titelei abgedruckt in Comberiati: Dystopic Worlds, S. 174. Vgl. T. Pincio: »Cinacittà«, S. 113. Vgl. ebd., v.a. S. 151–153, hier S. 151.

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schildert eine Diskussion mit seinem Anwalt über die Länge der zu erwartenden Strafe, wobei der Anwalt beschwichtigend von gut zwanzig Jahren ausgeht, was den Ich-Sprecher gleichwohl beunruhigt: »Ne avrò più di sessanta quando uscirò. Sarò vecchio.«71 Er ist zu diesem Zeitpunkt also ungefähr vierzig Jahre alt – die Handlung spielt somit etwa im Jahre 2008, dem Publikationsjahr von Cinacittà. Wir haben demzufolge keine Zeit-Dystopie vorliegen, die in mehr oder minder ferner Zukunft angesiedelt ist, sondern eine Dystopie, die zwar vorgibt, in mehr oder minder ferner Zukunft zu spielen, eigentlich aber ein kontrafaktisches Gedankenexperiment ist, das sich in einer imaginären Gegenwart des Jahres 2008 verankert findet. Der Autor Pincio verweist in Interviews im Übrigen immer wieder auf die Konkretheit dieses Gegenwartsbezugs: Ma questo non è un romanzo di fantascienza […]. Io non voglio parlare del futuro, non credo nemmeno che ci aspetti un futuro così. Parlo di oggi, un po’ come faceva Orwell. La città di 1984 altro non era che la Londra uscita a pezzi dalla guerra, e la data del titolo non era altro che il 1948 con le cifre invertite. Qui, io racconto le paure dell’uomo comune, che proietta le sue insicurezze sugli stranieri, aspetta con angoscia di essere invaso, coltiva la sua aggressività e finisce per credere alla sua paranoia.72 Mit einer derartigen Orwell-Lizenz versehen macht Pincio aus dem diegetisch indizierten Rom im Jahr 2008 jedoch gleichwohl ein Zukunfts-Rom – etwa des Jahres 2080, wenn wir der Pincio-Logik folgen wollen –, in welchem nun mit erheblicher Wucht die disruptive Klimawandel-Folie aufgespannt wird. Nach dem »famoso anno senza inverno«73 ist die Temperatur offensichtlich rasant angestiegen – an einer Stelle heißt es: »Fuori ci saranno stati più di cinquanta gradi«74 – und hat das vormalige Stadtleben zum Erliegen gebracht.

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Ebd., S. 65. Dieser Auszug aus einem Interview Pincios mit Ranieri Polese, unter dem Titel »Pincio, un’Italia senza domani« am 21. November 2008 im Corriere della sera erschienen, findet sich bei S. Jurisic: Roma città-azienda, S. 200, abgedruckt und wird auch bei M. Chu: Non voglio morire cinese, S. 135, mit Verweis auf Jurisic zitiert. T. Pincio: Cinacittà, S. 41. Später wird der Begriff dann vom Ich-Sprecher noch einmal näher eingeführt: »Lo hanno chiamato anno senza inverno perché ci fu anche un anno senza estate. È una delle tante cose che ho scoperto su Wikipedia. All’incirca due secoli fa […]« (ebd., S. 207). Ebd., S. 236.

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»Il caldo mi prostra«, bemerkt der Ich-Sprecher dazu früh im Text, »ogni giorno che viene sembra più torrido del precedente, lo sfinimento cresce di pari passo«75 . Es hat aufgehört zu regnen, man spricht schließlich von der »grande estate«76 , dem ewigen Sommer, spätestens nach dem ersten Jahr der Hitze, das die städtische Ordnung komplett aus dem Takt gebracht und in einen zusehends zielstrebigen Exodus aus Rom überführt hat: Era ormai trascorso un intero anno senza inverno, un altro se ne stava andando allo stesso modo. Due anni quasi. Due anni vissuti a temperature infernali in una Roma di fuoco e tenebra che sarebbe piaciuta tanto a Nerone. Le macchine avevano iniziato a esplodere da qualche mese. Nessuno sperava più che si potesse tornare alla normalità. Il grande esodo – il vero grande esodo – era già in atto. Ogni giorno i treni venivano presi d’assalto, per usare un’espressione giornalistica. I romani se ne andavano e al loro posto spuntavano i cinesi. […] a metà del terzo anno senza inverno – quindi a esodo ormai terminato – la popolazione di Roma era scesa assai sotto il mezzo milione di anime, tutte ammassate nei quartieri del centro. Nelle periferie era il deserto. Centocelle, Prenestino, Primavalle, la borgata Finocchio, il Trullo, il Mandrione: che fine avevano fatto? Il burrone della Marranella. Il maestoso Corviale. Nessuno osava spingersi fin laggiù, nessuno ne sapeva niente.77 Die aufgeheizte Stadt leert sich in kürzester Zeit, die Bewohner:innen fliehen in den Norden, während das Stadtzentrum rasch wieder neu genutzt wird: Die unmittelbar zugezogenen Chines:innen können offenkundig mit der Hitze leben – und die wenigen zurückgebliebenen Römer:innen müssen sich mit den neuen Verhältnissen arrangieren: »Il caldo non ti molla mai. Di giorno si sta rintanati in casa a dormire, attendendo come vampiri che cali il sole. Di notte si va in giro, al lavoro o a sperperare la propria esistenza in qualche maniera. Non credo che al Nord si rendano conto di cosa significhi vivere qui dopo l’anno senza inverno.«78 Die wilde Flucht der Römer:innen besiegelt »la morte di Roma«79 und setzt nicht nur unter den Migrierten, sondern ebenso unter den wenigen

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Ebd., S. 9. Ebd., S. 68. Ebd., S. 99/100. Ebd., S. 45. Ebd., S. 207.

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Verbliebenen starke Emotionen frei, die in Beschimpfungen der nachrückenden Chines:innen kulminieren. Der Ich-Sprecher macht da keine Ausnahme: »Alla fine è arrivata questa catastrofe climatica dell’anno senza inverno, per cui a Roma sono rimasto solo io, il mio avvocato e quattro gatti. Sí, va bene, ci sono i cinesi, ma loro non contano, loro sono come gli invasori spaziali.«80 Giulio, seinem besten Freund, der wie fast alle früh nach Norden geflohen ist und immer schon starke Ressentiments gegen Chines:innen gepflegt hatte, legt der Ich-Sprecher in imaginären Gesprächen gerne entsprechende Bemerkungen in den Mund (»Guardati intorno, accidenti. Ti sei accorto di cosa è diventata questa città? Un caldo d’inferno, macchine che esplodono, interi quartieri abbandonati, masnade di cinesi che hanno preso possesso del centro. Peggio dell’apocalisse«81 ). Giulio wird so zu einem Verstärker einer durchgängig mitlaufenden ›fatalistischen‹ Schiene, die zum einen das Phlegma des Ich-Sprechers flankiert (das schließlich in Eifersucht und gewalttätigen Jähzorn münden wird), zum anderen die zunehmende Normalität der Hitze, die scheinbar nur noch ein Leben in der Nacht von Cinacittà ermöglicht. Die durch den Gesellschaftsaustausch und die unerträglichen Temperaturen generierte Fatalität im chinesischen Rom wird zudem durch eine neue Krankheit begleitet, das Römische Fieber, das nicht nur üble Langzeiteffekte, sondern auch den Tod zur Folge haben kann. Kranke, die sich vornehmlich aus den ›alten‹ Migrant:innencommunities zusammensetzen, versammeln sich im Kolosseum (»una sorta di lazzaretto e ricovero di sfollati«82 ), wobei das Fieber auch Chines:innen nicht verschont:83 Oggi con febbre romana si intende la misteriosa influenza che ha iniziato a manifestarsi in città dopo l’anno senza inverno. I primi sintomi sono quelli di un comunissimo raffreddore che non vuol saperne di passare. In molti casi, la malattia non va oltre questo fastidioso stato. A volte, però, peggiora. Trascorsi un paio di mesi, al mal di gola si aggiungono stanchezza cronica, dolori alle ossa, febbre perenne. Nulla di grave, in teoria. Il problema è che lo stato di prostrazione affligge la persona per il 80 81 82 83

Ebd., S. 87. Vgl. auch ebd., S. 133: »Nessuno veniva più a Roma, a parte qualche commerciante del Nord che ordinava ai cinesi vagonate di vestiti a basso costo.« Ebd., S. 48. Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 205: »Erano quasi tutti africani, romeni e albanesi. Ma c’era anche qualche cinese e italiano che si era beccato la febbre romana e aveva preferito il Colosseo alla morte certa cui sarebbe andato incontro in ospedale.«

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resto della vita rendendola incapace di fare alcunché. L’altro giorno il mio avvocato mi ha portato la notizia che a breve sarà disponibile un vaccino. […] Dobbiamo solo ringraziare il cielo che il contagio è limitato.84 Der Ich-Sprecher jedenfalls ist unwillig, nach der großen Disruption und deren Effekten noch irgendetwas Produktives zu leisten. Seine Familie, d.h. Eltern und Bruder, sind längst mit den übrigen Römer:innen nach Norden geflohen. Er selbst verliert seine Arbeit in der Galerie, sitzt im Anschluss ständig vor dem Computer und lädt sich Musikclips, Sci-fi-Katastrophenfilme und japanische Pornos herunter; schließlich beginnt er, die besagte Marx-Biographie zu lesen. Abends, wenn man wieder nach draußen gehen kann, begibt er sich beinahe zwanghaft in die Città Proibita, eine Go-Go-Bar an der Piazza Vittorio (dem vormaligen Zentrum des migrantischen Rom), wo er auch wohnt85 – weil er glaubt, so erfahren wir, dort vor seinem eisgekühlten Bier sitzend und kontemplativ die Schönheit der nackten chinesischen Tänzerinnen genießend, das ›Glück‹ erkennen zu können.86 In der Città Proibita, der Verbotenen Stadt – womit nicht nur Beijing und alle Mythen rund um das chinesische Machtzentrum aufgerufen werden, sondern zugleich die diegetische Gegenwart der Stadt Rom gespiegelt wird – trifft er wieder auf Wang, den er noch aus seiner Kindheit kennt. Wang führt, neben anderen Geschäften – hier ist das notorische Thema der chinesischen Mafia eingebracht87 –, nun diese Bar, in der er den schicksalsergebenen IchSprecher zusehends an sich bindet. Wang beschafft dem ständig klammen Protagonisten eine neue und billigere Bleibe im Hotel Excelsior im römischen Zentrum, leiht ihm Geld, gibt ihm Arbeit und verkuppelt ihn mit der Go-GoTänzerin Yin: eine 21-jährige, aus der Nähe von Shanghai stammende, stets schweigende und nach Vanille duftende Prostituierte mit perfektem ›milchfarbenem‹ Körper, welcher der Ich-Sprecher zusehends verfällt. Dieser begibt 84 85 86

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Ebd., S. 205. Vgl. ebd., S. 167; in der Tat bemerkt der Ich-Sprecher dazu: »Il quartiere dove vivevo e passavo tutto il mio tempo era una Chinatown già prima dell’anno senza inverno.« Vgl. ebd., S. 107: »Mi sedevo a un tavolo, ordinavo una birra e osservavo scorrere la vita. Non so, credo che il fatto di apprezzare la bellezza delle ragazze senza il benché minimo pensiero di congiungimento carnale mi mettesse nella posizione dello spettatore ideale, di osservare il mondo con il giusto distacco. Poter guardare e non voler comprare fu per me la scoperta della chiave della felicità.« G. Zhang: Contemporary Italian Novels, S. 28, spricht in diesem Zusammenhang gar von »Pincios obsession with the Chinese mafia«. Das halte ich für einigermaßen übertrieben.

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sich also in komplette Abhängigkeit von Wang, während er sich selbst erst als Geliebter, dann als Gebieter Yins geriert – die er immer eifersüchtiger drangsaliert, brutal behandelt, schlägt und schließlich heiraten möchte, um sie noch enger an sich zu fesseln. Die Schilderungen der sexuellen Handlungen durch den Ich-Erzähler nehmen jedenfalls kein Blatt vor den Mund und erinnern Yin als stummes und willenloses Sexualobjekt, mit dem er machen kann, was er will: »Le parlavo come si parla a un cane, ribadendo a me stesso che lei capiva tutto nonostante le mancasse la parola.«88 Dieser Ich-Sprecher wird also aus seiner vermeintlich kontemplativen pornotopischen Distanz89 durch Yin und Wang in einen Strudel sexzentrierter Ereignisse geworfen, die ihn schlussendlich als Mörder von Yin im Gefängnis enden lassen. Abgesehen von wenigen Nennungen der Mutter des Ich-Sprechers sind die namenlosen chinesischen Tänzerinnen/Prostituierten in der Città Proibita die einzigen weiblichen Figuren dieses Romans, die im Grunde in der Figur Yins kondensiert werden – einer Figur, die aufgrund ihrer Stummheit und ihrer Passivität kaum konturiert und schließlich ermordet wird. Obwohl Yin, »mia dolcissima«90 , im Ich-Sprecher machtvoll sexuelle Lust, Verliebtheit und schließlich Eifersucht91 auslöst, bleibt sie für ihn trotz Heiratswunsch doch zuallererst Prostituierte (»mia puttanella amorosa«92 ), bis zu einem Punkt, welcher die derart attribuierte ›Wertlosigkeit‹ offenkundig macht. Als der Ich-Sprecher die ihm zugeteilten Sicherheitsmaßnahmen während des Gerichtsprozesses mit Unverständnis schildert, heißt es deshalb: Tante storie per una puttana. Non mi si fraintenda, volevo un mondo di bene a Yin. Nessuno era più affranto di me per la sua fine terribile. Quel che voglio dire è che ne stavano facendo una tragedia solo perché ero romano. Fossi stato uno di loro avrei potuto ammazzarne una dozzina, farle a pezzetti e cuocerle allo spiedo nell’indifferenza generale.93 88 89

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T. Pincio: Cinacittà, S. 256. Zum Pornotopischen vgl. Hentschel, Linda: Pornotopische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne, Marburg: Jonas Verlag 2001. T. Pincio: Cinacittà, S. 332. Vgl. ebd., S. 252: »Anche mio padre era geloso. Estremamente geloso.« Ebd., S. 10. Ebd., S. 61. Auch an anderer Stelle versucht der Ich-Sprecher, seine abschätzigen Bemerkungen zu Yin und Frauen im Allgemeinen selbstgefällig zu rechtfertigen: »Lo so, c’è una definizione precisa per gli uomini che fanno discorsi simili: miso-

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Eine Prostituierte ist demnach all diese Aufregung nicht wert, zumal sich der Ich-Sprecher als Opfer xenophoben chinesischen Eifers wähnt, als römisches Opfer einer inhumanen chinesischen Gesellschaft, die ja Pincio zufolge nichts als das Rom des Jahres 2008 spiegelt. Pincios Formung Yins als beinahe einzige, dabei vollständig objekthafte Frauenfigur94 ist in diesem invektiv bzw. rassistisch-xenophob aufgeladenen Kontext also konsequent misogyn ausgestaltet – die Diegese damit aber auch als eine männliche Apokalypse durchgeformt, das untergehende Rom vollständig gegendert. Es versteht sich von selbst, dass bereits die den intradiegetischen Chines:innen95 unterstellte Hitzeresistenz stark invektiv unterlegt ist und deren abschätzig lancierte ›Andersartigkeit‹ unterstreicht, die im Text auch immer wieder explizit konstruiert wird. Dies geschieht beispielsweise über wiederkehrende noi occidentali-gli orientali-Polarisierungen,96 die den Widerwillen des Ich-Erzählers gegenüber seiner chinesischen Umgebung deutlich machen. Dieser Ich-Erzähler hält sich jedenfalls in seinen Erinnerungen nicht zurück, spricht wiederholt von den »cinesi di merda«97 , die nun in Massen durch die römischen Strassen drängen (»le strade di Roma ridotte a caotiche ammucchiate di cinesi«98 ), den »bestie cinesi«99 , die niemals um Entschuldigung bitten, immer die Stimme über die Maßen erheben, um andere zu übertönen, sich vordrängeln, beim Essen laut schmatzen und den Müll überall hinschmeißen; von den »occhi a mandorla«100 , den »musi gialli«101 und den

ginia. Ma non è il mio caso. Io le amo, le donne. Le venero. Le adoro. È soltanto che sono un pragmatico del quieto vivere« (ebd., S. 10). 94 Pincio stellt Yin an zwei Stellen eine vermeintlich ›starke‹, abstrus gezeichnete Freundin namens Xia Xinfeng zur Seite, welcher der Ich-Sprecher im Gefängnis begegnet und dort fürchtet, der Rache der an der Essensausgabe beteiligten engen Freundin Yins zum Opfer zu fallen. Er verdächtigt Xia Xinfeng, ihrerseits Mörderin (»la ragazza del bacio della morte«; ebd., S. 68), die chinesische Gefängnissuppe für ihn mit ihrem Menstruationsblut zu strecken (»la brodaglia col mestruo di Xia Xinfeng«; ebd., S. 332). 95 Diese sind vornehmlich aus dem südostchinesischen, also warmen Whenzhou zugewandert, erfährt man auf S. 161. 96 Vgl. hierzu ebd., S. 107. 97 Ebd., S. 248. 98 Ebd., S. 167. 99 Ebd., S. 7. 100 Ebd., S. 8. 101 Ebd., S. 59.

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»barbari del terzo millennio«102 , den »nuovi barbari dal muso giallo«103 – barbarischen Invasoren also, ein antiker römischer Topos, dessen invektive Nachhaltigkeit über die Jahrtausende stets neu belegt wird. Der chinesische Blick sei unergründlich (»il suo odioso e insondabile sguardo da cinese«104 ), die Chines:innen seien verschlagen (»I cinesi non sono gente da mettere a repentaglio la propria pelle senza motivo«105 ) sowie rachsüchtig (»sono un popolo alquanto vendicativo«106 ) und tauchten überall wie Ameisen auf (»spuntano ovunque come formiche«107 ). Kurz: »Nulla è come i cinesi.«108 Insbesondere die Neigung zum Geldmachen wird mehrfach invektiv aufgerufen (»sono il popolo piú materialista dell’universo conosciuto«109 , »I cinesi sono monoteisti assoluti, credono unicamente al dio denaro«110 ). Chines:innen sind dem IchSprecher zufolge zudem geborene Spione (»sono spie nate, vipere pronte a spifferare alla prima occasione quel che di vergognoso sanno di te. Per loro non c’è godimento piú grande dello scoprire i tuoi altarini«111 ) und überaus gefährlich: »Gli orientali sono fatti cosí, quando hanno una rogna non cercano mica di risolverla. La eliminano. E se la rogna sei tu, è te che eliminano.«112 Der Ich-Sprecher kann sich diesbezüglich mitunter in Rage reden: Non voglio generalizzare. Non dubito che tra i miliardi di cinesi sparsi per il mondo possa essercene qualcuno d’animo quasi nobile e generoso. Io non ne ho mai incontrati però. La mia personale esperienza è che sono tutti indistintamente gretti e meschini. Del resto, lo dice anche uno dei loro proverbi: se non puoi essere saggio, sii bestia. Quei pochi che si atteggiano ad amanti della cultura, vedi Wang, in realtà se ne fregano del sapere fine a se stesso. Queste mosche bianche sono mosse da un qualche tornaconto di bassa lega, come chiunque altro di 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111

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Ebd., S. 80. Ebd., S. 134. Ebd., S. 35. Ebd., S. 59. Ebd., S. 64. Ebd., S. 194. Ebd., S. 44. Ebd., S. 81. Ebd., S. 91. Ebd., S. 92. Vgl. auch ebd., S. 303: »Se vivi in mezzo ai cinesi, la vita privata è una cosa che ti puoi anche scordare. Le maglie del loro controllo sociale non lasciano scampo […] questi stronzi sono sempre informati su tutto.« Ebd., S. 306.

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loro. Già nei tempi antichi, quando il consumismo non era stato ancora inventato, l’unico scopo per cui gli intellettuali si dedicavano allo studio era diventare funzionari o mandarini, cosí da garantirsi bellissime concubine dai volti di giada e sontuose dimore per far morire d’invidia il prossimo. Basta fare mente locale: quanti grandi pensatori hanno partorito i cinesi in cinquemila anni di storia? Uno solo, Confucio. E dire che non sono affatto stupidi. È solo che prima di impegnarsi in qualcosa si domandano sempre che vantaggio gli porterà. […] Ovunque nel pianeta, le Chinatown sono gironi infernali dove cinesi si divertono a scannarsi tra loro arricchendosi alle spalle di noi occidentali. La romana Cinacittà è il non plus ultra, la bocca di Lucifero.113 Derartige rassistische Gemeinplätze und stereotype Abwertungen werden mit großer Regelmäßigkeit in den Text eingestreut und formen den invektiven Subtext des Plots, der seinerseits den Ich-Sprecher – innerhalb seiner Beziehungen zu Wang und Yin – als vorgeblich sinophil zeichnet. Der oft indifferente Ich-Erzähler beteuert gegenüber Wang, dem gebildeten Freund, Gönner und Billardpartner, der im Verlauf der Handlung zum Ausbund eines mafiösen, verbrecherischen, geldgierigen Chinesen erwächst (»Io, il disastro, l’ho visto fin da prima di incontrare Wang. L’ho conosciuto quand’ero bambino eppure non l’ho evitato«114 ), nichts gegen Chines:innen zu haben: »Mi trovo bene con voi cinesi«115 , erwidert er, als Wang wissen will, ob er die Chines:innen auch für Invasor:innen hält. Durch das voi gibt er gleichwohl deutlich zu verstehen, dass er sich selbst weitab der chinesischen Welt verortet. An anderer Stelle entwirft er im prä-katastrophischen Modus Migrant:innenRankings und wähnt sich unter Chines:innen immer noch besser aufgehoben als unter Rumän:innen (»Vivere in mezzo ai cinesi non è poi così terribile. Sempre meglio dei romeni, che ti spaccano la testa a bastonate per rubarti il cellulare«116 ). Als Durchschnittsitaliener aus einer Familie »un po’ piccolo borghese un po’ proletario«117 , gerüstet mit durchschnittlichem italienischem Xenophobiepotenzial, kann sich der Ich-Sprecher den neuen Verhältnissen augenscheinlich durchaus anpassen, indem er sich zwar abschätzig, aber doch ohne Widerstand einfügt, genauer gesagt: Der Ich-Sprecher (»sono 113 114 115 116 117

Ebd., S. 92. Ebd., S. 85. Ebd., S. 159. Ebd., S. 196. Ebd., S. 109.

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un pragmatico del quieto vivere«118 ) lässt sich treiben und wird schließlich getrieben. Er endet als Mörder im Gefängnis, dann endgültig jeder Freiheit beraubt – was ihm irgendwann auch klar vor Augen steht: »Cosa c’entravo io con questi cinesi che si permettevano di guardarti dall’alto in basso nonostante i loro modi da carrettiere? […] Potevo prendere l’ultimo treno per scampare al disastro e l’ho perduto.«119 Der finale Entschluss zur Niederschrift seiner Erinnerungen, der Memorie del mio delitto efferato, kann also auch ganz klassisch als Läuterung des gereiften Protagonisten begriffen werden, zumindest diese letzte (Willens-)Freiheit zu ergreifen. Der entstehende Erinnerungstext mündet folgerichtig in eine emotiv weiterhin erregte Warnung an die geflohenen Römer:innen bzw. die noch freien Nordeuropäer:innen: La gente del Nord se ne sta beata al fresco, convinta che quel che succede nella rovente Cinacittà non li riguardi. Vi sbagliate, cari amici del Nord, inclusi voi hippy di Danimarca che andate in giro a piedi nudi come bambini. Vi sbagliate di grosso. Voi nemmeno immaginate di cosa possono essere capaci i cinesi. Sanno fare molto di più che sputare in terra.120 Die Erinnerungen des Ich-Sprechers weisen zudem größere Teile der Schuld von ihm: Zum einen wird die ewige Stadt für den erbärmlichen Gang der Dinge verantwortlich gemacht, »questa città di merda«121 , die Stadt der Hitze und des Fiebers, in der Morde seit Anbeginn an der Tagesordnung waren: »A Roma, prima o poi ci scappa il morto. È scritto nel codice genetico«; und: »L’altra caratteristica saliente di Roma è che è un troiaio. Anche questo fa parte del suo codice genetico«122 . Dieses Rom hat der Ich-Sprecher angeblich immer schon gehasst: »Ho sempre detestato Roma […] «, heißt es früh im Text, »Nascere qui è stato l’inizio della mia sperperata esistenza«123 . Es ist also ein römisches, ein Rom-generiertes Verbrechen, ein römisch vergeudetes Leben in der angeblich ewigen Stadt, der absurden Stadt der Hitze nach der Disruption, die allerdings

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Ebd., S. 293. Ebd., S. 232/233. Ebd., S. 335. Ebd., S. 306. Ebd., S. 27. Ebd., S. 11; vgl. ebd., S. 232: »una città che mal sopportavo già prima dell’invasione barbarica«.

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aus dem Leben des römisch verbliebenen Ich-Sprechers in der neuen chinesischen Gesellschaft nun große Geschichte werden lässt, so seine nicht uneitle Einschätzung: »La mia storia e la Storia. La mia sordida storia di insignificante omuncolo, pidocchio confuso nell’universo, e la sublime Storia di una città che si credeva eterna.«124 Und es sind selbstredend die neuen Römer:innen, die ihm übel wollen: »Mi trovavo in una città d’inferno piena di cinesi che cospiravano ai miei danni.«125 Der schlimmste von allen ist nun Wang, von dem er sich in die Falle gelockt wähnt. In der Gerichtsverhandlung ist es dem IchSprecher nicht möglich, seinen Verdacht zu erhärten, dass nicht er, der sich nicht an die Tat erinnern kann und Yin nicht bestialisch erstochen haben will, der eigentliche Mörder sei, da er sich während der Tat im Fieberdelirium wälzte und sich lediglich an Fetzen erinnert, die ihm sagen, dass vielmehr Wang der Verantwortliche gewesen sein muss (die Täterschaft wird im Übrigen im Text nicht vollends aufgelöst, einzig der Untertitel des Textes enthält so etwas wie ein Geständnis).126 Jener Wang, der ihm zuvor unmissverständlich sein Fehlverhalten vor Augen geführt hatte, in einer Manier, die seinen neuen Status als devalorisierter ›Anderer‹ in aller Deutlichkeit benennt:127 Tu non sei me, – disse [Wang] – Tu non sei come noi. Tu, in questa città, non conti un cazzo. Sei uno straniero, e se vuoi restare a Roma devi mantenere il contegno che si conviene a un ospite. Non puoi trattare una nostra donna, una ragazza che non ti appartiene, come fosse il tuo cane. Lei non è tua, e nemmeno questa città lo è. Non puoi fare come ti pare. Qui non sei più a casa tua.128 Pincio legt also eine Dystopie vor, die in der Tat viel mit der gegenwärtigen italienischen Immigrationsgesellschaft und den dort schwelenden Ängsten zu tun hat: eine Dystopie, die das Migrationsthema doppelt (die Römer:innen migrieren nach Norden, die Chines:innen migrieren nach Rom) und die kon-

124 Ebd., S. 18. 125 Ebd., S. 308. 126 Zu Beginn des Textes heißt es zwar: »Per farla breve, mi sono reso responsabile di un delitto efferato« (ebd., S. 7), aber diese ›Verantwortlichkeit‹ wird im nachfolgenden Text immer wieder eingeschränkt. 127 S. Jurisic: Roma città-azienda, S. 206, weist darauf hin, dass Wang im Grunde der einzige chinesische Sprecher im Text sei (»Wang, praticamente l’unico cinese parlante del romanzo«) – was diese Aussage umso schärfer stellt. 128 T. Pincio: Cinacittà, S. 306.

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fliktinduzierten Herabsetzungen erst aus römischer Perspektive akkumuliert, dann aber, durch Wang, invers dynamisiert. Ein prototypischer Römer, »un borghese minuscolo minuscolo«129 , wird in der erzählten Welt Opfer seiner selbst, seiner Apathie, seiner Wankelmütigkeit, seiner sadistischen, gegen Frauen gerichteten Gewalttätigkeit und seiner Selbstgefälligkeit – vorgeführt von chinesischen Neu-Römer:innen, die ungleich smarter sind: eine vergleichsweise simple Geschichte, die allerdings durch ihren dystopischen Zuschnitt als Zukunfts-Zerrspiegelung gegenwärtiger Zustände gerade über die klimakatastrophen- und migrationsinduzierte Rahmung semantisch-kritische Kraft erhält. Das Erzählen einer klimabedingten Disruption samt migrationsbedingtem Gesellschaftswechsel ist prototypischer Dystopiestoff und mit dem Schauplatz Rom zudem spektakulär verortet. Das kritische Potenzial der Erzählung findet sich allerdings durch die quantitative Wucht der Chines:innen-Beschimpfungen des IchSprechers, durch die ungebrochene, eben nicht komisch oder satirisch reflexiv gemachte invektive Kodierung der Erinnerungen nachhaltig unterminiert. Gaoheng Zhang jedenfalls will sich diesbezüglich nicht ganz festlegen: »All things considered, it is difficult to determine whether Cinacittà is intended as an anti-Chinese piece, as Storia della mia gente clearly is, or as a mockery of such textual violence which in truth uncovers Italian insecurities.«130 Pincios Erzählung weist in der Tat immer wieder Ansätze zu einer Nabelschau der Erbärmlichkeit dessen auf, was wohl als italienische ›Mittelmäßigkeit‹, als lächerliche Mittellage dargestellt werden soll – eine solche Kritik kann aber nicht greifen, weil weder ›metainvektive Reflexivität‹ hergestellt noch die gedankenlose Gewalttätigkeit des Protagonisten gegenüber Yin in ihrer Misogynie kritisch gerahmt wird. Pincio liefert also hochaktuellen dystopischen

129 Ebd., S. 294. 130 G. Zhang: Contemporary Italian Novels, S. 28. Zhang legt den Schwerpunkt seines Überblicks über italienische Thematisierungen der chinesischen Immigration auf die seiner Ansicht nach notorische Verbindung dieses Themas mit der chinesischen Mafia – so auch in Pincios Fall, wie der Fortgang des obigen Zitats zeigt: »What is certain is that together with Gomorra, Cinacittà constitutes an important intervention in the literary debates on the Chinese mafia in Italy, against which subsequent novelists felt compelled to react.« Zhang weist also darauf hin, dass die mafiöse Zeichnung der Chines:innen in Pincios Text sehr wohl Reaktionen zur Folge hatte. Einige Seiten zuvor wird er – erneut über den Mafia-Fokus – diesbezüglich deutlich: »Indeed, Pincio’s book makes the most unrestrained and negative comments on Chinese immigrants in recent Italian literature through a description of the Chinese mafia« (ebd., S. 23).

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Stoff und bearbeitet vor der Folie des Klimawandels die chinesische Migration nach Italien sowie die damit vorgeblich verbundenen italienischen Ängste, lädt den Text dabei aber nahezu ungebrochen xenophob auf – und liefert so ein durchaus befremdliches fiktionales Exempel sowohl für cli-fi- als auch für Migrationsliteratur.

Antonio Scuratis La seconda mezzanotte (2011) Drei Jahre nach Pincios Cinacittà erscheint in Italien ein weiterer dystopischer Text, der sich erneut die Themen ›Klimawandel‹ und ›chinesische Migration‹ vornimmt und dabei die neben Rom sicherlich am stärksten mythenumwehte italienische Stadt zur Endzeit-Szenerie werden lässt, nämlich Venedig – über Jahrhunderte das europäische Tor nach Asien im Sinne des florierenden Fernhandels, der Venedigs Wohlstand begründet hat. Auch bei Antonio Scurati wird die Stadt durch den Klimawandel schwer getroffen, genauer gesagt: durch eine Katastrophe beinahe vollständig zerstört und im Anschluss chinesisch dominiert, allerdings auf andere Weise als bei Pincio. Scurati durchwebt seinen Text ebenfalls deutlich mit antichinesischem Impetus, der aber vorwiegend indirekt, über die räumliche Ausgestaltung Nova Venezias und die damit verbundenen gruppenspezifischen Aufenthaltsregeln, über die Disposition der gewaltgesättigten Handlung sowie die Beschreibung der skrupellosen, zynisch-rassistischen und brutalen Wirtschafts- bzw. Biomacht-Politik der »padroni cinesi«131 aufscheint – nicht wie bei Pincio durch permanente invektive Beschimpfung durch den Ich-Sprecher. Scuratis Venedig-Dystopie erstreckt sich über 407 Seiten Fließtext: Auf den Prolog folgt der erste Teil La Sera Occidentale mit fünf betitelten Kapiteln, schließlich der zweite, längere Teil Il Carnevale mit 14 Kapiteln: sechs davon haben einen identischen Titel, Nella città perduta, und entsprechen einem Erzählstrang, der im zerstörten Teil Venedigs spielt. Nach dem ersten und vor dem zweiten Buchdeckel sind zwei Venedig-Karten abgedruckt, die das Buch kartographisch eröffnen und beschließen. Die erste Karte (Abb. 3) liefert den Grundriss des ehemaligen, jetzt zerstörten Stadtkörpers, la Città perduta. Vom schematisch gehaltenen Stadtgrundriss abgehoben ist der schärfer dargestellte Ausschnitt von Nova Venezia, der in seiner Flurstruktur samt Perimeter und Wasserschutzbauten abgebildet wird. Sowohl für die Città perduta als 131

A. Scurati: Mezzanotte, S. 282.

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auch für Nova Venezia findet sich jeweils eine italienisch-chinesische Legende eingefügt. Die Karte zu Ende des Buches (Abb. 4) zeigt nun Nova Venezia im vergrößerten Maßstab und markiert samt Legende die umgebenden Mauern, die Schutzdämme und den Umriss des Superdome, schließlich relevante thematische Stadtabschnitte sowie einzelne Handlungsorte der erzählten Welt. Durch die rahmende Funktion der beiden Karten aktiviert Scurati die unterschiedlichen Potenziale des Kartographischen, die ja nicht nur räumliche Orientierung ermöglichen, sondern insbesondere auch Machtverhältnisse indizieren. Kombiniert mit den mental maps der Leser:innen entsteht so unmittelbar narrative Bewegung, die mit der Materialität und Vergänglichkeit des Stadtkörpers sowie des menschlichen Vorstellungsvermögens spielt und damit den gesamten Text umfängt.

Abb. 3: Antonio Scurati: La seconda mezzanotte, Milano: Bompiani 2011, S. 2/3.

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Abb. 4: Antonio Scurati: La seconda mezzanotte, Milano: Bompiani 2011, S. 428/429.

Das materielle Venedig – die polyperspektivisch aufgespannte Handlung hat rund um die Karnevalswoche des Jahres 2092 statt und erstreckt sich entlang der während dieser Zeit stattfindenden spektakulären Gladiatorenkämpfe – findet sich im Plot immer wieder klar ausdifferenziert: also ganz anders, als das in Pincios Rom der Fall ist. Bei Scurati ist die fortwährende Nennung von Straßen- und Platznamen überdeutlich als effet de réel-Strategie eingebracht. Die Erzählinstanz des Textes und die Figuren liefern präzise Informationen zu Gebäuden, Plätzen, Brücken, Gassen und Bezirken, welche die Bewegungen durch den Nova Venezia-Raum referieren und die Physis der Stadt heraufbeschwören. Zusammen mit dem zentralen Protagonisten, dem Maestro, dem 40jährigen venezianischen Ausbildungschef der Gladiatoren, der in stetem Austausch mit den chinesischen Machthabern vor Ort steht, genauer mit dem Procuratore ai Giochi, dem für den Vergnügungsbestrieb, insbesondere die Gladiatorenkämpfe verantwortlichem Politiker Xiao Ming – beide bilden die Fluchtpunkte der Handlung –, werden die Leser:innen auf Wanderungen durch Nova Venezia mitgenommen und in unterschiedliche Etablissements oder Machtorte eingeführt. Ähnliches geschieht mit Blick auf die Città perduta, das nicht wieder aufgebaute Venedig, vermittels der versuchten Flucht des Gladiators Spartaco, der – auf Gerüchte der alten Venezianer:innen vertrauend, dass es außerhalb der Mauern von Nova Venezia noch Reste der

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ehemaligen Stadt gäbe, über die man auf das Festland gelangen könne – die chinesische Vergnügungszone verlässt und das verwilderte Restvenedig durchwatet: eine an I Am Legend132 erinnernde Passage, die das Überleben in einer zerstörten Stadt unter katastrophisch verschobenen Parametern schildert. »Alla fine la sera occidentale era arrivata, ma gradualmente, e noi non ce n’eravamo nemmeno accorti«133 – so lässt Scuratis Erzählinstanz mit Rekurs auf den Titel des Romans den Text beginnen, um am konkreten Beispiel Venedigs die Folgen des Klimawandels für das menschliche Leben exemplarisch durchzuspielen: »Una catastrofe al rallentatore«134 sei seit Langem im Gange und strebe dem planetarischen Untergang zu; und: »l’apocalisse aveva fatto ben poco rumore«135 . Durch die globale Erwärmung und den resultierenden Anstieg des Meeresspiegels kommt es zu Verwüstungen durch die »Grande onda«136 , die in der Nacht vom 08. auf den 09. November 2072137 Venedig fast vollständig vernichtet.138 Die umgebende Lagune wird zu einer riesigen Sumpflandschaft.139 Auch in den nördlichen Bereichen des Mittelmeeres (»divenuto un mare equatoriale«140 ) herrschen mittlerweile nordafrikanische Wetterbedingungen,141 italienische Weine gibt es schon lange nicht mehr: »l’innalzarsi

I Am Legend (USA 2007, R: Francis Lawrence) soll hier lediglich das aufgegriffene Narrativ umschreiben. 133 A. Scurati: Mezzanotte, S. 11. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Ebd., S. 12ff. 137 Ebd., S. 11. 138 Vgl. auch ebd., S. 248: »La catastrofe finale aveva camminato a lungo al nostro fianco, forse da molto tempo era stata perfino il nostro unico compagno di strada, il solo evento che il futuro tenesse in serbo per noi. […] Con i ghiacciai è stato lo stesso. A un tratto la cosa ha raggiunto un punto di accelerazione, ma andava avanti da oltre un secolo. La Grande onda veniva da lontano e a dire il vero, a voler essere onesti fino in fondo, non ci ha poi trasformati più di tanto. Molti in seguito hanno sostenuto che ci siamo imbarbariti in quel preciso momento, che abbiamo piegato le ginocchia sotto il peso della mazzata, ma la verità è che l’Onda ci ha fatti diventare ciò che già eravamo.« 139 Vgl. ebd., S. 12: »Venezia dopo un millennio di vita anfibia, si era di nuovo impaludata in una zona morta.« 140 Ebd., S. 98. 141 Vgl. ebd., S. 15: »l’alto bacino del Mediterraneo smottato verso condizioni climatiche nordafricane«. 132

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della temperatura, desertificando la fascia mediterranea, ha reso da tempo la penisola inadatta alla coltivazione della vite«142 . Die Temperatur steigt noch an Weihnachten mittags auf fast 30 Grad:143 In Scuratis klimakatastrophischem Venedig gibt es also ebenso wie bei Pincio keinen Winter mehr, es herrscht »un’eterna, torrida, umida estate tropicale«144 . »Tempeste termiche«145 schütteln die Stadt, der Himmel in Nova Venezia ist gelb, die Luft »una mucillagine melmosa«146 . In der Città perduta ist die Luft noch ein Stück zäher (»L’aria è irrespirabile, s’impiastra nei polmoni come una sostanza catramosa«147 ), durchschwirrt von »nugoli di zanzare«148 . Durch weltweit fortdauernde katastrophische Ereignisse bestimmt der Klimawandel nicht nur den status quo in Venedig, sondern überall auf dem Planeten.149 Die agrarische Produktion hat sich in Regionen wie den Punjab verschoben,150 die weltweite Ernährung erfolgt mittlerweile ohne Rindfleisch, dafür mit Grillen und Heuschrecken,151 Fische sind ohnehin bereits fast vollständig ausgerottet.152 Aber nicht nur das Klima greift

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Ebd., S. 284. Vgl. ebd., S. 27. Ebd., S. 22. Vgl. auch ebd., S. 380: »Ma oramai è rimasta soltanto l’estate.« Ebd., S. 27. Ebd., S. 70. Ebd., S. 300. Ebd. Vgl. etwa ebd., S. 39: »Lo schermo è oscurato, rimane soltanto il sonoro. Dà notizia di quattro depressioni monsoniche che nei mesi passati hanno causato gravi inondazioni in India, Pakistan e Bangladesh. Nell’ultimo anno l’Inghilterra e il Galles hanno conosciuto il più umido inizio d’autunno mai registrato; al principio di dicembre quasi tutti i fiumi si sono ingrossati minacciando di rompere gli argini. Più tardi, nel corso del mese, nell’Europa sudorientale le piene e i nubifragi hanno fatto crollare tremilaseicento abitazioni costruite con mattoni di fango, provocando almeno centoquattordici morti accertati. Ovunque le precipitazioni sono state straordinariamente forti e precoci. Già in maggio, del resto, onde alte fino a cinque metri si sono abbattute su sessantotto isole delle Maldive, causando serie alluvioni e gravi danni.« 150 Vgl. ebd., S. 286: »Il Punjab è una delle regioni agricole più fertili della terra, una delle poche dove ancora prosperano il frumento, la canna da zucchero e gli alberi da frutta.« 151 Vgl. ebd., S. 321: »Un allevamento di grilli emette dieci volte meno metano rispetto a uno di bestiame. C’è una carestia causata da un’invasione di cavallette? Benissimo, mangiatele. Ecco una brillante risposta alla crisi mondiale della carne e all’estinzione dei pesci.« Vgl. hierzu auch ebd., S. 61. 152 Vgl. ebd., S. 100.

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tiefgreifend in den Alltag der Menschen ein, auch die anhaltende Umweltverschmutzung tötet in hohen Margen153 oder bewirkt Veränderungen der genetischen Eigenschaften der Menschen: Männer etwa, auch oder gerade die reichen, ›verweiblichen‹ zusehends.154 Scurati ruft im fortlaufenden Geschehen diese climate change-Rahmung direkt wie indirekt immer wieder auf, um einen global angestiegenen Angstpegel zu markieren, den sich die chinesische Machtpolitik in der erzählten Welt politisch-ökonomisch zu eigen macht. Wie bei Pincio nutzt China also die klimakatastrophischen Verschiebungen zur Machtexpansion und hat damit im heftig angeschlagenen Italien fundamentalen Erfolg. Auf diese Weise wird fortwährend nicht nur die zynische, global zugreifende chinesische Unterwerfungspragmatik immanent invektiv ausgestellt, sondern – ähnlich wie bei Pincio – stets auch die ›Andersartigkeit‹ der Chines:innen behauptet, die im Gegensatz zum Rest der (westlichen) Welt strategisch klug mit der klimakatastrophischen Gesamtlage umzugehen wissen. Im Zuge der chinesischen Expansionspolitik hatte Beijing den staatlich gelenkten Medienkonzern TNC155 die zerstörte Stadt Venedig vom Protektorat Norditalien käuflich erwerben lassen, um dort ein hocheffizientes Exempel chinesischer Biopolitik zu errichten. TNC ließ riesige Staudämme um Teile der ehemaligen Serenissima aufziehen und eröffnete 2082, zehn Jahre nach der Grande onda, den Vergnügungspark Nova Venezia, der den Reichen der chinesisch dominierten Welt alles Vorstellbare für Geld offeriert. Auch bei Scurati findet sich das Migrationsthema folglich vor der Folie der Klimakatastrophe invertiert zur Dystopie einer chinesischen Machtübernahme – in diesem Falle in Venedig, einer Stadt, deren ›Einzigartigkeit‹ nun mittels partieller Umkodierung des ›Angebots‹ auf neue Weise aktiviert wird. Wie in Pincios Rom-Dystopie scheint ›Macht‹ klar verteilt: Das Sagen haben unter den neuen Bedingungen die chinesische Elite und ihre ausführenden Organe,

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Vgl. ebd., S. 61: »Solo nella provincia di Pechino, i morti per le patologie conseguenti all’acidità dell’aria sono ogni anno quattrocentocinquantamila. Se non dovessero intervenire drastiche misure di correzione, le spese per le cure sanitarie delle malattie da polluzione salirebbero a oltre il trenta per cento del PIL.« Scurati führt das für seinen Protagonisten il Maestro (vgl. ebd., S. 24) und für den Procuratore Xiao aus (vgl. ebd., S. 203f.). Vgl. ebd., S. 12: »TNC – il colosso cinese di telecommunicazione, informazione ed entertainment controllato dai burocrati del Partito«.

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schließlich die globalen Reichen, die sich im orgasmisch156 durchfunktionalisierten Nova Venezia-Vergnügungspark Erholung vom weltweiten Überlebenskampf erkaufen können. Die globale Klimakatastrophe (»l’Africa […] è oramai un continente morto«157 ) wird deshalb durch eine sensationalistische 24/7-Klimaberichterstattung mit politisch-ökonomischer Absicht in den bildschirmbespickten Vergnügungspark hineingetragen – »cinedisastri«158 oder »meteo killer« genannt, »di gran lunga il programma più seguito«159 der chinesischen »mondovisione«160 . Auf anderen Riesenwänden laufen animierte Werbebilder für Veranstaltungen, z.B. an den Außenwänden des Superdome Werbung für die KarnevalsGladiatorenkämpfe,161 den Höhepunkt der käuflichen Grausamkeitsexzesse, für die 300.000 Besucher in die Stadt kommen.162 In allen Vergnügungsörtlichkeiten sind die Wände mit hunderten von Monitoren tapeziert, um durch permanente mediale Bestrahlung das politisch gewollte orgiastische Verhalten der reichen Gäste zu animieren, offeriert man doch eine durchorganisierte ›Auszeit‹ von den globalen Notlagen. Nova Venezia bietet den Besucher:innen

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Vgl. ebd., S. 292: »La città è orgasmica, travolgente e travolta. Sembra un animale inebriato che abbia truffato il muso intero nella preda.« 157 Ebd., S. 59. Vgl. auch ebd., S. 114: »dopo la desertificazione dell’Africa subsahariana«. 158 Ebd., S. 272: »Il cinegiornale – o ›cinedisastro‹, come lo hanno ribattezzato i veneziani – è il tessuto esterno, la superficie che riveste l’organo vitale, organo cavo, di Nova Venezia. I cinedisastri sono brevi filmati, quasi sempre senza commento, inviati da ogni parte del globo. Li girano videoamatori, telecamere di sorveglianza o troupe specializzate. Postazioni video automatizzate installate nelle città dei Territori insicuri, scene dai fronti di guerra, documentari di catastrofi. Spesso sono prodotti o coprodotti dalla procura ai Giochi di Nova Venezia per conto della TNC, offerti a un pubblico scelto in anteprima e in esclusiva.« 159 Ebd., S. 39. 160 Ebd., S. 64. Zudem arbeitet man an der Einführung einer neuen Immersionstechnik, die diese chinesische Bildpolitik noch effizienter adressieren kann: »Sono simulatori di esperienze estreme, Maestro. Realtà virtuale immersiva. L’ultimo giocattolo di lusso che offriremo ai visitatori di riguardo in questo nostro splendido palazzo del vizio. Presto la sala verrà inaugurata dal Governatore e l’attrazione aperta al pubblico. Basterà entrare nel guscio per essere catapultati sui più svariati fronti di guerra, nel bel mezzo di massacri di proporzioni oceaniche, sui campi di battaglia di ogni epoca. Abbiamo ricostruito in ogni dettaglio anche una giornata nell’arena dell’antica Roma. Un tuffo nella pura ferocia« (ebd., S. 67). 161 Vgl. ebd., S. 56. 162 Vgl. ebd., S. 149.

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also nicht nur mannigfaltige Exzess-Spektakel (»tutta Nova Venezia si contorce in preda alla frenesia sessuale«163 ), sondern auch einen permanenten overkill an Katastrophenbildern, die zum Zwecke der Aufrechterhaltung von Vernichtungsängsten überall flimmern: Sullo schermo intanto è partito un terzo filmato. Da settimane un vulcano islandese sta eruttando un’immensa nube di ceneri scure sull’Europa settentrionale. Da giorni ha paralizzato il traffico aereo. A mano a mano che la videocamera le si avvicina, la gente in platea si tranquillizza e sospira. Si rimettono seduti. Questa nube li affascina, li accontenta. Si rimettono comodi nelle loro cucce imbottite, raccolgono le gambe e trattengono volentieri il fiato. Questa nube è vasta come mezzo continente.164 Auch die riesigen Schutzdämme von Nova Venezia sind an ihren Innenseiten mit Bildschirmfeldern bedeckt,165 die jeden Tag neue Aufnahmen von globalen Destruktionsereignissen166 oder von zerstörten mediterranen Städten167 zeigen (»forse Napoli, Palermo, Tarragona«168 ), jeweils mit dem Logo von TNC und dem überall in der Stadt prangenden Werbespruch für Nova Venezia versehen: ENJOY THE INNER WORLD. Die chinesische Evasions-Offerte in Nova Venezia ist selbstredend hochgradig politisch aufgeladen und bedeutet den Besucher:innen trügerische Sicherheit und Wohlergehen. Die Bildschirme liefern darüber hinaus regelmäßig politische Nachrichten, die über den geopolitischen Zustand der bedrohten Welt berichten. So erfährt man, dass der gesamte Mittelmeerraum nun, im »secolo cinese«169 , unter chinesischem Einfluss steht: Wir lesen von ›autonomen‹ Zonen rund um das Mittelmeer, die chinesische Satellitenstaaten170 sind – wie beispielsweise

163 Ebd., S. 66. 164 Ebd., S. 278. 165 Vgl. ebd., S. 52: »La murata interna […] è ricoperta lunga tutta la superficie da uno schermo gigantesco, metri e metri di diodi a emissione luminosa, colori saturi e luce pulita.« 166 Vgl. ebd., S. 57: »fotogrammi di disastri provenienti dalle più diverse latitudini del globo«. 167 Es handelt sich augenscheinlich um anthropogene Zerstörungen, nicht unbedingt um direkte klimabedingte Katastrophen (»Dopo anni di guerra civile, la rovina mostra se stessa agli uomini che l’hanno prima edificata e poi demolita«; ebd., S. 52). 168 Ebd. 169 Ebd., S. 14. 170 Vgl. ebd., S. 12.

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»Nord Italia, di fatto un protettorato di Pechino«171 , die Regionen Djerba, Jaffa und Tel-Aviv,172 oder aber Cannes, Pamplona und Florenz.173 Andere angrenzende Zonen werden als ›unsichere Territorien‹ ausgeflaggt (»dalla penisola iberica e quella balcanica, assorbendo tutti i Balcani, i Carpazi, la Grecia [eccetto le isole dell’Egeo, costellate di Zone politicamente autonome], buona parte dell’Italia centromeridionale, della Catalogna e dei Paesi Baschi«174 ). Der westliche Norden Europas mit Frankreich, Deutschland und Skandinavien hingegen befindet sich im angloamerikanischen Einflussbereich und kann sich vor der »invasione esterna«175 , vor dem chinesischem Zugriff noch schützen (»grazie al cemento ideologico dei loro regimi xenofobi e al sostegno del Commonwealth angloamericano«176 ). Die geopolitische Situation in Europa und Nordafrika wird anlässlich einer Nachrichtensendung folgendermaßen beschrieben: Sugli schermi appare una mappa geopolitica dell’Europa. […] Gli stati nominalmente ancora sovrani sono ombreggiati in diversi colori, variabili in ragione dell’area di influenza euroasiatica o angloamericana in cui cadono, mentre le Zone politicamente autonome brillano in corrispondenza di puntini luminosi. Le Terre sommerse sono listate in nero. L’ombreggiatura azzurra, che indica l’afferenza al Commonwealth angloamericano, si allarga su parte del territorio nazionale di Francia, Germania, Benelux, Scandinavia e Regno Unito e su ciò che rimane dell’Olanda, quasi tutta annerita. Il giallo delle Zone di ripopolamento copre buona parte dell’Est europeo – eccetto della Polonia, la Boemia e l’Ungheria –, compresi i Pae-

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Ebd., S. 12. Der Premierminister von Norditalien wird im Text immer wieder als besonders unterwürfiger und zugleich immens brutaler Mann geschildert: »Il primo ministro italiano del governo del Nord […] ha quasi ottant’anni ed è al potere da venti. Si sottopone costantemente al volere dei padroni cinesi e ogni sei mesi a interventi di chirurgia estetica agli occhi e alla bocca. Si fa tirare le rughe e racconta barzellette. Un fantoccio con un sorriso da marionetta.« An dieser Stelle referiert Scurati zweifelsohne auf Silvio Berlusconi. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 59. In Athen, Rom, Marseille und Barcelona haben die klimatischen Bedingungen ein organisiertes städtisches Leben bereits unmöglich machen (vgl. ebd.). Ebd., S. 8. Ebd., S. 17. Ebd., S. 59.

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si Baltici e la Finlandia. Lo stato del Nord Italia è ombreggiato in giallo, dichiaratamente incluso nell’area d’influenza cinese.177 Scurati präsentiert hier ein schematisch zweigeteiltes, intern aber zerrissenes Europa, das partiell Opfer des Anstiegs des Meeresspiegels geworden und durch die klimakatastrophischen Zerstörungen politisch neu konfiguriert ist: aufgeteilt in Einflusszonen der Chines:innen oder der Amerikaner:innen, in umkämpfte, barbarisierte bzw. ›verlorene‹ Gebiete178 oder scheinbar autonome Satelliten-Kleinststaaten. Ungarn wird von Neonazis regiert, der Balkan versinkt im Chaos, und in Russland dominieren die »nuove oligarchie criminali di Mosca«179 . Nordafrika ist entweder zerstört oder verlassen,180 im ›toten‹ Restafrika unterhält China nur noch einige wenige Minen bzw. Agrarprojekte.181 Auch im Protektorat Katar, inzwischen für das menschliche Überleben vollständig ungeeignet, betreibt China weiterhin intensiv Gasförderung.182 Venedig selbst gilt 2092, so der Procuratore, als »la prima e più rinomata tra tutte le Zone politicamente autonome«183 , als wirtschaftlich und politisch komplett aus Beijing gesteuertes Unternehmen, das auf beiden Ebenen großen Gewinn abwirft. Die chinesische Politik in der »orbita d’influenza ci-

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Ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 64f.: »[…] zone barbarizzate del Peloponneso, dell’Andalusia o delle Puglie […] città murate di Jaffa, Johannesburg o Toledo […] baraccopoli senza luce e senza legge di Oporto, Marsiglia o Roma«. 179 Ebd., S. 60. Russland und Peking jedenfalls unterstützen sich gegenseitig: »Noi gli diamo manodopera a costo di sussistenza per colmare la loro oramai secolare fossa demografica, e loro ci danno il gas di cui abbiamo bisogno. La croce russa salvata dall’orda cinese« (vgl. ebd.). 180 Vgl. ebd., S. 59. Es spricht der Procuratore Xiao: »L’intera area mediterranea presto sarà africanizzata. Buffo, non è vero? Se si considera che l’Africa, a parte le nostre miniere in Zambia e Gabon, le zone di pesca e le tenute agricole trasformate in granai esclusivi, è oramai un continente morto.« 181 Vgl. ebd. 182 Vgl. ebd., S. 279: »[…] Qatar, un paradiso fiscale in una lingua di sabbia infuocata tra due mari ribollenti dove è impossibile vivere: cinquanta gradi d’estate e meno di settanta millimetri di precipitazioni annue, per cinquanta miliardi di metri cubi di gas naturale estratti ogni anno del North Field. Da quando il Qatar è diventato un protettorato cinese, rompendo il cartello della Trojka del gas con Russia e Iran, a estrarli sono migliaia di schiavi confuciani che vivono nei pozzi ed escono all’aperto intabarrati dentro tute autorefrigeranti.« 183 Ebd., S. 60.

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nese«184 wird bei Scurati demzufolge als durch und durch zynisch ausgestellt, als gewinnorientiert und totalitär in einem nunmehr beinahe weltumgreifenden Maße, das nur das semidomestizierte Russland sowie die ökonomisch defizitären Bereiche Nordeuropa und Nordamerika ausspart. Nutznießer dieser globalen Verschiebungen sind die mit China paktierenden vormaligen ›Schwellenländer‹, die »penisola Arabica, Messico, Brasile, Cile, Corea, India, Indonesia«185 . Hohe Funktionäre dieser Gewinnerstaaten trinken nun gemeinsam in Nova Venezia auf den »consenso di Pechino«186 , welcher der Welt ein neues Gesicht gegeben hat: L’America adesso non è più lo stadio avanzato dell’evoluzione della specie. Il modello cinese l’ha scalzata. Le regole ora sono cambiate. Tutti loro, a un certo punto, hanno dovuto scegliere: da una parte la democrazia di mercato, con le sue illusorie libertà e le sue infinite complicazioni, dall’altra un’economia autoritaria che garantisce uno sviluppo forte, la stabilità politica e l’aumento del tenore di vita, preservando al contempo la sottomissione dei popoli. Hanno dovuto scegliere e hanno scelto. Senza esitazioni. In tutto il mondo, i fratelli asiatici, africani, latinoamericani hanno scelto il secolo cinese. Ora l’evoluzione aggirerà l’Occidente. L’Europa e il Nord America non sono poi questa gran cosa. Proseguano pure nel loro inesorabile declino. Il governatore del Punjab brinda alla Cina, che ha ingrandito il mondo e rimpicciolito l’Occidente.187 Nova Venezia ist mit dem Muro di separazione188 umgeben, »una barriera di mattoni a vista alta otto metri, un argine camuffato da edificio antico che serpeggiava nel ventre della città seguendo un percorso segmentato, scomparendo dietro i palazzi e riapparendo nei canali interrati«189 . Für die als Sklaven des Vergnügungsbetriebs eingesetzten Venezianer:innen markiert dieser Muro di separazione zugleich die Grenzen der Bewegungsfreiheit – das chinesische Regime in Nova Venezia basiert also auch auf ethnisch zugeordneten Lizenzen bzw. deren Entzug. Hinter diesem Sichtschutz lauert vorgeblich der Tod: »Stando alla versione ufficiale, dall’altro lato non c’è nulla di vivo. Soltanto

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Ebd., S. 271. Ebd., S. 280. Ebd., S. 286. Ebd. Vgl. ebd., S. 16. Ebd., S. 13.

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zanzare«190 bzw. die »aria mefitica della città morta«191 . Innerhalb des Mauer-Umgriffs hat TNC deshalb versucht, Nova Venezia mit hohem technischem Aufwand mit einer lebbaren, um 10 Grad heruntergekühlten Atmosphäre192 bzw. in den Vergnügungs-Gebäuden mit Aircondition zu versorgen, insbesondere im zentralen Superdome.193 Dieses Zentrum des Vergnügungsparks ist eine gigantische, hyperklimatisierte,194 für die massakerhaltigen Spektakel der Gladiatorenkämpfe konzipierte ›Sportarena‹, errichtet mit dem transluzenten Material des italienischen Pavillons der EXPO 2010,195 so Scurati, aufgespannt über der Piazza San Marco und der ehemaligen Basilica di San Marco als riesiger Kuppelbau: una maestosa cattedrale sorretta dall’aria condizionata. Un tempio in cui si consumavano riti di sangue. […] una gigantesca arena gladiatoria. Il nuovo Colosseo: un teatro della ferocia e del furore cui venne accordata, però, la grazia di un clima delizioso. Nel mondo lasciato sulla riva dalla risacca della Grande onda il comfort era, infatti, oramai la sola forma di giustizia.196 Die architektonische wie (aufgrund der dort zur Karnevalszeit stattfindenden Gladiatorenkämpfe) auch orgiastische Strahlkraft des Superdome erhält rasch globale Reichweite197 und steht fortan für die neue chinesische Weltordnung.198

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Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 70: »Fuori dalla cupola l’aria è una mucillagine melmosa, l’acqua della laguna interna uno stagno iridiscente.« 194 Vgl. ebd., S. 55: »Grazie all’impianto di climatizzazione, gode poi di un’altrettanto eterna falsa primavera.« 195 Hier finden wir den einzigen deutlichen Hinweis auf die Entstehungszeit des Romans. Bilder des Pavillons sind im www leicht zu finden (Architekt Giampaolo Imbrighi). 196 A. Scurati: Mezzanotte, S. 14f. 197 Ähnliche Projekte, erfährt man, werden später als »teatri della violenza« (ebd., S. 14) von TNC entlang des nördlichen Mittelmeeres auch in Nizza, Santorin, Split, Formentera und Thessaloniki realisiert, ohne dass man je wieder an die spektakuläre venezianische Urform herangekommen wäre (vgl. ebd., S. 15). Das venezianische Original hat also Strahlkraft und garantiert den Betreiber:innen anhaltende Nachfrage. 198 Vgl. ebd., S. 14: »Quella caverna radiosa divenne immediatamente un simbolo mondiale del nuovo mondo.«

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Die überlebenden Venezianer:innen – es handelt sich dabei um ca. 10.000 Menschen, so der Text,199 die sich allesamt mal mehr, mal minder deutlich an die Zeit vor der Katastrophe erinnern können (mithin ein Funke der späteren Rebellion)200 – werden, sofern nicht als Gladiatoren in der Gladiatorenkaserne zusammengezogen, im peripheren Rione Castello ghettoisiert.201 Dieser Bezirk ist an drei Seiten vom Muro di separazione umgeben und deshalb in viel höherem Maß als die zentralen Stadtbezirke Nova Venezias den lebensfeindlichen Bedingungen der Sumpfwelt jenseits des Umgriffs ausgesetzt – auch dies ist selbstredend Teil der ethnisch operierenden Disziplinarpolitik. Hitze und Dämpfe aus dem Sumpf rund um Nova Venezia können notdürftig zurückgedrängt werden, nicht aber manch alte Krankheit wie die Malaria,202 die nun wieder verstärkt um sich greift, ebenso wie die Cholera203 – beides Anlässe für Polarisierungen, die zwischen Chines:innen und Venezianer:innen ausgetragen werden. Unter chinesischer Herrschaft darf sich die autochthone venezianische Bevölkerung dystopiegerecht nicht weiter untereinander fortpflanzen,204 weshalb zum einen ethnische Gesetze erlassen werden, die das demografische Ende der Venezianer:innen einleiten sollen.205 Zum anderen wird venezianischen Männern ein Kontrazeptivum unter die Haut implantiert, das nanotechnologische DMS (»dispositivo medico sottocutaneo«206 ), welches Spermatozoen abtötet – das man aber augenscheinlich entfernen kann. Der Maestro hat sich

199 Vgl. ebd., S. 16. 200 Offenkundig hatte sich in der Frühzeit der chinesischen Herrschaft in Nova Venezia eine Widerstandsgruppe namens MLN gegründet, die gegen die ethnischen Gesetze vorging, dann aber verschwand (vgl. ebd., S. 102). Im Kontext der finalen Rebellion wird jedoch klar, dass der Widerstand wohlorganisiert die Jahre überdauert hatte. 201 Vgl. ebd., S. 102: »Lì comincia il Castello, il quartiere dove in stamberghe fatiscenti si ammassa ciò che resta della popolazione autoctona della vecchia Venezia.« 202 Vgl. ebd., S. 71. 203 Vgl. ebd., S. 405: »Si dice che in città sia arrivato il colera. I cinesi accusano i gatti venerati, e i piccioni mangiati dai veneziani, i veneziani incolpano i cinesi. La verità è che Nova Venezia, circondata da paludi mefitiche, dopo l’inondazione è sempre stata un’area endemica per il colera.« 204 Die Regulierung der Fortpflanzung durch die jeweilige utopische/dystopische Staatsform ist seit der Antike fester Bestandteil des Genres und in der Regel totalitär, industriell bzw. eugenisch durchgeprägt. 205 Vgl. A. Scurati: Mezzanotte, S. 72. 206 Ebd., S. 24.

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tatsächlich in einer Widerstandsanwandlung das Implantat herausgeschnitten und dann mit einer nicht weiter beschriebenen Venezianerin eine Tochter gezeugt, die er aus Nova Venezia retten möchte (hier keimt Rebellion gegen die Rebellion: der Maestro wird sich aus den genannten Gründen dem Aufstand der Venezianer:innen am Ende des Textes möglicherweise nicht anschließen). Das Überleben dieser kleinen Tochter wird durch den Text hindurch von einer Reihe von Frauen abgesichert – darunter Matilda, eine Tänzerin, sowie la Vecchia, die der Maestro seit seiner Kindheit kennt –, deren Äußerungen den Text an wenigen Stellen mit weiblichen Redebeiträgen anreichern. Venezianer:innen fungieren also als Sklav:innen des Vergnügungsbetriebs und müssen als Gladiatoren kämpfen oder, Frauen wie Männer, sonstige Dienstleistungen im Exzess-Spektakel ausüben, etwa als Prostituierte und Tänzerinnen207 – jeweils zusammen mit Menschen aus chinesisch unterworfenen Gebieten, die hierfür nach Nova Venezia verbracht werden. Dass hierfür reichlich Personal von Nöten ist, wird klar, wenn Procuratore Xiao für den neuen Gouverneur Li Ziyang Nova Venezia wie folgt ökonomisch ausdifferenziert: Trecentomila presenze, per una popolazione residente di neanche trentamila unità. Turisti da tutto il mondo disseminati in abitazioni quasi interamente trasformate in alberghi di lusso, residence e seconde case. Quarantasette sale per il gioco d’azzardo, duecentosettanta tra ristoranti, bar e locali notturni, ventisette cineteatri, quindici fumerie d’oppio regolamentate, quarantaquattro postriboli autorizzati. Nella sola settimana di Carnevale, un volume d’affari di milioni di yen, senza contare i diritti dei Giochi trasmessi in mondovisione. Venduti in ottantasei paesi – o in quel che ne rimane – per un totale di telespettatori stimato attorno ai tre miliardi e cinquecento milioni.208 Das TNC-Projekt Nova Venezia hält – vom bayerischen Wirtshaus209 und ähnlich folkloristisch stilisierten Trink- und Esslokalitäten über Glücksspielhallen, 207 Scurati spart nicht mit Schilderungen der damit verbundenen Perversionen, bspw. die Tänzerinnen, die mit unzähligen Schlangen auftreten müssen, welche während des Tanzes in den weiblichen Körper eindringen und austreten (vgl. ebd., S. 90–92). 208 Ebd., S. 147f. 209 Vgl. ebd., S. 81: »Il Maestro è entrato al Volksgarten, un’immensa birreria in stile bavarese affacciata con quattro vetrine su campo San Luca. Il locale ha mille posti su due piani […]. A servirti sono cameriere dai quattordici ai diciotto anni, in abiti corti quadrettati e stivali rossi con campanellini appesi a dei fiocchi. Dai seni scoperti pendono altri sonagli, fissati ai capezzoli per mezzo di ventose colorate.«

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Bordelle und Spas bis zu Opiumhöhlen (Drogen sind an jeder Stelle im Spiel) – reichlich Vergnügen vor: Nova Venezia ist »il bordello della fine dei tempi«210 , wie der Maestro das inszenierte Treiben beschreibt. Prostitution spielt im gesamten Text eine zentrale Rolle, insofern das Vergnügungsgeschehen ganz wesentlich über die allerorten verfügbaren männlichen und weiblichen Prostituierten ausgesteuert ist. Die älteren und kranken Venezianer:innen müssen ihre Körper im Übrigen in ihrem heruntergekommenen Wohnbezirk Castello verkaufen, was der Nachfrage aber keinen Abbruch tut.211 Für Scurati sind die in Nova Venezia allgegenwärtigen Prostituierten jedenfalls Medien, die transgressiven Ausmaße des venezianischen Evasionsbetriebs auf oft abscheuliche Weise zu bebildern. Die chinesischen Betreiber von Nova Venezia versuchen mit ihren Unterhaltungsofferten – insbesondere vermittels der Brutalitäten der Gladiatorenkämpfe – politische Deformierung der Wahrnehmung zu produzieren. Die Lizenz zur Gewaltanwendung, die selbstverständlich auch in Auftrag gegeben und dann beobachtet werden kann, sowie jede denkbare Form von Exzess enthemmen nicht nur die orgiastisch stillgestellten Klient:innen, sondern werden als Medien einer chinesischen Biopolitik beschrieben, die durch psychophysische Extase-Überforderung Wehrlosigkeit und das komplette Herunterfahren rationaler Weltdeutung produziert. Scurati generiert durch die im Text stetig variierten Beschreibungen von gewalttätigen Sex-Begegnungen v.a. mit weiblichen Prostituierten, von Trink- und Fressorgien sowie den in der erzählten Welt als Emotionalisierungsgeneratoren eingesetzten Gladiatoren-LiveSchlachtereien im Superdome just jene invektive Kodierung des Textes, welche die chinesischen Führungsfiguren Nova Venezias (und damit die von Beijing aus gelenkte Welt-Politik Chinas bzw. alle in der Welt agierenden Chines:innen) zu skrupellos-zynischen Kalkulator:innen einer Unterwerfungslogik werden 210 Ebd., S. 45. 211 Vgl. ebd., S. 105: »Ma il vizio dei clienti eleganti cerca un’altra mercanzia. E la trova ovunque. Le puttane del Castello stanno in piedi quasi nude davanti ai loro luridi stambugi. Occhieggiano da ingressi malamente velati da un brandello di tenda, ammiccanti, denutrite e smunte. Hanno le guance sporche, annerite dal fumo di lucerna, i capezzoli tinti d’oro; mostrano agli uomini il ventre che li ha partoriti, portano loro il fetore del postribolo. Sono lumache livide, febbricitanti, pietose puttane da due oboli, sono piccole lupe di suburra, corpi divorati dalle febbri, seni schiacciati, spalle cadenti. Eppure le cercano. Le cercano perché hanno l’aura di cadaveri insepoliti che né i cani né gli avvoltoi toccheranno, hanno il fascino di ciò che si decompone vivendo.«

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lässt, die ohne Ansehen von Rechten und Werten Menschen benutzt und manipuliert – egal, ob als Sklav:innen der Maschinerie oder als Klientel, die strategisch präpariertes Vergnügen kauft. Die chinesische Machtpolitik in Nova Venezia zielt durch die Lizenz zu gewalttätig-exzessiven Formen der ›Transgression‹ insbesondere auf die Weltwahrnehmung der in gated communities gehaltenen globalen Reichen – wie der Procuratore dem Maestro erklärt: Spendono l’intera esistenza in comunità recintate, nei compound fortificati di Shanghai, San Francisco o Kyoto. S’illudono, venendo qui, di entrare finalmente in contatto con la realtà, poiché ritengono che la violenza sia l’unica cosa reale al mondo. […] Si annoiano inifinitamente, dunque s’intrattengono in modo splendido.212 Für die stringente Durchführung dieser Biopolitik ist in der Stadt ein Gouverneur installiert (der Plot inszeniert den Amtsantritt des neuen Gouverneurs Li Ziyang),213 der als Einziger mit einem Helikopter einschweben darf214 und eine ›Privatarmee‹ mit einer spezifischen ›Prätorianergarde‹, die Zero, zur Verfügung hat.215 Die entscheidende Figur für den Fortgang der Ereignisse auf chinesischer Seite ist jedoch der Procuratore Xiao – an mehreren Stellen des Textes explizit invektiv gezeichnet als schönheitschirurgisch (defizitär) modulierter Italo-Chinese, der seinen transkulturell verbundenen Eltern zudem noch eine Ehe mit einer Japanerin hinzugefügt hat: Ciò che il Maestro sa di lui è quel che sanno tutti. Un mezzosangue nato una decina d’anni prima della Grande onda a Shanghai o a Hong Kong, quando ancora gli accoppiamenti misti erano consentiti. Un’infanzia nel vecchio mondo, poi la formazione nei quadri dello stato-azienda della Repubblica popolare d’Oriente, di cui la TNC è una delle ramificazioni maggiori, quindi l’incarico di Procuratore ai Giochi di Nova Venezia. Un padre cinese, forse epurato nel periodo della seconda rivoluzione culturale, una madre italiana – veneziana, fantasticano alcuni – e una moglie giapponese.216

212 213 214 215 216

Ebd., S. 64. Vgl. ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. ebd., S. 50. Ebd., S. 58.

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Abgesehen von der explizit rassistischen Positionierung Xiaos als ›Halbblut‹ und wenigen Angaben zu dessen Werdegang – Scurati hält sich in der Figurenzeichnung durchgehend stark zurück, versieht seine Figuren allenfalls sehr punktuell mit einem Vorleben – liefert dieser Abschnitt einige Informationen zur Verfasstheit des chinesischen Staates: der Repubblica popolare d’Oriente, die als ›Volksrepublik‹ nicht nur eine geografische Ausdehnung über gesamt (Südost-)Asien, sondern auch eine zweite Kulturrevolution eingeschrieben erhält. Der Charakter des Staates wird dabei über dessen ökonomische Dynamik expliziert. China steht bei Scurati generell für global ausgreifendes, gnadenloses Gewinnstreben, und, der dystopischen Rahmung gemäß, ethnisch basierte Biopolitik. Prokurator Xiao verändert beispielsweise zur Amtseinführung des neuen Gouverneurs die Gladiatorenkampf-Regeln217 und verlangt, dass fortan nicht mehr nur weiße Gladiatoren im Superdome kämpfen, sondern ›Rassen‹Turniere ausgetragen werden sollen: »I Giochi di Carnevale saranno una sorta di torneo tra le razze. Del resto – inutile nasconderselo – il razzismo è il presupposto implicito del nuovo disordine del mondo.«218 Chinesische Weltpolitik, so der Procuratore, folge den Prinzipien eines strategisch funktionalisierten Rassismus, der den Erhalt der chinesischen Dominanz ganz wesentlich abzusichern hilft. China-Weltpolitik des Jahres 2092 ist also reinster Neo-Kolonialismus, der altbekannte Unterwerfungsmuster repliziert. Hierfür werden aus den Arenen rund um das Mittelmeer die besten arabischen, türkischen, persischen, äthiopischen, hamitischen und nubischen Gladiatoren nach Nova Venezia gebracht, um sich, gestaffelt nach ›Rassen‹, gegenseitig abzuschlachten.219 Der Maestro wird beauftragt, die Köpfe seiner ›weißen‹ Gladiatoren entsprechend rassistisch zu infiltrieren: »Voi e i vostri gladiatori, adesso, garantirete il risveglio dell’orgoglio bianco. L’odio razziale è la sola garanzia in oro dei grandi investimenti di questa nuova era.«220 Später erfahren wir, dass diese biopolitische Neuerung als voller Erfolg gelten darf (»questa

217

Scurati selbst bemerkt zum Gladiatorenthema in einem Interview folgendes: »La ricostruzione dei riti gladiatori è fedelmente basata sui giochi che si svolgevano in età imperiale. Ho voluto stabilire un’analogia tra la decadenza antica, con la sua violenza spettacolare, e quella odierna« (Scurati, Antonio: »Perché ho scelto Venezia per raccontare l’Apocalisse« [2011], unpaginiert [https://ilmiolibro.kataweb.it /articolo/news/646/antonio-scurati-perche-ho-scelto-venezia-per-raccontare-lapocalisse/]). 218 A. Scurati: Mezzanotte, S. 62. 219 Vgl. ebd. 220 Ebd., S. 63.

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trovata del torneo tra le razze sta suscitando un enorme entusiasmo«221 ), den der Procuratore insbesondere in Bezug auf den strahlenden Gladiatorenhelden Spartaco denkt: »L’odio razziale non si nutre di disprezzo ma d’inconfessabile venerazione – si dice Xiao […]. Sì, per fomentare una politica di razza c’è bisogno di campioni come Spartaco, individui che suscitino terrore e incanto. […] Idolatria e massacro, schiavitù e desiderio. Questo, da sempre, il pendolo del biopotere.«222 Die Figur des Procuratore Xiao darf bei Scurati also die Maximen chinesischer Weltpolitik ebenso wie die spezifisch venezianische Herrschaftsordnung explizieren, wohingegen die Figur des Maestro Einblick in die Welt der versklavten Venezianer:innen gewährt, die als Rädchen des Vergnügungsbetriebs ihre Würde und ihr Leben lassen müssen – aber dies nicht widerspruchslos tun. Während der Maestro über seinen regelmäßigen Kontakt mit dem Procuratore nicht nur in das chinesische Politikverständnis eingeweiht wird, sondern hie und da auch Zugeständnisse verhandeln kann, sind einige venezianische Figuren seiner Umgebung nicht länger willens, die chinesische Herrschaft hinzunehmen: Scurati unterlegt die Handlung mit einem rebellischen Subtext, der gegen Ende in offenen Widerstand, in eine venezianische Rebellion münden wird, deren Ausgang offenbleibt. Der Procuratore und der Maestro sind hinsichtlich der Karnevals-Gladiatorenkämpfe insbesondere deshalb im fortgesetzten Gespräch, weil der Procuratore hierfür den legendär erfolgreichen Kämpfer Spartaco vorsieht – die Werbeikone für die Karnevals-Spiele des Jahres 2092. Spartaco strahlt immer wieder von den Monitorwänden herab, hat sich allerdings unerlaubt aus Nova Venezia entfernt (der Maestro soll ihn folglich zurückbringen), nachdem seine Geliebte Alessia,223 die als Prostituierte arbeiten muss, einer Gruppenvergewaltigung durch die Zero, die Prätorianergarde des Gouverneurs, zum Opfer gefallen und nun schwer traumatisiert ist. Veranlasst hatte diese Aktion der Ministerpräsident von Norditalien, um sich daran zu ergötzen – was ihm wiederum den eigenen Tod durch Matilda einträgt, eine Tänzerin und enge Vertraute des Maestro, die diese Auftragsvergabe rächen und dafür schließlich im Superdome vor Tausenden von Zuseher:innen grausam zu Tode gefoltert wird – dies als Beispiel für die Gewaltketten, die Scuratis Text durchziehen.

221 Ebd., S. 246. 222 Ebd., S. 381f. 223 Vgl. ebd., S. 94.

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Generell führt La seconda mezzanotte immer wieder Passagen mit sexuellen Gewalthandlungen gegen Frauen auf.224 Sowohl Pincio als auch Scurati sind in der Darstellung von übelster sexueller Gewalt gegen Frauen und allgemeiner Frauenverachtung in ihren Texten nicht zimperlich, um die Macht der Männer bzw. der Chines:innen zu illustrieren, die hier schlicht als Macht über die Körper der Unterworfenen, eben gerade auch der Frauen erzählt wird. Die unterworfenen Männerkörper meucheln sich im Superdome gegenseitig hin, 2092 nun mit dem Reiz ethnischer Konkurrenzen, die das blutige Spektakel auf eine neue Ebene heben. Scurati spielt dabei nicht nur die Karte der rassistisch eskalierten Biopolitik, sondern mischt noch eine Prise Agambenscher homini sacri als systemnotwendige Gegenstücke zur Macht des Souveräns ein, insofern die Gladiatoren, die für den Tod im Superdome trainieren, fortlaufend als lebende Tote, als »cadaveri viventi«225 aufgerufen werden oder sich selbst derart inszenieren (»noi siamo i morti«226 , »siamo ancora vivi e siamo già morti«227 ). Ungeachtet ihres Geschlechts und ihrer Aufgabe in der Vergnügungsmaschinerie bleiben den venezianischen Figuren jedenfalls wenige Spielräume: Sie müssen unter totalitären Bedingungen die ihnen zugedachten Rollen ausfüllen, die in der Regel über kurz oder lang das Leben kosten. Die chinesische Elite und die Reichen der chinesisch dominierten Welt können sich jedoch, teuer bezahlt, alles erlauben, ohne dass in irgendeiner Weise Sanktionen drohen – sofern drei fundamentale Gesetze eingehalten werden, die in Nova Venezia für alle gelten: für venezianische Frauen keine Fortpflanzung (außer mit Klienten), für niemanden Feuerwaffen und keine Religionsausübung – alles andere ist erlaubt.228 Nova Venezia ist demzufolge Evasions-Paradies für reiche Exzesswillige, für die chinesischen Betreiber Disziplinierungsmaschine und Goldmine, für den Rest ein biopolitischer Kerker, der nach Ausbruch schreit. Die einzige chinesische Figur, die (abgesehen von wenigen eingeflochtenen ›Selbstgesprächen‹ des neuen Gouverneurs) im Text mit Sprech- und Handlungsmacht versehen ist, bleibt der früh rassistisch diskreditierte italochinesische Procuratore Xiao, ein selbstgefälliger Machtpolitiker, der den Vergnügungsbetrieb dirigiert. Reiche chinesische Figuren werden punktuell als

224 Vgl. etwa ebd., S. 160, S. 208 (beide Male sind die handelnden Akteure riesige Gladiatoren, die Opfer wehrlose Frauen), sodann S. 231f., S. 244, S. 275f., S. 282. 225 Ebd., S. 323. 226 Ebd., S. 359. 227 Ebd., S. 397. 228 Vgl. ebd., S. 15.

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Klient:innen aufgerufen, aber nicht weiter skizziert, allenfalls mit stereotypen Motiven belegt wie »ha gli occhi allungati di un cinese«229 , wie regungsfreiem Handeln auch bei ungewöhnlichem Verlauf der Ereignisse etwa beim Kartenspiel oder, die in Venedig wohnhaften Chines:innen betreffend (»i cinesi residenti sono parecchie migliaia«230 ), dem Zubereiten ›typischer‹ Produkte wie Aphrodisiaka für Touristen.231 Es geht Scurati also mitnichten um das Erzählen einer chinesisch gewordenen Welt mit chinesischen Charakteren, sondern lediglich um die Darstellung einer zynischen Gewaltmaschinerie, die als chinesisch etikettiert und von einem Italo-Chinesen expliziert wird. Die Perspektivführung des Textes erfolgt jedoch vorwiegend aus Sicht der versklavten Venezianer:innen und macht gegen Ende endgültig klar, dass sowohl die autochthonen Venezianer:innen als auch alle übrigen Sklav:innen Nova Venezias die chinesische Elite hassen und jeden Widerstand unterstützen werden. In einem Gespräch rund um die mögliche chinesische Reaktion auf die losbrechende Rebellion wird dies aus venezianischem Blickwinkel als explizite Invektive ausformuliert: ›I cinesi civili che faranno?‹ ›S’inchineranno al nuovo padrone, come sempre. Dobbiamo prendere un’intera famiglia e sterminarla in un’esecuzione sulla pubblica piazza. Le altre non si muoveranno. Punteranno a occupare lo spazio rimasto vacante.‹ ›E le altre etnie?‹ ›Odiano i cinesi più di noi.‹232

229 Ebd., S. 310. 230 Ebd. S. 407. 231 Vgl. etwa ebd., S. 225f.: »Matilda […] inciampa in una vecchia cinese che, sbucata da un sottoportico di ruga degli Orefici, in piedi di fronte al suo bugigattolo tiene sollevata un’anatra a cui ha appena tagliato la gola. La liscia con garbo, mentre una ragazzina regge una tazza per raccoglierne il sangue e farne chissà quale intruglio afrodisiaco.« Vgl. auch ebd., S. 262: »Ha ispezionato fin dall’alba tutte le botteghe della Pescheria, dove le fattucchiere cinesi miscelano i loro intrugli afrodisiaci. Pinne di pescecane, grasso di balena, fegato di tartaruga, tutte insulse porcherie. I maschi lo sanno bene: per farsi trovare pronti bastano un paio di confettini azzurri. Ma i cinesi, dopo aver toccato con mano dove la scienza occidentale abbia condotto l’Europa, sono rimasti fedeli alle loro superstizioni.« 232 Ebd., S. 372.

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Bei Scurati bleibt es schließlich dem Procuratore Xiao überlassen, die sehr italienische invektive Kodierung des Textes – skrupellose (ökonomische) Durchsetzungskraft, Illegalität, Quantität, Undurchschaubarkeit der chinesischen Migrant:innen – auf den Punkt zu bringen; aufgenommen werden hierfür Diskurselemente, wie sie sowohl bei Pincio als auch bei Nesi oder Saviano zu finden sind. Die hier von Xiao geäußerte distanzierte, partiell herabwürdigende Sicht auf die fiktionalisierte chinesische Machtentfaltung ist jedoch mit Blick auf den italo-chinesischen Procuratore nur bedingt ›glaubhaft‹, da diese Figur fast durchgehend mit einem entschieden identifizierenden ›noi‹ die chinesischen Maximen des politischen Handelns vorträgt und selbst verkörpert – etwa als Procuratore ai Giochi nicht nur die inszenierten Grausamkeiten Nova Venezias erdenkt und umsetzen lässt, sondern auch seine eigene japanische Frau von einem Gladiator als Preis für dessen Leistung vergewaltigen lässt (und das aus dem Nebenraum voyeuristisch beobachtet).233 Der Procuratore ist also keinen Deut ›besser‹ als die, die niemals weiter ausdifferenzierten Chines:innen, welche ausschließlich an Profit und Macht interessiert sind. Der vom mezzosangue Xiao eingeforderte ›Rassismus‹ mag deshalb für die ambivalente Position Scuratis zur skizzierten chinesischen Dominanz stehen, die den dystopischen Text zwischen Dämonisierung und nüchtern-simpler Konstruktion ondulieren lässt: I cinesi per fortuna, conclude il Procuratore, non hanno mai ispirato complessi di inferiorità. Nonostante le nuove diete iperproteiche e gli impianti chirurgici, rimangono troppo piccoli, furbastri, meschini. Non incarnano nessuna potenza superiore, né fisica né mentale. Sono semplicemente in tanti. Per questo domineranno il mondo. Benché frenati da una sopravvalutazione della spregiudicatezza mercantile. Sono disposti a tutto quando si tratta di fare affari. E sono pronti ad apprezzare chiunque si arricchisca, in qualunque modo. Come se la mancanza di scrupoli potesse bastare. Per andare fino in fondo hanno bisogno, invece, di un po’ di sano razzismo.234

233 Vgl. ebd., S. 203–208. 234 Ebd., S. 382.

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Schlussbemerkung Scurati raunt im Text immer wieder Endzeitliches und verlegt die Handlung, wie gesehen, via klimakatastrophischer Rahmung »alla fine della sera occidentale«235 , also kurz vor die mitternächtliche Apokalypse. Die Neuerfindung Venedigs unter chinesischer Herrschaft ist Folge der Klimakatastrophe, die man in Europa, im reichen Westen nie ernst genommen hatte, ist so etwas wie eine zweite, wiederum menschengemachte Verlängerung der klimakatastrophischen Zerstörungen als hypereffiziente biopolitische Herrschaft der zugewanderten Chines:innen, die dem nahen Ende der Welt präludiert. Scuratis Text formuliert folglich keine postapokalyptische Darstellung, wie mitunter in Rezensionen festgehalten, sondern eine doppelte Dystopie kurz vor dem Untergang. Narrativiert wird das bei Scurati ganz ›klassisch‹ als ethnisch bzw. rassistisch hinterfangene Unterdrückungsgeschichte, in einer Handlung voller Misogynie, voller detailliert erzählter Gewalt und Tod.236 Der antichinesische Impetus in La seconda mezzanotte wird im Übrigen durch einen Zeitungsartikel Scuratis aus dem Erscheinungsjahr befeuert (A. Scurati, »Non voglio morire cinese«, La Stampa vom 06.10.2011), welcher den chinesischen Anteil an der dystopischen Vision noch einmal stark macht. Scuratis Bekräftigung, selbst auf keinen Fall unter chinesischen Einfluss gelangen zu wollen, auch nicht unter den rasant wachsenden, 2011 in Italien schon sehr realen ökonomischen Einfluss Chinas, den er im Artikel beschreibt, wird dabei entsprechend polemisch aufbereitet: A me pare, però, del tutto evidente che l’avvento di una ipotetica sovranità politico-finanziaria cinese sulle nostre antiche terre precipiterebbe il declino della civiltà europea per come l’abbiamo conosciuta, sognata e amata (magari anche solo idealmente). Temo che rappresenti una grave minaccia per i fondamenti culturali della civilizzazione occidentale europea moderna: sovranità politica del popolo, libertà di pensiero e d’espressione, diritti dei lavoratori e del cittadino, autonomia dell’individuo, soli-

235 Ebd., S. 11. 236 Chiafele, deutet die detaillierten Gewaltexzess-Beschreibungen in Scuratis Nova Venezia in der Tat als Bebilderungen des gewalttätigen Klimawandels: »Scurati’s slow-motion violence mirrors the slow motion violence of climate change« (A. Chiafele: Climate Change, S. 25).

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darietà tra gli individui riuniti in società, valore della persona, sicurezza alimentare, sacralità della vita.237 Die Abwehr des chinesischen bzw. des globalen Finanzkapitalismus steht dabei zwar in der Sache im Zentrum. Scurati operiert aber, wie auch im fiktionalen Text, semantisch mit Kulturkampf-Stereotypen, deren Schablonenhaftigkeit (»le nostre antiche terre«) im Roman in mitunter banal-starre Figurenund Machtkonstellationen übertragen wird – jeweils geframed durch den Subtext der Angst vor den migrantischen ›Anderen‹, hier der Angst vor der ›gelben Gefahr‹, die zwar im Roman nicht direkt aufgerufen, aber durch derartige Paratexte natürlich in den Deutungsraum hineingehievt wird. Was an all dem erstaunt, sind schließlich – das betrifft Pincios Dystopie ebenso wie diejenige Scuratis – nicht nur die beide Texte durchziehende Misogynie, sondern insbesondere auch die ungebrochen invektive Kodierung der Inszenierung der in der erzählten Welt zugewanderten Chines:innen, die ganz offensichtlich, ähnlich wie im Falle des Nesi-Textes, in den Rezensionen kaum Kritik ausgelöst hat. In der spärlich vorhandenen Sekundärliteratur konzentriert man sich auf die cli-fi-Elemente der Dystopien oder moniert sehr verhalten xenophobe Anklänge, die Kolleg:innen liefern, welche selbst mit (familialer) Migrationserfahrung aus chinesischen Kontexten in Zusammenhang stehen.238 Die klimakatastrophisch-disruptive Rahmung, die in den Texten von Pincio und Scurati eine prägende Rolle erhält und jeweils in einem durchgängig reflexiven Modus eingebracht ist, scheint also – zumindest in der Wahrnehmung der Rezipierenden – die invektive Kodierung der dämonisierten chinesischen Klimakrisenprofiteure in den Hintergrund zu rücken: Was dem Thema ›Klimakrise‹ hier effektreich und emotionalisierend zuarbeiten mag, dem Thema ›chinesische Migration nach Italien‹ aber deutlich nicht reflexiv entsprechen will. Beide Autoren arbeiten mit einem offensichtlich um 2010 gesellschaftlich fest verankerten antichinesischen Impetus, der ungebrochen zur Scharfzeichnung der apokalyptischen Komponente ihrer dystopischen Texte

237 Scurati, Antonio: Non voglio morire cinese [in: La Stampa vom 06.10.2011], unpaginiert (https://www.lastampa.it/opinioni/editoriali/2011/10/06/news/non-voglio-morir e-cinese-1.36923475/). 238 M. Chu: Non voglio morire cinese, S. 140, wird mit Blick auf Scuratis Seconda Mezzanotte allerdings durchaus deutlich und überspitzt die Kritik seinerseits auf befremdliche Weise: »[…] ricade su un discorso che oppone la civiltà europea alla barbarie cinese e contemporaneamente assegna ai cinesi il ruolo degli ›ebrei‹ dell’epoca della globalizzazzione.«

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eingesetzt wird. Dabei stellt sich ein gehöriges Maß an Verwunderung ein, das wohl dem Blick von außen entspringt. Eine invektivitätszentrierte Analyse rund um metainvektive Reflexivität und invektive Kodierung kann zumindest festhalten, wie fiktionale Texte – in diesem Falle geschützt durch die GenreWahl ›Dystopie‹ – gesellschaftliche Aggregatzustände aufgreifen und funktionalisieren: in beiden Fällen offenkundig ohne politisch-moralische Verpflichtungen, wie sie ein expliziter Migrationstext erfordert hätte.

Filmografie Cenci in Cina (ITA 2009, R: Marco Limberti) Doris & Hong (ITA 2015, R: Leonardo Cinieri Lombroso) Giallo a Milano (ITA 2009, R: Sergio Basso) Il futuro è troppo grande (ITA 2014, R: Giusy Buccheri/Michele Citone/Marco Leopardi) Io sono Li (ITA 2011, R: Andrea Segre) Questa notte è ancora nostra (ITA 2008, R: Paolo Genovese/Luca Miniero)

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Autor:innen

Silvia Camilotti ist Lehrerin und arbeitet mit dem Archivio Scritture Scrittrici Migranti der Università Ca’Foscari di Venezia zusammen. Ihre Forschung konzentriert sich auf italienische Migrationsliteratur aus der Perspektive der Race und Women Studies sowie auf die Didaktik des Italienischen als Zweitsprache. Gabriel Deinzer hat als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 1285 Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung seine Dissertation zu zeitgenössischen italienischen Immigrationsfilmen verfasst. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Repräsentation von Migration in Literatur und Film, Narratologie, Cultural und Postcolonial Studies. Maria Kirchmair arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt zum Thema »Der Mittelmeerraum in der italienischen Literatur und im Film vom Verismo bis zur Gegenwart« (Univ. Neapel und Innsbruck). Ihre Forschungsinteressen umfassen die italienische Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Postcolonial Studies, Raumtheorie sowie Mittelmeerdiskurse in Literatur und Kino. Lara Michelacci ist Professoressa Associata an der Università di Bologna. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Literatur, der visuellen Darstellung sowie der Reiseberichte der Renaissance, der Literatur sowie der Reiseberichte des 19. Jahrhunderts, schließlich der Literatur von Frauen. Sabine Schrader ist Professorin für Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte in der Filmwissenschaft sind: Französisches und italienisches Transnationales und Queeres Kino, Stadtlandschaft und Film, frühes Feministisches Kino.

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Migration und Herabsetzung

Franziska Teckentrup war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 1285 tätig, in dessen Kontext sie ihre Dissertation zur literarischen Inszenierung von Herabsetzungsphänomenen in Migrationszusammenhängen verfasste. Ihre Forschung konzentriert sich auf Migrationserzählungen, kulturwissenschaftliche Narratologie und Intermedialität. Elisabeth Tiller ist Professorin für Italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Dresden. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migrationserzählungen, Fiktionalität und Faktualität, Gender Studies, Raumtheorie sowie Frühneuzeitforschung. Berit Weingart ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der TU Dresden. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Erzählliteratur italienischer Autorinnen im Zeitraum von 1850 bis 1880 sowie italienische Migrationserzählungen aus gendertheoretischer Perspektive.

Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

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Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

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Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

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Literaturwissenschaft Elias Kreuzmair, Magdalena Pflock, Eckhard Schumacher (Hg.)

Feeds, Tweets & Timelines – Schreibweisen der Gegenwart in Sozialen Medien September 2022, 264 S., kart., 27 SW-Abbildungen, 13 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-6385-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6385-7

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Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 13. Jahrgang, 2022, Heft 1 August 2022, 192 S., kart., 1 Farbabbildung 12,80 € (DE), 978-3-8376-5900-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5900-3

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