Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance: Inszenierungen von Mutterschaft und Familie in bildenden Künsten und Theater der Gegenwart [1. Aufl.] 9783839430545

Even though gender roles and family structures have radically changed in recent years, images of mothers and families in

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Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance: Inszenierungen von Mutterschaft und Familie in bildenden Künsten und Theater der Gegenwart [1. Aufl.]
 9783839430545

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
TEIL I: VISUELLE KONSTRUKTIONEN VON MUTTERSCHAFT
1. Vor-Bilder
1.1 Mutterbilder in kommerzieller Werbung und Ratgeberliteratur
1.2 Die Inszenierung der Mutter in der politischen Werbung
1.3 Madonnenbilder in der christlichen Ikonografie
2. Mütterlichkeit in Performance und bildender Kunst der 1970er Jahre
2.1 Rollenbilder: Die Hausfrau und Mutter
2.2 Mütterlichkeit als symbolische Produktivität: Carolee Schneemann
2.3 Medienbilder – Selbstbilder: Ulrike Rosenbach
2.4 Mary Kellys Post-Partum Document
3. Selbstinszenierung mit Kind: Mutterschaft in Fotografie und Videokunst
3.1 Cindy Sherman
3.2 Birgit Dunkel
3.3 Judith Samen
3.4 Daniela Comani
3.5 Candice Breitz: Mother and Father
TEIL II: FAMILIE UND THEATER IM 18. JAHRHUNDERT
1. Die Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie
1.1 Familie als Gefühlswert
1.2 Die Polarisierung der Geschlechterrollen
1.3 Die Rolle der Mutter
1.4 Familienbilder in der bildenden Kunst
2. Die Familie im bürgerlichen Trauerspiel
2.1 Zur Theatertheorie Diderots
2.2 Zur Theatertheorie Lessings
2.3 Miß Sara Sampson
2.4 Emilia Galotti
2.5 Die Darstellung der Mutter im Trauerspiel
2.6 Kleinfamilie und geschlossene Repräsentation
2.7 Denaturalisierung der Kleinfamilie: Thalheimers Emilia Galotti
TEIL III: INSZENIERUNG VON MUTTERSCHAFT UND FAMILIE IM ZEITGENÖSSISCHEN THEATER
Vorbemerkung
1. Mutterschaft und Familie bei Rimini Protokoll
1.1 Mediale Inszenierungen: Sabenation
1.2 Zur Frage der Herkunft: Black Tie
2. Die Kleinfamilie als Hort der Gewalt
2.1 Die inzestuöse Familie: Conte d’Amour
2.2 Die Wiederkehr des Verdrängten: John Gabriel Borkman
3. Familie und heterosexuelle Norm: Familienbande von Lola Arias
3.1 Puppenhaus
3.2 Familienbilder
3.3 Die Normalisierung der Familie
4. Chosen Families
4.1 Chosen Family Portraits
4.2 Queer as Folk – Queere Familienverhältnisse?
4.3 Chosen Families in den darstellenden Künsten
4.3.1 Eszter Salamon: Reproduction
4.3.2 Alain Platel: Gardenia
4.3.3 Künstlerzwillinge: deufert&plischke
5. Familiendarstellungen bei She She Pop
5.1 Väter und Töchter: Testament
5.2 Die Geister der Familie: Familienalbum
5.3 Das Performance-Kollektiv als Chosen Family
6. Die Denaturalisierung von Mutterschaft bei René Pollesch
6.1 Heterosexualität, Arbeit und Zuhause
6.2 Die Dekonstruktion der Familie
6.3 Der Wunsch nach Unmittelbarkeit
6.4 Familie und die Anderen: L’Affaire Martin etc
6.5 Die Gruppe der Performer als Chosen Family
7. Reformulierung von Verwandtschaft im zeitgenössischen Theater
Schlussbemerkung
Anhang
Literatur
Filme und Videos
Theateraufzeichnungen
Dank

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Miriam Dreysse Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance

Theater | Band 76

Für Max, Lotti, Paul und Ella

Miriam Dreysse (Dr. phil. habil.) lehrt Theaterwissenschaft u.a. an der Universität der Künste Berlin. Sie studierte Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen und habilitierte sich an der Universität Hildesheim. Ihre Forschungsschwerpunkte sind zeitgenössisches Theater und Performance sowie Gender Studies.

Miriam Dreysse

Mutterschaft und Familie: Inszenierungen in Theater und Performance

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhalt

Einleitung | 9

TEIL I: VISUELLE KONSTRUKTIONEN VON MUTTERSCHAFT 1. Vor-Bilder | 33

1.1 Mutterbilder in kommerzieller Werbung und Ratgeberliteratur | 33 1.2 Die Inszenierung der Mutter in der politischen Werbung | 44 1.3 Madonnenbilder in der christlichen Ikonografie | 50 2. Mütterlichkeit in Performance und bildender Kunst der 1970er Jahre | 63

2.1 Rollenbilder: Die Hausfrau und Mutter | 63 2.2 Mütterlichkeit als symbolische Produktivität: Carolee Schneemann | 69 2.3 Medienbilder – Selbstbilder: Ulrike Rosenbach | 75 2.4 Mary Kellys Post-Partum Document | 85 3. Selbstinszenierung mit Kind: Mutterschaft in Fotografie und Videokunst | 99

3.1 Cindy Sherman | 102 3.2 Birgit Dunkel | 105 3.3 Judith Samen | 108 3.4 Daniela Comani | 114 3.5 Candice Breitz: Mother and Father | 116

TEIL II: FAMILIE UND THEATER IM 18. J AHRHUNDERT 1. Die Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie | 123

1.1 Familie als Gefühlswert | 126 1.2 Die Polarisierung der Geschlechterrollen | 130 1.3 Die Rolle der Mutter | 134 1.4 Familienbilder in der bildenden Kunst | 141

2. Die Familie im bürgerlichen Trauerspiel | 151

2.1 Zur Theatertheorie Diderots | 155 2.2 Zur Theatertheorie Lessings | 159 2.3 Miß Sara Sampson | 163 2.4 Emilia Galotti | 169 2.5 Die Darstellung der Mutter im Trauerspiel | 185 2.6 Kleinfamilie und geschlossene Repräsentation | 196 2.7 Denaturalisierung der Kleinfamilie: Thalheimers Emilia Galotti | 200

TEIL III: I NSZENIERUNG VON MUTTERSCHAFT UND FAMILIE IM ZEITGENÖSSISCHEN T HEATER Vorbemerkung | 209 1. Mutterschaft und Familie bei Rimini Protokoll | 213

1.1 Mediale Inszenierungen: Sabenation | 214 1.2 Zur Frage der Herkunft: Black Tie | 218 2. Die Kleinfamilie als Hort der Gewalt | 223 2.1 Die inzestuöse Familie: Conte d’Amour | 224 2.2 Die Wiederkehr des Verdrängten: John Gabriel Borkman | 235 3. Familie und heterosexuelle Norm: Familienbande von Lola Arias | 247

3.1 Puppenhaus | 248 3.2 Familienbilder | 250 3.3 Die Normalisierung der Familie | 258 4. Chosen Families | 263

4.1 Chosen Family Portraits | 267 4.2 Queer as Folk – Queere Familienverhältnisse? | 271 4.3 Chosen Families in den darstellenden Künsten | 275 4.3.1 Eszter Salamon: Reproduction | 276 4.3.2 Alain Platel: Gardenia | 282 4.3.3 Künstlerzwillinge: deufert&plischke | 289 5. Familiendarstellungen bei She She Pop | 295

5.1 Väter und Töchter: Testament | 295 5.2 Die Geister der Familie: Familienalbum | 301 5.3 Das Performance-Kollektiv als Chosen Family | 311

6. Die Denaturalisierung von Mutterschaft bei René Pollesch | 317

6.1 Heterosexualität, Arbeit und Zuhause | 317 6.2 Die Dekonstruktion der Familie | 324 6.3 Der Wunsch nach Unmittelbarkeit | 328 6.4 Familie und die Anderen: L’Affaire Martin etc. | 333 6.5 Die Gruppe der Performer als Chosen Family | 336 7. Reformulierung von Verwandtschaft im zeitgenössischen Theater | 341 Schlussbemerkung | 347 Anhang | 353

Literatur | 353 Filme und Videos | 365 Theateraufzeichnungen | 365 Dank | 367

Einleitung

»Vater, Mutter, Kind – das ist Familie«, war der Tenor der Proteste gegen die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare in der Ehe und des damit verbundenen uneingeschränkten Adoptionsrechts in Frankreich im Jahr 2013. »Un père, une mère, c’est élémentaire«, skandierten die Demonstranten, und auf Plakaten und Transparenten war das Piktogramm für Mann, Frau und zwei Kinder zu sehen, das die Naturgegebenheit der heterosexuellen Kleinfamilie manifestieren sollte. »Demokratie haben wir erst, wenn in jeder Familie abgestimmt wird, wer hier die Mutter ist«, sagt hingegen eine Schauspielerin zu Beginn von Die Welt zu Gast bei reichen Eltern von René Pollesch im Jahr 2007 im Thalia Theater Hamburg. Im Gegensatz zu der Annahme der Natürlichkeit des Modells der Kleinfamilie mit ihrer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung verortet dieser Satz Familie im gesellschaftlichen Kontext der Gegenwart und löst Mutterschaft von ihrer biologischen Bestimmung. Die Mutter wird ausgestellt als diskursives Konstrukt und Effekt einer politischen Praxis. Mutter zu denken als Effekt einer solchen demokratischen Praxis, als Effekt eines Prozesses, der Mutterschaft immer wieder neu aushandelt und abstimmt, heißt, den abendländisch-bürgerlichen Annahmen über Mutterschaft, Ehe und Familie grundlegend zu widersprechen. Denn die Figur der Mutter steht im Zentrum der bürgerlichen Vorstellung von Familie, Geschlechtsidentität und Heteronormativität. Als natürliche Bestimmung der Frau bindet sie Weiblichkeit an den anatomischen Körper und begründet damit die Naturalisierung des binären Geschlechtermodells. Die Vorstellung, die Position der Mutter in der Familie abzustimmen, öffnet Familie auf eine Vielfalt möglicher Identitäten, Beziehungen und Konstellationen. Das Zitat zeugt außerdem von einem Verständnis von Demokratie, das bis in die Familie reicht und so die in der bürgerlichen Gesellschaft lange Zeit übliche Trennung von Öffentlichkeit und Privatem unterläuft. Es betont das Politische des vermeintlich privaten Bereichs der Familie, der Rollen- und Geschlechtsidentitäten; Demokratie ist erst, wenn auch die familiären Beziehungen demokratisiert sind. Es kann aber ebenso für eine grundlegende Verunsicherung aller Werte und Normen stehen, für eine Welt, in der selbst vermeintlich letzte Sicherheiten wie

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Mütterlichkeit als ein Ort der Geborgenheit und des Rückzugs aus dem Gesellschaftlichen nicht mehr existieren. Das Zitat, ähnlich wie andere Texte Polleschs, spricht von solchen Ambivalenzen, von den Chancen und Risiken, die in der Desillusionierung von Annahmen über Subjektivität, Mutterschaft, Familie und Geschlechtsidentität liegen. Die Mutter steht dabei für die Naturalisierung der polaren Geschlechterrollen und der Zwangsheterosexualität, für ein genealogisches Verständnis von Familie und Verwandtschaft, aber auch für die Phantasie eines verlorenen, vorsprachlichen Paradieses. Ausgangspunkt meiner Forschungen zu zeitgenössischen Mutterbildern und zu Mutterfiguren im Theater war die Beobachtung, dass auch Anfang des 21. Jahrhunderts Mutterbilder in der visuellen Kultur weitgehend auf Stereotype reduziert sind. Schwangere Frauen und Mütter junger Kinder schienen mir im Fernsehen und in den Printmedien nur in Form weichgezeichneter, selig lächelnder Heiliger zu begegnen, Männer mit Babys wurden kaum dargestellt. Sämtliche Ratgeberliteratur richtete sich fast ausschließlich an Mütter, und die Betonung der Bedeutung des Stillens durch die leibliche Mutter für das Kind schloss die Väter dezidiert aus der frühkindlichen Entwicklung aus. Auf der Ebene der visuellen Konstruktion fielen mir zwei Dinge auf: die Nähe zu den Bildregeln der christlichen Ikonografie, namentlich neuzeitlicher, naturalisierender Madonnendarstellungen, sowie die Inszenierung der Mutterschaft als ein Naturgegebenes. Denn auch wenn die dargestellten Frauen ebenso wie ihre Darstellung gerade in der Werbung stilisiert waren und zeitgenössischen Schönheitsidealen gehorchten, war man offensichtlich bemüht, den mütterlichen Körper als möglichst natürlich oder naturnah darzustellen und seine Inszenierung zu verbergen. Die Figur der Mutter erschien mir wie eine letzte Bastion der Naturalisierung des binären Geschlechtermodells und der mit ihm einhergehenden Rollenverteilung – trotz Frauenbewegung und feministischer Theorie, trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen der vergangenen vierzig Jahre teilten mir diese Bilder mit, Mutterschaft sei das Natürlichste für die Frau, und nur für die Frau, und die Mutter gehöre in harmonischer Symbiose zu ihrem Kind, nirgendwo anders hin und kein Anderer mit dazu. Aus diesen Beobachtungen heraus begann ich, mich eingehender mit der Konstruktion von Mutterschaft und Familie in der zeitgenössischen Kultur auseinanderzusetzen. In alltäglichen, populären Medien wie Film und Fernsehen war im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einerseits eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Mutterfiguren zu finden, die der Diversifizierung der Mutterrolle in der sozialen Praxis unserer Gesellschaft zu entsprechen schien – man denke an Fernsehserien wie Sex and the City, Gilmore Girls, The L-Word oder Queer as folk. Andererseits wurden zumal auf der Ebene der visuellen Konstruktion häufig Darstellungskonventionen reproduziert, die einer längst vergangenen Epoche anzugehören schienen: heilige,

E INLEITUNG | 11

reine Mütter und optisch von der Mutter-Kind-Einheit abgesonderte Väter, die Betonung leiblicher Blutsbande oder heteronormativer Familienstrukturen. Ähnlich zweideutig stellten sich gesellschaftliche Diskurse beispielsweise in Form politischer Debatten um Kinderbetreuung und Geburtenzahlen dar, bei denen sich gerade an der Figur der Mutter Diskussionen um die Natürlichkeit der Geschlechterrollen entzündeten.1 Auch hier schien trotz des tiefgreifenden Wandels der Familienstrukturen seit den 1970er Jahren immer wieder die Vorstellung einer natürlichen Bestimmung der Frau zur Mutterschaft und ein bestimmtes Bild dieser Mutterschaft durch: Mütterlichkeit als an den anatomischen Körper der Frau, möglichst der leiblichen Mutter, gebunden, ausgelebt in Form einer symbiotischen Beziehung mit dem Kind, die keinen Raum für ein Anderes bzw. einen Anderen lässt.2 Soziologische Untersuchungen verweisen im Kontext der demographischen Debatte immer wieder auf den ›deutschen Sonderweg‹, der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch fehlende Betreuungsmöglichkeiten und die Idealisierung der Betreuung durch die Mutter erschwere und so zu niedrigen Geburtenzahlen beitrage. Barbara Vinken hat diesen deutschen Sonderweg zum Ausgangspunkt einer Analyse des Mythos der »deutschen Mutter« gemacht. Ihr zufolge ist diese deutsche Mutter ein »Produkt des Protestantismus«, der Mütterlichkeit an den Körper der Frau binde.3 Wesentlich für die Biologisierung der Mutterschaft im Deutschland des 20. Jahrhunderts sei der Nationalsozialismus; hierin stimmt Vinken mit anderen Forschern überein.4 Als »ewig natürliche Mütterlichkeit« lebe dieser Mythos auch heute noch weiter und schlage sich in dem Glauben an die Berufung der Frau zur Mutter und der Bedeutung, die der Kleinkindbetreuung durch die leibliche Mutter beigemessen werde, nieder.5 Aber auch in Frankreich, das zeigt das eingangs erwähnte Beispiel der Auseinandersetzungen um die Einführung der Homoehe, ist das Thema

1

Man denke etwa an die Debatten, die 2006 durch Publikationen von Eva Herman (Das Eva-Prinzip), Frank Schirrmacher (Minimum) und Norbert Bolz (Die Helden der Familie), die die Zugehörigkeit der Mutter zum Kind proklamieren, ausgelöst wurden.

2

Das Bild der ›guten Mutter‹ und das Gegenbild der berufstätigen, egoistischen Rabenmutter wird dabei gerne mit dem Kindeswohl untermauert: »Den Preis für die Emanzipation der Frauen zahlen die Kinder«, so Norbert Bolz in der FAZ vom 22.2.2003; und der Kinderarzt Dr. Johannes Pechstein erläutert, dass Kinder drei Jahre lang »die liebevolle, zuverlässige Einzelbetreuung« durch die Mutter bräuchten und weitere 9 Jahre lang höchstens eine Halbtagsschule zumutbar sei (FAZ vom 15.5.2003).

3

B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 8.

4

Ebd., S. 260-305. Zur Biologisierung der Mutterschaft im Nationalsozialismus vgl. C. Koonz: Mütter im Vaterland, I. Weyrather: Muttertag und Mutterkreuz.

5

B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 8-9. Zum »Mythos der guten Mutter« vgl. H. Schenk: Wieviel Mutter braucht der Mensch, und S. Thurer: Mythos Mutterschaft, S. 419-438.

12 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: INSZENIERUNGEN IN T HEATER UND PERFORMANCE

Familie mit Annahmen über die Natürlichkeit und Geschlechtsspezifik der elterlichen Rollen gepaart.6 Umfragen ergeben auch im 21. Jahrhundert immer wieder, dass die meisten Befragten unter Familie ein heterosexuelles Paar mit zwei Kindern assoziieren.7 Andererseits löst sich die gelebte Praxis von Familie zunehmend von biologischanatomischen Banden ab – etwa in Form von Patchworkfamilien, gleichgeschlechtlicher Elternschaft, Adoptions- und Pflegschaftsverhältnissen.8 Die Pluralisierung von gelebten Familienentwürfen wird von Sozialwissenschaftlern in erster Linie auf die hohe Zahl an Scheidungen zurückgeführt; der interne Strukturwandel der Kleinfamilie auf den Wandel der Rolle der Frau.9 Dieser Dynamisierung steht allerdings nach wie vor die Kleinfamilie mit weitgehend traditioneller Rollenverteilung als häufigste und erwünschte Lebensform gegenüber.10 Die Vorstellungen von Familie haben sich vervielfältigt, Familie lässt sich nicht länger auf biologische Kriterien reduzieren, in den Sozialwissenschaften wird Familie als Herstellungsprozess betont und von »Doing Family« gesprochen,11 und auch in der Anthropologie wird Verwandtschaft nicht länger als auf einer unumstößlichen, natürlichen Beziehung beruhend konzeptualisiert, sondern als »aus einer Vielzahl möglicher Stücke und Teile bewusst zusammengesetzt«.12 Die Entkoppelung von biologischer und sozialer Elternschaft und auch die medizinischen Fortschritte der letzten Jahre in Sachen Reproduktionsmedizin legen es nahe, Kindschaftsverhältnisse unabhängig von biologischer Mutter- bzw. Vaterschaft zu denken.13 Und dennoch ist die bürgerliche Kleinfamilie nach wie vor das Modell, das zwar keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr beansprucht, aber an dem sich die 6

Zum französischen Diskurs vgl. E. Badinter: Der Konflikt.

7

Vgl. z.B. die Ergebnisse einer Umfrage von Tns Emnid/Bertelsmann Stiftung vom März 2011, in der die Mehrzahl der Befragten die »klassische Familie« als gewünschtes Lebensmodell angeben, auch wenn die Toleranz gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens hoch ist; http://www.bertelsmann-stiftung.de vom 10.03.2013.

8

Zur Pluralisierung der Lebensformen seit den 1960ern vgl. R. Peuckert: Familienformen im sozialen Wandel, S. 16-18. Peuckert zeigt anhand empirischer Studien, dass der Anteil der Bevölkerung, der in Westeuropa nach konventionellen Mustern lebt, stark rückläufig ist und die Zahl derer ansteigt, die nicht-traditionale Lebensformen praktizieren.

9

Ebd., S. 2; zum sozialen Wandel der Rolle der Frau vgl. ebd., S. 405-415.

10 Dass die Rollenverteilung in den meisten Familien weitgehend traditionell ist, beweisen Umfragen der letzten Jahre; vgl. ebd., S. 486, 509. Vgl. Umfrage von emnid, Fn. 7. 11 Vgl. K. Jurczyk/A. Lange/B. Thiessen: Doing Family. 12 S. Franklin/S. McKinnon: »New Directions in Kinship Study«, S. 275. Deutsch v.V. 13 Vgl. R. Peuckert: Familienformen, S. 381-404. Zur Veränderung der Familie durch die Reproduktionsmedizin aus anthropologischer Perspektive vgl. S. Franklin/S. McKinnon: Relative Values.

E INLEITUNG | 13

Diskussionen um Familie ausrichten und die Politik sich orientiert, an dem sich reale Familien abarbeiten und andere Formen von Verwandtschaft gemessen werden. Im Bereich der Reproduktionsmedizin, aber auch in der jüngeren Debatte um Familienpolitik, Kinderbetreuung und Mutterrolle werden die Subjekte und zwischenmenschlichen Beziehungen, um die es geht, zudem auch zunehmend rationalisiert. Die Auflösung patriarchalischer Familienstrukturen wird nicht nur im Namen einer Dehierarchisierung von Beziehungen oder Pluralisierung von Lebensverhältnissen eingefordert, sondern auch im Namen einer gesellschaftsökonomischen Kosten-Nutzen-Logik. In den jüngsten Debatten wird deutlich, in welchem Maße diese gleichermaßen gesellschaftlich wie individuell relevanten Fragen von ökonomischem Kalkül durchdrungen sind; die Ökonomisierung aller Lebensbereiche macht auch vor der Familie nicht halt, oder: Vielleicht ist Familie und die Frage nach der Funktion von Mutter- und Vaterschaft ein wesentlicher Kristallisationspunkt dieser Ökonomisierung.14 Sicher ist, dass keine andere Dimension von Geschlechtsidentität auch heute noch so sehr als ein Natürliches kodiert ist wie Mütterlichkeit. Mütterlichkeit wird als eine ahistorische Tatsache verstanden, die ursächlich mit dem anatomisch weiblichen Körper, mit der Fähigkeit von Schwangerschaft und Geburt verknüpft ist. Als solche ahistorische, biologisch begründete Tatsache ist Mütterlichkeit klar definiert als ausschließliche Dyade von Mutter und Kind: die Mutter gehört zum Kind, und nur zum Kind, und umgekehrt gehört das Kind zur Mutter, und zwar nur zur Mutter. Die Historizität dieser Vorstellung von Mütterlichkeit wird bis heute verschleiert, mit Judith Butler könnte man sagen, dass die Verschleierung seiner Historizität wesentlicher Teil des naturalisierten Konzepts von Mütterlichkeit ist. Barbara Vinken zufolge ist die Mutter eine historische Figur, die »die Naturalisierung oder Biologisierung von Kultur ermöglicht. Diese Figur ist spezifisch geschichtlich, das heißt modern. Ihre spezifische Geschichtlichkeit liegt genau darin, Geschichte zu leugnen.«15 Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, Bilder von Mütterlichkeit und Familie in der zeitgenössischen Kultur, vornehmlich den darstellenden Künsten, zu untersuchen. Angesichts der Vervielfältigung von Lebensentwürfen in der gesellschaftlichen Realität, in Film und Fernsehen sowie der Reflexion von Verwandtschaft und Familie in theoretischen Diskursen, stellt sich die Frage, wie die 14 Eva Illouz zufolge wird die Ökonomisierung familiärer Bindungen durch die Rationalisierung intimer Beziehungen ermöglicht, die durch den feministischen und therapeutischen Diskurs angestoßen wurde; die Familie als Schutzraum vor gesellschaftlicher Öffentlichkeit und Ökonomie ist ihr zufolge eine Illusion; E. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 58-59. 15 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 146.

14 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: INSZENIERUNGEN IN T HEATER UND PERFORMANCE

darstellenden Künste mit Mutterfiguren, Familie und Fragen der Verwandtschaft umgehen. Und dies umso mehr, als dass das Theater in Form des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert wesentlichen Anteil an der Konstitution der bürgerlichen Kleinfamilie hatte. Ist das Theater an den gegenwärtigen Veränderungen und Verhandlungen von Familie und Mutterschaft beteiligt, und wenn ja, in welcher Form? Die Untersuchung geht dabei von der Annahme aus, dass Mütterlichkeit keine ahistorische Konstante sondern eine historische Konstruktion ist, deren Historizität verschleiert wird. Mit Vinken versteht sie die Figur der Mutter als Grundlage der Naturalisierung des binären Geschlechtermodells. Es gilt also zunächst, die historische Dimension dieser Figur aufzudecken, um in einem zweiten Schritt Mutterbilder der Gegenwart auf ihre naturalisierenden bzw. denaturalisierenden Strategien hin zu analysieren. Angesichts der gesellschaftlichen Diskurse der letzten Jahre ist es dabei wichtig, hellhörig zu sein für Ambivalenzen und sich nicht von der ideologischen Mitgift anstecken zu lassen, die das Thema in den feuilletonistischen und politischen Debatten prägt. Aus diesem Grund wird versucht, sich auf konkrete künstlerische Beispiele zu stützen und diese möglichst präzise zu analysieren und sowohl semiotische als auch performative sowie wirkungsästhetische Aspekte in den Blick zu nehmen. Dies ist auch von der Vorannahme getragen, dass es in künstlerischen Praktiken möglich ist, eindeutige Wertungen zu umgehen, Ambivalenzen und Widersprüche bestehen zu lassen und dadurch Ideologie als solche zu unterhöhlen. Die Mutter als ästhetische Figur Renate Möhrmann hat sich als eine der ersten Wissenschaftlerinnen der Mutter als ästhetischer Figur zugewandt und dabei konstatiert, dass ihre Geschichte von Auslassungen geprägt ist.16 So seien die Mutterfiguren nicht nur im bürgerlichen Trauerspiel abwesend oder randständig, sondern auch in Drama, Theater und Film späterer Epochen, beispielsweise der 1940er und 50er Jahre. Auch E. Ann Kaplan stellt, noch vor ihrer Untersuchung zu Motherhood and Representation, fest, dass die Mutter aus vielen filmischen und literarischen Diskursen »herausgeschrieben« oder marginalisiert werde; die Verdrängung der Mutter sei kennzeichnend für die patriarchalische Gesellschaft: »To all intents and purposes, the mother qua herself is, in patriarchy, relegated to silence, absence and marginality«.17 Gerade das Trauerspiel ist exemplarisch für die Schwierigkeiten, die die bürgerliche Gesellschaft Friedrich Kittler zufolge damit hat, »zu einer kulturellen Funktion Mutterschaft zu gelangen«.18 Insofern hängt die »Spärlichkeit« (Möhrmann) der für die Mutter entworfe16 R. Möhrmann: Verklärt, verkitscht, vergessen, S. 3. 17 E. A. Kaplan: Women and Film, S. 172. 18 F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 15.

E INLEITUNG | 15

nen Bilder vielleicht auch mit ihrem kulturellen Status als ›natürliche Mutter‹ zusammen, als Inbegriff des Natürlichen. Im 21. Jahrhundert ist von dieser Spärlichkeit nicht mehr viel zu merken. Mutterfiguren gibt es, ebenso wie Vaterfiguren, in einer großen Zahl von Dramen, Romanen, Filmen und Fernsehserien. Gerade im Film lässt sich durchaus ein Variationsreichtum feststellen, man denke nur an die Filme Pedro Almodóvars, in denen häufig Mutterfiguren auftreten, die jedweden tradierten Vorstellungen zuwiderlaufen, ebenso wie mütterliche Figuren, deren anatomische Körper nicht weiblich sind. Almodóvar inszeniert Mütterlichkeit unabhängig von Biologie und hinterfragt auf diese Weise die Verbindung von Begehren, Geschlechtsidentität und natürlichem Körper. In bestimmten Genres wird hingegen weiterhin auf stereotype Mutterbilder zurückgegriffen, wenn etwa in Panic Room von David Fincher (2002) Jodie Foster den gesamten Film mit ihrer Tochter in einem hermetisch abgeriegelten Raum verbringt und ›wie eine Löwin‹ gegen das Böse kämpft, das die Mutter-Kind-Symbiose bedroht. Seit den 1970er Jahren setzen sich Künstlerinnen in Malerei, Fotografie, Performance, Installations- und Videokunst bewusst mit dem Bild der Mutter oder mit der eigenen Mutterschaft auseinander. Aber auch männliche Künstler entwerfen, wie bereits bildende Künstler vergangener Epochen, Bilder von (ihren) Müttern oder Mütterlichkeit, etwa Bill Viola in seinen Videoarbeiten oder Leigh Ledare, der mit Fotografien seiner Mutter beim Sex vor einigen Jahren für Aufregung sorgte.19 In den darstellenden Künsten treten Mutterfiguren in erster Linie im dramatischen Sprechtheater auf. Während im deutschsprachigen Drama Familie und familiäre Beziehungen bei so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Dea Loher, Marius von Mayenburg oder Roland Schimmelpfennig ein wichtiges Sujet sind, war die Familie in nicht dramenbasierten Theaterformen, in Tanz und Performance lange Zeit kein Thema. Das scheint sich zu ändern, so beschäftigt sich beispielsweise René Pollesch in vielen seiner Arbeiten mit Mutterschaft und Familie,20 Rimini Protokoll mit Fragen der Adoption (Black Tie, 2008), Lola Arias mit neuen Formen von Familie (Familienbande, 2009), und die Performancegruppe She She Pop bringt in den Jahren 2008 bis 2014 gleich vier Produktionen heraus, die Familie und verwandtschaftliche Beziehungen zum Thema haben: Familienalbum (2008), Testament (2010), Sieben Schwestern (2010) und Frühlingsopfer (2014). Auch im Fall des Theaters gilt: Häufig lassen sich stereotype Muster beobachten, die gerade bei der Inszenierung von Mutterfiguren zu greifen scheinen, etwa 19 Zu Ledare vgl. M. Weinhart/M. Hollein: Privat/Privacy, Katalog zur Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt 2012/13; zu Mutterporträts von Malern vgl. T. Blisniewski: The Artist’s Mother, J. Heslewood: Mütter. 20 Ich zähle Pollesch hier zu den nicht dramenbasierten Theaterformen, weil der Text nicht als fertiges Werk zu Probenbeginn vorliegt, sondern im Arbeitsprozess entwickelt wird.

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wenn Thomas Ostermeier an der Schaubühne die Jenna aus Noréns Dämonen (2010) als dumpfes, unattraktives Muttertier inszeniert, ohne dieses Stereotyp zu hinterfragen. Es gibt aber auch viele Regisseurinnen und Regisseure, die sich kritisch mit Geschlechtsidentitäten auseinandersetzen. So unterbricht beispielsweise Frank Castorf mit Mitteln der Überzeichnung, des Cross-Dressing und anderer Verfremdungseffekte die Verbindung von Anatomie, Geschlechtsidentität und Begehren und denaturalisiert auf diese Weise auch Mütterlichkeit als biologische Eigenschaft der Frau; etwa wenn kürzlich Hermann Beyer in Das Duell (2013) als einziger Mann neben acht Schauspielerinnen die mütterlichste Figur ist. Die Mutter gibt es in der künstlerischen Praxis der Gegenwart nicht, sondern viele verschiedene Mutterfiguren, so dass es nicht darum gehen kann, auf die Frage nach der Inszenierung der Mutter eindeutige und allgemeingültige Antworten zu geben. Ähnlich verhält es sich mit der Repräsentation von Familie, auch hier können Tendenzen aufgezeigt, aber keine abschließenden Antworten geliefert werden. Im Theater hängt die Vielfalt der Mutterfiguren in wesentlichem Maße mit der Dramengeschichte zusammen; denn diese besteht ja nicht nur aus dem bürgerlichen Drama, das die Mütter an den Rand drängt. Die attische Tragödie, diejenige der französischen Klassik, das Theater des 20. und 21. Jahrhunderts warten mit Mutterfiguren auf, die sich nicht nur über ihre Mütterlichkeit definieren und auch nicht, wie Möhrmann schreibt, einzig als »Megären« und über »die spektakuläre Monstrosität der Tat« in Erscheinung treten.21 Gerade an der Figur der Medea, die Möhrmann in diesem Zusammenhang nennt, ließe sich aufzeigen, wie differenziert und durchaus widersprüchlich künstlerische Diskurse Mutterfiguren zeichnen. Solche Differenzierungen und Widersprüchlichkeiten gilt es aufzuzeigen; auch beispielsweise an einem so gründlich untersuchten Gegenstand wie dem bürgerlichen Trauerspiel. Zum Vorgehen Historisch betrachtet fällt vor allem der Sonderstatus, den das Theater bezüglich Mutterfiguren im 18. Jahrhundert einnimmt, auf. Während in der bildenden Kunst zahlreiche Bilder idealer Mütterlichkeit entworfen werden, ist die Mutter in den weitaus meisten bürgerlichen Trauerspielen bestenfalls randständig. Hat das Theater einerseits wesentlichen Anteil an der Konstitution des neuen Familienmodells, lässt es andererseits die Mutter, die in den theoretischen Diskursen der Zeit und eben auch in der bildenden Kunst eine zentrale Rolle spielt, weitgehend außen vor. Dieser unterschiedliche Umgang der bildenden und der darstellenden Künste mit der Figur der Mutter hat, so scheint es, Nachwirkungen noch im beginnenden 21. Jahrhundert. So gibt es in der bildenden Kunst zahlreiche Auseinandersetzungen mit Mutterbildern, während eine explizite Thematisierung von Mütterlichkeit im 21 R. Möhrmann: Verklärt, verkitscht, vergessen, S. 6.

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Theater ausgesprochen selten vorkommt. Aus diesem Grund gliedert sich die Untersuchung in drei Teile. Im ersten werden visuelle Konstruktionen von Mutterschaft in der gegenwärtigen populären Kultur, der bildenden Kunst sowie der frühen Performance-Kunst untersucht; der zweite erörtert die historischen Grundlagen des bürgerlichen Familienmodells sowie des Familienbildes im bürgerlichen Theater des 18. Jahrhunderts und greift die Frage nach der Medienspezifik des Mutterbildes auf; und der dritte Teil untersucht Theater und Performance der Gegenwart hinsichtlich der Inszenierung von Mutterschaft und Familie. Im ersten Teil werden zunächst Inszenierungen von Mutterfiguren in der visuellen Alltagskultur untersucht (I.1). Ich gehe dabei davon aus, dass Bilder Realität nicht nur abbilden sondern auch hervorbringen, dass sie konstitutiv an der Herstellung sozialer Wirklichkeit beteiligt sind. Medien spielen für die Alltagspraxis eine zentrale Rolle, gerade auch solche medialen Bilder, die Teil der Alltagsrealität sind, aber nur beiläufig rezipiert werden, wie etwa die Werbung. Den Korpus bilden daher Beispiele aus der kommerziellen Werbung, der Ratgeberliteratur sowie der politischen Kommunikation. Die Auswahl ist nicht repräsentativ, sondern versucht, solche Tendenzen einzufangen, die sich bei der Durchsicht von Printerzeugnissen, Fernsehen und Internet als dominant herausstellten. Die untersuchten TV-Spots wurden aufgrund ihrer auffällig stereotypen Darstellung oder aber dem offensichtlichen Spiel mit stereotypen Familienbildern ausgewählt. Gerade bezüglich der politischen Kommunikation stellt sich die Frage, ob die im Laufe des letzten Jahrzehnts in der deutschen Politik so intensiv geführte Debatte um Familienpolitik einen Niederschlag findet in den Bildern, die die Politik von Müttern und Familien zeichnet (I.1.2). Da in den untersuchten Beispielen aus der zeitgenössischen visuellen Kultur die Nähe zu bestimmten Bildtypen der christlichen Ikonografie auffallend ist, werden diese in einem kurzen Rekurs auf die Tradition des Marienbildnisses vorgestellt (I.1.3). In diesem Kontext ist in erster Linie von Interesse, welche Bildtraditionen in zeitgenössischen Konstruktionen von Mutterschaft aufgegriffen werden, und welche Funktion die Reproduktion dieser Bildvorgaben bezüglich des erzeugten Mutterbildes hat. Das folgende Kapitel untersucht die Darstellung von Mütterlichkeit in der künstlerischen Praxis der 1970er Jahre, die von einer radikalen Infragestellung der bürgerlichen Familie und der Rolle der Frau geprägt sind (I.2). Als Beispiele werden bildnerische, filmische und performative Arbeiten von Carolee Schneemann, Ulrike Rosenbach und Mary Kelly genauer untersucht (I.2.2-2.4). Die Betrachtung rein bildnerischer Arbeiten wie derjenigen Mary Kellys aus theaterwissenschaftlicher Perspektive ermöglicht es dabei beispielsweise, die Auslassung des eigenen Körpers als eine bewusste künstlerische Entscheidung in den Blick zu nehmen. Ausgehend von den Arbeiten mit und am eigenen Körper von Künstlerinnen der 1970er Jahren werden im dritten Kapitel des ersten Teils fotografische Selbstinszenierungen von Künstlerinnen aus der Zeit von 1980 bis heute vorgestellt, u.a. von

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Cindy Sherman, Birgit Dunkel, Judith Samen und Daniela Comani (3.1-3.4). Die fotografischen Arbeiten setzen sich mit der Tradition der christlichen Marienikonografie auseinander und loten das Verhältnis des eigenen Körpers zu diesen Bildvorgaben aus. Am Ende dieses Abschnitts steht ein Beispiel, das sich mit medialen Konstruktionen von Mutter- und Vaterschaft im Hollywoodfilm beschäftigt: Mother and Father von Candice Breitz, eine Videoinstallation aus dem Jahre 2005 (I.3.5). Der zweite Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit den historischen Grundlagen des bürgerlichen Familienmodells sowie mit dem Familienbild im bürgerlichen Theater. Die heutigen Vorstellungen von Mutterschaft und Familie sind maßgeblich von dem Modell der bürgerlichen Kernfamilie geprägt, das sich im 18. und 19. Jahrhundert herausbildet, und mit dem die Naturalisierung der binären Geschlechterdifferenz einhergeht. Für diese Entwicklung ist im 18. Jahrhundert die Mutter ein wesentlicher Kristallisationspunkt. In den Schriften Rousseaus und anderer Aufklärer wird Mutterschaft als natürliche Berufung der Frau stilisiert und die Mutter als Inbegriff einer natürlichen Lebensweise idealisiert. Sie wird so zu einer zentralen Figur der Naturalisierung des bürgerlichen Familienmodells und der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung. Das bürgerliche Trauerspiel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat Anteil an der Konstitution der patriarchalischen Kleinfamilie; erstaunlicher Weise nimmt die Mutter im Theater allerdings keine prominente Stellung ein. Beides, sowohl die Funktion der Mutter in theoretischen Diskursen als auch die Rolle, die sie im bürgerlichen Trauerspiel (nicht) spielt, wird in diesem Teil erörtert (II.1 und 2). Ich gehe dabei davon aus, dass das Trauerspiel und die Schriften zum bürgerlichen Theater von Diderot und Lessing Teil einer diskursiven Praxis sind, die eine neue Vorstellung von Familie und Elternschaft generiert. Aus diesem Grund beziehe ich nicht-theatrale Diskurse wie etwa die Schriften Rousseaus mit ein und sehe im Theater nicht eine Abbildung von Gegebenem, sondern ein Darstellungssystem, das an der Erzeugung der neuen Rollenmodelle mit beteiligt ist. Da das bürgerliche Trauerspiel hinlänglich wissenschaftlich untersucht ist, kann es nicht darum gehen, grundlegend neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern einerseits die Inszenierung von Familie zusammenfassend darzulegen, andererseits die Figur der Mutter in das Zentrum des Interesses zu stellen und die Texte aus dieser Perspektive zu hinterfragen. Tatsächlich vermag eine solche Fokussierung, eine Figur wie diejenige der Claudia Galotti auf etwas andere Weise zu lesen. Um die Spezifik des Mutterbildes im bürgerlichen Theater zu präzisieren, werden in diesem Zusammenhang auch Beispiele aus der bildenden Kunst erörtert (II.1.4). In den theatertheoretischen Schriften der Zeit wird eine natürliche Spielweise gefordert, die zum einen zu der Naturalisierung der dargestellten Funktionen von Mutter- und Vaterschaft beiträgt, zum anderen grundlegend ist für die Entwicklung des bürgerlichen Illusionstheaters. Die neue Darstellungskonvention der Natürlichkeit auf dem Theater hat entscheidenden Anteil an der Naturalisierung der bürgerlichen Familie und der polaren Geschlechterrollen, oder, umgekehrt betrachtet, ist die

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neue Vorstellung von Familie grundlegend für die Herausbildung der bürgerlichen Schauspielästhetik. Diese Verbindung der Naturalisierung des neuen Familienmodells mit der angestrebten Naturalisierung der Theaterästhetik ist aus theaterwissenschaftlicher Perspektive von besonderem Interesse (II.2.6). Die Entwicklung des Ideals einer natürlich wirkenden, geschlossenen Repräsentation für das Theater weist Analogien zu dem Ideal der geschlossenen, natürlichen Kleinfamilie auf; beides zeigt bis heute Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von Theater bzw. Familie. Aus diesem Grund schließe ich diesem Teil der Arbeit den Ausblick auf eine Inszenierung an, die durch die Hinterfragung der geschlossenen Repräsentation auf ästhetischer Ebene auch das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie hinterfragt: Michael Thalheimers Emilia Galotti am Deutschen Theater Berlin von 2001 (II.2.7). In der zweiten Hälfte des 20. und im 21. Jahrhundert wird die bürgerliche Familie in theoretischen Diskursen ebenso wie in der gesellschaftlichen Praxis zunehmend in Frage gestellt und andere Formen des Zusammenlebens erprobt. Wir haben es mit einer Pluralisierung und Dynamisierung familiärer Strukturen zu tun, sowohl in der sozialen Alltagsrealität als auch in medialen Diskursen. Welche Rolle spielt das Theater bei dieser Entwicklung? Ist es, ähnlich wie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das bürgerliche Trauerspiel, an der Reformulierung von Verwandtschaft, an der Konstitution neuer Vorstellungen von Familie beteiligt? Inwiefern werden in Theater und Performance der Gegenwart bestehende Familienmodelle verhandelt oder neue Vorstellungen von Verwandtschaft entworfen? Diese Fragen stehen im Zentrum des dritten Teils. Vor dem Hintergrund dieser Fragen wird anhand unterschiedlicher Beispiele die Inszenierung von Mütterlichkeit, Familie und Verwandtschaft im deutschsprachigen Gegenwartstheater untersucht. Im Zentrum des Interesses steht dabei die Figur der Mutter, da sie bis ins 21. Jahrhundert hinein als Garantin des biologischen Geschlechterunterschieds fungiert. Das ursprüngliche Vorhaben, mich ganz auf die Darstellung von Mutterfiguren zu konzentrieren, ließ sich allerdings nicht sinnvoll durchführen, ohne die Darstellung von Familie und familienähnlichen Gemeinschaften in die Untersuchung miteinzubeziehen. Dies liegt zum einen darin begründet, dass es in den darstellenden Künsten nur vereinzelte spezifische Auseinandersetzungen mit der Rolle als Mutter gibt, wie dies in den 1970er und 80er Jahren in der Performance von Frauen oder, bis heute, in der bildenden Kunst der Fall ist. Mutterfiguren werden im Theater meist im Zusammenhang einer Familie dargestellt; zentrales Thema einer Aufführung ist Mutterschaft nur in ausgesprochen seltenen Fällen. Zum anderen erscheint das Thema der Mütterlichkeit auch auf theoretischer Ebene nur sinnvoll im Kontext einer Untersuchung der künstlerisch entworfenen Vorstellungen von Verwandtschaft zu sein, da auch neuere philosophische und anthropologische Theorien mehrheitlich bei dem Begriff der Verwandtschaft ansetzen (Kap. III.4 und III.7).

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Gilt für das bürgerliche Theater eine Korrespondenz zwischen dem Konzept der natürlichen Einheit der Familie und demjenigen der geschlossenen Repräsentation, so stellt sich die Frage, ob andere Darstellungsmodi, wie sie das Gegenwartstheater kennzeichnen, auch andere Konzepte von Familie, Mütterlichkeit und Verwandtschaft generieren. Aus diesem Grund wurden nicht so sehr jene Theaterformen untersucht, die sich tradierter Weise mit Familie beschäftigen und auf weitgehend traditionelle Darstellungskonventionen zurückgreifen, wie etwa dramenbasierte Aufführungen des Sprechtheaters, sondern vielmehr solche, deren Ästhetik sich deutlich vom Darstellungsmodus des Repräsentationstheaters absetzt. Diese Fokussierung folgt auch der Beobachtung, dass die Familie zwar ein weit verbreitetes Sujet in der zeitgenössischen Dramatik ist, dass aber eine grundlegende Hinterfragung von Mütterlichkeit als biologischer Konstante meist nicht statthat. Es wurde Wert darauf gelegt, möglichst unterschiedliche dieser neueren Theaterformen einzubeziehen, um zu untersuchen, ob die Vielfalt an theatralen Formen auch eine Vielfalt an Formen der Familiendarstellung nach sich zieht. Zum Korpus gehören aus diesen Gründen dokumentarisches Theater (Rimini Protokoll, Lola Arias), Performances (She She Pop, deufert&plischke, Vegard Vinge, Institutet), textzentriertes Theater (Pollesch), ebenso wie Tanz (Eszter Salamon, Alain Platel). Das erste Kapitel dieses Teils beschäftigt sich mit der Gruppe Rimini Protokoll, die in verschiedenen Aufführungen das Thema Familie aufgreifen. So setzen sie sich in Sabenation. Go home and follow the news (Brüssel 2004) unter anderem mit der Funktionalisierung von Mutterschaft in der Mediengesellschaft auseinander, und in Black Tie (Berlin 2008) mit Fragen der sozialen, kulturellen und genetischen Herkunft. Hier stellt sich die Frage, inwiefern der Darstellungsmodus, also die Arbeit mit Experten der Realität, Anteil an dem entworfenen Familienbild hat bzw. inwiefern das dokumentarische Arbeiten gegebene familiäre Strukturen authentifiziert oder aber verfremdet (III.1). Im zweiten Kapitel werden zwei Inszenierungen analysiert, die beide die bürgerliche Familie als einen Hort der Gewalt darstellen, und die dies in einer Weise tun, die das Thema der Familie mit spezifisch theatralen Fragen der Darstellung und der Beziehung von Publikum und Bühne verknüpft. Es handelt sich um Conte d’Amour von Institutet und Nya Rampen (Berlin 2010) sowie um John Gabriel Borkman von Vegard Vinge und Ida Müller (Berlin 2011). Während Conte d’Amour mit einem ausschließlich männlichen Ensemble von der patriarchalen Familie als inzestuöser Gemeinschaft erzählt und männliche Phantasien von Sexualität, Weiblichkeit und Fremdheit offenlegt, hinterfragen Vinge und Müller die Normen der bürgerlichen Familie und des Theaters in einer Performance, die auf verschiedenen Ebenen an die Grenzen des Erträglichen geht. Beide Aufführungen werden auf ihre künstlerischen Mittel, auf das Bild, das sie von Familie entwerfen, auf die Funktion des Tabubruchs sowie die dargestellte Verbindung des Konzepts

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der Kleinfamilie mit demjenigen der geschlossenen Repräsentation hin befragt (III.2). Das folgende Kapitel wendet sich einer Aufführung zu, die eine Familie mit gleichgeschlechtlichen Eltern in Szene setzt, Familienbande von Lola Arias (München 2009). Es ist eine der wenigen Aufführungen des Gegenwartstheaters, die sich explizit mit anderen Formen der Familie als dem Modell der heterosexuellen Kleinfamilie auseinandersetzt. Die Frage, in welcher Weise die heteronormative, patriarchalische Familie zersetzt und andere Mutter- und Familienbilder entworfen werden, stellt sich hier auf besonders offensichtliche Weise, aus diesem Grund wird dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit gewidmet (III.3). Im vierten Kapitel werden Aufführungen untersucht, die nur auf den zweiten Blick ›Familie‹ inszenieren, wie etwa Reproduction von Eszter Salamon (Berlin 2004), Gardenia von Alain Platel (Brüssel 2010) oder verschiedene Arbeiten von deufert&plischke aus den Jahren 2003 bis 2007. Hier handelt es sich um Visionen von chosen families, also Wahlfamilien, die nicht auf Blutsverwandtschaft basieren, und die biologische Fundierung herkömmlicher Familienmodelle hinterfragen. Da der Begriff der chosen family in der neueren Verwandtschaftsforschung eine wichtige Rolle spielt, gehe ich einleitend auf diesen Begriff ein und stelle das Projekt Chosen Family Portraits vor (III.4.1). Im zeitgenössischen Fernsehen, namentlich im Serienformat, gibt es seit Beginn des 21. Jahrhunderts auffallend viele chosen families, darunter auch solche mit gleichgeschlechtlichen Elternpaaren. Beispielhaft wird eine Szene aus Queer as Folk analysiert und die Frage aufgeworfen, inwiefern in der medialen Inszenierung queerer Elternschaft das bürgerliche Familienmodell subvertiert wird, oder aber heteronormative Muster zur Anwendung kommen, die es letztlich affirmieren (4.2). Die im Folgenden beispielhaft analysierten Aufführungen von Salamon, Platel und deufert&plischke entwerfen szenisch Formen von Gemeinschaft, die familienähnliche Züge aufweisen und dabei heterosexuelle Normen und Geschlechtsidentitäten unterminieren (III.4.3). Eine Form der chosen family stellen auch Performance-Kollektive dar, die über lange Jahre zusammenarbeiten. Ein solches Kollektiv, das versucht, sowohl im Arbeitsprozess als auch auf der Bühne ein gleichberechtigtes Arbeiten zu realisieren, ist die Gruppe She She Pop. She She Pop haben sich zudem in den letzten Jahren mehrfach mit dem Thema Familie auseinandergesetzt, zwei dieser Performances, Familienalbum (Berlin 2008) und Testament (Berlin 2010), werden in Kapitel III.5 analysiert. Anschließend gehe ich näher auf das Performance-Kollektiv als eine chosen family ein, eine frei gewählte Gemeinschaft, die sich von dem Modell der Kleinfamilie, aber auch von den Konventionen des bürgerlichen Kunstwerk- und Autorbegriffs absetzt (III.5.3). In einigen der bisher genannten Aufführungen steht Familie nicht nur für eine Eltern-Kind-Einheit, sondern auch für eine Gemeinschaft, die in der Aufführungssituation gebildet wird. Die Frage nach den Entwürfen von Familie ist immer auch

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eine Frage nach den Vorstellungen von Gemeinschaft, die auf der Bühne oder im Verhältnis von Bühne und Publikum hergestellt werden. Jede Gemeinschaft konstituiert Alterität, Ausschlüsse und Verwerfungen, insofern ist die Frage nach der Familie immer auch eine politische. Das Verhältnis von privat und öffentlich, an dem sich im 18. Jahrhundert die Kleinfamilie herausbildet, wird im Theater immer wieder aufs Neue verhandelt. Es problematisiert so, wenn es Familie darstellt, auch das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, und zwar sowohl auf der Ebene des Dargestellten als auch der Darstellung. Aus diesem Grund wird bei der Untersuchung der zeitgenössischen Beispiele auch die Frage nach der Konstitution von Gemeinschaft miteinbezogen. Zu guter Letzt werden Arbeiten von René Pollesch analysiert, und zwar sowohl unter dem Aspekt der Inszenierung und Denaturalisierung heteronormativer Familien, wie etwa in L’Affaire Martin (Berlin 2006), Diktatorengattinnen (Berlin 2007) oder Die Welt zu Gast bei reichen Eltern (Hamburg 2007), als auch unter dem Aspekt der chosen family. Denn in der Theaterarbeit von Pollesch fällt gerade die Abwesenheit heterosexueller Paarbeziehungen und die Konstitution von nicht auf Biologie gründenden Formen der Zugehörigkeit auf, etwa im Fall der Aufführungen mit drei Performerinnen oder mit Chören. Da Pollesch sich sowohl auf der Ebene des Textes als auch der Darstellung immer wieder mit der bürgerlichen Familie auseinandersetzt und sie aus verschiedenen Perspektiven hinterfragt, werden mehrere seiner Arbeiten hinsichtlich der Inszenierung von Mutterschaft und Familie untersucht (III.6). Anschließend wird ein Blick auf die Gruppe der Performerinnen und Performer als chosen family, also als Entwurf einer anderen Form von Verwandtschaft, geworfen (III.6.5). Eine solche Reformulierung von Verwandtschaft kann Judith Butler zufolge den Verwerfungen der bürgerlichen Gesellschaft ein heterogenes Modell von Gemeinschaft entgegenstellen, einer Gemeinschaft, die nicht auf Ausschluss oder assimilierendem Einschluss beruht, sondern offen bleibt für das ihr Andere. Auf diese Perspektive und ihre Bedeutung für das Theater gehe ich abschließend ein (III.7). Zum Forschungsstand Die theaterwissenschaftliche Forschung hat sich bislang nicht explizit mit der Frage der Inszenierung von Mutterschaft oder Familie im Theater der Gegenwart beschäftigt. Ausnahmen bilden vereinzelte Publikationen, beispielsweise ein Aufsatz von Günther Heeg zur Darstellung der Familie als inzestuöser Gemeinschaft.22 Die Literaturwissenschaft hat sich ausgiebig mit dem bürgerlichen Trauerspiel auseinandergesetzt; hier sei auf den Forschungsbericht von Franziska Schößler von 2008 verwiesen.23 Friedrich Kittler läutet 1991 eine Wende in der literaturwissen22 G. Heeg: »Familienbande«. 23 F. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel, S. 12-15.

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schaftlichen Forschung ein, die sich bis dahin in erster Linie auf den im Trauerspiel verhandelten Ständekonflikt konzentriert hat, und stellt die Konstitution der bürgerlichen Familie ins Zentrum seiner Analyse.24 In seiner Folge werden in den Literaturwissenschaften auch kulturwissenschaftliche bzw. gender-theoretische Ansätze aufgegriffen, um die Konstruktion von Geschlechtsidentität und Familie zu analysieren.25 Die Abwesenheit der Mutter im bürgerlichen Trauerspiel wird relativ spät reflektiert.26 Auch unabhängig vom Trauerspiel setzt sich die deutschsprachige Literaturwissenschaft erst seit den 1990er Jahren und auch dann nur sporadisch mit der Mutter als literarischer Figur auseinander.27 Eine der ersten deutschsprachigen Publikationen, die sich explizit mit der Mutter als ästhetische Figur auseinandersetzt, ist der Sammelband Verklärt, verkitscht, vergessen. Die Mutter als ästhetische Figur, herausgegeben 1996 von Renate Möhrmann. Ausgehend von der Beobachtung, dass Mutterfiguren in Literatur, Theater und Film in vielen Epochen lediglich randständige Bedeutung haben, versammelt Möhrmann Forschungsansätze unterschiedlicher Disziplinen, die sich mit Mutterfiguren vor allem in der Literatur, aber auch der bildenden Kunst, Film und Fernsehen auseinandersetzen. Auch in der Kunstgeschichte sind die Publikationen, die sich explizit mit der Darstellung von Müttern beschäftigen, recht überschaubar, wie Monika Kaiser und Birgit Thiemann feststellen, die 2004 eine Ausgabe von Frauen Kunst Wissenschaft der »Langlebigkeit des mütterlichen Idealbildes in den visuellen Medien« widmen.28 Mutterfiguren werden in größerem Umfang lediglich bezüglich der christlichen Ikonografie oder einzelner Malerinnen, wie etwa Käthe Kollwitz, untersucht. Allerdings gab es in den letzten Jahren einige Ausstellungen zum Thema Mutter bzw. Mütterlichkeit, da es, wie bereits erwähnt, in der bildenden Kunst einen weitaus prominenteren Platz einnimmt als im Theater.29 Die begleitenden Kataloge bieten einen Einblick in die kunstwissenschaftliche Perspektive auf dieses Motiv.30 24 F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind. 25 E. Vogg: »Die bürgerliche Familie«, S. Komfort-Hein: »Sie sei wer sie sei«, I. Stephan: Inszenierte Weiblichkeit. 26 M. Kaarsberg Wallach: »Emilia und ihre Schwestern«, R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«. 27 H. Kraft/E. Liebs: Mütter, Töchter, Frauen, I. Roebling/W. Mauser: Mutter und Mütterlichkeit. 28 M. Kaiser/B. Thiemann: Mothering, S. 8. 29 Macht und Fürsorge. Das Bild der Mutter in der zeitgenössischen Kunst, Köln 1999; doublebind. Kunst, Kinder, Karriere, Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2003; Mythos Mutter, Frauenmuseum Bonn 2005; Mothering, Domestic and Private. Dimensionen der sozialen Reproduktion im Neoliberalismus, Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2011. 30 J. Bilstein: Mutter, Kind, Vater; S. Theill: doublebind; M. Pitzen: Mythos Mutter.

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Die Filmwissenschaft hat, zumal international betrachtet, einige Arbeiten zur Repräsentation der Mutter hervorgebracht; hier sind zum einen Darstellungen konkreter Mutterfiguren analysiert worden,31 aber auch Phantasien einer monströsen, verschlingenden Mütterlichkeit, wie sie gerade im Horrorfilm vorkommen.32 Zudem werden Mutterfiguren einzelner Filme bzw. Regisseure in der Forschung zu diesen analysiert.33 In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass soziologische Studien zu veränderten Familien- und Rollenbildern auch kulturwissenschaftliche Fragestellungen aufgreifen, so dass es einige Publikationen gibt, die neben soziologischen auch medien- oder kunstwissenschaftliche Perspektiven einbeziehen.34 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Mutter als ästhetische Figur nicht umfassend erforscht ist, und dass zumal die theaterwissenschaftliche Perspektive fehlt. Auch die Erforschung der Inszenierung von Familie oder familienähnlichen Strukturen auf dem Theater stellt ein Desiderat dar. Dies erstaunt umso mehr, als dass die Pluralisierung und Diversifizierung von Familie ein Feld ist, das sowohl gegenwärtige Lebens- und Alltagspraxis als auch politische und feuilletonistische Debatten in starkem Maße bestimmt, und auch in Theater und Performance reflektiert wird. Methodische Überlegungen Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, Inszenierungen von Mutterschaft, Familie und Verwandtschaft in der visuellen Kultur und den darstellenden Künsten der Gegenwart zu untersuchen. Es liegt nicht im Interesse dieser Arbeit, eine historische Linearität herzustellen, aus diesem Grund wird nicht versucht, eine Geschichte der Inszenierung von Mutterschaft und Familie vom 18. Jahrhundert bis heute zu schreiben. Die Einbeziehung der Entwicklung der bürgerlichen Familie und des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert erfolgt einzig mit dem Ziel, die Historizität dieses Familienmodells darzulegen, da es auch heute noch in weitgehend naturalisierter Gestalt in Erscheinung tritt. Des Weiteren soll diese Einbeziehung dazu dienen, die Parallelität des Konzepts der geschlossenen Kleinfamilie und desjenigen der geschlossenen Repräsentation aufzuzeigen. Aus der gegenwartsbezogenen Perspektive zeigt sich hier die Notwendigkeit, die Art und Weise der Darstellung in die Untersuchung miteinzubeziehen, da die Geschlossenheit der Familie in wesentlichem Maße mit dem Modus der Darstellung zusammenhängt. 31 E.A. Kaplan: Motherhood and Representation, D. Bassin/M. Honey/M. Kaplan: Representations of Motherhood, A. Brauerhoch: Die gute und die böse Mutter, L. Fischer: Cinematernity. 32 B. Creed: The Monstrous-Feminine, U. Bergermann: »Hollywoods Reproduktionen«. 33 Etwa in psychoanalytischen Lektüren von Filmen Hitchcocks; vgl. T. Modleski: The Women who knew too much. 34 P. Villa/Thiessen: Mütter, Väter; J. Brunner: Mütterliche Macht und väterliche Autorität.

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Die Arbeit analysiert Inszenierungen von Mutterschaft und Familie in der zeitgenössischen Kultur. Künstlerische Diskurse wie Theater, Tanz, Performance und bildende Kunst begreift sie als Teil der kulturellen Praxis, die Gesellschaft begründet. Sie geht mithin von einem kulturwissenschaftlichen Ansatz aus, demzufolge Gesellschaft als ein plurales Ensemble von Diskursen gesehen wird, die als Texte zu lesen und analysieren sind. Künstlerische Praktiken oder theoretische Texte haben diesem Verständnis nach grundsätzlich denselben Stellenwert wie alltägliche soziale oder massenmediale Praktiken; sie alle bringen Kultur in ihrer Gesamtheit erst hervor. Die kulturwissenschaftliche Forschung geht weiter davon aus, dass diese Diskurse kein statisches Ensemble bilden, sondern sich in permanenten Austausch- und Aushandlungsprozessen befinden. Es handelt sich also um zugleich semiotisch lesbare und performative Akte, die kulturelle Bedeutung als Effekt erzeugen; Kultur wird als ständiger, performativer Prozess verstanden. Dementsprechend werden ›Mutter‹, Mutterschaft und Familie als kulturelle Konzepte begriffen, die keine essentialistische, statische Identität bezeichnen, sondern Ergebnis kultureller und sozialer Praktiken sind, und somit immer im Prozess befindlich. Für die Analyse bedeutet dies, dass zum einen die Prozessualität, also Unabgeschlossenheit der betrachteten Phänomene berücksichtigt, zum anderen gerade denjenigen Bedeutungsdimensionen, die auf die Vorstellung einer ›natürlichen‹, essentialistischen Entität rekurrieren, besondere Beachtung geschenkt werden muss. Kulturelle Bedeutungsstiftung wird grundsätzlich über die Geschlechterdifferenz organisiert, keine Analyse künstlerischer Prozesse kommt ohne eine Analyse der Geschlechterbilder aus, die sie bestimmen. Da zudem die Vorstellungen von Mutterschaft und Familie in der westlichen Gesellschaft explizit geschlechtsspezifisch normiert sind, werden für die Untersuchung Ansätze der Gender Studies, zumal Judith Butlers, herangezogen. Die konstruktivistische Theorie Butlers erlaubt es, die diskursive Verfasstheit von Mutterschaft und Familie herauszuarbeiten. Gerade die Annahme, Mütterlichkeit sei eine natürliche Eigenschaft der Frau, kann so dekonstruiert werden. Judith Butler geht davon aus, dass Geschlechtsidentität diskursiv hervorgebracht wird, und dass sie auch jene diskursiven und kulturellen Mittel umfasst, »durch die eine ›geschlechtliche Natur‹ oder ein ›natürliches Geschlecht‹ als ›vordiskursiv‹, d.h. als der Kultur vorgelagert« konstituiert wird.35 Diese Konzeption wirft gerade auf die Figur der Mutter ein erhellendes Licht, denn in der bürgerlichen Gesellschaft ist sie es, an der mittels ihrer reproduktiven Funktionen der biologische Geschlechtsunterschied festgemacht wird. Historisch betrachtet findet die Biologisierung und Universalisierung der Kategorien Weiblichkeit und Männlichkeit um 1800 statt und gründet sich auf der ›geschlechtlichen Natur‹ der Frau und Mutter. 35 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 24.

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Betrachtet man mit Butler das vordiskursive Geschlecht, das mit mütterlichen Eigenschaften wie Schwangerschaft, Geburt und vorsprachlicher Symbiose assoziiert wird, als einen Effekt der kulturellen Konstruktion von Geschlechtsidentität und nicht als ihren Ursprung, so lassen sich die mannigfachen Erscheinungsformen der Mutter als ›natürliches Geschlecht‹ in historischen, philosophischen, sozialen und künstlerischen Diskursen als historische Konstruktionen lesen. Gerade bezogen auf das Konzept des Mütterlichen, das auch heute noch vornehmlich als an den natürlichen Körper gebunden gedacht wird, ist es mithin sinnvoll, einem konstruktivistischen Ansatz zu folgen, um seine Konstitution als ein Natürliches zu analysieren. Die gewählten Beispiele werden vornehmlich mit Mitteln der Aufführungsanalyse unter besonderer Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Zeichendimensionen untersucht. Beachtung finden neben der Ebene des Aufführungstextes als Zeichensystem aber auch die spezifisch theatralischen Aspekte der Aufführung, wie die Kopräsenz von Schauspieler und Zuschauer, die Materialität der Räume, Körper und Stimmen sowie die Intertextualität des Zeichengewebes. Die Aufführung wird nicht als Repräsentation eines vorgängig Präsenten aufgefasst, sondern als performative Hervorbringung einer Realität. Die Kulturwissenschaften haben sich seit den 1990er Jahren vermehrt sogenannten kulturellen Aufführungen (cultural performances) sowie den Prozessen zugewandt, die kulturelle Phänomene hervorbringen; dabei hat der Begriff der Performativität an Bedeutung gewonnen, man spricht vom »performative turn«.36 Der Begriff der Performativität ist gerade für das Theater wesentlich, da mit ihm solche Aspekte der Aufführung begriffen werden können, die nicht in der Zeichendimension der Aufführung aufgehen. Hier sind vor allem die leibhaftige Kopräsenz, die Ereignishaftigkeit der Aufführung, sowie ihre spezifische Materialität zu nennen.37 In der künstlerischen Praxis werden seit der Performance Art der 1960er und 70er Jahren diese performativen Dimensionen des Theaters betont, sie machen die Spezifik der Theateraufführung als Kunstform aus. Insofern muss die Analyse der konkreten künstlerischen Beispiele diese performativen Dimensionen miteinbeziehen. Spätestens seit den 1990er Jahren wird auf dem Theater und in der Performancekunst mit unterschiedlichen Strategien des Performativen nicht nur das Ereignis- und Prozesshafte des Theaters und die Materialität der theatralen Zeichenkörper betont, sondern die Ordnung der Repräsentation auch auf der Ebene der Identitäten in Frage gestellt. Identitäten werden in zunehmendem Maße als Effekte von Zeichenprozessen ausgestellt, anstatt im Sinne einer Verkörperung repräsentiert zu werden. Die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten wird dabei auf ganz unter36 D. Bachmann-Medick: »Performative Turn«. 37 Vgl. E. Fischer-Lichte: Performativität, S. 53-67; dies.: Ästhetik des Performativen, S. 129-232.

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schiedliche Weisen spielerisch verhandelt, künstlerische Mittel sind etwa verfremdende Strategien wie Übertreibung, Unterbrechung und Diskontinuität sowie offensichtliche Maskeraden und ausgestellte Posen, die, ganz im Sinne Butlers, nicht als Ausdruck einer inneren Wahrheit fungieren, sondern als äußerliche Zeichen, die Identität überhaupt erst als Effekt hervorbringen. Während solch performative Akte im Theater bewusst hervorgebracht sind, bezieht sich der Begriff der Performativität bei Butler auf die ›zwingende‹, nicht ohne Weiteres bewusst kontrollierbare Wiederholung dieser Akte. Diese bringen nicht nur die Geschlechtsidentität hervor, sondern zugleich die Illusion der Natürlichkeit und Innerlichkeit dieser Identität: »Akte, Gesten, artikulierte und inszenierte Begehren schaffen die Illusion eines inneren Organisationskerns der Geschlechtsidentität, eine Illusion, die diskursiv aufrechterhalten wird, um die Sexualität innerhalb des obligatorischen Rahmens der reproduktiven Heterosexualität zu regulieren.«38 Sie verabschiedet damit das »Ausdrucksmodell« (Butler), das die abendländische Kultur und mit ihr sowohl das Konzept der bürgerlichen Familie als auch das bürgerliche Illusionstheater nachhaltig prägt. Die auf ›reproduktiver Heterosexualität‹ gründende bürgerliche Familie ist Teil dieser Illusion, die Mutter ihr scheinbar biologisch-natürliches Zentrum. Butler zufolge ist die Denaturalisierung dieser Illusion ein notwendiger Schritt für die Hinterfragung und Subversion der Heteronormativität. Bezogen auf geschlechtliche Identitäten arbeitet das Theater mit solchen denaturalisierenden Strategien, die das scheinbar Natürliche verfremden und als ›gemacht‹ offenbaren. Es stellt sich mithin die Frage, ob dies auch bezogen auf die Illusion der natürlichen, auf innerer Wesenhaftigkeit gründenden Figur der Mutter geschieht. Butler spricht von den performativen Akten als »eine zwingende Praxis«, eine zwingende Praxis allerdings, die »nicht vollständig determiniert« sei.39 Der Wiederholung liege die Möglichkeit ihrer Verfehlung immer schon inne: »Die Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität sind gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten zu sehen, d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt.«40

Der Raum des Theaters bietet die Möglichkeit, zwingende Wiederholungen von Identität zu verfehlen und aufs Spiel zu setzen und auf diese Weise naturalisierte Annahmen über Mutterschaft und Familie zu dekonstruieren. Es ist ein Ort, »wo die Komplexität gesellschaftlicher Körper- und Identitätskonstruktionen szenisch ver38 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 200. 39 Ebd., S. 317. 40 Ebd., S. 207.

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handelt« und »die Geschlechterdifferenz zur Szene eines Spiels mit den sie konstituierenden Signifikantensystemen werden« kann, wie Helga Finter schreibt.41 In diesem Sinne sollen die herangezogenen Beispiele auf ihre Verfehlungen, Denaturalisierungen und Aushandlungsprozesse von Mutterschaft, Familie und Verwandtschaft untersucht werden. Die Mutter als sprachlose Natur Es wird mithin davon ausgegangen, dass Geschlechtsidentitäten und somit auch Mütterlichkeit nicht aus biologischen Gegebenheiten hervorgehen, sondern diskursiv konstruiert sind. Die Naturalisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit als substantielle Wesenhaftigkeiten ist ein Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts, eng verbunden mit der Naturalisierung des Modells der bürgerlichen Kleinfamilie. Zentrale Figur der Naturalisierung ist dabei die Mutter, deren Funktion es ist, »primär als lebensstiftende, nährende, schützende Instanz zu fungieren«,42 und damit zum Inbegriff von Natur und Sprachlosigkeit wird. Die Vorstellung der Mutter als sprachlose Natur liegt am Grunde abendländisch-neuzeitlicher Weiblichkeitsbilder und garantiert die Dichotomie der Geschlechter. Eine Untersuchung der Figur der Mutter in zeitgenössischen Diskursen ist deshalb grundlegend für die Analyse zeitgenössischer Geschlechtsidentitäten und Praktiken der Denaturalisierung des binären Geschlechtermodells. Auch im 20. Jahrhundert wird weiter an der Mythologisierung der Mutter und des mütterlichen Körpers gearbeitet; und zwar nicht nur auf politischer Ebene. So reproduziert etwa der psychoanalytische Diskurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch wenn er zu einer Hinterfragung familiärer Strukturen zumal des Bürgertums beiträgt und die Mutter in erster Linie als eine Figur des kindlichen Begehrens versteht, doch die geschlechtsspezifische Ordnung der patriarchalischen Familie und bindet Mütterlichkeit letztlich an den weiblichen Körper.43 Auch essentialistische, zum Teil feministische Diskurse, die das Mütterliche als ein Grundprinzip des Fruchtbaren begreifen und es mit Vorstellungen von Ganzheit und Einheit belegen, reproduzieren Festschreibungen des Weiblichen als Natur.44 Julia Kristeva wertet in ihren Schriften der 1970er und 80er Jahre das Mütterliche auf, indem sie es mit der semiotischen Chora gleichsetzt und ihm so eine zent41 H. Finter: »Der Körper und seine Doubles«, S. 15. 42 E. Bronfen: Die schöne Seele, S. 375. 43 Erst Jacques Lacan begreift ›Mutter‹ und ›Vater‹ als rein symbolische Funktionen des Begehrens und löst sie von den realen Körpern. Vgl. E.A. Kaplan: Motherhood and Representation, S. 27-57. 44 Vgl. B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 205-233; zu den Allegorisierungen des weiblichen Körpers als »Mutter Erde« oder »Mutter Natur« vgl. E. Bronfen: Die schöne Seele, S. 374-376; I. Roebling/W. Mauser: Mutter und Mütterlichkeit, S. 13.

E INLEITUNG | 29

rale Funktion für die Subjektwerdung zuschreibt. Zwar gelingt es Kristeva auf diese Weise, ein Konzept von Mütterlichkeit zu entwickeln, das weder die Objektivierung der Mutter in naturwissenschaftlichen, noch ihre Virginisierung in christlichen Diskursen reproduziert.45 Allerdings bedeutet auch die Gleichsetzung des Mütterlichen mit dem Semiotischen eine Reproduktion abendländischer Annahmen über natürliche Mütterlichkeit. Die semiotische Chora geht Kristeva zufolge jeder Bedeutungsstiftung voraus und durchdringt und unterminiert fortwährend das Symbolische. Insofern begreift sie Mütterlichkeit zwar als schöpferisch und potentiell subversiv, aber wiederum als ein vom Symbolischen, also dem väterlichen Gesetz, geschiedenes Vorsprachliches: »Eine ausdruckslose Totalität, die durch die Triebe und deren Stasen in einer ebenso flüssigen wie geordneten Beweglichkeit geschaffen wird.«46 Auf diese Weise wird letztlich die Dichotomie vom natürlichen Weiblichen und rationalen Männlichen, die Gleichsetzung von Frau und Natur, Mann und Kultur, die die abendländische Geschlechterpolitik seit Jahrhunderten prägt, reproduziert und der mütterliche Körper abermals zum Inbegriff von Natur und Sprachlosigkeit. Als ein solches der Kultur Äußeres kann Mütterlichkeit nicht als eine kulturelle Funktion in den Blick genommen werden: »Das macht es im Rahmen ihrer [Kristevas; d.V.] Theorie unmöglich, das Mütterliche selbst als eine Bedeutung zu betrachten, die für kulturelle Veränderlichkeit offen ist.«47 Es gilt also, gerade jene Diskurse kritisch in den Blick zu nehmen, die den mütterlichen Körper als ein der symbolischen Ordnung Vorgängiges konstituieren, denn in dieser Vorstellung einer außersprachlichen Mütterlichkeit liegt der Grund für die Mythologisierung von Mutterschaft sowie für die Naturalisierung des binären Geschlechtermodells. Das Mütterliche soll im Gegenteil, um mit Butler zu sprechen, als eine Bedeutung betrachtet werden, die offen ist für Kritik und kulturelle Veränderungen.

45 Vgl. hierzu J. Kristeva: »Maternité selon Giovanni Bellini”, S. 409-435. 46 J. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 38. In »Stabat Mater« analysiert Kristeva einerseits hellsichtig die Konstruktion einer »unsterblichen Biologie« des Weiblichen im Christentum, um gleichzeitig aber wiederum eine Dichotomie von mütterlichem Leib und männlichem Gesetz zu postulieren; ebd. S. 244-246. 47 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 138.

Teil I Visuelle Konstruktionen von Mutterschaft

1. Vor-Bilder

In dem Fernsehspot einer Kosmetikfirma aus dem Jahr 2006 sitzt eine Frau auf einem Bootssteg, der in einen von Bäumen und Büschen umwachsenen See ragt. Die Frau trägt ein weißes Kleid, an ihrer Brust liegt ein Säugling. Eine Stimme aus dem Off sagt: »Nie wurde die Natur der Frau so respektiert«. Die Frau lächelt in die Kamera. Die Bildsprache dieses Spots ist deutlich: Das weiße Kleid verweist auf Unschuld, auch das Wasser kann als Zeichen der Reinheit gelesen werden. Das Lächeln, die gefällige Umgebung, fließende Konturen und geringe Kontraste suggerieren Glück, Harmonie und Homogenität, durch das mit dem Körper der Mutter aufs engste verbundene Baby wird diese Harmonie mit der körperlichen Einheit von Mutter und Kind verknüpft. Die natürliche Umgebung suggeriert, dass diese Einheit eine natürliche sei. Verbal wird diese Lesart noch zementiert: »Nie wurde die Natur der Frau so respektiert« – die Natur der Frau ist das Mutter-Sein, und dieses natürliche Mutter-Sein ist eine Einheit von Mutter und Kind und konnotiert mit Reinheit, Unschuld, Sanftheit. Hier wird mithin ein Stereotyp abendländischer Mutterbilder reproduziert: Die asexuelle, reine, natürliche Mutter. Nun ist es nicht weiter verwunderlich, dass gerade in der Werbung mit Rollenklischees gearbeitet wird, es ist aber doch erstaunlich, in welchem Maße Darstellungskonventionen in Bezug auf Mutterfiguren auch im 21. Jahrhundert noch unangetastet und wirksam sind.

1.1 M UTTERBILDER IN KOMMERZIELLER W ERBUNG UND R ATGEBERLITERATUR Im Jahr 2003 startet die Firma Vorwerk einen TV-Spot im deutschen Fernsehen, der, nach Angaben von Vorwerk sehr erfolgreich, bis ins Jahr 2008 gesendet wird und äußerst deutlich auf ein idealisiertes Mutter- und Hausfrauenbild im Stil der

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1950er Jahre rekurriert.1 Im Zentrum des Spots steht eine blonde Hausfrau und Mutter, die »Familienmanagerin«, wie Vorwerk sie nennt.2 Sie wird in der Eingangssequenz durch ein Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren mit einer dunkelhaarigen, schwarz gekleideten und stark geschminkten Frau konfrontiert, von der sie abschätzig nach ihrem Beruf gefragt wird. Daraufhin erfolgt eine schnell geschnittene Sequenz kurzer Szenen, in denen der Alltag der ›Familienmanagerin‹ dargestellt wird. Alle Hausarbeit wird hier – entsprechend den Konventionen der Werbung – leichtfüßig und beschwingt erledigt, das Staubsaugen gleicht eher einem Tanzschritt, die größte Katastrophe ist ein aufgeschlagenes Knie. Der Eindruck unbeschwerter Aktivität wird auf akustischer Ebene durch einen eingängigen, beschwingten PopSong, auf visueller Ebene durch rasche Schnitte, Helligkeit und die ebenfalls helle Farbgebung verstärkt. Dargestellte Tätigkeiten betreffen alle den Haushalt (Kochen, Bügeln, Saubermachen) und Kinderpflege (Anziehen, Fiebermessen, Pflaster aufkleben). Die Mutterfigur ist weiblich-mädchenhaft, praktisch und immer gut gelaunt charakterisiert. Sie trägt Hosen, T-Shirt oder Bluse, in einigen Szenen eine leichte Strickjacke, schmückende Accessoires fehlen fast völlig, die Haare hat sie offen oder zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebunden. Ihre Kleidung ist in fast sämtlichen Szenen hell, meist weiß oder pastellfarben, in ganzen sechs von 15 Szenen trägt sie helles Rosa. Ihre Erscheinung suggeriert so mädchenhafte Unschuld, Asexualität und Funktionalität. Auch das Verhältnis zu ihrem Mann wird als mütterlich-pflegend und freundschaftlich dargestellt, nicht als eine auf sexuellem Begehren gründende Beziehung: Er taucht nur in zwei der 15 Szenen auf, einmal tobend mit der ganzen Familie auf dem Sofa, ein anderes Mal in der Küche beim Weggehen. In dieser Szene steht die Mutter leicht erhöht und wirkt so größer als er, sie rückt ihm den Hemdkragen zurecht, legt ihm leicht die Hand auf die Schulter und gibt ihm einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange. Der Vater wirkt so eher wie ein weiteres Kind, die Frau wird auf ihre Rolle als Mutter reduziert; diese Rolle scheint Sexualität auszuschließen. Der Mann spielt im häuslichen Bereich keine nennenswerte Rolle, während die Frau auf diesen Bereich reduziert ist; fast sämtliche Szenen spielen im Haus oder vor dem Haus, eine im Auto. Haus und Auto bezeugen dabei, dass die Familie, auch das genretypisch, zur gehobenen Mittelschicht gehört. Diese Figur der guten, blonden, reinen Mutter wird in der Rahmenhandlung mit der bereits erwähnten anderen klischierten Frauenfigur kontrastiert. Die beiden Frauen begegnen sich in einer Bar, sie stehen einander gegenüber, zwischen ihnen steht der Ehemann der Mutterfigur, der anfangs zu der ›anderen‹ Frau schaut. Diese 1

www.vorwerk.com; vom 30.11.2006.

2

»Die Familienmanagerin: 7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag organisiert, strukturiert und managt sie das Unternehmen Familie«, heißt es dazu auf der Homepage von Vorwerk, www.vorwerk.com/de/html/familien-managerin, vom 30.11.2006.

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trägt einen schwarzen Hosenanzug, ein Kleidungsstück, das auf die berufstätige Frau verweist. Ihre Haare sind streng zurückfrisiert, so dass die Kontrastlinien zwischen Haut und Haar hervorgehoben werden. Solche scharfen Kontraste erzeugt auch ihre Schminke: roter Lippenstift, dunkel geschminkte Augen, exakt nachgezogene Augenbrauen. Sie hat einen tiefen Ausschnitt, der durch eine lange Kette noch betont wird, und trägt auch an den Händen Schmuck. Kostüm, Maske und Accessoires erzeugen das Bild einer artifiziellen und sexuell aktiven Frau – das Gegenbild zu der Figur der asexuellen und natürlichen Mutter. Die visuellen Kontraste, die eine gewisse Härte und bewusste Inszenierung suggerieren, finden ihre Entsprechung in ihrer Stimme, die kühl und schneidend wirkt. Diese Stimme sowie ihr abschätzender Blick auf ihr Gegenüber erzeugen den Eindruck von Hochmut und Arroganz; ihre ganze Erscheinung weckt die Assoziation einer bösen Hexe oder einer Femme Fatale, jenem Gegenbild zur mütterlichen, asexuellen Frau, das in der abendländischen Kultur in der Folge von Eva als »Allegorie für die Sünde, für Betrug, für Täuschung, für Zerstörung und Negation« und bedrohliche Sexualität steht.3 Durch die abschätzende Frage nach dem Beruf ihres Gegenübers werden diese Assoziationen der bewussten Täuschung und Künstlichkeit mit dem Klischee der Karrierefrau verbunden. Die Mutterfigur wird in der Rahmenhandlung, zumal im Kontrast zu der Frau in Schwarz, als natürlich, unschuldig und harmonisch-einheitlich inszeniert. Sie trägt ein hochgeschlossenes Kleid, ist nur leicht geschminkt, so dass ihr Gesicht hell und natürlich wirkt, und trägt leicht nach außen gewellte, schulterlange Haare, die durch Beleuchtung und Farbgebung weich wirken und auch das Gesicht rundlich und weich erscheinen lassen. Durch fließende Bewegungen, schwache Kontraste und ihre Mimik mit großen Augen und Lächeln wird der Eindruck unverstellter Natürlichkeit, mädchenhafter Unschuld und harmonischer Ganzheit erzeugt. Die beiden Figuren werden im Schnitt-Gegenschnittverfahren auf fast waagrechter Bildachse unter Ausschluss des jeweils anderen Dialogpartners einander gegenübergestellt, eine Versöhnung der Stereotype erscheint durch dieses Verfahren als ausgeschlossen. Auf die Frage nach ihrem Beruf antwortet die Familienmanagerin am Ende des Spots: »Ich führe ein sehr erfolgreiches, kleines Familienunternehmen«. Die vom Unternehmen Vorwerk proklamierte Aufwertung der unentlohnten Arbeit der Hausfrau und Mutter geht hier einher mit der Zementierung traditioneller Rollenbilder. Der Spot reproduziert die abendländische Aufspaltung der Weiblichkeit in Heilige und Hure. Mütterlichkeit wird dabei mit natürlicher und asexueller Weiblichkeit gleichgesetzt, fernab von außerhäuslicher Arbeit, sexuellem Begehren und bewusster Selbstinszenierung. Die andere Form der Weiblichkeit, die Sexualität, Künstlichkeit und Arbeit außer Haus einschließt, wird ›besiegt‹ und auf diese Weise 3

E. Bronfen: Die schöne Seele, S. 377.

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ausgeschlossen: Strahlend lächelt die Ehefrau und Mutter ihre Konkurrentin am Ende des Spots an, während diese betreten nach unten schaut. Der Ehemann, der zu Beginn noch zwischen beiden Frauen steht, ist nun visuell seiner Ehefrau zugeordnet – sie hat mit ihrer Unschuld auch die Bedrohung des sexuellen Begehrens in Form der ›anderen‹ Frau gebannt. Erstaunlich an dieser extrem klischierten Konstruktion ist vielleicht nicht unbedingt, dass ein Werbespot Stereotype produziert, sondern eher, wie diese noch als Wahrnehmungsautomatismen funktionieren: Nach Betrachten des Spots besteht kein Zweifel daran, dass die dunkelhaarige Frau keine Kinder hat, obwohl das weder ausgesprochen noch direkt gezeigt wird. Lauter Madonnen? Betrachtet man gängige zeitgenössische Darstellungen von Mutter und Kind in den populären Medien, v.a. in der Werbung, so fällt zunächst die Betonung der symbiotischen Einheit beider auf.4 Die Bilder scheinen ein Begehren nach einer imaginären Einheit, nach dem verlorenen vorsprachlichen Paradies zu visualisieren, teilweise an der Grenze des Verschwindens des kindlichen im mütterlichen Körper. Ein solches Paradies, das sprachloses Glück und absolute Geborgenheit verspricht, scheint mit dem Vater nicht möglich zu sein; Vaterfiguren sind nach wie vor aus der Werbung für Baby- bzw. Kinderprodukte fast vollständig ausgeschlossen. Allein das weitgehende Fehlen populärer Darstellungen von Männern in enger körperlicher Verbundenheit mit Babys und Kleinkindern reproduziert das Konzept der natürlichen Bestimmung der Frau zur Mutterschaft, das diese an den anatomischen Körper der Frau bindet. Kennzeichen der visuellen Konstruktion der ›guten Mutter‹ in TV-Werbung, in Print-Medien oder auch Ratgeberliteratur sind neben der körperlichen Einheit von Mutter und Kind die Suggestion von Asexualität und Reinheit, herbeigeführt durch Beleuchtung und Farbgebung. Die Mehrzahl der jungen Mütter ist blond, sie haben helle Haut und tragen fast ausschließlich weiße, manchmal pastellfarbene Kleidung (Abb. 1). Das Weiß der Kleidung und Blond der Haare wird meist durch nackte weiße Haut, durch Lichteinfall, hohe Helligkeit des Gesamtbildes, helle Farbgebung des Hintergrunds und anderer Bildobjekte sowie schwache Kontraste verstärkt, so dass insgesamt ein heller bis leuchtender Eindruck entsteht. Oft werden die Konturen zusätzlich durch Weichzeichner abgeschwächt, vor allem die Bildränder werden häufig aufgelöst, so dass das Motiv fließend in den weißen Hintergrund übergeht. Dies geht bis zur madonnenhaften Verklärung der Mutter (Abb. 2). 4

Untersucht wurden Bilder sowohl aus den redaktionellen Teilen als auch den Werbeanzeigen aus Zeitschriften wie z.B. Eltern (München: Gruner + Jahr), Papi (Frankfurt/M.: Büttner Medien), Ja zum Baby (Köln: Marken), Leben & Erziehen (Augsburg: Weltbild), Baby und die ersten Lebensjahre (Baierbrunn: Wort & Bild) aus den Jahren 2001 bis 2010. Außerdem die Internet-Seiten verschiedener Hersteller von Babyprodukten.

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Abbildung 1: Werbebilder auf den Homepages von Nestlé und Nuk

Quellen: www.nestle-marktplatz.de/view/Produkte/Alete; www.nuk.de/alle-nuk-produkte

Abbildung 2: Bilder auf den Homepages von Nuk und Bübchen

Quellen: www.nuk.de/marke/alles-ueber-nuk.html; nuk.html; www.babyservice.de/babyprodukte5

Die nackte Haut funktioniert in den meisten Mutter-Baby-Darstellungen als Zeichen für Natürlichkeit und Intimität. Haben beide nackte Haut, so erscheinen ihre Körper als nicht klar voneinander geschieden, die Einheit beider wird betont und durch die vermeintlich ahistorische Nacktheit naturalisiert. Die nackte Haut konnotiert außerdem Zärtlichkeit, Sanftheit und Verletzlichkeit; sie verspricht eine ursprüngliche Nähe und asexuelle Sinnlichkeit. Auffallend sind zudem auf fast allen Bildern der dem Kind zugeneigte Kopf und niedergeschlagene Augen. Beides kann als Zeichen völliger Hingabe an das Kind gelesen werden, grenzt aber auch die Mutter-Kind-Dyade nach außen ab und den Betrachter aus dieser Einheit aus. Der nach unten geneigte Kopf und die gesenkten Lider sind ein Darstellungsmerkmal, das zeitgenössische Mutterbilder an Madonnenbilder der christlichen Ikonografie erinnern lässt. Diese Ähnlichkeit verstärkt den Eindruck der Reinheit und Sanftmut, den die Darstellungen erzeugen. Entspannte Gesichtszüge und Lächeln stehen für Glück und Harmonie. Verwischte Konturen, fließende Übergänge und geringe Kontraste suggerieren Weichheit, Sanftheit und Homogenität; sie bestärken den Eindruck einer unhinterfrag5

Alle Quellen vom 18.03.2013.

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baren und idealen Zusammengehörigkeit von Mutter und Kind. Durch nackte Haut, scheinbare Abwesenheit von Maske und fehlende Accessoires wie z.B. Schmuck wird zudem der Eindruck von Natürlichkeit erzeugt. Die dargestellte Einheit wird auf diese Weise als naturgegebenes Ideal vor Augen geführt. Die Figurengruppe ist meist entweder von jeder konkreten Örtlichkeit enthoben, also beispielsweise vor einen verwischten Hintergrund montiert, oder in einem Privatraum zu sehen, meist mit Bett oder Sofa. Häufig ist sie auch in eine zivilisierte Form der Natur versetzt, also z.B. eine Wiese mit Büschen im Hintergrund; ein Mittel, die Natürlichkeit des Konzepts der biologischen Mutterschaft und der Einheit von Mutter und Kind zu betonen. Ein öffentlicher städtischer Raum ist für die Darstellung der Mutter mit Säugling in der Werbung sehr selten, Arbeitsräume kommen fast nie vor.

Abbildung 3: Milupa-Printwerbung aus den Jahren 1982, 1991 und 2006

Quelle: Milupa

Die Darstellungskonventionen von Mutter und Kleinkind in der Werbung haben sich in ihren Grundzügen in den letzten dreißig bis vierzig Jahren erstaunlich wenig verändert. Dies deutet darauf hin, dass Mutterschaft als eine ahistorische Konstante begriffen und dementsprechend inszeniert wird. Dies lässt sich beispielsweise an der Werbung von Milupa verfolgen (Abb. 3). Geht man noch weiter zurück, scheint sich auch auf der Ebene der visuellen Konstruktion eine Traditionslinie im deutschen Mutterbild zu bestätigen, die Barbara Vinken in ihrer Studie Die deutsche Mutter aufzeigt, nämlich diejenige des Mythos der deutschen Mutter, wie er von den Nationalsozialisten kultiviert wurde.6 Eine Werbeanzeige von Milupa aus dem Jahr 1932 zeigt eine blonde Mutter mit blondem Säugling an der Brust auf einem Feld zwischen Ähren sitzend, mithin in einem Setting, das Fruchtbarkeit und Erd-

6

B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 260-305. Vgl. Einleitung, Fußnote 4.

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nähe der deutschen Mutter betont; es entspricht inhaltlich und gestalterisch den propagandistischen Mutterbildern aus der Zeit des Nationalsozialismus (Abb. 4).

Abbildung 4: Werbeanzeige von Milupa aus dem Jahr 1932

Quelle: Milupa

Zurück in die Gegenwart: Neben diesen Darstellungskonventionen ist die fast ausschließliche Konzentration auf die Einheit von Mutter und Kind auffällig; Vaterfiguren sind, wie bereits erwähnt, weitgehend ausgeschlossen; Zielgruppe sind die Mütter. Während Mutterfiguren in der Werbung für Baby- und Kinderprodukte sowie Haushaltswaren inszeniert werden, kommen Vaterfiguren beispielsweise in der Kfz-Werbung vor, wenn ein Auto als Familienauto vermarktet werden soll. Bezüglich der Auto-Werbung fällt wiederum auf, dass hier die Mutterfigur meist weitgehend außen vor bleibt oder nur am Rande ins Bild rückt. Häufig scheint das Auto selbst mütterliche Funktionen der Geborgenheit und des Schutzes vor der Außenwelt zu übernehmen, unter der Kontrolle des am Steuer sitzenden Vaters. In manchen Werbespots werden aber auch klassische Familienbilder hinterfragt, wenn etwa »die Nachbarin« im gleichnamigen Spot von Volkswagen aus dem Jahr 2010 statt auf die erwartete heteronormative Familie auf ein schwules Paar trifft. Volkswagen versucht bereits seit einigen Jahren, ein typisches Familienauto wie den Touran auch an andere Zielgruppen zu vermarkten; beispielsweise mit einer Printanzeige aus dem Jahr 2006, die sich auf den Film Brokeback Mountain bezieht. Ähnlich wie in dem Fernsehspot »Die Nachbarin« scheinen sich hier Homosexualität und Kinder allerdings auszuschließen, wie die Bildunterschrift bezeugt: »Man muss keine Kinder haben, um Touran zu fahren« (Abb. 5). Auf diese Weise wird die Norm der heterosexuellen, auf Biologie gründenden Familie quasi ex negativo gewahrt.

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Abbildung 5: »Man muss keine Kinder haben, um Touran zu fahren«, 2006

Quelle: Printwerbung VW, Beilage der DVD Brokeback Mountain, 2006

Kommen Väter überhaupt in der Werbung für Kinderprodukte oder in Ratgeberliteratur vor, werden sie körperlich distanzierter dargestellt, als das bei Mutterdarstellungen üblich ist, und meist in körperlicher Aktivität mit dem Kind, also etwa beim Spielen und Toben. Selbst in fortschrittlich ausgerichteter Ratgeberliteratur wie z.B. den Informationsbroschüren für werdende Eltern der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2004 und 2012 werden visuell Klischees reproduziert, auch wenn es im Text gerade um zeitgemäße Rollenbilder geht. So ist auf dem Titelbild besagter Broschüre mit dem Titel Eltern sein: Die erste Zeit zu dritt von 2004 eine Kleinfamilie zu sehen, bei der beide Eltern lachend auf das Baby schauen, das rechts im Bild zu sehen ist (Abb. 6, links). Allerdings entspricht der Bildaufbau konventionellen Mustern: Das Kind ist auf dem Arm der Mutter, ihre Hand hat es fest im Griff, der Vater beugt sich von hinten über die (weiß bekleidete) Schulter der Mutter, zwischen Mutter und Kind. Der Vater nimmt so, entsprechend dem seit dem 18. Jahrhundert für Familienbilder typischen pyramidalen Bildaufbau, die höchste Position in der Familie ein. Zugleich wird suggeriert, dass er von außen kommt und versucht, in die Mutter-Kind-Dyade einzudringen, ohne dass dies gelänge: Das Kind bleibt durch den Körper der Mutter von ihm getrennt, und auch die Blickachse verläuft zwischen Mutter und Kind; der Vater bleibt, trotz seiner erhöhten Stellung, Randfigur. Auch wenn auf den ersten Blick ebenso wie auf der Ebene des Textinhalts der Eindruck einer gleichberechtigten, modernen Familie erzeugt wird, werden hier doch auf der Ebene der bildnerischen Mittel traditionelle Rollenbilder reproduziert.

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Abbildung 6: Titelbilder der Informationsbroschüre »Eltern Sein«, 2004 und 2012

Quelle: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln 2004 und 2012

Abbildung 7: Bilder von den Homepages von Avent und Milupa

Quelle: http://www.babyartikel.de/marken/philips_avent; www.milupa.de/mil vom 18.3.2013

Auch auf dem Titelbild der Neuauflage der Broschüre von 2012 bleibt der Vater weitgehend aus der Mutter-Kind-Dyade ausgeschlossen, auch hier ist der pyramidale Bildaufbau gewahrt und Mutter und Kind sind sowohl körperlich als auch durch die Blickachse miteinander verbunden, während der Vater nur von außen auf das Baby schauen kann und von der Mutter halb verdeckt wird (Abb. 6, rechts). Diese Art der Bildkomposition ist für die Darstellung der Kleinfamilie mit Baby auch in der kommerziellen Werbung typisch (Abb. 7). Mütterlichkeit wird in der zeitgenössischen visuellen Kultur, zumal der Werbung, von wenigen Ausnahmen abgesehen als an den anatomisch-weiblichen Körper gebunden dargestellt. Dieser mütterlich-weibliche Körper wird als natürlich und weitgehend asexuell, als sanft und homogen inszeniert. Die ausschließliche Einheit von Mutter und Kind erscheint als natürliche und als Ideal; eine reale Vaterfigur bleibt entweder abwesend oder randständig. Die Mutter als natürliche garantiert die

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biologische Fundierung des heterosexuellen Geschlechtermodells und kann so als eine zentrale Figur der Naturalisierung dieses Modells angesehen werden. Die Familie am Esstisch Eine stark konventionalisierte Familienszene ist die Situation am Esstisch. Das gemeinsame Essen steht für das Ideal der harmonischen Gemeinschaft, denn es versammelt nicht nur in der Art eines Rituals regelmäßig die Mitglieder dieser Gemeinschaft zur selben Zeit am selben Ort, sondern rekurriert auch durch den Akt des gemeinsamen Essens auf gemeinschaftsstiftende Rituale. In der Print- und Fernsehwerbung wird bereits seit den 1950er Jahren das Motiv des gemeinsamen Essens aufgegriffen, um Harmonie und Glück zu vermitteln und Familie als freiwilligen, natürlichen Zusammenhalt zu inszenieren. Dabei wird auf das Muster der patriarchalisch organisierten Kleinfamilie zurückgegriffen, manchmal erweitert um die Großelterngeneration. Die Geschlechterrollen sind bis in die 1990er Jahre hinein weitgehend ungebrochen; die Frauen werden als Hausfrau und Mutter dargestellt, die Männer haben mit der häuslichen Arbeit nichts zu tun. Vielen bekannt ist sicherlich die Rama-Werbung, die ab den 1950er bis in die 1990er Jahre hinein nach demselben Muster funktioniert: eine glückliche Familie am sonnenbeschienenen Frühstückstisch, meist auf der Terrasse oder im Garten, so dass die natürliche Umgebung die Naturgegebenheit der Familienform betont. »Ein strahlender Morgen, eine glückliche Familie, ein reich gedeckter Frühstückstisch – so sollte eigentlich jeder Tag beginnen«, heißt es folgerichtig in einem der ersten Spots aus den späten 1950er Jahren.7 Die off-Stimme dieses Spots ist männlich, am Tisch eines Einfamilienhauses sitzen Vater, Mutter und zwei ordentlich gekleidete Kinder, ein Junge und ein Mädchen. Die tiefe, ruhige männliche Erzählerstimme verleiht der Szene, gängigen geschlechtsspezifischen Stimmstereotypen zufolge, Seriosität und Autorität.8 Ein anderer Werbespot der Firma Rama aus den 1950er Jahren verzichtet auf die Darstellung von Menschen und konzentriert sich auf einen runden Esstisch mit vier Gedecken. Die Stimme aus dem Off ist hier weiblich: »Dürfen wir Sie einladen? Zu einem guten Abendessen? Bitte, nehmen Sie Platz, es ist alles da […]«.9 Diese weiche, melodiöse Stimme rekurriert auf Stimmmuster, die in der abendländischen Kultur der Mutter zugeschrieben werden und an die mütterliche Symbiose mit dem Kind erinnern. Die Figur der Mutter, repräsentiert durch die Stimme, weckt die Assoziation einer Gemeinschaft, die sich durch Geborgenheit, Harmonie und Ausschließlichkeit charakterisiert. Visuell wird dies durch den runden Esstisch

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http://www.youtube.com/watch?v=zmTf3gYDynE vom 12.02.2013.

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Zur geschlechtsspezifischen Codierung der Sprechstimme vgl. M. Dreysse: »Die stimm-

9

http://www.youtube.com/watch?v=pnHVBOkDNmY vom 12.02.2013.

liche Konstruktion von Geschlechteridentitäten«.

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unterstrichen. Stimmliche und visuelle Konstruktion erzeugen so das Idealbild einer einheitlichen, geschlossenen und harmonischen Familie. Während die Esstischsituation in der Fernsehwerbung bis Ende des 20. Jahrhunderts weitgehend ungebrochen entsprechend solcher idealisierender Stereotype reproduziert wird, kommt es im 21. Jahrhundert auch zu weniger konventionalisierten, teils die Konvention ironisch brechenden Inszenierungen. So greift beispielsweise Ikea in mehreren Spots die Frühstückssituation auf und verändert sie sowohl bezüglich der Geschlechterrollen als auch bezüglich des Eltern-Kind-Verhältnisses: Väter und Mütter decken gemeinsam den Tisch, Mütter lesen Zeitung beim Frühstück und pubertierende Kinder knallen Türen und werfen Stühle um.10 Auch wenn am Ende wiederum weitgehend harmonisches Familienglück steht, wird hier doch versucht, veränderten Familienstrukturen Rechnung zu tragen. Zugleich lassen sich aber auch in den offensichtlich um Modernität und Zeitgeist bemühten Spots des Unternehmens tradierte Rollenmuster finden; so ist es in dem erwähnten Spot ausschließlich der Vater, der von der Tochter als Autoritätsperson angesprochen wird. Ein Beispiel für eine doppelbödige Brechung der Tischsituation ist ein Spot der Firma Maggi aus dem Jahr 2012. Gezeigt wird eine gutbürgerliche Familie am Mittagstisch in einem hell eingerichteten Esszimmer, Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Sie sind übertrieben streng gekleidet und frisiert und löffeln schweigend eine Buchstabensuppe. Bruder und Schwester beginnen einen Streit mittels der Buchstabennudeln, die sie auf ihren Zungen zu Schimpfwörtern legen: Kuh, Idiot, Zicke usw. Unvermittelt heftig haut der Vater mit der Hand auf den Tisch und streckt seinerseits die Zunge heraus, auf ihr liegt das Wort »Hure«. Alle anderen Familienmitglieder schauen ihn irritiert an, er schließt den Mund und verändert die Reihenfolge der Buchstaben zu »Ruhe«. Die Übertreibung markiert das dargestellte Familienmodell einschließlich der autoritären Vaterrolle als vergangene, artifizielle Konvention. Der Erfindungsreichtum der Kinder im Umgehen der Norm sowie das Scheitern des Vaters bei der Verwendung der Mittel seiner Kinder erzeugen Komik; ebenso der Kontrast des dargestellten Familienmodells und seiner lustfeindlichen Verhaltensnormen mit dem Wort »Hure«. Die Verwendung dieses Wortes festigt aber auch die der patriarchalen Familie zugrundeliegende Doppelmoral sowie die Dichotomie guter und böser Weiblichkeit: Die Hure als Gegenbild der asexuellen Mutter repräsentiert eine bedrohliche Form der Weiblichkeit, die ausgeschlossen werden muss, zugleich aber das männliche Begehren weckt. Die Verwendung des Wortes durch den Vater am gemeinsamen Esstisch verstößt zwar gegen die Norm, als Spielraum des Ehemanns außerhalb der Familie ist dieser Verstoß aber legitim und dem Vater vorbehalten. Diese Doppelmoral und die »doppelte Kodierung der Frau« als Heilige und Hure (Bronfen) wird in dem Spot zwar durch die übertriebene Biederkeit der Familie auf die Schippe genommen, zugleich aber reproduziert, denn 10 http://www.youtube.com/watch?v= JqSw0wDyKOk vom 12.02.2013.

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die Mutter ist die Einzige, die sich nicht an dem Spiel mit den Buchstaben, Worten und Normen beteiligt, sie bleibt sprachlos. Dem aktiven Vater wird so eine passive, sprachlose Mutter gegenübergestellt.

1.2 D IE I NSZENIERUNG DER M UTTER POLITISCHEN W ERBUNG

IN DER

Auch in der visuellen politischen Kommunikation ist die Inszenierung der Mutter von tradierten Bildvorgaben geprägt. Da die politische Kommunikation darum bemüht ist, gesellschaftliche Realitäten aufzugreifen, aber auch Ideale zu formulieren, stellt sich die Frage, inwiefern die sich wandelnde soziale Praxis der Familie Eingang in die Bildwelt der Politik findet.11 Betrachtet man politische Bilder von Mutter und Kind, so fällt ihre Nähe zu Mutter-Kind-Darstellungen in der kommerziellen Werbung auf. So warb die FDP im hessischen Kommunalwahlkampf 2006 etwa mit einem Plakat, das unter dem Titel »Familie fördern« die Fotografie einer Frau mit einem Säugling im Arm zeigt (Abb. 8). Der Begriff der Familie in der Bildbeschriftung wird durch die das Plakat dominierende Fotografie als eine Verbindung allein von Mutter und Kind interpretiert, eine väterliche Figur bleibt ausgeschlossen. Und auch die Inszenierung von Mutter und Kind selbst folgt den oben beschriebenen stereotypen Darstellungsmustern der Weichzeichnung und Idealisierung der symbiotischen Einheit von Mutter und Kind. Bildaufbau und –gestaltung reproduzieren den Mythos der reinen Mutter, die sowohl körperlich als auch emotional in ihrer Mutterschaft aufgeht. Durch die gängigen Schönheitsidealen entsprechende Darstellung der Frauenfigur, die nackte Haut und ihre geschlossenen Augen wird sie zugleich einem männlich konfigurierten Blick als Objekt dargeboten; Konnotationen der Asexualität treten hier gepaart mit erotischen Andeutungen auf. Auch wenn dieses Plakat hinsichtlich seiner Idealisierung von Mutter und Kind besonders auffällig ist, so finden sich wesentliche Darstellungselemente doch in vielen Bildern wieder, die Parteien im Wahlkampf einsetzen. Es handelt sich um Darstellungsstrategien, die in der politischen Kommunikation seit 1946 verwendet werden; neben Politikern zählen Kinder und Mütter zu den am häufigsten repräsentierten Bevölkerungsgruppen in der Wahlwerbung.12

11 Zu Strategien der visuellen Kommunikation in der Politik vgl. T. Knieper/M. Müller: Visuelle Wahlkampfkommunikation. 12 C. Holtz-Bacha: Wahlwerbung, S. 217. Sie stellt dies für TV-Spots fest, es trifft aber auch auf Printwerbung zu.

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Abbildung 8: Wahlplakat der FDP im Kommunalwahlkampf Hessen 2006

Quelle: FDP Landesverband Hessen

In den Jahren unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus dienen MutterKind-Gruppen auf Plakaten von CDU und SPD vor allem der Illustration des Themas Frieden, Sicherheit und Zukunft. Sie versinnbildlichen dabei einerseits eine fragile, schutzbedürftige Einheit, zum anderen symbolisieren sie Zukunft. Die Position des Vaters bleibt als konkrete im Bild häufig vakant, sie wird als eine symbolische auf die Parteien bzw. Politiker projiziert, die Mutter und Kind zu schützen und ihre Zukunft zu sichern versprechen. So beispielsweise auf einem Plakat der CDU zum Bundestagswahlkampf 1953, das mit der Bildunterschrift »Schützt uns!« und kleiner: »Seid abwehrbereit wählt CDU« eine Mutter mit Kleinkind zeigt, auf die von hinten eine rote Hand zugreift (Abb. 9). Interessant an diesem Plakat ist nicht nur, dass hier Mutter und Kind so offensichtlich den Inbegriff einer bedrohten, verletzlichen Einheit und zugleich die gesamte Bevölkerung Deutschlands repräsentieren, sondern auch, dass die männliche Position im Bild gleichzeitig an- und abwesend ist. Anwesend in Form der bedrohlichen Hand, abwesend als schützender Vater, der doch in der Kombination von Bild und Text zugleich angerufen wird. Der Vater tritt so aus dem Bild heraus und wird zu einer Instanz, der die Aufgabe des Schutzes, der Wehrhaftigkeit und der politischen Verantwortung zukommt. Er wird dabei mit der Partei, letztlich mit dem Staat, assoziiert. Das Plakat visualisiert die als natürlich gedachte Einheit von Mutter und Kind und evoziert gleichzeitig eine

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Vorstellung von Vater Staat als übergeordneter Instanz sowie von einem Familienvater, der zugleich real (wehrhaft) und symbolisch (politisch) ist.

Abbildung 9: Plakat der CDU zum Bundestagswahlkampf 1953

Quelle: Plakatsammlung der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

Eine solche geschlechtsspezifische Aufteilung in biologische Mutterschaft und symbolische Vaterschaft kennzeichnet viele Wahlkampagnen bis ins 21. Jahrhundert hinein. So nimmt mit der Personalisierung der Wahlkämpfe ab den 1970er Jahren etwa auch die Inszenierung von Politikern als »Vater der Nation« zu, während konkrete Väter weiterhin kaum präsent sind.13 Da es noch so gut wie keine weiblichen Kandidaten gibt, kommen Frauen in der politischen visuellen Kultur der 1970er und 80er Jahre hauptsächlich in ihrer Rolle als Mutter vor, Männer hingegen weniger als reale Väter, sondern als Träger der symbolischen und staatlichen Ordnung. In den 1990er Jahren wird mit Mutter-Kind-Gruppen oder der bürgerlichen Kleinfamilie, ihrem Versprechen von privatem Glück, Geborgenheit und Frieden geworben. Meist wird dabei auf traditionelle Kompositionselemente zurückgegriffen, also beispielsweise das kleinere Kind der Mutter, das größere dem Vater zugeordnet, und auch die pyramidale Bildstruktur mit dem Vater als Familienoberhaupt bleibt weitgehend unangetastet. Die Natürlichkeit der Familie als Einheit von Vater,

13 Zum Rollentyp des »Vaters der Nation« vgl. C. Holtz-Bacha: Wahlwerbung, S. 195.

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Mutter und Kind wird dabei häufig durch einen natürlichen Hintergrund betont und durch lachende Kinder idealisiert. 14 Diese geschlechtsspezifischen Darstellungsmuster lassen sich noch im Bundestagswahlkampf 2002 beobachten, in dem die patriarchalische Inszenierung des Spitzenkandidaten Gerhard Schröder besonders auffällig ist, während Familienpolitik fast ausschließlich mit Mutter-Kind-Motiven illustriert wird. Schröder in Nahaufnahme in der Kuppel des Reichtags, väterlich auf den Betrachter niederlächelnd, Schröder in aufrechter, staatsmännischer Körperhaltung am Schreibtisch, mit ernstem Gesicht Papiere unterschreibend, Schröder im dunklen Anzug fast bildfüllend auf dem Rücksitz eines Autos mit einem Telefon am Ohr – in einer personalisierten Kampagne wird das Bild des Landesvaters aktiviert, der verantwortungsvoll und autoritär sein Volk regiert und milde auf seine Landeskinder herabblickt.15 Im Wahlkampf 2002 wird so einerseits das Bild einer naturhaften Mutter-KindBeziehung reproduziert, Weiblichkeit weitgehend auf biologische Mütterlichkeit reduziert, und gleichzeitig Vaterschaft auf der Ebene des Symbolischen, der Macht und der Politik verortet. Im Bundestagswahlkampf 2005 wurde die Privatisierung, die den Wahlkampf 2002 prägte, vermieden. So wurde zwar mit den Porträts der beiden Spitzenkandidaten Angela Merkel und Gerhard Schröder geworben, jedoch in weitgehend klassischer Optik. Merkel ist auf den Porträtplakaten meist leicht schräg ins Bild gesetzt, lächelnd, in hellen, warmen Farben vor diffusem Hintergrund, sie setzt sich durch diese weiblichen Konnotationen visuell deutlich von ihrem Gegenkandidaten ab.16 Kinder sind bei verschiedenen Parteien als emotionalisierende Motive auf Plakaten präsent, so wirbt die CDU mit einem dem Kindchenschema entsprechenden Babygesicht für »Zukunft sichern« und die Bündnis-Grünen verwenden einen an der Brust trinkenden Säugling für den Slogan »Ja zu gesundem Essen«, rufen also das Idyll der Symbiose mit der Mutter auf, um für eine sorgenfreie Nahrungsaufnahme zu werben und die Partei mit eben dieser Idylle zu assoziieren. Auch in Landtagswahlkämpfen wird das Thema Familienpolitik wiederholt mit Mutter und Kind illustriert, nie aber mit Vater und Kind. Einzig Bündnis 90/Die Grünen Baden Württemberg legen die Mutterfixiertheit des Familiendiskurses offen, indem sie auf einem Plakat mit dem Slogan »Jetzt aber grün! Für Kinder und Karriere« eine Fotografie von drei Männern in Anzug und Krawatte mit drei Kinderwägen beim Waldspaziergang präsentieren.

14 Für eine genauere Analyse der Darstellung von Familie auf Wahlplakaten der 1950er bis 1990er Jahre vgl. M. Dreysse: »Natürliche Mutter und Vater Staat?«, S. 261-268. 15 Zu den Begriffen des Landesvaters und Vater Staat vgl. P. Münch: »Vater Staat«. 16 Zur medialen Darstellung der Kanzlerkandidatin vgl. S. Scholz: »Von ›Rüpeln‹ und ›Testosteronbomben‹«, S. 60-62.

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Außer in Wahlkämpfen werden Bilder von Mutterschaft und Familie in der politischen Kommunikation im Rahmen von Kampagnen zur Familienpolitik inszeniert. So führt im Jahr 2001 die damalige rot-grüne Bundesregierung eine Werbekampagne mit dem Titel »Familie Deutschland« durch. Sie besteht aus sieben Plakatmotiven mit Farbfotografien von Herlinde Koelbl. Auf alle Fotos ist der Titel »Familie Deutschland« gedruckt, der den Begriff der Familie auf die gesamte Gesellschaft als familienähnliche Gemeinschaft bezieht und gleichsam die Einheit der Nation beschwört. Die Kampagne ist bemüht, einem erweiterten Familienbegriff Rechnung zu tragen. So sieht man eine Großmutter mit drei Enkeln, eine multiethnische Kleinfamilie, eine Familie mit vier Kindern, eine Gruppe von drei Jugendlichen, eine Frau mit Sohn, ein Ehepaar mit zwei Kindern, eine schwangere Frau mit Mann. Die Familienentwürfe wirken vielfältig, die Gruppe der Jugendlichen verweist auf andere Modelle von Verwandtschaft als dasjenige der biologischen Familienbande. Gleichzeitig werden auch hier Stereotype reproduziert: die bürgerliche Kleinfamilie, die alleinerziehende Mutter, die Großfamilie, das junge Elternpaar, die binationale Ehe. Repräsentiert wird die – von den Regierungsparteien umworbene – bürgerliche »Mitte« der Gesellschaft, andere soziale Schichten bleiben außen vor. Bei der Motivwahl fällt außerdem auf, dass eine Vater-Kind-Gruppe im Gegensatz zu dem Motiv Frau mit Sohn fehlt. Auf der Ebene der Darstellung kann man feststellen, dass konventionelle Elemente des Familienbildnisses ebenso vorhanden sind wie die Norm durchkreuzende Elemente. So fehlt sowohl der pyramidale Bildaufbau als auch die sonst so übliche körperliche Einheit von Mutter und Kind. Im Gegenteil: Alle Mütter sind durch Figurenanordnung, Körperhaltung und den direkten Blick zum Betrachter als eigenständige Subjekte in Szene gesetzt. Die Darstellung der Familien variiert die Konventionen des Familienbildnisses, gehorcht allerdings gleichzeitig den Konventionen der Werbung, zumal bezüglich des Motivs der glücklichen Familie (alle blicken lächelnd in die Kamera). Die Kampagne erweitert den Begriff der Familie und versucht, ein vielfältiges und zeitgemäßes Bild von Familie zu erzeugen, reproduziert aber auch einige stereotype Muster, und zwar sowohl die Motivwahl als auch die Darstellungsweise betreffend. In den letzten Jahren ist Familienpolitik und der Wandel des Mutterbilds zu einem der meist diskutierten Themen in Politik und Öffentlichkeit geworden. Ab 2006 beginnt auch die CDU im Rahmen der Großen Koalition ihren Familienbegriff zu reformieren und sieht nunmehr »Familien überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen«.17 Eine Kampagne des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2007 wirbt unter dem Titel »Vorteil Familie« für die neuen Leistungen des Staates zur Förderung der Berufstätigkeit von Müttern wie z.B. dem Elterngeld. Eines der fünf Plakatmotive 17 Aus dem Grundsatzprogramm der CDU 2007; zit. nach B. Thiessen/P. Villa: »Die ›Deutsche Mutter‹«, S. 280.

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der Serie zeigt eine schwangere, lachende Frau, die am rechten Bildrand steht, hinter sich ein in Renovierung befindliches Zimmer. Sie streicht sich mit dem Handrücken über die Stirn, in der Hand hält sie einen Spachtel. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass man den Bauch der Frau vollständig sieht, er aber nicht im Zentrum des Bildes ist. Im Bildhintergrund kniet ein Mann an einem Eimer. Auch hier liegt der Fokus auf der schwangeren Frau, die kleine, unscharfe Figur des Mannes spielt kaum eine Rolle, obwohl der auf das Foto gedruckte Text von einem »wir« spricht: »Mit dem neuen Elterngeld können wir uns nicht nur ein Kinderzimmer leisten, sondern auch ein Kind«. Kleidung, Armbewegung und der Spachtel in der Hand der Frau suggerieren ein modernes Rollenverständnis, gleichzeitig konzentriert auch dieses Bild das Thema Kind auf die Frau und leibliche Mutter. Ein anderes Plakat der Serie zeigt im Querformat einen nach oben ins Bild ragenden schwangeren Bauch, auf dem zwei kleine Kinderschuhe stehen. Der Bauch ist nackt, am linken und rechten Rand ist weiße Kleidung zu sehen. Auf den Bauch ist folgender Text gedruckt: »Krabbeln lerne ich bei Mama. Laufen dann bei Papa.« Und tatsächlich zeigt ein weiteres Plakatmotiv einen Vater mit Baby auf dem Arm; »Ich will mein Kind nicht erst kennenlernen, wenn ich in Rente gehe«, lautet die Bildüberschrift. Anders als bei Darstellungen von Mutter und Säugling üblich, wird hier allerdings keine homogene Einheit erzeugt; der Vater hält das Kind auf erhobenem Arm neben sich, es ist von ihm ab- und dem Betrachter zugewendet. Für die Phantasie einer vollkommenen Symbiose scheint weiterhin die Mutter zuständig zu sein, während der Vater erst für das Laufen lernen zuständig ist. Die Unbeholfenheit, die das Verhältnis von Vater und Kind auf diesem Plakat vermittelt, spricht vielleicht nicht nur von einer gewissen Phantasielosigkeit bezüglich neuer bzw. anderer Bilder von Elternschaft, sondern auch von dem politischen und ideologischen Unwillen neuen Familienmodellen gegenüber, der in den anhaltenden Diskussionen um Kleinkindbetreuung und gleichgeschlechtliche Elternschaft zum Ausdruck kommt. Sowohl in der kommerziellen als auch in der politischen Werbung wird Mutterschaft an den weiblichen Körper gebunden, während der Vater häufig aus der Mutter-Kind-Einheit ausgeschlossen bleibt. Die Figur der Mutter wird als reale naturalisiert, Vaterschaft hingegen mit symbolischen Dimensionen aufgeladen. Auf der Ebene der Darstellungstechniken lässt sich zudem feststellen, dass das Bild leiblicher, reiner und erfüllender Mütterlichkeit mit Mitteln erzeugt wird, die in der christlichen Ikonografie tradiert sind.

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1.3 M ADONNENBILDER

IN DER CHRISTLICHEN I KONOGRAFIE

Die Darstellung von Mutter und Kind hat in der westlich-abendländischen Gesellschaft durch die christliche Ikonografie eine lange Bildtradition. In zeitgenössischen Mutterbildern lassen sich Darstellungsmuster dieser Ikonografie erkennen: die physische Nähe von Mutter und Kind, die Betonung der symbiotischen Beziehung durch Körperhaltung, Farbgebung und Linienführung, die Absonderung der Figurengruppe, die Konzentration der Mutter auf das Kind, der geneigte Kopf und niedergeschlagene Blick, die Tendenz zur Weichzeichnung und Idealisierung. Monika Kaiser spricht von einer »Wiedergeburt des Madonnenbildes in den populären Bildmedien« seit den 1990er Jahren.18 Eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Einheit von Mutter und Kind sowie die Idealisierung zwar allgemeine Merkmale der christlichen Madonnenikonografie sind, zeitgenössische Mutter-Kind-Darstellungen in den populären Medien allerdings darüber hinaus einer bestimmten ikonografischen Tradition folgen, nämlich derjenigen der naturalisierenden Madonnenikonografie der frühen Neuzeit; ich werde mich aus diesem Grund auf diesen Bildtypus konzentrieren.19 Im Mittelalter herrscht bezüglich der Mutter-Sohn-Darstellung der Typus der thronenden Madonna nach byzantinischem Vorbild vor. Die thronende Madonna, auch als Kathedra-Madonna bezeichnet, ist eine sich in der Öffentlichkeit präsentierende Herrscherin auf einem Thron, die den Betrachter aufrecht auf der Bildmittelachse sitzend direkt frontal anblickt (Abb. 10). Ihre Füße stehen parallel nebeneinander, auf ihrem Schoß sitzt ebenfalls aufrecht, frontal und meist axial das Jesuskind. Es ist als kleiner Erwachsener dargestellt, unverhältnismäßig groß und in langem Gewand, meist mit segnend erhobener rechter Hand, in der linken eine Schriftrolle oder die Bibel. Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn wirkt weitgehend statisch, Maria wird in diesem Bildtypus als »Thron göttlicher Weisheit« (Sedes sapientiae) in Szene gesetzt, welche im Sohn inkarniert ist.20 Die majestätische Haltung Marias vermittelt darüber hinaus, dass sie nicht nur als Gottesgebärerin, sondern als Mitschöpferin angesehen wird.21 Die Darstellung bemüht sich, wie das in der frühchristlichen Kunst allgemein der Fall ist, nicht um Realismus, sondern repräsentiert die Bedeutung der Maria durch Symbole wie Insignien der Macht und bildnerische Element wie Größe, Per-

18 M. Kaiser: Madonna und die Zukunft, S. 28. 19 Die Darstellung der Marienikonografie erfolgt nach G. Schiller: Ikonografie der christlichen Kunst; R. Kecks: Madonna und Kind; K. Schreiner: Maria; G. Lechner: Das Marienbild. 20 G. Schiller: Ikonografie der christlichen Kunst, S. 179. 21 Vgl. K. Belán: Madonnenporträts, S. 28.

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spektive, Axialität, symbolische Farbgebung u.a. Mutter und Kind sind durch Podest, Thron und Rahmung deutlich erhöht und von der alltäglichen Sphäre getrennt. Der Modus der öffentlichen Repräsentation wird sowohl bildimmanent erzeugt – Apostel, Heilige, Gläubige, kirchliche Funktionsträger und Engel umgeben sie – als auch durch den Blick aus dem Bildrahmen heraus, mit dem Maria den Betrachter anschaut. Die Isolation der Figurengruppe durch Erhöhung und Rahmung betont die Einheit und Göttlichkeit von Mutter und Kind, der Repräsentationscharakter des Bildes öffnet diese Einheit zugleich auf die Öffentlichkeit, auf den Betrachter. Steht die Darstellung des Sohnes mit seiner menschlichen Mutter in der christlichen Lehre für die Menschlichkeit Jesu, die Menschwerdung Gottes, ist die Funktion dieses Bildtyps in erster Linie in der Verherrlichung dieser Menschwerdung und der Verehrung von Mutter und Kind zu sehen. Abbildung 10: Giotto: Maestà (Ognissanti Madonna), um 1310

Quelle: Uffizien Florenz, http://www.uffizi.org/artworks/the-ognissanti-madonna-by-giotto

Ein weiterer, der Kathedra-Madonna ähnlicher Bildtypus, der die Herrschaftlichkeit der Muttergottes betont, ist derjenige der Hodegetria, nachweisbar in der byzantinischen Kunst ab dem 6. Jahrhundert. Sie steht aufrecht und frontal in der Bildmittel-

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achse, blickt den Betrachter direkt an und hält das Kind scheinbar schwerelos auf der linken Hand. Gertrud Schiller zufolge ist »das hervorstechende Kennzeichen dieses Typs der Hodegetria […] das Fehlen jeder menschlichen Beziehung zwischen Mutter und Kind. Maria scheint nur die Trägerin des gottmenschlichen Kindes zu sein«, es sei »ein Bild von strenger, ferner Majestät, weit eher eine Darstellung der Himmelskönigin als der Mutter des Menschgewordenen«.22 Auch andere Autoren beschreiben den Bildtyp der Kathedra oder Hodegetria als »steif« (Keck) oder »starr« (Arnold). Variationen gibt es schon in frühbyzantinischer Zeit, zum Beispiel eine leichte Naturalisierung der Darstellung durch das Vorschieben der linken Hüfte der Maria, die Neigung ihres Oberkörpers nach rechts und ihres Kopfes nach links, so dass das körperliche Gewicht des Kindes und die physische Anstrengung des Tragens zum Ausdruck kommen. Bereits durch diese leichte Variation wird laut Schiller eine ›echte Beziehung zwischen Mutter und Sohn‹ hergestellt: Die »geringe Abweichung macht aus dem Repräsentations- ein Mutterbild, aus der himmlischen Majestät einen irdischen Menschen und stellt gleichzeitig eine echte Beziehung zwischen Mutter und Sohn her«.23 Aufschlussreich ist an solchen Einschätzungen, dass die Eigenschaften einer Mutter offensichtlich nicht mit denjenigen einer Himmelskönigin in Einklang zu bringen sind, und auch der Modus der Repräsentation scheint der hier implizit geäußerten Vorstellung von Mütterlichkeit entgegen zu stehen. Anstatt eine geschichtliche Veränderung der Vorstellung von Mütterlichkeit in Erwägung zu ziehen, wird das eigene (bürgerliche) Mutterbild zum Maßstab genommen, ohne seine Historizität zu bedenken. Der Repräsentationscharakter der thronenden Madonna ebenso wie ihre Majestät werden als ein Nicht-Mütterliches charakterisiert, dem die ›echte‹ Mutter mit einer ›echten‹ Beziehung zu ihrem Kind entgegen gesetzt wird. Schiller geht von einem neuzeitlichen Mutterbild aus, das in der Renaissancemalerei entwickelt und in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts ausformuliert wird und die Mutter mit Natürlichkeit, Emotionalität und Echtheit gleichsetzt. Majestät, öffentliches Auftreten, geistige Größe, repräsentative und symbolische Qualitäten sind aus dieser Vorstellung von Mütterlichkeit ausgeschlossen. Auch wenn Maria einerseits in gewissem Sinne verdinglicht und als Thron für den Sohn – sedes sapientiae – und dieser als Zentrum der Aufmerksamkeit in Szene gesetzt wird, so erzeugt der frontale Blick Marias andererseits einen direkten Bezug zum Betrachter, der die Figur als eigenständige zur Geltung bringt, unabhängig von ihrer Funktion als Mutter. Dieser direkte An-Blick wirkt der Geschlossenheit der Repräsentation entgegen und etabliert Maria als Subjekt des Blicks. Die frontale, aufrechte Haltung und der direkte Blick öffnen das Bild auf den Betrachter und legen den Akt der Darstellung offen. Die Mutter ist hier über den Bildrahmen hinaus 22 G. Schiller: Ikonografie der christlichen Kunst, S. 23. 23 Ebd., S. 23.

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eine öffentliche Figur, ein Gegenüber, das sich bewusst der Öffentlichkeit stellt und sich gegen eindeutige Vereinnahmungen sperrt. Zugleich ist sie symbolische Figur, Mütterlichkeit ist in diesem Bildtypus nicht an den weiblichen Körper als biologischen gebunden. Die Zweidimensionalität und der strenge Bildaufbau, die reduzierten Berührungen zwischen Mutter und Kind verhandeln die Menschwerdung Gottes und die Mutterschaft Mariens als symbolische, während bereits leichte Variationen wie das Vorschieben der Hüfte die physische Leibhaftigkeit von Mutter und Kind hervorheben. Im Mittelalter war Mütterlichkeit nicht auf eine solche Leibhaftigkeit beschränkt: »Mutterschaft konnte sakral, spirituell und physisch gedacht werden. Sie definierte Weiblichkeit nicht ausschließlich und konnte auch in sakrale Männlichkeitskonstruktionen eingehen«, so die Kunsthistorikerin und Mediävistin Silke Tammen.24 Die Naturalisierung der Darstellung verbindet die Vorstellung der Mütterlichkeit mit dem Körperlichen und speziell mit dem weiblichen Körper. Beginnend mit der Renaissance lässt sich die Naturalisierung der polaren Geschlechterdifferenz an der Figur der Mutter bzw. den Vorstellungen von Mütterlichkeit ablesen, die in der Marienikonografie konstruiert werden. Während im Mittelalter mithin der Typus der repräsentativen, herrschaftlichen Muttergottes vorherrscht, erfolgt in der frühen Neuzeit eine Akzentverschiebung. So wird gegen Ende des Mittelalters im Abendland der Bildtypus der Eleusa, der Barmherzigen, immer beliebter (Abb. 11). Dieser Bildtypus zeichnet sich durch Zärtlichkeitsmotive zwischen Mutter und Kind, durch gegenseitige körperliche Zuwendung aus. Das Kind legt seinen Arm um die zunächst weiterhin frontal thronende Mutter sowie sein Gesicht an ihres; manchmal berührt es mit einer Hand ihr Kinn. Die aufrechte Haltung Marias wird zunehmend durch einen dem Kind zugeneigten Kopf ersetzt, ihre Hände umfassen nunmehr das Kind. Mutter und Kind rücken gleichsam enger zusammen, es wird eine körperliche Einheit beider erzeugt, die sich zunehmend nach außen abschließt. Die körperliche Nähe, häufig verstärkt durch Farbgebung und Faltenwurf der Kleidungsstoffe, versinnbildlicht Geborgenheit und Schutz. Das neue Madonnenideal der Renaissance inszeniert eine »liebevolle, zärtliche Zuwendung von Madonna und Kind.«25 Der nach außen gerichtete, öffentliche Repräsentationscharakter wird durch eine intime Einheit abgelöst. Der Eleusa-Typus ist für das Abendland seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar, vermehrt taucht er ab dem 13. und 14. Jahrhundert auf. Zu dieser Zeit löst er sich auch von seinem östlichen Vorbild und wird im späten Mittelalter und in der Renaissance zu einem der beliebtesten Madonnen-Typen, gerade auch im Andachtsbild. Ab dem 14. Jahrhundert wird so immer öfter eine emotionale Beziehung zwischen Mutter und Sohn inszeniert. Dies geschieht über körperliche Nähe und variierende Berührungen, aber auch über den Blick. Während in frühen Darstellungen 24 S. Tammen: »Mutterschaft in der Kunst des Mittelalters«, S. 41. 25 R. Kecks: Madonna und Kind, S. 55.

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dieses Typs Maria noch zum Betrachter blickt, schaut sie in späteren Ausführungen auf ihr Kind, so dass der niedergeschlagene Blick zu einem charakteristischen Merkmal der Figur wird. Die Mutter umfasst das Kind mit beiden Armen und Händen, der Kopf ist in Richtung des Kindes geneigt, die Augen auf das Kind gerichtet. Die Konzentration auch des Betrachters wird so auf das Kind gelenkt und ein geschlossener, intimer Raum konstruiert. Gerade im Andachtsbild wird meist ein halbfiguriger Bildausschnitt gewählt, der die Intimität erhöht. Das Andachtsbild kann auch hinsichtlich seiner Größe als ein intimes Format bezeichnet werden, das auch in seiner Funktion für den privaten Gebrauch bestimmt ist.26 Dass die Verbreitung des Andachtsbilds ab dem 14. Jahrhundert mit der Intimisierung der Darstellung einhergeht, verwundert wenig. Auf der Ebene der Darstellung verstärkt die Isolation der Figurengruppe den Eindruck der Intimität und Geschlossenheit. Durch einen fließenden, beide umfassenden Faltenwurf wird die Homogenität und Harmonie von Mutter und Kind betont. Auf diese Weise wird das Bild einer nach außen abgeschlossenen Mutter-Kind-Einheit erzeugt. Der Bildtypus der Eleusa ist ein eindrückliches Beispiel für die Naturalisierung der Madonnendarstellung im Spätmittelalter und früher Neuzeit, eine solche Naturalisierung findet bald auch in anderen Bildtypen statt. Diese Veränderung der Darstellungskonventionen erhöht Klaus Schreiner zufolge die Identifikationsmöglichkeiten mit Maria und trägt so den sich wandelnden Frömmigkeitsbedürfnissen dieser Zeit Rechnung: »Als Mutter, der die Ernährung und Erziehung eines Kindes oblag, hatte die in den Bildern gegenwärtige Maria Anteil am Alltagsleben spätmittelalterlicher Bürgerinnen […] eine zärtliche Mutter mit Sorgen und Pflichten«.27 Schreiner betont jedoch, dass diese Darstellung der Maria als Mutter nur eine von vielen Mariendarstellungen sei, so dass die spätmittelalterliche Maria nicht nur Mutter, sondern ebenso Intellektuelle, Geliebte, (Himmels-)Königin, Heerführerin ist: »Zum Mittelalter, eine ›Epoche des Übergangs, der Vielfalt und des Pluralismus‹ (Umberto Eco), gehört auch eine Maria mit vielen Gesichtern und mannigfachen Funktionen. Ihren Mangel an Eindeutigkeit mag man beklagen; er bleibt jedoch eine geschichtliche Tatsache. Die Belange, deren Maria sich annahm, waren vielfältiger, ja sogar widersprüchlicher Natur.«28

Diese Vielfalt der Marienbilder scheint in der gegenwärtigen visuellen Kultur zusammengeschrumpft zu sein auf die Idealisierung nur eines Marientyps, desjenigen 26 Zum Andachtsbild vgl. ebd. 27 K. Schreiner: Maria, S. 500. 28 Ebd., S. 502.

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der naturalisierten Madonnendarstellung vom Typ der Eleusa, in der Maria als sanfte, sich ganz dem Kind hingebende, leibliche Mutter auftritt, eine Mutter, die vom Betrachter nichts weiß. Abbildung 11: Gherardo Starnina: Demutsmadonna, ca. 1403 (links), Jocopo Bellini: Maria mit Kind, ca. 1465 (rechts)

Quellen: G. Fossi: The Uffizi Gallery, S. 72 (Starnina); Los Angeles County Museum of Art: http://collections.lacma.org/node/251165 (Bellini)

Die Veränderung der Darstellungskonventionen führte zu Mutterbildern, wie es sie vorher nicht gab. Mütterlichkeit erscheint als eine innige, Schutz und Geborgenheit gewährende körperliche Beziehung zum Kind; Mutter und Kind bilden eine homogene Einheit, auf manchen Bildern wird der kindliche fast im mütterlichen Körper zum Verschwinden gebracht. Die Naturalisierung der Darstellung nähert Maria und das Jesuskind einerseits dem Betrachter an, die einzelnen Bilder konstituieren andererseits einen intimen Bildraum, zu dem der Betrachter keinen Zugang erhält. Öffnet die Abstraktion oft plurale Bedeutungsfelder, so wird die Lesbarkeit manch realistischer Marienbilder auf die konkrete abgebildete Situation beschränkt. In vielen Gemälden ist aber gerade das Wechselspiel zwischen der repräsentativ-stilisierten Ebene und der Betonung der Körperlichkeit der Mutter-Kind-Beziehung produktiv. Ein für die Profanisierung und Naturalisierung der Madonnendarstellung zentraler Bildtypus ist derjenige der Maria Lactans (Abb. 12), oft verbunden mit demjenigen der Demutsmadonna (Abb. 11, links). Das Motiv der stillenden Muttergottes

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kommt vereinzelt bereits in der byzantinischen Kunst vor, als Vorbild werden Darstellungen der den Horusknaben stillenden Isis angenommen. Das Stillen als körperlicher Vorgang betont die Menschlichkeit des Gottessohnes, eine Funktion, die gegen Ende des Mittelalters zunehmend wichtig wurde, um die christliche Lehre den Menschen nahe zu bringen. Während das Stillen bei der byzantinischen Maria Lactans eher symbolische Formel denn realistische Handlung ist und auch im mittelalterlichen Abendland in erster Linie symbolische Funktion hatte,29 wurde es im 15. Jahrhundert zum Idealbild realer mütterlicher Fürsorge. Die Maria Lactans sollte eine Vorbildfunktion haben und repräsentierte die »fantasy of a totally good mother«.30 Die stillende, demütige und hingebungsvolle Muttergottes wurde zum Inbegriff der innigen, zugleich idealen und natürlichen Mutter-Kind-Beziehung bzw. der Natürlichkeit dieser Beziehung.31 Das Kind ist in der neuzeitlichen Maria Lactans meist als nacktes Baby dargestellt, es liegt in den Armen der Mutter an ihrer Brust, diese wiederum blickt mit niedergeschlagenen Augen und seitlich gesenktem Kopf auf das Kind. Die Szene ist oft in Innenräume, in eine zunehmend naturalistisch gestaltete bürgerlich-häusliche Umgebung verlagert. Im Kontext des Bildtypus der Demutsmadonna ist der niedergeschlagene Blick der Maria Zeichen für die Niedrigkeit des Menschen, die Himmelskönigin wird zur Magd Gottes. Dem Betrachter wird Maria mit ihren niedergeschlagenen Augen als ein Objekt des Blicks dargeboten und tritt ihm nicht, wie dies beim Typus der Kathedra-Madonna der Fall ist, als ein aufrechtes Subjekt des Blicks gegenüber. Der Bedeutungswandel von der Himmelskönigin zur Magd Gottes wird im Bildtypus der Demutsmadonna zudem dadurch verdeutlicht, dass Maria statt auf einem Thron auf dem Boden sitzt, manchmal auf einem Kissen, und so Niedrigkeit, Demut und Erdnähe symbolisiert. Das neue Mütterlichkeitsbild beinhaltet also eine aufopferungsvolle, demütige Hingabe an das Kind und seine nährende Versorgung. Sowohl das Motiv der Erdnähe als auch der körperliche Vorgang des Stillens betonen die Natürlichkeit des dargestellten Mutterideals. Hervorgehoben wird zudem die körperlich-zärtliche, symbiotische Beziehung beider, beispielsweise durch das Umschließen des Kindes mit den Armen der Mutter. Die Einheit Mutter-Kind wird darüber hinaus durch weitere bildnerische Mittel 29 Vgl. Y. Knibiehler/C. Fouquet: L'Histoire des mères, S. 86-87. 30 M. Miles: The Virgin, S. 205; vgl. K. Schreiner: Maria, S. 193. Die Vorbildfunktion der stillenden Maria ist in der Forschung nicht unumstritten, es gibt unterschiedliche Auslegungen bezüglich lokaler Spezifika; vgl. ebd., S. 195-196; R. Kecks: Madonna und Kind, S. 154, K. Arnold: Der Wandel, S. 253. 31 Zum Bildtypus der Maria Lactans in der Renaissance vgl. M. Holmes: Disrobing the Virgin; M. Miles: The Virgin. Miles zufolge verschwindet die nackte Brust Mariens aus der Florentiner Kunst wieder, weil sie zu naturalistisch werde und die christliche Ordnung zu unterwandern drohe; vgl. ebd., S. 178.

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betont, etwa durch eine Rahmung der Figurengruppe, ihre Isolation oder durch beide Körper umfassenden Faltenwurf. Ein besonders wirkungsvolles Mittel, eine nach außen geschlossene Einheit von Mutter und Kind herzustellen, ist der Blickkontakt beider. Der auf den Säugling gerichtete Blick der Mutter ist nicht nur Zeichen ihrer Demut und Hingabe an das Kind, sondern erzeugt auch den Eindruck der Innigkeit und Intimität, der den Bildtypus kennzeichnet. Auch wenn längst nicht alle Marien der Frühen Neuzeit auf ihr Kind blicken, wird der niedergeschlagene Blick doch zu einem bis heute gültigen, konventionalisierten Zeichen für die Innigkeit der MutterKind-Beziehung, die auf der Vorstellung der völligen Hingabe der Mutter an das Kind beruht. Abbildung 12: Leonardo da Vinci (zugeschrieben): Madonna Litta, 1490/91

Quelle: Digitale Sammlung der Eremitage Sankt Petersburg32

Auf manchen Darstellungen schaut das Kind zum Betrachter und dreht sich dabei halb von der Brust weg, während Maria auf es nieder blickt, so dass die Mutter ganz von dem Kind absorbiert zu sein scheint, während dieses sich aktiv nach außen wendet (Abb. 12). Diese Haltung des Kindes stellt nach Miles ein Mittel dar,

32 http://www.hermitagemuseum.org/wps/portal/ hermitage/digital-collection vom 7.6.2014.

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den Betrachter in die Szene miteinzubeziehen;33 es gibt außerdem den Blick frei auf das Stillen und betont so die Menschlichkeit des Gottessohnes. Auch wenn in den meisten Bildern ab dem 15. Jahrhundert eine Intimisierung zu beobachten ist, so ist die Variationsbreite doch beachtlich. Einige Tafelbilder haben nach wie vor in erster Linie repräsentative Funktion und stellen die mütterliche Brust ostentativ zur Schau; man denke etwa an die Madonna von Melun von Jean Fouquet. Andere stellen durch einen melancholischen Blick Marias aus dem Bildrahmen heraus den vorweggenommenen Schmerz der Mutter ins Zentrum; Maria erscheint hier oft eher isoliert als in einer erfüllenden Symbiose mit dem Kind. Wird eine Einheit von Mutter und Kind erzeugt, indem beide nicht über den Bildrahmen hinausblicken, so ist dies auch ein Mittel, eine geschlossene Repräsentation herzustellen, die den Akt der Produktion ebenso wie denjenigen der Betrachtung leugnet. Die Naturalisierung der Darstellung geht mit einer Verschleierung der eigenen Künstlichkeit einher; das Dargestellte wird als natürliches Faktum präsentiert. Während die Kathedra-Madonna dem Betrachter ins Auge blickt und so den Akt der Darstellung und denjenigen der Wahrnehmung offenlegt, leugnet die geschlossene Repräsentation ihre historische Verfasstheit und behauptet die Natürlichkeit der Mutter-Kind-Einheit. Die naturalisierende Marienikonografie konstituiert so eine Vorstellung von Mütterlichkeit, die auf der ausschließlichen Intimität von Mutter und Kind und der natürlichen Bindung des mütterlichen an den kindlichen Körper beruht, und setzt dabei diese Vorstellung als ahistorische Konstante. Im neuzeitlichen Bildtypus der Maria Lactans lassen sich unschwer Darstellungskonventionen erkennen, die auch heute noch in der Darstellung stillender Mütter zur Anwendung kommen, namentlich die Intimisierung, die enge körperliche Bindung, der gesenkte Kopf und niedergeschlagene Blick, der Eindruck von Zärtlichkeit, Sanftheit und Hingabe an das Kind, sowie bildnerische Mittel der Weichzeichnung und Idealisierung dieses Konstrukts. Diese bis heute gültige Darstellungskonvention der stillenden Mutter setzt nicht nur, wie meist angenommen, eine gefühlsbetonte Mutter-Kind-Beziehung ins Bild, sondern ebenso eine Vorstellung von Mutterschaft, die die Frau ganz auf diese Beziehung reduziert und alles andere ausschließt. Dass diese Vorstellung auch in der Forschungsliteratur des späten 20. Jahrhunderts als ›natürlich‹ bezeichnet wird, zeigt, wie wenig ausgeprägt das Bewusstsein der Historizität von Mutterbildern auch zu dieser Zeit noch ist.34

33 M. Miles: The Virgin, S. 202. 34 »Die Beziehung zwischen Mutter und Kind wird […] immer natürlicher und beseelter«; G. Schiller: Ikonografie, S. 191; oder Kecks, der von der »tiefen Einsicht in das psychologische Verhalten einer Mutter und ihres Kindes« spricht, ohne diese Verallgemeinerung zu reflektieren; R. Kecks: Madonna und Kind, S. 291.

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Die Naturalisierung und Profanisierung der Madonnendarstellung steht laut Barbara Vinken für die Reduktion der Maria auf ihre physische Mutterschaft und den Einschluss der Mutter in den häuslichen Raum, eine Entwicklung, die ihr zufolge durch den Protestantismus initiiert wurde: »Marias jungfräuliche Mutterschaft wurde aus dogmatischen Gründen nicht in Zweifel gezogen, aber ihre spirituelle Mutterschaft auf ihre physische reduziert. Maria wurde im Zuge dieser Entwicklung von der jungfräulichen Gottesmutter und Miterlöserin, von der allmächtigen Himmelskönigin, die gekrönt an der Seite ihres Sohnes herrschte, von der so huldvollen wie effektiven Mittlerin zwischen Gott und den Menschen umstandslos zu einer Bürgersfrau, die als Gattin eines Handwerkers Haushalts- und Erziehungspflichten erfüllte. In der Mutterschaft inkarnierte sich für Luther die Niedrigkeit alles Menschlichen: die Mühsal, die Schmerzen, das Leiden. Eine Figur menschlicher Niedrigkeit war somit auch die Mutter Maria.«35

Prominentes Beispiel für die Profanisierung der Madonnendarstellung in der frühen Neuzeit ist die sogenannte Suppenmadonna von Gerard David (Abb. 13). Maria ist als bürgerliche Hausfrau dargestellt, die ihrem kleinen Sohn in einem realistischen Interieur die Suppe füttert. Auf der Bildmittelachse sitzt das Kind, ebenfalls naturalistisch dargestellt, durch Positionierung, Farbgebung und Beleuchtung aber stärker hervorgehoben als die Mutter. Im Vergleich zu der thronenden Madonna scheint hier Maria fast an den Rand gedrängt, den Kopf und die Lider demütig gesenkt. Die naturalistische Darstellungskonvention stellt auch das Setting als ein natürlich Gegebenes dar: Mutter und Kind gehören ins Haus, auch wenn es sich um Maria und den Jesusknaben handelt; die Öffentlichkeit mittelalterlicher Tafelbilder der thronenden Maria erscheint in diesem Bildkontext undenkbar. Mütterlichkeit wird dabei nicht nur durch die körperliche Verbindung von Mutter und Kind hergestellt, sondern ebenso durch die alltägliche, nährende Tätigkeit. Während auf Darstellungen der Heiligen Familie des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit häufig Joseph den Haferbrei kocht, ist es nun Maria, die nicht als Gottesmutter, sondern bei den alltäglichen Verrichtungen der Hausfrau in Erscheinung tritt.36 Kann man hierin einerseits eine Aufwertung dieser alltäglichen Arbeit der Frau sehen, so spricht es doch andererseits von der Reduktion der vielfältigen Funktionen und multivalenten Zeichen in der Tradition der Mariendarstellung auf ihre Funktion als weltliche Mutter: »Die Reduktion auf natürliche Mutterschaft brachte die Frauen um das Potential geistlicher Mutterschaft«; eine Funktion, die Vinken zufolge im Mittelalter nicht an

35 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 130-131. 36 Zu der Figur des Joseph in der Bildtradition der Heiligen Familie, auch zu weiblich konnotierten Aufgaben, die er in der spätmittelalterlichen Kunst übernimmt, vgl. B. Heublein: Der ›verkannte‹ Joseph.

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den anatomisch weiblichen Körper gebunden war, sondern Menschen beiderlei Geschlechts zugeschrieben wurde.37 Abbildung 13: Gerard David: Madonna mit der Milchsuppe, 1520

Quelle: Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel38

Die Naturalisierung der Madonnendarstellung geht also mit der bildnerischen Konstruktion einer Einheit von Mutter und Kind einher, die körperliche Verbundenheit beider wird als natürliche Mütterlichkeit inszeniert, so dass Mütterlichkeit an den weiblichen Körper gebunden wird. Gleichzeitig wird in vielen Gemälden der frühen Neuzeit auch die Reduktion der Mutter auf den häuslichen Bereich naturalisiert, Mütterlichkeit und Hausfrauentätigkeit in eins gesetzt, das Tätigkeitsfeld der Frau auf den privaten Raum beschränkt. Auch diese Bildtradition wird in der Forschungsliteratur oft unhinterfragt als Darstellung einer ›natürlichen‹ Mutter-KindBeziehung bezeichnet, anstatt sie als historisch-kulturelle Konstruktion zu begreifen. So spricht etwa Gertrud Schiller von der »natürlichen Freude der Mutter am Kind«, die in der Renaissance zum Ausdruck käme.39 Es erscheint sinnvoller, die dargestellte Zärtlichkeit der Beziehung von Mutter und Kind nicht so sehr als Ab37 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 135. Vgl. S. Tammen: Mutterschaft, S. 41. 38 http://www.fine-arts-museum.be/fr/la-collection/gerard-david-la-vierge-a-la-soupe-au-lait vom 07.06.2014. 39 G. Schiller: Ikonografie, S. 180.

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bild eines natürlichen Gefühls zu deuten, denn als Konstitution einer bestimmten Vorstellung von Mütterlichkeit, die sich ab der Renaissance entwickelt und mit Fortschreiten der Verbürgerlichung der Gesellschaft weiter ausbildet. Die Natürlichkeit ist dabei eine Kategorie, die letztlich Mutterschaft zur biologischen Berufung der Frau erklärt. Auch in neuerer Forschungsliteratur wird die thronende Madonna der Vorstellung natürlicher Mutterschaft gegenüber gestellt, ohne diese Vorstellung zu historisieren. So beschreibt Helga Möbius die Kathedra-Madonna als eine »körperhafte Wiederholung des Thrones«; in diesem Bildtypus werde ›jeder Gedanke an wirkliche Mutterschaft‹ abgewiesen, er stelle eine »Abstraktion der Mutter zur Sitzgelegenheit« dar: »Keine andere Erscheinungsweise der Gottesmutter weist jeden Gedanken an wirkliche Mutterschaft so konsequent, fast ängstlich ab, als hätten die Urheber befürchtet, die weiblichleibliche Mitwirkung könnte dem Heilsplan Schaden zufügen. Bis in die visuellen Strukturen reicht die Verleugnung des Natürlichen, wenn Glieder und Gewand sich den architektonischen Formen des Throns anverwandeln.«40

Aus einer anderen Perspektive betrachtet, kann gerade eine solche Abstraktion die Figur öffnen für unterschiedliche Bedeutungen und Dimensionen, anstatt sie auf ihre körperlich-mütterliche Funktion zu reduzieren und das Mütterliche an den anatomischen Körper der Frau zu binden. Selbstverständlich gibt es viele Variationen und auch Gegenbeispiele zu den hier angeführten Typisierungen. So werden auch im 15. Jahrhundert, zumal auf Tafel- und Altarbildern, Madonnen gemalt, die in der Darstellung zwar naturalisiert sind, aber zugleich in einer öffentlichen Situation gezeigt werden oder dem Betrachter ins Auge blicken, ebenso wie thronende Madonnen, die demütig auf ihr Kind niederblicken. Besonders ambivalent wirken beispielsweise die Madonnen Giovanni Bellinis in ihrem Wechselspiel aus Nähe und Distanz. Sie blicken oft in undefinierbare Ferne aus dem Bildrahmen heraus, vom Kind weg, oder werfen gar einen misstrauisch oder feindlich wirkenden Blick auf das Kind.41 Ihre bildnerische Gestaltung changiert zudem zwischen einer realistisch-intimen, fast psychologisch anmutenden, und ostentativ theatralen In-Szene-Setzung (Abb. 14). Klaus Schreiner betont die Vielfalt der Figur Mariens in Kunst und Frömmigkeitspraxis. Sie sei ein »vieldeutiges, ambivalentes Symbol« und habe »viele Gesichter und mannigfache Funktionen«.42 Insofern muss eine Zusammenfassung wie die hier geleistete notwendig lückenhaft bleiben und kann sich nur auf einzelne 40 H. Möbius: »Mutter-Bilder«, S. 32. 41 Zu der »Spaltung des mütterlichen Körpers« und der »jouissance maternelle« in den Madonnenbildern Bellinis vgl. J. Kristeva: »Maternité selon Bellini«. 42 K. Schreiner: Maria, S. 219 und 502.

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Traditionslinien beziehen. Dennoch wird deutlich, in welchem Maße die Bildvorgaben der christlichen Ikonografie auch heute noch Wirkung zeitigen, und dass diese Wirkung gerade von denjenigen Bildtypen ausgeht, die Mutterschaft als reale, leibliche konstituieren und der Mutter Eigenschaften wie Demut, ausschließliche Hingabe an das Kind und Rückzug aus der Öffentlichkeit zuschreiben. Symbolische und ambivalente Dimensionen der vielgestaltigen Maria bleiben in der Rezeption ikonografischer Traditionen durch die zeitgenössische visuelle Alltagskultur, wie anhand der Beispiele aus kommerzieller und politischer Werbung gezeigt werden konnte, außen vor. Die Idealisierung der Einheit von Mutter und Kind in der abendländischen Kultur ist nicht unabhängig von der christlichen Tradition zu denken. Der weitgehende Ausschluss eines realen Vaters bzw. seine Setzung außerhalb des Bildrahmens als göttlich-symbolische Instanz bei gleichzeitiger Bindung der Funktion der Mütterlichkeit an den biologischen Körper der Frau prägt die abendländisch-neuzeitliche Kultur und die sie konstituierenden Diskurse bis heute. Die Bildvorgaben der christlichen Ikonografie bilden aber nicht nur die Grundlage für Mutterbilder der Alltagskultur, sondern auch für kritische Auseinandersetzungen mit Weiblichkeitsentwürfen in der Kunst seit den 1970er Jahren. Einige dieser künstlerischen Auseinandersetzungen sollen in den folgenden zwei Kapiteln vorgestellt werden. Abbildung 14: Giovanni Bellini: Madonna mit Kind, 1487

Quelle: R. Toman: Die Kunst der italienischen Renaissance, S. 364

2. Mütterlichkeit in Performance und bildender Kunst der 1970er Jahre

Im Folgenden gehe ich zunächst kursorisch auf künstlerische Auseinandersetzungen mit den Rollenbildern der Hausfrau und Mutter in den 1970er Jahren ein, um dann Arbeiten dreier Künstlerinnen genauer zu untersuchen: Carolee Schneemann, Ulrike Rosenbach und Mary Kelly. Im Gegensatz zum Theater, in dem zu dieser Zeit kein spezifisches Interesse an Mutterfiguren zu beobachten ist, setzen sich Vertreterinnen der bildenden Kunst und der aus dieser hervorgehenden frühen Performancekunst auf explizite Weise mit Mutterbildern auseinander.

2.1 R OLLENBILDER : D IE H AUSFRAU

UND

M UTTER

Im Kontext der frühen Performance Art um 1970 entwickeln Künstlerinnen, zunächst vor allem in den USA, Performances aus weiblichen Rollenbildern und eigenen, alltäglichen Erfahrungen heraus. Die Arbeit und Lebensrealität der Hausfrau und Mutter wird dabei aus dem Raum des Privaten in die Öffentlichkeit gebracht. Die Hausfrau, Inbegriff des Einschlusses der Frau ins Haus und ihres Ausschlusses aus gesellschaftlich, ökonomisch und politisch relevanten Zusammenhängen, wird auf diese Weise sichtbar gemacht und als Rollenmodell hinterfragt. Die künstlerische Auseinandersetzung mit alltäglichen Verrichtungen und Tätigkeiten, die gerahmt, ausgestellt und experimentell untersucht werden, ist, gleichsam im Anschluss an Marcel Duchamps Ready Made, Kennzeichen vieler Aktionen der frühen Life- und Body Art.1 So erklärt etwa Tom Marioni Biertrinken zu einem künstlerischen Akt (The Act of Drinking Beer with Friends is the Highest Form of Art, 1969) und Bonnie Sherk performt 1970 Sitting Still, indem sie mit einem Sessel an verschiedene Orte in San Francisco zieht und dort einfach sitzt. Neben der Infragestellung der konventionellen Trennung von Alltag und Kunst bedeutet die 1

Vgl. M. Carlson: Performance, S. 102-104.

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Inszenierung des Alltäglichen für feministische Künstlerinnen aufzuzeigen, dass getreu dem Motto der zweiten Frauenbewegung »das Private ist politisch« - die bürgerliche Öffentlichkeit auf dem Ausschluss des Privaten und mithin auf dem Ausschluss der Frau beruht, und dass dieses Private von geschlechtspolitischen Machtverhältnissen bestimmt wird. 1972 initialisieren Miriam Schapiro und Judy Chicago Womanhouse, ein künstlerisch-feministisches Projekt mit Installationen und Performances in einem abbruchreifen Haus in Los Angeles. Vier Wochen lang werden in 17 Räumen unterschiedliche Aspekte konventioneller Weiblichkeitsmuster aufgegriffen und künstlerisch bearbeitet.2 Im Zentrum steht der Mythos der erfüllten, weißen MittelstandsHausfrau, der mit Mitteln der Übertreibung, Wiederholung und Parodie ausgestellt und denaturalisiert wird. Die meisten Arbeiten orientieren sich an der ursprünglichen Funktion der einzelnen Räume und gestalten Küche, Bade-, Wohn- und Schlafzimmer. Das Haus wird nicht nur als Ausstellungsraum genutzt, sondern als charakteristischer Ort der bürgerlichen Familie und der mit ihr einhergehenden Geschlechterrollen. So gibt es beispielsweise die komplett pink gestrichene Nurturant Kitchen von Vicky Hodgett, deren Wände und Decke mit Objekten tapeziert sind, die zum Teil wie Spiegeleier, zum Teil wie weibliche Brüste aussehen. Auf humorvolle Weise wird die biologistische Reduktion der Frau auf ihre Funktion als Ernährerin kritisiert. Menstruation Bathroom von Judy Chicago ist mit 10.000 Tampons und verschiedenen Hygieneprodukten angefüllt, bricht so das Tabu der Intimsphäre und macht zugleich die unlösliche Verbindung von Biologie und Kultur sichtbar. Linen Closet von Sandra Orgel ist ein Wäscheschrank, in dem eine weibliche Schaufensterpuppe steht, deren Körper von den Regalbrettern mehrfach durchtrennt wird, so dass sie eingeschlossen und zugleich fragmentiert ist; ein Verweis auf den Objektstatus und die Fetischisierung der Frau. Neben diesen und anderen Installationen werden in Womanhouse auch Performances aufgeführt, die die Konstruktion von Weiblichkeit mittels einer Rahmung des Alltäglichen untersuchen. So schrubben und bügeln Chris Rush in Scrubbing und Sandra Orgel in Ironing unermüdlich, um die den Hausfrauenalltag dominierende, gesellschaftlich aber unsichtbare Arbeit sichtbar zu machen: »A woman is scrubbing the floor on her hands and knees. All fours. Back and forth, over and over, her arms circle and circle the floor in continuous motion scrubbing with a brush and plenty of elbow grease. Later another woman irons a sheet, then another. Or is it the same sheet? Then another.«3 2

Vgl. Ausschnitte eines Dokumentationsfilms auf der Homepage des Paul Getty Zentrums:

3

»Stage direction«, zit. nach T. Balducci: Womanhouse, S. 20.

http://www.getty.edu/pacificstandardtime/explore-the-era/archives/v62/

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Die alltägliche Arbeit der Hausfrau wird hier nicht im Sinne eines als ob dargestellt, sondern tatsächlich ausgeführt. Realer Vollzug und Dauer sind dabei nicht nur Mittel, die Anstrengung dieser Arbeit deutlich zu machen, sondern stellen auch die Darstellungskonvention des als ob in Frage. Durch Rahmung, Isolation, repetitive Struktur und Dauer tritt eine Verfremdung der alltäglichen Verrichtung ein, die das Verhältnis von Kunst und Alltag ebenso wie von Geschlechterrolle und Körper des Einzelnen hinterfragt. Die Mittel der Isolation, Repetition und Dauer erzeugen eine Präsenz im Hier und Jetzt und betonen, zumal im Fall von Scrubbing, den Körper der Einzelnen als erschöpf- und verletzbaren. Es sind Mittel, die in der Performance- und Body Art häufig Verwendung finden, um eine Realität zu erzeugen, die die Geschlossenheit der Repräsentation durchbrechen soll. Scrubbing und Ironing ist ein Beispiel dieser repräsentationskritischen Praxis und geht damit über ein pures Ausstellen der Lasten des Hausfrauendaseins hinaus. Scrubbing zeigt nicht nur den weiblichen Körper als Opfer patriarchaler Macht, sondern entlarvt durch die Verfremdung auch die scheinbar natürliche Verbindung von Weiblichkeit, Natur und Körper als Konstruktion. Das Bodenschrubben wird zu einem performativen Akt, der Geschlechtsidentität und ein geschlechtlich bestimmtes Körperbild erst hervorbringt und auf diese Weise die Konstruktion von Weiblichkeit durch alltägliche Praktiken offenlegt. Repetition, Monotonie und Dauer sind Mittel der frühen Performancekunst von Frauen, die sowohl auf semantischer Ebene auf die Monotonie und Einschränkungen des Hausfrauendaseins verweisen, als auch den Körpern eine ästhetische Eigenständigkeit verleihen, die gängige Formen der Repräsentation des Weiblichen hinterfragt. So schaukelt Faith Wielding in Waiting (1971) eine halbe Stunde lang auf einem Stuhl vor und zurück und listet dabei mit monotoner Stimme auf, auf was eine Frau von ihrer Geburt bis zu ihrem Tode wartet, die Sätze immer mit »Waiting« beginnend: »Waiting…Waiting for someone to come in, waiting for someone to pick me up […]«.4 Sie vermittelt damit nicht nur, dass eine Frau in der gängigen sozialen Rolle zu Passivität verdammt ist, sondern erzeugt auch auf ästhetischsinnlicher Ebene einen Zustand der Monotonie. Die Performerin verkörpert hier keine Rolle im Sinne eines als ob, sondern bringt mit offensichtlich künstlerischen Mitteln eine Situation und einen Körper hervor. Insofern wird der weibliche Körper hier auch nicht unbedingt als Essenz gedacht, sondern als Produkt bestimmter Tätigkeiten, Normen und Zuschreibungen.5 Viele Künstlerinnen der 1970er Jahre finden einen bissig-humorvollen Zugang zum Thema des Hausfrauen- und Mutterdaseins. So dreht etwa Martha Rosler 1975 4 5

Der Text von Waiting ist publiziert in J. Chicago: Through the Flower, S. 213-217. Die Einordnung Carlsons dieser und anderer früher Performances als essentialistisch ist aus diesen Gründen nicht ganz schlüssig, auch wenn die Autorinnen selbst häufig die Authentizität des Ausdrucks von Gefühlen betonen; M. Carlson: Performance, S. 146.

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einen sechsminütigen Videofilm mit dem Titel Semiotics of the Kitchen, in dem sie sowohl den Hausfrauenalltag und seine Idealisierung im Fernsehformat der KochShow als auch den die Theoriebildung der 1970er dominierenden Strukturalismus aufs Korn nimmt.6 Sie steht in einer Küche vor einem mit Kochutensilien beladenen Tisch und rezitiert die Buchstaben des Alphabets von A wie »apron« über B wie »bowl« und C wie »chopper« bis Z, wobei sie die letzten drei Buchstaben mit zwei Messern formt. Zu den anderen Buchstaben des Alphabets hält sie jeweils den bezeichneten Küchengegenstand in die Höhe – Schürze, Schüssel, Messer, Kochlöffel etc. – und führt eine Handbewegung damit aus. Diese Bewegungen sind zunächst noch typische Bewegungen des alltäglichen Gebrauchs des jeweiligen Utensils, werden aber zunehmend aggressiv ausgeführt. Rosler rührt immer heftiger in einer Teigschüssel, dreht wie verrückt an der Kurbel eines Handmixers, hackt wild mit einem Küchenbeil, wirft mit einer Schöpfkelle imaginäre Suppe durch die Gegend und sticht schließlich mit einem Fleischermesser in die Luft. Der Kontrast des nüchternen Rezitierens des Alphabets und ihrer bis zum Ende sachlichen Haltung zu den aggressiven Bewegungen wirkt komisch, versinnlicht aber auch die aufgestaute Wut domestizierter, dienstbarer Weiblichkeit. Indem sie gegen Ende ihren eigenen Körper gleichsam als ein weiteres Utensil einsetzt, veranschaulicht sie die Verdinglichung des weiblichen Körpers im Rollenmodell der Hausfrau. Die Verwendung der sprachlichen Systematik des Alphabets, die sich durch den Titel »Semiotics of the Kitchen« auf die strukturalistische Theorie sprachlicher Differenz bezieht, wird mit der Abweichung von konventionalisierten Handlungsmustern konfrontiert. Ganz im Sinne Butlers wird hier die Wiederholung jener Akte und Gesten, die Geschlechtsidentität hervorbringen, in diesem Fall die Servilität der Hausfrau, bewusst verfehlt. Rosler zeigt, dass die sprachliche Differenz nicht nur Bedeutung hervorbringt, sondern sie auch anders hervorbringen kann; das Messer wird vom Kücheninstrument zum Kampfmittel. Martha Rosler fordert so auch eine Theoriebildung ein, die sich als Teil gesellschaftspolitischer Realität begreift: »This is one of the earliest video works which evidences her commitment to the idea that the purpose of theory is not merely to transform theory but also to transform the inequity of social and political conditions.”7 Inszenierungen des Blicks Mit dem Verhältnis von Privatraum und Öffentlichkeit experimentieren Künstlerinnen auch, indem sie Zuschauer zu Projekten in ihre Wohnräume einladen. So etwa Meredith Monk, die 1969 den dritten Teil der Trilogie »Juice« in ihrer Wohnung in Lower Manhattan zeigt, nachdem Teil 1 und 2 im Guggenheim Museum sowie in 6

Das Setting bezieht sich auf die erste Kochsendung im US-amerikanischen Fernsehen, The French Chef von und mit Julia Child, gesendet von 1963 bis 1973.

7

H. Reckitt/P. Phelan: Art and Feminism, S. 87.

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einem kleinen Theaterraum eines Colleges stattfanden. Oder Linda Montano’s Home Endurance von 1973, eine Performance, bei der die Künstlerin eine Woche lang zu Hause bleibt und alle Tätigkeiten wie Essen, Besuche von Freunden etc. minutiös dokumentiert. Ein besonders frühes Beispiel ist Carolee Schneemann mit dem Environment Eye Body von 1963. Sie gestaltet dabei ihre Loft in New York zu einer begehbaren Installation, in der sie sich selbst nackt bewegt und Materialien wie Fett, Farbe, Kreide etc. auf ihren Körper appliziert. Schneemanns Körper wird zum Teil des unbelebten Environments; sie ist zugleich Subjekt und Objekt des künstlerischen Prozesses: »With this move she had become both artist and object, both eye and body at once. She was the artist and the nude.«8 Die Thematisierung des Alltags hat, ebenso wie die Einbeziehung persönlicher Erfahrungen als künstlerisches Material und die Tatsache weiblicher Autorschaft selbst, in der Kunst von Frauen der 1970er eine politische Dimension – »wether her work speaks directly of political matters or not«, wie Carlsson zu Recht bemerkt.9 Die künstlerische Rahmung der eigenen Privat- und subjektiver Erfahrungsräume hinterfragt nicht nur allgemein das Verhältnis von Kunst und Leben, sondern die geschlechtsspezifische Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft, die die Frau aus der Öffentlichkeit ausschließt. Die Befragung privater und öffentlicher Räume untersucht so auch immer die Konstruktion von Identität im Kontext von Gesellschaft und Politik. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Inszenierung des Blicks. Indem Performerinnen wie beispielsweise Schneemann in dem oben erwähnten Beispiel sich selbst sowohl zum Subjekt als auch Objekt der Wahrnehmung machen, hinterfragen sie traditionelle Blickverhältnisse der abendländischen Kultur, die Frauen mehrheitlich als Objekt männlicher Wahrnehmung konstruieren und umgekehrt den wahrnehmenden Blick männlich präfigurieren.10 Ein sehr frühes Beispiel für diese wahrnehmungspolitische Funktion weiblicher Performance ist Cut Piece von Yoko Ono aus dem Jahr 1964.11 Ono sitzt dabei auf der Bühne, eine große Schere neben sich. Sie teilt den Zuschauerinnen und Zuschauern mit, sie dürften sich ein Stück ihrer Kleidung abschneiden und zur Erinnerung mit nach Hause nehmen. Diese tun das auch, sie schneiden Ono nach und nach sämtliche Kleider vom Leib, bis sie zuletzt fast vollständig nackt vor dem Publikum sitzt, die Hände schützend vor ihre Brüste gelegt. Diese gewalttätige Entblößung ihres Körpers macht den strukturellen Gewaltzusammenhang von weiblichem Körper und Repräsentation deutlich. Die Frau, in der abendländischen Tradition in erster Linie 8

R. Schneider: The explicit Body, S. 29.

9

M. Carlson: Performance, S. 154.

10 Vgl. S. Schade/S. Wenk: »Inszenierungen des Sehens«, S. 340-407. 11 1964 in Tokio, 1965 in der Carnegie Hall, New York; vgl. http://www.youtube.com/ watch?v=uB-- DXH02mI vom 28.9.2012.

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Objekt der Kunst, wird durch den männlich konfigurierten Blick des Betrachters objektiviert.12 Die Gewalt, die dem voyeuristischen Blick inne liegt, das Begehren, das Betrachtete als Objekt besitzen zu wollen, wird hier sichtbar gemacht; die Entkleidung, Objektivierung und Fragmentierung des weiblichen Körpers durch künstlerische Verfahren und Wahrnehmungsstrukturen hinterfragt. Reflektiert wird aber auch das Verhältnis von Zeigen und Schauen, das jede Aufführung konstituiert: Was zeige ich, wenn ich auf der Bühne stehe, inwiefern bin ich ein Produkt des Blicks der Zuschauer, wie ist das Verhältnis von Zu-Sehen-Geben und Sehen? Es geht mithin auch um die Konstitution des Körperbildes durch die Wahrnehmung. Cut Piece lässt sich als Antwort auf die Praxis verschiedener männlicher Künstler um 1960 lesen, den weiblichen Körper nicht nur als Modell für bildnerische Darstellungen, sondern als tatsächliches Material ihres künstlerischen Formwillens zu verwenden, wie etwa Piero Manzoni mit seinen Sculture Viventi (1961) oder Yves Klein in seinen Anthropometries of the Blue Period (1958-1960). Klein verwendet die nackten Körper seiner weiblichen Modelle gleichsam als menschliche Pinsel, sich selbst inszeniert er als Dirigent der Frauen. Auch Shigeko Kubotas Performance Vagina Paining von 1965 lässt sich als ironisch-provokative Replik auf Yves Klein, aber auch auf die Spritz- und Tropf-Technik Jackson Pollocks lesen. Kubota bemalt in ihrer Version eines Action Paintings ein auf dem Boden liegendes Papier mit einem Pinsel, den sie in ihrer Vagina befestigt hat. Hier wird nicht so sehr eine spezifisch weibliche Kreativität behauptet, sondern vielmehr das Modell des männlichen Schöpfertums parodiert, indem es über die Vorstellung des weiblichen Penisneids und der Vagina als Mangel schlechthin als phallische Phantasie offengelegt wird.13 Zudem kann diese Performance als eine kritische Hinterfragung des Verhältnisses von männlichem Schöpfertum und weiblicher Reproduktionsfähigkeit gelesen werden. Die abendländische Kultur konstruiert dieses Verhältnis als ein polares, das der Kodierung des Mannes als Kultur, der Frau als Natur entspricht. Die weibliche Reproduktionsfähigkeit wird als biologische Wesenhaftigkeit gedacht, die der Vorstellung männlichem Schöpfertums gegenüber gestellt wird, die Frau auf diese Weise aus dem Bereich kultureller Schöpfung ausgeschlossen und an den biologischen Körper gebunden. Indem Kubota die Vagina zum Ort kultureller Produktion erklärt, durchbricht sie diese binäre Zuschreibung. Die Künstlerinnen der frühen feministischen Performancekunst machen den Wahrnehmungsrahmen sichtbar, der die Konstruktion des weiblichen Körpers als Bild bzw. Objekt bestimmt. Indem sie ihren eigenen Körper als Material benutzen, hinterfragen sie die Zurichtungen des weiblichen Körpers durch das Konzept der männlichen Autorschaft und durch einen männlich konfigurierten Zuschauerblick. 12 Zum Objektstatus der Frau in der bildenden Kunst vgl. S. Eiblmaiyr: Die Frau als Bild. 13 Vgl. H. Reckitt/P. Phelan: Art and Feminism, S. 65.

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Der konventionellen Polarisierung männlicher Künstler – weibliches Objekt bzw. Aktivität – Passivität setzen sie die selbstbestimmte Inszenierung ihres eigenen Körpers entgegen und reflektieren diesen Körper als Effekt eines performativen Prozesses von Produktion und Rezeption. Im Kontext der Hinterfragung solch geschlechtsspezifischer Identitätskonstruktionen beschäftigen sich viele weibliche Künstlerinnen auch mit dem Thema Mutterschaft. Sie tun dies entweder in Form einer Reflexion eigener Erfahrungen als Mutter und Künstlerin (z.B. Mary Kelly, Ulrike Rosenbach), oder allgemeiner hinsichtlich weiblicher Körperbilder, die auf Mutterschaft bzw. Gebärfähigkeit rekurrieren. Als ein Beispiel für letzteres wird zunächst Interior Scroll von Carolee Schneemann vorgestellt.

2.2 M ÜTTERLICHKEIT ALS SYMBOLISCHE P RODUKTIVITÄT : C AROLEE S CHNEEMANN Carolee Schneemann ist eine der ersten Künstlerinnen, die ab den frühen 1960er Jahren immer wieder den eigenen Körper, sein Verhältnis zum weiblichen Körper als Bild in der Kunst, und den Zuschauerblick auf diesen Körper in Szene setzt. So in dem bereits erwähnten Eye Body von 1963, oder auch in Naked Action Lecture von 1968, in der sie einen kunsthistorischen Vortrag hält, Bilder eigener Performances und Aktbilder Cézannes projiziert, und sich während des Vortragens ständig aus- und wieder anzieht. Auch in einer der bekanntesten Performances der 1970er Jahre, Interior Scroll von 1975, setzt sich Schneemann mit Weiblichkeitsbildern in der bildenden Kunst auseinander. Die Performance wurde nur zweimal gezeigt, im August 1975 auf dem Women Here and Now Festival in East Hampton, New York, und 1977 auf dem Telluride Film Festival in Colorado. Schneemann betritt die Bühne, zieht sich aus, legt eine kleine, weiße, rüschenbesetzte Schürze an und bemalt sich mit kräftigen, dunklen Strichen aus Schlamm, die die Konturen ihres Körpers grob nachzeichnen. Dann steigt sie auf einen langen, beleuchteten Tisch und nimmt verschiedene typische Aktmodell-Posen ein. Dabei liest sie aus ihrem Buch Cézanne, She Was a Great Painter (1974) Texte über die Rolle von Frauen in der Kunst vor.14 Während die kleine Schürze an die Rolle des Dienstmädchens erinnert, stellen die Aktposen den weiblichen Körper als Objekt und Projektionsfläche des männlichen Künstler-Blicks aus. Die Bemalung des Körpers mit groben Strichen erinnert an eine Vermessung, Beschriftung und Normierung der Körperoberfläche, die den Körper gleichzeitig zum objekthaften Material und zu einer Leinwand macht, auf

14 Vgl. C. Schneemann: More than Meat Joy, S. 234-239; C. Butler: Wack!, S. 296.

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die Phantasien und Vorstellungen des Betrachters projiziert werden. Dass sie nicht mit Farbe sondern mit Schlamm malt, grenzt ihre Aktion von üblicher (männlich dominierter) Malerei ab und erinnert an Rituale, bei denen Naturmaterialien verwendet werden. Der Schlamm wirkt aber vor allem in seiner Materialität, er ist dickflüssiger als Farbe, unregelmäßiger und nicht so leicht zu kontrollieren, zudem weckt er die Assoziation des Beschmutzens. Indem Schneemann sich nackt vor dem Publikum präsentiert, bezieht sie sich auf die Tradition der Aktmalerei und -fotografie, und somit auf den Bildstatus der Frau in der westlichen Kultur. Gerade der nackte Frauenkörper ist Objekt eines männlich konfigurierten Blicks: »The female nude is not simply one subject among a whole range of subjects that artists have chosen to depict within the history of art; rather, it should be recognized as a particularly significant motif within western art and aesthetics«.15 Abbildung 15: Carolee Schneemann: »Interior Scroll«, 1975

Quelle: C. Schneemann: More than meet joy, S. 239, Foto: Anthony McCall

Schneemann macht sich abermals zu einem Objekt des Blicks, ist als Künstlerin und Autorin aber zugleich Subjekt der Aufführung. Indem sie sich selbst und unter eigener Regie in die tradierten Posen des Aktmodells begibt, legt sie den Objektstatus der Frau offen und verunsichert die Subjekt-Objekt-Relation. Sie ist zugleich Subjekt und Objekt und verdeutlicht so auch das eigene Verwickeltsein in die kultu-

15 L. Nead: The female Nude, S. 2. Zur Funktion des weiblichen Akts in der Kunst vgl. G. Saunders: The Nude.

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rellen Vorgaben. Sie bringt darüber hinaus die spezifische Materialität ihres Körpers ins Spiel und versucht auf diese Weise, einen Gegenentwurf zu dem Status als Bild, den der weiblichen Körper in der Öffentlichkeit einnimmt, zu entwickeln. Das Verhältnis von männlichem Künstlerblick und weiblicher Bildhaftigkeit wird zudem in den vorgetragenen Texten reflektiert, die sich mit Geschlechter- und Kunststereotypen sowie den Schwierigkeiten befassen, eine weibliche Autorenposition zu behaupten. Schneemann bricht die Rolle der Frau und Künstlerin auf verschiedenen Ebenen: Sie stellt Weiblichkeit als Konstrukt eines männlichen Blicks aus, macht sich als Künstlerin zugleich zum Subjekt dieser Konstruktion, indem sie sich ihre Zeichen und Mittel anverwandelt, und kontrastiert die Reduktion von Weiblichkeit auf das Bild mit der sprachlichen Reflexion des Dargestellten. Sie beansprucht so im doppelten Sinne eine Autorschaft für sich: als Künstlerin und als Sprechende, die das eigene Verwickeltsein in kulturelle Muster reflektiert. Dies ist auch Thema eines weiteren Textes, den Schneemann vorliest. Er ist auf eine schmale, mehrere Meter lange Schriftrolle gedruckt, die sie im zweiten Teil der Aufführung Stück für Stück aus ihrer Vagina zieht (Abb. 15). Die Papierrolle ist in sich gedreht, so dass sie aussieht wie eine Nabelschnur. Das ›Entbinden‹ des langen Papierstreifens erinnert mithin an die Entbindung eines Kindes. Auf diese Weise hinterfragt Schneemann das Verhältnis von weiblicher Gebärfähigkeit, künstlerischer Kreativität und Rationalität: Historisch betrachtet wird die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft weitgehend auf ihren Körper und ihre Rolle als Mutter reduziert, Weiblichkeit mit Natur assoziiert, während Männlichkeit mit Kultur und Rationalität gleichgesetzt wird. Die Künstlerin greift dieses Stereotyp auf und kontrastiert den weiblichen Körper und speziell die Vagina als Inbegriff eines biologistischen Weiblichkeitsverständnisses mit Sprach- und Reflexionsvermögen, indem sie aus dem Körper kein organisches Material, sondern eine Papierrolle mit Schriftzeichen entrollt. Die natürliche Reproduktion wird so zu einer kulturellen Produktion; Mütterlichkeit als symbolische Produktivität gefasst. Der Akt des Vorlesens betont den symbolisch-rationalen Charakter dieser mütterlichen Produktivität zusätzlich, da es im Gegensatz zum freien Sprechen nicht die Illusion eines spontanen Selbstausdrucks erweckt. Hier wird nicht eine Einheit von weiblicher Geschlechtsidentität, Körperinnerem und biologischer Gebärfähigkeit generiert, sondern eine reflektierende Distanz zum Selbst und zum eigenen Körper konstituiert. Schneemann ist nunmehr vollständig nackt. Sie steht aufrecht auf dem Tisch, ausgestellt vor den Blicken des Publikums, zugleich wahrt sie durch die Erhöhung auch eine Distanz und eine gewisse Dominanz über die Situation. Ihr Körper ist durch die exponierte Position im Raum, durch seine Zeichnung mit den Farbstrichen und die Posen des ersten Teils deutlich als Kunst-Körper in Szene gesetzt; Schneemann inszeniert keinen natürlichen Körper. Sie beginnt nun, immer redend, langsam die Papierrolle aus ihrer Vagina zu ziehen. Dabei steht sie leicht nach vorne gebeugt, aber weiterhin aufrecht. Indem sie an ihr Geschlecht fasst und etwas

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aus ihrem Körperinneren herauszieht, durchbricht sie die Grenzen des geschlossenen Körpers, der bis in die Moderne das Ideal der abendländischen Kunst ist. Stellten die Posen im ersten Teil den Körper als ein solch geschlossenes Kunst- und Anschauungsobjekt aus, so konfrontiert sie die Zuschauer nun mit dem Anderen dieses Körperideals, dem Körperinneren, das für die Verletzbarkeit des einen, ganzen Körpers steht. Sie tut dies auf eine ruhige, sachliche Weise, so dass der Zeichencharakter des Vorgangs hervorgehoben wird. Während der geschlossene, einheitliche Körper in der abendländischen Kultur für die Vorstellung des männlichen, bürgerlichen Subjekts steht, wird das Körperinnere, auf das Schneemann hier verweist, mit dem Weiblichen assoziiert. Als ein Anderes des geschlossenen Körpers stellt das Weibliche eine Bedrohung der männlichen Integrität dar, ein Körperliches, das sich der Bedeutung entzieht. Schneemanns Exponieren des weiblichen Geschlechts kann als ironische Replik auf die (männliche) Angst vor solcher Weiblichkeit im Sinne eines abject (Kristeva) gelesen werden. Das Abjekte wird Julia Kristeva zufolge verworfen, um in dieser Abgrenzung eines Nicht-Ich ein Ich zu bilden; das Verworfene wird dabei zugleich als ein Anderes konstituiert.16 Diese für die Subjektwerdung notwendige Verwerfung hängt nach Kristeva mit der Loslösung von der Mutter, der Unterscheidung von Selbst und Anderem, zusammen. Sie assoziiert dabei abjekte, also formlose, unkontrollierbare Substanzen des Körperinneren wie Blut, Schleim, Urin etc., mit dem mütterlichen Körper.17 Die Konstitution des Subjekts verläuft über die Verwerfung des Mütterlichen, das der Abgrenzung einer Identität entgegensteht. Das Mütterliche wiederum ist für sie die reale Grundlage des Weiblichen (»le support réel«); es ist also nicht als eine symbolische Funktion im Rahmen der Subjektwerdung zu verstehen.18 Kristevas Modell der Abjektion bietet so einerseits die Möglichkeit, ein Verständnis für Ausschlussmechanismen, für Projektionen und Verwerfungen zu entwickeln, die in der abendländischen Kultur mit geschlechtsspezifischen Bedeutungen belegt werden. Sie reproduziert aber in gewisser Weise diese Zuschreibungen auch, indem sie Weiblichkeit und speziell Mütterlichkeit mit diffusen, fließenden Substanzen, die die männlich konnotierte rationale Form bedrohen, identifiziert. Schneemann hingegen inszeniert das weibliche Körperinnere und den mütterlichen Körper in Interior Scroll interessanter Weise gerade nicht als abjekt, sondern als Text. Sie kehrt das Innere nicht nach außen, illustriert oder verkörpert es nicht, sondern stellt es in Form sprachlicher Ordnung, mithin als Kulturprodukt dar. Sie hinterfragt so das dualistische Denkmuster, das das Weibliche mit dem Körperlichen, das sich der Form und Bedeutung entzieht, und das Männliche 16 Kristeva schreibt, man verwerfe sich selbst in derselben Bewegung, in der man sich begründe; J. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 80-82. 17 Ebd., S. 20, 66. 18 Ebd., S. 87.

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mit Bedeutung, Rationalität und der geschlossenen Form eines undurchlässigen Körpers assoziiert. Schneemann spielt dabei auch ironisch auf die abendländische Vorstellung männlicher Genialität an, bei der das Künstler-Genie Geniales aus seinem Inneren gebiert. Die Kunst ist diesem Konzept zufolge Produkt eines vom Körper getrennten Geistes; männliches Schöpfertum wird weiblicher Reproduktion entgegengesetzt.19 Das Exponieren des nackten Körpers und des weiblichen Geschlechts wendet sich gegen den Ausschluss des Körpers, der mit dem Weiblichen assoziiert wird. Es stellt das Konzept männlichen Schöpfertums vs. weibliche Reproduktivität bloß und bricht es ironisch durch das groteske ›Entbinden‹ von Schrift/Kunst/Kultur. Schneemann entidealisiert auf diese Weise den Mythos vom männlichen Künstler und seines Schöpfungsaktes und erhebt Einspruch gegen die Festschreibung der Frau auf sprachlose Reproduktion. Die Offenlegung des Intimen in der Öffentlichkeit der Aufführung weist zudem darauf hin, dass dieses gesellschaftlich geprägt und von Machtverhältnissen durchzogen ist. Weibliche Intimität wird zu einem Politikum erklärt, Mütterlichkeit von einem natürlichen Akt biologischer Reproduktion zu einem symbolischen Akt kultureller Produktion und Kritik. Auch wenn viele feministische Künstlerinnen der 1960er und 70er Jahre ihre Kunst als eine Suche nach einer ursprünglichen Weiblichkeit verstanden und gegen poststrukturalistische Theorien eine essentialistische Subjektivität einklagten,20 so sind die meisten Kunstwerke und –aktionen doch nicht eindeutig essentialistisch zu verorten. Auch Schneemann stellte Interior Scroll später in den Kontext einer Beschäftigung mit der Vagina als »vulvic space« und Ursprung eines »sacred« oder »primary knowledge«, verbunden mit einer Muttergottheit.21 Eine solche essentialistische Deutung ist allerdings nicht ganz schlüssig, bedenkt man den oben beschriebenen Zeichencharakter des Vorgangs und zieht zudem den Text, den Schneemann verliest, hinzu. Der »explicit female body«,22 den Schneemann herstellt, bringt Text hervor, und in diesem Text ist gerade von solchen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen die Rede, die das Weibliche mit Gefühl, Unordnung und Formlosigkeit identifizieren: »I met a happy man / a structuralist filmmaker […]/ he said we are fond of you / you are charming / but don’t ask us / to look at your films / we cannot / there are certain films / we

19 Vgl. S. Schade/S. Wenk: »Inszenierungen des Sehens«, S. 352. 20 Vgl. R. Schneider: The explicit Body, S. 36. 21 C. Schneemann: More than Meat Joy, S. 234. 22 Schneider versteht unter dem »explicit body« das Ausstellen des Körpers als »the sedimented layers of signification itself«, nicht etwa das Exponieren eines »originary, true, or redemptive body«; R. Schneider: The explicit Body, S. 2.

74 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: INSZENIERUNGEN IN T HEATER UND PERFORMANCE cannot look at / the personal clutter / the persistence of feelings / the hand-touch sensibility / the diaristic indulgence / the painterly mess / the dense gestalt / the primitive techniques.«23

Auch wenn also Schneemann ihren nackten Körper ausstellt, auf das weibliche Geschlecht und Körperinnere sowie die physiologischen Vorgänge der Menstruation und Gebärfähigkeit verweist, so inszeniert sie damit nicht die Idee einer ursprünglichen natürlichen Weiblichkeit, sondern zeigt vielmehr die Materialisierung dieses Körpers durch Diskurse über ihn, seien es bildnerische, wie im ersten Teil der Aufführung, oder verbale, wie im zweiten Teil. Sie hinterfragt die traditionelle Dichotomie von Körper und Geist, ohne die Vorstellung eines einheitlichen Ganzen an ihre Stelle zu setzen. Es geht in Interior Scroll nicht um eine spezifisch weibliche Form der Kreativität oder die Behauptung einer weiblichen Essenz, sondern vielmehr um die kulturelle Verfasstheit geschlechtlicher Identitäten und das Verhältnis des eigenen Körpers zu künstlerischen wie theoretischen Diskursen. Zuschreibungen wie diejenige des ›structuralist filmmakers‹ über weibliche Kunst, aber auch Zurichtungen des Körpers durch künstlerische Produktionsformen wie diejenige der Aktmalerei, erzeugen erst Körper, Geschlechtsidentität und Vorstellungen vom Körperinneren. Insofern ist die Zuordnung zu einer »›essentialist‹ position«, die auch Marvin Carlson vornimmt, tatsächlich fraglich.24 Die Kritik an patriarchalischen Weiblichkeitsbildern erfolgt in Interior Scroll über die Beanspruchung der Autorschaft, die Selbstermächtigung, die in der Anverwandlung stereotyper Zeichen bzw. Posen der Weiblichkeit zu sehen ist, die Dekonstruktion des Mythos männlichen Schöpfertums, sowie mittels der Umdeutung des Topos der Mütterlichkeit: Mütterlichkeit fungiert nicht als Garant der Natürlichkeit der Rolle der Frau bzw. des weiblichen Körpers, sondern als kulturelle Produktion. Die Schriftrolle formuliert so eine Kritik im doppelten Sinne: im Sinne einer inhaltlichen Kritik an binären Identitätskonstruktionen, die Weiblichkeit mit Gefühl und Formlosigkeit identifizieren (›the personal clutter‹), und im Sinne einer Umdeutung des weiblich-mütterlichen Körpers, der gerade nicht für einen formlosen, affektiv-organischen Raum steht, sondern für einen wortsprachlichen Text. Der weibliche Körper wird explizit gemacht, nicht als sprachloser, sondern als ein zugleich konkreter und symbolischer, materialisiert durch kulturelle Bild- und Textvorgaben, und auch selbst im Stande, Bedeutung zu erzeugen.

23 C. Schneemann: More than Meat Joy, S. 238. 24 Carlson stellt weiter fest, dass Performances von Frauen, die ›personal clutter‹ zum künstlerischen Material machen, von vielen Wissenschaftlern nicht beachtet oder gar bewusst ausgeschlossen werden; solche Ausschlüsse schreiben das dualistische Geschlechterkonzept fort; M. Carlson: Performance, S. 150-151.

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2.3 M EDIENBILDER – S ELBSTBILDER : U LRIKE R OSENBACH Die Medienkünstlerin Ulrike Rosenbach setzt sich in ihren Arbeiten der 1970er Jahre – v.a. Videoarbeiten, Performances und Video-Life-Aktionen – mit Weiblichkeitsbildern der abendländischen Kultur auseinander. Sie greift sowohl historische Vor-Bilder als auch ihre Aktualisierungen in zeitgenössischen Medien auf und setzt sich mit dem Verhältnis des eigenen Körpers und der eigenen Identität zu diesen Bildvorgaben auseinander. Maria und Amazone In ihrer Video-Liveaktion Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin, die sie erstmals 1975 auf der Biennale des Jeunes in Paris aufführt, schießt Ulrike Rosenbach mit einem großen Bogen fünfzehn Pfeile auf eine Zielscheibe, auf die die Reproduktion eines Madonnenbildes von Stefan Lochner, die Madonna im Rosenhag (um 1450), montiert ist. Sie tut dies ruhig und konzentriert, mit präzisen, überlegten Bewegungen, schreibt sich eher in das Kunstwerk ein, als dass sie es zerstören würde. Sie trägt dabei einen weißen, trikotähnlichen Anzug, der eng an ihrem ganzen Körper anliegt, die Haare sind zurückgebunden und das Gesicht ist ungeschminkt. Bogen und Pfeile sind kein Kampf- sondern Sportgerät.25 Einerseits repräsentiert das Schießen einen kämpferischen, gewalttätigen Akt, andererseits wird durch die konkrete Inszenierung und Ausführung gerade nicht der Eindruck von Aggressivität oder Gewalttätigkeit erzeugt, sondern vielmehr von handwerklichem Können und technischer Präzision. Ähnlich wie Niki de Saint Phalle in ihren Schießbildern zerstört Rosenbach nicht so sehr, als dass sie mit dem Mittel des Schießens etwas Neues erschafft. Dennoch trifft sie freilich das Gesicht der Madonna auf empfindliche Weise, schließlich ist es keine Zielscheibe, auf die sie schießt, sondern das Bild einer Frau. Es handelt sich um ein Marienbild, ein Bild also, das in besonderer Weise den Status der Frau als Bild sowie ihre Idealisierung verkörpert. Wie im ersten Kapitel dargelegt wurde, ist das christliche Konzept reiner Mütterlichkeit bis heute prägend für unsere Vorstellungen von Mutterschaft und gerade in Form ikonografischer Traditionen in der Alltagskultur präsent. Mit einem Marienbild betont Rosenbach mithin die historische Verfasstheit von Weiblichkeitsentwürfen, bezieht sich aber auch auf ein ganz bestimmtes Bild von Weiblichkeit. Das Madonnenbild, das sie wählt, zählt zu den spätgotischen »Schönen Madonnen«, die die Jugend, Sanftheit und Schönheit der Gottesmutter betonen. Sie haben meist auffallend helle Haut, ei-

25 Die Beschreibung folgt einem Video der zweiten Aufführung 1975 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck; http://www.medienkunstnetz.de/werke/glauben-sie-nicht/video vom 9.12.2012; vgl. G. Glüher: Ulrike Rosenbach, S. 64-68.

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ne hohe Stirn, niedergeschlagene Augen und weiche Gesichtszüge, auch der Faltenwurf des Umhangs wird weich dargestellt (man spricht auch vom ›weichen Stil‹). Lochners Maria sitzt auf dem Boden vor einem goldenen Vorhang, der von Engeln getragen wird und auf dem eine stilisierte Rosenlaube abgebildet ist. Sie trägt Krone und Heiligenschein, Gottvater blickt von oben auf sie herab, kleine Engel umgeben sie, und auf ihrem Schoß sitzt aufrecht das Jesuskind, das sie mit schmalen, zarten Händen leicht berührt. Trotz Krone und goldenem, sie exponierenden Bildhintergrund wirkt diese ›schöne Madonna‹ im Gegensatz zum Bildtypus der Kathedra-Madonna, die dem Betrachter aufrecht gegenüber sitzt und ihn direkt anblickt, nicht wie eine selbstbewusste Frau und Herrscherin, sondern passiv, zart und keusch. Dies liegt an ihrem zierlichen Körper und ihrem mädchenhaften Aussehen sowie an ihrem zur Seite geneigten Gesicht und den niedergeschlagenen Augen, die den Blick des Betrachters nicht zurückgeben, sondern das Gesicht als Objekt ungestörter Betrachtung darbieten. Der zur rechten Seite geneigte Kopf, Symbol der unbefleckten Empfängnis durch das linke Ohr, betont ihre Passivität und Beugsamkeit. Die sitzende Haltung entspricht der Tradition der Demutsmadonna, ein Bildtypus vor allem aus dem südalpinen Raum, bei dem Maria auf der Erde sitzt und so, im Gegensatz zur thronenden Madonna, ihre Menschlichkeit und Demut betont wird. Maria symbolisiert in der abendländisch-christlichen Kultur in erster Linie Mütterlichkeit und Reinheit, sie steht für die Menschwerdung Gottes ebenso wie für das göttliche Wunder der unbefleckten Empfängnis. Rosenbach bezieht sich allerdings nicht nur allgemein auf die christliche Vorstellung der jungfräulichen Gottesmutter, sondern auf einen ganz bestimmten Typus der Inszenierung dieser Gottesmutter. Lochners Madonna im Rosenhag repräsentiert das Frauenideal einer sehr jungen, lieblich-zarten, demütigen, unberührbaren Frau, deren mütterliche Funktionen in den Hintergrund treten. Die »schönen Madonnen« werden nicht als Gottesmutter oder Himmelskönigin, und auch nicht, wie in der niederländischen Malerei derselben Zeit, als realistische Mutter mit Kind dargestellt, sondern als puppenhafte junge Frau. Dieses Frauenbild bietet, gerade aufgrund der niedergeschlagenen Lider, eine ideale Projektionsfläche für den Betrachter. Indem Rosenbach das Bild nun als Zielscheibe für ihre Pfeile verwendet, betont sie seinen Charakter als eine solche Projektionsfläche, als Objekt von Phantasien und Einschreibungen – auch ihrer eigenen in Form ihrer Blicke und Pfeile. Die Pfeile, die das Gesicht der Madonna in der Art von Stigmata zeichnen und verletzen, unterstreichen zudem die der Figur der Maria bzw. der Mutter allgemein in der christlichen Kultur zugeschriebene Opferbereitschaft; die Pfeile sind nicht zuletzt auch als Abwandlung der Schwerter im Bildtypus der Mater Dolorosa zu sehen. Dem Schießen der Pfeile ist zwar durchaus ein aggressiver Gestus immanent, der sich gegen das Bild der Madonna richtet, andererseits aber zerstören die Pfeile dieses Bild nicht so sehr, als dass sie es fortschreiben.

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Das andere Weiblichkeitsbild, das Rosenbach verarbeitet, ist dasjenige der Amazone. Die Vorstellung der Amazone, der Kriegerin, die in einem Frauenstaat organisiert ist, in dem Männer gar nicht oder nur zu Reproduktionszwecken zugelassen sind, stammt aus altgriechischen Mythen; ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. sind Amazonen, vor allem im Zweikampf mit griechischen Helden, häufiges Bildthema der Vasenmalerei. Die Amazone kann als Inbegriff der anderen Frau gelesen werden, die eigenständig, selbstbewusst, sexuell aktiv, kämpferisch und gerade nicht mütterlich ist. Im griechischen Mythos kommt sie als eine Andere vor, die der griechischen Gesellschaft fremd ist und eine Bedrohung darstellt, sie gilt als »große weibliche Gefahr aus der Fremde«.26 Ihre Bedrohlichkeit hängt auch damit zusammen, dass ihr eine aktive Sexualität zugeschrieben wird, bei der der Mann keine oder eine passive Rolle spielt. Dieser Aspekt macht sie zugleich bedrohlich und begehrenswert; und so betonen die griechischen Mythen und Vasenmalereien den Moment der Besiegung der Amazone durch den griechischen Helden.27 In der Neuzeit wird die Amazone teils als Heroine verehrt, ab dem bürgerlichen Zeitalter – mit der Naturalisierung der Geschlechterrollen – als männliche Frau häufig negativ, aber auch fasziniert rezipiert (bekanntestes und vielschichtigstes Beispiel für letzteres ist Kleists Penthesilea). In den 1970er Jahren wuchs das Interesse an der Figur der Amazone und matriarchalen Lebensformen im Kontext der Frauenbewegung. Die Amazone wurde in der Mediengesellschaft aber auch zum Klischeebild der starken, maskulinen Frau oder auch zur erotischen Männerphantasie.28 Ulrike Rosenbach selbst wiederum sieht die Amazone »als Identifikation mit der Machtstruktur und dem Konkurrenzverhalten in der Männergesellschaft«.29 Auch wenn es historisch betrachtet unterschiedliche Lesarten gibt, so sind die Darstellungs- und Rezeptionsmuster der Amazone doch häufig stereotyp; im Gegensatz zu der Vorstellung von Weiblichkeit, für die Maria steht (schwach, aufopfernd, zärtlich, mütterlich), werden ihr traditionell ›männliche‹ Eigenschaften wie Stärke, Selbstbewusstsein und Aggressivität zugeschrieben. Rosenbach wählt mithin zwei stereotype Darstellungsformen von Weiblichkeit, die sie einander gegenüberstellt: die reine, asexuelle Mutter und die kämpferische, unabhängige Frau. Allerdings verkörpert sie keine Amazone, sondern verweist nur auf dieses Frauenbild – durch den Titel der Aktion und durch die Requisiten Pfeil und Bogen. Doch bereits der Titel lässt vieles offen: Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone 26 L. Schneider/M. Seifert: Sphinx, Amazone, Mänade, S. 74. 27 Vgl. ebd., S. 74-90; J. Fornasier: Amazonen. 28 Dies ist v.a. in den letzten zehn bis zwanzig Jahren der Fall; unzählige Porno-, aber auch Abenteuerfilme und TV–Serien mit Amazonenfiguren sprechen davon. 29 http://www.medienkunstnetz.de/werke/glauben-sie-nicht/ vom 12.9.2012. In der ersten Version der Aktion präsentierte Rosenbach zusätzlich Fotoarbeiten, die Bilder von Amazonen aus dem populären Spielfilm aufgriffen; vgl. G. Glüher: Ulrike Rosenbach, S. 68.

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bin kann, da das Satzzeichen am Ende fehlt, sowohl als Frage als auch als Feststellung gelesen werden. Ersteres würde darauf verweisen, dass Rosenbach eine Amazone ist bzw. darstellt, letzteres darauf, dass sie gerade keine Amazone ist bzw. darstellt. Und auch die Aktion selbst klärt diese Uneindeutigkeit nicht: Die Ruhe und Präzision ihrer Bewegungen erfüllen nicht die Erwartung eines kämpferischen Gestus, wie er mit der Vorstellung der Amazone verbunden ist; Rosenbach führt die Tätigkeit des Zielens und Schießens konzentriert und sachlich aus, ohne sie in irgendeiner Weise zu illustrieren oder kommentieren. Und auch Kostüm, Frisur und Maske bebildern keine Amazone, sondern erzeugen eher den Eindruck einer weitgehend neutralen, handwerklich Ausführenden. Insofern ist es auch fraglich, ob Rosenbachs Arbeiten sich tatsächlich »als Schmerz- und Wutausdruck verletzter weiblicher Identitäten« lesen lassen, wie Meike Rotermund schreibt.30 Die formale Strenge und sachliche Art, in der sie Aktionen ausführt, sprechen gegen die These, dass es hier allein um einen Ausdruck innerer Wut oder Schmerzes geht. Vielmehr untersucht Rosenbach die Konstruktionsmechanismen weiblicher Identität im Zusammenspiel subjektiver Erfahrungen, sozialer Rollen und medialer Bildvorgaben. Indem Rosenbach dabei keine eindeutige Position bezieht, weder die Rolle der Amazone noch der Madonna verkörpert oder zerstört, gibt sie die Arbeit mit den Frauenbildern an die Betrachter und Betrachterinnen weiter: Ist sie nun eine Amazone oder nicht? In welchem Verhältnis steht Ulrike Rosenbach als Künstlerin zu dem Frauenbild der Amazone, auf das sie sich bezieht? Und wie ist der Bezug zu der Figur der jungfräulichen Mutter? Videokameras nehmen sowohl das Gesicht der Madonna auf, das von den Pfeilen getroffen wird, als auch das Gesicht Rosenbachs beim Abschießen der Pfeile. Die Kameras sind dabei so positioniert, dass beide Gesichter frontal und annähernd im gleichen Winkel aufgenommen werden (eine ist hinter einem mit Panzerglas geschützten Ausschnitt im Brustbereich der Marienreproduktion montiert). In einem Closed Circuit werden die Aufnahmen live auf zwei Monitore, die neben der Liveaktion aufgestellt sind, übertragen. Auf den Monitoren werden die Aufnahmen beider Kameras in weicher Überblendung übereinander gelegt, so dass die Pfeile zugleich das Gesicht der Madonna und dasjenige Rosenbachs treffen. Indem die Pfeile das Bild der »schönen Madonna« als Inbegriff eines bestimmten Weiblichkeitsbilds (sanfte, reine Mutter, begehrenswerte aber unberührbare Jungfrau) treffen, treffen sie auch Rosenbach. Die eigene Identität ist nicht zu trennen von Bildvorgaben, die kulturell hervorgebracht und tradiert werden, und unser Selbstbild ebenso wie das Bild, das andere sich von uns machen, mit hervorbringen. Das Bild Rosenbachs setzt sich aus Weiblichkeitsbildern wie demjenigen der Madonna und der Amazone zusammen, ohne sie je vollständig zur Deckung zu bringen und ohne sich je ganz von ihnen lösen zu können. 30 M. Rotermund: Metamorphosen in inneren Räumen, S. 77.

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Anders als im Fall bildlicher Darstellungen christlicher Märtyrer wie beispielsweise des Hl. Sebastians, treffen die Pfeile Rosenbachs hauptsächlich das Gesicht der Madonna; der Körper bleibt weitgehend unverletzt und unbeachtet, so wie er auch auf dem Gemälde selbst weitgehend unter dem Gewand verschwindet. Sie treffen mithin jenes Körperteil, das für die Individualität seines Trägers steht – die Möglichkeit einer Individualität und eines Körperbildes jenseits kultureller Muster bzw. medialer Repräsentationen wird so in Frage gestellt. Die Doppelbelichtung ist dabei umso bemerkenswerter, als das Changieren des Verhältnisses der beiden Gesichter beobachtet werden kann: mal scheinen sie ineinander zu verschwimmen, dann wieder entstehen groteske Bilder mit vier Augen und zwei Mündern, kurz lösen sie sich voneinander, um dann wieder zur Deckung gebracht zu werden. Das Gesicht ist hier nicht Ausdruck einer gesicherten Identität, individuelle Gesichtszüge verschwinden in der Überblendung zwischen Bildvorgabe und dem Bild der Künstlerin. In den grotesken Momenten fragmenthafter Fratzen zeigt sich ein drohender Identitätsverlust, und in Momenten der Deckungsgleichheit entsteht ein Antlitz, das aus verschiedenen Bildern montiert ist und keinen Anspruch auf Originalität und Individualität erheben kann – es ist Effekt dieser Bilder und nicht Ausdruck eines inneren Kerns. Rosenbach stellt sich in dieser Performance zugleich als Bilder kreierende Künstlerin, als schießende Amazone und als jungfräuliche Mutter, deren Gesicht Projektionsfläche und Zielscheibe in einem ist, dar. Sie reflektiert so nicht nur das Weiblichkeitsbild selbst, sondern sein Verhältnis zu ihrem eigenen Bild als Frau und Künstlerin, die nicht auflösbare Verwebung ihres Selbstbildes mit der Bildvorgabe.31 Rosenbach bietet Fragmente von Identitätsbildern in unterschiedlichen Medien. Das Nebeneinander der real anwesenden Rosenbach – in der Rolle der Künstlerin und Amazone – und ihrem medialen Bild auf den Monitoren – in Überblendung mit dem real anwesenden und zugleich medial übermittelten Bild der Madonna – dekonstruiert den Status der Frau als Bild und reflektiert Konstruktionsmuster von Identität überhaupt. Hinterfragt wird dabei auch die Wahrnehmung des Betrachters bzw. der Betrachterin, denn letztlich sind diese aufgefordert, sich ›ein Bild zu machen‹, das ihnen als einheitliches gerade nicht geboten wird. In ähnlich repräsentationskritischer Weise setzt Rosenbach sich auch in anderen Video-Liveaktionen mit der Beziehung ihres eigenen Körperbildes zu demjenigen tradierter Weiblichkeitsbilder der abendländischen Kultur auseinander, beispielsweise in Reflexionen über die Geburt der Venus (1976), in dem sie Sandro Botticellis Venus aus Die Geburt der Venus (1485/86) auf ihren eigenen Körper projiziert. Der Bildstatus der Frau in der Kunst des Abendlandes wurde in den 31 Nicht zuletzt wählt Rosenbach ein Bild, dessen Name ihrem eigenen ähnelt: Madonna im Rosenhag. Die Rose steht in der christlichen Ikonografie für Maria.

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1970er Jahren zuerst von der psychoanalytisch geprägten, feministischen Filmtheorie untersucht, beispielsweise von Laura Mulvey in ihrem auch für die Kunstgeschichte einflussreichen Aufsatz »Visuelle Lust und narratives Kino« (1975). Mulvey zeigt anhand des klassischen Hollywoodfilms, inwiefern »die Frau als Bild, der Mann als Träger des Blicks« inszeniert wird.32 Sie geht dabei von der Freudschen Theorie der Skopophilie aus, nach der die Schaulust von einer Distanz zwischen Subjekt und Objekt des Blicks abhängt und das Angeschaute unweigerlich objektiviert wird. Die Lust am Schauen hängt nach Freud mit der Lust an der Kontrolle über das Angeschaute und der »Fixierung von vorläufigen Sexualobjekten« zusammen.33 Rosenbach setzt sich in ihren Arbeiten mit diesem Bildstatus der Frau auseinander. In Glauben Sie nicht… repräsentiert die Madonna diesen Bildstatus; indem Rosenbach sich aber auch selbst filmt, inszeniert sie sich auch selbst als Bild. Sie reflektiert auf diese Weise nicht nur den Einfluss, den konkrete Bilder wie das der liebreizenden, stummen Madonna auf ihr Selbstbild haben, sondern legt ihren eigenen Bildstatus offen in der gleichen Bewegung, in der sie sich ihm durch das Schießen der Pfeile, durch die Einnahme einer handlungsmächtigen Subjektposition, widersetzt. Sie deckt auf diese Weise Konstruktionsmuster weiblicher Identität auf und experimentiert mit Strategien der Selbstbestimmung. Arbeiten mit Julia Ulrike Rosenbach beschäftigt sich auch auf einer ganz konkreten Ebene mit dem Thema Mutterschaft, und zwar in den Videoarbeiten mit Julia, ihrer Tochter, die 1966 geboren wurde. In diesen Projekten setzt sie sich als Künstlerin mit ihrer eigenen Mutterschaft auseinander und reflektiert dabei zugleich kulturelle Mutterbilder. Ich möchte auf zwei dieser Arbeiten kurz eingehen, auf Einwicklung mit Julia von 1972 und Mutterliebe von 1978. Rosenbach experimentiert in ihren ersten Videoarbeiten mit dem Medium selbst und ihrem eigenen Bild. Die Filme von 1972 und 1973 entstehen im Studio, im Closed-Circuit-Verfahren, und sind meist als Selbstporträt angelegt. Viele beziehen sich auf ein noch von den 1950er Jahren geprägtes Frauenbild, das die Frau im Haus verortet und ihre Bewegungsfreiheit einschränkt, beispielsweise Der Muff und das Mädchen (1973), in dem minutenlang Lagen weißer Wolle um die in Großaufnahme zu sehenden Hände einer Frau gewickelt werden, bis ein großer weicher Muff entsteht.34 Bereits in ihrer frühen Objektkunst und in Fotoarbeiten der späten 1960er Jahre beschäftigt Rosenbach sich mit diesem Motiv der Bewegung bzw. UnUnbeweglichkeit, beispielsweise in ihrer Objektserie Hauben für eine verheiratete Frau (1969-1971) oder in den Kragenobjekten von 1971. 32 L. Mulvey: »Visuelle Lust und narratives Kino«, S. 55. 33 S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 58-59. 34 Außerdem Zeichenhaube oder Mon Petit Chou, beide 1973.

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Abbildung 16: Ulrike Rosenbach: »Einwicklung mit Julia«, 1972

Quelle: www.medienkunstnetz.de/werke, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 Auch in Einwicklung mit Julia ist ein Vorgang des Einwickelns zu sehen, und auch hier steht, wie im Fall des zugleich weichen und einengenden Muffs, die Ambivalenz von Geborgenheit und Unfreiheit im Zentrum. Es ist eine ihrer frühesten Videoarbeiten, ein sechs Minuten langer Schwarz/Weiß-Film, auf dem Ulrike Rosenbach selbst und ihre Tochter Julia zu sehen sind.35 Sie sind mit festem Kamerastand in Nahaufnahme von vorne aufgenommen, die Tochter sitzt nackt auf dem Schoß der Mutter, die nur mit einem schwarzen Slip bekleidet ist. Der Bildausschnitt ist so gewählt, dass der Kopf der Mutter knapp über den Augen durch den oberen Bildrand abgeschnitten wird, durch den Körper des Kindes sind ihr Gesicht und Körper fast vollständig verdeckt. Rosenbach wickelt, beginnend auf Julias Brusthöhe, nacheinander mehrere weiße Mullbinden fest um beide Körper. Am Ende ist die Tochter von unterhalb des Bauchnabels bis zu den Achseln an ihre Mutter gebunden; in der letzten Einstellung sieht man beide im Dreiviertelprofil, so dass der Verband, der beide Körper umschließt und sie eng aneinander bindet, gut zu sehen ist. Auch in diesem Video arbeitet Rosenbach mit ruhigen, sachlichen Bewegungen. Der Soundtrack besteht aus schweren Atemgeräuschen. Einwicklung mit Julia reflektiert das eigene ›Verwickeltsein‹ in kulturelle Weiblichkeitsmuster.36 Rosenbach wickelt sich und ihre Tochter ein, so dass aus zwei Körpern einer entsteht, bei dem nur die Arme unabhängig zu bewegen sind. Die Mullbinde versinnbildlicht die engen Bande, die Mutter und Tochter aneinander binden; die Videoarbeit kann als Darstellung dieser engen, körperlichen und emotional-affektiven Bindung gelesen werden. Die Intimität der Bindung wird durch die Nacktheit der beiden Körper und die Nähe der Kameraeinstellung betont. 35 http://www.ulrike-rosenbach.de/video/vid_emj.htm vom 12.9.2012. 36 Butler beschreibt das Verhältnis des Subjekts zur Macht als eine »Beziehung des Verwickeltseins in das, dem man sich widersetzt«; J. Butler: Körper von Gewicht, S. 331.

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Rosenbach streicht die Ambivalenz dieser engen Mutter-Kind-Bindung heraus: die emotionale Nähe ist zugleich eine Fesselung; die Mutter ist dabei diejenige, die die Fesseln anlegt und die Kontrolle über sie hat. Die Mutter-Kind-Beziehung ist insofern als Machtverhältnis dargestellt. Die Mutter bindet die Tochter fest an sich – Einwicklung mit Julia kann auch als Sinnbild einer Mutter-Tochter-Bindung gelesen werden, die die Subjektwerdung der Tochter verhindert. Allerdings wählt Rosenbach eine Mullbinde für die Darstellung, kein Seil oder ähnliches, das die Gewalt der Fesselung betonen würde. Eine Mullbinde ist ein Heilmittel bei Verletzungen, sie schließt Wunden und schützt den Körper vor äußeren Gefahren. Sie ist aus weichem Material, das sich an den Körper anschmiegt, sie ist luftdurchlässig, so dass der Körper nicht verschlossen wird, und sie ist weiß, die Farbe der Unschuld, die so oft mit der Mutter-Kind-Dyade in Verbindung gebracht wird. Die Mullbinde betont die Verletzbarkeit des kindlichen Körpers und versinnbildlicht den Schutz und die Sorge der Mutter. Sie bindet nicht nur den kindlichen Körper an den eigenen, sie schützt ihn auch vor dem Zugriff von außen, umhüllt und festigt seine Oberfläche, legt eine weitere, schützende Haut um ihn (ähnlich weich, luftdurchlässig, verletzlich und fest wie die menschliche Haut). Die Binde erinnert nicht zuletzt an jene Mullbinde, die um den Bauch des Neugeborenen gewickelt wird, um den Nabel zu schützen, jene hochsensible Körperöffnung, die zugleich für Symbiose und Trennung von Mutter und Säugling steht. Die Rückbindung des Kindes an den Körper der Mutter nimmt die geburtliche Trennung zurück und imaginiert die Symbiose beider Körper – als verlorenes Paradies, aber auch als Fessel, die die Subjektwerdung unmöglich macht. Die Nähe der Mutter-Kind-Beziehung bedeutet zugleich Einengung, der mütterliche Schutz zugleich Abhängigkeit; letztlich die Drohung, den kindlichen Körper wieder einzuverleiben, aus zweien wieder einen zu machen. In Einwicklung mit Julia sitzt das Kind im Vordergrund; seine Subjektwerdung steht auf dem Spiel. Die Gewalt der mütterlichen Bindung gilt aber auch umgekehrt: Die Mutter bindet nicht nur das Kind an sich, sondern auch sich an das Kind, nicht umsonst ist der Titel der Aktion Einwicklung mit Julia: Beide werden eingewickelt, aneinander gebunden, für beide bedeuten Nähe und Intimität auch Unfreiheit und Abgrenzung von außen. Die Mutter kommt nicht aus dem engen (Bild-)Rahmen, der ihr in ihrer Rolle als Mutter gegeben ist, heraus. Sie verschwindet in der Aufnahme fast vollständig hinter dem Kind, ist auf ihre Funktion als Mutter im Hintergrund reduziert, und übererfüllt diese Rolle durch die Fesselung des kindlichen an den eigenen Körper. Die Mullbinde ist aber nicht nur Zeichen mit vielfältigem Assoziationsspielraum, sondern wird von Rosenbach auch dezidiert als künstlerisches Material eingesetzt, das in seiner ambivalenten Materialität – Weichheit und Festigkeit – zur Geltung kommt und gleichzeitig einen neuen Körper formt; Rosenbach erzeugt

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gleichsam live eine »lebende Plastik«.37 Dieser Aspekt kommt durch die Reduktion und repetitive Struktur zum Tragen; je länger Rosenbach wickelt, desto mehr treten der Akt des Einwickelns und die Mullbinde selbst, die allmählich die Körper verändert und einen neuen Körper formt, in den Vordergrund. Am Ende ist ein künstlichkünstlerisch geformter, skulpturaler Körper, der die Mutter-Kind-Narration hinter sich lässt, entstanden. Das Tape bricht abrupt ab, so dass das ›Werk‹ als abgeschlossenes kaum existiert. Wesentlich ist der Prozess der Entstehung der KörperSkulptur, der Arbeit an und mit »dem Körper als plastisches Material«.38 Rosenbach reflektiert auf diese Weise nicht nur ihr konkretes Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter, sondern auch das Verhältnis des eigenen Körpers zu sich selbst und zu den Bildern, die von ihm und vor ihm existieren. Ihr eigener Körper ist Objekt ihrer Kunst, wird zu einem Bildgegenstand, der von ihr erst – mit Hilfe der Kamera und der Mullbinden – geschaffen wird. Denn auch wenn die Künstlerin ihren Körper und den ihres Kindes, ihr eigenes Privatleben inszeniert, so streicht sie durch formale Strenge, Isolation und Reduktion doch genau den Moment der Inszeniertheit und Medialität heraus. Die Frage der Beziehung zum eigenen Kind ist nicht zu trennen von medialen Bedingungen und kulturellen Bildvorgaben. Und so fühlt man sich beim Betrachten von Einwicklung mit Julia unweigerlich auch an andere Mutter-Kind-Bilder erinnert, bei denen das Kleinkind auf dem Schoß der Mutter sitzt: an Bilder der Madonna mit Kind. In der abendländischen Kultur ist dieses ›Vor-Bild‹ der Beziehung von Mutter und Kind nicht wegzudenken, weder aus der Rezeption ähnlicher Figurengruppen noch den alltäglichen Selbst-Bildern und Selbstinszenierungen; als Mutter und Frau, als Betrachterin wie als Künstlerin ist man mit dieser Bildvorgabe ›verwickelt‹. Mutterliebe Auch Mutterliebe, ein vierminütiger Farbfilm von 1978, beschäftigt sich mit der Ambivalenz der Mutter-Kind-Bindung. Auf dem Bildschirm ist in Detailaufnahme der Ausschnitt eines seitlich aufgenommenen Gesichts zu sehen, Wange, Ohr, Auge und ein Teil der Stirn. Der Kopf ist leicht vom Betrachter weggeneigt, so dass der Eindruck entsteht, die Wange werde ihm hingehalten. Die Bildfläche besteht größtenteils aus Haut. Immer wieder schiebt sich nun ein Kopf zwischen Betrachter und Gesicht, der für Bruchteile einer Sekunde den gesamten Bildschirm bedeckt. Dieser Kopf ist nur als dunkelhaarige Fläche zu sehen, zu hören sind Kussgeräusche. In dem Moment, in dem der dunkle Kopf verschwindet und den Blick auf das helle Gesicht wieder freigibt, sieht man rote Lippenspuren auf der Haut. Dieser Vorgang wiederholt sich immer wieder, bis die gesamte sichtbare Gesichtsfläche bedeckt ist mit roten Kussspuren. Die Gesichtshaut wird hier zur Bildfläche, die gezeichnet 37 G. Glüher: Ulrike Rosenbach, S. 137. 38 Ebd., S. 149.

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wird von der Liebe der Mutter. Wie einen Stempel drückt sie die rote Markierung auf das Gesicht des Kindes, und je mehr Abdrücke die Gesichtshaut bedecken, desto grotesker sieht diese Markierung aus. Die Lippenform, die zu Beginn noch gut sichtbar ist als indexikalisches Zeichen für den Kuss und die Liebe, wird zunehmend unkenntlich, und die Farbe Rot, die am Ende fast das gesamte Gesicht bedeckt, erinnert nun an Blut und Verletzung. Es scheint ein Wundmal zu sein, das die Mutter ihrem Kind aufdrückt, ein Brandmal, das dem Kind die mütterliche Liebe einbrennt, so dass es nie von ihr loskommen wird. Auch hier ist also die Zwielichtigkeit der Mutter-Kind-Bindung Thema, zwischen Zärtlichkeit und Schmerz, intimer und bedrohlicher Nähe. Der Kopf der Mutter wird nur als dunkler Schatten sichtbar, der den Bildschirm schwarz werden lässt, das Bild für einen Moment vernichtet, das Kind zum Verschwinden bringt. Das Kind wiederum – das übrigens nicht eindeutig als Kind zu erkennen ist, es könnte sich auch um eine junge Frau handeln – ist völlig passiv, nur das Augenlid bewegt sich und der Blick wandert nach unten oder oben. Es bietet sich scheinbar ohne jeglichen Widerstand den Zugriffen der Mutter dar. Bildausschnitt und Kameraperspektive fragmentieren das Gesicht und betonen auf diese Weise seine Passivität und Objekthaftigkeit. Die Detailaufnahme erzeugt zudem, wie bereits erwähnt, den Eindruck der Zweidimensionalität, der Haut als einer Fläche, die es zu beschriften gilt. Auf dieser medialen Ebene spiegeln sich die Einschreibungen der Mutter im Verhältnis des Betrachters zum Bild, der sich mit seinen Blicken in es einschreibt. Das Gesicht des Kindes wird so im doppelten Sinne zur Projektionsfläche – bildimmanent für die Mutter, die es mit ihrer Liebe brandmarkt, auf medialer Ebene für den Betrachter, der es zum Objekt seiner Wahrnehmung macht. Rosenbach hinterfragt auch hier die medialen Bedingungen und verhandelt auf diese Weise die Problematik der Mutter-Kind-Beziehung auch auf der Ebene der Darstellung. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist an die Repräsentation gebunden, und gerade die Mutter-Kind-Beziehung, die in der abendländischen Kultur häufig als Inbegriff des Natürlichen, das aus der Repräsentation herausfällt, betrachtet wird, ist in hohem Maße mit ihr verstrickt. Die Reflexion der Mutter-Kind-Beziehung ist für Rosenbach nicht ohne eine Hinterfragung der Repräsentation möglich, dies wird gerade in den frühen Videoarbeiten, die das Medium selbst befragen, deutlich. Die Ambivalenz der Mutter-Kind-Beziehung als Nähe und Enge, die zur Unbeweglichkeit führt und die Figuren von der Außenwelt abtrennt, wird sowohl auf der Ebene des Bildinhalts als auch der Darstellung verhandelt. Isoliert vor einem neutralen weißen oder schwarzen Hintergrund sind die Körper positioniert, in einen so engen Bildrahmen gezwängt, dass sie nur fragmentarisch zu sehen sind, und weitgehend unbewegt von einer ebenfalls statischen Kamera aufgenommen. Diese Statik lässt sich hinsichtlich der Rolle des Kindes wie der Mutter deuten: das Kind, das durch die Mutterliebe eingeengt wird, und die Mutter, die aufgrund gesellschaftlicher Normen auf ihre Funktion als Mutter festgelegt ist. Bewusste Rahmung, Statik

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und Fragmentierung betonen aber auch Medialität und Inszeniertheit der Bilder und machen die Konstruktion von Mutterschaft und der Idee der Mutterliebe sichtbar. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis von Bild und Text in Mutterliebe: Erst der Titel stellt das Verhältnis der beiden Figuren her, die ansonsten nicht als Mutter und Kind zu erkennen wären. Mutterliebe verweist durch die Namensgebung und die denaturalisierende Bildkonstruktion auf die diskursive Verfasstheit des Konzepts der Mutterliebe, die doch bis in unserer Zeit meist als naturgegebene, ahistorische betrachtet wird.39 Ulrike Rosenbach versucht, Darstellungskonventionen, die das Bild der Mutter in der westlich-abendländischen Gesellschaft prägen, zu hinterfragen und neue Arten der Darstellung zu entwickeln. Sie dekonstruiert Mutterbilder und stellt Ambivalenzen und Widersprüche in den Vordergrund. Die Befragung des Mediums geht Hand in Hand mit einer Hinterfragung auch des eigenen Selbstbilds, der Inszenierung des Selbst im Kontext historischer, gesellschaftlicher und medialer Bedingungen.

2.4 M ARY K ELLYS P OST -P ARTUM D OCUMENT In den Jahren von 1973 bis 1979 erarbeitet die britische Künstlerin Mary Kelly Post-Partum Document. Es handelt sich um ein work in progress, in dem die Künstlerin sich mit der eigenen Mutterschaft und der Beziehung zu ihrem 1973 geborenen Sohn auseinandersetzt. Die ersten drei Teile von Post-Partum Document wurden 1976 am Institute for Contemporary Arts in London ausgestellt, die erste vollständige Ausstellung fand 1984 am Yale Center for British Art in New Haven, Connecticut, statt. Post-Partum Document besteht aus insgesamt sechs Teilen mit 135 Einzelstücken, zuzüglich einer kurzen Einführung. Es umfasst die Entwicklung ihres Sohnes von Geburt an bis zum Alter von fünf Jahren. Jeder der sechs Teile besteht aus einer Reihe von Dokumenten bzw. Objekten aus dem Alltag von Mutter und Kind, wie beispielsweise getragene Hemdchen, gebrauchte Windeln, Handabdrücke oder Abschriften von Lautäußerungen. Diese Dokumente werden beschriftet, teilweise mit Kommentaren der Mutter versehen, einzeln gerahmt und in jeweils einer Reihe auf gleicher Höhe gehängt. Vorangestellt sind Graphen Lacans zur Struktur des Subjekts sowie ein einleitender Text, der die folgende Dokumentation erklärt. Jeder der sechs Teile wird mit einem Experimentum Mentis abgeschlossen, das die jeweilige Entwicklungsphase psychoanalytisch deutet. Die Graphen und Texte werden in der gleichen Weise gerahmt und präsentiert wie die gegenständlichen Dokumente, so-

39 Zur Entwicklung des normativen Musters der Mutterliebe im 18. Jh. vgl. Kap. II.1.3.

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dass Serien gleichformatiger Bilder entstehen. Innerhalb der einzelnen Reihen sind zudem die Bildregeln und die Anordnung der verschiedenen gegenständlichen und schriftlichen Dokumente auf den einzelnen Tafeln einheitlich, sodass die formale Ordnung und das Serielle hervorgehoben werden. Kelly setzt sich in Post-Partum Document auf unterschiedlichen Ebenen mit der Konstruktion von Identität und Geschlechterdifferenz auseinander. Sie orientiert sich an den Entwicklungsphasen ihres Sohnes, die die Subjektkonstitution und Loslösung von der Mutter bedeuten. Ausgangspunkt und Material ist die alltägliche, subjektive Erfahrung der Mutterschaft. Die persönliche Erfahrung wird zugleich versachlicht, Kelly dokumentiert mit wissenschaftlichen Methoden akribisch die alltägliche Entwicklung, sowohl schriftlich als auch durch das Sammeln und Archivieren der Objekte. Es entsteht ein Archiv der Alltagspraxis der Mutter, ein Archiv jenes Wissens, das traditioneller Weise nur im Privaten und Familiären, von Mutter zu Tochter, weitergegeben wird. Die Veröffentlichung dieser als privat angesehenen Alltagspraxis der Mutter stellte in den 1970er Jahren eine Provokation dar, zumal an den benutzten Windeln entzündeten sich heftige Debatten.40 Zudem zieht Kelly psychoanalytische Diskurse über einzelne Entwicklungsphasen und die Beziehung von Mutter und Kind, vor allem Lacans Theorie der Subjektkonstitution in der Sprache, hinzu und versucht auf diese Weise, die eigene Erfahrung des Mutterseins als einen Diskurs zu begreifen und als solchen zu analysieren. Indem Kelly ihre theoretische Analyse auf Lacans Theorie von der sprachlichen Konstitution des Subjekts, seines Begehrens und der Geschlechterdifferenz stützt, untergräbt sie das biologisch determinierte Bild der Mutter, das die bürgerliche Gesellschaft prägt. Sie verschiebt dabei den psychoanalytischen Diskurs von seiner Zentrierung auf das Kind hin zu einer Fokussierung der Mutter – es ist das Begehren der Mutter und die Konstitution des mütterlichen Körpers, die bei Kelly ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Die Präzision der Dokumentation, die Reflexion und Analyse, die Einbeziehung wissenschaftlicher Diskurse über Mutterschaft, und das hohe Maß an formaler Gestaltung, die Isolation der einzelnen Objekte und Dokumente, ihr serielles Arrangement im Raum – all dies führt dazu, dass man nie den Eindruck gewinnt, hier ginge es um die Kommunikation einer unmittelbaren, persönlichen oder spezifisch weiblichen Erfahrung. Denn diese wird durch die Mittel der Rahmung, Isolation und Repetition sowie die inhaltliche Analyse distanziert und denaturalisiert. Kelly deckt auf diese Weise die diskursive Konstitution der persönlichen Erfahrung auf, zeigt, dass auch die Mutter-Kind-Beziehung, üblicher Weise Inbegriff des Natürlichen, Instinktiven, gesellschaftlich determiniert ist. Kelly selbst: »It is not an excavation of female culture, or a valorization of the female body or of feminine experience as such. It is an attempt to articulate the feminine as discourse, and therefore 40 Vgl. C. Butler: Wack!, S. 253; L. Mulvey in M. Kelly: Post-Partum Document, S. 201.

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places the emphasis on the intersubjective relationships which constitute the female subject.”41 Mary Kelly untersucht in Post-Partum Document die Diskurse, intersubjektiven Beziehungen und Praktiken, die Mutterschaft konstituieren. Der mütterliche Körper selbst wird dabei bewusst nicht dargestellt, weder durch den eigenen oder einen Schauspielerkörper, noch durch Bilder oder auditive Elemente. Er kommt nur in sprachlicher Form vor: in den theoretischen Reflexionen und in den Kommentaren und tagebuchähnlichen Texten, die Teil der Dokumente sind. Mutterschaft erscheint so nicht als an den weiblichen Körper gebunden, sondern als diskursiv und performativ hervorgebracht. Sprachliche Akte und Alltagspraktiken wie das Füttern und Wickeln, aber auch die Symbiose und allmähliche Ablösung des Kindes von der Mutter, also das spezifische Verhältnis von Selbst und Anderem, bringen die Mutter erst als Effekt hervor. Mutterschaft wird als Prozess dargestellt, nicht als ein Faktum, das auf biologischen, natürlichen oder instinktiven Eigenschaften der Frau beruhen würde. Die Figur der Mutter wird nicht vorausgesetzt, sie wird nicht abgebildet oder illustriert, sie ist keine gesicherte Größe, sondern Produkt der Zeichen, die uns präsentiert werden, und so immer im Prozess. Auch das Kind wird nicht dargestellt, Zeichen – indexikalische und symbolische – sprechen von ihm, ohne es selbst zur Anschauung zu bringen. Kelly hinterfragt durch diese Auslassung des Körpers auch Darstellungskonventionen, die auf Abbildung oder unmittelbare Präsenz zielen. Die bewusste Auslassung des weiblichen Körpers, die ihr gesamtes künstlerisches Schaffen kennzeichnet, widersetzt sich solchen Darstellungskonventionen der abendländischen Kunst, die den weiblichen Körper als Fetischobjekt konstituieren.42 Kelly bricht auf diese Weise mit dem Objektstatus der Frau und macht sie zum Subjekt der Repräsentation und des Begehrens. Im Vorwort der Buchpublikation von Post-Partum Document 1982 schreibt sie: »Die Verwendung des Körpers der Frau, ihres Bildes oder ihrer Person ist in feministischer Hinsicht problematisch, wenn auch nicht unmöglich. Ich habe in meiner eigenen Arbeit versucht, der vorherrschenden Repräsentation der Frau als Objekt des Blicks entgegenzuwirken, die gängige Vorstellung von Weiblichkeit als einer naturgegebenen Entität zu hinterfragen und stattdessen ihre soziale Konstruiertheit als Repräsentation von Geschlechterdifferenz in verschiedenen Diskursformationen hervorzuheben.«43

Indem Kelly die Abbildung des weiblichen Körpers verweigert, hinterfragt sie auch die Existenz einer Weiblichkeit vor der Repräsentation, deren Inbegriff der mütter41 Zit. nach C. Butler: Wack!, S. 253. 42 Zum Fetischcharakter des weiblichen Körpers vgl. M. Garber: Verhüllte Interessen, S. 171-184. 43 M. Kelly: Post-Partum Document, S. xxii.

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liche Körper ist. Die traditionell weibliche Produktivität des Kinderkriegens wird im Post-Partum Document in künstlerische Produktivität und rationale Reflexion übersetzt; dabei wird das Konzept der männlichen Autorschaft ebenso dekonstruiert wie die Reduktion von Weiblichkeit auf eine biologisch gedachte Mütterlichkeit. Indem Kelly ihre Mutterschaft zum künstlerischen Material und sich selbst als Mutter zur Autorin erklärt, untergräbt sie die Aufspaltung in weibliche Natur und männliches Schöpfertum. Auch durch die Vielstimmigkeit des Projekts – eigene Erfahrungen, psychoanalytische Diskurse, feministische Analyse sowie die ästhetische Ebene der Materialität der Objekte, ihre Gestaltung und Wahrnehmung – hinterfragt Kelly das Konzept von Weiblichkeit als naturgegebener Entität. Die Frau tritt nicht als Bild und nicht als einheitliches Individuum, aber ebenso wenig als ein radikal Anderes auf, sondern in Form verschiedener Rollen: als Mutter, der ihre Mutterschaft sowohl Lust als auch Angst bereitet; als Sammlerin von Objekten des Alltags und der Erinnerung; als Künstlerin, die diese Erinnerungsgegenstände als Material verwendet, sie bearbeitet und zu einem Archiv des kulturellen Wissens formt; als Autorin, die sich zum Subjekt der eigenen Geschichte macht; als Wissenschaftlerin, die die Konstruktion von Weiblichkeit anhand der sozialen, kulturellen und symbolischen Figur der Mutter untersucht. Diese Montage verschiedener Autorschaften denaturalisiert das Konzept der Mutterschaft und verunsichert auch dasjenige des autonomen Künstler-Subjekts. Ready Mades Post-Partum Document beginnt mit einer »Einleitung«, in der Mary Kelly ihre Intention darlegt, »die Wechselseitigkeit des Sozialisationsprozesses während der ersten Lebensjahre« aufzuzeigen. Die mütterliche Identität werde hier ebenso gebildet wie diejenige des Kindes; und diese mütterliche bzw. weibliche Identität hänge mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zusammen, die den »strukturellen Zwang zur Heterosexualität« impliziere.44 Neben diesem kurzen Text besteht die Einleitung aus vier Baby-Wickelhemdchen, auf die Diagramme von Jacques Lacan zur »Intersubjectivity« gedruckt sind (Abb. 17). Die vier Hemdchen sind in gleicher Größe auf weißen Karton aufgezogen und werden nebeneinander präsentiert. Documentation I, Analysed Fecal Stains and Feeding Charts von 1974 dokumentiert akribisch Ernährung und Ausscheidungen des Säuglings in seinem sechsten Lebensmonat, dem Monat, in dem das Kind von der Muttermilch auf feste Nahrung umgestellt wird. Kelly präsentiert zunächst eine Grafik über Gewichtszunahme, Kalorienzufuhr und Muskeltätigkeit und erläutert ihr Vorgehen: »Ich habe den Ernährungsprozess und das Wickeln über einen Zeitraum von drei Monaten aufge44 Ebd., S. 1.

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zeichnet […] Die Gesamtmenge an fester Nahrung betrug am 1. Februar 8 Teelöffel, am 28. Februar 30 Teelöffel. Dem entsprach eine Gewichtszunahme von 7,65 Kilogramm auf 8,24 Kilogramm.«45 In derselben sachlichen Sprache werden verwendete Abkürzungen und medizinische Fakten erklärt. Es folgen 28 Tafeln mit Stoffwindeln – eine von jedem Tag des Februars 1974. Auf den Windeln sind die Abdrücke der Fäkalien ihres Sohnes zu sehen, außerdem das Datum des jeweiligen Tages sowie eine genaue Auflistung der Nahrungsaufnahme einschließlich Uhrzeit und Menge, z.B.: »08.00 HRS. 7 OZS. SMA, 2 TSPS. CEREAL«.46 Kelly vermerkt zusätzlich auf jeder Tafel die Konsistenz des Stuhlgangs mit einem Schlüssel von 01 (Verstopfung) bis 05 (Durchfall).

Abbildung 17: Mary Kelly: »Post-Partum Document«, »Einleitung«, 1974

Quelle: Mary Kelly: Post-Partum Document, S. 6

Analog zu Marcel Duchamps Ready Mades stellt Kelly aus dem Alltag entnommene Gegenstände als Kunstobjekte aus und hinterfragt damit das Verhältnis von Kunst und Alltag sowie von privatem und öffentlichem Raum. Die Gegenstände werden aus ihrer ursprünglichen Funktion gelöst und können auf neue Weise wahrgenommen werden. Kunst wird durch diese Rahmung des Alltäglichen zu einer Frage der Wahrnehmung erklärt und der Betrachter zu einem wesentlichen Teil des Kunstwerks. Duchamps Fountain erregte 1917 die Gemüter in besonderer Weise (mehr als Fahrrad-Rad oder Flaschentrockner), weil das Urinal zu dem tabuisierten Bereich der menschlichen Ausscheidungen gehört. Auch Kellys mit Fäkalien beschmutzte Windeln gehören diesem Bereich an; indem sie sie rahmt und ausstellt, macht sie das Intime und Tabuisierte körperlicher Vorgänge öffentlich. Anders als Duchamp belässt es Kelly allerdings nicht beim Ausstellen ihrer objets trouvés, sondern bearbeitet sie, zum einen durch die Montage mehrerer Ob45 Ebd., S. 9. 46 Ebd., S. 11.

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jekte bzw. Serien von Objekten, zum anderen durch die Beschriftung. So werden die Windeln sowohl mit den Abdrücken des Stuhlgangs als auch mit der Schreibmaschinenschrift beschriftet. Während die Materialität der Schrift betont wird, indem sie sich sichtbar in den Stoff eindrückt, wirken die Fäkalien wie Farbdrucke, sie lassen ihre ursprüngliche Konsistenz und Materialität nicht erkennen. Auf diese Weise werden symbolische Ordnung und konkrete Realität, Schriftspuren und organische Spuren miteinander konfrontiert und zugleich jede dualistische Deutung von Sprache und Körper untergraben. Die organischen Spuren repräsentieren biologische Vorgänge im Gegensatz zur Kulturleistung der Schrift. Während die Schrift für Dauer und Überlieferung steht, veranschaulichen die organischen Spuren das Flüchtige, Vergängliche. Es sind Spuren, die nicht exakt wiederholbar sind und sich so in gewisser Weise der Repräsentation entziehen. Ihre Bedeutung ist nicht fixierbar, so wie auch das Verhältnis von Mutter und Kind nicht fixierbar ist, da es einem ständigen Wandel unterworfen ist. Kelly hebt durch solch flüchtige Spuren die Flüchtigkeit der Mutterschaft hervor, die ständig im Prozess und gerade keine fixe Größe ist. Durch die spezifische Inszenierung der organischen Spuren sowie der Schrift zeigt Kelly aber auch, dass auch das Organische symbolisch verortet ist: die organischen Spuren sind konserviert und, ähnlich der Schrift, nur Spuren, Zeichen eines Abwesenden. Sie sprechen vom Kind, ohne es zu sehen zu geben. Insofern ist den benutzten Windeln auch ein ironischer Gestus immanent: Ausgerechnet die Ausscheidungen, das, was der Körper nicht braucht und von ihm getrennt wird, repräsentieren das neugeborene Subjekt, das selbst wiederum vom mütterlichen Körper getrennt wurde. Die Ausscheidungen stehen zudem – man denke an Kristevas Theorie des Abjekten – für die Verwerfung eines Anderen, das Voraussetzung für die Subjektwerdung ist. Sie symbolisieren Kristeva zufolge den mütterlichen Körper, der verworfen werden muss, um ein Selbst zu entwickeln, werden von Kelly aber gerade nicht als ein Abjektes inszeniert, sondern als Produkt einer künstlerisch-rationalen Formgebung. Auch in dieser Verfremdung des Organischen ist eine Denaturalisierung der Mutter-Kind-Beziehung zu sehen. Die Mutter selbst wiederum tritt als gesichtslose Pflegende und zugleich Formende (nicht) in Erscheinung: als diejenige, die die Windeln wechselt, sammelt und visuell anordnet, sowie als Chronistin einer penibel kontrollierten Diät. Beide, Kind und Mutter, sind nur in Spuren und Zeichen präsent, die sehr wenig mit den Idealvorstellungen der Mutter-Kind-Beziehung zu tun haben. Kelly unterminiert durch die Inszenierung der Windeln kulturelle Vorstellungen von Mutterschaft und verfremdet den eigenen autobiografischen Zugriff. Zum einen stellt Mary Kelly hier alltäglich Spuren ihres Sohnes, seiner grundlegendsten und banalsten körperlichen Vorgänge, aus, die auch für die alltäglichen Verrichtungen der Mutter stehen: Füttern, Wickeln, Säubern. Zum anderen verdeutlicht sie durch die akribische Dokumentation und die Beschriftung, die den Zeichencharakter auch der Fäkalien hervorhebt, dass es sich bei Nahrungsaufnahme

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und Verdauung nicht einfach nur um physiologische, also natürliche Prozesse handelt, sondern dass diese in hohem Maße kulturell eingebunden sind. Die Ernährung eines Kindes richtet sich nach sozialen, historischen und medizinischen Vorgaben, von ihr hängt nicht nur die Gesundheit des Kindes ab, sondern sie steht (in der bürgerlichen Gesellschaft) auch für die Qualität der Mutter, die sich über die Gesundheit des Kindes definiert. Nicht nur der Alltag wird durch das Kind geprägt, sondern die Mutter selbst, ihre Identität als Frau wird durch den ständigen Bezug zum Kind geformt. Die Identität der Mutter ist ebenso wenig naturgegeben, wie es ihre mütterlichen Fähigkeiten sind; durch die pseudo-wissenschaftliche Dokumentation der Ernährung des Kindes dekonstruiert Kelly die Annahme eines natürlichen Mutterinstinkts bzw. eines biologischen Determinismus überhaupt. Die formal strenge Inszenierung der Windeln hebt zudem den Akt der bewussten Gestaltung, die Tätigkeit Mary Kellys als Künstlerin hervor und widersetzt sich auch auf dieser Ebene der Reduktion des Weiblichen auf ein naturhaft Mütterliches. »What have I done wrong?« ist folgerichtig auf einer weiteren Tafel der Documentation I zu lesen; in Lacanscher Manier mit einem Unterstrich versehen und einem S für Subjekt – das Subjekt, das sich selbst als mangelhaft erlebt und abhängig ist vom Anderen (»Das Kind wird zum Symptom der Mutter«, schreibt Kelly). Es folgt, als letzte Tafel dieses ersten Teils, eine theoretische Reflexion des Abstillens: Experimentum Mentis I, Entwöhnung von der Brust. Kelly bezieht sich hier abermals auf Lacan und beschreibt das Abstillen als wesentliche Phase für Mutter und Kind, in der beide aus der symbiotischen Beziehung heraustreten und eine Abwesenheit entdecken. Für das Kind bedeute das Abstillen den Eintritt in die Spiegelphase und damit die Einschreibung eines Mangels, aber auch in die Mutter werde ein Mangel eingeschrieben, da ihre imaginäre Identifikation mit dem Kind als Teil ihrer selbst bedroht werde.47 Serien Für Documentation II, Analysed Utterances and Related Speech Events (1975) zeichnet Kelly in täglichen, zwölfminütigen Sitzungen im Verlauf von fünf Monaten Sprechversuche ihres Sohnes auf, um den Übergang von Einwort-Äußerungen zum strukturierten Sprechen zu untersuchen. Die Dokumentation selbst besteht aus 23 Einheiten, von denen jede einzelne wiederum aus einem hölzernen Druckblock mit spiegelverkehrten Druckstempeln sowie deren lesbaren Abdrücken und einer Karteikarte besteht. Auf den Druckblöcken sind die Lautäußerungen selbst notiert (z.B. »MA-MA«), die Bedeutung, die die Mutter zu erkennen glaubt (»Help me, see this, be there«), ihre Funktion (Wunsch nach Präsenz, Beklagen der Abwesenheit etc.), sowie Datum und das Alter des Kindes in Monaten. Auf den Karteikarten, die unterhalb der Tafeln befestigt sind, wird der Kontext der jeweiligen Lautäußerung 47 Ebd., S. 41.

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dokumentiert (die Situation, Reaktion der Eltern u.ä.). Die dargestellte Lebensphase ist diejenige des Spracherwerbs und des Lacanschen Spiegelstadiums, in dem das Kind ein imaginäres, ideales Selbst im Spiegel erkennt und sich aus der Identifikation mit der Mutter löst. Die letzte Äußerung des Babys ist passender Weise »See Baby there«, als es sich auf einem Foto erkennt.48 Dass Kelly zudem das Spiegelmotiv in Form der spiegelverkehrten Druckstempel verwendet, kann als Hervorhebung des Zusammenhangs von Spracherwerb und imaginärem Körperbild gesehen werden, aber auch als ironische Anspielung auf das Lacansche Konzept des Spiegelstadiums. Solche ironischen Anspielungen finden sich an verschiedenen Stellen des Post-Partum Documents. Sie verweisen darauf, dass es keine Wahrheit des Diskurses gibt, sondern viele Diskurse, die sich durchaus auch widersprechen können. Die Betonung der Materialität der Dokumente hat einen ähnlichen Effekt: Sie stehen für sich, die theoretischen Teile überlagern sie nicht, interpretieren oder illustrieren sie nicht, so dass die Montage beider Elemente auch Reibungen, Widersprüche und Ambivalenzen erzeugt. Auffällig ist auch in diesem zweiten Teil die Präzision der Dokumentation sowie die bewusste Gestaltung und Präsentation. Das Persönliche wird ins Licht der Öffentlichkeit gestellt und durch die sachliche Dokumentation und die rationale Formgebung verfremdet. Strukturgebend ist dabei das Prinzip des Seriellen. Das Serielle steht für eine entindividualisierte Produktionsweise der industriellen Massenproduktion und der Popkultur. Spätestens seit Andy Warhol ist die serielle Reproduktion zu einem ästhetischen Mittel geworden, das den Anspruch auf Originalität verweigert und die Unterscheidung zwischen Alltag und Kunst, populärer und ernster Kultur hinterfragt. Auch Kelly hinterfragt diese Unterscheidung und macht deutlich, dass sie auch eine geschlechtsspezifische ist – privater Alltag ist in der westlichen Gesellschaft weiblich codiert, Öffentlichkeit und künstlerische Autorschaft männlich. Indem sie gerade die Erfahrung der Mutterschaft und die Beziehung von Mutter und Säugling, die als Inbegriff des Intimen gelten, öffentlich verhandelt, hinterfragt sie die Geschlechtsspezifik dieser Unterscheidung ebenso wie die identitätskonstituierenden Mechanismen, die mit ihr einhergehen. Das Prinzip des Seriellen stellt die natürliche Reproduktion – das Kinderkriegen – der industriell-seriellen Reproduktion gegenüber. Die wesentliche Wirkung des Seriellen in Post-Partum Document ist die Denaturalisierung der Mutterschaft, denn es widerspricht nicht nur dem Konzept der Originalität in Bezug auf das Kunstwerk, sondern auch der Vorstellung der Einmaligkeit der mütterlichen Erfahrung. Mütterlichkeit wird gleichsam als Herstellungsprozess vor Augen geführt, und gerade die Vorstellung, Mutterschaft sei ein spezifisch weibliches und nur subjektiv Erfahrbares wird als wesentlicher Teil des Mythos Mutterschaft begreifbar. Das Serielle wirkt dezentralisierend und dehierarchisierend – hier wird nicht die eine Aus48 Ebd., S. 69.

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sage oder Bedeutung in den Vordergrund gestellt, sondern alle Teile gleichermaßen dem Betrachter präsentiert, so dass er Entscheidungen treffen, Aufmerksamkeit verteilen, Verknüpfungen vornehmen muss. Das Prinzip des Seriellen spielt außerdem mit dem Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen – blickt man auf eine der Documentations aus der Distanz, so sehen alle Bildtafeln gleich aus. Man ist gezwungen, nah heranzutreten, um die Schrift lesen, Details erkennen, Unterschiede wahrnehmen zu können. Im Seriellen herrscht das Prinzip der Wiederholung. Es reproduziert und stabilisiert Identitäten, hebt aber auch die Abweichung hervor, das, was nicht wiederholbar ist bzw. die Wiederholung verfehlt. Gerade die strenge Ordnung vermag so, das ihr Andere sichtbar zu machen. Semantisch bezieht sich die Wiederholung in PostPartum Document auf die alltäglichen Wiederholungen derselben Verrichtungen der Mutter, aber auch auf die lustvolle Wiederholungsstruktur der Mutter-KindBeziehung: vom repetitiven, beruhigenden Singsang der mütterlichen Stimme bis zu den nicht enden wollenden Repetitionen einzelner Laute und Worte im Prozess des Spracherwerbs oder der Wiederholungsstruktur der Fort-Da-Spiele. Die Wiederholung steht so zum einen für einen mütterlich-symbiotischen Raum, zum anderen für die Subjektwerdung des Kindes, seine Loslösung von der Mutter. Die Wiederholung versucht, etwas festzuhalten, zu fixieren, und steht doch auch für Differenz und Abweichung und die Unwiderrufbarkeit des Verlusts. Mütterlicher Fetischismus Documentation III, Analysed Markings and Diary Perspective Schema (1975) markiert die tatsächliche Trennung von Mutter und Kind, die Phase, in der das nun zweijährige Kind in den Kindergarten kommt. Kelly nimmt in wöchentlichen Abständen Gespräche mit ihrem Sohn auf. Auf 35,5 x 28 cm großen Bögen Tonpapier sind Zeichnungen bzw. Kritzeleien des Kindes aus dem Kindergarten sowie drei Spalten Text gedruckt: links die kondensierte Transkription des aufgenommenen Gesprächs, daneben die Gedanken der Mutter zu dem Gespräch (etwa »He remembers promises very well«), und rechts, handschriftlich, ihre Reflexionen eine Woche nach der Aufnahme. Die Schrift der Mutter liegt über den Zeichnungen des Kindes, Kind und Mutter sind in der Art historischer Schichtungen miteinander verbunden. Post-Partum Document ist auch eine Arbeit an solchen Bedeutungsund Beziehungsschichten, ein Abtragen dieser Schichten im Sinne einer Dekonstruktion. Kelly greift in diesem dritten Teil, wie auch in Teil IV, auf das Mittel des Tagebuchs zurück. Documentation IV, Transitional Objects, Diary and Diagram (1976) besteht aus acht Tafeln, auf die jeweils ein Gipsabdruck der Hand des Kindes sowie, darunter, kleine Stücke Stoff aus seiner Schmusedecke angebracht sind. Auf das Stück Stoff ist mit Schreibmaschine ein kurzer Text geschrieben. Diese Texte beschreiben in der Art eines Tagebuches subjektive Gefühle und Ängste der Mutter.

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Sie thematisieren ihren Wiedereinstieg in die Arbeit außer Haus und die damit verbundene Trennung vom Sohn: »Coming back from work this week, I realized that I was'nt thinking about K so often […] I felt a bit guilty […]”.49 Das Tagebuch ist ein Medium der Selbstvergewisserung und zeichnet sich durch einen hohen Grad an Subjektivität sowie die Identität von erzählendem und erzähltem Ich aus. Es wird gewöhnlich nicht mit dem Ziel einer Veröffentlichung geschrieben, das Ausstellen von tagebuchähnlichen Texten hinterfragt abermals die Trennung von privat und öffentlich, Alltag und Kunst. Das Tagebuch ist zudem eine traditionelle Form weiblichen Selbstausdrucks,50 Kelly konfrontiert sie mit sachlicher Dokumentation, theoretischen Diskursen und kritischen Reflexionen. Aber auch die Tagebuchaufzeichnungen selbst werden verfremdet, indem sie bewusst gestaltet, durch die Bildregeln rationalisiert und in die Logik der Serie eingeordnet werden. Nicht die Authentizität des Mitgeteilten und die Individualität der Autorin werden betont, sondern die Durchdringung des Selbst von diskursiven Ordnungen. Die Vorstellung eines Selbstausdrucks, wie sie die Gattung Tagebuch impliziert, wird durch die klare Form konterkariert: es geht nicht um den spontanen Ausdruck einer inneren Wahrheit, sondern um die Konstruktion dieser Innerlichkeit durch Sprache, Alltag, Tradition und gesellschaftliche Normen. Der Handabdruck selbst ist ein plastisches Element. Er ist aus Gips gefertigt und assoziiert so übliche plastische Gestaltungsverfahren. Er ist zugleich objekthaft und ein künstlerisch gestaltetes Zeichen für die Hand des Kindes. Die Stückchen der Schmusedecke hingegen sind Fragmente des Alltags, die erst durch Anordnung und Rahmung zu Kunst erklärt werden. Sie sind zweifach beschriftet: Zum einen ist der Tagebuchtext auf sie getippt, zum anderen sind sie auf schmale Kartonstreifen gelegt, auf denen Nummer, Datum und Alter des Kindes vermerkt ist. Die Beschriftung ordnet sie so einerseits in die Logik des Archivs ein und verleiht ihnen eine Chronologie, andererseits prägt sie subjektive Empfindungen in sie ein. Sie stehen für das Kind; eine Schmusedecke ist ein Übergangsobjekt, mit dem es die Distanz zur Mutter überbrückt. Kelly verwandelt sie durch die Einprägungen ihrer Schrift in ein Übergangsobjekt für die Mutter, das für das selbstständig werdende Kind steht – die Mutter-Kind-Einheit ist zerrissen, so wie das Deckchen (planvoll in gleich große Stücke) zerteilt ist. Kelly zufolge sind diese Stücke der Schmusedecke – wie der Titel der Documentation IV sagt – »transitorische Objekte«, die den Verlust des Kindes für die Mutter zugleich repräsentieren und erträglich machen. Kelly entwickelt anhand der Schmusedecke in gewisser Weise die Theorie eines mütterlichen Fetischismus. An die Stelle des weiblichen Körpers als Fetischobjekt tritt ein weibliches Subjekt des Begehrens.51 49 Ebd., S. 99. 50 Vgl. R. Kroll: Metzler Lexikon Gender Studies, S. 28. 51 Zum weiblichen Fetischismus vgl. N. Schor: »Weiblicher Fetischismus«.

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Sammeln, Archivieren, Montieren Das Sammeln, Archivieren und Dokumentieren von Objekten aus der Realität erinnert an Verfahren der Geschichts- oder Naturwissenschaften. Das Sammeln und Archivieren hält die Objekte fest, fixiert und benennt sie und stiftet einen Zusammenhang, sei dieser organisatorischer oder inhaltlicher Natur. Das wissenschaftliche Sammeln dient aber nicht nur der Fixierung von Objekten und Wissen, sondern auch dem Sichtbarmachen von Verborgenem, dem Abtragen von Schichten und dem Bergen dessen, was vergessen zu gehen droht. Durch Sammeln und Archivieren werden gefundene Gegenstände dekontextualisiert und in einen neuen Zusammenhang gebracht. Als künstlerisches Verfahren widersetzt es sich konventionellen Vorstellungen eines künstlerischen Schaffensprozesses, es verabschiedet das Konzept der Originalität und des Schöpfertums, da es auf Vorhandenes zurückgreift, das arrangiert und montiert wird, nicht aber neu erfunden. Und auch im Künstlerischen vermag das Sammeln, Schichten verkrusteten Wissens abzutragen, Verborgenes und Vergessenes sichtbar zu machen. Mary Kelly macht den Alltag der Mutter sichtbar, birgt Alltägliches, das im öffentlichen Bewusstsein verloren zu gehen droht, und gräbt unter dem Bild der glücklichen Mutter, die eine Einheit mit ihrem Kind bildet und als Subjekt in der Mutterschaft aufzugehen scheint. Mutterschaft gilt als Inbegriff des privaten Lebens, das bis in die 1970er Jahre von den Geschichts- und Sozialwissenschaften nur am Rande beachtet wurde.52 Sie wird in der bürgerlichen Kultur mit Natur gleichgesetzt und ist deshalb aus vielen – auch künstlerischen – Diskursen ausgeschlossen. Post-Partum Document nimmt die Perspektive der Mutter ein, dekonstruiert Mutterschaft und Mutter-Kind-Beziehung, und macht auf diese Weise auch das Politische des scheinbar Natürlichen sichtbar. Kellys künstlerisches Verfahren im Umgang mit dem dokumentarischen Material ist neben dem Sammeln und Archivieren die Montage. Sie montiert heterogene Zeichen und Diskurse, so dass nicht ein einheitliches, abgeschlossenes Kunstwerk entsteht, sondern eine Collage, in der die einzelnen Elemente ihre Fremdheit bewahren. Die Montage wurde schon in der klassischen Moderne sowohl in der bildenden Kunst – etwa den papiers collés der Kubisten – als auch auf dem Theater – bei den Dadaisten und Futuristen – für die Öffnung der Kunst auf die Realität hin eingesetzt. Sie bedeutet eine Absage an den traditionellen Kunstwerks- und Künstlerbegriff; gerade die Montage von Realitätsfragmenten verabschiedet die Autonomie des Kunstwerks und seine Abbildungsfunktion und hinterfragt das Verhältnis von Kunst und Realität. Die künstlerischen Mittel, ihre je spezifische Materialität und der Produktionsprozess der Kunst werden in den Vordergrund gestellt.53 Durch 52 Vgl. P. Ariès/G. Duby: Geschichte des privaten Lebens, Bd. 1, S. 7-8. 53 Zur Montage als »Paradigma der Moderne« vgl. P. Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 98-116.

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die Einreihung der einzelnen Objekte in die lineare Logik der Bildregeln und der Hängung wird in Post-Partum Document die Fremdheit der Realitätsfragmente allerdings relativiert. Präsentiert wie eine Sammlung in einem naturkundlichen Museum, steht hier nicht die Heterogenität der Elemente im Vordergrund, sondern vielmehr die Setzung des Alltagsmaterials als selbstverständlichem Bestandteil von Kunst und/oder Wissenschaft. Die Alltagspraxis der Mutter wird als konstitutiv für Kultur und Geschichte präsentiert, nicht als das ihr Andere, als das das Mütterliche in der patriarchalen Kultur konzipiert ist. Auch in Documentation V, Classified Specimens, Proportional Diagrams, Statistical Tables, Research and Index (1976-77) widersetzt sich Kelly dem Konzept des Mütterlichen als einer sprachlosen Essenz. Es versammelt Blüten und Insekten, die der Sohn der Mutter im Alter von drei bis vier Jahren geschenkt hat, sowie kurze Dialoge zwischen Mutter und Kind, bei denen das Kind den Körper der Mutter, Sexualität und Geschlechterdifferenz thematisiert: »Mummy, where’s your Willy?« – »I haven’t got one. I’m a girl, you’re a boy […]«.54Außerdem Ausschnitte anatomischer Zeichnungen des weiblichen Unterleibs während der Schwangerschaft und, alphabetisch geordnet, Begriffe aus der medizinischen Geburtshilfe, z.B. »Foetus, Foetal Death, Foetal Distress, Foetal Stethoscope […]«.55 Die Gegenüberstellung wissenschaftlicher Bezeichnungen und Fragen des Kindes konfrontiert zwei vermeintlich entgegengesetzte Bereiche miteinander, auch hier ist die Form der Präsentation beider allerdings gleich (gleiche Schrifttype, gleiche Setzung etc.). Erst beim Lesen werden die Fragen des Sohnes zu einem Störkörper in dem wissenschaftlichen Kontext, der den mütterlichen Körper objektiviert und auf seine Reproduktionsfunktion reduziert. Kelly hinterfragt den biologischen Determinismus, den diese Konstruktion des weiblichen Körpers bezeugt, zeigt aber auch, dass die Sprache des Kindes nicht ›unschuldig‹ ist, sondern selbst Teil symbolischer Konstruktionen von Körper und Identität. Sprache und Schrift Documentation VI, Prewriting Alphabet, Exergue and Diary (1977-78) dokumentiert die Phase, in der das Kind anfängt, lesen und schreiben zu lernen, und endet mit dem Eintritt in die Vorschule. Sie besteht aus 15 Schiefertafeln, die jeweils, dem Stein von Rosette nachempfunden, auf den ein Text in altägyptischen Hieroglyphen, Altgriechisch und Demotisch eingemeißelt ist, mit drei verschiedenen Schriften beschrieben sind: im oberen Drittel – analog zu den Hieroglyphen – die Buchstabenversuche des Sohnes, in der Mitte die Kommentare der Mutter in Druckschrift, und im unteren Abschnitt ein Tagebuchauszug, mit der Maschine geschrieben. Die Kommentare beziehen sich direkt auf die Schreibversuche des Soh54 M. Kelly: Post-Partum Document, S. 116. 55 Ebd., S. 133.

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nes, die Tagebuchtexte beschreiben die Suche nach einer geeigneten Vorschule und den Schuleintritt im Alter von 4 ½ Jahren im April 1978. Dieser sechste und letzte Teil des Post-Partum Documents dokumentiert die Installation von Sprache und Gesetz in Form der Alphabetisierung und des Schuleintritts sowie die Auflösung der Mutter-Kind-Einheit. Ästhetisch betrachtet wirken die Tafeln von Documentation VI vor allem durch die Materialität des Gesteins und die drei verschiedenen Schrifttypen. Die Analogie zum Stein von Rosette schreibt die Subjektwerdung des Sohnes in die Kulturgeschichte der Menschheit ein und fragt zugleich nach der Übersetzbarkeit von Sprache, Schrift und subjektiver Perspektive.56 Die lineare Logik der Schrift wird als Ordnungsmuster erkennbar, das unsere Geschichte, unsere Wahrnehmung und Empfindungen bestimmt. Sie macht die Schriftzeichen wiederholbar und stiftet Bedeutung durch Differenz. Die Differenz als Funktionsprinzip von Sprache ist Kennzeichen der Subjektwerdung, der Ablösung von der Mutter. Die Schriftzeichen des Sohnes verweisen in ihrer Uneindeutigkeit aber auch auf die Sprachlosigkeit vor der Subjektdifferenzierung. Indem Kelly auch hier die Form nicht auflöst, stellt sie Sprache und Sprachlosigkeit nicht einander diametral gegenüber und widersetzt sich so den binären Strukturen, die abendländisches Denken prägen. Allerdings funktionieren auch die Schreibversuche des Sohnes schon über Differenz: O und X sind in die ersten Tafeln eingeritzt. Ähnlich wie im Fall der spiegelverkehrten Buchstaben spielt Kelly auch hier mit den theoretischen Diskursen, die sie verwendet, in diesem Fall der poststrukturalistischen Theorie. Die Bewegung der Differenz, aus der dieser zufolge Bedeutung und Identität entstehen, widerspricht Annahmen einer vorsprachlichen Essenz ebenso wie einer biologisch determinierten Geschlechtsidentität. Dieser letzte Teil des Post-Partum Documents reflektiert nicht nur die Auflösung der Einheit von Mutter und Kind durch Sprache, Schrift und Gesetz, sondern, wie bereits erwähnt, auch das Wesen der Schrift und die Frage der Übersetzbarkeit. Die Mutter ist dabei Autorin der syntaktisch, semantisch und graphisch korrekten Schriftsprache sowie Übersetzerin der Schrift des Kindes, also Bindeglied zwischen Kind und Außenwelt. Kelly hinterfragt damit auch die geschlechtsspezifische Zuordnung von mit Mütterlichkeit assoziierter Sprachlosigkeit und mit Väterlichkeit assoziiertem sprachlichen Gesetz. Die Steintafeln, in die Schrift eingraviert wurde, stehen für beides: für eine konkrete Körperlichkeit, und für die symbolische Ordnung. Bei Kelly ist auch die Mutter beides: mütterlicher Körper, der sich durch die Beziehung zum Kind konstituiert, und Subjekt des Symbolischen, als das sie ihren Sohn in Sprache, Schrift und Gesellschaft einführt. ›Mutter‹ ist bei Kelly keine fixe Größe, Essenz oder abgeschlossene Identität, sondern ein Prozess, der ständig neu formuliert und verhandelt wird aus der Beziehung mit dem Kind, aus unterschiedlichen Diskursen und alltäglichen, performati56 Der Stein von Rosette war wesentlich für die Entschlüsselung ägyptischer Hieroglyphen.

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ven Akten. Kelly selbst tritt in diesem Prozess als Autorin, Künstlerin, Kritikerin, als Formende und Sprechende – mithin in traditionell männlichen, nicht-mütterlichen Positionen –, nicht aber als Bild in Erscheinung. In den populären und psychoanalytischen Diskursen über Mutterschaft, die sie heranzieht, wird die Mutter in erster Linie als Objekt des Begehrens des Kindes analysiert; Mütterlichkeit und die Idealisierung der Mutter erscheinen als Produkt der kindlichen Perspektive bzw. des kindlichen Narzissmus. Die Mutter ist so weitgehend funktionalisiert, als Subjekt des Begehrens kommt sie nicht vor. Kelly hingegen erklärt die Mutter zu einem solchen Subjekt des Blicks, der Sprache und des Begehrens. Über die psychoanalytische Theorie von Freud und Lacan hinausgehend nimmt sie die Perspektive der Mutter ein und entwickelt ein Konzept des mütterlichen Fetischismus. Indem Kelly ›transitorische Objekte‹ der Mutter und des Kindes ausstellt, macht sie die mütterliche Fetischisierung des Babys explizit und zeigt zugleich den fetischistischen Charakter der Kunst bzw. der Repräsentation überhaupt. Und sie inszeniert eine Mutter, die Subjekt des Begehrens und der Repräsentation ist. Indem Kelly Mutterschaft als Effekt diskursiver, alltäglicher und künstlerischer Akte ausweist, macht sie bewusst, wie wenig ›Natürliches‹ an Mutterschaft ist. Diese anti-naturalistische Grundtendenz zeigt sich in Kellys Verzicht auf Bilder. Sie verweigert nicht nur die Abbildung des weiblichen Körpers, sondern Abbildung von Realität überhaupt und verwendet statt dessen Arten von Zeichen, die in der westlichen bildenden Kunst von der Renaissance bis in die Moderne hinein kaum eine Rolle spielen: die Schrift sowie indexikalische Zeichen wie die Handabdrücke oder Windeln des Kindes. Post-Partum Document untersucht nicht nur die Erfahrung der Mutterschaft, sondern auch die Möglichkeiten der Darstellung jenseits der Konventionen realistischer Abbildung. Anstatt sich auf Bildvorgaben wie etwa die christliche Ikonografie zu beziehen, versucht Kelly, eigene Darstellungsstrategien zu entwickeln, um Vorannahmen über das Mütterliche sowie der Geschlechtsspezifik abendländischer Repräsentationsmuster zu entgehen. Während Künstlerinnen wie Carolee Schneemann oder Ulrike Rosenbach Darstellungskonventionen und namentlich das Verhältnis von Subjekt und Objekt der Wahrnehmung anhand der Inszenierung ihres eigenen Körpers ausloten, lässt Mary Kelly diesen Körper bewusst aus. Sie geht zwar von der eigenen, subjektiven Erfahrung aus, distanziert sie aber durch künstlerische Verfahren der Montage und des Seriellen. Der Körper der Mutter wird gerade nicht als vorsprachlicher präsentiert, der das Ideal einer symbiotischen Einheit aufrufen würde. Als Sprechende untergräbt Kellys Mutterfigur die patriarchalische Ordnung und kann aktiv werden: »Und genau in solchen Momenten äußert sich auch das Begehren, zu sprechen und Veränderung zu wagen«, schreibt Kelly am Ende von Post-Partum Document.57 57 Ebd., S. 190.

3. Selbstinszenierung mit Kind: Mutterschaft in Fotografie und Videokunst

Ulrike Rosenbach setzt sich in Glauben sie nicht, daß ich eine Amazone bin mit dem Bild der Jungfrau Maria auseinander; und auch Videoarbeiten wie Einwicklung mit Julia lassen den Bezug zu dieser Darstellungskonvention von Mutterschaft erkennen. Die Traditionen der Marienikonografie bilden bis heute vor allem für Künstlerinnen eine Vorlage für die Auseinandersetzung mit Identitäts- und Rollenbildern. Bereits in der bildenden Kunst der Moderne wurde diese Bildtradition aufgegriffen und mittels denaturalisierender Verfahren hinterfragt, beispielsweise in Die Jungfrau haut das Jesuskind vor drei Zeugen von Max Ernst (1926) oder Hannah Höchs Mutter (1930), ein Bildnis, das durch die Collagetechnik die kulturelle Konstruktion des Mutterbildes hervorhebt. In den 1970er Jahren lebt diese Auseinandersetzung im Zuge der zweiten Frauenbewegung wieder auf und Künstlerinnen beschäftigen sich mit dem Bild der Madonna als Inbegriff eines als überholt erlebten Weiblichkeitsstereotyps. Diese kritische Auseinandersetzung geschieht häufig anhand der Inszenierung des eigenen Körpers. So stellt Valie Export 1976 in mehreren Fotomontagen kunstgeschichtliche Frauendarstellungen mit dem eigenen Körper nach und ergänzt sie um moderne Haushaltsgeräte. Sie montiert sich beispielsweise in Geburtenmadonna und Strickmadonna (beide 1976) vor eine Abbildung der römischen Pietà von Michelangelo (um 1499), zwischen ihren Beinen bzw. auf ihren Armen hält sie statt des Körpers Jesu eine Wasch- bzw. Strickmaschine. Die Pietà von Michelangelo aus dem Petersdom gilt als eines der bedeutendsten Werke abendländischer Bildhauerei und ist sicherlich die bekannteste Darstellung dieses Motivs. Indem Valie Export diese Skulptur als Vorlage verwendet und Alltagsgegenstände an die Stelle des Körpers Christi setzt, parodiert sie sowohl das Konzept des Märtyrertums, das in der Figur der Maria tradierte Weiblichkeitsbild, als auch die Darstellungskonvention der Verkörperung und die Trennung von Hoch- und Alltagskultur. Sie kontrastiert das Ideal der reinen, aufopfernden, schmerzensreichen Mutter mit dem Alltag der Mutter in der Realität: mit Strick- und Waschmaschine, sowie mit den in der christlich ge-

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prägten Kultur ausgeschlossenen, als unrein geltenden körperlichen Vorgängen wie Menstruation und Geburt, auf die die gespreizten Beine Exports sowie ein aus der Waschmaschine fließendes, blutrotes Tuch verweisen. Die parodistische Brechung der Bildvorgabe stellt in Geburtenmadonna und Strickmadonna nicht nur das Verhältnis von Ideal und gesellschaftlicher Alltagsrealität in Frage, sondern untersucht auch die Beziehung der Künstlerin zu diesen Bildtraditionen. Indem sie sich selbst an die Stelle der Maria montiert und ihre Pose mit dem eigenen Körper nachvollzieht, reflektiert Valie Export das Verhältnis des eigenen Körperbildes zu den tradierten Vor-Bildern ebenso wie die Normierung ihres Körpers durch die Alltagspraxis. Die künstlerische Technik der Montage verabschiedet dabei die Vorstellung eines natürlichen Körpers. Solche Auseinandersetzungen mit der Figur der Mutter gibt es in der bildenden Kunst gerade von Frauen bis in die Gegenwart. Meist greifen die Künstlerinnen dabei auf die ikonografischen Traditionen des Marienbildes oder auch stereotype Darstellungsmuster der Mediengesellschaft zurück; oft wird das Thema, zumal in der Fotografie, anhand des eigenen Körpers verhandelt und auf diese Weise dessen Verhältnis zu kulturellen Vorstellungen von Mutterschaft ausgelotet. So inszeniert sich beispielsweise Rosemarie Trockel in Studie für einen Titel aus dem Jahr 2002 als Schwangere. Trockel steht vornüber gebeugt mit Blick auf ihren Bauch, den sie mit beiden Händen in einer für die Darstellung von Schwangeren typischen Geste umfasst. Das rüschenbesetzte Kleid, das sie trägt, spannt auffällig über dem hochschwangeren Bauch, auch die Brüste treten deutlich hervor. Trockel trägt auf der Fotografie einen künstlichen Schwangerschaftsbauch und künstliche Brüste, sie selbst hat nie ein Kind ausgetragen. Sie inszeniert so einerseits eine andere Möglichkeitsform ihrer selbst, exponiert andererseits die äußeren Zeichen für einen als natürlich gedachten Zustand. Ihr Körper ist zwar nicht auf den ersten Blick konstruiert, aber doch deutlich durch kulturelle Zeichen wie der Schnitt des Kleides, Pose, Geste und Bildausschnitt als schwanger inszeniert. Trockel stellt das Weiblichkeitsbild der Schwangeren aus und zugleich seine Naturgegebenheit in Frage. Die Selbstinszenierung als Schwangere mittels äußerer Zeichen hinterfragt Darstellungsmuster des mütterlichen Körpers ebenso wie ihr eigenes Selbst- und Körperbild als Frau und Künstlerin, und auch das Medium der Fotografie als Dokumentation von Realität.1 Die meisten künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Figur der Mutter seit den 1970er Jahren hinterfragen das Verhältnis von Natur und Kultur, von natürlichem und kulturell konstruiertem Körper, sowie von Intimität und Öffentlichkeit. 1

Das Foto wurde 2002 als Titelbild der Zeitschrift du in Auftrag gegeben und dann abgelehnt, vermutlich, weil es nicht die ›echte‹ Künstlerin Trockel zeigt, sondern eine schwangere, was scheinbar nicht mit dem Bild der Künstlerin zu vereinbaren war; vgl. S. Theill: doublebind, S. 18.

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So porträtiert die niederländische Fotografin Rineke Dijkstra in einer Serie von 1994 Frauen kurz nach der Entbindung. Nackt oder lediglich mit einer Krankenhausunterhose bekleidet stehen die Frauen aufrecht vor einer weißen Wand und blicken in die Kamera, auf ihrem Arm das ebenfalls nackte Neugeborene. Singuläre Intimität und nüchterne, öffentliche Präsentation gehen hier eine subtile Verbindung ein. Physiologische Spuren wie Bluttropfen, eine frische Narbe oder verschwitzte Haare verweisen auf den biologischen Vorgang der Geburt; die Nacktheit der Frauen und die Nüchternheit der Inszenierung verleiht der Mutterschaft etwas Faktisches. Die offensichtliche Inszenierung selbst und Elemente wie die kahlen Krankenhauswände, am Rand sichtbare Steckdosen oder die Krankenhausunterhose betonen hingegen die kulturelle Einbindung des Vorgangs der Geburt. Auch in dieser Serie ist der Bezug zur ikonografischen Tradition gegeben; Dijkstra entkleidet den Bildtypus Mutter und Kind gleichsam auf einen existentiellen Kern und legt dabei auch die gestalterischen Mittel offen. Auf ganz andere Weise experimentiert die Künstlerin Claudia Rogge in ihrem Video-Projekt Birth-Build (1999/2000) mit dem Verhältnis von Natur und Kultur, Intimität und Öffentlichkeit. Rogge projiziert großformatige Bilder einer Geburt, aufgenommen in Nahaufnahme, auf Fassaden unterschiedlicher Bauwerke in Städten wie Berlin, Hamburg, Wien u.a. Es handelt sich um eine ca. 60 Sekunden lange Sequenz, die die Phase der Geburt des Kopfes zeigt, und die im Loop abgespielt wird. Die Projektionsflächen sind Gebäude mit einer spezifischen gesellschaftlichen Funktion wie etwa Kirchen, Banken, Kliniken oder Bordelle. Der mit Intimität und Biologie assoziierte Vorgang der Geburt eines Kindes, der meist unter Ausschluss der Öffentlichkeit vonstattengeht und mit Tabus belegt ist, wird mit dem öffentlichgesellschaftlichen Raum kontrastiert, menschliche Reproduktion mit kultureller Produktion. Auf visuell-sinnlicher Ebene gehen die Bilder vom menschlichen Körper, seinen Flüssigkeiten und Unwägbarkeiten, vielfältige Beziehungen ein mit den baulichen Oberflächen, auf die sie projiziert werden. Bei längerer Betrachtung wird deutlich, dass auch die Geburt und zumal ihre filmische Dokumentation und Projektion kulturelle Prozesse sind, und nicht ein rein natürlicher Vorgang; beispielsweise durch die helfende Hand, die mit im Bild ist, sowie die filmischen Mittel des Loops, des Bildausschnitts und der Perspektive. Intimität und Öffentlichkeit, natürlicher Körper und Kulturkörper, subjektive Erfahrung und Gesellschaft befragen sich in diesem Projekt wechselseitig, ohne dass ein eindeutiges Verhältnis etabliert würde. Ich möchte im Folgenden auf Künstlerinnen eingehen, die sich in jüngerer Zeit in ihrer fotografischen Arbeit und in Form der Selbstinszenierung auf unterschiedliche Weise mit der Tradition der Marienikonografie auseinandersetzen: Cindy Sherman, Birgit Dunkel und Judith Samen; sowie auf die fotografischen Selbstinszenierungen Daniela Comanis und eine Videoarbeit über Mutter- und Vaterbilder von Candice Breitz. In ähnlicher Weise wie die Performance- und Body Art der 1970er Jahre sich auf Bildmedien bezieht, um bildhafte Weiblichkeitsentwürfe zu

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erforschen, so betonen auch fotografische Inszenierungen der 1990er Jahre bis heute den Körper als Ort der performativen Konstruktion solcher Identitätsentwürfe und untersuchen das Verhältnis von Körper und Bild sowie, bezogen auf den mütterlichen Körper, von Natur und Kultur.

3.1 C INDY S HERMAN In den späten 1980er und 90er Jahren beschäftigt sich Cindy Sherman unter anderem mit den Traditionen der Marienikonografie, indem sie diese dekonstruiert oder die Idealkörper zu grotesken Körpern verformt. Cindy Sherman ist für ihre Selbstporträts bekannt geworden, die nicht die Künstlerin als Individuum porträtieren, sondern in denen sie sich selbst in vielfältigsten Rollen inszeniert. Der Akt der Inszenierung ist dabei immer sichtbar, so dass die Maskeraden nicht die Funktion haben, ein ursprüngliches Wesen, eine ursprüngliche (weibliche) Identität zu verdecken, sondern vielmehr Identität erst als ihren Effekt erzeugen. Sherman untersucht unter Rückgriff auf Weiblichkeitsbilder aus der Film-, Fotografie- und Malereigeschichte die performative Hervorbringung von (Geschlechts-)Identität mittels äußerer Zeichen wie Pose, Kostüm, Maske, Frisur und Setting. Die Bilder verweigern sich einer abbildenden Funktion, sie stellen mittels Posen und Masken Identität als Oberflächeneffekt her, der die Illusion von Tiefe erzeugt, diese aber zugleich als Illusion dekuvriert. So verfremdet sie etwa die Vorstellung der leidenden Mutter in Ohne Titel (MP # 304) von 1994, indem sie das Motiv der Pietà mit Versatzstücken von Gliederpuppen, Perücken, weißer Gipsmaske und überdimensionierten Handschuhen inszeniert. Im Fall der History Portraits, einer Serie großformatiger Farbfotografien aus den Jahren 1989 und 1990, orientiert Sherman sich an Porträts der abendländischen Kunst von der Frührenaissance bis um 1800, stellt aber nicht unbedingt exakt einzelne Bilder nach, sondern imitiert Gestus und Darstellungsweise mittels Kostüm, Maske, Setting und Requisiten.2 Sherman dekonstruiert in den History Portraits das klassische Tafelbild ebenso wie das Konzept des genialen Künstlers durch Übertreibung, ironische Brechung und den offensichtlichen Montagecharakter der Bilder. Indem sie die Darstellungskonventionen gerade des Porträts ausstellt, die »Fälschungen« des scheinbaren Abbilds einer Person,3 legt sie den Konstruktionscharakter von Identität offen. Untitled # 216 zeigt eine stehende Marienfigur mit einem in ein weißes Tuch gewickelten Säugling auf dem Arm (Abb. 18). Den Bildhintergrund bildet ein aus

2

C. Sherman: History Portraits. Vgl. C. Schneider: Cindy Sherman.

3

Sherman selbst hat wiederholt von »Fälschungen« in Bezug auf die Malerei gesprochen, vgl. C. Sherman: History Portraits, S. 13.

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dem Alltagsbereich entnommener Spitzenvorhang, auf dem kleine Engelsfiguren zu erkennen sind, ein ironischer Verweis auf die Hintergrundstoffe, die in der Marienikonografie häufig die Figur der Maria hervorheben. Shermans Maria trägt eine goldene Krone, ein goldenes Brokatkleid und einen blauen Umhang, der über ihrer rechten Schulter und ihrem linken Arm liegt und ihren Körper rahmt. Das Kleid ist über der einen Brust geöffnet, an der Stelle der natürlichen Brust sitzt eine Prothese. Die Prothese ist, wie in allen Bildern Shermans, die mit solch künstlichen Versatzstücken des menschlichen Körpers arbeiten, deutlich als solche zu erkennen, sie ist sichtbar auf den Körper gesetzt und wirkt auch durch ihre runde Form künstlich. Sie ragt, fast genau in der Bildmitte, aufrecht nach vorne aus dem Dekolleté heraus, und ist auf diese Weise als Blickfang in Szene gesetzt. Shermans Haltung ist aufrecht, der Kopf leicht nach unten geneigt, die Lider gesenkt.

Abbildung 18: Cindy Sherman: Untitled # 216, 1989

Quelle: Cindy Sherman: History Portraits, Tafel 4

Prothesen verwendet Sherman bereits in ihren Serien Fairy Tales (1985) und Desasters (1986-89), hier wie in History Portraits und späteren Arbeiten denaturalisieren die Prothesen die Darstellung und den menschlichen Körper, stellen das Fragmentarische des Körpers aus und hinterfragen die Grenze zwischen Natur und Künstlichkeit, Mensch und Puppe. Untitled # 216 kann allgemein als Re-Inszenierung des Typus der Maria Lactans bzw. der stehenden oder thronenden Madonna gelesen werden, orientiert sich aber im Besonderen an Jean Fouquets Madonna von Melun, der rechten Seite eines

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Diptychons der Kirche Notre-Dame in Melun (um 1452). Fouquet stellt Maria als thronende Himmelskönigin und den Schönheitsidealen seiner Zeit entsprechend dar, sehr schlank, mit sehr weißer Haut, langem Hals und hoher Stirn. Sie sitzt aufrecht auf einem Thron, das Jesuskind sitzt ebenfalls aufrecht auf ihrem rechten Knie, den Bildhintergrund bilden rote Serafim und blaue Cherubim. Maria trägt eine Krone, einen weißen Umhang und ein blaues Kleid, das über der einen Brust aufgebunden ist, die nackte, runde Brust sitzt ungewöhnlich hoch und aufrecht. Die Präsentation der nackten Brust ist ein Motiv des Maria Lactans-Typus, meist als Ostentatio bezeichnet, im Falle der Melun-Madonna aber »ungewöhnlich ostentativ«.4 Das Gemälde macht aus heutiger Sicht den Eindruck antirealistischer Inszeniertheit: die klare, kräftige Farbgebung (rot, blau, weiß), die Pose der Madonna mit leicht abgespreizten Armen, die ostentative Präsentation der künstlich wirkenden Brust. Im Unterschied zur üblichen Darstellungsweise des Kathedra-Typus, der thronenden Madonna, die den Betrachter anschaut, blickt die Madonna von Melun mit leicht gesenktem Kopf nach unten. Shermans Madonna hält ein liegendes Kind auf der anderen Seite, ansonsten ähnelt ihre Körper- und Kopfhaltung der Madonna von Melun; auch die Art und Weise, in der sie den Umhang vor ihrem Unterleib hält, ähnelt Fouquet. Die Cherubim finden sich auf dem Spitzenvorhang wieder, nur die Farbgebung ist bei Sherman dezenter, das kräftige Rot fehlt ganz. Die hohe Stirn Shermans ist künstlich modelliert und hebt so die Modellierung des Körpers durch Schönheitsideale hervor. Besonders auffällig ist freilich die Brustprothese, die den Eindruck der Künstlichkeit der Brust auf dem Fouquet-Gemälde radikalisiert und ein artifizielles Körperteil an ihre Stelle setzt. Sherman betont einerseits die Künstlichkeit der Zurschaustellung der weiblichen Brust in der Tradition der Ostentatio und verweist so auf die Künstlichkeit des Weiblichkeitsbildes in der Malerei, andererseits hinterfragt die Prothese gerade der Brust anatomisch-biologistische Erklärungsansätze für Geschlechtsidentität. Die Kombination von ostentativem Zurschaustellen des weiblichen Körpers bei gleichzeitig niedergeschlagenem Blick betont den Objektcharakter des Weiblichen in der Kunst, da der niedergeschlagene Blick nicht nur ein Zeichen der Demut ist, sondern auch den voyeuristischen Blick begünstigt, der gerne unerkannt bleibt. Sherman dekonstruiert durch die Exposition der Künstlichkeit des Körpers in Form der Pose, Maske und Prothese Weiblichkeitsideale wie dasjenige der reinen, jungfräulichen, zeitlos schönen Mutter. Sie stellt dem surrealen Ideal einen isolierten, fragmentierten und montierten Körper gegenüber, dessen Heterogenität durch die unterschiedlichen Materialien, aus denen er zusammengesetzt ist (Haut, Textilstoffe, Kunststoff), betont wird.

4

S. Ruby: »Lust am Prekären«, S. 29.

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Sie arbeitet in Serien, so wie die offensichtliche Montage des einzelnen Bildes, so unterläuft auch das Serielle, das Sherman durch die Nummerierung ihrer Bilder noch betont, das Konzept der Einmaligkeit und Originalität des Kunstwerks. Es stellt zudem eine Absage an die Idee der Weiblichkeit als einer inneren Essenz dar. Das Prinzip der Serie hebt den performativen Charakter von Identität hervor, da Sherman mit dieser Form der seriellen Selbstporträts sich selbst nicht als mit sich selbst identisch sondern als immer wieder anders fremd gestaltet. Die Einreihung von Untitled # 216 in die Serie der History Portraits zeigt die Bildvorgabe der Madonna als einen von verschiedenen Weiblichkeitsentwürfen unserer Kultur, eine von vielen möglichen Maskeraden, und demystifiziert dadurch das Ideal der reinen, natürlichen Mutter. Sherman setzt sich auch in anderen Fotografien der History Portraits mit Mutterbildern auseinander, so in Untitled # 223 und Untitled # 305. In beiden tragen die Frauenfiguren sichtbar angeschnallte Brustprothesen; in # 223 ist auch das Baby, dem die Brust zum Trinken dargeboten wird, sichtbar eine Puppe. Die Brustprothesen, die Sherman in den Darstellungen von Mutter und Kind verwendet, beziehen sich auf die Brust als Merkmal von speziell mütterlicher Weiblichkeit. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert und den Schriften Rousseaus ist der Akt des Stillens Inbegriff der Natürlichkeit der Mutter-Kind-Beziehung und der natürlichen Berufung der Frau zur Mutterschaft. Das Ersetzen der natürlichen Brust durch eine Prothese hinterfragt die Natürlichkeit des Stillvorgangs und die Gleichsetzung von Mütterlichkeit mit dem anatomischen Körper der Frau. Die Figur der Mutter wird als historisch verfasste kenntlich. Cindy Sherman stellt mithin historische Bildvorgaben mit ihrem eigenen Körper nach, verändert diesen Körper dabei auf offensichtliche Weise künstlich, und hinterfragt so auch ihre eigene Identität als Produkt von Bildern, Zeichen, Posen und Materialien. Sie legt Weiblichkeits- und Selbstbilder als Konstruktionen offen und denaturalisiert die Vorstellung der natürlichen Berufung der Frau zur Mutter.

3.2 B IRGIT D UNKEL Wie bereits Mary Kelly oder Ulrike Rosenbach in den 1970er Jahren setzen sich Künstlerinnen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Form von Selbstinszenierungen mit ihrem eigenen Kind mit ihrer Rolle als Mutter, Frau und Künstlerin sowie mit kulturellen Konstruktionen von Mutterschaft auseinander. So ist die Fotografin Birgit Dunkel um die Jahrtausendwende mit ihrer Serie Madonnen (1999-2001) hervorgetreten, in der sie sich selbst mit ihrer Tochter ganz offensichtlich in der Tradition der christlichen Mariendarstellung inszeniert, und die in den Jahren 2001

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und 2002 in der St. Petri Hauptkirche in Hamburg und in der St. Thomas Kirche in Berlin ausgestellt war.5 In # 4 [Madonna klassisch] (1997/2001) ist Dunkel mit dem nur mit einer Stoffwindel bekleideten Kind an ihrer entblößten Brust zu sehen, leicht melancholisch nach links aus dem Bild schauend, einen strahlend blauen Schleier um ihren Kopf sowie roten, glänzenden Stoff um ihren Körper. Sie stellt wesentliche Merkmale des Bildtypus der Maria Lactans präzise mit dem eigenen Körper sowie durch die Bildkomposition nach: das Umfassen des Kindes, der leicht gesenkte Kopf und Blick, der Schleier, der Mutter und Kind in Form eines Dreiecks fließend umschließt; der Kreis, den die Arme um das Kind bilden (Kreis und Dreieck als Zeichen für Einheit und Dreifaltigkeit); die Farben rot und blau; die Beleuchtung von oben-außen, auf den Scheitel; der melancholische Blick in eine undefinierte Ferne (Vorwegnahme der Trauer); das schlafende Kind (ebenfalls Vorwegnahme des toten Sohns); die Stoffwindel. Verfremdend wirken ihr nacktes, angestrahltes Dekolleté und die Reduktion der Kleidung auf den umgelegten Stoff. Zudem werden die gestalterischen Mittel durch die Isolation der Figurengruppe sowie die Präzision in der Imitation der Vorgabe und die idealisierende Perfektion des Gesamteindrucks hervorgehoben, und auf diese Weise letztlich eine verfremdende Wirkung erzielt. Eine Verfremdung, die sowohl die Konstruktion des kulturellen Vor-Bilds sichtbar macht als auch diejenige des Körpers der Mutter im Jetzt – einen authentischen oder natürlichen Mutterkörper gibt es hier nicht. In den drei als Triptychon gestalteten Fotografien Mutterliebe (1997/2001) funktioniert die Verfremdung auch auf der Ebene des Bildinhalts (Abb. 19). In einem weißen Negligé oder Unterhemd bekleidet, sitzt Dunkel auf einem mit weißem Tuch überzogenen, Altar-ähnlichen Tisch oder Bett. Den Hintergrund bildet weißer, in Falten fallender Stoff, hinter dem sich auf Kopfhöhe eine Lichtquelle befindet. Beides hebt die Szene als eine Inszenierung hervor und ironisiert das Motiv des Heiligenscheins, der Erleuchtung, das durch das Licht um Dunkels Kopf aufgerufen wird. Auch das Kind ist weiß gekleidet, die Kleidung von Mutter und Kind erinnert an romantisierenden Retrolook. Neben der Figurengruppe liegen rosafarbene Rosen, ein abgewandeltes Zitat der weißen Lilie als Symbol der unbefleckten Empfängnis. Dunkel drückt das Kind an ihren Körper, ihre blonden Haare fallen fließend über ihre eigenen Schultern sowie um den Kopf des Kindes. Die Zärtlichkeitsmotive jedoch, die den Bildtypus der Eleusa kennzeichnen, sind hier abgewandelt zu physisch-sinnlichen Handlungen: Küssen zeigt die Mutter, wie sie ihr Kind eng an sich presst und mit vollen Lippen auf den Kopf küsst; Lecken zeigt sie, wie sie mit offenem Mund und deutlich sichtbarer Zunge dem Kind über den Kopf leckt, während das Kind scheinbar Hilfe suchend zum Betrachter schaut; Essen schließlich zeigt sie, wie sie genussvoll und konzentriert eine Hand ihres Kindes in 5

Vgl. B. Dunkel: Madonnen, S. 60-79.

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den Mund steckt. Diese drei Zugriffe auf den kindlichen Körper tragen sowohl erotische Konnotationen in sich als auch die Drohung der Einverleibung, des Verschlingens des kindlichen durch den mütterlichen Körper – jene unbewusste Drohung, die dem physischen und affektiven Näheverhältnis Mutter-Kind immer schon innewohnt. Vor allem aber ist es eine sinnliche Lust, die hier zum Ausdruck kommt, eine sinnliche Lust der Mutter an ihrem Kind. Die Überfrachtung der Bilder durch Symbole der Reinheit und Asexualität wird so durch diese konkret körperliche Ebene konterkariert. Das Lecken und Lutschen visualisiert Mutterliebe entgegen normativer Annahmen als körperliche, fleischliche Lust. Statt nur zu nähren, schützen und pflegen geht die Mutter in Mutterliebe der Sinnlichkeit von Küssen, Lecken und Essen nach. Sie wird zum Subjekt eines eigenen Begehrens, anstatt sich aufopferungsvoll ganz ihrem Kind hinzugeben.

Abbildung 19: Birgit Dunkel: # 6.1 [Mutterliebe. küssen], # 6.2 [Mutterliebe. lecken], # 6.3 [Mutterliebe. essen] , 1997/2001

Quelle: Birgit Dunkel: Madonnen, S. 24-26

Birgit Dunkel untersucht in ihren Selbstinszenierungen mit der eigenen Tochter die eigene Identität inmitten der Bildtraditionen, das Verhältnis von eigenem Körper und kulturellen Vorgaben, von visueller Repräsentation und Identität. Ihre Bilder schwanken dabei zwischen Sakralisierung von Mutter und Kind und Dekonstruktion herkömmlicher Mutterbilder. Die demystifizierende Kraft der Bilder entfaltet sich vor allem, wenn man die Gesamtreihe »Madonnen« betrachtet. In der Tradition der Maskeraden von Cindy Sherman inszeniert sich Dunkel in immer neuen Weiblichkeits- bzw. Mutterrollen. Die Reihe zeigt die Fotografin als Konsum-Madonna im Supermarkt in der Art des amerikanischen White Trash-Klischees (#9, 1997/2001) ebenso wie eine Norweger-Madonna (#5, 1997/2001) in fast identischer Pose wie die Madonna klassisch. Sie umfasst Bilder des Alltags von Mutter und Kleinkind, im Zug, auf der Straße oder am Bahnhof, sowie Fotografien, die Mutter

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und Kind im beruflichen Kontext der Künstlerin zeigen, etwa im Atelier oder in Museen (# 10 Doc X, lesend, # 16.1-3 Im Atelier, # 23 Popmuseum). Die Vielfalt der Motive fächert die Vielfalt mütterlicher Funktionen, Rollen und Identitäten auf und läuft so der Fixierung von Mutterschaft im Ideal der reinen Madonna entgegen. Immer ist dabei die Pose sichtbar, die Inszenierung des Alltags durch den fotografischen Blick und durch die Bildtradition. Die zuletzt genannten Bilder arbeiten zudem mit bildnerischen Verfremdungseffekten wie z.B. Unschärfe und verweisen dadurch umso mehr auf die Verwebung alltäglicher Realität und kultureller Konstruktion.

3.3 J UDITH S AMEN Auch die Fotografin Judith Samen setzt sich in ihren Selbstinszenierungen mit den ikonografischen Traditionen der Mariendarstellung und anderer Mutter-KindDarstellungen auseinander. In einer ganzen Reihe von Fotografien von 1996 bis heute greift sie das Motiv der Mütterlichkeit auf. Allerdings treten in ihren Bildern Inszenierung und ironische Brechung deutlicher hervor; realistische und mystifizierende Elemente fehlen ganz. Im Gegenteil sind die Bilder von einer, teils ins Absurde gehenden, Profanisierung sowie einer reduzierten, äußerst präzisen Komposition gekennzeichnet. Auf o.T., 2001 kniet die Mutterfigur auf dem Boden, offensichtlich nackt, mit dem ebenfalls nackten Säugling auf ihrem Schoß, an ihrer Brust (Abb. 20, links). Das Stillen des Kindes stellt den Bildtypus der Maria Lactans nach, der geneigte Kopf und vor allem das Knien auf dem Boden ist eine Anleihe an den Bildtypus der Demutsmadonna, die als Magd Gottes auf der Erde sitzt. Sie umfasst das Kind mit ihrem Arm, sodass fast nur der Hinterkopf des Kindes sichtbar ist. Der Schleier, der Mutter und Kind, auch hier in Form eines Dreiecks, zu einer nach außen geschlossenen Einheit zusammenhält, bedeckt die Mutter fast vollständig, zumal ihr Gesicht, das sich dem Kind zuneigt. Sie ist als eine gesichtslose Figur, deren Körper dem Kind Schutz und Nahrung gibt, dargestellt. Das Verdecken des Gesichts stellt eine Geste der Überzeichnung dar, die den Moment der Selbst-Verdeckung, der in der christlichen Mariendarstellung dem Niederschlagen der Augen inneliegt, sichtbar macht. Hervor treten die nackten Schenkel der gesichtslosen Mutterfigur, die Fleischlichkeit und Erotik assoziieren lassen, wobei die Scham bezeichnender Weise durch den Kinderkörper bedeckt wird. Der Schleier selbst wird durch eine gehäkelte Spitzentischdecke dargestellt – eine offensichtlich ironische Gebärde der Profanisierung, die zugleich an den häuslichen Bereich als traditionellem Ort der Mutter erinnert. Pose, Hintergrund, Reduktion und Isolation der Mutter-Kind-Gruppe heben die Künstlichkeit der Inszenierung hervor.

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Ein weiteres Bild, o.T. (Opfer), 2001, ist analog gestaltet: derselbe rote Bildhintergrund, dieselbe Figurengruppe, auch hier ist die künstlerische Konstruktion durch Isolation und Pose hervorgehoben (Abb. 20, rechts). Die Mutter kniet wieder auf dem Boden, hält den Säugling aber nicht im Arm, sondern an Füßen und Händen von ihrem Körper weg. Es ist eine Geste der Darbietung, ähnlich einem Menschenopfer, das Kind wird wie ein Tier an seinen Läufen gehalten, der Blick der Mutter ist nach oben, möglicherweise einer göttlichen Position, der das Opfer gilt, zugewendet. Die Opferung des Kindes, zumal des Sohnes, ist ein christliches Motiv. Diese radikale, gewaltsame Trennung von Mutter und Kind ist gleichsam die andere Seite der idealisierten Einheit beider in der christlichen Kultur. Und tatsächlich ist auf diesem Bild das Kind als ein Objekt zu sehen gegeben, ein Objekt in den Händen der Mutter, ohne sichtbare emotionale Verbindung zu ihr. Im Gegensatz zu der Verherrlichung der Mutter-Kind-Beziehung in der christlichen Ikonografie oder auch in zeitgenössischen Medien, scheint das Kind hier ganz der Verfügungsgewalt der Mutter ausgeliefert zu sein; an die Stelle einer zärtlichen Umarmung als Zeichen der affektiven Bande tritt ein pragmatischer Zugriff, der keine Emotionen erkennen lässt. Abbildung 20: Judith Samen, o.T., 2001 (links) und o.T. (Opfer), 2001 (rechts)

Quelle: Judith Samen, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Die Opferung des eigenen Sohnes ist auch wesentlicher Bestandteil anderer Mutterideologien, in denen die Idealisierung der biologischen Mutterschaft mit der Opferbereitschaft zu einem ›höheren‹ Zwecke einhergeht, wie beispielsweise im Fall der nationalsozialistischen Propaganda. Die Pose selbst erinnert bei Samen allerdings eher an archaische Rituale, sodass Assoziationen zu unterschiedlichen Epochen, Mythen, Kulturen aufgerufen werden und auf diese Weise die Historizität von Mutterschaft ansichtig wird. Zudem ist das dargebotene Kind bei Samen ein Mädchen, sodass der Bezug zur christlichen Religion untergraben wird.

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Auch die Geburt ist bereits eine Trennung von mütterlichem und kindlichem Körper, der Griff um die Fesseln des Babys erinnert nicht zuletzt an den ärztlichen Griff im Moment der Geburt, des ersten Schreis, des ersten selbstständigen Atemzugs außerhalb des Körpers der Mutter. Die Lichtführung auf dem Körper des Kindes vom roten Schattenbereich am Rücken hin zu der hellen Hautfarbe des restlichen Körpers unterstützt die Bewegung weg vom mütterlichen Körper; der schattige Unterarm der Mutter trennt das Kind von ihrem hellen Brustbereich, die Brust selbst wird durch den Unterarm fast vollständig verdeckt. Die Schutz- und Wehrlosigkeit des isolierten, nackten, kleinen Kinderkörpers erscheint wie eine prinzipielle Schutzlosigkeit des Menschen in der Welt vom Moment der Geburt an, eine radikale und – das wird durch die Art des Greifens deutlich – brutale Einsamkeit, die nie wieder durch die Einheit mit einem anderen Körper erlöst werden wird. Auch hier wird übrigens nicht nur die Brust der Frau, sondern auch ihr Unterleib quasi unsichtbar gemacht, indem er durch ein glänzendes, fließendes Tuch in der Farbe des Hintergrunds abgedeckt wird. Die Frau selbst erscheint auf diese Weise wie entzwei geschnitten, die Linie zwischen rotem Stoff und heller Haut verläuft wie ein Schnitt durch den Körper. Zugleich wird die Materialität, ja Fleischlichkeit der Körper nicht nur durch die Pose, sondern auch gerade durch den farblichen und stofflichen Kontrast der nackten Körper, der Beschaffenheit der Haut, zu dem roten, planen Hintergrund und Stoff hervorgehoben. Das Rot, das beide Bilder dominiert, lässt sich hier sowohl als Symbol für Blut, für die menschliche Physis, für die Gewalt von Gebären und Opferung, als auch für Sinnlichkeit, Erotik und körperliche Lust lesen und verweist so auf das dem christlichen Mutterbild Andere. Die ambivalenten Erfahrungen von Mutterschaft werden von Judith Samen auf diese Weise aufgefächert: Die Trennung des kindlichen vom eigenen Körper, die Zerreißung des eigenen Leibs, die Lust der Beziehung zum Kind einerseits, die Ausblendung sexueller Lust im christlichen Mutterbild andererseits, die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit und zugleich der Einbindung in bildnerische Vorgaben und kulturelle Muster. In der Reihe der »Stillbilder« konfrontiert Samen die ikonografische Tradition mit der Alltagsrealität und konkreten Körperlichkeit von Mutterschaft in der Gegenwart. So sitzt sie auf o.T. (Stillbild III) von 2011 aufrecht in der Art einer thronenden Madonna dem Betrachter gegenüber (Abb. 21). Allerdings ist ihr Oberkörper vollständig nackt, an der rechten Brust liegt ein Säugling, die linke ist offen sichtbar; an ihr hängt ein Milchtropfen. Bildausschnitt und Farbgebung betonen die Fleischlichkeit des Körpers. Samens Blick ist auf das Baby gerichtet, ihr Gesicht ist ernst und entspricht nicht den Erwartungen sanfter Erfülltheit. Mutter und Kind sind isoliert und offensichtlich komponiert; der Bildhintergrund ist weiß. Samen montiert Darstellungsmuster der christlichen Ikonografie (Figurengruppe, Komposition, Körperhaltung) mit verstörend direkt eingesetzten Zeichen einer realistischen Körperlichkeit (nackte Brust, Milchtropfen). Die Verschiebungen des Gewohnten be-

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wirken Irritationen beim Betrachter; Mütterlichkeit changiert zwischen körperlicher Konkretheit und verfremdender Inszenierung. Abbildung 21: Judith Samen: o.T. (Stillbild III), 2011

Quelle: Judith Samen, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Auf einem Bild von 1997, o.T. (Brotschneiden), Abbildung 22, werden auf besonders drastische und zugleich humorvolle Weise Mutterbilder unserer Kultur profanisiert und dekonstruiert. Zu sehen ist eine Frau in einer weiß-rot gemusterten Kittelschürze, die mit einem großen Messer in der rechten Hand einen Laib Brot durchschneidet. Mit links hält sie ein Baby unter den Arm geklemmt. Das Baby ist nackt, sein Kopf ist nach hinten gewendet, verschwindet fast vollständig hinter der Armbeuge der Mutter, sein nackter Po und seine Füße ragen nach vorne, dem Betrachter entgegen. Zwischen den Beinen ist, wenn auch im Schatten so doch deutlich, das männliche Geschlecht des Kindes zu sehen. Die Mutter schenkt dem Baby offenbar keine Beachtung, sie blickt konzentriert auf das Brot und ihre Tätigkeit des Schneidens. Die Art und Weise, in der sie das Kind hält, parodiert die Traditionen der Mutter-Kind-Darstellung, die, wenn auch auf unterschiedliche Weise, so doch immer die Sorge um das Kind und eine liebevolle Beziehung zwischen Mutter und Kind ins Zentrum setzen. Hier nun wird das Kind zum Zwecke einer alltäglichen Verrichtung kurzerhand unter den Arm geklemmt, sichtbar ist nur sein Hinterteil. Das hängende, faltige Geschlecht verstärkt den Eindruck der Profanisierung, zumal angedenk der Bedeutung des männlichen Nachkommens in der patriarchalischen Gesellschaft.

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Abbildung 22: Judith Samen: o.T. (Brotschneiden), 1997

Quelle: Judith Samen, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Hier wird nicht allein auf die alltägliche Realität einer Hausfrau und Mutter verwiesen, sondern mit unterschiedlichen, zum Teil widersprüchlichen Zeichen und Vorstellungen von Mutterschaft gespielt. So wecken das Brotschneiden, die bunte Kittelschürze und die mit Motiven des Landlebens und Symbolen der Fruchtbarkeit gekachelte Wand zum einen Assoziationen des bäuerlichen Lebens oder der häuslichen Alltagskultur der 1970er Jahre und einer eindeutigen Geschlechterrollenzuweisung. Zum anderen wird durch die Motive altniederländischer Malerei auf den Kacheln die Tradition der kulturellen Konstruktion von Realität erinnert. Auch die sparsame, präzise Komposition erinnert an niederländische Malerei beispielsweise eines Vermeers. Das Serielle des Hintergrunds spricht zudem von der industriellen Reproduktion von Kunst und Alltagsgegenständen, einer Reproduzierbarkeit, der in der Moderne auch Körper- und Selbstbilder unterworfen sind. Durch die Motive Mutter-Kind sowie des geteilten Brots bzw. des Brots als Symbol des Leibes Christi wird aber auch hier mit den Traditionen der christlichen Ikonografie gearbeitet. Konkret lässt die Darstellung der Mutter mit Kind bei der alltäglichen Versorgung an die Tradition der profanisierten Madonnenikonografie der frühen Neuzeit denken, wie beispielsweise Gerard Davids Suppenmadonna (Abb. 13). Die Darstellung der Gottesmutter in einem häuslichen Kontext reduziert sie, wie im ersten Kapitel dargelegt wurde, auf ihre Rolle als reale Mutter und Versorgerin und trägt so zu der

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Biologisierung von Mutterschaft bei. Judith Samen greift diese Tradition auf, radikalisiert die Profanisierung jedoch bis hin zu einer Brechung der Darstellungskonvention. Dies gilt sowohl für die Geste des Brotschneidens als auch für diejenige des Kind-Haltens. Beide sind nicht nur profan-pragmatisch, sondern auch gewaltsam. Der Vorstellung der reinen, sanften Maria wird so die Bedrohlichkeit der ›bösen Mutter‹ eingeschrieben, der das Kind schutzlos – nackt – ausgeliefert ist. Betont wird die Materialität, ja Fleischlichkeit der beiden Leiber, des Sohnes wie des Brotlaibs. Auffällig ist ihre Ähnlichkeit, die Falten des Babykörpers, zumal des Gesäßes, scheinen sich im Brotlaib wiederzufinden, die symbolische Beziehung beider wird so konkretisiert. Hier wird nicht nur die mythische Überhöhung der Mutterfigur durch den Verweis auf alltägliche Realitäten gebrochen, sondern auch die Entkörperlichung der Mutter in der Darstellungskonvention durch eine Inszenierung gerade der Materialität der Körper offengelegt. Die Körperlichkeit ist dabei nicht so sehr in der Fruchtbarkeit zu sehen (auf diesen Aspekt des Mythos Mutter verweisen die Fruchtbarkeitssymbole Brot und Ähre), sondern vielmehr in der Ambivalenz von Lust und Aggression, die in der Geste des Aufschneidens, des Öffnens eines anderen Körpers, möglicher Weise des eigenen Kindes, zum Ausdruck kommt. Die Leichtigkeit, mit der Judith Samen mit Bildvorgaben aus verschiedenen Epochen und Zusammenhängen spielt, begründet auch den Humor, der ihren Bildern innewohnt. Die Komik des Profanen, Entmystifizierenden und eine latente Bedrohlichkeit gehen dabei Hand in Hand. So z.B. auch in einer Reihe von Fotografien, in der sie die Rolle der Frau als nahrungsspendende beispielsweise durch einen »Zwieback-BH« parodiert.6 Die Persiflage auf die Biologisierung des weiblichen Körpers oder, konkreter, die Idealisierung des Stillens führt zugleich deren Kehrseite, die Dienstbarmachung des Körpers der einzelnen Frau, die Entfremdung des eigenen Körpers, vor Augen. Samens Bilder sprechen auch immer von der Diskrepanz zwischen den idealisierenden Bildvorgaben, die unsere Vorstellung von Mutterschaft prägen, und der subjektiven, physischen und ambivalenten Erfahrung des Mutterseins. Dabei wird sichtbar, dass beide Ebenen nicht voneinander zu trennen, subjektive Erfahrung und kulturelle Konstruktionen aufs engste miteinander verwoben sind. Deutlich wird aber auch, dass Mütterlichkeit nicht auf das eine Idealbild zu reduzieren ist, als das sie uns in der visuellen Alltagskultur begegnet, sondern aus vielfältigen und zum Teil äußerst widersprüchlichen Traditionen, Vorstellungen, Empfindungen und Realitäten besteht.

6

O.T. (Zwieback-BH), 2001, Abb. in Märkische Kulturkonferenz: Samen, S. 13.

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3.4 D ANIELA C OMANI Eine andere Form der Selbstinszenierung wählt Daniela Comani in ihrer Serie digitaler Montagen Eine glückliche Ehe aus den Jahren 2003 bis 2005. Sie inszeniert den Alltag einer heterosexuellen Partnerschaft und spielt dabei sowohl die Rolle der Frau als auch des Mannes. Durch leichte Veränderungen des Körpers, der Frisur und des Gesichts (Brille, Bartstoppeln als Mann, fast unmerklich geschminkt als Frau) sowie unterschiedliche Kleidung, Gestik, Mimik und Körperhaltung inszeniert sie die Geschlechterdifferenz am eigenen Körper. Sie spielt mit den Zeichen für Geschlechtsidentität und stellt die Frage nach dem Verhältnis von anatomischem Körper und Identität. In einigen Bildern greift sie geschlechtsspezifische Verhaltensmuster auf, etwa wenn der ›Mann‹ im Weinladen die Rotweinflasche begutachtet, in der Küche das von der Frau gekochte Essen kostet, oder den Motor des Autos inspiziert, während die Frau wartend daneben steht. Auf den meisten Bildern aber wird eine Partnerschaft ohne geschlechtsspezifische Rollenverteilung dargestellt, beispielsweise wenn beide arbeitend an einem Schreibtisch sitzen (Abb. 23, rechts). Zudem wirken sie durch Statur, Frisur, Kleidung und Körperhaltung weitgehend androgyn. Abbildung 23: Daniela Comani: »Eine glückliche Ehe«, work in progress seit 2003

Quelle: Daniela Comani, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Viele der Bilder machen deutlich, auf welch geringfügigen Unterscheidungen unsere Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz beruht, wenn etwa eine Hand in der Hosentasche männlich wirkt. Comani hinterfragt auf diese Weise sowohl stereotype Verhaltensmuster im Alltag eines jungen, großstädtischen Paares in einer Gegenwart, die scheinbar von geschlechtsspezifischen Hierarchien befreit ist, als auch grundsätzlich das Verhältnis von Anatomie und Identität. Sie weist auf stereotype Zeichen für Weiblichkeit und Männlichkeit hin und fragt gerade nach den kleinen Details, die Geschlechtsidentität konstituieren und zugleich ein Spiel mit ihr ermöglichen. Es ist ein Spiel, das, um mit Butler zu sprechen, auf der Verfehlung der

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Wiederholung beruht. Indem Comani sich selbst in beiden Rollen inszeniert, betont sie diesen Spielcharakter und stellt die Kontingenz der Geschlechtsidentität aus. Abbildung 24: Daniela Comani: »Eine glückliche Ehe«, # 18, 2004

Quelle: Daniela Comani, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

In unserem Zusammenhang besonders interessant ist ein Bild, auf dem ›die Frau‹ mit einem schwangeren Bauch zu sehen ist (Abb. 24). Sie sitzt auf einem Ledersessel, die Arme hinter ihrem Kopf verschränkt, ›der Mann‹ hockt neben ihr, einen Arm auf der Lehne hinter ihrem Rücken, die andere Hand auf ihrem gewölbten Bauch. Die beiden blicken sich an, sie lächelt leicht, er schaut eher besorgt. Die Geste, mit der der Mann den schwangeren Bauch berührt, tastend und beschützend zugleich, ist eine typische Geste für die Darstellung von Paaren, die ein Kind erwarten. Auch der schützend hinter sie gelegte Arm des Mannes gehorcht dieser Darstellungstradition. Zugleich fehlen andere stereotype Darstellungsmerkmale der schwangeren Frau: Bauch und Brust sind nicht besonders exponiert, Kleidung und Frisur nicht betont weiblich oder weich gezeichnet. Im Kontext der gesamten Serie, die aus ca. 50 Bildern besteht, ist dies das einzige Bild, das mit der Unterscheidung des männlichen und weiblichen Körpers anhand der biologischen Reproduktion spielt. Auch hier wird der biologische Geschlechtsunterschied aber nicht als Faktum behauptet, der schwangere Zustand der Frau dient nicht der Naturalisierung von Weiblichkeit und Mutterschaft, sondern die doppelte Selbstinszenierung verweist auf die Konstruktion der Geschlechtsidentität durch Zeichen und Verhaltensnormen – auch bezüglich Schwangerschaft und Geburt. Eingereiht in die Gesamtserie, wird Mutterschaft zu einer Spielart gesellschaftlicher Geschlechternormen.

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So einseitig Bilder von Mütterlichkeit in der Werbung und der Ratgeberliteratur diese darstellen, so ambivalent und vielseitig wird Mutterschaft in den Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen inszeniert. Auch wenn die Erfahrung der eigenen Mutterschaft und ihre Diskrepanz zu den Idealbildern wesentlich für die künstlerische Auseinandersetzung sind, so rekurrieren sie doch gerade nicht auf einen natürlichen Körper, eine unmittelbare, originäre Erfahrung, sondern reflektieren das Verhältnis des eigenen Körperbildes zu den kulturellen Bildvorgaben auf differenzierte Weise.

3.5 C ANDICE B REITZ : M OTHER

AND

F ATHER

Auch in der zeitgenössischen Videokunst gibt es verschiedene Künstlerinnen und Künstler, die sich mit Bildern von Mutterschaft auseinandersetzen, wie das eingangs erwähnte Projekt von Claudia Rogge, oder auch Arbeiten von Pipilotti Rist und Bill Viola. Eine zugleich analytisch durchdringende sowie lust- und humorvolle Arbeit an und mit Mutter- und Vaterkonstruktionen sind Candice Breitz’ Videoinstallationen Mother und Father von 2005.7 Breitz dekonstruiert und rekomponiert hier Mutter- und Vaterbilder unserer Kultur, speziell des Hollywoodfilms. Auf welche Weise das geschieht, möchte ich zum Abschluss kurz erläutern. Mother und Father sind zwei 6-Kanal-Installationen, die getrennt voneinander in jeweils einem Raum gezeigt werden. Auf je sechs Plasmabildschirmen sehen wir in dem einen Raum sechs Schauspielerinnen in Mutterrollen aus verschiedenen Hollywoodfilmen der 1980er und 90er Jahre: Faye Dunaway, Susan Sarandon, Meryl Streep, Diane Keaton, Julia Roberts und Shirley MacLaine.8 In dem anderen Raum sehen wir sechs Schauspieler in Vaterrollen: Tony Danza, Dustin Hoffman, Steve Martin, Harvey Keitel, Donald Sutherland und Jon Voight.9 Mother ist 13.15 Minuten lang, Father elf Minuten, beide werden jeweils als Endlosschleife gezeigt. Breitz schneidet die Mutter- und Vaterfiguren mit einem digitalen Verfahren aus ausgewählten Szenen der jeweiligen Filme heraus, montiert sie vor einen schwarzen Hintergrund und arrangiert und komponiert diese isolierten Bild- und Tonfragmente neu. Die Sequenzen sind sowohl aus ihrem narrativen Zusammenhang gelöst als auch aus ihrem unmittelbaren filmischen Kontext – keine Dialogpartner, keine Aus-

7

Zu sehen u.a. auf der 51. Biennale Venedig 2005. Ich danke Candice Breitz und der Galerie White Cube, London, für die Viewing Copy von Mother und Father.

8

Aus folgenden Filmen: Mommie Dearest, 1981, Stepmom, 1998, Kramer vs. Kramer, 1979, The Good Mother, 1988, Stepmom, 1998, Postcards from the Edge, 1990.

9

She’s out of control, 1989, Kramer vs. Kramer, 1979, Imaginary Crimes, 1994, Father of the Bride, 1991, Ordinary People, 1980, The Champ, 1979.

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stattung außer dem ein oder anderen Stuhl oder Glas, keine Musik, so gut wie keine Geräusche außer denen der jeweiligen Schauspielerinnen. Durch diese Dekontextualisierung, Reduktion und Isolation werden die darstellerischen Mittel der Erzeugung bestimmter Geschlechterbilder wie Mimik, Gestik und Stimme sicht- und hörbar. Zugleich erzeugt Candice Breitz auch neue Zusammenhänge in der Montage der sechs verschiedenen Videobilder. Immer wieder arrangiert sie ähnliche Sequenzen aus den verschiedenen Filmen parallel, so dass beispielsweise alle Mütter weinen, dann leise und zögernd über Selbstzweifel und untreue Ehemänner sprechen, und sich später wütend oder schluchzend gegen die eigenen Kinder zur Wehr setzen. Diese Parallelität erzeugt teilweise dialogische Strukturen zwischen den Schauspielerinnen, hat auch sehr komische Effekte, und führt die strukturelle, formale und inhaltliche Ähnlichkeit der Filme und der in ihnen entworfenen Mutterbilder vor Augen. Die Mittel der Isolation und Vervielfältigung machen jenseits narrativer Strukturen die Darstellungskonventionen sichtbar, die unseren Vorstellungen von Mutter- und Vaterschaft zugrunde liegen und sie (re-)produzieren. Obwohl wir keinen Narrationszusammenhang geboten bekommen, erkennen wir sofort die versorgende Mutter, die hysterische Mutter, die fürsorgliche Mutter, die verzweifelte Mutter und die jeweiligen (erstaunlich wenigen) Zeichen, die diese Vorstellung hervorrufen. Breitz dekonstruiert so Mutterbilder unserer Kultur, zeigt, wie stark unsere Vorstellungen von Mütterlichkeit durch Darstellungskonventionen der Medien geprägt sind und wie Geschlechterrollenbilder durch filmische Mittel erzeugt werden. So hört man in einer Sequenz rhythmische Wein- und Stöhngeräusche. Immer wieder fährt sich Diane Keaton mit einer Hand durch das Gesicht, führt Meryl Streep beide Hände vor ihren Mund, setzt Faye Dunaway mit Tränen in den Augen zu sprechen an, zieht Shirley MacLaine ihre Schulter hoch, die Hand vor dem Gesicht. Immer wieder zucken sie zurück und die Bewegungen beginnen von neuem. Julia Roberts sagt: »I never wanted to be a mom«, und Dunaway wiederholt im rhythmischen Wechsel mit einem Stöhnen »I’m scared«. Immer wieder lacht Keaton mit derselben Drehung des Kopfes, wendet Streep ihr Gesicht lächelnd zur Seite, wechseln sich die Lach-und Stöhngeräusche rhythmisch ab. Einzelne rhetorische Elemente, kleinste Fragmente der Geschlechterdarstellung werden auf diese Weise isoliert und neu miteinander kombiniert. Die Mittel der Konstruktion von Geschlecht werden ausgestellt, wir sehen, wie stereotyp einzelne Gesten, Bewegungen, mimische und stimmliche Zeichen für die Darstellung von Mutterfiguren sind. Die Unterbrechung von Bewegungsabläufen wirkt verfremdend; die einzelnen Mittel, die im Film in der Narration und in Wahrnehmungsautomatismen untergehen, werden sichtbar und der Zuschauer vermag, sich seiner eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten bewusst zu werden. Die staccatohaft schnellen und kurzen Wiederholungen kleinster Bewegungssegmente, die wie ein Zucken wirken, sind ein digitaler Effekt, der die Bilder vor und zurück laufen lässt; Breitz nennt es einen »digital

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twitch«.10 Dieser Twitch segmentiert und rhythmisiert und führt die verwendeten Stereotype auf sehr humorvolle Weise ad absurdum. Manchmal erzeugt dieses artifizielle Zucken aber auch ein unheimliches Erschauern, da es die mediale Verfasstheit der Körper sichtbar macht und jede Illusion eines natürlichen Körpers verneint. Plötzlich hören wir nur noch hysterisches Schreien, zerbrechendes Porzellan, Ohrfeigengeräusche und rhythmisches Schluchzen. Sarandon und Roberts drehen zig Mal den Kopf. Faye Dunaway ohrfeigt. Streep wehrt einen Schlag ab. Das Mittel der Wiederholung verstärkt den Effekt der Isolation, betont die Klischeehaftigkeit einzelner Gesten. Es arbeitet aus den im narrativen Kontext psychologisch motivierten Affektdarstellungen den Affektgehalt, aber auch die diesen Affektgehalt erzeugende Form der Darstellung heraus. Die Wiederholung ist ein rhythmischmusikalisches Mittel, sowie die gesamte Montage einer musikalischen Komposition gleicht, die Bilder und Bewegungen ebenso wie Stimmen und Geräusche orchestriert. Diese musikalisch-sinnliche Qualität, die aus der Materialität der körperlichen und stimmlichen Gesten entwickelt wird, verhindert die Reproduktion der ausgestellten Klischees. Immer wieder entgleiten die stereotypen Bedeutungen, werden Wiederholungen verfehlt, wird man selbst mitgerissen von den lustvoll komponierten Klängen und Bildern, um im nächsten Moment wieder durch allzu bekannte Bilder und ihre verfremdende Unterbrechung auf die Ebene der Reflexion gestoßen zu werden. Reihung, Montage und Wiederholung von Sätzen oder Satzpassagen reflektieren die Mutter- bzw. Vaterbilder der Mediengesellschaft auch auf inhaltlicher Ebene. So sind in Mother Sätze der sechs Schauspielerinnen aneinander geschnitten wie: »Can’t you give me the respect I’m entitled to – I don’t know – I am still his mother – You are a good mother – I could be a mother and a father – I was his mommy for five and a half years – I’m ashamed to be your mother – I wish my mom was here – I always tried to be a good mother to you – Everything I did, I did out of love for you - I’m his mother – You are not a mother.«11

Thematisiert wird auf diese Weise das Muttersein als Zentrum der Figuren, sowie Zweifel, Ängste und Rechtfertigungen bezüglich der Erfüllung einer bestimmten Vorstellung von Muttersein. Eine andere Sequenz bezieht sich auf die Ehe und das Scheitern der Ehe, auf Frigidität und fehlenden Sex. Keaton äußert mehrmals Verständnis für ihren Ehemann, Streep sagt »I had almost no self-esteem«, wie ein Echo zieht sich »no self-esteem« durch die Sequenz, »I could understand him« sagt Keaton, dann mehrmals wiederholt von Streep: »It’s me, it’s my fault.« Stereotype 10 M. Beccaria: »Process and Meaning in the Art of Candice Breitz«, S. 27. 11 Dieses sowie alle anderen Zitate nach der Viewing Copy der Installation.

S ELBSTINSZENIERUNG

MIT

K IND | 119

Charakteristika der Figur der Ehefrau und Mutter wie mangelndes Sexualleben, Selbstlosigkeit und fehlendes Selbstbewusstsein werden auf diese Weise ausgestellt. Vergleicht man Mother und Father, so fällt auf, dass die Mütter sich insgesamt mehr bewegen, unterschiedlicher im Bildrahmen positioniert sind und emotionaler wirken. Sie weinen und schluchzen, schreien hysterisch, haben Tränen in den Augen, vergraben das Gesicht in den Händen. Inhaltlich artikulieren sie vor allem Selbstzweifel, erklären und rechtfertigen sich, reflektieren ihre Rolle als Mutter und Ehefrau. Stimmlich fallen im Vergleich mit den Männern variationsreiche Melodieund Intonationskurven auf, stereotype Zeichen für Weiblichkeit. Auch kommen, deutlich häufiger als bei den Vätern, Intonationsmuster der Unsicherheit, des Zögerns vor, auch dies Stimmmuster, die üblicherweise Frauen zugeschrieben werden.12 Die Väter hingegen sind körperlich vordergründiger und raumfüllender ins Bild gesetzt und relativ statisch. Sie sitzen frontal auf großen, breiten Lehnsesseln oder Ledersofas oder sind, ebenfalls frontal, im Close up zu sehen, wobei die Schultern fast die gesamte Bildbreite einnehmen. Gestik und Körperbewegung sind in den meisten Sequenzen stark zurückgenommen, die Kleidung ist einheitlicher als bei den Frauen. Auch sprechen sie ruhiger und weniger variationsreich hinsichtlich Intonation, Lautstärke, Tonlage und Melodiekurve. Sie wirken so insgesamt gesetzter, selbstsicherer und weniger emotional als die Mutterfiguren. Stimmlich ist Tony Danza aufgrund seiner hohen Stimme eine Ausnahme, emotional Jon Voight, der weint, brüllt und kämpft. Inhaltlich drehen sich mehrere Sequenzen um die Sorge der Väter von Töchtern bezüglich Sexualität und Heirat. »Sex Sex Sex« ist da immer wieder von Danza in absteigender Tonhöhe zu hören und »What’s happening to these girls« oder »You’re not getting married and that’s it«. Eine Sequenz dreht sich um abwesende Mütter und die Frage, bei wem die Kinder bleiben. Insgesamt wird die eigene Vaterrolle im Vergleich mit den Müttern aus Mother wenig reflektiert, nur Keitel sagt einmal »I’m not much of a father«, Voight weint »What about me« und Hoffman schimpft, warum eine Mutter besser sei als ein Vater. Dennoch wird deutlich, dass die Vaterfigur im Film anderen Darstellungsmustern gehorcht als andere Männlichkeitsbilder. Die Väter sind, auch wenn sie breitschultrig und statisch im Bild sitzen, fast immer besorgt, sie haben zusammengezogene Augenbrauen und in Falten gelegte Stirn, sie versuchen verzweifelt, mit ihren Töchtern zu kommunizieren bzw. diese an sich zu binden oder ihre Kinder nach einer Trennung zu behalten – zwar werden sie als souveräner und autoritärer inszeniert als die Mütter, aber auch sie haben scheinbar mit ihrer Rolle zu kämpfen und wirken weitgehend hilflos in ihr. 12 Zur geschlechtlichen Codierung der Stimme vgl. M. Dreysse: »Die stimmliche Konstruktion von Geschlechteridentitäten«.

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In einer Sequenz umarmen Danza, Martin und Voight ihre, teils erwachsenen, Kinder, umschließen sie mit beiden Armen, drücken sie an sich. Dann hält Keitel eine Frau fest umarmt, Hoffman und Voight haben kleine Kinder auf dem Arm, drücken sie eng an den eigenen Körper, an das eigene Gesicht, man hört kindliches Schluchzen, Voights Junge klammert sich an ihn, beide weinen, Voight sagt mehrmals schluchzend »I love you so much«. Steve Martin sagt mit zärtlicher Stimme und einem Lächeln »I love you, too, sweetheart« in einen Telefonhörer, Sutherland sagt ebenfalls »I love you, too«, Hoffman sagt mit fester Stimme »We love each other. We love each other« und Danza »I love her«, dann sind alle Bildschirme schwarz, man hört eine männliche Stimme mehrmals fragen: »Do you love your child«. Die Wiederholung der Liebesschwüre macht hier zum einen den Abgrund zwischen sprachlicher Formel und subjektiv-emotionaler Dimension deutlich und verweist einmal mehr auf die Formung unseres Erlebens durch mediale (sprachliche) Muster. Visuell werden die gestischen und mimischen Zeichen für Zuneigung offengelegt; gleichzeitig wird in den Ausschnitten aber auch ein mütterliches Bild der Väter gezeichnet, der Vater ist hier für Momente nicht mehr ein Dritter, der das sprachliche Gesetz repräsentiert, sondern eine konkrete Figur der emotionalen und körperlichen Nähe oder gar (bedrohten) symbiotischen Einheit mit dem Kind. Mütterlichkeit wird so vom anatomischen Körper der Frau gelöst bzw. Väterlichkeit auf mütterliche Eigenschaften geöffnet. Die Qualität von Breitz’ Arbeit liegt darin, dass sie zum einen mit verfremdenden Mitteln die medial hervorgebrachten Geschlechtsidentitäten dekonstruiert und, im Sinne Judith Butlers, denaturalisiert. Zugleich erzeugt Breitz in ihrer Komposition durch die musikalische Sinnlichkeit und den Humor auch eine Lust am Spiel mit den Zeichen und schärft die Sinne für die Zwischentöne, für mögliche Zwischenräume und andere Bilder und Töne von Müttern und Vätern. Es ist diese Sinnlichkeit und die Lust am Spiel mit Zeichen und Identitäten, die es der Kunst ermöglicht, tradierte Normen und Bildvorgaben zu hinterfragen, in ihnen angelegte Ambivalenzen offen zu legen und neue, nicht an den anatomischen Körper gebundene Bilder von Mutter- und Vaterschaft zu erzeugen.

Teil II Familie und Theater im 18. Jahrhundert

1. Die Entwicklung der bürgerlichen Kleinfamilie

Im ersten Teil wurde gezeigt, wie stark Vorstellungen und visuelle Darstellungen von Mutterschaft bis heute von der Tradition des Christentums und der christlichen Ikonografie geprägt sind. Dementsprechend setzen sich seit den 1970er Jahren viele bildende Künstlerinnen mit diesen ikonografischen Traditionen auseinander. Im Theater findet sich keine solche Fokussierung auf Mutterfiguren; die christliche Madonnendarstellung wird selten explizit rezipiert. In diesem zweiten Teil soll nun nach den historischen Traditionslinien der Darstellung von Mutterschaft und Familie im bürgerlichen Theater gefragt werden, ein Theater, das bis heute Produktion und Rezeption der darstellenden Künste prägt, auch wenn dies gerade in Abgrenzung zu ihm geschieht. Zentral für die Entwicklung des bürgerlichen Theaters ebenso wie für diejenige der bürgerlichen Kleinfamilie und die Naturalisierung der Geschlechterrollen ist das 18. Jahrhundert. Trotz der Diversifizierung von Familie sowohl im sozialen Alltag als auch in den Medien ist doch das Bild der Familie als Einheit von Vater, Mutter, Kind nach wie vor maßgebend. Es stellt eine Norm dar, die in Bewegung geraten ist, diskutiert und verhandelt wird, die aber auch häufig reproduziert wird, oft auf einer eher unterschwelligen Ebene wie der Bildkonstruktion. Auch wenn Geschlechterrollen sich seit den 1960er Jahren geändert haben und unterschiedliche Formen von Familie gelebt werden, so prägt das Modell der Kleinfamilie doch weiterhin das Denken von und über Familie, die Vorstellungen von Liebesbeziehungen, Kindschaftsverhältnissen und Lebensentwürfen. Dieses Familienmodell ist nicht naturgegeben sondern historisch konstruiert. Es entsteht im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft; die Bedeutung von Familie wandelt sich, sie ist nicht mehr eine reine Wirtschaftseinheit, sondern wird mit Gefühlen aufgeladen und zu einem Refugium des Privaten. Die Reduktion der Familie auf die Kernfamilie und ihre Ausgliederung aus der Gesellschaft bedingt die Polarisierung der Geschlechterrollen; die Naturalisierung dieser neuen Form von Familie führt auch zur Naturalisierung des binären Geschlechtermodells. Die konjugale Kernfamilie ist das Lebens- und Verwandtschaftsmodell der modernen bürgerlichen Gesellschaft.

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Ihre Entstehung vollzieht sich nicht nur in der gesellschaftlichen Alltagsrealität, sondern auch in theoretischen Schriften und in der Kunst: Bilder der neuen Vorstellung von Familie, von natürlicher Mutter- und Vaterschaft werden in der bildenden Kunst und im Theater, namentlich im bürgerlichen Trauerspiel, erzeugt. Das Trauerspiel ist wesentlich an der Herausbildung der bürgerlichen Familie als Zentrum bürgerlicher Standortbestimmung beteiligt. Es steht zugleich am Beginn der Entwicklung des bürgerlichen Illusionstheaters, das das Theater bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ästhetisch und institutionell prägt. Wenn am Beginn des bürgerlichen Theaters die Familie eine so prominente Stellung einnimmt, welche Rolle spielt das Theater dann heute bei der Pluralisierung und Diversifizierung von Familie? Um zu dieser Frage vorzudringen, ist es zunächst nötig, die Entwicklung und Charakteristika der bürgerlichen Kleinfamilie zu rekapitulieren. Die Forschung zur Geschichte der Familie ist vielfältig und sicher noch nicht abgeschlossen, und es kann nicht Ziel sein, hier Lücken zu schließen, sondern nur aufzuzeigen, inwiefern die uns prägende Vorstellung von Familie eine geschichtliche ist. Auch wenn die Reduktion auf die Kernfamilie im bürgerlichen Zeitalter in der neueren Familienforschung nicht unumstritten ist und sicherlich nicht von einem unvermittelten Umbruch innerhalb kürzerer Zeit gesprochen werden kann,1 so bildet sich das Modell der Kleinfamilie doch in seiner heutigen Gestalt im 18. Jahrhundert heraus; erst hier entwickelt sich ein Bewusstsein von der Bedeutung der Familie, das als wert erachtet wird, in zahlreichen Schriften niedergelegt zu werden. Es ist die Epoche der Aufklärung, des aufsteigenden Bürgertums, die die Familie neu deutet als emotionale Wesenseinheit und Kern der bürgerlichen Gesellschaft und ihr damit ein Maß an Bedeutung zuspricht, das bis heute das Denken und Sprechen über Familie bestimmt. Anfänge Im Laufe des 18. Jahrhunderts ändert sich das Familienmodell grundlegend. Friedrich Kittler spricht davon, dass der Verwandtschaftscode der Sippe durch denjenigen der Familie abgelöst werde: »Das europäische Mittelalter hatte einen Code, der Sippe hieß. Seit dem 18. Jahrhundert dagegen heißt unser Verwandtschaftscode Familie.«2 Auch wenn der Aufstieg der sogenannten gattenzentrierten Familie in Europa schon im späten Mittelalter beginnt, so stellt das 18. Jahrhundert doch den Höhepunkt dieser Entwicklung dar und zudem eine Epoche der Neubewertung dieser Familienform. Nicht ohne Grund dringt das Wort »Familie« erst seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in die deutsche Alltagssprache ein.3 Noch im 17. Jahrhun1

Vgl. A. Gestrich: Geschichte der Familie, S. 63ff.

2

F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 9.

3

A. Gestrich: »Neuzeit«, S. 367.

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dert bezeichnete die Familie die Gemeinschaft der miteinander in einer Hauswirtschaft unter dem pater familias lebenden Menschen, dies schloss in den meisten Fällen sowohl Verwandte wie Großeltern und unverheiratete Geschwister der Eltern als auch Bedienstete mit ein, oder, wie Martin Luther es ausdrückt: »Weib und Kind, Knecht und Magd, Vieh und Futter«.4 Die Familie als Hauswirtschaft war primär eine Wirtschaftsgemeinschaft. Der Vater war in seiner Funktion als pater familias das Oberhaupt dieser Gemeinschaft und Stellvertreter Gottes und des Fürsten, er hatte uneingeschränkte Autorität über die Familie. Seine Vaterfunktion war dabei in erster Linie symbolisch, in der Alltagsrealität hatte er kaum Kontakt zu seinen Kindern. Neben dieser Form der Hauswirtschaft entwickelte sich seit Beginn der Neuzeit in den wachsenden Städten auch die Kleinfamilie, der jedoch in den zeitgenössischen Diskursen noch keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das Leben spielte sich bis ins 17. Jahrhundert hinein weitgehend in der Öffentlichkeit ab, die Familie war also keine geschlossene Einheit, sondern ging im Alltag in der dichten Sozialität des Dorf- oder Stadtlebens auf. Erst im 18. Jahrhundert etablierte sich durch die Verbürgerlichung der Gesellschaft der Raum des Privaten als ein deutlich vom Raum der Arbeit und des öffentlichen Lebens geschiedener. Dieser neue Raum des Privaten ist derjenige der bürgerlichen Kernfamilie. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt die Familie weiterhin in erster Linie als Herrschaftsform, die sich über die Autorität des Vaters definiert: »Familie ist eine Anzahl Personen, welche der Macht und Gewalt eines Haus-Vaters [...] unterworfen sind«.5 Die Mutter bleibt in solchen Beschreibungen weitgehend unerwähnt, sie verfügt über keine Entscheidungsgewalt, während der Hausvater »sich um alles kümmern und über allen Familienmitgliedern ein wachsames Auge haben« soll.6 Erst mit der Aufwertung der Kindheit und mit ihr der Erziehungsaufgaben kommt auch der Funktion der Mutter vermehrt Aufmerksamkeit zu. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich die Familie zu einem Gefühlswert, sie wird zu einer emotionalen Einheit, in der die einzelnen Mitglieder durch Blutsverwandtschaft und eine emotionale Beziehung aneinander gebunden sind. Diese neue Bewertung der Familie zeigt sich in populären und theoretischen Schriften der Zeit, in denen sie zunehmend im Mittelpunkt des Interesses steht. Familie wird nunmehr als natürliche Einheit verstanden, sie umfasst als biologische, heterosexuelle Kleinfamilie Mutter, Vater und die leiblichen Kinder. Diese Familie wird als einzig wahre, ursprüngliche und naturgegebene Form des menschlichen Zusammenlebens etabliert. Im Zentrum der neuen emotionalen Einheit steht das Kind.

4

Zit. nach A. Gestrich, ebd., S. 367.

5

Zedlers Universal-Lexikon (1734), zit. nach Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 15.

6

E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, Bd.1, S. 266.

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1.1 F AMILIE

ALS

G EFÜHLSWERT

Philippe Ariès hat bereits 1960 in seiner Studie L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime nachgewiesen, dass die Familie keine biologische Konstante ist, sondern eine geschichtliche Formation. Die historische Entwicklung der modernen Kernfamilie, wie wir sie heute kennen, also der aus nur zwei Generationen bestehenden Eltern-Kind-Einheit, hängt laut Ariès mit der »Entdeckung der Kindheit« als eigenständigem Lebensalter zusammen. Die Familie konstituiert sich neu als geschlossene Einheit, in deren Zentrum das Kind steht, das es zu schützen und zu erziehen gilt: »Die Familie unterliegt in dem Maße einem tiefgreifenden Wandel, als sich ihre inneren Beziehungen zum Kind verändern«.7 Während Kinder im Mittelalter schon im frühen Alter in die Welt der Erwachsenen eintraten, bildet sich in der Neuzeit allmählich ein Bewusstsein für die Besonderheit der Kindheit heraus. Dies nimmt laut Ariès im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausformungen an, ab dem 17. Jahrhundert schließlich wird dem Kind, seiner Erziehung, Psychologie und Moral verstärkt Aufmerksamkeit von Seiten der Gelehrten, seien es Priester, Moralisten, Juristen oder Erzieher, geschenkt. Die Aufgabe der Eltern ist es, das Kind zu schützen und zu erziehen, es wird nunmehr als ein »zerbrechliches Geschöpf Gottes, das es zugleich zu bewahren und zu einem verständigen Wesen zu erziehen galt«, wahrgenommen.8 Ariès betont, dass nicht die Familie als solche neu entsteht, sondern das Gefühl, mit dem sie belegt und die Bedeutung, die ihr beigemessen wird; Grundlage sei die neu erwachsende Sorge um das Kind. Die bürgerlichen Familien des späten 17. und des 18. Jahrhunderts beginnen also, sich um das Kind herum zu organisieren und definieren sich zunehmend über emotionale Bande: »Die Familie ist zu einem Ort unabdingbarer affektiver Verbundenheit zwischen den Ehegatten und auch zwischen Eltern und Kindern geworden.«9 Damit ändert sich auch die Rolle des Vaters in der Familie, hervorgehoben wird nunmehr nicht so sehr seine Herrschaftsfunktion als seine Liebe zu den Kindern; das Bild des zärtlichen Vaters kommt auf. Ariès zufolge erzeugt die Sorge um das Kind eine neue Affektivität, den »modernen Familiensinn«. Die Familie bekomme nunmehr eine moralische und geistige Funktion, sie »formt den Körper und die Seele«, und zwar auf Grundlage der »unvergleichlichen Verbindung von Eltern und Kindern.«10 Die emotionale Aufladung dieser Verbindung ist der Kern des neuen Familienverständnisses, Familie wird

7

P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 502.

8

Ebd., S. 217.

9

Ebd., S. 48.

10 Ebd., S. 561 und 500.

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zum Gefühlswert und nimmt einen zentralen Platz im Gefühlsleben ein. Die gefühlsbetonte Beziehung zwischen Eltern und Kindern garantiert darüber hinaus den Zusammenhalt der Familie. Die zärtlichen Gefühle, die die Familienmitglieder füreinander empfinden, werden als natürlich verstanden; sie gehören nunmehr für die mittleren Stände ebenso zu den verpflichtenden familialen Werten wie die hausväterliche Autorität. Folgerichtig kommt auch die Idee der Liebesheirat auf, zuerst bei Rousseau (Julie oder Die neue Heloise, 1761) oder, etwas später, bei dem deutschen Aufklärer Theodor Gottlieb von Hippel (Über die Ehe, 1774). Im 18. Jahrhundert wird diese Entwicklung im Zuge der Empfindsamkeit und mit Erstarken des Bürgertums intensiviert, es kommt zu einer Emotionalisierung des familialen Gefühlslebens. Familie wird nunmehr wahrgenommen als Schutzraum vor der Außenwelt, als Hort der Liebe, Geborgenheit, Intimität und Harmonie. Die emotionale Bedeutung der Familie wächst in dem gleichen Maße, in dem die konjugale Familie sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht in den Bereich der häuslichen Intimität. Das neue Familiengefühl ist gebunden an häusliche Abgeschiedenheit, es konnte erst aufkommen, als die ausgeprägte Sozialität der frühen Neuzeit Platz machte für eine Intimität im neu entstehenden Raum des Privaten. Die emotionale Aufladung hat eine Intimisierung der Beziehungen innerhalb der Familie zur Folge; die moderne Familie konstituiert eine intime Geschlossenheit, die sie von der Gesellschaft abgrenzt und alles ihr Andere ausschließt. Sie ist auf diese Weise auch Modell einer Identitätsstiftung, die auf dem Ausschluss des ihr Anderen beruht. Familie als natürliche Einheit Die Konzentration auf das eigene Kind führt mithin zu einer Ausgliederung der Familie aus der Gesellschaft und ihrem Rückzug ins Private; mit der Entwicklung der Kleinfamilie entsteht der Privatraum als ein nach außen geschlossener Raum der Intimität. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wird die Familie in Form der ElternKind-Einheit zunehmend als natürliche Gruppierung verstanden, die sich von anderen Formen der Gemeinschaft absetzt; sie definiert sich über ihre Abgrenzung von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit: »Die moderne Familie dagegen kehrt sich von der Welt ab und setzt der Gesellschaft die zurückgezogene Gruppe der Eltern und Kinder entgegen.«11 Familie und Arbeit bildeten seit dem Mittelalter und teilweise bis ins 19. Jahrhundert hinein auch räumlich eine Einheit. Öffentlicher und privater Raum, Raum der Arbeit und Raum der Familie waren nicht klar voneinander getrennt, sondern gingen fließend ineinander über. Dies änderte sich erst allmählich, beispielsweise in Form der Abtrennung des Wirtschafts- vom Familienraum oder der Spezialisierung

11 Ebd., S. 554.

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der einzelnen Räume im Haus.12 Das Europa des 16. bis 18. Jahrhunderts ist geprägt von einem Prozess der Privatisierung, der auch die Bildung des neuen Selbstbewusstseins des bürgerlichen Individuums beeinflusst. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts ist Nicole Castan zufolge noch eine »beständige wechselseitige Durchdringung der Lebensräume [und] eine Ambivalenz der Rollen« zu beobachten, aber auch »ein hartnäckiges Streben, die beiden Sphären deutlich gegeneinander abzuschirmen«.13 Die Festigung der bürgerlichen Schicht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt dieses Bestreben, das Private vom Öffentlichen abzusondern, eine »Mauer des privaten Lebens« (Castan) zu errichten. Damit einher geht auch die »Beschränkung des Aktionsfeldes von Frauen auf den innerhäuslichen Bereich« und die »innerhäusliche Verräumlichung der Geschlechtsunterschiede«, beispielsweise durch die Abtrennung von Küche und anderen Hauswirtschaftsräumen sowie die Differenzierung der Gesellschaftsräume nach Geschlechtern.14 Das Bedürfnis nach Abschirmung gegen die Welt hängt nicht nur mit der zunehmenden Trennung von Erwerbs- und Familienleben zusammen, sondern auch mit dem Bestreben des Bürgertums, sich vom Adel und der höfischen Öffentlichkeit abzusetzen. Denn in der europäischen Adelskultur hat Familie ihre Funktion überwiegend im Sinne der Geschlechter- und Erbfolge: »Der städtische Adel freilich, besonders der für das übrige Europa maßgebende der französischen Hauptstadt, hält weiterhin ›Haus‹ und verpönt die Innerlichkeit bürgerlichen Familienlebens. Die Geschlechterfolge, zugleich Erbfolge der Privilegien, wird durch den Namen allein ausreichend garantiert; dazu bedarf es nicht einmal des gemeinsamen Hausstandes der Ehepartner, die oft genug ihr eigenes ›hôtel‹ bewohnen und sich zuweilen in der außerfamilialen Sphäre des Salons häufiger treffen als im Kreis der eigenen Familie.«15

In Abgrenzung zum Adel zieht sich die bürgerliche Familie ins Innere des Hauses zurück und schiebt »die Mauer des Privatlebens zwischen sich und die Gesellschaft«.16 Der Rückzug ins Private war eine Reaktion auf die Machtlosigkeit des Bürgers in der politischen Realität und eine Abkehr von der noch barock geprägten Welt des Adels als einer der öffentlichen Selbstrepräsentation. Der familiäre Raum wird zu einem »Raum außerhalb der Welt, eine Festung gegen die Korruption der Gesellschaft«.17

12 Vgl. A. Gestrich: »Neuzeit«, S. 465. 13 N. Castan: »Öffentlich und privat«, S. 411f. 14 A. Gestrich: »Neuzeit«, S. 469. 15 J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 61. 16 P. Ariès: Geschichte der Kindheit, S. 562. 17 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 141.

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Auf den fundamentalen Zusammenhang von der Konstitution der bürgerlichen Familie und der Unterscheidung von öffentlich und privat hat auch Richard Sennett in seiner Studie zum »Verfall und Ende des öffentlichen Lebens« hingewiesen. Der private Raum der Familie werde dabei als natürlicher etabliert, während die Öffentlichkeit als Sphäre der Kultur verstanden werde: »Die Impulse, die die Öffentlichkeit beherrschten, waren Wille und Kunstgriff; die Privatsphäre dagegen war von dem Impuls bestimmt, alles Künstliche abzustreifen und auszuschalten. Das Öffentliche war ›Kreation‹, das Private ›Kondition‹ des Menschen«.18 Der zeichenhaften Selbstdarstellung wird die Vorstellung eines natürlichen Selbst-Ausdrucks entgegengestellt, der nur in der Abgeschiedenheit der Familie (oder der Natur) realisiert werden kann. Das Innere des Hauses bzw. der Familie soll es ermöglichen, das eigene Innere, das ›wahre Ich‹, unverstellt auszudrücken. Die Konstitution des Privaten als eines natürlichen Raums ist mithin auch ein Aspekt des »Phantasma[s] der natürlichen Gestalt«, das Günther Heeg zufolge die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend prägt.19 Auch wenn, wie Sennett betont, die Vorstellung einer individuellen Persönlichkeit noch nicht ausgeprägt ist - »das Private und das Individuelle haben noch nicht zueinander gefunden« -,20 so ist die Idee des natürlichen Selbst-Ausdrucks doch fundamental für das Konzept des bürgerlichen Individuums, wie es sich im späten 18. und im 19. Jahrhundert ausformt. Das Individuum wird, analog zur Familie, als eine geschlossene Einheit verstanden, die einen wahren, determinierten Kern in sich trägt. Dieses substantielle Selbst vermag das Subjekt mittels Zeichen nach außen auszudrücken.21 Die bürgerliche Familie zieht sich also aus der Gesellschaft zurück und begründet den Raum des Privaten und der Innerlichkeit, der, im Gegensatz zu der rhetorischen Verfasstheit der höfischen Öffentlichkeit, einem »System natürlichen Ausdrucks« gehorcht.22 Die Familie erscheint so als »Naturphänomen«: »Wenn das Natürliche und das Private zusammenfielen, dann war Familienleben zugleich Naturerleben«.23 Während die gesellschaftliche, v.a. die städtische, Öffentlichkeit mit Künstlichkeit, moralischem Verfall und Unehrlichkeit gleichgesetzt wird, so wird im Gegenzug die Familie zu einem Hort der Natürlichkeit, der Ehrlichkeit, des wahren Gefühls, der Tugend, Moral und Sittsamkeit erklärt. Familie wird auf diese Weise zu einem Gegenpol des Gesellschaftlichen überhaupt. Die Stilisierung der 18 R. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 133-134. 19 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. 20 R. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 122. 21 Judith Butler stellt diesem »Ausdrucksmodell« der abendländischen Kultur das Modell der Performativität entgegen, demzufolge ein solch substanzielles Selbst eine diskursiv erzeugte Illusion ist. Vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 200-202. 22 R. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 131. 23 Ebd., S. 124.

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Familie zur »natürlichen und sittlichen Grundlage aller menschlichen Gesellschaften« bedeutet auch, wie Andreas Gestrich feststellt, dass sie, eben als natürliche, jeglicher Kritik entzogen wird.24 Als natürliche ist sie unveränderbar; jede Kritik bedeutet eine Auflehnung gegen die Natur. Einen Grundstein zu der Trennung der Sphären des Öffentlichen und des Privaten und der Gleichsetzung des Privaten mit Natur legt Jean-Jacques Rousseau in seinen Schriften. So spricht er beispielsweise in Émile oder Über die Erziehung von »zwei sich widersprechende[n] Erziehungsweisen: eine öffentliche oder staatliche und gemeinsame, und eine besondere und häusliche«.25 Die häusliche setzt er der Natur gleich, nur sie vermag es, den »natürlichen Menschen« zu bilden: »Es bleibt nur noch die häusliche Erziehung oder die der Natur übrig«.26 Die Familie wird im aufklärerischen Diskurs auf diese Weise zum Inbegriff von Natürlichkeit; ihre historische Konstruiertheit wird zunehmend verborgen. Der »Triumph der Familie« im 19. Jahrhundert, wie ihn Michelle Perrot beschreibt, bedeutet nicht nur, dass sich die Kernfamilie als Familienform durchsetzt, in philosophischen, moralischen und politischen Schriften verherrlicht und als »Hort der Gesellschaft« verstanden wird, sondern auch, dass die Illusion erzeugt wird, die auf biologischen Banden beruhende, in sich geschlossene Kernfamilie sei die natürlichste aller Formen des Zusammenlebens.27

1.2 D IE P OLARISIERUNG

DER

G ESCHLECHTERROLLEN

Neben der zärtlichen Gefühlsbindung untereinander ist die Unterordnung unter das Prinzip der hausväterlichen Gewalt wesentlich für die bürgerliche Familie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese hausväterliche Gewalt verbindet in der bürgerlichen Familie patriarchale Autorität und die neue Vorstellung des liebevollen Vaters. Der Vater nimmt eine zentrale symbolische und reale Stellung ein, seine Autorität gilt als unhinterfragbar. Gleichzeitig werden dem Vater nunmehr auch zärtliche Gefühle seinen Kindern gegenüber zugesprochen, er erhält so eine reale Funktion, die er in früheren Zeiten nicht hatte. Dieses neue Vaterbild findet sich in der bildenden Kunst, und es konstituiert sich besonders explizit im bürgerlichen Trauerspiel. Der bürgerliche Hausvater soll die gesellschaftliche, ökonomische, sittliche und emotionale Bedeutung der Familie innerhalb ihrer selbst sichern und nach außen

24 A. Gestrich: »Neuzeit«, S. 381. 25 J.J. Rousseau: Émile, S. 20. 26 Ebd., S. 21. 27 M. Perrot: »Der Triumph der Familie«, S. 99-109.

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repräsentieren. Durch die zunehmende Trennung von Erwerbstätigkeit und Familienleben wird er zum alleinigen Verdiener und zu demjenigen, der nach außen, in die gesellschaftliche Öffentlichkeit tritt. Aus diesem Grund muss die väterliche Autorität verstärkt werden, um sie auch in seiner Abwesenheit zu sichern. Während der Vater also über »doppelte Macht« verfügt,28 sowohl in der Familie als auch der Öffentlichkeit eine zentrale Stellung einnimmt, wird die bürgerliche Ehefrau und Mutter ganz an den häuslichen Bereich gebunden und aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausgeschlossen. War die Frau in früheren Zeiten an der Wirtschaft der Hausgemeinschaft beteiligt oder stand in der Kultur des Adels in der Öffentlichkeit des höfischen Lebens, konzentrieren sich die Aufgabenbereiche der bürgerlichen Frauen nunmehr auf haushälterische Tätigkeiten und die Versorgung, Pflege und Erziehung der Kinder. Die bürgerliche Gesellschaft verschärft auf diese Weise durch die Institution Familie die Polarisierung der Geschlechter, die bereits in den vorangehenden Jahrhunderten angelegt ist: »Bereits vor den Diskursen, die am Ende des 18. Jahrhunderts Weiblichkeit neu entdecken, verläuft die Dichotomie zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit in der westlichen Mythopoetik meist so, dass der Frau der häusliche Bereich, das Innen, die Nähe und dem Mann das öffentliche Leben, das Außen, die Weite zugeschrieben wird […] Die passive Harmonie der Frau wird Natur genannt, die bewusste, zielgerichtete Strebsamkeit des Mannes Kultur.«29

Diese Annahmen werden im ausgehenden 18. Jahrhundert in medizinischen und philosophischen Schriften naturalisiert; in der gesellschaftlichen Realität »verfestigte sich in den Familien der bürgerlichen Mittel- und Oberschichten die Tendenz zur außerhäuslichen Arbeit des Mannes«, und damit wurde den Frauen »ausschließlich der häusliche Bereich und die Kinder zugeordnet«.30 Hausarbeit und Kindererziehung werde dabei, so Gestrich, nicht als Arbeit verstanden, sondern als ein Akt der Liebe, der der Natur der Frau entspricht: »Diese Umwertung der Tätigkeit der Frau von realer Arbeit zu einem selbstverständlichen Akt der Liebe wurde in der bürgerlichen Familienideologie des ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert mit der weiblichen Natur begründet«.31 Die zunehmende »Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben« führt auch Karin Hausen zufolge zu der naturalisierten Polarisierung der Geschlechtsidentitäten; um 1800 formiere sich die Geschlechterordnung neu: »An die Stelle der Standesdefinitionen [treten] Charakterdefinitionen. Damit aber wird ein partikulares durch ein universales Zuordnungsprinzip ersetzt: statt des Hausvaters und der Haus28 M. Perrot: »Rollen und Charaktere«, S. 130. 29 E. Bronfen: Die schöne Seele, S. 375. 30 A. Gestrich: »Neuzeit«, S. 531. 31 Ebd., S. 531.

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mutter wird jetzt das gesamte männliche und weibliche Geschlecht und statt der aus dem Hausstand abgeleiteten Pflichten werden jetzt allgemeine Eigenschaften der Personen angesprochen.«32 Männlichkeit und Weiblichkeit werden nunmehr als fundamentale Wesensmerkmale etabliert, auf diese Weise entsteht das binäre Geschlechtermodell, also die Vorstellung zweier wesenhaft voneinander geschiedener, polar organisierter Geschlechter. Geschlecht ergibt sich fortan nicht aus sozialem Handeln, sondern wird durch die Anatomie festgelegt und geht mit bestimmten charakterlichen und psychischen Eigenarten einher. Die Frau wird dabei als das Andere des Mannes konstituiert: »Irgendwann im 18. Jahrhundert wurde die Weiblichkeit neu entdeckt – als das Andere, das Gegenstück zur Männlichkeit«.33 Auch wenn diese Formierung sicherlich nicht plötzlich um 1800 geschieht, wie einige Studien nahe legen, so ist es doch auffällig, dass um diese Zeit in ganz unterschiedlichen Diskursen wesenhafte Eigenarten an die Biologie der Geschlechter geknüpft werden. Durch medizinische und naturwissenschaftliche ebenso wie philosophische Diskurse kommt es zu einer Naturalisierung des Körpers, das Geschlecht ist nunmehr keine moralische und damit veränderbare, sondern eine natürliche, unumstößliche Kategorie. So spricht etwa der Arzt Pierre Roussel von der »weiblichen Natur«, die er auf die weiblichen Fortpflanzungsorgane zurückführt und als grundlegend geschieden von der Natur des Mannes begreift.34 In ähnlicher Weise sind viele Mediziner darum bemüht, die soziale Rolle der Frau auf die weibliche Anatomie zurückzuführen. Thomas Laqueur schreibt: »Irgendwann im 18. Jahrhundert erfand man das Geschlecht, wie wir es kennen. Statt paradigmatische Resonanzorte einer den ganzen Kosmos durchklingenden Hierarchie zu sein, wurden die Reproduktionsorgane zur Grundlage des sich dem Vergleich entziehenden Unterschieds: ›Frauen verdanken ihre Seinsweise ihren Fortpflanzungsorganen, und besonders dem Uterus‹, wie es ein Arzt dazumal ausdrückte […] In Formen, die für die neue Erkenntnistheorie akzeptabel waren, gab im späten 17. und 18. Jahrhundert die Naturwissenschaft den Kategorien ›Männlich‹ und ›Weiblich‹ als einander gegensätzlichen und unvergleichlichen biologischen Geschlechtern Substanz.«35

Rousseau ist einer der ersten, der geschlechtsspezifische Charaktermerkmale an den anatomischen Körper bindet und von wesenhaften »Geschlechtscharakteren« spricht, die binär einander gegenübergestellt sind: »Das eine soll tätig und stark sein, das andere empfangend und schwach; bei dem einen muss notwendig Wille 32 K. Hausen: »Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹«, S. 370-371. 33 E. Bronfen: Die schöne Seele, S. 372. 34 Vgl. Y. Knibiehler/C. Fouquet: L'Histoire des mères, S. 152-154. 35 T. Laqueur: Auf den Leib geschrieben, S. 172, 177.

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und Kraft herrschen, bei dem anderen zarte Nachgiebigkeit«.36 Mann und Frau seien aufgrund ihrer entgegengesetzten Eigenschaften komplementär. Diese Ontologisierung der Geschlechterdifferenz prägt den abendländischen Geschlechter- und Sexualitätsdiskurs in Rousseaus Folge nachhaltig. Beiden Geschlechtern sind Rousseau zufolge Leidenschaften eingepflanzt, »Neigungen ohne Maß«, »maßlose Leidenschaften« und »grenzenlose Begierden«, die beim Mann durch Vernunft und Gesetz beherrscht, bei der Frau durch Scham in Schranken gehalten werden.37 Die Vernunft des Mannes sei stärker als die Scham, weshalb es viele schamlose Frauen gebe, die ihre Begierden nicht im Griff hätten. Günther Heeg stellt fest, dass die Formulierungen Rousseaus die Faszination und den Schrecken der weiblichen Lust mitteilten.38 Heeg zufolge konstruiert Rousseau die Frau als Spaltung, die er bei sich selbst verdrängen wolle, projiziere die eigene Zerrissenheit auf die Geschlechtsidentitäten und verwerfe den bedrohlichen Teil, die überbordende Lust, in Form der bösen, schamlosen Frau. Diese schamlose Frau ist in Rousseaus Schriften das Gegenbild zur Hausfrau und Mutter, die zu Hause ihre Kinder versorgt: »In ihre Wohnungen zurückgezogen, widmeten sie all ihre Sorgfalt lediglich dem Hauswesen und der Familie. Das ist eben die Lebensweise, welche Natur und Vernunft dem weiblichen Geschlecht vorschreiben. Von solchen Müttern wurden denn auch die gesündesten, kräftigsten und wohlgebildetsten Kinder geboren […].«39 Die Spaltungen der Weiblichkeit werden in den Schriften Rousseaus und anderer Aufklärer an und mit der Figur der Mutter vollzogen. Die Diskurse über eine bürgerliche Identität entzünden sich zu einem wesentlichen Teil an Fragen der Familie und Mutterschaft. Die Natürlichkeit der Familie wird dabei an Verhalten und Eigenschaften der Mutter festgemacht. Somit hat der neue Familiensinn nicht nur eine Naturalisierung der Rolle der Frau als Mutter zur Folge, sondern umgekehrt ist die Mutter wesentliche Figur der Naturalisierung des neuen Familien- und Geschlechtermodells.

36 J.J. Rousseau: Émile, S. 701. 37 Ebd., S. 703. 38 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 23. 39 J.J. Rousseau: Émile, S. 708.

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1.3 D IE R OLLE

DER

M UTTER

Der bürgerliche Familiencode ist Kittler zufolge durch die Zentrierung auf die Mutter gekennzeichnet, und tatsächlich führt die neue Aufmerksamkeit, die im 18. Jahrhundert auf das Kind und seine Erziehung gerichtet wird, auch zu einer Umwertung der Rolle der Mutter. Sie ist es, die in den Augen der Erzieher und Moralisten für die Versorgung und frühkindliche Erziehung zuständig ist, und so erhält die Mutter und das Mutter-Kind-Verhältnis zum ersten Mal in der abendländischen Geschichte die Aufmerksamkeit von Philosophen, Ärzten, Politikern und Erziehern: »A partir de 1750 environ, la fonction de mère devient l’objet d’un discours de plus en plus riche, de la part des philosophes, des médecins, des hommes d’Etat«.40 Die Rolle, die ihr dabei zugewiesen wird, ist eine reale, an den biologischen Körper der Frau gebundene, wohingegen der Vater als eine zugleich symbolische und reale Instanz errichtet wird: »Mutterschaft [ist] eine biologische Funktion. Vaterschaft hingegen ist nicht naturalisierbar und behält ein symbolisches Moment.«41 Die Konzentration auf den Schutz und die Versorgung des Kindes innerhalb der Familie führt so nicht nur zu einer spezifischen Aufgabenverteilung, sondern auch zu einer Recodierung der Geschlechtsidentitäten. Noch bis ins 17. Jahrhundert hinein erfüllte die Mutter, wie beschrieben wurde, verschiedene Funktionen in der Familie, die Kindererziehung nahm keinen zentralen Stellenwert ein. Das änderte sich mit der Entdeckung der Kindheit und dem Auseinanderfallen von Erwerbstätigkeit und Familienleben im Zuge der Verbürgerlichung der Gesellschaft. Der Raum der Frau ist fortan der private Raum des Hausinneren, die Mutter wird zum Mittelpunkt dieses Horts der Liebe und Geborgenheit: »Somit taucht am Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Lebensweise auf, die sich während des 19. Jahrhunderts weiter entfaltet. Ausgerichtet auf das ›Innere‹, das die familiären Gefühlsbindungen schön warmhält, formiert sich die moderne Familie um die Mutter, die eine noch nie gekannte Bedeutung gewinnt.«42 Die neue Zentrierung der Familie auf die Mutter bedeutet auch, dass der Vater der Einheit Familie zugleich zu- und übergeordnet ist: er ist Teil von ihr und steht zugleich, indem er sie nach außen repräsentiert, schützt und abgrenzt, außerhalb von ihr; eine Funktion, die ihm auch heute noch zugeschrieben wird, wie im Rahmen der Bildanalysen im ersten Kapitel deutlich wurde. Das Entscheidende an dieser Entwicklung sind vielleicht nicht so sehr die konkreten Tätigkeiten der Frau und Mutter, sondern ihre Bewertung: In der Vorstellungswelt des fortgeschrittenen 18. Jahrhunderts erfüllt die Mutter alle ihr zugewie-

40 Y. Knibiehler/C. Fouquet: L'Histoire des mères, S. 138. 41 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 156. 42 E. Badinter: Die Mutterliebe, S. 169.

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senen Aufgaben aus Liebe und zur eigenen Erfüllung. Das Glück, das sie empfindet, bezeugt in den Augen der Zeitgenossen die Natürlichkeit des neuen Familienkonzepts und der mit ihm einhergehenden Geschlechtsidentitäten. Und so gibt es auch in der bildenden Kunst der Zeit mannigfache Ausformungen des Motivs der »glücklichen Mutter«.43 Ihr Glück beruht, so wird angenommen, auf der natürlichen Berufung der Frau zur Mutterschaft und der ebenso natürlichen Liebe der Mutter zu ihrem Kind: »Seine Kinder nicht zu lieben ist zu einem unerklärlichen Verbrechen geworden. Die gute Mutter ist liebevoll, oder sie ist keine Mutter.«44 Bis Mitte des 18. Jahrhunderts kommt Liebe als familialer Wert kaum vor, erst mit der Entdeckung der Familie als Gefühlswert werden die emotionalen Beziehungen der Familienmitglieder zueinander zum Thema gemacht. Im Zuge dieser Entwicklung wird in medizinischen und philosophischen Diskursen vor allem die Liebe der Mutter zum Kind betont, die zunehmend als unerlässlich für das kindliche Wohlergehen erachtet wird. Auf die historische Verfasstheit der Mutterliebe hat Elisabeth Badinter bereits 1980 hingewiesen. Ihr zufolge ist Mutterliebe keine übergeschichtliche Konstante, sondern wird im 18. Jahrhundert als natürlicher Instinkt konstruiert: »Nach 1760 erscheint eine Unmenge von Publikationen, in denen den Müttern empfohlen wird, sich persönlich um ihre Kinder zu kümmern, und in denen ihnen ›befohlen‹ wird, sie zu stillen. Die Frau wird darin verpflichtet, vor allem Mutter zu sein, und es entsteht ein Mythos, der auch zweihundert Jahre später noch immer sehr lebendig ist: der Mythos vom Mutterinstinkt oder von der spontanen Liebe einer jeden Mutter zu ihrem Kind.«45

Badinter zufolge wird Mutterliebe mithin naturalisiert, die historische Verfasstheit dieses Gefühls verdeckt und seine Natürlichkeit bis heute nicht grundlegend hinterfragt. Diese natürliche Liebe der Mutter zu ihren Kindern steht im Zentrum des neuen Familienbildes. Nicht nur die Kinder werden aufgrund ihrer biologischen Leiblichkeit eng an die Eltern gebunden, auch die Mutter definiert sich nunmehr über ihre Biologie; Mütterlichkeit wird fortan als eine aus dem leiblichen Kindschaftsverhältnis entspringende Naturgegebenheit verstanden. Das Konzept der bürgerlichen Familie legt die Frau auf ihren anatomischen Körper und die Funktion der Mutterschaft fest, indem es sie als reale Mutter idealisiert: »Mutterschaft wurde damit zur ›natürlichen‹ Bestimmung und Berufung jeder Frau«.46 43 C. Duncan: »Happy Mothers«. Vgl. Kap. 1.4. 44 E. Badinter: Die Mutterliebe, S. 168. 45 Ebd., S. 113. Zur »Entdeckung der Mutterliebe« vgl. Y. Knibiehler/C. Fouquet: L'Histoire des mères, S. 138-171. Zur Geschichte des »normativen Musters ›Mutterliebe‹« ab dem 18. Jh. vgl. Y. Schütze: Die gute Mutter. 46 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 117.

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Barbara Vinken hat darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem Protestantismus das Konzept der geistlichen bzw. symbolischen Mütterlichkeit aus der Welt geschafft wurde: »Die Mutter, die im patriarchalischen Haushalt zu Dienst und Opfer bereit ist und im Pflegen und Erziehen der Kinder ihre wichtigste Aufgabe erkennt, ist eine Schöpfung des protestantischen Europas, die bald auf das gesamte Europa ausstrahlte«.47 Geistliche Mütterlichkeit war im Christentum bis zur Reformation von größerer Bedeutung als die physische Mutterschaft und stellte, unabhängig vom anatomischen Geschlecht, sowohl für Frauen als auch für Männer die höchste Tugend dar.48 Im Gegensatz zu einem solch a-biologischen Begriff von Mütterlichkeit wird diese mit der Idealisierung realer Mutterschaft an den weiblichen Körper gebunden. Mit der Reformation setzt also eine Naturalisierung des Konzepts der Mütterlichkeit ein, die bis heute wirkungsvoll ist: »Das Konzept der spirituellen Mütterlichkeit war in dem der körperlichen Mutterschaft naturalisiert worden. Die Geistlichkeit hatte sich in Richtung Väterlichkeit verlagert«.49 Diese Entwicklung wird auch, wie gezeigt wurde, in der neuzeitlichen Madonnenikonografie sichtbar, in der Mütterlichkeit naturalisiert und die Figur der Maria weitgehend auf die physische Komponente ihrer Mütterlichkeit reduziert wird. Durch die Gleichsetzung von Familie mit Natur und gesellschaftlicher Öffentlichkeit mit Kultur wird im 18. Jahrhundert ein Geschlechtercode ausgebildet, der die Hausfrau und Mutter mit Natur, den Mann mit Kultur verbindet. Die Idealisierung realer Mütterlichkeit hat die Reduktion der Frau auf ihre Funktion als leibliche Mutter zur Folge: »Die Frauen, wendet man ein, bekommen ja nicht immer Kinder. Nein, aber trotzdem ist es doch ihre eigentliche Bestimmung, Kinder zu gebären.«50 Die bürgerliche Gesellschaft tut sich nicht nur, wie Kittler sagt, schwer damit, »zu einer kulturellen Funktion Mutterschaft zu gelangen«,51 sondern schließt die Mutter geradezu aus dem Bereich des Symbolischen aus. Die Gegenüberstellung von Familie und Öffentlichkeit ermöglicht es zudem, die Aufspaltung von Weiblichkeit in Eva und Maria, Hure und Madonna, zu zementieren. Die öffentliche Frau, assoziiert mit den in der Öffentlichkeit des höfischen Lebens stehenden Frauen des Adels und gleichgesetzt mit Künstlichkeit, wird der guten, natürlichen und unschuldigen Mutter der bürgerlichen Familie gegenüber gestellt: »Die Frauen haben aufgehört, Mütter zu sein«, schreibt Rousseau, »und werden es nie wieder werden, weil sie es nicht mehr sein wollen. Schon wenn sie es 47 Ebd., S. 109. 48 So bezeichnet etwa Franz von Assisi all jene als Mütter, die den Grundsätzen Jesu folgen; vgl. K. Schreiner: Maria, S. 56. 49 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 144. 50 J.J. Rousseau: Émile, S. 708. 51 F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 15.

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wollten, würden sie dazu kaum imstande sein«, denn zu sehr haben sie sich den »weltlichen Vergnügungen« des öffentlichen Lebens verschrieben.52 Für dieses öffentliche Leben als Ort des Verfalls der Sitten steht bei ihm die Stadt: »Die Städte sind der Abgrund des menschlichen Geschlechts«.53 In ihr bewegen sich die lasterhaften Frauen, die sich weigern, ihre Kinder selbst zu stillen oder gar, Kinder zu bekommen: »Aber noch nicht zufrieden damit, dass sie ihre Kinder nicht mehr stillen, gehen die Frauen in ihren Wünschen sogar so weit, gar keine Kinder mehr zu bekommen.«54 Die guten Mütter hingegen bleiben im Haus und erfüllen die »süße Pflicht […], die ihnen die Natur auferlegt«, indem sie ihre Kinder stillen.55 Rousseau rekurriert auf diese Weise auf das christliche Bild der reinen, unschuldigen Mutter und kontrastiert es mit der sexuell aufgeladenen Vorstellung einer Eva, die sich der Reproduktion verweigert. Elisabeth Bronfen sieht in der Assoziation der Frau mit Natur selbst die Grundlage für eine solche Spaltung der Weiblichkeit. Als Natur stehe Weiblichkeit sowohl für die lebensstiftende, sorgende und nährende Mutter, als auch für die »unzivilisierte Wildnis, eine nicht zu bändigende Unordnung«, also die sexuell aktive, lebensbedrohende Frau. Bronfen fährt fort: »Aus dieser Doppeleigenschaft entstand eine doppelte Kodierung der Frau: die jungfräuliche Fruchtbarkeitsgöttin und die Göttin der Rache und der Zerstörung; die Heilige und die Hure […] Indem die Frau mit der Natur und dem Körper gleichgesetzt wurde, wurde sie als das Andere der Kultur entworfen«.56 Tatsächlich lässt sich in jener Mutter, die bei Rousseau ihren Vergnügungen in der städtischen Öffentlichkeit nachgeht, unschwer eine sexuell aktive Mutter erkennen, die verführt und sich verführen lässt, eine Eva. »Seit Eva dient der weibliche Körper als Allegorie für die Sünde, für Betrug, für Täuschung, für Zerstörung und Negation«;57 als Mutter verkörpert Eva die Ambivalenz, die mit der weiblichen Fruchtbarkeit einhergeht, und aus der sich bis heute Phantasien der ›bösen‹ Mutter speisen. Denn die Mutter schenkt dem Kind nicht nur Leben, sondern auch seine Sterblichkeit, und die Symbiose mit der Mutter bedeutet nicht nur Vollkommenheit, sondern auch Bedrohung der eigenen Identität. Und dies umso mehr, wenn die Mutter als Subjekt eines eigenen Begehrens auftritt. Die Gleichsetzung von Frau und Natur, die philosophische und wissenschaftliche Diskurse des 18. Jahrhunderts vornehmen, wird möglich, weil die Natur nicht nur als Gegenstand der Forschung begriffen wird, sondern auch als normatives 52 J.J. Rousseau: Émile, S. 33. 53 Ebd., S. 63. 54 Ebd., S. 29. 55 Ebd., S. 33. 56 E. Bronfen: Die schöne Seele, S. 375-376. 57 Ebd., S. 377.

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Prinzip.58 Das unmittelbare Verhältnis der Frau zur Natur wird in vielen Schriften mit der naturgegebenen Rolle der Frau als Mutter begründet; die physischen Eigenschaften der Frau verdeutlichen für Philosophen wie Rousseau und Mediziner wie Roussel, »dass die natürliche Berufung der Frau die Mutterschaft im Rahmen einer geordneten häuslichen Existenz« sei.59 Die Figur der Mutter wird auf diese Weise zur Garantin der Natürlichkeit der polaren Geschlechterordnung: »Im Namen eines natürlichen Determinismus schloss das medizinische Denken die ideale Weiblichkeit in jene enge Sphäre ein, die ihr von der sozialen Ordnung zugebilligt wurde: Die gesunde und glückliche Frau war per definitionem Mutter […]«.60 Für diese Naturalisierung des Konzepts der Mütterlichkeit stellt der Diskurs um das Stillen einen wichtigen Beitrag dar. Das Stillen des Kindes durch die leibliche Mutter steht im 18. Jahrhundert im Zentrum vieler Debatten um die Natur der Frau und der Familie. Während das Stillen des Jesus-Kindes im Christentum eine symbolische Bedeutung hat und sowohl für die Menschlichkeit des Gottessohnes als auch für die Geistlichkeit der Mutter steht, und es im 16. und 17. Jahrhundert meist nur unter medizinischen Gesichtspunkten empfohlen wird, wird der Akt des Stillens nunmehr zum Inbegriff von Natur erklärt. Gerade die Propagierung des Stillens führt so zu einer Reduktion der Mutter auf ihre physische Mutterschaft, der mütterliche Körper wird zum Garanten der Naturgegebenheit der neuen Geschlechter- und Familienordnung. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts empfehlen vor allem Ärzte zunehmend das Stillen durch die leibliche Mutter, im Laufe des 18. Jahrhunderts sprechen zahlreiche Texte nicht nur vom gesundheitlichen Nutzen des Stillens, sondern von den Glücksgefühlen, die die körperliche Symbiose von Mutter und Kind beim Stillen auslöse: »Würden sie [die stillenden Mütter] uns doch die süßen Gefühle schildern, die eine stillende Mutter empfindet, wenn das Kind ihre Milch einsaugt, sie anlächelt, seine Arme um sie schlingt und ihr zu danken scheint«.61 Das Nicht-Stillen wird mit Gefahren für das Wohlergehen des Kindes verbunden. Zentral ist, vor allem im französischen Diskurs, das Stillen durch die leibliche Mutter: »Wenn die Mütter ihre Kinder nähren würden, so würden diese allem Anschein nach stärker und kräftiger werden. Die Milch der Mutter muss ihnen besser bekommen als die Milch einer anderen Frau.«62

58 Vgl. M. Crampe-Casnabet: »Aus der Philosophie«, S. 342. 59 E. Berriot-Salvadore: »Der medizinische Diskurs«, S. 407. 60 Ebd., S. 407. 61 Prost de Royer, zit. nach E. Badinter: Die Mutterliebe, S. 152. 62 Georges Louis de Buffon, zit. nach M. Crampe-Casnabet: »Aus der Philosophie«, S. 337. Die Besonderheit des französischen Diskurses über das Stillen durch die eigene Mutter hängt mit der gängigen Praxis im Frankreich des 17. und 18. Jh. zusammen, Säuglinge zu

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Auch für Rousseau ist das Stillen Inbegriff der natürlichen, physischen und affektiven Zusammengehörigkeit von Mutter und Kind; es sei die ›erste Pflicht‹ der Frau. Er schreibt gegen die ›unnatürliche Mode‹ an, Säuglinge zu Ammen zu geben: »Woher stammt diese unvernünftige Sitte? Von einer unnatürlichen Mode. Seitdem die Mütter, ihrer ersten Pflicht uneingedenk, ihre Kinder nicht mehr selbst stillen wollten, musste man sie bezahlten Frauenmietlingen überlassen, in denen selbstverständlich die Stimme der Natur den fremden Kindern gegenüber […] schwieg.«63 Wesentlich für ihn sind die affektiven Bande zwischen Mutter und Kind, die durch das Stillen gestärkt würden und Familie wie Gesellschaft zusammenhielten. Denn Rousseaus Erziehungstheorie ist zugleich eine politische Theorie, das Wohl der Gesellschaft hängt für ihn wesentlich von der Familie ab, und zwar in erster Linie von der Mutter. Kommt die Mutter »ihrer ersten und heiligsten Pflicht«, der Sorge um ihr leibliches Kind, nicht nach, hat das Folgen für den gesamten Staat: »Aus dieser ersten Verderbnis ist nach und nach alles übrige Unheil hervorgegangen: Alle sittliche Ordnung leidet darunter; die Natürlichkeit erlischt in aller Herzen, das Innere der Häuser verliert an Leben […]; es gibt keine Väter, keine Mütter, keine Kinder, keine Brüder, keine Schwestern mehr; kaum kennen sich alle untereinander, wie sollten sie sich also lieben? Jeder denkt nur an sich […] Wenn sich jedoch die Mütter dazu verstehen, ihre Kinder selbst zu nähren, so werden sich die Sitten von selbst bessern, werden die natürlichen Gefühle in aller Herzen wieder erwachen; der Staat sich wieder bevölkern; schon diese erste Folge, diese Folge allein, wird alles wieder vereinigen. Der Reiz des Familienlebens ist das beste Gegengift gegen den Verfall der Sitten.«64

Rousseau zufolge hängt Wohl und Sittlichkeit der ganzen Gesellschaft vom Stillen durch die leibliche Mutter ab. Er weist so einerseits der Frau eine zentrale Bedeutung zu, diese Bedeutung aber liegt allein in ihrer bedingungslosen physischen und affektiven Hingabe an das Kind begründet. Ähnlich wie in medizinischen Schriften seiner Zeit, in denen die ›Natur der Frau‹ an ihren Fortpflanzungsorganen und der milchgebenden Brust festgemacht wird,65 wird das Stillen bei Rousseau so zum Inbegriff der natürlichen Berufung der Frau zur Mutterschaft und des binären Geschlechtermodells. Natürliche Mütterlichkeit wird darüber hinaus zum Garanten von – moralischer, familiärer und gesellschaftlicher – Einmütigkeit erklärt.

einer Amme zu geben. Die Argumente für das Stillen werden aber auch in Deutschland und England übernommen. 63 J.J. Rousseau: Émile, S. 27. 64 Ebd., S. 32. 65 Vgl. Y. Knibiehler/C. Fouquet: L'Histoire des mères, S. 152-154.

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Rousseaus Schriften werden im ausgehenden 18. Jahrhundert in ganz Europa rezipiert und haben einen großen Einfluss auf die Entwicklung der modernen Familie und das Mutterbild, auf dem diese beruht. Gerade die zunehmende Idealisierung der Mutterrolle im 19. Jahrhundert geht auf Rousseau und seine Rezeption zurück. Vor allem in seinem Erziehungsroman Émile von 1762 konstruiert er die Vorstellung der idealen Familie, die sich aus der Gesellschaft zurückzieht und das Kind ohne äußere Einflüsse aufzieht. Damit wird der Rolle der Mutter zwar zum ersten Mal in der Geschichte Aufmerksamkeit zuteil, zugleich aber wird die Frau auf diese Rolle festgelegt. Gerade die medizinischen Diskurse unterstützen Rousseau in seinem Bestreben, die Natürlichkeit der mütterlichen Fürsorge und des Stillens zu propagieren. Wesentlich für den tiefgreifenden Einfluss, den Rousseau und seine Nachfolger auf das bürgerliche Familienbild haben, ist die Behauptung der ursprünglichen Natürlichkeit dieses Konstrukts, die es jeder Kritik enthebt: »Die neue Mutter und die mit ihr verknüpfte Geschlechterordnung trat im Gewand der Natur und der unverfälschten Sitten als ewig ursprüngliche auf, zu der es zurückzukommen galt.«66 Kennzeichen der guten Mutter in Rousseaus Sinne ist mithin die Natürlichkeit der Mutterrolle, die vollkommene Konzentration auf das Kind, die Geschlossenheit der Mutter-Kind-Einheit und der Rückzug aus der Gesellschaft ins Innere des Hauses: »Weit davon entfernt, eine Weltdame zu sein, lebt die wahre Hausfrau indes nicht weniger abgeschlossen in ihrer Häuslichkeit als die Nonne in ihrem Kloster«.67 Im Gegensatz zu den offenen Häusern des 16., 17. Jahrhunderts ist das bürgerliche Haus des 18. Jahrhunderts ein geschlossener Raum, der sich übergangslos nach außen ab- und alles ihm Andere ausgrenzt. Dieses Andere ist, das wird in Rousseaus Schriften deutlich, nicht nur die Öffentlichkeit an sich, sondern die Leidenschaften, die mit ihr assoziiert werden. Die Funktion des bürgerlichen Heims ist es, analog zum Kloster, weibliche Lust und Begehren auszuschließen. Die Mutter muss, wie die Nonne, jeglicher körperlicher Lust entsagen und Glücksempfinden allein aus der unschuldigen Beziehung zu ihrem Kind ziehen; ihr Einschluss ins Private geht mit ihrer Entsexualisierung einher. Barbara Vinken zufolge ist die Mutter der bürgerlichen Familie auch eine strategische Figur, um Frauen aus der Öffentlichkeit zu verbannen und eindeutige Geschlechtsidentitäten zu festigen, die in der aristokratisch-barocken Welt noch uneindeutig waren: 66 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 146. Vinken zufolge konnte Mütterlichkeit für den deutschen Sprachraum gerade deshalb so zentral werden, weil sie einen Raum jenseits von Politik versprach. Anders als Rousseau verband z.B. Pestalozzi seine Vorstellung von Mutterschaft nicht mit einem politischen Entwurf, sondern mit einer heilsgeschichtlichen Dimension. Vgl. ebd., S. 163. 67 J.J. Rousseau: Émile, S. 762.

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»Der Ersetzung von erotischer Attraktion durch Familienbande, die für eine Befestigung der Geschlechtsidentitäten unabdingbar war, entsprach die Errichtung einer schärfer gezogenen Grenze zwischen Privatraum und Öffentlichkeit. Die Familie wurde zum Ort der Sittlichkeit, die Welt zum Ort der Versuchung und der Korruption; in der einen herrschen Leidenschaften, in der anderen Natur und Vernunft […] Gegen die Äußerlichkeit, die Falschheit der Welt und die in ihr praktizierte Verwirrung der Geschlechter steht die Authentizität, Wahrhaftigkeit, wirkliche Liebe, wahre Natürlichkeit eines Innenraums und unverwechselbare Geschlechtsidentität. Ihr Preis war die Verwandlung der Frau in die Mutter, die ihre Lust aufzugeben hatte.«68

Indem das ausschließliche und allumfassende Muttersein zur Natur der Frau erklärt wird, wird das binäre Geschlechtermodell und die Zwangsheterosexualität naturalisiert; die Figur der Mutter ist mithin das wesentliche Mittel dieser Naturalisierung. Vinken zufolge ist sie darüber hinaus eine Figur, die die Biologisierung von Kultur überhaupt erst ermögliche, da sie Geschichte zu leugnen imstande sei.69

1.4 F AMILIENBILDER

IN DER BILDENDEN

K UNST

Auch in der bildenden Kunst wird die neue Vorstellung von Familie sowie die Aufund Neubewertung der Rolle der Mutter sichtbar. Das weltliche Familienbild wird im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem der beliebtesten Genres der Malerei, die Darstellung der Familie wird dabei immer realistischer. Das Setting ist ein häuslichalltäglicher Rahmen, ein Privatraum des bürgerlichen Heims, betont werden die emotionalen Beziehungen zueinander, meist durch körperliche Nähe und Berührungen. Harmonisierende Farbgebung und Linienführung sowie mimische Zeichen (Lächeln) erzeugen den Eindruck der Glückseligkeit, so dass die Darstellung das neue Familienmodell zugleich naturalisiert und idealisiert. So ist beispielsweise auf Daniel Chodowieckis Titelkupfer zu Theodor Gottlieb von Hippels Schrift Über die Ehe von 1792/93 eine Familie in einem Innenraum auf einem Sofa in enger körperlicher Verbundenheit dargestellt (Abb. 25). Der Raum ist durch Sofa, Fußbank und herumliegendes Spielzeug als Privatraum gekennzeichnet; die Eltern sitzen nebeneinander auf dem Sofa, drei Kinder auf ihren Schößen, ein weiteres neben dem Vater auf dem Boden, das jüngste der Kinder liegt an der Brust der Mutter. Auffällig ist die große körperliche Nähe zwischen allen Familienmitgliedern sowie die Tatsache, dass sie einander zugewandt sind.

68 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 159. 69 Ebd., S. 146.

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Die Kinder werden durch Kleidung und Bewegtheit in ihrer Kindlichkeit betont, auch das Steckenpferd auf dem Boden betont das Besondere der Kindheit als Zentrum des neuen Familienbildes. Zwischen den Eltern findet keine eindeutige Hierarchisierung statt, der Vater ist nur leicht größer als die Mutter, er wendet seinen Körper ihr zu und schaut sie an. Allerdings ist die Frau körperlich mehr von den Kindern eingenommen als er, sie bildet mit zwei der Kinder gleichsam eine Einheit innerhalb der Einheit Familie. Der Körper des Säuglings an ihrer Brust ist kaum von ihrem Körper zu unterscheiden, die ältere Tochter drückt sich an sie und schlingt die Arme um ihren Hals, ihre Gesichter berühren sich. Der gesamte Oberkörper und Schoß der Mutter wird auf diese Weise von den Kindern belegt. Die Tochter, die die Mutter umarmt, kniet auf einem Bein des Vaters, ein Junge liegt quer über seinem Schoß, ein weiteres Kind hängt an seinem anderen Bein. Auch der Vater wird so von seinen Kindern vereinnahmt, allerdings haben seine Beine, im Gegensatz zu den von einem bodenlangen, faltenwerfenden Rock bedeckten Beinen der Mutter, freies Spiel, und alle drei Kinder sind nicht ihm zugewandt, sondern entweder der Mutter oder einander. Der Körper des Jungen auf seinem Schoß unterscheidet sich deutlich vom Körper des Vaters und ist nach außen gewandt, er turnt mehr auf dem Vater herum, als dass er eine körperliche Einheit mit ihm bilden würde. Die rechte Bildhälfte, diejenige des Vaters, ist durch die spielerischzankende Bewegung der Kinder und die gekreuzten Beine des Vaters dynamisch, während die linke Bildhälfte, diejenige der Mutter, statisch wirkt. Dies liegt auch an dem wallenden Stoff, der ihre Beine verbirgt und sie an die Umgebung (das Sofa, den Boden) zu binden scheint. Auf diese Weise wird einerseits ein zärtlicher und geduldiger, seiner Frau und Kindern liebevoll zugewandter Vater dargestellt, ein realer Vater mit körperlichen und affektiven Funktionen in der Familie. Zugleich jedoch wird sein Körper als weitgehend autonomer inszeniert, während der mütterliche Körper eine symbiotische Beziehung mit den Kindern eingeht. Auch in diesem Bild, das auf den ersten Blick den Eindruck einer paritätischen Familienstruktur vermittelt, lassen sich mithin geschlechtsspezifische Muster wie Statik-Dynamik, Symbiose-Autonomie erkennen. Dennoch ist hier der Vater in bemerkenswerter Weise, zumal im Vergleich zu der Porträtkultur des 16. und 17. Jahrhunderts, in die Familie integriert, die so als eine unbedingte, körperliche und emotionale Einheit aller Familienmitglieder zu sehen gegeben wird. Bemerkenswert ist weiterhin, in welcher Weise hier eine offensichtliche Repräsentationsfunktion, wie sie im Familienbild und der Porträtkultur bis ins 18. Jahrhundert hinein (und auch später noch) üblich war, bewusst vermieden wird: Die Figuren nehmen keine expliziten Posen ein, sondern vermeintlich natürliche; und sie blicken nicht aus dem Bildrahmen heraus, sondern sind einander zugewandt. Der Betrachter wird auf diese Weise aus den Blickbeziehungen ausgeschlossen, die Repräsentation ist nicht als solche kenntlich. Setting, Kleidung und Körperhaltung wirken weitgehend alltäglich, niemand scheint sich der Anwesenheit des Malers

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bzw. Betrachters bewusst zu sein, dieser scheint im Gegenteil, in ähnlicher Weise wie Diderot es für das Theater fordert, durch eine ›vierte Wand‹ auf das intime Familienglück zu schauen. Der Eindruck der Intimität entsteht in erster Linie durch die körperliche Nähe und die gegenseitigen Berührungen, er wird durch die Sofalehne, die die Gruppe zu einer Einheit zusammenschließt, und die Blickachsen, die innerhalb des Bildrahmens verlaufen, verstärkt. Ein solcher »Schlüssellocheffekt« belauschter Intimität soll Angelika Lorenz zufolge das alltägliche Leben unmittelbar festhalten und das häusliche Glück bürgerlicher Familien möglichst realistisch darstellen.70 Abbildung 25: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Titelkupfer zu Theodor Gottlieb von Hippels Schrift »Über die Ehe«, 1793

Quelle: Theodor Gottlieb von Hippel: Über die Ehe, Berlin: Voß 1793

Die ideale Familie wird als nach außen geschlossene, körperliche und emotionale Einheit gezeichnet. Hierfür wird eine realistische Darstellungsweise entwickelt, die den Akt der Darstellung unkenntlich macht und so das Dargestellte naturalisiert. Die Natürlichkeit wird zum neuen Ideal nicht nur für die reale Familie, sondern auch für die Art und Weise ihrer Darstellung. Diese Verbindung des bürgerlichen Ideals der Familie mit der Entwicklung einer neuen Darstellungskonvention, deren

70 A. Lorenz: Das deutsche Familienbild, S. 31.

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Ziel die Natürlichkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation, also die Verdeckung des eigenen Zeichencharakters ist, zeigt sich auch im Theater der Zeit. In der säkularen Malerei ist die Darstellung der Familie als autonomer Kleingruppe ab dem späten Mittelalter nachgewiesen und ab dem 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet. Die Veränderungen der Vorstellung von Familie im Laufe des 18. Jahrhunderts haben auch Einfluss auf die bildende Kunst. Die repräsentative Funktion der höfischen Bildnistradition wird, zumal im 19. Jahrhundert, abgelöst durch die Darstellung der bürgerlichen Familie als intime und glückliche Gemeinschaft. Die Figur der Mutter wird zunehmend auf den häuslichen Raum beschränkt, Mutterschaft als einzig erfüllende und natürliche Aufgabe der Frau dargestellt. Wesentlich hierfür ist die Erzeugung des Eindrucks von Intimität und Harmonie durch gestalterische Mittel wie körperliche Nähe von Mutter und Kind, wechselseitiger Blickkontakt, Mimik und Beleuchtung. Nach wie vor ist die Darstellung der Familie durch das patriarchalische Familienmodell geprägt, wenn auch der Vater zunehmend als seiner Frau und Kindern liebevoll zugewandter gezeigt wird. Das Familienbild konzentriert sich immer mehr auf die Darstellung der Kernfamilie, weitere Verwandte oder auch Bedienstete, die bis Mitte des 18. Jahrhunderts noch selbstverständliche Gruppenmitglieder des Familienbildes waren, verschwinden. Die Familie wird meist in einem Privatraum dargestellt, ihre Einheit und Geschlossenheit wird durch formale Mittel wie fließende Linien betont. »Familie [wird] hier als ›natürliche‹ Einheit begriffen, die sich selbst definiert im unmittelbaren Bezogensein aufeinander«.71 Neu ist Angelika Lorenz zufolge die bevorzugte Präsentation von Kindern und Müttern im Familienbild. Die Mutter bilde häufig das Zentrum der neuen Familienmalerei: »Die Bedeutung der Frau als Mittelpunkt des sich intimisierenden bürgerlichen Familienbildes [erfährt] eine eminente Aufwertung«; und weiter: »Diese von Zärtlichkeit und Fürsorge geprägte Mutter-Kind-Beziehung kann als Basis gelten, auf der die gesamte Emotionalität der Familie aufgebaut wurde«.72 Die Mutter ist auf diesen Bildern von ihren Kindern umgeben und es wird eine körperlichaffektive Beziehung inszeniert: die Kinder sind auf dem Schoß oder Arm der Mutter, schmiegen sich an sie, häufig liegt ein Säugling an ihrer Brust. Die Mutter lächelt und ist durch fließende Stoffe, helle Farbgebung und weiche Kontraste als glücklich, erfüllt und sanft charakterisiert. Mutter und Kind werden oft vom umgebenden Raum abgesondert und verschmelzen häufig durch Faltenwurf, Farbgebung und Beleuchtung geradezu miteinander (Abb. 26). Mutterschaft wird so als körperliche Erfahrung der Ich-Entgrenzung und glücksbringenden Symbiose mit dem Kind dargestellt. Die Verherrlichung der emotionalen Bande zwischen Mutter und 71 Ebd., S. 67. 72 Ebd., S. 36 u. 56.

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Kind bei gleichzeitig realistischer Darstellungsweise stilisiert Mutterschaft zur natürlichen Berufung der Frau und idealisiert die Ausschließlichkeit der Mutter-KindBeziehung.

Abbildung 26: Jean-Honoré Fragonard: Les Baisers maternels or Les jalousies de l'Enfance, ca. 1777

Quelle: http://www.mutualart.com/Artwork/Les-Baisers-Maternels vom 07.06.2014

Auch in der bildenden Kunst kommt, ähnlich wie in den Schriften der Zeit, dem Stillen besondere Aufmerksamkeit zu. Es wird häufig in den Mittelpunkt gerückt und durch fließende Linien oder geringe Kontraste verklärt. Sicherlich ist die idealisierende Darstellung des Stillens, wie Lorenz feststellt, als Mittel der Propagierung einer natürlichen Erziehung im Sinne der Aufklärungspädagogik zu sehen.73 Es dient aber auch der Herstellung einer intimen, körperlichen Einheit von Mutter und Kind, die durch die harmonisierenden Mittel als ein Glücksversprechen inszeniert wird und eine Bindung der Mütterlichkeit an den biologischen Körper der Frau zur Folge hat. Auch in der bildenden Kunst wird so der Figur der weltlichen Mutter eine bis dahin nicht gekannte Aufmerksamkeit zuteil, die zugleich die Reduktion von Mütterlichkeit auf die physische Komponente bedeutet. Während die Gottesmutter in der christlichen Ikonografie vielfältige Funktionen und Erscheinungsformen hat, definieren sich die »happy mothers« (Duncan) der profanen Malerei des 18. Jahrhunderts ausschließlich über ihre leibliche Mutterschaft. Auch wenn es im Marienbildnis der Renaissance, wie im ersten Teil dargelegt, in Form des Bildtypus der 73 Ebd., S. 54.

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Eleusa und Maria Lactans bereits Vorläufer dieses Innerlichkeitskults des 18. Jahrhunderts gibt, behält Maria doch immer unterschiedliche Facetten und symbolische Dimensionen. So symbolisiert etwa der Akt des Stillens nicht nur reale, sondern auch geistige Nahrung, die Weitergabe weltlicher und göttlicher Weisheit; Maria selbst ist nicht nur reale Mutter ihres eigenen Kindes, sondern spendet allen Menschen Schutz, Liebe und Nahrung. Im Familienbild des 18. Jahrhunderts hingegen wird auf die symbolischen Dimensionen von Mütterlichkeit weitgehend verzichtet zugunsten der Betonung der Natürlichkeit der intimen, leiblichen Mutter-KindBeziehung. Sichtbar wird dies in Form von um Realismus bemühten Gemälden, die jeden Zeigecharakter leugnen und gleichsam eine ›vierte Wand‹ zwischen Dargestelltem und Betrachter errichten. So zeigt beispielsweise Pierre-Paul Prud’hon in Skizzen und einem Gemälde von 1810 eine von allem Gesellschaftlichen isolierte Mutter-Kind-Einheit, mitten im Wald, als Ideal der Harmonie, Versunkenheit und Ruhe (Abb. 27). Die Mutter ist vollständig von dem Kind absorbiert, das an ihrer Brust schläft. Sie blickt es zärtlich an, die zarte Linienführung und milden Lichteffekte glorifizieren die Vorstellung natürlicher, liebevoller Mutterschaft. Das Motiv des schlafenden Säuglings versinnbildlicht kindliche Unschuld, erinnert aber auch an das Jesuskind, dessen Schlaf zugleich für den bevorstehenden Tod steht. Christliche Mutter-Kind-Darstellungen, zumal der Bildtypus der zärtlichen Madonna, sind sicherlich als Vorbild zu sehen, die Entrückung der Mutter aus jedwedem gesellschaftlichen Kontext, ihre Situierung in der Natur und die Leugnung des Zeichencharakters in Form der geschlossenen Repräsentation erinnern aber ebenso an die Idealisierung der stillenden Mutter als Inbegriff des Natürlichen in theoretischen Diskursen der Zeit. Das Mutter-Kind-Motiv ist in der profanen Malerei des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ausgesprochen beliebt. So schafft beispielsweise auch Jean-Honoré Fragonard in den 1770er Jahren zahllose Mutter-Kind-Bilder, die die symbiotische Einheit von Mutter und Kind idealisieren (Abb. 26). Die Häufigkeit harmonischer Mutter-Kind-Einheiten und die Tatsache, dass diese in Familienporträts oft im Zentrum stehen, führt Carol Duncan auf die neue Funktion der Mutter als vereinheitlichendes Element der Familie zurück: »The unifying element of the new family was the wife-mother.«74 Kennzeichnend sei die Darstellung zärtlicher emotionaler Verbundenheit, Zeichen des neuen Familienkonzepts, das diese als »intimate and harmonious social unit« begreife.75 Wesentlich sei, dass die Mutter in Verbindung mit ihren Kindern immer glücklich und erfüllt dargestellt werde, auf diese Weise komme in den Bildnissen die Vorstellung der natürlichen, heilsbringenden Berufung der Frau zur Mutterschaft zum Ausdruck, die in den Schriften der Aufklärer proklamiert werde. Auffallend ist zudem, dass meist jegliche Verwei74 C. Duncan: »Happy Mothers«, S. 213. 75 Ebd., S. 208.

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se auf andere Eigenschaften oder Tätigkeiten der Mutter fehlen; auch vom Akt der Darstellung scheint sie in ihrer Versunkenheit nichts zu wissen. Die Mutter wird so sprachlos gemacht; die Idealisierung einer vorsprachlichen Symbiose schließt sie aus der Ordnung des Symbolischen aus. Diese Berufung der Frau zu reiner, sprachloser Mütterlichkeit wird teilweise ganz explizit ausformuliert. So gibt z.B. Augustin Claude Le Grand in seinem Kupferstich Jean-Jacques Rousseau oder der natürliche Mensch aus dem Jahre 1785 eine Mutter zu sehen, die unter einem Baum sitzt und ihr Kind stillt, neben sich ein Lamm, das bei seiner Mutter trinkt. Auf der Mittelachse des Bildes steht Rousseau und überreicht der stillenden Mutter einen Blumenstrauß. Die stillende Mutter wird auf diese Weise mit einem säugenden Schaf verglichen. Die Einbettung des Geschehens in eine natürliche Umgebung unterstreicht die Naturgegebenheit des Stillens; Stoff und Faltenwurf ihrer Kleidung integrieren die Mutter in die Natur, die Natürlichkeit der mütterlichen Fürsorge wird durch den Blumenstrauß belohnt. Die Position des leiblichen Vaters bleibt auf diesem Bild vakant, vertreten wird sie durch einen symbolischen Vater: Rousseau. Abbildung 27: Pierre-Paul Prud’hon: L'Heureuse Mère (links), und »Head of a Woman, Study for L'Heureuse Mère« (rechts), beide ca. 1810

Quellen: The Wallace Collection, London;76 The J. Paul Getty Museum, Los Angeles77

76 http://wallacelive.wallacecollection.org/eMuseumPlus?service=ExternalInterface&module=collection vom 12.03.2015. 77 http://www.getty.edu/art/collection/objects/441/pierre-paul-prud%27hon-head-of-a-woman-study-for-the-happy-mother-l%27heureuse-mere-french-1810/ vom 12.03.2015.

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Gleichzeitig tauchen im 18. Jahrhundert auch im Familienbild vermehrt reale, zärtliche Väter auf, die ebenfalls eine emotional aufgewertete Beziehung zu ihren Kindern haben.78 Sie sind allerdings oft auch von der Mutter-Kind-Einheit optisch getrennt, ähnlich, wie das in Darstellungen der Heiligen Familie der Fall ist. Diese Praxis räumt nicht nur »der Mutter im Leben wie im Bild [den] wichtigsten Platz« ein,79 sie bindet die Frau auch an die physische Funktion der Mutterschaft, während der Vater offen für andere Funktionen bleibt. Die Darstellungskonvention der Einheit Mutter-Kind mit optisch distanziertem Vater entspricht der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung der bürgerlichen Kleinfamilie. Lorenz zufolge dient die Darstellung des in die Familieneinheit integrierten, zärtlichen Vaters nicht zuletzt der »Milderung oder Verschleierung« patriarchalischer Macht.80 Es gibt aber auch künstlerische Bearbeitungen des Mutter-Kind-Motivs, die sich nicht so nahtlos in die ideologischen Annahmen über Weiblichkeit und Mutterschaft der Zeit einreihen lassen. Dies resultiert manchmal aus Details wie etwa einem Buch in der Hand der Mutter oder des Kindes, ein Motiv, das darauf verweist, dass die Mutter nicht nur für Ernährung, Pflege und emotionale Versorgung zuständig ist, sondern auch für intellektuelle bzw. kulturelle Bildung. Das Buch in der Hand der Mutter ist ein häufiges Motiv der Mariendarstellung, beispielsweise in Verkündigungsszenen oder im Bildtypus der Hl. Anna bei der Unterrichtung Mariens; es ist ein Zeichen nicht nur für das Wort Gottes sondern auch für die Intellektualität Mariens, eine Dimension der Madonna, die oft nicht beachtet wird.81 Lorenz zufolge ist die Darstellung erziehender Mütter ein »Leitthema bürgerlicher Malerei des 18. Jahrhunderts«;82 die Mutter ist hier mithin nicht nur eine Figur vorsprachlicher Symbiose, sondern auch eine Vermittlerin von Sprache, Kultur und Gesetz. Ein weiteres Beispiel für andere, sich der Naturalisierung einer sprachlosen Mütterlichkeit widersetzende künstlerische Praktiken sind Selbstbildnisse der französischen Malerin Elisabeth Louise Vigée-Lebrun, in denen sie sich mit ihrer Tochter porträtiert, betitelt Madame Vigée Le Brun et sa fille (Abb. 28). Auch hier ist die emotionale Bindung als physische Nähe dargestellt, die Körper beider scheinen miteinander zu verschmelzen: die Mutter umschlingt ihre Tochter mit den Armen und auch die Tochter schlingt die Arme um den Hals der Mutter und schmiegt ihr Gesicht so eng an ihren Hals, dass es zum Teil darin verschwindet. Der Eindruck der Einheitlichkeit und Intimität wird durch die ineinander fließenden Gewänder

78 Z. B. Étienne Aubry: L’Amour paternel, 1775; Georg Melchior Kraus: Wieland im Kreis seiner Familie, 1774. 79 A. Lorenz: Das deutsche Familienbild, S. 36. 80 Ebd., S. 32. 81 Zur Mariengestalt als »Intellektuelle« vgl. K. Schreiner: Maria, S. 116-152. 82 A. Lorenz: Das deutsche Familienbild, S. 37.

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und Haare verstärkt, ebenso wie durch die nackte Haut, deren Farbgebung fast identisch ist. Abbildung 28: Elisabeth L. Vigée-Lebrun: Madame Vigée Le Brun et sa fille, 1789

Quelle: Musée du Louvre, Paris, INV 306883

Die Figurengruppe ist vor einem neutralen, unifarbenen und nur schwach beleuchteten Hintergrund abgebildet und auf diese Weise von der Außenwelt isoliert; auch dies betont ihre Zusammengehörigkeit. Allerdings sind die Blicke aus dem Bildrahmen hinaus direkt auf den Betrachter gerichtet, so dass die Repräsentation geöffnet und ihr Zeigecharakter hervorgehoben wird. Dieser Blick legt den Akt der Selbstinszenierung als Mutter und Künstlerin offen und zeugt von einem hohen Maß an Selbstbewusstsein, sowohl im Sinne der Selbstsicherheit als auch eines bewussten Umgangs mit den Mitteln der Malerei. Vigée-Lebrun stellt hier zum einen ein auf enger emotionaler Bindung beruhendes, zärtlich-intimes Verhältnis von Mutter und Tochter her, setzt es aber auch bewusst für eine Öffentlichkeit in Szene, so dass sie zugleich ihre Rolle als Mutter und Künstlerin reflektiert. Durch diese Selbstreflexion widersetzt sie sich auch dem Status der Mutter als ein sprachloses Wesen. Die Herauslösung der Figurengruppe aus einem narrativen Kontext oder einer konkreten Örtlichkeit isoliert sie nicht nur, sondern verleiht ihr auch einen 83 http://www.culture.gouv.fr/Wave/image/joconde/0002/m503604_88ee1582 v. 7.3.2015.

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theatralen Charakter, der den Akt der Repräsentation offenlegt, anstatt ihn zu verschleiern. Die Selbstbildnisse Vigée-Lebruns stellen eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit weiblichen Rollen- und Selbstbildern ihrer Zeit dar, betonen die weibliche Autorschaft und widersprechen so auch der Annahme einer rein vorsprachlichen Mütterlichkeit. Viele der bildnerischen Darstellungen von Mutter und Kind erstaunen, ähnlich wie im Fall der Bildtradition der Eleusa, durch Intimität und Zärtlichkeit. Die Mutter wird zum Sinnbild für das Gefühl der Geborgenheit, Harmonie und Erfülltheit. Die symbiotische Nähe zwischen Mutter und Kind scheint beide, sowohl das Kind als auch die Mutter, glücklich zu machen; viele Bilder zeigen auch sinnliche Lust an der intimen Berührung beider Körper. Sie sprechen von der frühkindlichen Symbiose mit der Mutter als einem Glückszustand außerhalb sprachlicher und gesellschaftlicher Logik, einem vorsprachlichen Paradies, das der mütterliche Körper verspricht, und das im Bild fixiert wird. Die Nähebeziehung geht dabei einher mit der Bindung des mütterlichen Körpers an den kindlichen, eine Eigenständigkeit wird ihm selten gewährt. Bestärkt wird das Bild dieser vorsprachlichen Symbiose durch die Geschlossenheit der Repräsentation, die Leugnung des Zeichencharakters der Darbietung. In der bildenden Kunst wird so, ähnlich wie in anderen Diskursen der Zeit, die Vorstellung der ›natürlichen Mutter‹, also der natürlichen Berufung der Frau zur ausschließlichen, leiblichen und nicht-sprachlichen Mutterschaft, konstituiert, Mütterlichkeit an den anatomisch weiblichen Körper gebunden und die ausschließliche Mutter-Kind-Beziehung zum Inbegriff der Natur erklärt. Die zentrale Rolle der Mutter für das Kind und in der Familie, die ihr in theoretischen Schriften und in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts zugewiesen wird, nimmt sie im Drama und Theater der Zeit gerade nicht ein. Hierin ist eine bemerkenswerte Diskrepanz dieser beiden Kunstformen zu sehen, die, so ist anzunehmen, mit medialen Aspekten der verschiedenen Darstellungssysteme zu tun hat, und die bislang noch nicht erklärt wurde. Möglicherweise hängt sie mit der Ineinssetzung der Mutter mit Natur bzw. mit einer vorsprachlichen Einheit zusammen, die sie aus der symbolischen Ordnung ausschließt, und die zwar mit den Mitteln der bildnerischen Gestaltung, nicht aber im Medium des handlungs- und sprachbasierten Sprechtheaters darstellbar ist.

2. Die Familie im bürgerlichen Trauerspiel

Der Wandel der Bedeutung der Familie im Laufe des 18. Jahrhunderts zeigt sich eindrücklich im bürgerlichen Trauerspiel. Man könnte auch sagen: Das bürgerliche Trauerspiel ist ein Diskurs, an dem sich dieser Bedeutungswandel nicht nur ablesen lässt, sondern der ihn mit hervorbringt. Es ist nicht nur, wie Franziska Schößler feststellt, »fundamental auf die Phantasien der bürgerlichen Kleinfamilie bezogen«,1 sondern hat auch Teil an der Entwicklung dieser Phantasien. Am Trauerspiel wird deutlich, dass das Modell der Kleinfamilie eine kulturelle Konstruktion ist. Es ist, um es mit den Worten Walter Erharts zu sagen, keine »biologische Tatsache oder eine gesellschaftlich festgelegte Institution […sondern] eine kulturelle Erfindung, die sich erst nachträglich als naturgegeben oder als gesellschaftlich notwendig ausgibt, in ihrer Konstruiertheit jedoch nicht weniger, sondern eher größere Realität gewinnt«.2 Darüber hinaus sind das bürgerliche Trauerspiel des 18. Jahrhunderts und die mit ihm einhergehenden Überlegungen zu Theater und Schauspiel prägend für die Entwicklung des bürgerlichen Illusionstheaters und den Darstellungsmodus der natürlichen Verkörperung, die theatrale Darstellungskonventionen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein bestimmen. Das Trauerspiel ist hinlänglich wissenschaftlich untersucht; es kann hier nicht darum gehen, neue Erkenntnisse hinsichtlich der Gattung zu gewinnen, sondern anhand vorhandener Forschung die Konstruktion von Familie und Mutterschaft im Trauerspiel zusammenfassend darzulegen sowie anhand einzelner Textstellen genauer zu beleuchten.3 Ich konzentriere mich daher auf die kanonisierten Dramen des deutschsprachigen Raums, auf Lessings Miß Sara Sampson (1755) und Emilia Galotti (1772) sowie Schillers Kabale und Liebe (1784); die Vielzahl der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehenden Trauerspiele, deren Verhältnis zu

1

F. Schößler: Einführung in das deutsche Trauerspiel, S. 27.

2

W. Erhart: Familienmänner, S. 8.

3

Einen Forschungsüberblick bietet F. Schößler: Einführung, S. 12-15.

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diesem Kanon in der Forschung ungeklärt oder umstritten ist, finden keine Berücksichtigung.4 Drei Aspekte interessieren mich dabei besonders: zum einen die Darstellung von Mutterfiguren, ein Aspekt, der auch in der Forschung lange vernachlässigt wurde;5 des Weiteren die Konstitution der Familie als geschlossene Einheit, die sich dezidiert nach außen und allem ihr Anderen gegenüber abgrenzt; und zu guter Letzt der Zusammenhang dieses Familienmodells mit der Vorstellung einer Geschlossenheit der Repräsentation, die im Zuge des Diskurses um ein bürgerliches Theater generiert wird. Auffällig ist, dass der Mutter die zentrale Stellung in der Familie, die ihr in philosophischen Diskursen der Zeit ebenso wie in der bildenden Kunst zugeschrieben wird, im Trauerspiel nicht einnimmt. Im Gegenteil: Mutterfiguren kommen im Trauerspiel entweder gar nicht vor, sind randständig, oder negativ gezeichnet. Das Theater nimmt damit eine Sonderrolle im Kontext der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein, die bislang wenig Beachtung fand und nicht befriedigend erklärt werden konnte. Um den möglichen Gründen dieser auffälligen Diskrepanz auf die Spur zu gehen, sollen die Mutterfiguren des Trauerspiels noch einmal genauer in den Blick genommen werden. Das Theater des 18. Jahrhunderts hat zunehmend den Anspruch, ein Forum bürgerlicher Öffentlichkeit zu sein. Das Trauerspiel grenzt sich bewusst von den Gattungskonventionen der Tragödie ab, konkret der Französischen Klassik mit ihrer Ständeregel, Sprachdoktrin und ihren Darstellungskonventionen. Zum ersten Mal wird der Bürger zum Subjekt eines tragischen Geschehens. Das Trauerspiel soll das wachsende bürgerliche Selbstbewusstsein im Theater widerspiegeln und Vorbilder für das bürgerliche Subjekt liefern. Das bürgerliche Selbstbewusstsein artikuliert sich dabei weniger in der Darstellung des Bürgertums als soziale oder ökonomische Schicht, denn als familiale, auf biologischen und emotionalen Beziehungen gründende Einheit. Die Familie wird im Trauerspiel und durch das Trauerspiel zum wesentlichen Ort bürgerlicher Selbstbehauptung. »Es geht um die Geburt der Familie im bürgerlichen Drama und durch das bürgerliche Drama« stellt Friedrich Kittler 1991 fest und läutet damit eine Wende in der literaturwissenschaftlichen Forschung ein, die sich bis dahin in erster Linie auf den im Trauerspiel verhandelten Ständekonflikt konzentriert hatte.6

4

Zur Kanonisierung des Trauerspiels vgl. G. Pailer: »Gattungskanon«, S. 366f. Pailer weist auch auf die unterschiedliche Behandlung der Familienthematik in Trauerspielen von Dramatikerinnen und Dramatikern hin. Zu Dramen weiblicher Autorinnen im 18. Jh. vgl. A. Fleig: Handlungs-Spiel-Räume; K. Wurst: Frauen und Dramen.

5

Vgl. R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 76.

6

F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 19.

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Bei der Familie, die im bürgerlichen Trauerspiel ›geboren‹ wird, handelt es sich um eine Familie, die sich von der Öffentlichkeit, von allem Politischen abzugrenzen versucht. Im Zentrum des Trauerspiels steht die Familie als geschlossene Einheit, in die ein ihr Anderes – ein adliger Verführer, weibliche Sexualität – einzudringen droht. Auch in den Dramen des Sturm und Drang, in denen Ständekonflikte stärker zu Tage treten, sind die Familienbande, das Innere der bürgerlichen Familie, doch wesentlich, auch hier wird das Ideal der patriarchalischen Familie als Gefühlsgemeinschaft betont. Die neue Vorstellung von Familie als geschlossener Einheit, als Hort des Privaten und des natürlichen Ausdrucks konstituiert sich mithin auch im bürgerlichen Trauerspiel. Diese neue Gattung, auch als »häusliche Tragödie« bezeichnet, entwickelt sich im 18. Jahrhundert zunächst in England und Frankreich, dann in Deutschland. Kennzeichen ist die Darstellung der privaten Sphäre des mehr oder weniger alltäglichen Familienlebens der bürgerlich-adligen Zwischenschichten, die Träger des neuen Familiengefühls sind. Es findet also eine Verlagerung der Handlung von einer Sphäre politischer Öffentlichkeit in die Privatsphäre familiär-zwischenmenschlicher Beziehungen statt. Die erste europäische Tragödie mit bürgerlichen Protagonisten ist George Lillos The London Merchant aus dem Jahre 1731.7 Zu einer Gattung wurde das bürgerliche Trauerspiel dann einige Zeit später durch Denis Diderot in Frankreich und Gotthold Ephraim Lessing in Deutschland, die beide neben Trauerspielen auch eine dramaturgische Konzeption für die neue Gattung entwarfen. Bei beiden hat das Bürgertum Einzug in Form der bürgerlichen Familie; Kennzeichen sowohl bei Diderot als auch bei Lessing ist die »Familiarisierung des Dargestellten«,8 die Konzentration der Darstellung auf das Privatleben der bürgerlichen Kleinfamilie. Diese Familie, die auf enger Gefühlsbindung einerseits, unhinterfragter patriarchalischer Autorität eines Hausvaters andererseits gründet, ist Kern der Dramen. Im Zentrum steht ein Vater als Identifikationsfigur für das bürgerliche Publikum, der zugleich autoritäres Familienoberhaupt und sorgender Vater ist. Er nimmt in den Stücken eine zugleich symbolische und reale Funktion ein; Kittler zufolge ist die »ganze Arbeit des bürgerlichen Dramas bei Diderot und Lessing […] darauf [ausgerichtet], erst einmal die Instanz eines Vaters zu errichten, der als symbolischer zugleich realer war«.9 Der Vater hat die Kontrolle über die Familie und wacht über die Einhaltung der Normen, zudem symbolisiert er die für das bürgerliche Individuum angestrebten Eigenschaften der Rechtschaffenheit, Bescheidenheit, Vernunft und Sittsamkeit. Oberstes Ziel der Väter im Trauerspiel ist der Erhalt der Tugend der Tochter, die implizit gleichbedeutend ist mit ihrer sexuellen Unschuld. 7

Zum Stück vgl. E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 262-264.

8

F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 19.

9

Ebd., S. 15.

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Bezogen auf die reale Vaterrolle fällt im Vergleich zu den Vaterfiguren der heroischen Tragödie ihre Zärtlichkeit auf. Fischer-Lichte führt dies auf die Notwendigkeit der Verinnerlichung bürgerlicher Wertvorstellungen für das erstarkende Bürgertum zurück: »Die Zärtlichkeit des Vaters spielt daher bei der Einübung in bürgerliches Selbstverständnis eine gar nicht zu überschätzende Rolle.«10 Sørensen streicht heraus, dass es sich um einen Vater zwischen Autorität und Empfindsamkeit handelt, bei dem auch die »Zärtlichkeit als eine Form der patriarchalischen Herrschaftsausübung« dargestellt werde.11 Was Fischer-Lichte erst für Kabale und Liebe diagnostiziert, gilt letztlich auch schon für Emilia Galotti: »Die emotionale Einheit der natürlichen Ordnung der Familie ist in ein Instrument zur Beherrschung und Unterdrückung pervertiert.«12 Im Trauerspiel zeigen sich die neuen Wertvorstellungen der modernen bürgerlichen Gesellschaft: nicht mehr sollen die familialen Gefühle zugunsten staatspolitischer Interessen zurückgestellt werden, wie dies in der heroischen Tragödie der Fall ist, sondern es sind gerade die privaten, familialen Gefühle, denen nunmehr der höchste Wert zugesprochen wird.13 Peter Szondi sagt bereits 1968 in seinen Vorlesungen über das bürgerliche Trauerspiel: »Diderots Stück steht am Anfang einer Tradition, welche die Geschichte des neueren Dramas wesentlich mitbestimmt hat: der Tradition des Familiendramas, man denke an Hebbels Maria Magdalena, an Strindbergs Vater, Tschechows Drei Schwestern, schließlich auch an Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf – einer Tradition, in der das, was Diderot als höchstes Gut gilt, als der einzige Ort, an dem der Mensch glücklich sein kann, allmählich zur Hölle pervertiert.«14

Die grundsätzliche Problematik der Kleinfamilie und ihres Wertekodex wird aber auch in den Trauerspielen selbst bereits sichtbar: Die Familie ist hier Ort einer patriarchalischen Logik, die auf dem Ausschluss des Weiblichen beruht. Der weitgehende Ausschluss der Mutter aus der Handlung geht mit einer Konzentration auf die Vater-Tochter-Beziehung einher, die mit der Opferung der Tochter endet. Das Weibliche wird also in zweifacher Gestalt geopfert: in der Gestalt der Mutter sowie derjenigen der Tochter. Kennzeichen des bürgerlichen Trauerspiels ist weiterhin die »Entdeckung des (bürgerlichen) Menschen«, der sich durch Innerlichkeit und Individualität auszeich-

10 E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 276. 11 B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 144-145. 12 E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 276. 13 Vgl. B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 71. 14 P. Szondi: Theorie des bürgerlichen Trauerspiels, S. 125-126.

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net.15 Der Ausdruck einer solchen substantiellen Innerlichkeit, der den Aufklärern zufolge am ursprünglichsten im Privatraum der Familie statthat, rückt in den Fokus der bürgerlichen Dramen. Das Trauerspiel konstituiert diesen Privatraum in Opposition zum öffentlichen Raum der Stadt und des Höfischen. Die sich entwickelnde Vorstellung des bürgerlichen Individuums als natürliches, unteilbares Ganzes ist an die Familie als geschlossene Einheit geknüpft. Gleichzeitig entsteht der Wunsch nach einer Schauspielweise, die der Natürlichkeit der bürgerlichen Familie einen adäquaten Ausdruck verleiht, indem sie ihre Gemachtheit verbirgt und selbst natürlich wirkt. Die Idee eines solch natürlichen Ausdrucks liegt sowohl dem bürgerlichen Familienbegriff als auch dem bürgerlichen Illusionstheater zugrunde. Die Entwicklung der Darstellungskonvention der illusionistisch-realistischen Verkörperung hängt also eng mit dem Konzept der bürgerlichen Familie zusammen.

2.1 Z UR T HEATERTHEORIE D IDEROTS Denis Diderot bezeichnet seine Dramen Le fils naturel (Der natürliche Sohn, 1757) und Le père famille (Der Hausvater, 1758), die die Ständeklausel des französischen Klassizismus über Bord werfen, als »tragédie domestique ou bourgeoise« (häusliches oder bürgerliches Trauerspiel) und lässt sie ausschließlich in der häuslichfamilialen Sphäre spielen.16 Er möchte mit ihnen eine »mittlere Gattung« des Dramas begründen, die »das gemeine Leben« zum Gegenstand hat: die »ernsthafte Gattung« (genre sérieux).17 In den Entretiens sur le fils naturel (1757), einem theatertheoretischen Essay, den er an Le fils naturel anschließt, schreibt Diderot: »Der Inhalt muss wichtig, und die Verwicklung muss einfach und häuslich sein, und dem gemeinen Leben so nahe als möglich kommen«.18 An anderer Stelle betont er die Bedeutung der Familie und familiären Beziehungen für die neue Gattung: Auf eine Frage seines dialogischen Gegenübers in den Entretiens, in der dieser verschiedene Berufsstände als Protagonisten des neuen Dramas aufzählt, antwortet Diderots Alter Ego: »Setzen Sie hierzu noch alle Verwandtschaften: den Hausvater, den Ehemann, die Schwester, die Brüder. Den Hausvater! Welch ein Stoff zu unsern itzigen Zeiten, wo man kaum die geringste Idee mehr hat, was ein Hausvater ist!«19

15 F. Schößler: Einführung, S. 32. 16 Beide von Lessing übersetzt und 1760 als Das Theater des Herrn Diderot herausgegeben. 17 Diderot in D. Diderot/G.E. Lessing: Das Theater des Herrn Diderot, S. 142-143. 18 In Lessings Übersetzung unter dem Titel »Dorval und Ich« erschienen; D. Diderot/G.E. Lessing: Das Theater des Herrn Diderot, S. 99-176; hier: S. 146. 19 Ebd., S. 158.

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Vor allem in seinem Père de famille stellt Diderot den Hausvater ins Zentrum und möchte, so schreibt er in seinem zweiten theatertheoretischen Essay, Discours sur la poésie dramatique (1758), »alles, was mit dem Stande eines Hausvaters in Verbindung stehet«, zur Handlung machen: »Vermögen, Geburt, Erziehung, was Eltern ihren Kindern, was Kinder ihren Eltern schuldig sind, Heirat, eheloses Leben, alles, was mit dem Stande eines Hausvaters in Verbindung stehet, davon wird gelegentlich, sowie es der Faden des Gesprächs erlaubet, gehandelt«. Der Hausvater selbst soll vorbildhaft sein: »Er wird gut, wachsam, standhaft und zärtlich sein«.20 Eine Mutter gibt es weder im Natürlichen Sohn noch im Hausvater; und auch in den theoretischen Essays kommt sie nicht vor. Das Häusliche meint für Diderot den geschlossenen Kreis der biologischen Kernfamilie bzw. des Vaters und seiner Kinder, dargestellt im privaten Raum: »Ich will keine Bediente darin haben. Denn ehrbare Leute halten ihre Angelegenheiten vor ihnen verborgen, und wenn alle Auftritte nur unter der Herrschaft vorgehen, so werden sie um so viel interessanter sein.«21 Dies entspricht der zunehmenden Ausgliederung der Dienerschaft aus den Familien ab dem späten 18. Jahrhundert,22 und lässt sich auch, wie dargelegt wurde, im Familienportrait beobachten. In letzterem ebenso wie für Diderot hat diese Ausgliederung in erster Linie die Funktion, eine in sich geschlossene, auf Biologie gründende Familie darzustellen, die alles ihr Andere ausschließt. Der Diener bekommt hier die Rolle des Außenstehenden zugewiesen, der eine Öffentlichkeit repräsentiert, die die an Biologie geknüpfte Intimität der Familie stören würde. An die so konstituierte natürliche Geschlossenheit der Familie ist die Einheitlichkeit der Handlung geknüpft; so spricht Diderot an anderer Stelle davon, dass die Nebenhandlungen mit Bediensteten-Rollen in Komödien die Haupthandlung unterbrechen und so die Wirkung schwächen würden.23 Immer wieder verbindet Diderot auf diese Weise Fragen des Dargestellten mit Fragen der Darstellung – das Ideal der geschlossenen Familie entspricht dem Ideal der geschlossenen Handlung und der Geschlossenheit des Bühnengeschehens durch die von ihm geforderte ›große Mauer‹ bzw. Wand, die die Schauspieler sich am Vorderrand der Bühne vorstellen sollen: »Man denke also, sowohl während dem Schreiben, als während dem Spielen, an den Zuschauer ebensowenig, als ob gar keiner da wäre. Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer [un grand mur; d.V.] vor, durch die das Parterre abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.«24

20 »Von der dramatischen Dichtkunst«; ebd., S. 273-367; hier: S. 276. 21 Ebd., S. 146. 22 Vgl. A. Gestrich: »Neuzeit«, S. 602-606. 23 D. Diderot/G.E. Lessing: Das Theater des Herrn Diderot, S. 102. 24 Ebd., S. 315.

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So wie Figuren, die nicht zum engeren, biologischen Familienkreis gehören, und Funktionen, die nicht der familiären Sphäre zuzurechnen sind, aus der Handlung ausgeschlossen werden, so soll auch der Zuschauer aus dem Bühnengeschehen ausgeschlossen werden: »Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man nichts weiß.«25 Die dargestellten Figuren ebenso wie die Schauspielerinnen und Schauspieler sollen sich ausschließlich auf sich selbst, auf den geschlossenen Raum der Familie bzw. der Bühne, konzentrieren. Diderot möchte ein »prosaisches Trauerspiel«, das eben durch die sprachliche Form der Prosa dem Alltagsleben und damit der Wahrheit und Natur nahe kommen solle.26 Er fordert zudem »eine Menge natürlicher Stellungen« auf der Szene, die er gegen die »grausame Wohlanständigkeit« (bienséance) ins Feld führt, die auf den zeitgenössischen Bühnen mit ihrer »reichgekleideten, ausgeschmückten Person [...die...] mit gemessenen Schritten auf der Bühne hin und her spazieret und mit nichts als […] Sentenzen, Blasen und ellenlangen Worten um sich wirft«, herrsche.27 Die »erhabenen Stände«, die Protagonisten der klassischen Tragödie sind, haben »kalte und gezwungene Seelen«, denen man nur mit Pathos »die Stimme der Natur auspressen« könne.28 Genau diese Stimme der Natur sei es, die bei den Familienmenschen des mittleren Stands zu hören sei. Für Diderot kommt es dabei auf die Standeszugehörigkeit aber letztlich nicht an, wesentlich sind die Verwandtschaftsbeziehungen und emotionalen Bande der Familienmitglieder untereinander. So betont er, dass die Hauptfigur des Père de famille vom Stand her eben Hausvater sei, seine Hauptaufgabe und Hauptthema des Stücks sei die »Versorgung eines Sohnes und einer Tochter«.29 Und so sind die Erläuterungen im Personenverzeichnis auch auf die Bezeichnung der familiären Rollen, zentriert auf den Protagonisten, beschränkt (»Hausvater«, »Sohn des Hausvaters«, »des Hausvaters Tochter«). Das Trauerspiel, »das unser häusliches Unglück zum Gegenstande« habe, konstituiert sich für Diderot in Abgrenzung zur »Tragödie, welche zu ihrem Gegenstande das Unglück der Großen und die Unfälle ganzer Staaten hat.«30 Bereits hier also wird das Bürgerliche mit dem Privatraum der Familie identifiziert und der Ausschluss des Politischen vollzogen.31 Familie solle, so Diderot, »in ihrer ganzen 25 Ebd., S. 309. 26 Ebd., S. 130. 27 Ebd., S. 130. Diderot bezieht sich hier in erster Linie auf die Theaterpraxis der ComédieFrançaise. 28 Ebd., S. 161. 29 Ebd., S. 276. 30 Ebd., S. 275. 31 Die Ortsangabe des Père de famille, »Gesellschaftssaal […]. Es ist der Saal des Hausvaters«, stellt eine Art Zwischenraum zwischen Privat- und Repräsentationsraum dar; die Zeitangabe »Es ist tief in der Nacht«, betont die Privatheit. Ebd., S. 182.

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Herrlichkeit erstrahlen«;32 er stellt Familie ins Zentrum des neuen bürgerlichen Selbstverständnisses und assoziiert sie, ähnlich wie sein Landmann Rousseau, mit dem Natürlichen, das er der Kunstfertigkeit der barocken Tradition entgegenstellt. In seinen Dramentexten werden dementsprechend die ›aufrichtigen‹ emotionalen Beziehungen der Familienmitglieder untereinander betont, Familie wird als Gefühlseinheit und Inbegriff von Wahrhaftigkeit konstruiert. So ruft beispielsweise der Hausvater in Père de famille aus: »Wo findet man Beispiele des reinsten und aufrichtigsten Anteils, der wirklichen Zärtlichkeit, der innigsten Vertraulichkeit […]; wo findet man sie sonst als in der Ehe? [...] Findet sich etwas in der Welt, das ein Vater mehr liebte, als seine Kinder? – O heilige Bande der Ehe, wenn ich an euch denke, entbrennet meine Seele und erhebt sich! – O zärtliche Namen des Sohnes und der Tochter, euch sprach ich nie aus, ohne daß mein Herz nicht innigst gerühret ward, ohne daß es vor Freuden nicht hüpfte; nichts ist süßer in meinen Ohren; an nichts nimmt meine ganze Seele mehr Anteil.«33

Als letzte Worte spricht er: »O wie grausam – wie süß ist es, Vater zu sein!«, und zeigt sein Unglück über die verlorene Eintracht der Familie auf emotionale Weise: »O mein Freund, die Tränen eines Vaters fließen oft in geheim. – Er seufzet; er weinet. Du siehest die meinigen. – Ich zeige dir meinen Schmerz«.34 Dass dieser zärtliche Familienvater zugleich oberste Autorität ist, wird in dem Moment sichtbar, in dem der Sohn diese Autorität hinterfragt. Der Vater antwortet: »Ein Mittel, dessen ich mich nie gern bedienen wollte. Nun muss ich es brauchen; denn du zwingst mich dazu. Gib dein Vorhaben auf. Ich will es, und ich befehle es dir bei aller der Gewalt, die ein Vater über seine Kinder hat.« Der Sohn stellt diese Vorstellung absoluter Autorität und zugleich das Bild des zärtlichen Vaters in Frage: »Gewalt, Gewalt; weiter wissen Sie auch nichts« und »Ein Vater! Ein Vater! Es gibt keine Väter. – Es gibt nichts als Tyrannen«.35 Diese Auseinandersetzung ist umso interessanter, als Lessing genau den Vater-Sohn-Konflikt in seinen Dramen ausspart, und auf diese Weise die Sichtbarwerdung der väterlichen Herrschaft verhindert oder doch zumindest verzögert und an die Stelle des offenen Widerspruchs die Opferbereitschaft der Tochter stellt.

32 Ebd., S. 277. 33 Ebd., S. 203f. 34 Ebd., S. 271 und 187. 35 Ebd., S. 215-216.

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2.2 Z UR T HEATERTHEORIE L ESSINGS Gotthold Ephraim Lessing, der als Begründer des deutschen bürgerlichen Trauerspiels gilt, skizziert schon 1754 eine neue dramatische Gattung nach dem Vorbild von George Lillos The London Merchant, die den Mittelstand und dessen privates Leben tragödienfähig machen und so der Ständeregel des französischen Klassizismus eine Absage erteilen solle. Der Mittelstand definiert sich dabei über familiäre Beziehungen und den privaten Raum, das Trauerspiel soll ein Spiegel des privaten, häuslichen Lebens sein. Dementsprechend soll auch die Sprache, im Gegensatz zum Alexandriner der französischen Tragödie, lebensnah sein. Das Versmaß der französischen Klassik lehnt Lessing, ebenso wie Diderot, ab, die Sprache des bürgerlichen Trauerspiels solle prosaisch und ›natürlich‹ sein, d.h. ihre künstlerische Verfasstheit unkenntlich machen. Lessing entwickelt seine Dramentheorie zunächst im Briefwechsel über das Trauerspiel mit Mendelssohn und Nicolai (1756/57) und in Briefen, die neuere Literatur betreffend (1759/60), und führt sie in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/68) aus. Der Protagonist der neuen Gattung solle »mit uns von gleichem Schrot und Korne« sein, es ist der Bürger in seinem »Menschsein«, unabhängig von Stand und politischer Funktion; Ort dieses »wahren Menschentums« ist für Lessing die bürgerliche Familie.36 Ihm zufolge muss die Ständeregel abgelegt werden, um eine größere emotionale Wirkung der Dramatik bei den Zuschauern zu erreichen; dies bedeutet zugleich eine Entpolitisierung der Handlung: »Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muss natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.«37

Lessing zitiert Marmontel, um zu präzisieren, wessen ›Umstände den unsrigen am nächsten‹ kommen: »Man verkennet die Natur, wenn man glaubt, dass sie Titel bedürfe, uns zu bewegen und zu rühren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Va-

36 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, S. 385. 37 Ebd., 14. Stück, S. 77.

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ters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen überhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig.«38 Die Natur des Menschen also, die ›immer und ewig‹ gültig ist, ist in erster Linie in emotionaler und biologischer Verbundenheit, in seiner Familienzughörigkeit bzw. seiner Rolle in der Familie zu sehen, ist der Mensch als Familienmensch. Das Trauerspiel wird so auch bei Lessing nicht durch eine gesellschaftliche Schicht bestimmt, sondern durch familiale Werte, nicht Beruf, Bildung oder Ökonomie definieren das bürgerliche Individuum, sondern sein Vater-, Gatten- oder Sohn-Sein. Aber auch Freundschaft kann, aufgrund der emotionalen Verbundenheit, eine der biologischen Verwandtschaft äquivalente Beziehung sein. Die Frau taucht in dieser Aufzählung nur als Mutter auf, was die neue Aufmerksamkeit, die der Mutter im Rahmen des zeitgenössischen Familiendiskurses zuteilwird, und die gängige Reduktion des Weiblichen auf die Mutterschaft bezeugt, nicht aber dem Diskurs des Trauerspiels entspricht, das schon bei Lillo und Diderot Mutterfiguren weitestgehend ausspart. Das bürgerliche Individuum in der Privatheit und Intimität des familiären Kreises ist für Lessing ein Besonderes, ein ›einzelner Gegenstand‹, der unsre Rührung hervorzurufen vermag, wird aber gleichzeitig mit dem allgemein Menschlichen und Natürlichen gleichgesetzt, während die Rollen der französischen Tragödie aufgrund ihrer staatstragenden Funktionen dieses allgemein Menschliche abgesprochen bekommen – sie sind zu sehr Funktionsträger und ästhetische Figur, als dass sie den natürlichen Menschen bedeuten könnten. Die Entdeckung des bürgerlichen Individuums, das sich über Innerlichkeit definiert und dem Individualität zugesprochen wird, jenseits von Stand und höfischer Rolle, hat auch im Trauerspiel statt und findet sich in den schauspieltheoretischen Schriften der Zeit. Innerlichkeit und Selbstausdruck im Sinne eines ›echten Selbst‹ werden wesentlich, die Empfindung als ein »Inneres, von dem wir nur nach seinen äußern Merkmalen urteilen können«, verstanden.39 Lessing beschäftigt sich ausführlich mit diesen ›äußern Merkmalen‹, die die Empfindungen ausdrücken und es dem Schauspieler erlauben, die »ursprüngliche Empfindung […] getreu nachzumachen«.40 Ziel ist es, auf der Bühne eine Illusion der Wirklichkeit herzustellen. Hierfür entwickelt Lessing ein Konzept der Verkörperung, nach dem der Schauspieler Empfindungen so »getreu nachzumachen weiß«, dass sie echt wirken: »Kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein«.41

38 Ebd., S. 78. 39 Ebd., 3. Stück, S. 24. 40 Ebd., S. 25. 41 Ebd., S. 25. Diese Idee der Verkörperung von Empfindungen verfolgt z.B. auch Conrad Ekhof; vgl. Fischer-Lichte: »Entwicklung einer neuen Schauspielkunst«.

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Die Figuren werden im Zuge dessen zunehmend individualisiert und psychologisiert. Lessing fordert im Anschluss an Aristoteles den »gemischten Charakter«, denn die »reinen unvermischten« ebenso wie »kontrastierte Charaktere« seien »minder natürlich«.42 Allerdings müsse doch eine Leidenschaft vorherrschen, um dem Charakter Konstanz zu verleihen. »Charakter heißt Integration«, so Heeg, die Integration verschiedener Leidenschaften unter der Herrschaft einer dominanten, die die Zerreißung des Charakters durch widersprüchliche Leidenschaften verhindere: »Die Ökonomie des Charakters verlangt daher die Meidung der Extreme, Brüche und Sprünge«.43 In Lessings Worten: »Er muss aus einer Gemütsbewegung in die andere übergehen, und diesen Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu machen wissen, dass der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit fortgerissen wird.«44 Bemerkenswert ist hierbei, wie Heeg feststellt, dass das Natürliche mit dem Bruchlosen gleichgesetzt wird, mit fließenden Übergängen und einem harmonischen Mittelmaß. Diese Gleichsetzung des Natürlichen mit dem Bruchlosen, Fließenden und Harmonischen erinnert an die bildnerischen Darstellungen symbiotischer Mutter-Kind-Einheiten seiner Zeit; bei Lessing findet sich ein solches Ideal des Natürlichen allerdings nicht in der Figur der Mutter, sondern in derjenigen der Tochter sowie in seinen ästhetischen Reflexionen einer natürlichen Spielweise. Lessing betont in der Hamburgischen Dramaturgie immer wieder die Bedeutung der Familie und ihrer auf Nähe und Gefühl fußenden zwischenmenschlichen Beziehungen für das Theater. So echauffiert er sich beispielsweise im 20. Stück über die Übersetzung des Cenie von Françoise de Graffigny, in der eine Mutter mit »Frau Mutter«, ein Vater mit »Gnädiger Herr Vater« angeredet werden: »Der Name Mutter ist süß; aber Frau Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das ganze, der Empfindung sich öffnende Herz wieder zusammen.«45 Die förmliche Anrede streicht die familiären Hierarchien zwischen Kinder- und Elterngeneration heraus; Lessings Aufregung darüber lässt sein Bestreben erkennen, in der Familie keine von gesellschaftlicher Konvention abgeleiteten Hierarchien gelten zu lassen, sondern nur die Empfindung, die direkt aus dem Inneren des Einzelnen kommt. Das Ziel der Familiendarstellung liegt für ihn in dem Wiedererkennen des eigenen, alltäglichen Lebens auf der Bühne, die Zuschauer sollen sich mit den dargestellten Emotionen und Nähebeziehungen identifizieren. Die bürgerliche Familie, die sich ins Private zurückzieht, soll auf diese Weise zum Garanten eines Theaters werden, das sich zwar einerseits als Forum bürgerlicher Öffentlichkeit versteht, zu42 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 86. Stück, S. 436-440. 43 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 251. 44 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 16. Stück, S. 91. 45 Ebd., 20. Stück, S. 108.

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gleich aber ein Gefühl der Intimität, des Natürlichen und der Abschottung von der politisch-gesellschaftlichen Öffentlichkeit erzeugen und dabei seine eigene Konstruktion vergessen machen will. Der Ausschluss des Politischen wird in seiner Bearbeitung des Virginia-Stoffes in Form der Emilia Galotti deutlich. Den eigentlichen Gehalt der Vorlage, in der die Tötung der versklavten Tochter zum Beginn eines Volksaufstandes gegen den Tyrannen wird, blendet Lessing bewusst aus. Lessing selbst dazu in einem Brief an Friedrich Nicolai: »Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nehmlich die Geschichte der römischen Virginia von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte; er hat geglaubt, dass das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sey, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.«46

Laut Peter Szondi soll der rechtlose Bürger in der Abgeschiedenheit der empfindsamen Kleinfamilie des Trauerspiels »seine Ohnmacht in der absoluten Monarchie vergessen«.47 Das bürgerliche Theater versucht selbst einen Raum der Abgeschiedenheit herzustellen, in dem sich das Bürgertum unter Ausschluss des Politischen durch die Intimität der Kleinfamilie und die Verinnerlichung der Konflikte definiert. Der Ausschluss des Politischen wird dabei nicht nur inhaltlich diskutiert, sondern durch die Intimisierung der Handlung und die Geschlossenheit der Repräsentation auch vollzogen. Kennzeichnend für Lessings Trauerspiele ist die Vater-Tochter-Beziehung, die im Zentrum der Handlung von Miß Sara Sampson, Emilia Galotti und auch Nathan der Weise steht. An der innigen, gefühlsbetonten Beziehung zwischen Vater und Tochter exemplifiziert Lessing das neue familiale Wertsystem. In Miß Sara Sampson und Emilia sind die Väter ausschließlich mit ihren Töchtern beschäftigt und versuchen, ihre Unschuld zu wahren und sie an sich zu binden. Dies geschieht auf die für die Rolle des Hausvaters in der patriarchalen Familie typische Weise durch zärtliche Zuwendung und unhinterfragte väterliche Autorität. Der ›neue‹ Vater, der eine reale Funktion in der Kindererziehung übernimmt, drängt dabei die Mutter aus der Handlung heraus: Saras Mutter ist im Wochenbett gestorben, Emilias Mutter hat ihren letzten Auftritt vor den entscheidenden Szenen, die zur Ermordung Emilias durch ihren Vater führen. Dies ist, wie bereits erwähnt, eine bemerkenswerte Divergenz zu der Aufmerksamkeit, die der Mutter in philosophischen, medizinischen, pädagogischen und moralistischen Schriften der Zeit geschenkt wird. Autoren wie Diderot, Lessing und auch Schiller scheinen in einer Weise mit der Absicherung der 46 Brief an Friedrich Nicolai, 21.1.1758, G.E. Lessing: Werke und Briefe, Bd. 11/1, S. 267. 47 P. Szondi: Theorie des bürgerlichen Trauerspiels, S. 144.

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väterlich-männlichen Position beschäftigt zu sein, die kein ihr Anderes zulässt: Sie bedarf des Ausschlusses nicht nur des Weiblichen in Form der Tochter, sondern auch des Mütterlichen sowohl als reale als auch symbolische Funktion. Dass Mütterlichkeit in Lessings Theatertexten dennoch in unterschiedlicher Ausformung eine Rolle spielt, möchte ich anhand von Miß Sara Sampson und Emilia Galotti erörtern.

2.3 M ISS S ARA S AMPSON Miß Sara Sampson von 1755 gilt als das erste deutschsprachige bürgerliche Trauerspiel. Im Mittelpunkt steht eine Vater-Tochter-Beziehung, Ort der Handlung ist ein Gasthof, denn die Tochter Sara ist hierher mit ihrem Geliebten Mellefont aus dem Haus ihres Vaters geflohen, der Vater kommt ihr nach. Gleich in der ersten Szene wird das Motiv der verführten Unschuld etabliert: »Das beste, schönste, unschuldigste Kind, das unter der Sonne gelebt hat, das muß so verführt werden!«48 Der Vater wird als liebender Vater eingeführt, der seine Tochter schmerzlich vermisst (»Ich kann sie länger nicht entbehren«). Er lässt seinen Gefühlen freien Lauf und weint im ersten und zweiten Auftritt fast ununterbrochen: »Ach, Sie weinen schon wieder, schon wieder, Sir« – »Lass mich weinen, alter ehrlicher Diener. Oder verdient sie etwa meine Tränen nicht?« (I,1). Traditionelle Rollenbilder scheinen in der ersten Szene von Miß Sara Sampson auf den Kopf gestellt; auch der Diener Waitwill artikuliert vermeintlich mütterliche Gefühle: »Ach Sarchen! Sarchen! Ich habe dich aufwachsen sehen; hundertmal habe ich dich als ein Kind auf diesen meinen Armen gehabt; auf diesen meinen Armen habe ich dein Lächeln, dein Lallen bewundert.« (I,1). Immer wieder wird von »zärtlichem Vater« und »zärtlicher Tochter« gesprochen, und sowohl mit dem ersten als auch dem letzten Satz des Dramas bezieht sich der Vater auf seine Tochter (»Hier meine Tochter?« und »Sie ist ein Vermächtnis meiner Tochter«). Und auch die letzten Worte der sterbenden Tochter gelten ihrem Vater, nicht etwa ihrem Geliebten: »mein Vater – « (III,10). Es sind dieselben letzten Worte, die auch Emilia spricht: »Ah – mein Vater – «. Der Vater in Sara ist ein verzeihender, der ganz von den biologischen Banden bestimmt wird, die ihn zum Vater machen, und so auch den vormals gehassten Geliebten der Tochter als Sohn akzeptiert: »Ich bin Vater, Mellefont, und bin es zu sehr, als daß ich den letzten Willen meiner Tochter nicht verehren sollte. – Laß dich umarmen, mein Sohn, den ich teurer nicht erkaufen konnte!« (V,10). Im Gegensatz zu Odoardo Galotti wird Sir William vom ersten Auftritt an als vergebender Vater dargestellt, dem die Liebe der Tochter über alle Moralvorstellungen geht:

48 G.E. Lessing: Miß Sara Sampson, S. 237. Im Folgenden Nachweise in Form von Szenenangaben (Akt, Szene) im Text.

164 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: I NSZENIERUNGEN IN THEATER UND P ERFORMANCE »Wenn sie mich noch liebt, so ist ihr Fehler vergessen. Es war der Fehler eines zärtlichen Mädchens, und ihre Flucht war die Wirkung ihrer Reue. Solche Vergehungen sind besser als erzwungene Tugenden – Doch ich fühle es, Waitwell, ich fühle es; wenn diese Vergehungen auch wahre Verbrechen, wenn es auch vorsätzliche Laster wären: ach! ich würde ihr doch vergeben. Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter als von keiner geliebt sein wollen.« (I,1)

Der Vater wird hier nicht nur als zärtlicher Vater gezeichnet, sondern als ein empfindsames Subjekt, Vorbild für den empfindsamen, mitleidenden Bürger. Sørensen zufolge reproduziert Lessing in Miß Sara Sampson allerdings die »beiden Pole der patriarchalischen Auffassung der Vaterrolle«, nämlich die Vorstellung des zärtlichen und des autoritären, strafenden Vaters.49 Der Ausbruch der Tochter aus dem Elternhaus stellt einen Emanzipationsversuch dar, der sich klar gegen den väterlichen Machtanspruch richtet, und der tödlich endet. Auf diese Weise wird eine väterliche Machtinstanz unter Ausschluss des Weiblichen – sowohl der begehrenden Tochter als auch der Mutter – installiert. Denn über Saras Mutter, die im Kindsbett starb, wird kaum ein Wort verloren; nur einmal spricht Sara von ihr: »Meine Mutter würde mich vielleicht mit lauter Liebe tyrannisiert haben, und ich würde Mellefont’s nicht sein« (IV,1). Da dies das Einzige ist, das wir von ihr erfahren, bekommt man den Eindruck einer übertrieben protektionistischen Mutter, die ihr Kind nicht loslassen kann. Obwohl es im Trauerspiel gerade die Väter sind, die den Übergang vom Tochter- zum Frausein verhindern, wird diese Possessivität hier auf die Mutter projiziert.50 Die Abwesenheit der Mutter scheint die Übernahme mütterlicher Funktionen durch den Vater, wie etwa die beschriebene zärtlich-emotionale Bindung zum Kind, zu erleichtern oder erst zu ermöglichen. So betont Saras Vater, dass er die verstorbene Mutter vollständig ersetze und seine Tochter »noch nie nach einer Mutter seufzen lassen« habe. Einerseits wird auf diese Weise Mütterlichkeit vom anatomischen Körper der Frau gelöst, andererseits wiederholt die Übernahme väterlicher und mütterlicher Funktionen durch den Vater den Ausschluss der konkreten Mutter aus dem familialen Wertesystem. Der weiblichen Unschuld und dem zärtlichen Vater wird eine andere Mutterfigur gegenüber gestellt: Marwood, die frühere Geliebte Mellefonts, Mutter seiner Tochter. Sie wird als eine von Leidenschaft, Eifersucht und Rachegefühlen beherrschte Frau inszeniert, angelehnt an die Euripideische Medea. Lessing vollzieht 49 B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 76. 50 Einige Deutungen folgen dieser Projektion; so meint Kittler, nur der Vater befördere den »Transfer« der Liebe auf den Liebespartner, die Mutter hingegen »bedeutet nicht nur den Vätern, sondern auch den Kindern ein Hemmnis der Übertragbarkeit«; F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 25.

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hier also sowohl eine Spaltung des Weiblichen in die unschuldige Tochter und die mordende Mutter, als auch eine Spaltung der Elternrollen in den verzeihenden, liebenden Vater und die rachsüchtige, ihren Leidenschaften ausgelieferte Mutter. Über die Figur der Marwood kontrastiert er die zwar bedrohte, aber letztlich stabile Vater-Tochter-Einheit mit einer Gruppe, die ein Gegenmodell zum Ideal der Kernfamilie als emotionaler Gemeinschaft darstellt: Marwood, Mellefont und die gemeinsame Tochter Arabella, also eine Gruppe, die biologisch aus Mutter, Vater und Tochter besteht. Sie bildet aber keine Einheit, sondern ist faktisch und emotional auseinander gerissen. Diese zerrüttete Familie bedroht die intakte Familie, wie sie durch William und Sara Sampson repräsentiert wird. Der unschuldigen Tochter Sara wird dabei die Figur der Marwood entgegengesetzt. Sie ist lasterhaft und intrigant gezeichnet, obwohl sie, wenn man nur die Tatsachen betrachtet, den Vater ihrer Tochter halten will, also eine biologische Familie zusammenhalten möchte. Allerdings wird sie in allen Aspekten als Gegenteil einer treu sorgenden Mutter dargestellt: Sie verwendet List und Tücke, um Mellefont zurückzubekommen, und setzt ihre Tochter als Mittel zu diesem Zweck ein. Sie droht sogar damit, sie als »neue Medea« umzubringen, um sich am Vater zu rächen. Die Unnatürlichkeit dieser Drohung betont Lessing durch die Phantasie eines wahren Grausamkeitsexzesses: »Gift und Dolch sollen mich rächen. Doch nein, Gift und Dolch sind zu barmherzige Werkzeuge! Sie würden dein und mein Kind zu bald töten. Ich will es nicht gestorben sehen; sterben will ich es sehen. Durch langsame Martern will ich in seinem Gesichte jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren und verschwinden sehn. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen, und das Kleinste derselben auch da noch nicht aufhören zu schneiden und zu brennen, wenn es schon nichts mehr sein wird als ein empfindungsloses Aas. Ich – ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei!« (II,7)

Anders als die Medea des Euripides ist die Marwood bei Lessing keine ambivalente Figur, die als Täterin und Opfer dargestellt würde, sondern eindeutig negativ gezeichnet. Euripides lässt seine Medea ihr eigenes Tun kommentieren und reflektieren und erzeugt auf diese Weise eine Distanz, die verschiedene Perspektiven ermöglicht.51 Marwood hingegen ist der Inbegriff der ›bösen Mutter‹, die ihr Kind zu verschlingen droht. Bemerkenswert ist die Lust an der Grausamkeit, die Lessing ihr zuschreibt, und die unschwer als eine Variante sexueller Lust zu erkennen ist. Die böse Mutter ist nicht nur diejenige, die besitzergreifend Mann und Kind gegenüber ist, sondern vor allem die sexuell aktive, begehrende Mutter. Fischer-Lichte zufolge erscheint Marwood als Vertreterin des höfischen Absolutismus, dessen Werteverfall die Katastrophe zwar herbeiführe, letztlich aber dem 51 Vgl. H.T. Lehmann: Theater und Mythos, S. 182.

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bürgerlichen Wertesystem unterlegen sei.52 Es scheint hier aber nicht allein um das Wertesystem zu gehen, sondern um weibliche Lust, genauer: mütterliche Lust. Die einzige Mutterfigur des Dramas wird dabei all jener mütterlichen Werte beraubt, die zu Lessings Zeit so hoch gehalten werden; sie scheint dem Gegenbild der guten Mutter zu entsprechen, das Rousseau zeichnet: Jene Frauen, die Verderbnis nicht nur über ihre Familie, sondern über »alle sittliche Ordnung« bringen, weil sie ihre Kinder nicht stillen und nicht im Haus bleiben, sondern sich »den weltlichen Vergnügungen« des öffentlichen Lebens bzw. des Lebens bei Hofe hingeben.53 Lessing vollzieht diese dualistische Spaltung der Mutter nach. Allerdings gibt es bei ihm, im Gegensatz zu Rousseau, keine ›gute Mutter‹ als Gegenpol zu der ›bösen Mutter‹, sondern nur ein Mädchen, das noch nicht Mutter ist, und einen Vater. Leibliche Mütterlichkeit wird so vollständig verworfen. Der Vater vergibt und verzeiht, lässt mithin die ›natürlichen Gefühle‹ triumphieren über die Falschheit und Widernatürlichkeit der intriganten Mutter und Nebenbuhlerin. Und auch Sara hat Anteil an dem Triumph des Familiengefühls über andere Formen zwischenmenschlicher Beziehung, indem sie sterbend die Liebe ihres Vaters der Tochter der Marwood »vermacht« (II, 8). Dieser Verzicht auf Liebe und Rachegefühle steht nicht zuletzt für einen Verzicht auf weibliche Lust und Leidenschaft, die mit Marwood ausgeschlossen werden. Ideal ist bei Lessing wie bei Diderot die harmonische Einheit der Familie durch die natürlichen Gefühle unter Ausschluss der Mutter. Am Ende steht eine familiale Einheit von Vater und unschuldiger Tochter, diejenige von Saras Vater und Marwoods Tochter Arabella. Sie konnte entstehen durch den Ausschluss des Anderen: der Sexualität in Form des Begehrens der leiblichen Tochter, dem geläuterten und entsühnten Verführer (»er war mehr unglücklich als lasterhaft«), und der sexuell aktiven Mutterfigur. Die erwachsene Tochter mit ihrem Begehren wird ersetzt durch die kindliche Tochter, bei der das Begehren noch nicht erwacht ist. Die böse Mutter zeichnet sich bei alldem durch ihre Leidenschaft und Sexualität aus: keine Ehe hat das Kind sanktioniert, sondern es ist offensichtlich aus purer Lust entstanden, und auch als Mutter noch begehrt die Marwood und hat leidenschaftliche Gefühle der Rache. Gerade die Tatsache, dass Lessing mit der Marwood eine uneheliche Mutter darstellt, ist von Bedeutung. Denn die bürgerlich-familialen Wertvorstellungen des 18. Jahrhunderts bringen auch eine bestimmte Form von Sexualität hervor: der ausschließliche Ort der Sexualität ist die Familie, ihr Zweck die Fortpflanzung, Geschlechtsverkehr und Generativität werden gleichgesetzt. Das Mätressenwesen, das im Ancien Régime noch gesellschaftlich anerkannt war, wird nunmehr, wie man im Trauerspiel sehen kann, mit Lasterhaftigkeit und sittlichem Verfall gleichgesetzt. Die uneheliche Mutter ist bei Lessing kein Mitleid wert, son52 E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 278. 53 J.J. Rousseau: Émile, S. 32-33.

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dern durch und durch unsittlich, da ihre Sexualität nicht in der Ordnung der Ehe gebannt ist. Die Grausamkeit, mit der Marwood die Ermordung ihrer Tochter imaginiert, entspricht der Lasterhaftigkeit der nicht-konjugalen Mutter. Nicht die Mutter an sich ist geheiligt, sondern diejenige, die das bürgerliche Wertesystem erfüllt und auf eigene Lust verzichtet. Mit Recht stellt Renate Möhrmann fest, dass Lessings »Darstellung der mütterlichen Rache alles an sadistischer Scheußlichkeit übersteigt«, was Dichter hinsichtlich der Referenzfigur Medea erdacht haben, und dass diese Monstrosität mit der »männlichen Angst vor der unkontrollierten bzw. als unkontrollierbar gedachten weiblichen Sexualität« in Zusammenhang steht.54 Diese Sexualität erscheint umso gefährlicher, als sie eine mütterliche ist, da die Vorstellung eines mütterlichen Begehrens das Subjekt in besonderer Weise bedroht;55 oder auch: weil eine Mutter mit einem eigenen Begehren die ihr zugewiesene Funktion der völligen Hingabe an das Kind bzw. an die patriarchal organisierte Generativität verweigert. Möhrmann zufolge ist die Marwood in doppelter Hinsicht gefährlich: als Frau, die dem bürgerlichen Moralkodex zuwiderhandelt, und als uneheliche Mutter, für die es »im bürgerlichen System keinen Ort« gibt. Man könnte hinzufügen, dass sie umso gefährlicher ist, als sie gerade ohne gesicherten Ort in den Ort der Familie eindringt und sie zu zerstören droht. Sie symbolisiert so unkontrollierbare weibliche Lust gerade als eine, die nicht fixierbar ist und so auch nicht einzubinden in eine Familieneinheit oder moralische Norm. Von diesem bedrohlichen Nicht-Ort aus widersetzt sie sich lautstark. Aus diesem doppelten Grund muss sie verstoßen werden; um die Bedrohung anschaulich zu machen, imaginiert Lessing das Horrorszenario der mordenden Mutter. Bemerkenswert ist die Relativierung der biologischen Verwandtschaft, die Lessing in Miß Sara Sampson vornimmt. Wie bereits erwähnt, wird die biologische Familie, da sie nicht durch die Ehe sanktioniert wurde, als nicht schützenswert dargestellt. Dieser biologischen, nicht-konjugalen Kleinfamilie wird eine soziale Familie gegenübergestellt: diejenige von Sara und Mellefont sowie dessen Tochter aus seiner Beziehung mit Marwood, Arabella. Denn Sara erklärt sich bereit, diese Tochter anzunehmen: »Lassen Sie mich an die Stelle der Marwood treten«, sagt sie im fünften Aufzug zu Mellefont. Lessing betont hier die Bedeutung von Familie sowohl auf biologischer, als auch emotionaler und sozialer Ebene. Sara erklärt, sie liebe Mellefont umso mehr, als er seine Tochter liebe und nicht von sich lassen wolle: »Wie sehr liebe ich Sie, auch um dieser Liebe willen! Sie würden mich empfindlich beleidigt haben, wenn Sie die Sympathie Ihres Bluts, aus mir nachteiligen Bedenklichkeiten, verleugnet hätten« (V,4). Die biologische Verwandtschaft ist also Grundlage der emotionalen Bindung, sie kann aber offensichtlich auch durch ei54 R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 78. 55 Vgl. B. Creed: The Monstrous-Feminine, S. 1-58.

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ne bewusste Entscheidung ersetzt werden – als wesentlich erscheinen die emotionalen Bindungen. So wird es auch möglich, dass am Ende Sara ihrem Vater anträgt, Mellefont und Arabella an ihrer statt als Kinder anzunehmen: »Wenn ich hoffen dürfte, liebster Vater, daß Sie einen Sohn anstatt einer Tochter annehmen wollten! Und auch eine Tochter wird Ihnen mit ihm nicht fehlen, wenn Sie Arabellen dafür erkennen wollen. Sie müssen sie zurückholen, Mellefont; und die Mutter mag entfliehen. […] Ich vermache diese väterliche Liebe Ihnen und Arabellen.« (V,10). Auch wenn dieses familiale Wertegefüge, das die Biologie hinter sich lässt, auf der Ausgrenzung der sexualisierten Mutter beruht, wirkt es doch aus heutiger Sicht erstaunlich modern. Die Ausgrenzung der Mutter geschieht dabei in doppelter Weise: sie soll ›entfliehen‹ und durch die tugendhafte soziale Mutter ersetzt werden; und die Unschuld und Tugendhaftigkeit dieser sozialen Mutter werden zementiert, indem Lessing Sara mehr als Schwester bzw. Freundin denn als Mutter beschreibt und im gleichen Zuge Mellefont zur Autorität erhebt: »Brauchen Sie Ihre Rechte über beide, und lassen Sie mich an die Stelle der Marwood treten. Gönnen Sie mir das Glück, mir eine Freundin zu erziehen, die Ihnen ihr Leben zu danken hat; einen Mellefont meines Geschlechts. Glückliche Tage, wenn mein Vater, wenn Sie, wenn Arabella meine kindliche Ehrfurcht, meine vertrauliche Liebe, meine sorgsame Freundschaft um die Wette beschäftigen werden!« (V,4)

Die Zerstörungskraft der bösen, sexualisierten Mutter ist allerdings so groß, dass es zu dieser Patchworkfamilie nicht kommt, die gute Mutter muss sterben, bevor sie ihre Unschuld dann doch an die ›vertrauliche Liebe‹ verlieren kann. Aus der Perspektive des Vaters wird sie ersetzt durch eine zwar nicht leibliche, doch jüngere Tochter, weiter vom sexuellen Begehren und dem Transfer der Liebe auf einen anderen Mann entfernt als Sara: »Laß mich nicht länger, Waitwell, bei diesem tötenden Anblicke verweilen. Ein Grab soll beide umschließen. Komm, schleunige Anstalt zu machen, und dann laß uns auf Arabellen denken. Sie sei, wer sie sei: sie ist ein Vermächtnis meiner Tochter. (Sie gehen ab, und das Theater fällt zu.) Ende des Trauerspiels.« (V,11). Im Vergleich zu den vielen Tränen, die zu Beginn des Stücks von Sir William um seine lebende Tochter vergossen werden, will er sie und ihren Geliebten nun erstaunlich schnell unter die Erde bringen und sich seiner zukünftigen Stieftochter zuwenden. Am Ende steht so einerseits der väterliche Wunsch nach einer jungfräulichen Tochter, andererseits eine klare Absage an biologische Verwandtschaftskonzepte: ›Sie sei, wer sie sei‹, ihre biologische Herkunft von einer ›bösen‹ Mutter ist nicht von Bedeutung, sie ist ›ein Vermächtnis‹ von Sara – Arabella wird zu Sir Williams Tochter durch einen Sprechakt von Sara. Hier klingt die Vorstellung von Verwandtschaft als performativer Praxis an, wie Judith Butler sie mehr als 200 Jahre später ausformulieren wird.

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2.4 E MILIA G ALOTTI Emilia Galotti ist lange als ein Trauerspiel über eine Vater-Tochter-Beziehung gedeutet worden, bei der ein besorgter Vater mit Tugendvorstellungen, die das bürgerliche Wertesystem repräsentieren, versucht, seine unschuldige Tochter vor dem lasterhaften Verführer, der für die höfische Gesellschaft steht, zu schützen. Die Tugendvorstellungen sind als übertrieben, aber nicht als grundsätzliches Problem dargestellt worden. Zumal die Ermordung der Tochter durch den Vater wurde in der Literaturwissenschaft bis in die 1980er Jahre hinein als »ein Akt familialer Liebe und Sittlichkeit« gedeutet.56 Auf dem Theater kam bereits 1970 mit der Inszenierung Fritz Kortners am Wiener Theater in der Josefstadt, mit Klaus Maria Brandauer als Prinz Gonzaga und Marianne Nentwich als Emilia, ein ganz anderer Blick auf das Drama zustande: Kortner stellt Odoardo als den eigentlichen Tyrannen dar, das bürgerliche Wertesystem als eines der (Trieb)Unterdrückung. Emilia wird zum Opfer ihres Vaters, während ihr Verhältnis zum Prinzen von gegenseitiger Zärtlichkeit geprägt ist. Der Vater Odoardo hingegen unterdrückt nicht nur Frau und Tochter, sondern auch die eigenen Triebe, das macht das Spiel des Erik Frey, seine Körperhaltung, Gestik und Mimik sichtbar.57 Der Mord an seiner Tochter wirkt wie ein Befreiungsschlag, eine Entladung der bislang unterdrückten Affekte. Als Problem wird so nicht die höfische Gesellschaft als Bedrohung der intakten Familie, sondern die bürgerliche Familie selbst mit ihrem rigiden Moralkodex ausgemacht, die die politische Unterdrückung als moralische Unterdrückung verinnerlicht und fortsetzt und gerade kein Hort von Freiheit und Natur ist.58 Ivan Nagel schreibt 1970: »Konkret gesagt: Wenn ein geschändetes Bürgermädchen Selbstmord begehen oder sich töten lassen muss, so liegt die Schuld nicht bei dem, der es ›geschändet‹ hat, sondern bei denen, die es für geschändet halten.«59 Familie als geschlossene Gemeinschaft Das Ideal der Familie als harmonische, gefühlsbetonte und geschlossene Einheit wird auch in Emilia Galotti artikuliert. Dies bezeugen beispielsweise die Sympathiebekundungen der Eheleute Galotti bei ihrem ersten szenischen Zusammentreffen (»Ach! Mein Bester!« – »Guten Morgen, meine Liebe!«).60 Ehe und Familie werden als Hort der Harmonie und Ruhe sowie der echten Gefühlsbindungen idea-

56 B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 92. 57 Vgl. Aufzeichnung der Inszenierung in der Edition Josefstadt Theater. 58 Vgl. W. Barner et al.: Lessing, S. 370-372. 59 Ivan Nagel in Theater heute Juni 1970, S. 33, zit. nach W. Barner et al.: Lessing, S. 371. 60 G.E. Lessing: Emilia Galotti, S. 19. Im Folgenden Szenenangaben im Text.

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lisiert, während das Gegenmodell, die Welt des Prinzen, von nicht konjugalen und lieblosen sexuellen Beziehungen bestimmt wird. Dieses Gegenbild des bürgerlichen Familienkonzepts eröffnet das Drama; der Prinz Hettore Gonzaga wird als verantwortungsloser Landesvater ohne Familie eingeführt, der kurz vor einer Vernunftsehe aus »elenden Staatsinteresse« (I,6) steht und wechselnde Mätressen hat, die er offensichtlich immer nach kurzer Zeit wieder fallen lässt. Es ist Odoardo Galotti, der die Idee der bürgerlichen Familie im Verlauf des Dramas immer wieder anspricht und erläutert. Auch dies geschieht meist durch die Kontrastierung der Vorstellung einer natürlichen Einheit, die sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, mit der höfischen Welt der Repräsentation, die mit Verstellung und Unehrlichkeit assoziiert wird. So sehr die Geschlossenheit der Familie und ihre Isolation von der öffentlich-höfischen Sphäre von Odoardo idealisiert wird, so ist die familiäre Einheit in Emilia Galotti jedoch von Anfang an nicht intakt: Mutter und Tochter leben in der Stadt, während der Vater auf dem Landbesitz der Familie wohnt und nur für die anstehende Hochzeit seiner Tochter in der Stadt ist. Noch bemerkenswerter ist, dass auch szenisch die Familie nie als Einheit dargestellt wird: In keiner Szene sind alle drei Familienmitglieder gleichzeitig auf der Bühne; eine Tatsache, die erstaunlicher Weise in vielen Untersuchungen gar nicht erwähnt wird. So wird von dem Ideal der familiären Gemeinschaft zwar gesprochen und es werden Gegenbilder gezeigt, szenisch realisiert wird sie jedoch nicht. Der erste und fast der gesamte dritte Akt sind dem Prinzen und seiner Gefolgschaft vorbehalten. Zu Beginn des zweiten Akts treten die Eheleute Galotti auf, ihr Gespräch kreist um Emilia, die aber abwesend bleibt. Ihren Auftritt verzögert Lessing bis zur sechsten Szene des zweiten Akts, in der sie mit ihrer Mutter zusammentrifft; das szenische Zusammentreffen von Emilia mit ihrem Vater wird sogar bis zur siebten Szene des fünften Akts hinausgezögert, es ist die vorletzte Szene des Dramas, an deren Ende Odoardo Emilia ersticht. Eine szenische Konkretisierung des idealisierten Familienmodells findet mithin nicht statt. Auffallend ist zudem, dass auch die Ehe der Galottis nicht dem harmonischen Ideal der Liebesheirat entspricht, wie es in Schriften oder auch Bildern der Zeit dargestellt wird. Sie wird zwar durch die oben erwähnten Sympathiebekundungen mit der politischen Zweckheirat und den wechselnden Liebschaften des Prinzen kontrastiert, ist aber ebenso durch das Misstrauen Odoardos, die Meinungsverschiedenheiten des Ehepaars über die Erziehung ihrer Tochter und ein hierarchisches Verhältnis der beiden Eheleute gekennzeichnet. Eine harmonische Einheit bilden sie nicht. So dominieren in der zweiten Szene, in der das Ehepaar Galotti auftritt (II,4), Meinungsdifferenzen und Vorwürfe des Vaters, sodass mehr der Eindruck einer autoritären Struktur denn harmonischer Gefühlsbindungen erzeugt wird. Das Kind bildet das Zentrum der Familie, auf das die Eltern fokussiert sind. Das Verhältnis beider dreht sich allein um die Tochter und die ihrer Erziehung zugrunde liegenden

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Moral- und Normvorstellungen. Das Trauerspiel spiegelt so die im 18. Jahrhundert aufkommende Konzentration auf das Kind und die Erziehung, die die neuen Wertvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft sichern sollen, wider. Allerdings werden diese Werte auch diskutiert, beispielsweise in folgendem Dialog, der auf unterschiedliche Weise gelesen werden kann: »Odoardo: […] Der Prinz haßt mich – Claudia: Vielleicht weniger, als du besorgest. Odoardo: Besorgest! Ich besorg auch so was! Claudia: Denn hab ich dir schon gesagt, daß der Prinz unsere Tochter gesehen hat? Odoardo: Der Prinz? Und wo das? Claudia: In der letzten Vegghia […]. Er bezeigte sich gegen sie so gnädig – Odoardo: So gnädig? Claudia: Er unterhielt sich mit ihr so lange – – Odoardo: Unterhielt sich mit ihr? Claudia: Schien von ihrer Munterkeit und ihrem Witze so bezaubert – – Odoardo: So bezaubert? – Claudia: Hat von ihrer Schönheit mit so vielen Lobeserhebungen gesprochen – – Odoardo: Lobeserhebungen? Und das alles erzählst du mir in einem Tone der Entzückung? O Claudia! eitle, törichte Mutter! Claudia: Wieso?« (II,4)

Dieser Dialog, der mit der Zurechtweisung Odoardos »Claudia! Claudia! der bloße Gedanke setzt mich in Wut. – Du hättest mir das sogleich sollen gemeldet haben« endet, wird meist als Hinweis auf das Versagen der Mutter gelesen, in Abwesenheit des Hausvaters dessen Schutzfunktion der Tochter gegenüber auszufüllen, weil sie die Gefahr, die vom Prinzen ausgeht, genauso wenig erkennt, wie sie während des Dialogs das Entsetzen ihres Mannes zu bemerken scheint.61 Auf sprachlicher Ebene allerdings scheint mir der Dialog durch die Wiederholungs- bzw. Echostruktur eher komödiantische Aspekte zu betonen; in der Art einer Screwballkomödie gibt hier bei hohem Tempo ein Wort das andere; und man könnte auch die Rollenverteilung umdeuten und die Bemerkungen der Mutter als gezielte Provokation ihres Mannes lesen – die Gedankenstriche am Ende ihrer Sätze scheinen geradezu auf die Entgegnung Odoardos zu warten. Die hausväterliche Autorität, die Lessing ihm so nachdrücklich in den Mund legt – ›Claudia! Claudia! Du hättest mir das sogleich sollen gemeldet haben!‹ –, wird von Claudia unterlaufen, indem sie ihm ihre Wahrnehmung der Welt entgegensetzt und seine Vorwürfe an sich abprallen lässt. »Wieso?« fragt sie, und wenn man nicht annimmt, dass sie tatsächlich eitel und töricht 61 Zum Beispiel B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 83; S. Kaufmann/G. Saße: Emilia Galotti, S. 62.

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ist, so stellt dieses ›Wieso?‹ nicht ihre Naivität, sondern die Absurdität des gesamten Dialogs und damit auch die bornierten Vorstellungen ihres Mannes aus, der auf die Frage dann auch keine Antwort findet. Das ›Wieso?‹ bleibt offen; ebenso wie auch das Ende der Szene die Familieneinheit offen lässt. Odoardo verlässt das Haus, um dem Zwist zu entgehen: »Doch, ich möchte dir heute nicht gern etwas Unangenehmes sagen. Und ich würde (indem sie ihn bei der Hand ergreift), wenn ich länger bliebe. – Drum laß mich! laß mich! – Gott befohlen, Claudia! – Kommt glücklich nach!« (II,4). Auch wenn Odoardo die Einheit und Natürlichkeit der bürgerlichen Familie im Gegensatz zu der Verstelltheit der höfischen Öffentlichkeit proklamiert, so ist auf der Bühne diese Einheit mithin nicht zu sehen. Eine intime Nähe entwickelt sich nur in den Eltern-Kind-Beziehungen, nicht in der Ehebeziehung. Das Ideal der bürgerlichen Familie wird von Anbeginn an in erster Linie durch die Bedrohung ihrer Einheit veranschaulicht, und zwar nicht nur von außen, durch das Begehren des Prinzen bzw. die Intrige Marinellis, die darauf zielt, »Mutter und Tochter zu trennen«, ja sogar »Mutter und Tochter und Vater« (V,5), sondern auch von innen durch die unterschiedlichen Positionen, die die Eheleute einnehmen: eine autoritäre Vaterposition, und eine Mutter, die sich dieser Autorität nicht beugt. Auch die bevorstehende Heirat der Tochter, also ihre Emanzipation und Sexualisierung, stellt von Anbeginn an eine Bedrohung der familialen Einheit dar, die im weiteren Handlungsverlauf durch das Begehren der Emilia konkretisiert wird. Die Tochter bildet zwar das Zentrum der Familie, erlangt aber szenisch keine Eigenständigkeit, da sie immer nur als Tochter, gemeinsam mit einem Elternteil, auf der Bühne ist. Auch zu Appiani, ihrem Bräutigam, hat Emilia keine eigenständige Beziehung, sie trifft nie allein mit ihm zusammen, ihre Begegnung im 2. Akt ist von kindlicher Freude ihrerseits (sie ›springt ihm entgegen‹) und Bewunderung ihrer »Frömmigkeit« seinerseits geprägt; Hinweise auf eine erotische Beziehung fehlen (II,7). Hingegen ist sie von der ersten Szene an präsent als Objekt des Begehrens des Prinzen, als Bild, das er besitzen will: »Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr, daß ich dich besitze? - Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! […] Am liebsten kauft' ich dich, Zauberin, von dir selbst!« (I,5). Die Bildhaftigkeit Emilias wird auch durch fragmentierende Beschreibungen betont: »Dieser Kopf, dieses Antlitz, diese Stirne, diese Augen, diese Nase, dieser Mund, dieses Kinn, dieser Hals, diese Brust, dieser Wuchs, dieser ganze Bau, sind, von der Zeit an, mein einziges Studium der weiblichen Schönheit«, sagt der Maler Conti über Emilia, und auch der Prinz spricht von einzelnen Körperteilen wie Augen und Mund (I,4 u. I,5). Der Wunsch des Prinzen, Emilia zu besitzen, sie von ihren Eltern loszukaufen, kündigt die Bedrohung der Eltern-Kind-Einheit an und wird direkt an ihre Fragmentierung in der Wahrnehmung des Prinzen geknüpft; die Bedrohung der Einheit der Familie ist gleichbedeutend mit der Bedrohung der Integrität der Tochter als

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Subjekt. Das Begehren des Prinzen wird als willkürlicher Besitzanspruch gedeutet, ein Besitzanspruch, der im weiteren Verlauf auf den – weniger explizit artikulierten – Besitzanspruch des Vaters treffen wird. Auch wenn der Prinz nicht als »Despot alter Couleur« gezeichnet ist,62 streicht Lessing doch die Verantwortungslosigkeit des Prinzen sowohl hinsichtlich seiner politischen Funktion als auch als Mensch bzw. Liebhaber heraus; es ist diese absolutistische Willkür, die die Natürlichkeit der Familienbande nicht sieht, die Tochter als ein herauslösbares Objekt betrachtet, die ›natürliche‹ Autorität des leiblichen Vaters umgeht und dadurch die Einheit der Familie bedroht. Im Gegenzug wird Odoardo Galotti als verantwortungsbewusster Familienvater eingeführt. Erika Fischer-Lichte folgert: »Solange der Absolutismus besteht, wird die natürliche Ordnung der Familie und die Tugend ihrer Töchter bedroht sein«.63 Es ist aber nicht nur der Absolutismus, der die Tochter bedroht, sondern ihre eigene Verführbarkeit, die in der ›natürlichen Ordnung der Familie‹ keinen Platz hat. Mütterlicher Körper und bürgerliches Heim Die nach außen geschlossene Familie, in der sich das bürgerliche Individuum in Abgrenzung zum Adel als freier und natürlicher Mensch etabliert, wird im Trauerspiel auch durch die Inszenierung entgegengesetzter Orte und Räume konstruiert. Die familiäre Einheit ist mit dem Inneren des geschlossenen Hauses assoziiert, zu dem nur die Familienmitglieder Zutritt haben. Mit Ausnahme der idealisierten Rückzugsorte auf dem Land der Familien Galotti und Appiani werden sämtliche Außenräume, zumal diejenigen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, als ungeschützte Räume dargestellt, an denen das Subjekt einer Bedrohung ausgesetzt ist. Dies trifft selbst auf die Kirche zu, auch sie bietet keinen Schutz, auch hier ist Emilia den Blicken Anderer ausgesetzt, hier trifft sie auf den Prinzen und erfährt zum ersten Mal ein für sie nicht erklärliches Begehren. Auch die anderen Räume und Örtlichkeiten, die in Emilia Galotti vorkommen, werden als Gegenräume zum Privatraum der bürgerlichen Familie konstituiert: das Haus der Grimaldi, »Haus der Freude«, in dem Emilia dem Prinzen zum ersten Mal begegnet, ein Ort weltlicher Verführungen; das Lustschloss des Prinzen, in das dieser Emilia entführen lässt und in dem sie getötet wird, Ort der Handlung vom Dritten bis Fünften Aufzug; der öffentliche Raum, in dem der Überfall auf Braut und Bräutigam stattfindet und Appiani ermordet wird; und auch das Haus des Prinzen in der Stadt, das allein durch seine Öffnung für wechselnde Mätressen ein Gegenmodell zum geschlossenen Haus der Galottis darstellt. Das Haus der Familie Galotti selbst wird als eine Art Refugium inmitten den Unwägbarkeiten der Stadt inszeniert. Das Verlassen dieses Hauses, und sei es nur 62 F. Schößler: Einführung, S. 50. 63 E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 283.

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für »die wenigen Schritte« bis zur Kirche, stellt eine Bedrohung dar, zumal der Unschuld der Tochter; ein Schritt, so ihr Vater, sei »genug zu einem Fehltritt« (II,2). Als ein Moment größter Bedrohung erscheint auch das Eindringen eines Fremden (Angelo) in das Haus; der Diener Pirro wird als Verbindung mit diesem ›Bösen‹, das von außen kommt, inszeniert. Auf diese Weise werden alle, die nicht zur biologischen Kernfamilie gehören, als potentielle Gefahr eingeführt. Die Notwendigkeit eines geschlossenen Heims wird auch in Miß Sara Sampson betont; Sir William sagt, er habe selbst »den größten Fehler bei diesem Unglücke begangen«, indem er Mellefont, dem Verführer der Tochter, »einen allzu freien Zutritt in meinem Hause« gestattet habe (III,1). Das Wesentliche des bürgerlichen Privathauses ist mithin seine Geschlossenheit, die die familiale Einheit schützt und aus der gesellschaftlichen Sphäre ausgliedert sowie alles ihr Andere ausschließt. Die Dramaturgie der Räume in Emilia ist geschlechtsspezifisch codiert: Allein der Vater kann sich gefahrlos in der Außenwelt bewegen, während Mutter und Tochter den Gefahren der Verführung ausgesetzt sind. Die Bewegungsfreiheit des Vaters Galotti wird in seinem ersten Auftritt deutlich: Er »sprengt« in den Hof, kommt »unvermutet«, und verlässt das Haus ebenso abrupt wieder (II,1). Die Geschlechterrollen der patriarchalischen Familie sind hier klar geschieden: Die Frau ist an das Haus gebunden, der Mann kommt in wilder Bewegtheit von außen, er ist derjenige, der die Familie mit der Außenwelt verbindet und die Grenze zwischen öffentlich und privat willkürlich überschreiten kann: mehrmals wird betont, dass er überraschend kommt. Die Überschreitung der Grenze zwischen Innen- und Außenraum, Privatsphäre und Öffentlichkeit, ist auch Thema des folgenden Dialogs. Auf die Frage des Vaters nach Emilia sagt die Mutter, sie sei in die Messe gegangen, woraufhin der Vater abrupt reagiert: »Odoardo: Ganz allein? Claudia: Die wenigen Schritte – – Odoardo: Einer ist genug zu einem Fehltritt! – Claudia: Zürnen Sie nicht, mein Bester; und kommen Sie herein – einen Augenblick auszuruhen und, wann Sie wollen, eine Erfrischung zu nehmen. Odoardo: Wie du meinest, Claudia. – Aber sie sollte nicht allein gegangen sein. – Claudia: Und Ihr, Pirro, bleibt hier in dem Vorzimmer, alle Besuche auf heute zu verbitten.« (II,2)

Die innerfamiliäre Hierarchie wird deutlich vor Augen geführt, Claudia spricht förmlich mit ihrem Mann und siezt ihn, während er sie duzt und ihr Vorwürfe macht. Die Vorwürfe beziehen sich auf ihre Schutzfunktion der Tochter gegenüber, die sie im sicheren Haus hätte behüten bzw. einschließen sollen. Um ihre mütterliche Funktion des häuslichen Schutzes wiederherzustellen und ihren Ehemann zu

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besänftigen, lotst sie ihn mit der Aussicht auf Pflege und Versorgung ins Hausinnere, in die ganz privaten Räume, die nach außen abgeschottet werden, um Intimität und Harmonie zu garantieren. Die familiäre Einheit kann nur in diesem geschlossenen Raum wiederhergestellt werden, auch vor den Blicken des Publikums muss sie offensichtlich verborgen werden. Noch expliziter wird das Haus der Familie Galotti im sechsten Auftritt des zweiten Aufzugs als Schutzraum vor äußeren Bedrohungen inszeniert. Emilia, aus der Kirche kommend, stürzt herein und sucht Schutz im Wohnhaus und bei ihrer Mutter: »Emilia (stürzet in einer ängstlichen Verwirrung herein): Wohl mir! wohl mir! – Nun bin ich in Sicherheit. Oder ist er mir gar gefolgt? (Indem sie den Schleier zurückwirft und ihre Mutter erblicket.) Ist er, meine Mutter? ist er? – Nein, dem Himmel sei Dank!« (II,6)

Abermals wird die Mutter mit dem privaten Heim assoziiert, wie das Haus bietet sie Schutz und vermag, die Hilfesuchenden aufzunehmen. »Ach, meine Mutter!« seufzt Emilia und wirft sich ihr »in die Arme«. Der mütterliche Körper dient der emotionalen Geborgenheit der Familie und hält sie als Gemeinschaft zusammen. In der christlichen Kultur ist der Körper Mariens mit einer solchen Schutz- und Trostfunktion ausgestattet, als Gefäß Gottes vermag Maria, das Leiden der Welt aufzunehmen, Gemeinschaft zu stiften und Trost zu spenden. Die weibliche Codierung des Hauses ist bereits aus antiken Texten bekannt, entspricht aber zudem der sozialen Rolle der Frau ab dem 18. Jahrhundert, da sie zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt wird. Diese Codierung erfolgt in Emilia Galotti allerdings auf widersprüchliche Art und Weise: Einerseits hat die Mutter das Familienheim verlassen und ist mit der Tochter in die Stadt gezogen, ein deutlicher Bruch mit den Idealen der Zeit. Sie hat Emilia außerdem in die städtische Gesellschaft eingeführt und ihr so auch einen Freiraum außerhalb der Familie eröffnet; ein weiterer Bruch mit den patriarchalen Konventionen. Sie wird insofern von Lessing als, um mit Rousseaus Worten zu sprechen, ›unnatürliche‹ Mutter dargestellt, die nicht an dem für sie vorgesehenen Ort bleibt. Im Gegenteil, sie begibt sich bewusst in die mit Künstlichkeit und Verführung assoziierte gesellschaftliche Öffentlichkeit. Andererseits gehorchen die Szenen, in denen Mutter und Tochter gemeinsam im Hause sind, einer stärker geschlossenen Dramaturgie als jene, in denen Vater und Mutter zu Hause sind. In letzteren ist der Vater immer schon wieder auf dem Sprung nach draußen; die Szenen werden zudem durch die Pirro-Angelo-Handlung unterbrochen. Im sechsten Auftritt des zweiten Aufzugs hingegen wird die Außenwelt dezidiert ausgeschlossen; das Innere des Hauses ist der intimen Aussprache vorbehalten: Emilia wirft ihren Schleier ab, der in der Öffentlichkeit ihr Gesicht verbirgt, und deckt der Mutter den Grund für ihre Verwirrung auf. Im weiteren Verlauf der Szene allerdings konterkariert Lessing, abermals anhand der Figur der Mut-

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ter, das Konzept des von Ehrlichkeit, Natürlichkeit und wahrhaftem Selbstausdruck geprägten bürgerlichen Heims: Die Mutter rät ihrer Tochter, die Annäherungsversuche des Prinzen sowohl ihrem Vater als auch ihrem Bräutigam gegenüber zu verschweigen: »Sag ihm nichts. Laß ihn nichts merken!« Auf diese Weise legt Lessing nahe, dass die Mutter eine Bedrohung im Innersten der Familie darstellt, da sie die grundlegenden Werte der Familie untergräbt, indem sie ihre Tochter zur Unehrlichkeit anstiftet. In der Literaturwissenschaft ist dies lange als ein »Rollenversagen« Claudias gedeutet worden, da sie als Mutter zum zweiten Mal – nachdem sie dem Vater bereits das erste Zusammentreffen Emilias mit dem Prinzen verschwiegen hat – ihre Pflicht der »Berichterstattung, die im patriarchalischen System als Vorbedingung der hausväterlichen ›Wachsamkeit‹ vorgesehen war«, vernachlässige.64 Der Mutter wird auf diese Weise eine (Teil)Schuld an der Tötung Emilias zugesprochen. Die Ratschläge können aber auch als Akt der Emanzipation gelesen werden, als eine bewusste Verweigerung der ihr zugewiesenen Rolle, als ein Widerstand, den sie den rigiden Norm- und Moralvorstellungen des Vaters entgegensetzt. Und dies umso mehr, als die Mutter in Form dieser Ratschläge die ihr angestammte Funktion des vorsprachlichen, körperlich-emotionalen Trostes verlässt und als selbstbewusste, sprachlich handelnde Figur auftritt. Die geplante Unehrlichkeit der Mutter assoziiert sie abermals mit dem Topos der Künstlichkeit und Verstellung, die mit der höfischen Welt verbunden wird. Während der Vater versucht, die Familie gegen diese Welt abzuschotten, erscheint die Mutter so als eine zwiespältige Figur, die die Grenze zwischen beiden Welten immer wieder überschreitet. Zugleich stiftet Lessing in dieser Szene eine Einheit von Mutter und Tochter, aus der nicht nur die Öffentlichkeit sondern auch der Vater ebenso wie der Bräutigam der Tochter ausgeschlossen ist. Diese Einheit wird durch die Worte der Mutter bestärkt, dass es ein Segen sei, dass der Vater nicht auf Emilia gewartet habe, weil sie sonst sein »Zorn« und seine »Wut« getroffen hätten. Der Mutter wird auf diese Weise eine schützende Funktion nicht nur der Außenwelt, sondern auch dem autoritären Familienoberhaupt gegenüber zugewiesen; sie wird als Binde- und Schutzglied zwischen Emilia und ihrem Vater inszeniert. Dies ist einerseits eine stereotype Funktion der Mutter in der patriarchalisch organisierten Familie. Im Kontext einer Gattung, die sich auf die Einheit Vater-Tochter konzentriert, ist die durch die Mutter hergestellte Komplizenschaft mit der Tochter, unter dezidiertem Ausschluss des Vaters, andererseits durchaus bemerkenswert, zumal sie dramaturgisch durch die Stellung der Szene im Handlungsverlauf hervorgehoben wird: Es ist der erste Auftritt Emilias, auf diesen Auftritt der Titelrolle arbeiten der gesamte erste Akt und die erste Hälfte des zweiten Akts hin. Die Szene steht also dramaturgisch im Fokus und fokussiert selbst wiederum die intime Einheit von Mutter und Tochter, da die beiden sich allein auf der Bühne befinden. 64 B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 83.

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Diese Mutter-Kind-Einheit wird im Folgenden durch verschiedene männliche Figuren bzw. Funktionen der patriarchalischen Gesellschaft unterbrochen, zunächst durch den Auftritt Appianis und die Vorbereitungen für die Hochzeit, dann durch die Intrige Marinellis bzw. des Prinzen, und zuletzt und endgültig durch den Vater Odoardo Galotti, der die Mutter nach Hause und damit zugleich endgültig von der Bühne schickt, bevor es zur Katastrophe, dem Mord an seiner Tochter, kommt. Mutter und Tochter sind im weiteren Verlauf des Dramas nicht mehr gemeinsam auf der Bühne. Vor Claudias endgültigem Abgang wird allerdings die emotionale Verbundenheit von Mutter und Tochter abermals betont. Am Ende des dritten Aufzugs, nach dem Überfall, sucht Claudia ihre Tochter; es wird von ihrem »wilden Geschrei« in der Öffentlichkeit berichtet und wir erleben, wie sie wie »eine Löwin« nach Emilia brüllt und sich auch von den Repräsentanten des Hofes nicht einschüchtern lässt: »Ha, Mörder! feiger elender Mörder! […] Abschaum aller Mörder!«, schreit sie Marinelli an (III,8). Vom Zusammentreffen mit ihrer Tochter erfahren wir allerdings nur durch den Prinzen: »Die Tochter stürzte der Mutter ohnmächtig in die Arme. Darüber vergaß die Mutter ihre Wut, nicht über mir. Ihre Tochter schonte sie, nicht mich […]« (IV,1). Auch hier also verwendet Lessing das Bild des schützenden mütterlichen Körpers, der das ohnmächtige Kind birgt, ein Bild, das an das Motiv der christlichen Pietà erinnert. Dieses Motiv versinnlicht nicht nur mütterliche Trauer, sondern ebenso die symbiotische Beziehung von Mutter und Kind, denn es handelt von einem Kind, das erst durch die Ablösung von der Mutter tödlichen Gefahren ausgesetzt wird und das als toter Leib wieder zu ihr zurückkehrt und von ihr geborgen wird. In der christlichen Lehre erhält der mütterliche Körper, der den toten Sohn in den Armen hält, eine symbolische Funktion und weist über den natürlichen Körper der Frau hinaus. Vorweggenommen wird der Bildtypus der Pietà in Bildern der Madonna mit dem schlafenden Jesuskind, Bilder, die die Harmonie der MutterKind-Symbiose betonen und zugleich auf den Tod Jesu verweisen; in ähnlicher Weise, wie das Bild der ohnmächtigen Emilia auf ihren nahen Tod verweist. Im Falle der Emilia wird das Bild der Mutter, die den Leib ihres Kindes birgt, allerdings nicht körperlich sondern nur sprachlich dargestellt. Mutter und Tochter sind »innerhalb«, dort, wo Emilia während der letzten Szenen mit dem Prinzen alleine war, im Inneren des Schlosses, in den Räumen, die der Intimsphäre vorbehalten sind, in die selbst Marinelli seinem Herrn nicht folgt, und die zugleich das Außerhalb der sichtbaren Szene meinen. Das Bild der ohnmächtigen Tochter im Arm ihrer Mutter rührt den Prinzen, der es als Inbegriff mütterlicher Liebe und Fürsorge begreift, nicht aber Marinelli, der über die mütterliche Wut lacht und ihr Verstummen auf die Ehrfurcht dem Prinzen gegenüber zurückführt. Das Motiv der Mutterliebe bzw. der Symbiose von Mutter und Kind dient Lessing hier der Kontrastierung des Prinzen mit Marinelli – angesichts des Gefühls der Mutterliebe verurteilt der Prinz den Mord an Appiani und betont seine eigene Unschuld. Es erneuert aber

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auch die Figur der Mutter selbst, denn sie lässt sich nunmehr nicht durch die Welt des Hofes blenden, wie es ihr Odoardo in ihrem zweiten Dialog vorwirft, sondern ist ›ganz Mutter‹: einzig und allein auf ihre Tochter konzentriert, ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Kontext oder repräsentative Funktionen. Als eine solche ›ausschließliche‹ Mutter ist sie zugleich ›natürliche‹ Mutter, gleich der Löwin: »Was kümmert es die Löwin, der man die Jungen geraubt, in wessen Walde sie brüllet?« (III,8). Es ist dieses Bild der ›guten‹, ausschließlich auf ihr Kind fixierten Mutter, das in der bildenden Kunst der Zeit eine so beliebte Stellung einnimmt, das im Trauerspiel aber kaum vorkommt. Und auch hier wird es nur in einem Satz des Prinzen erwähnt, nicht aber szenisch realisiert. Angesichts der Betonung der emotionalen und körperlichen Bindung von Mutter und Tochter am Ende des dritten und Beginn des vierten Aufzugs durch Claudias »wildes Geschrei« (Marinelli) und durch das Bild der ohnmächtigen Tochter in den mütterlichen Armen erstaunt der umstandslose und endgültige Abgang der Mutter am Ende des vierten Aufzugs umso mehr. Innerhalb weniger Dialogrepliken wird er abgehandelt: »Odoardo: Hätten Sie wohl die Gewogenheit, meine Frau mit sich zu nehmen? Orsina: Warum nicht? Sehr gern. Odoardo: Claudia – (ihr die Gräfin bekannt machend) die Gräfin Orsina, eine Dame von großem Verstande, meine Freundin, meine Wohltäterin. – Du mußt mit ihr herein, um uns sogleich den Wagen herauszuschicken. Emilia darf nicht wieder nach Guastalla. Sie soll mit mir. Claudia: Aber – wenn nur – Ich trenne mich ungern von dem Kinde. Odoardo: Bleibt der Vater nicht in der Nähe? Man wird ihn endlich doch vorlassen. Keine Einwendung! – Kommen Sie, gnädige Frau. (Leise zu ihr.) Sie werden von mir hören. – Komm, Claudia. (Er führt sie ab.)« (IV,8)

Odoardo nutzt hier seine patriarchalische Verfügungsgewalt, um Claudia nach Hause zu schicken. Die Welt der Öffentlichkeit ist dem Vater vorbehalten, seine Aufgabe ist es, die Familie in ihr zu vertreten, der Schutz der Mutter hat versagt, mehr als ihren Leib, mit dem sie die Tochter aufnehmen kann, hat sie nicht zu bieten. Bedenkt man Claudias Verhalten Marinelli und dem Prinzen gegenüber nur wenige Szenen vorher, ist es erstaunlich, wie schnell Claudia nun dem Willen ihres Mannes nachgibt; kaum mehr als ein kleines »Aber« hat sie ihm entgegenzusetzen. Angesichts dieser Eile, die sowohl Odoardo als auch Lessing hier haben, um die Mutter von der Bühne zu bekommen, erscheint es einleuchtend, den Grund in dem Besitzanspruch des Vaters seiner Tochter gegenüber zu sehen, wie Renate Möhrmann es

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tut. Ausgeschlossen wird mit ihr aber auch eine Mutterfigur, die sich entgegen dem Mutterideal der Zeit aktiv der patriarchalischen Ordnung widersetzt. Während Saras Mutter vor Beginn der Handlung verstorben ist und dem Vater sowohl die väterliche wie die mütterliche Rolle zugeschrieben wird, und Schiller in Kabale und Liebe die Mutter bereits im dritten Akt »einfach vergessen« zu haben scheint,66 wird sie in Emilia Galotti differenzierter ausgearbeitet, um dann aber doch ausgeschlossen zu werden – sowohl aus der familiären Gemeinschaft als auch aus dem Bühnenraum. Das bürgerliche Trauerspiel generiert auf diese Weise einen männlich dominierten Raum, aus dem nicht nur das weibliche Begehren in Form der ermordeten Tochter ausgeschlossen wird, sondern auch der mütterliche Körper und die sprachbegabte Mutter, die männlich-väterlichen Autoritäten sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Familie entgegentritt. Das Ideal des geschlossenen Raumes Der Ort der Protagonisten ist die bürgerliche Familie und ihr Privatraum, das Innere des Hauses, das mit natürlichen, wahrhaftigen, zärtlichen Gefühlen assoziiert wird, während die Außenwelt mit ›gefährlichen‹ Affekten wie Verführung, Lust, Sexualität, Eifersucht und Mord assoziiert wird. Dem bürgerlichen Privatraum wird die höfische, städtische und gesellschaftliche Öffentlichkeit entgegengesetzt und mit Unsittlichkeit, Amoral und Unehrlichkeit verbunden. Auch das Land wird, ähnlich wie der Privatraum, als Gegenraum zur politisch-öffentlichen Sphäre aufgebaut. So räsoniert beispielsweise Odoardo Galotti über das Landleben, hier sei ein natürliches Leben möglich, das dem eigentlichen Selbst entspräche, dem wahren Inneren des bürgerlichen Individuums, dem Ideal der Unschuld, Ehrlichkeit und Tugend: »Kaum kann ich’s erwarten, diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu nennen. Alles entzückt mich an ihm. Und vor allem der Entschluß, in seinen väterlichen Tälern sich selbst zu leben«, sagt er von seinem zukünftigen Schwiegersohn, und weiter: »Nun laß sie ziehen, wohin Unschuld und Ruhe sie rufen« (II,4). Lessing idealisiert mit diesen Worten Odoardos nicht nur das Landleben oder den Naturraum, sondern formuliert auch ein Ideal von Familie; Natürlichkeit, Unschuld und Ruhe sind, im Gegensatz zu dem mit Lärm und Künstlichkeit assoziierten Hofleben, Leitkategorien dieses Familienideals. Im Raum der Familie, des Privaten und der Natur kann das bürgerliche Individuum ›sich selbst leben‹, während das Leben in der höfischen Öffentlichkeit »sich bücken, schmeicheln und kriechen« (II,4), also Verstellung und Unehrlichkeit bedeutet. Die künstliche Repräsentation wird so dem natürlichen Selbst-Ausdruck entgegengesetzt, so wie in den schauspieltheoretischen Schriften der Zeit den baro-

65 R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 84. 66 Ebd., S. 82.

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cken Schauspielkonventionen der natürliche Ausdruck gegenüber gestellt wird.67 Die Idealisierung des Natur-Topos findet auch hinsichtlich der Titelfigur statt, beispielsweise in der Beschreibung Emilias: ein Kleid »fliegend und frei«, das Haar »in seinem eigenen braunen Glanze; in Locken, wie sie die Natur schlug« (II,7). Gerade die unschuldige Tochter wird auf diese Weise mit Natur assoziiert, Unschuld und Natur miteinander gleichgesetzt. Diese ideologische Entgegensetzung von Stadt- und Landleben formuliert kurz vorher Rousseau in Émile, der ›natürliche Mensch‹ könne sich nur auf dem Land, in der Natur, nicht in der »verdorbenen Stadtluft« entfalten.68 Der Inbegriff dieser Vorstellung vom natürlichen Menschen ist bei Rousseau allerdings, wie erläutert wurde, die Mutter, die voller Hingabe ihr Kind stillt. Diese Mutter kommt im bürgerlichen Trauerspiel nicht vor, sondern nur diejenige, die wider die natürliche Mutterpflicht ihre Wohnung verlässt, um sich, so Rousseau, »fröhlich den Vergnügungen des Stadtlebens hinzugeben«.69 Genau dies wirft Odoardo seiner Frau vor: »Odoardo: […] Du möchtest meinen alten Argwohn erneuern: – daß es mehr das Geräusch und die Zerstreuung der Welt, mehr die Nähe des Hofes war als die Notwendigkeit, unserer Tochter eine anständige Erziehung zu geben, was dich bewog, hier in der Stadt mit ihr zu bleiben – fern von einem Manne und Vater, der euch so herzlich liebet.« (II,4)

Lessing folgt mithin Rousseau: Als Ideal wird die natürliche Kernfamilie proklamiert, die fernab von der städtischen und höfischen Öffentlichkeit als um das Kind zentrierte Einheit lebt. Die Mutter Claudia garantiert diese Einheit der Familie nur bedingt, denn sie ist mit der Tochter in die Stadt gezogen; sie tritt also, um mit Rousseau zu sprechen, »aus ihrer stillen Zurückgezogenheit und Häuslichkeit« heraus.70 Lessing stellt die Mutter als eine aktive Entscheidungsträgerin der Familie dar, zugleich wird sie auf diese Weise für den Verlust der Tochter an die Verführungen der höfischen Sphäre verantwortlich gemacht. Claudia wird sowohl durch ihre strategische Unehrlichkeit also auch durch ihre Hinwendung zur städtischen Gesellschaft mit Künstlichkeit und Unnatur assoziiert. Die Widernatürlichkeit des Schritts in die Öffentlichkeit wird auf der Handlungsebene betont, indem dieser Schritt in letzter Konsequenz die Ermordung Emilias durch den eigenen Vater nach sich zieht. Emilia wird durch ihre Mutter und im weiteren Verlauf durch den Prinzen aus dem Schutzraum der Familie geholt und so dem Begehren ausgesetzt; Sara ist dem Schutzraum der Familie entflohen, weil sie dieses Begehren – ihre Liebe zu 67 Vgl. E. Fischer-Lichte: »Entwicklung einer neuen Schauspielkunst«, S. 54-58. 68 J.J. Rousseau: Émile, S. 62. 69 Ebd., S. 28. 70 Ebd., S. 709.

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Mellefont – dort nicht leben konnte. Ort der Handlung ist in ihrem Falle ein Gasthaus; in diesem halböffentlichen Raum ist sie den Gefahren der Außenwelt, verkörpert in der Figur der Marwood, ausgesetzt. In beiden Stücken ist ein öffentlicher Raum bzw. die Offenheit des Raumes ursächlich für die Zerstörung der Familie. In ähnlicher Weise, wie zur gleichen Zeit in schauspieltheoretischen Schriften die Geschlossenheit des Bühnenraumes gefordert wird, um auf der Bühne eine Illusion der Wirklichkeit zu erzeugen, wird in den Stücktexten die Geschlossenheit des Privatraums als Schutzraum für die bürgerliche Familie proklamiert. In beiden Fällen gilt dieser geschlossene Raum als Hort einer Natürlichkeit, die der Konventionalität des höfischen Lebens bzw. der barocken Schauspielkunst gegenübergestellt wird. Der Ausschluss des Weiblichen Emilia steht für die unschuldige Tochter, die die bürgerlichen Tugendvorstellungen verinnerlicht hat und sich der Autorität ihres Vaters unterwirft. Zugleich wird sie als Projektionsfläche und Objekt männlichen Begehrens dargestellt. Lessing öffnet aber auch Raum für Emilias eigenes Begehren. Bezogen auf den Topos der Verführbarkeit der Frau in der städtischen Öffentlichkeit, der in vielen Schriften der Zeit vorkommt, ist die Ambivalenz, die im künstlerischen Text Lessings erzeugt wird, auffallend. Denn Lessing lässt in Emilias Schilderung der Geschehnisse in der Kirche nicht so sehr Angst und Abscheu, als Faszination und Lust spürbar werden. Es handelt sich um Emilias ersten Auftritt, die imaginäre Gestalt, die wir bislang nur durch die Perspektive anderer, vor allem Männer, auf sie kennen gelernt haben, betritt nun leibhaftig die Bühne, und die Körperlichkeit ihres Auftretens wird von Lessing betont: »Stürzet in einer ängstlichen Verwirrung herein«, heißt es im Nebentext, und ihre ersten Worte wiederholt sie: »Wohl mir! Wohl mir!« Sie ist emotional aufgewühlt und ihr Text betont diese affektive Dimension. Die Wiederholungen, Ellipsen und Gedankenstriche scheinen den Körper in Form von Atemlosigkeit in das Sprechen einzuschreiben: »Oder ist er mir gar gefolgt? Ist er, meine Mutter? ist er? – Nein, dem Himmel sei Dank!« Steigerung und Entspannung in diesen Zeilen vollziehen körperliche Vorgänge nach, die nicht nur von Angst, sondern auch von Lust zeugen. In Emilias folgender Beschreibung der Vorkommnisse während des Gottesdienstes wird die Sinnlichkeit, die doch eigentlich verworfen werden soll, noch deutlicher evoziert. Lessing verleiht der Erzählung durch Wortwahl und -klang, durch Wiederholungen, Auslassungen und Pausen eine Sinnlichkeit, die die sinnliche Empfindung Emilias beim Hören der Stimme des Prinzen erfahrbar macht. Die Lust, die seine Stimme in ihr hervorruft, vermittelt sich auch dem Zuhörer. Die Beschreibung der körperlichen Nähe und die Evokation des Körperinneren, in das etwas eindringt (»so hört ich, ganz nah an meinem Ohre – nach einem tiefen Seufzer […]«), sowie die Gedankenstriche, die ebenfalls ein Körperliches in den Text ein-

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schreiben (eine Unterbrechung, den Atem Emilias), konkretisieren die Lust. Lessing bezieht keinen eindeutigen Standpunkt, sondern gibt dem zu verwerfenden weiblichen Begehren durch die Verbindung von Sinn und Sinnlichkeit, Wortsprache und Körper, szenisch und klanglich Raum. Die von Emilia erwartete Rolle der tugendhaften, keuschen Tochter erhält sie im Verlauf des Dramas immer weniger aufrecht, Lessing übt auf diese Weise im gleichem Zug, indem er die bürgerliche Familie als Ideal überhöht, auch Kritik an ihren rigiden Normen. Die Konfliktträchtigkeit dieser Familie, die ein Freiraum jenseits gesellschaftlicher Zwänge sein und die natürliche Entfaltung des Individuums ermöglichen soll, in der dieses aber zugleich durch die Erziehung genau reglementiert und einer ständigen Kontrolle und Affektbeherrschung unterworfen wird, kommt hier zum Ausdruck.71 Wenn bereits in Emilias Erzählung von den Geschehnissen in der Kirche weibliches Begehren hörbar wird, so spricht sie im fünften Aufzug unverhohlen von diesem Begehren: »Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut. Ich kenne das Haus der Grimaldi. Es ist das Haus der Freude. Eine Stunde da, unter den Augen meiner Mutter – und es erhob sich so mancher Tumult in meiner Seele, den die strengsten Übungen der Religion kaum in Wochen besänftigen konnten!« (V,7)

Hier deutet sich eine Emanzipation Emilias von der väterlichen Verfügungsgewalt und dem bürgerlichen Wertekanon an. Der Mord an Emilia kann als Reaktion Odoardos auf diese Emanzipation der Tochter gedeutet werden, die für sich die Position des begehrenden Subjekts beansprucht. Durch ihre Tötung bewahrt der Vater sie als Objekt seiner Liebe und Verfügungsgewalt. Günther Heeg stellt heraus, dass letztlich die Verführbarkeit der Emilia das Problem darstellt, das auch viele Zeitgenossen verwirrt habe. Sie erschien nicht als ausreichendes Motiv für die Ungeheuerlichkeit der Ermordung der Tochter durch den Vater. Ihm zufolge greift das Problem der Verführbarkeit Emiliens weiter: »Verführbarkeit ist, jenseits der moralischen Implikate, eine Frage der Identität und konsistenten (Selbst)darstellung«; die Verführbarkeit Emilias stehe für eine Krise der Repräsentation.72 Die Rolle der Emilia lasse sich nicht eindeutig festlegen auf das »Signifikat der Hure […oder...] der unschuldig Liebenden« und berge so »den Schrecken der Ichauflösung«.73 Die Tötung Emilias sei die Tötung des weiblichen Signifikanten, um Eindeutigkeit zu stiften und Identität zu setzen. Das Weibliche stehe dabei nicht für eine anatomische Geschlechtsidentität, sondern für (unter71 Vgl. E. Vogg: »Die bürgerliche Familie«, S. 57-58. 72 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 273. 73 Ebd., S. 273.

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drückte) Affekte; das Opfer des Weiblichen versuche, den Sinn mit dem Körper zu versöhnen und die moralische Ordnung zu rechtfertigen. Dies gelingt Heeg zufolge in Emilia Galotti nicht, »das Opfer des Weiblichen im Prozess der Darstellung kann den Sinn nicht mit dem Körper versöhnen«, die Ermordung der Tochter enthülle den Affekt und gebe »die verklärende Umdeutung der Lächerlichkeit preis«.74 Nimmt man mit Heeg an, dass sich in der Verführbarkeit Emilias eine Krise der Repräsentation artikuliert, so könnte man folgern, dass auch der Ausschluss der Mutterfiguren im Trauerspiel durch ihre Ambivalenz nötig wird. Repräsentieren sie einerseits in der christlich-abendländischen Kultur unschuldige Weiblichkeit, so werden sie im Trauerspiel andererseits als Frauen imaginiert, die aktiv begehren und zudem sprachlich und handelnd in die Vater-Tochter-Beziehung intervenieren. So auch Claudia Galotti, die liebende, sprachlos schützende Mutter ist und sich zugleich ihrem Mann widersetzt, selbstständig Entscheidungen trifft, aktiv in die Öffentlichkeit tritt und dabei auch ihrer eigenen Lust nachgeht. Auch sie ist mithin nicht eindeutig festzulegen auf das Signifikat der Hure oder der Madonna und muss aus diesem Grunde ausgeschlossen werden, um Eindeutigkeit zu stiften. Die Tötung der Emilia ist sowohl im Theater – zuerst in einer Inszenierung Thomas Langhoffs 1984 an den Münchner Kammerspielen – als auch in der Forschung als Ausagieren der inzestuösen Phantasie bzw. als unbewusster inzestuöser Akt des Vaters gedeutet worden.75 Auch Friedrich Kittler betont das inzestuöse Verhältnis von Vater und Tochter, das sich in der Opferung der Tochter manifestiere; in den inzestuösen Bindungen sieht er ein Kennzeichen der Kernfamilie.76 Die väterlichen Besitzansprüche, die sich gewalttätig äußern, sind kein Unfall, sondern grundlegend für die patriarchale Familie. Der Tod der Tochter bewahrt sie als Verfügungsobjekt des Vaters und schließt zugleich weibliche Sexualität, Begehren und Lust, das der patriarchalischen Ordnung Andere, aus. Die bürgerlich-männliche Identität definiert sich nicht nur über die Unschuld der Tochter als moralischem Wert,77 sondern über den Ausschluss weiblicher Lust.78 Aus diesem Grund muss nicht nur die Tochter, sondern auch die Mutter ausgeschlossen werden, da sie im Diskurs des Trauerspiels für sexualisierte Weiblichkeit steht. Allerdings geschieht der Ausschluss der Mutter in Emilia eher beiläufig, während die Ermordung der Tochter ausgestellt wird. Sie muss sterben, um die Einheit der bürgerlichen Familie und die ihr zugrunde liegenden Werte und Normen zu sichern. Dieser Opfermechanismus wird zwar durch das 74 Ebd., S. 299. 75 Zuerst von Frederick Wyatt 1971: »Das Psychologische in der Literatur«, S. 24-27. 76 F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 53-55. 77 Diese Deutung herrscht in der Literaturwissenschaft vor; vgl. U. Horstenkamp-Strake: Autorität und Familie, S. 64-65; U. Hassel: Familie als Drama, S. 60. 78 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 299.

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Einverständnis Emilias verschleiert, letztlich aber nicht geleugnet, denn die Tötung der eigenen Tochter auf offener Szene lässt sie als Akt der Gewalt kenntlich werden und übersteigt so die Logik des Opfers.79 Der Ausschluss der Mutter hingegen wird, wie beschrieben, gerade nicht ausgestellt, sondern in einem Nebensatz abgehandelt. Sie wird dadurch sowohl auf der Ebene des Dargestellten, als reale Mutter in der Familie, als auch auf der Ebene der Darstellung, als theatrale Figur, zur Bedeutungslosigkeit degradiert. Im Trauerspiel beruht die bürgerliche Familie mithin auf dem Ausschluss weiblicher Lust, der durch die Opferung der Tochter und den Ausschluss der Mutter realisiert wird. Die familiäre Gemeinschaft, die durch das Opfer gestiftet wird, ist eine mutterlose. So wird am Ende der Sara Sampson eine neue Vater-Tochter-Einheit gestiftet, aus der weibliche Sexualität in Form beider Mutter- sowie einer sich emanzipierenden Tochterfigur ausgeschlossen ist. Am Ende der Emilia Galotti steht allerdings keine intakte Gemeinschaft, sondern der Vater alleine mit der toten Tochter. Lessing stellt auf diese Weise die bürgerliche Familie nicht nur als vaterzentrierte dar, sondern setzt sie mit der Vaterfigur in eins. Hierin liegt aber auch ein kritisches Potential des Textes, denn die ausgestellte Opferung der Tochter und die Isolation des Vaters am Ende können auch als Kritik an dem vaterzentrierten Konzept von Familie gelesen werden. Die Tötung Emilias erscheint wie der Höhepunkt und die letzte Konsequenz der Intimisierung der Vater-Tochter-Beziehung; das Konzept der familiären Intimität wird als gewalttätiges erkennbar. Durch die Ermordung der Tochter emanzipiert sich Odoardo, so Günther Heeg, als bürgerlich-männliches Individuum; die Abspaltung des Weiblichen, seine Unterwerfung unter das Gesetz des Vaters, mache es möglich, die Illusion eines einheitlichen, autonomen Individuums zu erzeugen.80 Über der Leiche der toten Tochter vermag er, dem Prinzen entgegen zu treten. Elisabeth Bronfen zufolge sind die vielen weiblichen Leichen der Kunstgeschichte »Symptome unserer patriarchalischen Kultur«: »Und weil dieser Kultur der weibliche Körper als Inbegriff des Andersseins, als Synonym für Störung und Spaltung gilt, benutzt sie die Kunst, um den Tod der schönen Frau zu träumen. Sie kann damit, (nur) über ihre Leiche, das Wissen um den Tod verdrängen und zugleich artikulieren, sie kann ›Ordnung schaffen‹ und sich dennoch ganz der Faszination des Beunruhigenden hingeben.«81

79 Der Opfermechanismus, der die Gemeinschaft als einmütige konstituiert, kann René Girard zufolge nur funktionieren, wenn die Opferung nicht als das, was sie ist, nämlich ein Mord, erkannt wird. Vgl. R. Girard: Das Heilige und die Gewalt. 80 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 84-95, 359. 81 E. Bronfen: Nur über ihre Leiche, S. 10 [Herv. i.O.].

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Als Leiche ist die Gefahr der weiblichen Lust gebannt, die männliche Angst vor weiblicher Sexualität und eigener Sterblichkeit ausgeschlossen, und die Unschuld der Tochter auf ewig konserviert. »Wie reizend und schön auch im Leichnam!«, ruft Ferdinand angesichts der Leiche seiner Geliebten aus.82 Konserviert wird in der weiblichen Leiche auf der Theaterbühne auch die Unschuld bzw. Natürlichkeit der Schauspielerin: »Vor ihr kann der Zuschauer sicher sein, dass die Schauspielerin nicht spielt. Erst als Leiche ist sie wirklich unschuldig.«83 Anders aber als beispielsweise in Rousseaus Julie, ou la Nouvelle Héloise (1761), wo über der sterbenden Julie die Familien-Einheit wiederhergestellt und dauerhaft gesichert wird, ist die Familie in Emilia dauerhaft zerstört. Insofern wird auch die Konstitution des Vaters als Individuum durch den Text in Zweifel gezogen: zwar tritt er zum ersten Mal dem Prinzen selbstbewusst gegenüber, zugleich verkörpert er aber gerade die Rolle nicht mehr bruchlos, mit der er als bürgerliches Individuum identifiziert wird: diejenige des Familienvaters. Indem die Gewalt der väterlichen Macht sichtbar wird und selbst das Opfer der Tochter die Familie nicht wieder herstellt, wird nicht nur der bürgerliche Tugendbegriff,84 sondern auch das Konzept der bürgerlichen Familie hinterfragt. Auch wenn Lessing versucht, die Gewalt des Mordes durch das Einverständnis Emilias zu legitimieren, kann Familie als eine gewalttätige Bindung, die das ihr Andere ausschließt, kenntlich werden.

2.5 D IE D ARSTELLUNG

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In der Hamburgischen Dramaturgie beschreibt Lessing anlässlich einer Aufführung von Voltaires Mérope das »schöne Ideal einer Mutter«: »Merope, die sich in der Ungewißheit, in welcher sie von dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer überläßt, die immer das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie unglücklich ihr abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid über alle Unglückliche erstrecket: ist das schöne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zärtlichkeit erfährt, von ihrem Schmerze betäubt dahinsinkt, und plötzlich, sobald sie den Mörder in ihrer Gewalt höret, wieder aufspringt und tobet und wütet und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet und wirklich vollziehen würde, wenn er sich eben unter ihren Händen befände: ist eben dieses Ideal […]. Aber

82 F. Schiller: Kabale und Liebe, S. 119 (5. Akt, 7. Auftritt). 83 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 83. 84 Die Tötung Emilias wird meist als Kritik an dem rigorosen bürgerlichen Tugendbegriff gesehen; vgl. F. Schößler: Einführung, S. 49.

186 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: I NSZENIERUNGEN IN THEATER UND P ERFORMANCE Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet und selbst die Henkerin sein, nicht töten, sondern martern, nicht strafen, sondern ihre Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken; eine Mutter, wie es jede Bärin ist.«85

Die ideale Mutter ist eine Frau, deren ganzes Leben und Fühlen von der Liebe zu ihrem Sohn und der Besorgtheit um sein Schicksal bestimmt wird. Zentral für dieses Idealbild ist mithin ihre Konzentration auf das Kind, also die Reduktion der Frau auf die Mutter, sowie ihre Fähigkeit des Mitleidens, die sie auf ›alle Unglücklichen‹ ausweitet. Die Fähigkeit unbegrenzten Mitleidens erinnert an die mütterlichen Funktionen der christlichen Maria, zumal in ihrer Rolle als Schutzmantelmadonna, in der sie nicht nur den eigenen Sohn, sondern alle Kinder Gottes aufnimmt. Die Ausweitung des Gefühls auf ›alle Unglücklichen‹ verweist insofern nicht nur auf das christliche Vorbild der reinen Mutter, sondern auch auf eine symbolische Dimension von Mutterschaft, die über Mütterlichkeit als eine an den anatomischen Körper der Frau gekoppelte Eigenschaft hinausgeht. Lessing greift diese Spur allerdings nicht weiter auf, sondern konzentriert sich ganz auf die leibliche Mutter des einen Sohnes, die ›von ihrem Schmerze betäubt dahinsinkt‹, also zunächst in vollendeter Passivität verharrt. Ihr Verhalten dem Mörder ihres Kindes gegenüber wird für Lessing zur Messlatte ihrer Mütterlichkeit. Die Abgrenzung des Ideals von nicht idealen Verhaltensweisen geschieht über das Verhältnis von Affekt und Vernunft: Die Mutter, die ›plötzlich tobet und wütet ist eben dieses Ideal‹. Jene Mutter aber, ›die sich zu dieser Rache Zeit nimmt, Anstalten dazu vorkehret, nicht töten, sondern martern, nicht strafen, sondern ihre Augen an der Strafe weiden will‹, diese Mutter entspricht nicht dem Ideal. In der Lust an der Strafe scheint das Übel einerseits zu liegen, in der rationalen Vorbereitung andererseits. Lust und Vernunft – diese beiden Qualitäten schließt Lessing für das Idealbild der Mutter aus. »Ist das noch eine Mutter?«, fragt er, und antwortet: »Freilich wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken; eine Mutter, wie es jede Bärin ist.« Das Zusammenspiel von planender Vernunft und lustvollem Genießen machen aus der mitleidenden Mutter nach christlichem Vorbild das wilde Tier, die Kannibalin, oder gar »eine blutdurstige Bestie.«86 Lessing sieht in Merope das Andere des Mutterideals, eine bedrohliche Form von Weiblichkeit, die ausgeschlossen werden muss. Dass Lessing ausgerechnet das Bild der Kannibalin wählt, zeigt, als wie bedrohlich er diese Form der zugleich rationalen und lustvollen Weiblichkeit wahrnimmt.87 Denn die Kannibalin steht für ein Unheimliches, das uns zugleich sehr nah 85 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 47. Stück, S. 242. 86 Ebd., S. 243. 87 Lessing spart in der Hamburgischen Dramaturgie nicht an Kritik seinen Zeitgenossen gegenüber; und doch fällt im 47. Stück auf, mit welcher Vehemenz er gegen das Mutter-

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– ein Mensch, eben kein wildes Tier – und doch radikal anders ist. Die Mutter als Kannibalin ist ein zugespitztes Bild solcher Andersheit, denn der mütterliche Kannibalismus bedeutet die Rücknahme der Geburt, die gewalttätige Wiedereinverleibung des kindlichen Körpers durch den mütterlichen, mithin die andere Seite oder auch letzte Konsequenz der Phantasie des vorsprachlichen Paradieses.88 Die Aufspaltung in eine ›gute‹ und eine ›böse‹ Mutter, die Lessing hier vornimmt, entspricht der abendländischen Aufspaltung der Mutter in die Verführerin Eva und die heilende Maria. Die Verknüpfung der Weiblichkeit mit Natur führt Bronfen zufolge dazu, dass die Mutter nicht nur für das lebensstiftende Gebären, sondern auch für die »Gefahren der sexuellen Lust« und die »unwiderrufbare Sterblichkeit«, die mit der Geburt einhergeht, steht.89 Diese Aufspaltung findet sich in ähnlicher Weise in seinen dramatischen Texten, zumal in Miß Sara Sampson, in der er die reine Sara der allein erziehenden Mutter Marwood gegenüber stellt. Auch hier geht die Bedrohung von einer zugleich rationalen, zielstrebigen und grausam affektgeladenen Mutterfigur aus, die ihre Rache nicht nur vollstrecken, sondern auch genießen möchte; man denke an Formulierungen wie ›Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen‹. Ähnlich wie im Fall der Kannibalin wird hier die vollständige Vernichtung des Kindes imaginiert, die Rücknahme der Geburt, wenn auch nicht durch Wiedereinverleibung, sondern durch Zerstückelung, aber das Phantasma des bedrohlichen Mutterleibes bleibt. Zugleich geht es um eine Rücknahme der Generativität: ausgemerzt werden soll der Vater im Kinde, die generative Abstammung des Kindes und die Nachkommenschaft des Vaters. Die Betonung der Lust an der Rache – die Beschreibung der Details, der Schaulust, der Empfindung der ›süßen‹ Rache – verdeutlicht das Motiv der bedrohlichen weiblichen Sexualität: die böse Mutter ist diejenige, die sexuell aktiv ist, deren Sexualität aber nicht durch die Ehe legitimiert ist, und die folglich ›unnatürliche‹, jeder Norm zuwiderlaufende Formen annimmt, wie die sadistische Lust an der Phantasie der Tötung der eigenen Tochter. Dies entspricht der zunehmenden Bindung der Sexualität an die Generativität in der bürgerlichen Gesellschaft ab dem 18. Jahrhundert. Weibliche Sexualität wird als unkontrollierbar gedacht und muss folglich kontrolliert werden, die Frau wird zur »Metapher für das Sexuelle schlechthin«.90 Diejenige Mutter, die im Rahmen von Ehe und

bild Voltaires anschreibt. So droht er beispielsweise demjenigen Zuschauer, dem die Handlung der Mérope gefalle, dass er ihn »ebensosehr verachten, als verabscheuen« wolle; ebd., S. 242. 88 Kannibalismus ist im Horrorfilm eine Ausprägung der Phantasie der präödipalen Mutter; vgl. B. Creed: The Monstrous-Feminine, S. 27. 89 E. Bronfen: Die schöne Seele, S. 376-377. 90 R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 79.

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Familie Kinder gebiert, wird legitimiert, während jede andere Form weiblicher Sexualität dämonisiert und ausgeschlossen wird. E. Ann Kaplan zufolge hat die patriarchale Gesellschaft ein Problem mit Mutterfiguren, weil Mütter nicht in das Bild der kastrierten Frau passen. Gerade im Film zeige sich dieses Problem: Mütterliche Sexualität werde tabuisiert; mit einer Mutter betrete eine Frau die Filmszene, die nicht den gängigen filmischen Konventionen der Sexualisierung des weiblichen Körpers gehorchen dürfe. Hierin sieht sie den Grund für eine Verdrängung der Mutter aus vielen kulturellen Diskursen bzw. für die Phantasie der »phallischen« Mutter als Gegenbild der idealen, unschuldigen Mutter.91 Lessing inszeniert die Marwood als eine solch phallische Mutter und vollzieht an ihr die Dämonisierung und Abspaltung mütterlichen Begehrens. Interessanter Weise hat Lessing aber auch eine der dualistischen Polarisierung von Weiblichkeit widersprechende Frauenfigur entworfen, diejenige der Gräfin Orsina in Emilia Galotti. Sie steht als Mätresse des Prinzen zunächst eindeutig für eine im bürgerlichen Sinne illegitime Form weiblicher Sexualität und Lessing setzt sie als Gegenpol zu der unschuldigen Emilia, reproduziert also in den beiden Figuren den gängigen Dualismus der Heiligen und der Hure. Wie die Marwood steht Orsina in der Tradition der Intrigantin der Barocktragödie und so auch für die Lust an der Überschreitung moralischer Verbote.92 Sie wird aber nicht dämonisiert, sondern im vierten Akt als selbstbewusste, von Odoardo bewunderte Frau gezeichnet, die die Tugendlosigkeit des Prinzen durchschaut und ihre Rachegefühle verbalisiert, sie aber nicht ausagiert. Auch sie bezieht sich auf Figuren der antiken Mythologie, auf die Bacchantinnen, die für ungehemmte, das männliche Individuum bedrohende Sexualität stehen. Ähnlich wie die Figur der Kannibalin droht die Bacchantin, den Mann zu zerfleischen: »Wann wir einmal alle – wir, das ganze Heer der Verlassenen – wir alle in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten […]« (IV,7). Lessing legitimiert diese Rachephantasien allerdings, indem Orsina sie gegen den Prinzen und das in ihm verkörperte Modell der Sexualität richtet, und nimmt ihnen so die Bedrohlichkeit. Er macht sie sogar zur Komplizin der bürgerlichen Moral und ermöglicht es ihr dadurch, die Lust an der Überschreitung zu artikulieren, ohne bestraft zu werden. Vielleicht stellt Orsina aber auch deshalb für Lessing keine Bedrohung dar, weil sie keine Mutter ist. Sie trachtet danach, im Prinzen das Nicht-Familiäre zu tilgen, nicht aber die eigene Nachkommenschaft und damit das Prinzip der Generativität. Da sie keine Mutter ist, muss scheinbar auch ihre illegitime Sexualität nicht bestraft werden; ja, sie kann sogar als eine selbstständige, rational denkende Frau dargestellt 91 E. Ann Kaplan: Motherhood and Representation, S. 107-123. Zur Verdrängung der Mutter vgl. dies.: Women and Film, S. 172. 92 Vgl. G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 89.

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werden. Das Widernatürliche konzentriert sich bei Lessing auf die Mutter, auf diejenige Mutter, die, sexuell aktiv, unehelich ein Kind gebiert, sowie auf diejenige, die selbsttätig, rational, affektgeladen und genießend zugleich ist. Erstaunlich ist allerdings, dass im Trauerspiel selbst derjenigen Mutter, die durch die bürgerliche Ehe legitimiert ist, misstraut wird. Martha Kaarsberg Wallach machte bereits 1993 darauf aufmerksam, dass im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts eine Aufspaltung des Frauenbildes stattfinde, die Mütter oder allgemein ältere Frauen marginalisiere.93 Während noch in den 1980er Jahren in der Literaturwissenschaft weitgehend Einigkeit darüber herrschte, dass die »untergeordnete, eher vermittelnde Rolle der Mutter in der hierarchischen Struktur der patriarchalischen Familie« des 18. Jahrhunderts ursächlich dafür sei, dass die Mutter im Trauerspiel entweder gar nicht, nur am Rande oder aber als Typus der »törichten Mutter« in Erscheinung tritt,94 wird der Ausschluss der Mutter nunmehr auf den »verschleierten sexuellen Anspruch des Vaters auf die Tochter« zurückgeführt: »Der Vater tötet die Tochter, um sie vor der Wollust einer anderen Vater-Figur zu retten und verkleidet besitzergreifende Zerstörung als väterlichen Schutz […] Eine Mutter hat in dieser Konstellation nichts zu suchen.«95 Auch Renate Möhrmann sieht den Grund für den Ausschluss der Mutter in der »inzestuösen väterlichen Gier«: »Emilias Tötung ist die Wiederherstellung des ödipalen Liebesbundes von Vater und Tochter […] Aus dieser Perspektive betrachtet wird die Verdrängung der Mütter plausibel. Sie wären bloß Störfaktoren in dem neuen familialen Herzenspakt zwischen Vater und Tochter.«96 Im Gegensatz zu anderen Epochen des Theaters betreten im 18. Jahrhundert Mutterfiguren die Bühne, die sich ausschließlich aus ihrer Funktion als leibliche Mutter erklären. Das neue Familienideal und die Konzentration auf den Privatmenschen bedeutet auch die Reduktion der Mutterfiguren auf ihre mütterliche Funktion; Mütterlichkeit ist nicht mehr eine Eigenschaft unter anderen, sondern eine allumfassende Wesenheit der Frau. Zugleich aber erscheint die Mutter im Trauerspiel nicht als Inbegriff natürlicher Liebe und Hingabe, als der sie in anderen Diskursen der Zeit stilisiert wird. Einzige Ausnahme bildet die Beschreibung der Mutter durch den Vater in Diderots Père de Famille: »Kann ein süßeres Leben sein, als das Leben einer Frau, die ihre Tage in Erfüllung der Pflichten einer aufmerksamen Gattin, einer zärtlichen Mutter, einer mitleidigen Gebieterin zubringet?«97 Aber diese Mutter tritt nicht auf, sondern ist bereits vor Beginn der Handlung verstorben. Die 93 M. Kaarsberg Wallach: »Emilia und ihre Schwestern«, S. 53. 94 B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 17. 95 M. Kaarsberg Wallach: »Emilia und ihre Schwestern«, S. 57 und 61. 96 R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 84. 97 D. Diderot: Der Hausvater, in: ders./Lessing: Das Theater des Herrn Diderot, S. 204.

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Trauerspiele zeichnen sich durch den Ausschluss der Mutter aus: »Mutterlosigkeit [gehört] gewissermaßen zum Konstituens der Gattung«.98 Meist ist die Mutter bereits lange tot (außer bei Diderot auch in Lillos Kaufmann von London oder Lessings Miß Sara Sampson), oder sie hat an entscheidenden Entwicklungen keinen Anteil, wie in Lessings Emilia Galotti oder Schillers Kabale und Liebe. Gibt es Mutterfiguren, so werden sie mit Unehrlichkeit und Verstellung assoziiert, wie etwa Claudia Galotti, sind grausam wie die Marwood, oder werden als dumm, faul und kupplerisch dargestellt, wie Frau Millerin in Kabale und Liebe. Letztere wird von der ersten Regieanweisung an mit negativen Attributen versehen: »Zimmer beim Musikus. Miller steht eben vom Sessel auf, und stellt seine Violoncell auf die Seite. An einem Tisch sitzt Frau Millerin noch im Nachtgewand, und trinkt ihren Kaffee«.99 Während der Hausvater bereits gearbeitet hat, ist sie noch nicht einmal angezogen und sitzt untätig herum, ein Genussmittel konsumierend. Die Regieanweisungen der folgenden Szenen beschreiben Frau Millerin als »dumm-vornehm« oder »bäurisch-stolz«, in der Figurenrede wird ebenfalls der Eindruck dummer Naivität und Geldgier erzeugt. Ihr Mann beschimpft und bedroht sie (»Willst du dein Maul halten? Willst das Violoncello am Hirnkasten wissen?«), stößt sie mit dem Ellenbogen und »voll Zorn vor den Hintern«, verbietet ihr immer wieder den Mund (»Halt du dein Maul«) und schickt sie in die Küche (»Marsch du in deine Küche«).100 Später wird er sie als Kupplerin verfluchen: »Fluch über den Verführer, Fluch über das Weib, das ihm kuppelte!«;101 und viele Deutungen folgen Miller in dieser Charakterisierung seiner Frau, ohne genauer nach der Funktion dieses Vorwurfs zu fragen.102 Auffallend ist in Kabale und Liebe zudem, dass die Mutter ohne jede Begründung nach dem zweiten Akt nicht mehr auftritt und auch von den anderen Figuren (außer einmal von der sterbenden Luise) nicht erwähnt wird. Sørensen dazu: Sie »verschwindet aus dem Gesichtskreis des Zuschauers und Lesers und wird offensichtlich von Schiller vergessen oder zumindest ignoriert.«103 Auch Renate Möhrmann spricht davon, Schiller habe die Mutter offensichtlich »einfach vergessen« bzw. wisse mit ihr schon im 3. Akt »nichts mehr anzufangen«.104 Kaarsberg Wallach bemerkt, die Tatsache, dass die Millerin völlig unerklärt verschwinde, sei be-

98

R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 76.

99

F. Schiller: Kabale und Liebe, S. 5.

100 Ebd., S. 8-10. 101 Ebd., S. 46. 102 Z.B.: »Gattungstypisch ist ebenfalls die eitle und beschränkte Frau Millerin, die […] als eine Art Kupplerin auftritt«; B.A. Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit, S. 176. 103 Ebd., S. 176f. 104 R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 82.

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reits zu Schillers Zeiten aufgefallen und bedeute eine besonders radikale Form des Ausschlusses.105 Während die Mutter in anderen Diskursen der Zeit wie etwa der Malerei die Familie zusammenhält, garantiert sie im Trauerspiel gerade nicht die familiäre Einheit, sondern bedroht sie. Die Funktion der dramatischen Mutterfiguren scheint zu sein, den Vater als unhinterfragtes Zentrum des neuen Familienbildes zu installieren und ihn mit zugleich symbolischer und realer Bedeutung aufzuladen. Der Vater übernimmt dabei zwar Eigenschaften, die gängiger Weise der Mutter zugeschrieben werden, wie zärtliche Zuwendung und Sorge um das Kind; dies bedeutet aber nicht, betrachtet man das Trauerspiel als Diskursform, die Loslösung geschlechtlich codierter Charakteristika von der Biologie, sondern die Ausgrenzung aller Formen des Weiblichen außer derjenigen der jugendlichen Unschuld. Die Setzung des Vaters bedarf der Abspaltung weiblicher Lust ebenso wie des Mütterlichen. Am Beispiel der Emilia Galotti konnte aber auch aufgezeigt werden, dass Mutterfiguren im Trauerspiel durchaus auch eine ambivalente und sogar widerständige Funktion haben können. So wird Claudia Galotti von Lessing einerseits als die ›eitle, törichte Mutter‹ inszeniert, als die Odoardo sie tituliert. Sie erfüllt die ihr zugedachte Mutterrolle nicht, indem sie Emilia in die gesellschaftliche Öffentlichkeit einführt, anstatt sie vor ihr zu schützen, lässt sich vom ›Geräusch und der Zerstreuung‹ des Hofes blenden und erkennt die Gefahr nicht, die ihrer Tochter von Seiten des Prinzen droht. Sørensen zufolge hat dieses »Rollenversagen Claudias […] bekanntlich fatale Konsequenzen«,106 und auch Erika Fischer-Lichte schlussfolgert, »die Wachsamkeit des Hausvaters [wird] durch die Pflichtvergessenheit der Hausmutter außer Kraft gesetzt«.107 Auch in neueren Deutungen wird diese Lesart nicht hinterfragt.108 Diese »fragwürdige Muttergestalt« (Sørensen) kann aber auch anders gelesen werden, nämlich als widerständiges Element in der patriarchalischen Logik. Sie setzt sich gegen die rigiden Verhaltensregeln ihres Mannes zur Wehr, trifft eigenständige Entscheidungen und widersetzt sich der allumfassenden Kontrolle des Hausvaters, indem sie ihm nicht alles berichtet und dies auch Emilia rät. Sie stiftet so auch eine weibliche Komplizenschaft gegen den Vater. Und auch die Tatsache, dass sie Emilia in die höfische Öffentlichkeit führt, kann, wie erörtert wurde, als eine widerständige Praxis gedeutet werden, da sie Emilia damit einen Freiraum jenseits der Intimität der Familie und der väterlichen Moralvorstellungen verschafft,

105 M. Kaarsberg Wallach: »Emilia und ihre Schwestern«, S. 66. 106 Ebd., S. 83. 107 E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 271. 108 Auch z.B. S. Kaufmann/G. Saße sprechen von der »Verharmlosung« des Geschehens durch Claudia, das »fatale Folgen« zeitige; dies.: Emilia Galotti, S. 62.

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und ihr die Erfahrung einer Sinnlichkeit, die der Frau in der patriarchalischen Logik versagt bleibt, ermöglicht. Auch den anderen Vertretern patriarchalischer Macht tritt Claudia Galotti furchtlos entgegen. Ihre bereits erwähnte Konfrontation mit Marinelli im 3. Akt wird vorbereitet mit den Worten Battistas: »Ich war gar nicht willens […], mich nach ihr umzusehen: als ich ihr Geschrei von weitem hörte. Sie ist der Tochter auf der Spur, und wo nur nicht – unserm ganzen Anschlage! Alles, was in dieser einsamen Gegend von Menschen ist, hat sich um sie versammelt; und jeder will der sein, der ihr den Weg weiset« (III,6). Claudia wird hier als eine Mutter gezeichnet, die auf der Suche nach der Tochter sowohl das Gebot der Mäßigung überschreitet als auch dasjenige der Zurückhaltung in der Öffentlichkeit, das im 18. Jahrhundert gerade für Frauen gilt. Sie ruft laut um Hilfe und verursacht eine Menschenansammlung, die den Mächtigen gefährlich werden könnte. Und in ihrem folgenden Auftritt geht sie sogar, wie beschrieben, auf Marinelli los. Die Trennung von ihrer Tochter lässt sie sämtliche Regeln des Anstands vergessen. Sie ›tobet und wütet und drohet‹, entspricht mithin dem ›schönen Ideal einer Mutter‹, das Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie beschreibt. Ihre Zügellosigkeit wird begründet mit der Trennung von ihrer Tochter, die Affekthaftigkeit ihrer Reaktion und der von ihr selbst verwendete Vergleich mit einer Löwin betonen die Naturgegebenheit der symbiotischen Beziehung von Mutter und Tochter. Lessing schildert Claudia Galotti in dieser Szene als eine Frau, die vollkommen in ihrem Muttersein aufgeht und alles andere vergisst. So gehorcht sie auch nicht dem Bild, das Marinelli von ›den Müttern‹ zeichnet: »Wenn ich die Mütter recht kenne – so etwas von einer Schwiegermutter eines Prinzen zu sein, schmeichelt die meisten« (III,6). Doch auch der Prinz und seine soziale Rolle sind der Mutter nunmehr egal, hält sie nur ihr Kind wieder in ihren Armen. Lessing gestaltet die Mutterfigur, kurz bevor er sie aus der Handlung ausschließt, als eine vollständig auf ihr Kind und die Wiederherstellung der Einheit von Mutter und Kind fixierte Frau, die Konventionen außer Acht lässt und sich den Autoritäten nicht beugt. Einerseits naturalisiert Lessing in Claudia Galotti mithin den Typus der ›natürlichen Mutter‹, also derjenigen Mutter, die aufgrund ihrer biologischen Mutterschaft aus dem Gesellschaftlichen herausfällt und ausschließlich Mutter ist. Zugleich kreiert er in ihr auch eine Muttergestalt, die sich der ihr in der patriarchalischen Gesellschaft zugewiesenen Rolle aktiv widersetzt. Auch wenn Lessing sie kurze Zeit später endgültig von der Bühne verbannt, deutet sich hier doch eine Mutterfigur an, die nicht so eindeutig auf die Rolle der ›eitlen törichten Mutter‹ festzulegen ist, wie

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dies in der Rezeption bis heute überwiegend geschieht.109 Sie kann auch als eine »Störung der patriarchalischen Ordnung« gedeutet werden, die in ihrem Ungehorsam dem Vater wie Marinelli gegenüber diese Ordnung überschreitet.110 Mit ihrem Ausschluss wird dann nicht nur die Intimität der ödipalen Vater-TochterBegegnung ermöglicht, sondern auch die patriarchalische Ordnung von Grund auf erneuert – ohne den widerständigen Körper der Mutter, ohne die Störung des männlichen durch das weibliche Begehren. Anlässlich der Uraufführung 1772 in Braunschweig wurde die Darstellung der Claudia als ›große Zeichnung mütterlicher Wut und Angst‹ hervorgehoben. Johann Friedrich Schink schreibt in seinen Dramaturgischen Fragmenten (1781) über die Claudia der Mad. Starke: »Immer noch seh ich die trunkne Freude in ihren Augen, das überströmende Entzücken ihres Herzens, wenn sie ihrem Gemal die Lobeserhebungen des Prinzen auf ihre geliebte Emilia erzählt - seh noch immer ihre Besorgnisse, ihre mütterliche Angst bei Emiliens Furcht; ihre bange Andungen […] höre den überzeugenden Ton ihrer Stimme voll Liebe und Sanftheit, mit der sie Emilien beruhiget. – Und dann ihre große Zeichnung der mütterlichen Wut, ihr wildes Hineinstürzen im Saal auf Battista, ihr Ausströmen des Schmerzes in den gedrängten Tönen der Angst […].«111

Liebe, Freude und Entzücken einerseits, Besorgnis, Angst, Wut und Schmerz andererseits kennzeichnen die Mutter, die aber doch ihr Kind mit einer ›Stimme voll Liebe und Sanftheit‹ zu beruhigen weiß. Diese Auflistung von emotionalen Eigenschaften und Affekten ist sicherlich nicht nur den Ideen der Empfindsamkeit geschuldet, sondern lässt auch Rückschlüsse ziehen auf das zeitgenössische Mutterideal. Es ist auch hier die völlige Hingabe an ihr Kind sowie die emotional aufgeladene Beziehung zwischen beiden, die betont wird. Die spontane Äußerung des Affekts – in Schinks Beschreibung gemäßigt nur durch den Begriff der ›Zeichnung‹, der auf die bewusste Kontrolle durch die Schauspielerin verweist – rechtfertigt sich durch die mütterliche Natur und die natürlichen Bande zwischen Mutter und Tochter, die es zu erhalten gilt. Heeg zufolge werden im Trauerspiel anhand der Frauenfiguren Natur und Künstlichkeit einander konfrontiert, auch hinsichtlich eines Schauspielkonzepts, das 109 Auch Möhrmann geht nicht auf die widerständigen Potentiale dieser Frauengestalt ein, sondern sieht in der Emilia nur abermals die »Polarisierung des Weiblichen in Torheit und Tugend« realisiert; R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 81. 110 M. Kaarsberg Wallach: »Emilia und ihre Schwestern«, S. 58. Wallach ist meines Wissens die einzige, die, wenn auch nur thesenhaft, auf diesen Aspekt eingeht. 111 Zit. nach E. Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas, S. 286.

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dem Ideal der Natürlichkeit folgt. Die unschuldige Tochter wird mit dem NichtSpiel und Natur, die sündige Frau bzw. Intrigantin mit dem bewussten Schauspiel verbunden.112 Eine Mutterfigur wie Claudia Galotti will nicht recht in dieses »Drama der Unschuld« (Heeg) passen, denn obwohl sie in einigen Szenen mit der Künstlichkeit des Hofes und der bewussten Verstellung assoziiert wird, stellt Lessing sie in anderen als ein der Natur gehorchendes, liebendes ›Muttertier‹ – eine Löwin, die um ihr Kind kämpft – dar. Claudia Galotti bleibt ambivalent: Sie entspricht einerseits zeitgenössischen Idealen der hingebungsvollen, bewahrenden Mutter, andererseits steht sie für ein Begehren nach einem der patriarchalen Familie Anderen (Sexualität, städtische Öffentlichkeit, Freiräume jenseits väterlicher Kontrolle) und kann sogar als ein Widerstand gegen die patriarchale Machtordnung gelesen werden. In beiden Funktionen wird sie von Lessing ausgeschlossen, bevor Vater und Tochter das erste Mal gemeinsam auf der Bühne sind und der Vater seine Tochter tötet. Die Mutter als alte Frau Renate Möhrmann sieht neben der bereits erwähnten ›inzestuösen väterlichen Gier‹ in der »nachlassenden Attraktivität« der alten Mutter einen weiteren Grund für ihren Ausschluss; diese degradiere sie »zur uninteressanten Person«.113 Auch wenn dieser Aspekt eine Rolle spielen mag, greift er als abschließende Begründung doch zu kurz. Vielmehr scheint es, als sei der Ausschluss der Mutter notwendig für die Konstitution einer familialen Gemeinschaft unter Ausschluss aller Formen von Weiblichkeit, die nicht dem Ideal der Unschuld und Objekthaftigkeit gehorchen. Dabei spielt nicht nur die nachlassende Attraktivität des alternden Körpers eine Rolle, sondern die Tradition, den alternden mütterlichen Körper mit weiblichem Begehren und aktiver Sexualität zu assoziieren, die gleichsam der Traditionslinie der christlich konnotierten ›reinen Mutter‹ polar entgegensteht. Franziska Schößler zufolge steht die Mutter im bürgerlichen Trauerspiel in der Tradition der vetula, der alten Frau als Inbegriff des Ekels bzw. des Tabuisierten überhaupt.114 Das VetulaMotiv ist seit der Antike tradiert und findet sich in künstlerischen und wissenschaftlichen Diskursen zunehmend ab Mitte des 18. Jahrhunderts: »Fast alle Defekte des Ekel-Diskurses von den Schlegels (J.E. und J.A.) über Mendelssohn, Lessing und Herder bis Kant schießen regelmäßig in einem einzigen Phantasma zusammen: dem Bild der hässlichen Alten. Dieses Bild vereint Falten, Runzeln, Warzen, größere Öffnun-

112 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 89. 113 R. Möhrmann: »Die vergessenen Mütter«, S. 90. 114 F. Schößler: Einführung, S. 25.

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gen des Mundes und des Unterleibs, eingefallene Höhlungen statt schöner Schwellungen, üblen Geruch, ekle Praktiken und Nähe zu Tod und verwesendem Leichnam.«115

Die für alles Tabuierte einstehende alte, hässliche, übel riechende Frau wird dabei mit unstillbarer sexueller Lust auf junge Männer assoziiert und fungiert Winfried Menninghaus zufolge in der »beißenden Geißelung physischer und moralischer Übel« als negativer Gegenpol des Mannes, dessen Köper als zivilisiert, hygienisch und in seinen elementaren Verrichtungen streng reglementiert dargestellt wird.116 Es ist dieses verdrängte bzw. verworfene Abjekte, das Julia Kristeva zufolge als mütterlicher Körper bzw. als sein Heterogenes der Grund jeder Subjektivierung ist.117 Die Einschreibung der Mutterfiguren in die Vetula-Tradition würde also den mütterlichen Körper als heterogenen und begehrenden zugleich zur Darstellung bringen. Auch wenn sie im Trauerspiel bei weitem nicht so drastisch geschildert werden, wie die ›hässliche Alte‹ in anderen Texten von Lessing und seinen Zeitgenossen,118 so ist es doch möglich, die Abwertung und den Ausschluss des mütterlichen Körpers auf die Phantasie der »magna mater«, jener Mutterfigur, die mit ihrem Schoß nicht nur Leben gibt, sondern es in einem Akt »unersättlicher Sexualgier« auch zurückzunehmen, den Phallus zu verschlingen droht, zurückzuführen.119 Auch Lessings Phantasie der Kannibalin, der männermordenden bzw. den Vater im Kind zerfetzenden Mutter, die er in Miß Sara Sampson und in der Hamburgischen Dramaturgie artikuliert, imaginiert den mütterlichen Körper als einen ungehemmt begehrenden; als jene »archaic mother«, die sich den kindlichen Körper – oder den des Mannes – wieder einverleibt.120 Indem die Mutterfiguren an den Rand gedrängt bzw. ausgeschlossen werden, wird die mit dem mütterlichen Körper assoziierte weibliche Sexualität und das den Mann bedrohende mütterliche Begehren abgespalten und verworfen. Durch diese Abspaltung des mütterlichen Körpers wird es auch möglich, dass die Töchter reine, bildhafte Weiblichkeit repräsentieren. Diese reine Weiblichkeit kann nur erhalten werden, indem die Töchter auf der Bühne sterben und ihre Unschuld in Form der sichtbaren Leiche zementiert wird; sie dürfen keine Mütter werden. Sara Sampson scheint insofern die ideale Mutter zu repräsentieren: eine jungfräuliche, die die Eigenschaften der sexuellen Unschuld und der Mütterlichkeit vereint. Die Vorstellung einer leiblichen Mutter, die dem von Rousseau formulierten Ideal der natürlichen Mutter entspricht, hat auf dem Theater des 18. Jahrhunderts 115 W. Menninghaus: Ekel, S. 132. 116 Ebd., S. 135-136. 117 J. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 16-21. Vgl. Kap. I.2.2. der vorliegenden Arbeit. 118 Vgl. W. Menninghaus: Ekel, S. 132-143. 119 Ebd., S. 119, 136. 120 B. Creed: The Monstrous-Feminine, S. 27-29.

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keinen Platz. So sehr der weibliche Körper einerseits als biologisch-mütterlicher idealisiert und dem »Fetisch der Präsenz des mütterlichen Körpers« in den Schriften der Aufklärer gehuldigt wird,121 so sehr wird der konkrete mütterliche Körper auf dem Theater verfemt. Friedrich Kittler zufolge ist, wie bereits erwähnt, das bürgerliche Trauerspiel darauf ausgerichtet, die Instanz eines zugleich symbolischen und realen Vaters zu errichten; die bürgerliche Gesellschaft tue sich schwer damit, zu einer ›kulturellen Funktion Mutterschaft‹ zu gelangen. Erst die Literatur der Romantik ersetze die Funktion der Väterlichkeit durch »eine Familienmitte namens Mutter«.122 Gerade Emilia Galotti kann aber auch als eine Diskussion des neuen Familienmodells gelesen werden mit ungewissem Ausgang. Zwar konstituiert sich der Vater durch den Ausschluss des Weiblichen, das Opfer gelingt aber nicht bruchlos. Im Prozess der Aufführung spielt zudem die Mutter Claudia eine oft unterschätzte, durchaus vielseitige Rolle. Anders als die in der bildenden Kunst idealisierten Mütter ist eine Figur wie Claudia Galotti alles andere als sprachlos und setzt sowohl der patriarchalen Ordnung als auch ihrer eigenen Reduktion auf ein Vorsprachliches einen Widerstand entgegen. Während die Mutterbilder der Malerei mehrheitlich die Phantasie einer natürlichen Einheit außerhalb des Symbolischen entwerfen, indem sie die Mutter im Bild bannen, haben theatrale Mutterfiguren aufgrund der Tatsache, dass sie sprechende und nicht im Bild fixierte Figuren sind, ein widerständiges Potential. Das Bestreben, das Weibliche in Form der Mutter aus dem Symbolischen auszugrenzen, kann im Theater nur durch ihren vollständigen Ausschluss vollzogen werden.

2.6 K LEINFAMILIE

UND GESCHLOSSENE

R EPRÄSENTATION

Auffallend bei der Betrachtung der Darstellung von Familie im Trauerspiel ist eine gewisse Parallelität in der Entwicklung des bürgerlichen Familienmodells und des bürgerlichen Illusionstheaters. Beide Diskurse treffen sich sowohl hinsichtlich des Ideals der Natürlichkeit als auch desjenigen der Geschlossenheit. Wie dargelegt wurde, konstituiert sich das neue Familienmodell als Hort der Natürlichkeit in Abgrenzung zur Sphäre der Öffentlichkeit, die mit Verstellung und künstlicher Repräsentation assoziiert wird. Der Privatraum der Kernfamilie wird als Rückzugsort aus dem Gesellschaftlichen und als Ort des natürlichen Selbst-

121 B. Vinken: Die deutsche Mutter, S. 156. 122 F. Kittler: Dichter, Mutter, Kind, S. 15. Kittler bezieht sich allerdings bezüglich der Romantik nicht auf Dramentexte, hier setzt sich die weitgehende Verdrängung der Mutter bis um 1900 fort.

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Ausdrucks des bürgerlichen Individuums aufgebaut. Die Figur der Mutter – in medizinischen, theologischen, pädagogischen und philosophischen Diskursen – bzw. die Figur der unschuldigen Tochter – im Diskurs des bürgerlichen Trauerspiels – werden als Verkörperung des Ideals der Natürlichkeit konstruiert, das sich dezidiert von allen Formen des Spiels, der Verstellung und bewussten Darstellung abgrenzt. Die Mutter bzw. Tochter werden als reine, unschuldige Natur imaginiert und somit aus der gesellschaftlichen Sphäre bzw. der symbolischen Ordnung ausgeschlossen. Zugleich dienen sie – in Form des Bildes oder der weiblichen Leiche – als Objekt männlichen Begehrens und männlich codierter Projektionen. Die Abspaltung bedrohlicher Formen von Weiblichkeit – weibliche Sexualität, mütterliches Begehren – ermöglicht die Setzung eines männlichen Individuums. Die Unterscheidung einer der bürgerlichen Familie entsprechenden Natürlichkeit einerseits, und einer der öffentlichen Sphäre zugeschriebenen Künstlichkeit andererseits wird auch für das Theater getroffen; das Ideal des natürlichen Ausdrucks findet sich in den schauspieltheoretischen Schriften der Zeit. Im Gegensatz zum »künstlichen Zeichen« der barocken höfischen Gesellschaft entwickelt sich die Vorstellung des »natürlichen Zeichens«.123 Letzteres soll laut Johann Jakob Engel einen unmittelbaren »Ausdruck der Seele im Körper« garantieren, im Gegensatz zu einem »unnatürlichen […] widrigen Spiel«.124 So wie in den Stücktexten die Natürlichkeit der Familie der Künstlichkeit der höfischen Welt entgegengesetzt wird, wird in den theoretischen Schriften der natürliche Ausdruck innerer Seelenzustände der Konventionalität der barocken Schauspieltradition entgegengesetzt. Das Ideal des natürlichen Ausdrucks wird in den Schriften von Diderot und Lessing von dem darzustellenden Ideal der bürgerlichen Familie abgeleitet. So verbindet etwa Diderot in seinen theatertheoretischen Essays immer wieder Fragen des Dargestellten mit Fragen der Darstellung und fordert, sowohl die Handlung als auch das Schauspiel solle »dem gemeinen Leben so nah als möglich« kommen.125 Das Ideal der Natürlichkeit der Familie im häuslichen Rahmen soll durch ›natürliche Stellungen‹, die er gegen die › Wohlanständigkeit‹ der französischen Theatertradition ins Feld führt, szenisch verwirklicht werden: »In der Kunst aber hängt alles, so wie in der Natur, zusammen […] Alsdenn werden wir auf der Szene eine Menge natürlicher Stellungen erblicken, welche die Wohlanständigkeit, diese Feindin des Genies und aller großen Wirkungen, davon verbannt hat. Ich will unsern Franzosen unablässig zurufen: die Wahrheit! die Natur!«126 123 Vgl. E. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, Band 2, S. 91-182. 124 J.J. Engel: Ideen zu einer Mimik (1785/86), S. 7 und 59. 125 D. Diderot/G.E. Lessing: Das Theater des Herrn Diderot, S. 146. 126 Ebd., S. 130. Heeg legt dar, inwiefern Diderot in seinen Schriften letztlich die Unmöglichkeit der ›natürlichen Gestalt‹ bloßlegt; er entlarve »den Anschein jeder konsistenten Gestalt als Maskerade«. G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 121.

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Die Natürlichkeit der dargestellten Familienbande sollen durch eine natürliche Darstellungsweise konkretisiert werden. In ähnlicher Weise schließt Diderot auch von dem Ideal der Geschlossenheit des neuen Familienmodells auf eine angestrebte Geschlossenheit der Repräsentation. So wie Figuren, die nicht zum engeren, biologischen Familienkreis gehören, und Funktionen, die nicht der familiären Sphäre zuzurechnen sind, aus der Handlung ausgeschlossen werden, so soll auch der Zuschauer, wie dargelegt wurde, aus dem Bühnengeschehen ausgeschlossen werden. Das Ideal der geschlossenen Familie entspricht dem Ideal der geschlossenen Handlung und der Geschlossenheit des Bühnengeschehens durch die von ihm geforderte ›große Wand‹. Die Vorstellung der vierten Wand, die zum Sinnbild des bürgerlichen Illusionstheaters und der Darstellungskonvention der Verkörperung wurde, geht einher mit der Vorstellung der geschlossenen Familie im ›häuslichen Trauerspiel‹, das den Raum der Familie als privaten von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit abgrenzt. Auch Lessing kommt, ausgehend von seinem Modell des bürgerlichen Trauerspiels, auf eine natürliche Darstellungsweise zu sprechen. So entwickelt er im vierten Stück der Hamburgischen Dramaturgie den Begriff des ›natürlichen Zeichens‹ für die Gesten des Schauspielers. Diese seien »natürliche Zeichen der Dinge«, im Gegensatz zu den »geschwätzigen« Gesten des Pantomimen, die »konventionelle Bedeutung« hätten.127 Ziel ist es, mittels dieser natürlichen Zeichen »innere« bzw. »ursprüngliche Empfindungen […] getreu nachzumachen« und so auf der Bühne eine Illusion der Wirklichkeit herzustellen.128 Diese Illusion der Wirklichkeit hängt mit dem Konzept der bürgerlichen Familie zusammen. So schreibt er hinsichtlich der Lustspiele Christian F. Gellerts im 22. Stück der Hamburgischen Dramaturgie: »Es sind wahre Familiengemälde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen.«129 Das Ziel der Familiendarstellung im bürgerlichen Theater ist also Lessing zufolge, über die emotionale Nähe zwischen den dargestellten Familienmitgliedern auch eine möglichst große Nähe zwischen Bühnengeschehen und Publikum herzustellen; Darstellung und Dargestelltes gehen auf diese Weise Hand in Hand. Die Zuschauerin bzw. der Zuschauer soll sich ›zu Hause‹ fühlen; das Gefühl des Zu Hauses steht hier für ein Unmittelbares, eine Distanzlosigkeit, die den Akt der Darstellung leugnet und die dem privaten Heim assoziierte Natürlichkeit auf das Theater überträgt. Der Zuschauer soll gleichsam vergessen, dass er im Theater ist und eine künstliche Darstellung betrachtet, und sich stattdessen der Illusion hingeben, im privaten Heim unter seinesgleichen zu sein und natür127 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, S. 28. Bereits im Laokoon unterscheidet Lessing die natürlichen von den willkürlichen Zeichen; G.E. Lessing: Laokoon, S. 55. 128 G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, S. 25. 129 Ebd., S. 116.

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lichen Begebenheiten beizuwohnen. Das ›zu Hause‹ der bürgerlichen Familie entspricht dem »Wunschbild des Unmittelbaren«, das Günther Heeg zufolge die schauspieltheoretischen Schriften der Zeit prägt.130 Die bürgerliche Familie soll auf diese Weise zum Garanten eines Theater werden, das sich zwar einerseits als Forum bürgerlicher Öffentlichkeit versteht, zugleich aber ein Gefühl der Intimität, des Natürlichen und der Abschottung von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erzeugen und dabei seine eigene Konstruktion und die Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem vergessen machen will. Das bürgerliche Theater versucht einen Raum der Abgeschiedenheit herzustellen, in dem sich das Bürgertum anhand der Kleinfamilie gerade über seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit definiert. Der Privatraum als Schutzraum der Intimität entspricht der Forderung nach der Geschlossenheit der Repräsentation und einer Schauspielweise, die ihre Mittelbarkeit verbirgt. Diese Geschlossenheit meint nicht nur diejenige des Bühnengeschehens durch die gedachte vierte Wand, sondern bezieht sich auch auf das Konzept der realistischen Verkörperung, die das ›Wunschbild des Unmittelbaren‹ szenisch zu realisieren sucht. Der Schauspieler ›wird ein wahrer Zorniger zu sein scheinen, ohne es zu sein‹ – er muss mithin die Empfindungen nicht selbst fühlen, die er darstellt, er darf aber die Mittel der Darstellung nicht sichtbar werden lassen, sondern ein ›wahrer Zorniger zu sein‹ scheinen.131 Eine solche illusionistische Verkörperung soll zwar einerseits, aus der Perspektive der Schauspieler, den Zuschauer vergessen machen – ›Zeugen, von welchen man nichts weiß‹ –, wie sie den Akt des Theaterspielens kaschieren soll; zielt andererseits aber auf eine Nähebeziehung zwischen Publikum und Bühne, die den idealisierten intimen Beziehungen innerhalb der Familie ähnelt und die Distanznahme verhindert. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sollen sich mit den Figuren identifizieren und jedes Bewusstsein von der Künstlichkeit des Vorgangs vergessen: sie sollen im Bühnengeschehen ›sogleich zu Hause‹ sein. Ein Familiengemälde, in dem man sogleich zu Hause ist – Lessing formuliert hier auch das Ideal einer Gemeinschaft, die Publikum und Schauspieler im Rahmen des Gemäldes bzw. des Theaters vereint. Die Vorstellung der Familie als inzestuöser Gemeinschaft, wie sie im Trauerspiel artikuliert wird, wird so auf das Theater übertragen. Die Geschlossenheit der Darstellung meint auch die Konstitution einer Einmütigkeit, die das ihr Andere ausschließt. Der Begriff des Gemäldes impliziert aber den Rahmen nicht nur im Sinne einer Abgrenzung nach außen, sondern auch im Sinne einer sichtbaren Distanz zwischen Dargestelltem und Darstellendem. Indem Lessing den Begriff des Gemäldes verwendet, verweist er auch auf ein Ge130 G. Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 38. 131 Lessing bezieht sich u.a. auf die Diskussion um die Empfindsamkeit des Schauspielers, die durch die Schriften Sainte-Albines und Riccobonis ausgelöst und von Diderot in seinem Paradoxe fortgesetzt wurde. Vgl. J. Roselt: Seelen mit Methode, S. 96-123.

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machtes, auf die künstlerische Produktion, die die Familie erst hervorbringt, und auf die Möglichkeit, diese Hervorbringung sichtbar zu machen. Der Wunsch nach einer ›natürlichen‹ Schauspielweise geht einerseits aus den Bestrebungen hervor, sich von den Konventionen des höfischen Theaters abzugrenzen, entsteht aber auch aus dem Bedürfnis, der proklamierten Natürlichkeit der bürgerlichen Familie einen adäquaten Ausdruck zu verleihen. Dies verlangt nicht nur eine ›lebensnahe‹ Sprache, wie Lessing sie fordert, sondern auch eine Darstellungsweise, die der Natürlichkeit des dargestellten Familienideals entspricht. Die angestrebte Naturalisierung des Schauspielstils hängt mithin eng mit der Naturalisierung des Modells der Kleinfamilie zusammen. Umgekehrt kann man sagen, dass das neue Familienideal durch den Modus der Repräsentation beglaubigt und naturalisiert wird. Der Diskurs des Trauerspiels ist, sowohl in Form der Stücktexte als auch der theoretischen Überlegungen, maßgeblich an der Konstruktion und Naturalisierung des Modells der patriarchal organisierten, geschlossenen Kleinfamilie beteiligt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich darstellende und bildende Künste zwar hinsichtlich des in ihnen erzeugten Mutterbildes fundamental unterscheiden, nicht aber hinsichtlich neuer, der offensichtlichen Repräsentation entgegenlaufender Darstellungskonventionen. Die angestrebte Geschlossenheit und Natürlichkeit der Repräsentation, die die dargestellte Familie naturalisieren und ihre Naturgegebenheit beglaubigen soll, ist ästhetische Grundlage des neuen Familienbildes sowohl im Theater als auch in der Malerei, wie in Kapitel 1.4 gezeigt wurde. Während allerdings im Medium Bild die Mutter-Kind-Einheit präferierter Gegenstand dieser idealisierenden, ihren Zeichencharakter leugnenden Darstellung ist, kommt diese Einheit im Trauerspiel bestenfalls am Rande vor. Vielleicht kündigt sich hier die Unmöglichkeit an, das Ideal des Natürlichen im Medium Sprechtheater zu realisieren. Denn letztlich ist die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption im Theater auch durch eine illusionistische Darstellungsweise nicht zu leugnen, ebenso wenig wie die Distanz zwischen Schauspielerin und Rolle. Folgt man dieser Annahme, kann eine Mutterfigur auf dem Theater nicht zum Inbegriff der Natur stilisiert werden.

2.7 D ENATURALISIERUNG DER K LEINFAMILIE : T HALHEIMERS E MILIA G ALOTTI Es wurden bereits zwei Inszenierungen des 20. Jahrhunderts erwähnt, die beide auf ihre Weise eine neue Lesart von Lessings Emilia Galotti generieren: Fritz Kortners Aufführung 1970 in Wien, sowie Thomas Langhoffs Emilia Galotti 1984 an den Münchner Kammerspielen, mit Sunnyi Melles als Emilia und Michael König als

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Prinz Gonzaga. Während Kortner eine Liebesgeschichte zwischen Emilia und dem Prinzen erzählt und Odoardo bzw. die bürgerlichen Moralvorstellungen als den eigentlichen Tyrannen darstellt, deren Opfer Emilia wird, ist es bei Langhoff die inzestuöse Beziehung von Vater und Tochter, die zu dem Mord führt, der zugleich als Verwirklichung des Inzestwunsches in Szene gesetzt wird. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts machte eine Emilia Galotti vor allem aufgrund der ästhetischen Mittel Furore, Michael Thalheimers Inszenierung am Deutschen Theater Berlin im Jahre 2001 mit Regine Zimmermann als Emilia, Katrin Klein als Claudia, Sven Lehmann als Prinz Gonzaga, Peter Pagel als Odoardo, Ingo Hülsmann als Marinelli und Nina Hoss als Gräfin Orsina. Der Bühnenraum von Olaf Altmann besteht aus einer schmalen Flucht mit hohen, holzvertäfelten Wänden rechts und links, die bis in die Tiefe der Bühne reichen. An der Rückwand, als einziger Ausgang, eine kleine Türöffnung. Wie am Fließband treten die Schauspielerinnen und Schauspieler von hinten durch diese Tür auf und gehen über die laufstegartige Bühne gerade nach vorne bis an die Rampe, sprechen ihren Text, und laufen wieder den weiten Weg zurück, um Platz zu machen für den nächsten Auftritt. Dieser Mechanismus, der mit der Präzision eines Uhrwerks abläuft, wird durch die repetitive Musik, die den Rhythmus im Dreivierteltakt vorgibt, betont und während der gesamten Aufführung aufrecht erhalten.132 Thalheimer hat den Originaltext stark gekürzt, und auch die reduzierten theatralischen Mittel konzentrieren die Aufführung auf das Wesentliche, das in seiner Lesart in erster Linie in der Beziehungslosigkeit der Figuren zueinander liegt sowie in der Sehnsucht nach Nähe, die nie befriedigt wird. Sie laufen aneinander vorbei, stehen nebeneinander, ohne sich zu berühren oder anzuschauen, und Versuche Einzelner, Nähe herzustellen, scheitern. Thalheimer verwendet eine abstrakte, stilisierte Theatersprache und erzeugt dadurch eine Distanz zwischen den Figuren und zu den Figuren, die nicht illustrativ ist, sondern den Akt des Theaterspielens hervorkehrt. Dem psychologischen Realismus des bürgerlichen Illusionstheaters, der bei Lessing seinen Anfang nahm, begegnet er mit der Reduktion und Offenlegung der theatralen Mittel, die einen Abstand zwischen Dargestelltem und seiner Darstellung erzeugen. Eine Einfühlung und Identifikation mit den Figuren seitens der Zuschauerinnen und Zuschauer wird auf diese Weise verhindert. Demonstrativ treten die Schauspielerinnen und Schauspieler dem Publikum gegenüber, verharren weitgehend reglos, während sie ihre Texte in rasendem Tempo Richtung Zuschauerraum sprechen; streng choreografiert sind alle Bewegungen durch den Bühnenraum sowie die wenigen, ausgestellten Gesten. Auch während der Dialoge blicken sich die Figuren meist nicht an, sondern stehen, barocker Theaterkonvention gleich, nebeneinander mit dem Blick ins Publikum. Das Theater zeigt so ständig, dass es Theater ist, die 132 Musik von Bert Wrede nach »Yumei’s Theme« von Shigeru Umebayashi; Filmmusik zu Wong Kar-Wais In the mood for love (2000).

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Frontalität des Bühnengeschehens kehrt die Öffentlichkeit des Theaterspielens hervor, und das hohe Sprechtempo stellt den Akt des Sprechens in seiner rhetorischkünstlichen Verfasstheit aus. Das rasante Sprechen richtet sich mehr gegen die Zuschauer als an die Zuschauer, es macht deutlich: hier wird keine Nähe suggeriert, kein Abstand illusionistisch überbrückt, sondern die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum hervorgehoben. Dieser Darstellungsmodus hat auch Einfluss auf die Darstellung der Familie. War die Familie im bürgerlichen Theater maßgeblicher Träger des Ideals der unmittelbaren Nähebeziehungen sowohl auf der Ebene des Dargestellten (der familiären Einheit) als auch auf der Ebene der Darstellung (der illusionistischen Ästhetik der Einfühlung), so bricht der verfremdende Schauspielstil bei Thalheimer diese illusionistische Nähe auf und streicht die Mittelbarkeit sowohl des Theaterspiels selbst als auch der dargestellten familiären Beziehungen heraus. Der erste Auftritt der Eheleute Galotti ist im Text, wie beschrieben, einerseits durch Zuneigungsbekundungen, andererseits durch eine klare Hierarchie und das Misstrauen Odoardos seiner Frau gegenüber gekennzeichnet. Beides entspricht dem aufklärerischen Ideal von Familie: die Idee der Liebesheirat und der emotionalen Bindungen einerseits, die unhinterfragte väterliche Autorität und Kontrolle andererseits. Bei Thalheimer tritt Claudia Galotti zuerst auf, sie trägt ein etwa knielanges Kleid aus fließend weichem, sandfarbenen Stoff, ihre hochgesteckten Haare sind leicht in Unordnung, einzelne Strähnen hängen heraus, sie ist dezent geschminkt mit Lidstrich und braunem Lippenstift. Während ihres Auftretens begegnet sie dem abgehenden Prinzen, der sich nach ihr umdreht, sie blickt ihm leicht lächelnd nach und kommt mit wiegenden Schritten nach vorne. Sie wird so als eine attraktive, sinnliche Frau eingeführt, stereotype Attribute der asexuellen, naiven oder alten Mutter fehlen ihr ganz. Odoardo tritt hinten durch die Tür, sein Blick ist gleich auf seine Frau geheftet, er kommt nach vorne und entkleidet sich dabei: zieht Jackett, Weste und Krawatte aus, wirft sie von sich, knöpft den oberen Hemdknopf auf. Lächelnd bleibt er hinter Claudia stehen und streicht ihr mit dem Handrücken über den Nacken, die Schulter und den nackten Arm. Sie steht still und lächelt mit leicht geöffnetem Mund. Sodann fassen sie sich fest an den Händen und stehen nun eng nebeneinander, beider Blick ins Publikum. Auch wenn diese einführende Szene nur Sekunden dauert, erzeugt sie doch den Eindruck eines Ehepaares, das nicht nur über die gemeinsame Tochter, sondern auch in Form einer liebevollen und sinnlichen Beziehung miteinander verbunden ist. Das Nebeneinanderstehen suggeriert außerdem ein nicht-hierarchisches Verhältnis beider. Den Text der sechsten Szene sprechen sie in rasantem Tempo, den Blick weiterhin ins Publikum gerichtet. Nach Odoardos »Wie du meinest, Claudia, aber sie sollte nicht allein gegangen sein« wenden sie sich einander zu und nähern ihre Gesichter einander, berühren sich jedoch nicht. Es folgt der Text der achten Szene, die Unterhaltung über Appiani und den Prinzen, die in der Ermahnung Odoardos endet: »Claudia, Claudia, du hättest

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mir das sogleich sollen gemeldet haben«. Pagel dreht sich nun brüsk um und geht nach hinten, seine Kleider aufsammelnd. Da keine weiteren Requisiten und nur wenige, isolierte Gesten verwendet werden, werden das Ausziehen der Kleider ebenso wie die anderen Gebärden Odoardos hervorgehoben und als Zeichen ausgestellt. Das Ausziehen der Kleidung, zumal des Anzugs als Chiffre außerhäusiger Arbeit, steht für den Eintritt in das Private, das Ablegen als einengend empfundener Konventionen öffentlicher Rollen: »Man denke an die Bevorzugung lockerer, schmuckloser Kleidung im Hause als Ausdruck natürlichen Empfindens«.133 Der Eintritt in die mit Natürlichkeit assoziierte Privatsphäre wird durch wenige Zeichen bedeutet, aber nicht verkörpert: zwar entsteht durch die Geste des Streichelns ein Moment der Intimität, dieser wird aber sogleich wieder durch die frontale Bühnenposition und das hohe Sprechtempo aufgebrochen. Die mit der bürgerlichen Familie assoziierte Natürlichkeit findet bei Thalheimer nicht statt, die Figuren gehorchen klaren Regeln und künstlich-künstlerischen Konventionen, die Isolation der einzelnen Zeichen hebt die Zeichenhaftigkeit der Darstellung hervor. Gerade der Umgang mit den Gesten ist dabei von Bedeutung: Die Geste, bei Lessing als ›natürliches Zeichen‹ Inbegriff des natürlichen Ausdrucks innerer Seelenzustände, ist bei Thalheimer durch präzise Setzung, Isolation und die verfremdende Trennung von Körper und Sprechakt ein äußeres Zeichen, das keine innere Essenz nach außen transportiert, sondern eine bestimmte Wirkung oder Bedeutung als Effekt hervorbringt. Auch die Intimität der Beziehung zwischen Claudia und Odoardo wird auf diese Weise als Effekt von Zeichenprozessen ausgestellt. Dennoch bleibt eine Deutung der Ehe der Galottis, die im Kontext von künstlerischen, kritischen und akademischen Lesarten der Emilia Galotti auffällt: sie wird als zärtliche Beziehung dargestellt, in der der Mann zwar den aktiven Part übernimmt, sich aber nicht über die Frau erhebt, und in der der Frau und Mutter eine eigenständige Sinnlichkeit – ihr kurzer ›Flirt‹ mit dem Prinzen – zugesprochen wird. Claudia Galotti tritt hier nicht primär als Mutter in Erscheinung, sondern als begehrende Frau, auch wenn dieses Begehren in streng gezügelter Form auftritt. Odoardo sammelt schwungvoll seine auf dem Boden verstreuten Kleider auf, macht aber vor seinem Abgang noch einmal kehrt und kommt wieder nach vorne zu seiner Frau. Sie stehen sich nun direkt gegenüber und schauen sich in die Augen. Beide lächeln sich an. Statt des erwarteten Abschiedskusses schlägt Odoardo aber nur zweimal kurz mit seinem Handrücken gegen den Handrücken Claudias. Ihr Lächeln erstirbt, Odoardo stellt sich, einige Schritte von ihr entfernt, vor das Publikum und sagt: »Kommt glücklich nach«. Dann geht er endgültig ab, Claudia folgt ihm; während ihres Abgangs streckt sie noch einmal sehnsüchtig ihre Hand in die Leere des Bühnenraums. 133 Sennett hat dargelegt, wie das Private über die im 18. Jahrhundert entstehende Hauskleidung konstituiert wird; R. Sennett: Verfall und Ende, S. 93-102, hier: S. 131.

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Die durch die Geste des Streichelns zu Beginn der Szene erzeugte Intimität wird durch die folgenden Haltungen und Gebärden gebrochen: Bereits das Händchenhalten wirkt irritierend, weil es mit hoher Muskelanspannung ausgeführt wird, im Folgenden scheinen alle Versuche, sich zu berühren, auf die eine oder andere Weise zu scheitern, vor allem die Berührung mit den Handrücken bei herabhängenden Armen wirkt verwirrend skurril, und die letzte Geste Claudias, das sehnsüchtige Strecken der Hand, läuft gänzlich ins Leere. Auch der Dialog kittet die Distanz zwischen den Figuren nicht: Ist er bei Lessing Ausdruck der Innerlichkeit zweier wahrhaftiger Charaktere und durch die prosaische Sprache Mittel der Naturalisierung, so wird er bei Thalheimer durch das bewegungslose Nebeneinanderstehen und das hohe Sprechtempo verfremdet. Dennoch ist es eine der wenigen Szenen, in denen überhaupt eine auf Wechselseitigkeit beruhende Beziehung zwischen den Figuren aufgebaut wird. Bereits die folgende Szene zwischen Emilia und ihrer Mutter gehorcht wieder dem Prinzip der räumlichen und darstellerischen Distanzierung: Emilia tritt im engen Etuikleid auf, spricht ihren Kirchen-Text mit erhobenen Armen während ihres Gangs nach vorne, während die Mutter ganz hinten stehen bleibt, den Rücken Emilia und dem Publikum zugewandt. Für ihren – stark gekürzten – Text wendet sie sich zwar Emilia zu, bleibt aber am hinteren Ende der Bühne stehen, so dass ihr Sprechen keine Nähe stiftet, sondern einen öffentlichen Sprechraum generiert. Auch der folgende Versuch Appianis, eine Nähe zu Emilia herzustellen und sie zu berühren, scheitert mehrmals, bevor er ihre Hand greift und sich neben sie stellt. So sehr das Bild der Mutter, das Thalheimer in ihrem ersten Auftritt erzeugt, dem gängigen Bild der Claudia Galotti entgegenläuft, so sehr wird diese Figur im weiteren Verlauf der Inszenierung doch entsprechend der Lessingschen Vorgaben aus der Handlung gedrängt. Während Thalheimer den Szenen der Gräfin Orsina als Verkörperung von Weiblichkeit, Sexualität und Leidenschaft viel Raum gibt und auch Odoardo am Ende eine große, stumme Szene erhält, um seine Trostlosigkeit zu artikulieren, werden die Szenen der Mutter noch knapper abgehandelt, als sie im Text ohnehin schon sind. Die Szene, in der bei Lessing eine Mutter-Tochter-Einheit hergestellt wird, ist bis auf Emilias Monolog fast vollständig gestrichen und durch eine unüberbrückbare Distanz zwischen Mutter und Tochter gekennzeichnet. Ihr letzter Auftritt, bei dem sie von Odoardo mit einem lauten »Geh!« weggeschickt wird, dauert keine drei Sekunden, und auch ihre Szene mit Marinelli ist stark gekürzt. Claudia tritt hier Marinelli selbstbewusst entgegen, um dann eher verwirrt an den vertäfelten Wänden auf der Suche nach ihrer Tochter herumzulaufen, das Klischee der hilflosen Mutter bedienend. Die Mutter wird bei Thalheimer ebenso umstandslos von der Bühne geschickt wie bei Lessing, ohne dass dieser Aspekt des Dramas beleuchtet würde.134 In ähnli134 Bezeichnenderweise lautet die Charakterzusammenfassung der Claudia Galotti am Anfang der Verfilmung der Aufführung von 2002 durch Michael Thalheimer und Hannes

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cher Weise wird Emilia im kurzen, weißen Satinkleid, meist stumm in der Bühnenmitte stehend, als Prototyp der mädchenhaften Unschuld und Objekt der Begierde und männlichen Projektionen in Szene gesetzt, ohne dieses Stereotyp zu brechen. In gewisser Weise reproduziert Thalheimer, trotz seiner sezierenden Analyse vieler Aspekte des Stücktexts, geschlechtsspezifische Stereotype, die mit der Natürlichkeitsästhetik des bürgerlichen Illusionstheaters zementiert wurden. Auch die Unterbrechung der Opferung der Tochter durch den wortlosen Abgang des Vaters wirkt dem nicht entgegen. Aufschlussreich ist allerdings, dass es auch in dieser Szene von Vater und Tochter zu keiner dialogischen Kommunikation kommt. Ähnlich räumlich distanziert wie Mutter und Tochter in Szene 9 stehen sie im nunmehr dunklen Bühnenraum, beide blicken ins Publikum, strecken stumm die Arme nacheinander aus, lassen sie wieder sinken – die Kleinfamilie, die schon bei Lessing szenisch nicht zueinander kommt, sondern nur als Ideal verhandelt wird, findet bei Thalheimer gar nicht mehr statt. ›Ein Familiengemälde, in dem man sogleich zu Hause ist‹ – so formulierte Lessing seine Idealvorstellung einer Theateraufführung. Diese Formulierung verweist auf das Paradox eines Gemäldes, also eines abgeschlossenen, künstlerischen Werkes, in das man sich in einer Weise einfühlen kann, dass man jede Distanz verliert und sich in der Familie und zu Hause, also inmitten einer intimen Nähebeziehung bzw. einer natürlichen Geborgenheit, fühlt. Es muss sich also um ein Gemälde handeln, das seine eigene Gemachtheit verbirgt und die Illusion einer Unmittelbarkeit stiftet. Es ist genau die Illusion einer solchen Unmittelbarkeit, die Thalheimer in seiner Emilia Galotti aufgreift und unterläuft. Die ästhetische Reduktion und Abstraktion, das Ausstellen der Zeichenhaftigkeit des Theaters, die Trennung von Sprache und Körper, das Verfremden des Sprechakts selbst und die strenge Choreografie der Bewegungen sowie die Isolation der Gesten – dies alles stellt das bürgerliche Illusionstheater und den Darstellungsmodus der Verkörperung bzw. des psychologischen Realismus grundsätzlich in Frage. Theater ist hier ein öffentlicher und offener Vorgang, der seine Produktion nicht verbirgt. Die Vorstellung eines autonomen Individuums wird durch die Brüche, die zwischen Körper und Sprache inszeniert werden, und das Fehlen psychologischer Motivationskurven dekonstruiert. Bezogen auf die bürgerliche Familie, die im Stücktext gebildet wird, führt diese verfremdende Ästhetik dazu, dass sie gerade nicht als Garant von Natürlichkeit in Erscheinung tritt, sondern ihre Konstituenten offengelegt werden: Die Beziehung der Eheleute Galotti wird als Effekt von Zeichenprozessen ausgestellt, anstatt der Illusion eines natürlichen Ausdrucks zu gehorchen; und sie wird, durch die frontale Haltung beider, öffentlich gemacht und für Kritik geöffnet, anstatt in einen intimen Raum hinter der Rossacher, die Mutter habe zwar das Treiben durchschaut, sei aber »zu schwach, um sich dem Prinzen entgegenzustellen«.

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imaginären vierten Wand verlegt und damit als ein naturhaft und zwangsläufig Gegebenes präsentiert zu werden. Lessing formuliert mit seiner Idee des ›Zu Hauses‹ im Theater auch das Ideal einer Gemeinschaft, die Publikum und Schauspieler vereint. Indem Thalheimer die Verfremdung, Unterbrechung und Isolation der einzelnen Zeichen und Zeichenprozesse betreibt, erzeugt er Leerstellen, Diskontinuitäten und eine grundlegende Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum und verhindert dadurch eine solche Einheitlichkeit. Er unterbricht nicht nur die Opferung der Emilia, indem er den Mord nicht stattfinden lässt, sondern auch das Ideal einer Gemeinschaft, die für inzestuöse Gewalt und den Ausschluss des ihr Anderen steht.

Teil III Inszenierung von Mutterschaft und Familie im zeitgenössischen Theater

Vorbemerkung

Im folgenden Teil der Arbeit werden verschiedene Beispiele des deutschsprachigen Gegenwartstheaters untersucht, die entweder explizit Mutterschaft und Familie thematisieren oder familienähnliche Formen von Gemeinschaft auf die Bühne bringen. Das Konzept der Kleinfamilie wurde im bürgerlichen Theater maßgeblich über den Dramentext sowie durch eine Darstellungsweise der geschlossenen Repräsentation und illusionistischen Verkörperung entworfen. Das Theater des 20. Jahrhunderts von den Historischen Avantgarden über Brecht bis zum Performancetheater ab den 1960er Jahren grenzt sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise von Abbildung und Verkörperung ab und entwickelt vielfältige theatralische Denaturalisierungsstrategien. Die Familie hingegen gilt auch in der spätkapitalistischen Gesellschaft häufig noch als Hort der Natürlichkeit und schreibt naturalisierte Geschlechteridentitäten fort. Gleichzeitig haben sich die Vorstellungen von Familie in den letzten Jahrzehnten vervielfältigt und die gesellschaftliche Realität ebenso wie Film und Fernsehen sind von Patchwork-, Ein-Elternteil- und Wahlfamilien bevölkert. Dennoch ist die Kleinfamilie nach wie vor das Modell, das zwar keine uneingeschränkte Gültigkeit mehr beansprucht, aber an dem sich die Diskussionen um Familie ausrichten und andere Formen von Verwandtschaft gemessen werden. So gehen auch die meisten zeitgenössischen Dramentexte, die sich mit Fragen der Familie auseinandersetzen, von dem Modell der bürgerlichen Kleinfamilie aus, wenn sie auch als Phantasie dekuvriert und kritisch hinterfragt wird, ihre Zerrüttung, ihre autoritären, gewalttätigen und inzestuösen Strukturen, oder auch ihr alltägliches Scheitern dargestellt werden.1 So beginnt beispielsweise Dea Lohers Stück Diebe (2009) mit einem Monolog der alleine lebenden Linda, die sich eine solche Kleinfamilie, bestehend aus Vater, Mutter, Kind, vorstellt. Die imaginierte Familie fungiert hier als Gegenmodell zu Einsamkeit, zerrütteten Beziehungen und einem Gefühl der Verlorenheit in einer als fragmentiert und unübersichtlich wahr-

1

Etwa in Dea Lohers Tätowierung (1992), Marius von Mayenburgs Feuergesicht (1998) oder Thomas Freyers Und in den Nächten liegen wir stumm (2008).

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genommenen Welt. Sie steht für eine verlässliche Gemeinschaft, für Geborgenheit, Sicherheit und Harmonie. Freilich wird die Sehnsucht nach einer heilen Familie im Laufe des Stücks nicht erfüllt, die Figuren bleiben trotz verwandtschaftlicher Bindungen isoliert, die Familie stiftet weder Sinn noch Schutz oder Liebe. Häufig werden die Geschlossenheit der Kleinfamilie und die Konfliktträchtigkeit dieser Geschlossenheit dramaturgisch betont, indem das Personal auf die Familienmitglieder beschränkt und ein Privatraum einziger Spielort ist. So gibt es beispielsweise eine ganze Reihe von Vier-Personen-Stücken mit zwei Ehepaaren als Protagonisten in der Tradition von Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf (1962), die in den letzten Jahren häufig auf deutschen Bühnen zu sehen waren, und sie alle spielen im Wohnzimmer eines der Paare: Lars Noréns Dämonen (1984), Yasmin Rezas Drei Mal Leben (2000) und Der Gott des Gemetzels (2006), Roland Schimmelpfennigs Peggy Pickit sieht das Gesicht Gottes (2010), Moritz Rinkes Wir lieben und wissen nichts (2012) oder Dea Lohers Am schwarzen See (2012). Die Konflikte entzünden sich an dem Aufeinandertreffen zweier Ehepaare; liegen aber in den einzelnen Paarbeziehungen bzw. Familienstrukturen begründet. Die meisten zeitgenössischen Autoren arbeiten dabei mit verfremdenden Mitteln, durch die die dargestellte Familie für Kritik geöffnet wird. Häufig werden allerdings auch Normen reproduziert, zumal die geschlechtsspezifische, heteronormative Rollenverteilung sowie die Bindung von Mütterlichkeit an biologische Weiblichkeit. So öffnet etwa Roland Schimmelpfennig in Peggy Pickit die Geschlossenheit der Repräsentation durch verschiedene Verfahren der Episierung, namentlich durch eingeschobene Kommentare einzelner Figuren, die die Handlung unterbrechen. Die geschlechtsspezifische Rollenverteilung aber bleibt weitgehend unangetastet: Die beiden Frauenfiguren werden über ihre Mütterlichkeit charakterisiert, während die männlichen Figuren sich durch eine Distanznahme ihren Kindern gegenüber auszeichnen. Mütterlichkeit wird auf diese Weise an den anatomischen Körper der Frau gebunden; idealer Weise an den leiblich-mütterlichen Körper, denn auf ganzer Linie scheitert in Peggy Pickit nur diejenige Frauengestalt, die kein leibliches Kind hat. Ähnliches lässt sich auch in anderen zeitgenössischen Dramen beobachten, die Elternpaare in Szene setzen. Auch szenisch werden in der Darstellung von Mutterund Vaterfiguren häufig geschlechtsspezifische Stereotype reproduziert und Mütterlichkeit an den weiblichen Körper gebunden. Dies kann in so unterschiedlichen, dramenbasierten Inszenierungen wie der deutschen Erstaufführung von Schimmelpfennigs Peggy Pickit durch Martin Kusej am Deutschen Theater Berlin (2010), in Die Kommune von Thomas Vinterberg in der Regie von Rafael Sanchez, ebenfalls am Deutschen Theater Berlin (2012), oder in Die Katze auf dem heißen Blechdach von Tennessee Williams in der Regie von Stefan Pucher am Schauspielhaus Zürich (2013) beobachtet werden.

V ORBEMERKUNG | 211

Dramen, die andere Verwandtschaftsmodelle entwerfen, gibt es im deutschsprachigen Raum kaum.2 Dies erstaunt angesichts des Wandels der Lebensrealität. Wie sieht das in Theaterformen aus, die nicht auf Dramen basieren bzw. Dramentexte nur als Ausgangspunkt oder Material verwenden? Werden in solchen performativen oder postdramatischen Arbeiten andere Vorstellungen von Familie und Mutterschaft entworfen bzw. Fragen der Familie auf andere Art und Weise verhandelt? Geht die Kritik am Modus der Repräsentation, die Auflösung dramatischer und ästhetischer Normen, die Betonung von Performativität, Heterogenität und Offenheit der Aufführung auch mit einer grundlegenden Kritik an tradierten Familienformen einher? Während im deutschsprachigen zeitgenössischen Drama Familie und familiäre Beziehungen ein wichtiges Sujet sind, war die Familie in nicht dramenbasierten Theaterformen lange Zeit kein Thema. Das scheint sich, wie eingangs erwähnt, in den letzten Jahren zu ändern, betrachtet man Arbeiten von so unterschiedlichen Künstlerinnen und Künstlern wie Lola Arias, René Pollesch, She She Pop oder Rimini Protokoll. Dennoch sind explizite Auseinandersetzungen mit Fragen von Mutterschaft, Familie und Verwandtschaft erstaunlich spärlich. Im Folgenden werden verschiedene Beispiele aus dem Bereich des nichtdramatischen Theaters vorgestellt, die sich mit Familie oder familienähnlichen Gemeinschaften beschäftigen. Untersucht werden soll einerseits, inwiefern performative Ästhetik bzw. Repräsentationskritik und Infragestellung des Modells Kleinfamilie zusammenhängen, andererseits, ob und wenn ja in welcher Form andere Vorstellungen von Mutterschaft, Familie oder Verwandtschaft entworfen werden. Wie gehen zeitgenössisches Theater und Performance, die sich klar von den Darstellungskonventionen des bürgerlichen Theaters absetzen, mit der Darstellung von Familie um?

2

Eine Ausnahme bildet z.B. Marianne Salzmanns Muttersprache Mameloschn (2012), dessen drei Protagonistinnen Mütter und Töchter dreier verschiedener Generationen einer Familie sind. Vereinzelt kommen Alleinerziehende vor, z.B. in Kathrin Rögglas Kinderkriegen (2012). Eine dramatische Bearbeitung gleichgeschlechtlicher Elternschaft ist mir nicht bekannt.

1. Mutterschaft und Familie bei Rimini Protokoll

In den Aufführungen des Regieteams Rimini Protokoll sind Mutterschaft und Familie selten explizites Thema, kommen aber immer wieder als ein Aspekt unter anderen vor. Da sie mit ihrer Form des dokumentarischen Theaters in besonderer Weise aktuelle gesellschaftliche Probleme und Entwicklungen aufgreifen, soll anhand zweier Beispiele ihr Umgang mit Familie beleuchtet werden. Seit 2000 arbeiten Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel unter dem Namen Rimini Protokoll zusammen und realisieren Theaterprojekte, die sich an der Grenze von Realität und Theater bewegen und dabei das Theater auf sein Verhältnis zur Realität und die Realität auf ihre theatralen Anteile hin befragen. Es ist eine neue Form des dokumentarischen Theaters, das sich auf der Grundlage von dokumentarischem Material mit gesellschaftlichen Themen wie Krieg, Arbeitslosigkeit, Kapitalismus oder Tod beschäftigt. Im Zentrum stehen dabei die Darstellerinnen und Darsteller, keine professionellen Schauspieler sondern Menschen, die aufgrund ihrer Biografie bzw. ihres Berufs »Experten« sind für das jeweilige Thema.1 Der Begriff des Experten ist dabei wesentlich für das Konzept von Rimini Protokoll, denn im Gegensatz zu dem Begriff des Laien wird so die Expertise der Beteiligten in den Vordergrund gestellt und nicht ihre Nichtprofessionalität in Sachen Schauspiel. Sie stellen sich auf der Bühne selbst dar und berichten in sachlicher Weise aus ihrem privaten oder beruflichen Alltag. Die autobiografischen Erzählungen sind dabei mit Informationen zu dem jeweiligen Thema oder auch, wie im Fall von Kreuzworträtsel Boxenstopp (Frankfurt/Main 2000), mit einer fiktiven Geschichte verknüpft, so dass eine Montage aus unterschiedlichen Fragmenten entsteht. Auf diese Weise werden Sachinformationen mit subjektiven Erfahrungen, das Gesellschaftliche mit dem Individuellen konfrontiert. Kennzeichen der Aufführungen ist eine offensichtliche künstlerische Konstruktion, die Privatheit verhindert, das Publikum distanziert und den Eindruck der Echtheit als Effekt künstlerischer Verfahrensweisen ausstellt. Die Experten verkörpern nicht eine geschlossene Fiktion ihrer

1

Vgl. M. Dreysse/F. Malzacher: Experten des Alltags.

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selbst, sondern machen den theatralen Rahmen ihres Auftritts sichtbar und hinterfragen so auch das mit ihrer ›Echtheit‹ einhergehende Authentizitätsversprechen.

1.1 M EDIALE I NSZENIERUNGEN : S ABENATION In Sabenation. Go home and follow the news (Brüssel 2004), das um den Bankrott der belgischen Staats-Airline Sabena und die folgende Arbeitslosigkeit der Beschäftigten kreist, beschreibt Myriam Reitanos, wie sie mit ihrer Tochter in Presse und Fernsehen zum Symbol für diesen Bankrott wurde. Reitanos war 27 Jahre lang Flugbegleiterin bei Sabena gewesen, als sie aufgrund des Konkurses von einem Tag auf den anderen in den Frühruhestand versetzt wurde. Im Verlauf der Aufführung wird ein Zeitungsartikel auf die Leinwand projiziert, die an der Bühnenrückwand hängt. Dieser Artikel titelt mit dem Bankrott von Sabena und zeigt ein Foto von Frau Reitanos in einer Menschenmenge. Das Bild ihres Gesichts wird heran gezoomt und bleibt als überdimensionale Ikone stehen (Abb. 29). Das vergrößerte Bild ist körnig und schwarz-weiß, Reitanos trägt einen Schal um den Kopf und blickt mit großen Augen nach rechts aus dem Bild heraus, so dass sie an eine Klagende aus einem fernen Land oder – dieser Eindruck wird durch Körnigkeit und Farbgebung verstärkt – einer vergangenen Epoche erinnert, die sich an eine Instanz außerhalb des Bildrahmens wendet. Das Bild arbeitet mit einer Ikonografie des Opfers: die großen Augen, das traurige Gesicht mit herausstehenden Wangenknochen, der nach oben gerichtete Blick. Durch den Schal, der das Gesicht rahmt, und den Ausdruck der Trauer erinnert es an die Darstellungstradition der christlichen Maria – die Mutter wird hier zur Verkörperung stummer Verzweiflung und Hilflosigkeit, angewiesen auf die Hilfe einer äußeren Instanz. Durch diese Opferikonografie richtet es einen Appell des Mitleidens an den Betrachter, eines Mitleidens allerdings aus der gesicherten Distanz der Nicht-Betroffenheit. Im Anschluss an die Präsentation dieses Titelblatts wird ein Bericht des belgischen Fernsehens gezeigt, bei dem zunächst Protestaktionen der Belegschaft zu sehen sind, dann ein Interview mit Myriam Reitanos. Sie erzählt kurz, wie ihr gesagt wurde, sie könne ihre Koffer packen und nach Hause gehen, und sagt dann weinend in die Kamera, sie sei völlig verzweifelt und wisse nicht, was sie tun solle, sie habe eine kleine Tochter von fünf Jahren, wie solle sie die denn jetzt versorgen. Der Fernsehbericht wird angehalten, das Bild der weinenden Reitanos eingefroren, und die real auf der Bühne anwesende Reitanos berichtet den Zuschauern mit Verweis auf das Fernsehbild, dass diese zwei Sätze der Grund gewesen seien, warum die Medien sich auf sie und ihre Tochter gestürzt hätten. Bald sei das Fernsehen ihr überall hin gefolgt, es werden weitere TV-Berichte eingespielt, Interviews mit Reitanos und Bilder von ihr und ihrer Tochter im Alltag. Reitanos sagt: »Et comme la Sabena utilisait toujours des mères

R IMINI P ROTOKOLL | 215

et des enfants pour faire de la publicité, la presse nous a choisi pour être le symbole de la fallite.«2 Die Filmausschnitte machen deutlich, wie mediale Vermarktungs- und Informationspolitik funktioniert, und auf welche Weise stereotype Geschlechterrollenbilder hergestellt und funktionalisiert werden. Nicht schimpfende Gewerkschafter sondern die weinende Mutter wird als Mittel verwendet, um die Information emotional aufzuladen, und dabei wird zugleich ein bestimmtes Mutterbild erzeugt: dasjenige der sich für ihr Kind aufopfernden, emotionalen und schwachen, hilflosen Frau, die Opfer höherer Gewalt wird.

Abbildung 29: Myriam Reitanos in Sabenation, Brüssel 2004

Quelle: Rimini Protokoll, Foto: Christian Enger

Die Theateraufführung arbeitet diesem Bild entgegen: Die medialen Strategien werden ausgestellt und durch Myriam Reitanos kommentiert und reflektiert. Sie steht dabei auf einer Leiter hinter der Leinwand und schaut durch einen Bilderrahmen-ähnlichen Ausschnitt aus dieser Leinwand heraus (Abb. 29). Das madonnenhafte Bild auf der Leinwand wird auf diese Weise unmittelbar mit der real anwesenden und gar nicht madonnenhaft wirkenden Reitanos konfrontiert; das Bild, das 2

Zit. nach dem Szenario von Rimini Protokoll, Juni 2004; dt.: »Und weil Sabena immer Mütter und Kinder für die Werbung benutzt hat, hat die Presse uns als Symbol des Konkurses ausgewählt.«

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sie zu einem Opfer stilisiert, mit ihrer aufrechten Haltung auf der Bühne und ihrem geraden, selbstsicher wirkenden Blick, mit dem sie direkt die Zuschauerinnen und Zuschauer anspricht. Die theatralen Mittel – die Leiter, der Bildausschnitt – werden dabei, im Gegensatz zur Praxis medialer Inszenierungsstrategien, die die Illusion der Echtheit erzeugen, offengelegt. Gerade Formate wie solche Alltagsdokumentationen, die wir in Sabenation eingespielt bekommen, erzeugen die Illusion, mit der Realität identisch zu sein und versuchen dabei, die Produziertheit dieser Illusion zu verbergen. Georg Christoph Tholen hat im Anschluss an Foucault aufgezeigt, dass Formate wie Dokusoaps oder Talkshow eine bestimmte »Blick-Ordnung« herstellen, die nicht nur voyeuristische Lust bedient, sondern auch (in Foucaults Sinne) normalisierende Funktion hat. Konstitutiv ist dabei Tholen zufolge, dass es sich um eine Blick-Ordnung handelt, »die sich dem unmittelbaren Beobachten entzieht«, deren Konstruktion also verborgen bleibt.3 Rimini Protokoll verhindert durch die Verfremdung des Bühnengeschehens und die Offenlegung der theatralen Mittel einen solch voyeuristischen, normalisierenden Blick auf die Experten. Im Fall der medialen Stilisierung der Myriam Reitanos zur mütterlichen Opferfigur legen sie gezielt die Inszenierungsstrategien der Medien offen, und konfrontieren sie mit der nüchternen Reflexion ihrer Funktionsmechanismen durch Reitanos selbst. Dies ist charakteristisch für die Inszenierungen von Rimini Protokoll: das Authentizitätsversprechen, das mit den ›echten Menschen‹, die auf der Bühne stehen, einhergeht, wird durch die Offenlegung der Mittel zugleich hinterfragt. Die klare, reduzierte Form, die sie den Auftritten der Experten verleihen, wirken einer Echtheits-Illusion entgegen, indem sie das Geprobte klar in Erscheinung treten lassen. Anstatt Nähe zu suggerieren oder die Illusion zu erzeugen, mit der Realität identisch zu sein, wird das demonstrative und distanzierte Moment des Theaterspielens vor einem Publikum, der Akt des Auftretens und öffentlichen Sprechens, vor Augen geführt. Die Distanz, die sie erzeugen, ist auch eine Distanz der Experten zu sich selbst, zu ihren eigenen Geschichten. So auch Myriam Reitanos: Einer der anderen Darsteller trägt die Leiter herein und platziert sie hinter der Leinwand. Frau Reitanos steigt auf die Leiter und blickt durch den Ausschnitt in der Leinwand ins Publikum. In dieser Haltung bleibt sie während ihres gesamten Berichts stehen. Die Mittel sind offengelegt, die Erzählung von sich selbst verfremdet, der Bildausschnitt um ihr Gesicht und das Foto auf der Leinwand hinterfragen das Verhältnis von Reitanos zu ihrem Bild. Und auch inhaltlich reflektiert sie ihre eigene Geschichte, ihre Rolle in den Medien und ihre Rolle als Mutter kritisch. Sie distanziert sich auf diese Weise von dem ihr zugewiesenen Mutterbild und beansprucht für sich, Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu sein. Ihr selbstsicheres Auftreten auf der Bühne und die selbstkritische Distanz, die sie zu ih-

3

G.C. Tholen: Die Zäsur der Medien, S. 148.

R IMINI P ROTOKOLL | 217

rer eigenen Biografie einnimmt, konstituieren sie als ein solches Subjekt, das sich nicht auf die Rolle der Mutter oder gar des Opfers reduzieren lässt. Dies ist umso auffälliger, als ihre inzwischen zehnjährige Tochter Deborah ebenfalls auf der Bühne steht, beide aber gerade nicht in stereotypen Mutter-KindPosen inszeniert werden. Eine solch stereotype Mutter-Kind-Pose kommt nur einmal vor, und zwar wiederum als Reflexion der Funktionalisierung von Mutterschaft in der Mediengesellschaft, in diesem Fall als Werbeträger. Über Band wird ein Text aus dem Jahr 1998 eingespielt, in dem Sabena die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fluglinie zu Motivationszwecken als große Familie anspricht. Alle Darstellerinnen und Darsteller posieren dazu in der Art eines Familienporträts, in der Mitte Mutter und Tochter Reitanos, die Mutter hält die Tochter auf dem Arm, beide lächeln ins Publikum. Auf die Leinwand wird ein Werbeposter der Sabena projiziert: eine blonde Stewardess in Nahaufnahme, im Hintergrund ein Rollfeld, sie hält ein Kleinkind auf dem Arm, blonde Locken, Pausbacken, beide lächeln in die Kamera. In dieser Szene wird sowohl die Funktionalisierung der Figurengruppe MutterKind als Symbol von Glück, Harmonie und Sicherheit als auch diejenige von ›Familie‹ ausgestellt. Familie gilt dabei als eine ideale Gemeinschaft, die auf emotionalen Bindungen beruht, und Harmonie, Schutz und Zufriedenheit garantiert, wobei die Unterordnung unter die patriarchalische Autorität der Firmenleitung verschwiegen wird. Die ehemalige Sabena-Familie stellt diese Konstruktion aus, indem sie anti-illusionistisch posiert und die Mutter-Tochter-Gruppe das eingeblendete Werbemotiv parodiert. Eine solch ökonomische und politische Verwertung des konservativen Familienmodells wird in der Aufführung mit einer anderen Form des Miteinanders kontrastiert: mit der Gemeinschaft der miteinander Arbeitenden. Denn auffällig ist in Sabenation, wie die ehemals unter streng hierarchischen Bedingungen Tätigen nunmehr gleichberechtigt auf der Bühne zusammen agieren. Sie sind alle fast während der gesamten Aufführung auf der Bühne präsent, hören einander zu, helfen einander, bauen gemeinsam temporäre Bühneninstallationen auf und wieder ab, bringen einander Versatzstücke und Requisiten, kurz: die Theateraufführung und die Reflexion der eigenen Geschichte werden hier als gemeinschaftliche Praxis vor Augen geführt, an der jeder beteiligt ist und für die alle gleichermaßen Verantwortung tragen. Im Kontrast zu dem idealisierten Familienmodell, das durch das Gruppenporträt nachgestellt wird, realisiert die Aufführung auf der Ebene der Darstellung das Modell einer anderen, solidarischen und dehierarchisierten Form von Gemeinschaft. Die Distanz, die die Experten bei Rimini Protokoll zu ihren Geschichten und zu sich selbst einnehmen, hinterfragt letztlich das Konzept des natürlichen Selbstausdrucks, wie es mit der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert entstand, und wie es in bestimmten Formaten der Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts fortlebt. Eine solche Distanz der Darstellung zur Realität geht laut Richard Sennett in

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der »intimen Gesellschaft« verloren, ist ihm zufolge aber notwendig für das »Vermögen, zu spielen« und damit sich selbst und das Gesellschaftliche in Bewegung und reflektierbar zu halten.4 Die Beziehung von Mutter und Kind gilt als Inbegriff einer solchen distanzlosen Natürlichkeit und Intimität, die Offenlegung ihrer Konstruktion denaturalisiert sie und ermöglicht auf diese Weise die kritische Reflexion nicht nur dieser Beziehung, sondern auch der gesellschaftlichen Bedingungen, in die das Mutter-Kind-Ideal eingebunden ist.

1.2 Z UR F RAGE

DER

H ERKUNFT : B LACK T IE

Die Tochter von Myriam Reitanos, Deborah Reitanos, ist keine leibliche Tochter, sondern adoptiert, diese Tatsache wird in Sabenation aber nicht weiter thematisiert. Eine Aufführung von Rimini Protokoll, die sich explizit mit dem Thema Familie und Adoption auseinandersetzt, ist Black Tie, uraufgeführt im Jahr 2008 am Berliner HAU. In Black Tie berichtet Miriam Yung Min Stein, eine als Baby aus SüdKorea von einem deutschen Ehepaar adoptierte junge Frau, von ihren Kindheitserinnerungen und der Suche nach ihrer Herkunft. Für die Zeit vor dem ersten Dokument hat sie von der Adoptionsvermittlungsstelle nur die Information: »Du wurdest am 7.7.1977 vor dem Rathaus von Seoul in einer Schachtel gefunden, umhüllt von Zeitungspapier.«5 Und selbst diese Information stellt sich im Laufe der Aufführung als Fiktion heraus, als Geschichte, die offensichtlich vielen Adoptivkindern mit auf den Weg gegeben wurde. Miriam Stein berichtet in der Aufführung von der Erfahrung der Fremdheit, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Ein Befremden zwischen Umwelt und ihr selbst, das Befremden, in Osnabrück hineinzuwachsen in einen Körper, der koreanisch wirkt, der ein anderes Land, eine andere Kultur mit sich herumträgt, ohne dieses Land, diese Kultur zu kennen. Sie stellt dabei ihre eigene Geschichte in den Kontext der koreanischen Geschichte, indem sie die Zuschauerinnen und Zuschauer, begleitet von historischen Fotografien, in der Ersten Person Singular durch diese Geschichte führt: »Ich bin Josef Stalin und ich errichte in Nord-Korea eine Militärregierung. Ich bin Franklin Roosevelt und ich errichte in Süd-Korea eine Militärregierung […].« Auch ihre deutsche Familie stellt sie zunächst, leicht polemisch, aus der Sicht ihrer Eltern, gesprochen in der Ersten Person Singular, vor: »Ich bin Friedgart und Eberhardt Stein. Wir haben schon zwei leibliche Kinder und wir sehen das Elend der Welt. Wir kontaktieren Terre des Hommes, füllen Anträge aus, führen Gespräche und werden als geeignet eingestuft […]«. Die grammatikalische

4

R. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 335, 339.

5

Alle Zitate nach der Aufzeichnung der Aufführung von Rimini Protokoll.

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Form verweist auf die Brüchigkeit von Identitätskonstruktionen, auf die Schwierigkeit, ›ich‹ zu sagen und zu meinen, und verfremdet die persönliche Biografie sowie die Beziehung zwischen Eltern und Tochter. Abbildung 30: Miriam Stein in Black Tie von Rimini Protokoll, Berlin 2008

Quelle: Rimini Protokoll, © Rimini Apparat

Stein zeigt die Fotografie einer Familie bestehend aus Vater, Mutter und zwei blonden Kindern, aus der eine Person ausgeschnitten wurde – Miriam wird dargestellt als Loch, als Leerstelle in der Familie, sie bleibt Fremdkörper, »nie ganz drinnen, aber auch nicht ganz draußen«, wie sie sagt. Sie zeigt weitere Familienfotos, beginnend mit dem Tag ihrer Ankunft, und berichtet dabei von dem Gefühl der Fremdheit, das sie nie losließ: »Du schaust in den Spiegel und bist dir selbst fremd, du siehst anders aus als die anderen, du bist den anderen fremd, dieses Fremde ist dir aber auch fremd.« Auf den Fotos ist diese Fremdheit als Andersartigkeit sichtbar: Es sind übliche Familienbilder, teils gestellt, teils Schnappschüsse, immer sind die Familienmitglieder nah beieinander, meist mit körperlicher Berührung, und immer lächeln die Eltern, meist auch die älteren Geschwister in die Kamera. Miriam fällt auf: Sie hat dunkle Haut und schwarze Haare, alle anderen haben sehr helle Haut und blonde Haare. Dass dieser Unterschied als Fremdheit wahrgenommen wird, ist allerdings in erster Linie auf den Text Miriam Steins zurückzuführen, der diese Fremdheit immer wieder benennt; sie ist letztlich eine sprachliche Konstruktion.

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Die Familienfotos zeigen Familie als eine harmonische Einheit, die sich über die Zusammengehörigkeit definiert. Das Familienmodell der Eltern-Kind-Familie, die räumlich, emotional und physisch eng zusammenhängt, wirkt glücksversprechend. Weder auf den Bildern noch in den Erinnerungen von Miriam Stein wird das Umfeld der Familie thematisiert, Familie erscheint als nach außen geschlossene Einheit und als alleiniger Ort, an dem Identität und Zugehörigkeit gestiftet werden. Die Familie Stein beruht bis zu der Adoption Miriams auf biologischer Verwandtschaft, mit Miriam kommt ein nicht leiblich verbundenes Familienmitglied hinzu. Das Prinzip der Adoption behauptet die Äquivalenz von leiblichen und nichtleiblichen Eltern-Kind-Verhältnissen, widersetzt sich in gewissem Maße dem Ideal der biologischen Familie. Miriam Stein erzählt in Black Tie die Geschichte ihrer Adoption als eine, in der das nicht-leibliche Kind nie ganz dazu gehört und die Familie gerade nicht als Hort der Geborgenheit funktioniert. Die Familie Stein bemüht sich, das Fremde zu integrieren, es ein- statt auszuschließen; Miriam Stein sagt, dies funktioniere nicht, es handele sich um einen »Ausschluss durch Einschluss«. Und die Familienfotos scheinen ihr recht zu geben: umso mehr sie Familie als homogene Einheit inszenieren, umso fremder wirkt das dunkelhäutige Kind. Das Modell der Kleinfamilie verträgt die Andersartigkeit der Einzelnen offensichtlich nicht; Eigenes und Fremdes bleiben geschieden. Miriam Stein spricht immer wieder von der Suche nach ihrer Herkunft. Sie fährt 2006 zum ersten Mal nach Südkorea, begibt sich auf die (erfolglose) Suche nach ihren leiblichen Eltern, sucht aber vor allem auch ein Gefühl der Zugehörigkeit als Einzelne in der Masse: »Ich war einfach nur eine von vielen«. Auch hier wird deutlich, dass Familie als eine Einheit verstanden wird, die Geborgenheit und Einheitlichkeit stiftet und das Gefühl des Andersseins nicht zulässt. Stein findet in Seoul ihr Familienbuch, in dem unter den Stichworten Mutter und Vater jeweils »keine Angabe« steht. Laut koreanischem Familienbuch ist sie »eine Familie aus einer Person«. Die Aufführung lässt dieses Paradox als Frage offen im Raum stehen: Kann das eine Familie sein? Was heißt Familie? In Black Tie werden sowohl die kulturelle als auch die biologische Herkunft auf ihre identitätsstiftenden Effekte befragt. Beides hängt laut Inszenierung zusammen, denn Miriam Stein fehlt ein Teil ihrer kulturellen Identität, die koreanische, die aber eben nur aufgrund ihrer Geburt bzw. genetischen Herkunft zu ihr gehört. Auf die Suche nach dieser genetischen Herkunft begibt sich Stein schließlich mit Hilfe der Humangenetik: Sie lässt ihr Genom entschlüsseln, um etwas über ihre leiblichen Eltern herauszufinden. Was sie findet, sind aber nur Krankheiten: ein erhöhtes Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken seitens des Vaters, ein erhöhtes Alzheimer-Risiko seitens der Mutter. Es zeigen sich nunmehr die Grenzen der Biologie als Garant von Identität, Zugehörigkeit und Familie: Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms sagt nichts aus über den Einzelnen, über subjektive Empfindungen oder zwischenmenschliche Beziehungen. Und das wird letztlich schon zu Beginn der Auf-

R IMINI P ROTOKOLL | 221

führung deutlich, wenn Stein erläutert, dass sie auf der ausgedruckten Abschrift ihres ›Bauplans‹ stehe, und dass ihr Genom sich nur in 0,1 % von demjenigen eines »massigen, amerikanischen Mannes mittleren Alters« unterscheide. Black Tie kreist um die Frage, welche Rolle Herkunft und Familie für die eigene Identität spielen. Wie erzählt man die eigene Geschichte, wenn ihre Aufzeichnung erst mit der Ankunft auf einem deutschen Flughafen beginnen kann? Und wenn selbst die modernste Forschung nicht weiterhilft? »Ich werde an diesem Abend 276 mal ›ich‹ sagen und nie genau wissen, wen ich meine«, sagt Miriam Stein am Anfang von Black Tie. Das autobiografische Erzählen auf der Bühne ist immer eine Frage nach der eigenen Identität – was heißt es, wenn ich ›ich‹ sage, wen meine ich? Black Tie fragt im Speziellen: Und inwiefern hängt das mit meiner biologischen Herkunft und der sozialen Familie, in der ich aufwachse, zusammen? Miriam Stein stellt diese Frage nach der Konstitution von Identität und Subjektivität immer wieder. Sie kann sie nicht abschließend beantworten, kann aber momenthafte Positionen des Ich stark machen – ›ich‹ sagen vor einem Publikum – und zugleich als ungesicherte mitteilen. Eine Subjektivität, die im Prozess ist und sich ständig selbst befragt und dabei auch unsere Vorstellungen von Familie und Verwandtschaft auf die Probe stellt. Die Adoption wird in der Queer Theory als ein Beispiel für Verwandtschaftsbeziehungen verstanden, die nicht auf Biologie und heterosexueller Ehe gründen. So plädiert etwa Judith Butler dafür, Verwandtschaft vom Modell der biologischen Kernfamilie zu lösen und als eine gelebte Praxis zu verstehen, die auf die gemeinsame Bewältigung »elementarer Formen menschlicher Abhängigkeit« wie z.B. Kindererziehung zielt.6 Black Tie spricht letztlich gegen ein solch nicht-biologisch begründetes Verwandtschaftsmodell, da es die biologische Herkunft als Grund eines fundamentalen Sich-Fremd-Fühlens in der (nicht-biologischen) Familie beschreibt. Rimini Protokoll fokussieren in der Aufführung allerdings das Thema der Adoption aus Ländern der sogenannten Dritten Welt und deuten es als eine Form westlicher Kolonisation. Familie wird dabei stillschweigend als Hort des mit sich selbst Identischen vorausgesetzt, ohne dieses Familienmodell zu hinterfragen. Allerdings lässt die Aufführung offen, ob das Gefühl der Fremdheit nicht gerade mit eben diesem Familienmodell zusammenhängt. Das Scheitern einer Identitätsfindung mittels Genom-Analyse hinterfragt zugleich biologistische Erklärungsansätze für Identität und Subjektivität. Und auch das Spiel mit der Grammatik, mit der Behauptung, ›ich‹ zu sagen, verweist auf die Brüchigkeit von Identitätskonstruktionen und die ungesicherte Rolle, die biologische Verwandtschaft dabei spielt. Rimini Protokoll überlassen den Experten aus der Wirklichkeit die Bühne. Aus reduzierten Mitteln konstruieren sie einen theatralen Rahmen, in dem die Experten 6

J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 168.

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auftreten und als solche ausgestellt und zugleich geschützt werden. Dieser theatrale Rahmen macht sichtbar, dass die Wirklichkeit durch ihre Übersetzung in das Theater fiktionalisiert, theatralisiert wird. Auf der Bühne von meinem Leben zu erzählen heißt, dieses Leben als erzählbare Geschichte zu erfinden. Das autobiografische Erzählen wird nicht nur als Authentifizierungs-, sondern ebenso als Fiktionalisierungsstrategie eingesetzt. Indem Miriam Stein durch die klare Rahmung, den demonstrativen Charakter des Berichtens, ihre Ich-Erzählung verfremdet und eine Distanz zu sich selbst einnimmt, hinterfragt sie nicht nur die Motive ihrer Adoptiveltern, sie aus Südkorea nach Europa zu holen, sondern auch sich selbst, ihre eigene Vorstellung von Herkunft und Familie und biologisch fundierter Identität.

2. Die Kleinfamilie als Hort der Gewalt

Die Darstellung von Gewalt im Inneren der Familie ist ein wesentliches Thema im Drama des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Franziska Schößler macht den Inzest als zentrales Motiv des Dramas der 1990er aus: »Inzest scheint deshalb zum beliebten Sujet des Dramas der 90er Jahre zu werden, weil so die interne familiale Gewalt in besonderem Maße fassbar wird und dem allgemeinen Interesse an Gewalt Rechnung getragen werden kann.«1 Mehr noch als ein ›allgemeines Interesse an Gewalt‹ scheint das Motiv des Inzests die Gewalt zu betonen, die aus den familiären Strukturen selbst entspringt. Die Kleinfamilie wird als strukturell gewalttätig, ihre Charakteristika wie väterliche Autorität und enge emotionale Bindungen werden als Grund von Inzest, sexuellem Missbrauch, Misshandlungen und gewalttätigen Konflikten bzw. eines Dauerzustands von Gewalt dargestellt. Hier wären etwa Stücke der britischen Dramatik zu nennen, z.B. von Marina Karr oder , Sara Kane (z.B. Phaedra s Love, 1996), auch neuere britische Dramatik etwa von Dennis Kelly (z.B. Waisen, 2009), die dramatischen Bearbeitungen des DogmaFilms Das Fest von Thomas Vinterberg (1998) oder auch seiner Fortsetzung, Das Begräbnis (2010), sowie deutschsprachige Dramen wie Tätowierung von Dea Loher (1992) oder Feuergesicht von Marius von Mayenburg (1998). Sowohl Vinterberg als auch letztere beide beschäftigen sich mit den Motiven des Inzests und Missbrauchs, wobei Dea Loher den Grund des Inzests nicht in einer Perversion allein des Vaters festmacht, sondern in der »inzestuösen Familie«, also der bürgerlichen Familie als geschlossener Gemeinschaft, die ihrer Struktur nach inzestuös und gewalttätig ist.2 Die Familie ist in all diesen Fällen nicht ein Ort des Schutzes vor äußeren Bedrohungen, sondern selber ein Hort der Gewalt: »Der familiäre ›Schutzraum‹ wird als Kampfarena für Geschlechter- und Generationenkonflikte entlarvt«.3 Im Drama der Jahrtausendwende wird das explizit, was bereits in Les-

1

F. Schößler: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel, S. 95.

2

G. Heeg: »Familienbande«, S. 304-305.

3

L. Petrovic-Ziemer: Mit Leib und Körper, S. 295.

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sings Emilia angelegt ist: die Bedrohung der physischen wie psychischen Unversehrtheit des Einzelnen ist keine der Familie äußerliche, sondern entsteht im Inneren der Familie selbst, ist Konsequenz ihrer Ordnungs-, Beziehungs- und Machtmechanismen. Gerade die Intimität der Familie wird, im Zusammenspiel mit der patriarchalen Macht, zu einem gewalttätigen Zwang. Im Folgenden werden zwei Theaterarbeiten vorgestellt, die sich ebenfalls mit gewalttätigen familiären Strukturen beschäftigen und dabei gerade auch die Frage der Intimität theatral reflektieren. Es handelt sich um Conte d’Amour von Markus Öhrn, Nay Rampen und Institutet (Berlin, Ballhaus Ost 2010) und John Gabriel Borkman von Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen (Berlin, Prater der Volksbühne 2011); beide zu sehen auf dem Theatertreffen 2012. Während Conte d’Amour keinen Dramentext zur Grundlage hat, basiert John Gabriel Borkman auf dem gleichnamigen Stück Henrik Ibsens, entfernt sich aber in einer zunehmend die performativen Elemente des Theaters exzessiv auskostenden Aufführung weitgehend von ihm. Beides sind Theaterarbeiten, die mit Tabubrüchen sowohl auf der Ebene des Dargestellten als auch der Darstellung arbeiten und auf diese Weise nicht nur das dargestellte patriarchale Familienmodell, sondern auch das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit hinterfragen. Indem sie das Konzept der Intimität sowie der familiären Gemeinschaft sowohl auf inhaltlicher als auch ästhetischer Ebene bearbeiten, stellen sie das Thema Familie in einen gesellschaftlichen Kontext: »An den Trümmern der Familie zeigt sich die Gewalt der Gemeinschaft«, schreibt Günther Heeg.4 In beiden Arbeiten unterbricht die dargestellte Gewalt auch das Verhältnis von Publikum und Bühne, von Theater und Realität, sodass die Darstellung familiärer Gewalt auch die gegenwärtige Gesellschaft auf ihr Verhältnis zu dem ihr Anderen befragt.

2.1 D IE

INZESTUÖSE

F AMILIE : C ONTE D ’A MOUR

Conte d’Amour, eine Koproduktion des schwedischen Kollektivs Institutet und des finnischen Kollektivs Nya Rampen in der Regie von Markus Öhrn, orientiert sich an dem Fall »Joseph Fritzl«. Die Geschichte des Österreichers Joseph Fritzl, der seine Tochter vierundzwanzig Jahre lang in einem Keller unter dem Einfamilienhaus einsperrte, misshandelte und missbrauchte und dabei sieben Kinder zeugte, hat im Jahr seines Bekanntwerdens 2008 eine Flut von Medienberichten und kritischen Auseinandersetzungen mit dieser Berichterstattung ausgelöst. Auch einige Künstlerinnen und Künstler haben sich in den Folgejahren mit dem Fall selbst und seiner medialen Repräsentation auseinander gesetzt, beispielsweise Katrin Röggla (die be-

4

G. Heeg: »Familienbande«, S. 303.

D IE K LEINFAMILIE ALS HORT

DER

G EWALT | 225

teiligten, 2009) und Elfriede Jelinek (Faustin and out, 2012). Der Fall Fritzl steht für eine Doppelmoral, die hinter der Fassade der Bürgerlichkeit Ungeheuerlichkeiten produziert, für Perversionen, die diese Moral in Gestalt des autoritären Vaters und seiner Verfügungsgewalt über die Körper der anderen Familienmitglieder selbst generiert, und für die Brutalität und Unheimlichkeit des Alltäglichen und Privaten, die sich in der Ausstattung des Kellers offenbarte, die einer Kopie bürgerlicher Idylle glich. In Conte d’Amour setzt sich nun ein reines Männerensemble mit der Frage familiärer Beziehungen, patriarchaler Macht und der Unheimlichkeit des Intimen auseinander.5 Es inszeniert das alltägliche Leben der Kleinfamilie in seiner pervertierten Gestalt: Intime Bindungen werden zu inzestuöser Gewalt, Liebe zu gewalttätiger Inbesitznahme, Demütigung und Verlassenheit. Auf der Bühne ist ein großes Gerüst mit Wänden aus Spanplatten aufgebaut, nach vorne mit einer dicken, opaken Plastikplane verschlossen, oben auf diesem Gebäude eine Wand mit zwei Projektionsflächen, davor ist mittels weniger Möbelstücke – ein Sofa, eine Topfpflanze, ein kleines Schränkchen – ein Wohnzimmer dargestellt. Um das Bühnengebäude ist ein Streifen Rasen und ein Miniatur-Zaun aufgebaut, beides zitiert die Vorstellung einer kleinbürgerlich-vorstädtischen, heilen Welt. Der Bühnenraum rekonstruiert die zwei Seiten der Bürgerlichkeit von Amstetten: oben bzw. außen das kleinbürgerliche Idyll des Einfamilienhauses, unten, rundherum verschlossen und durch die Folie den direkten Blicken der Zuschauerinnen und Zuschauer entzogen, der Keller, die andere Realität der bürgerlichen Moral. Dieser Raum, der sich sogar den Blicken der Zuschauer gegenüber verschließt, repräsentiert die Geschlossenheit der Kleinfamilie, die sich in den Raum des Privaten zurückzieht. Er wird zu einem Ort des Unheimlichen und der Gewalt, der Schutz des privaten Heims zu einem Kerker der Intimität. Überspitzt wird hier die Logik des abendländischen Diskurses der Intimität und der patriarchalischen Familie dargestellt, der den Wunsch nach einem solchen abgeschotteten Raum kreiert, in dem der Vater allmächtig herrschen kann. Auffälligste Eigenschaft dieses Bühnenraums ist der Entzug der Sichtbarkeit – fast die gesamte Aufführung spielt in dem Kellerraum und ist somit den direkten Blicken der Zuschauerinnen und Zuschauer entzogen. Das Geschehen wird live über Video auf die beiden Leinwände auf dem Bühnengebäude übertragen, sodass man die Aktivitäten der Schauspieler einerseits verschwommen im Bühnenraum wahrnimmt, gleichzeitig durch zwei Kameras gelenkt auf den Leinwänden. Wir haben es also mit einem gebrochenen Blick zu tun – zum einen durch die Folie, zum anderen durch die mediale Vermittlung. Diese Blickkonstruktion hinterfragt das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarem, von Zeigen und Verbergen, Öffentlichkeit und Intimität, ein Verhältnis, das sich im Zuge der Verbürgerlichung der 5

Schauspieler: Jakob Öhrman, Elmer Bäck, Rasmus Slätis, Anders Carlsson.

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Gesellschaft ab dem 18. Jahrhundert neu gestaltet und mit dem die Vorstellung eines natürlichen Selbstausdrucks im Inneren der Familie und einer künstlichen Selbst-Repräsentation nach außen einhergeht. Dieses Verhältnis verändert sich im Laufe des 20. Jahrhunderts, zumal in den 1990ern, in denen zunehmend auch das Private und Alltägliche öffentlich inszeniert wird – die Kamera im Inneren, die das Geschehen live nach außen überträgt, erinnert an TV-Formate wie Big Brother vom Ende der 1990er Jahre; und sie findet auf dem Theater des 21. Jahrhunderts vielfältige Verwendung. Denn auch das Theater lebt von einem spezifischen Verhältnis von Zeigen und Verbergen, von An- und Abwesenheit, das mit Hilfe dieser Technik des Verbergens und vermittelten Zeigens hinterfragt wird. Die Ästhetik des bürgerlichen Theaters geht davon aus, dass der Theaterzuschauer einen Blick in das Innere der Familie werfen kann, ohne sich selbst zu erkennen zu geben, und ohne in die Intimität der dargestellten Realität einzudringen. Die gedachte vierte Wand schützt sowohl die dargestellte Intimsphäre auf der Bühne, als auch das Publikum vor einem möglichen Übergriff. Die Folie in Conte d’Amour materialisiert nicht nur die Geschlossenheit des Kellerverlieses, das Inzest, Gewalt und Missbrauch vor den Augen der Öffentlichkeit verbirgt, sondern auch diese vierte Wand Diderots, die mit der bürgerlichen Familie in der ›häuslichen Tragödie‹ auch die geschlossene Repräsentation auf das Theater brachte. Für das Schauspiel bedeutet die geschlossene Repräsentation den Versuch, die dargestellten Figuren realistisch zu verkörpern, um den Zuschauer zu täuschen und die Gemachtheit des Theaters zu verbergen. Conte d’Amour legt die mediale Konstruktion offen, zugleich legt die Blick- und Kameraführung aber nahe, man habe tatsächlich an einem intimen Geschehen Anteil, schaue durchs Schlüsselloch ins Innere der Familie, und nähme gerade nicht an einem Darstellungsprozess teil, sondern an einem realen Vorgang. Dieser Eindruck wird durch die Dauer der Aufführung und viele, oft lange Phasen der Ereignislosigkeit, in denen die Darsteller lediglich dasitzen oder ziellos herumlaufen, verstärkt. Diese Illusion der Authentizität wird durch Strategien der Verfremdung, z.B. den direkten Blick der Performer in die Kamera, aber auch gebrochen. Zu Beginn der Aufführung sitzt ein Mann in Bademantel, Unterhose und Socken auf dem Sofa oben auf dem Dach des Bühnenhauses, die nackten Beine zum Zuschauerraum hin geöffnet, so dass man ihm in den Schritt sieht. Er hantiert mit lebensgroßen Puppen aus Stoff, die er umarmt, streichelt, küsst usw. Sie sind auffällig schlaff, sodass ihre leblose Objekthaftigkeit betont wird. Dann steigt er in den Keller. Dieser ist zunächst komplett dunkel, nur das Licht seiner Taschenlampe ist als Lichtkegel hinter dem Plastik sichtbar. Hier unten lebt seine Tochter, mit der er zwei Söhne hat. Die Kellerrealität deutet zunächst ein bürgerliches Familienidyll an: der Vater kommt nach Hause, bringt Essen für seine Familie mit, für seine Frau, die zu Hause bleibt, und seine Söhne, die »We love you, Daddy« rufen. Aber sie

D IE K LEINFAMILIE ALS HORT

DER

G EWALT | 227

tun dies mit merkwürdig verzerrten Stimmen, und auch die Dunkelheit verunsichert die Rezeption, weil man nicht genau erkennen kann, was geschieht. Auch verweist das Essen zwar auf ein gemeinsames Familienessen, das die familiale Gemeinschaft quasi rituell bestätigt bzw. erneuert. Es findet aber nicht, wie in der Tradition der Familie und in ihren unzähligen medialen Darstellungen, am gemeinsamen Esstisch statt, sondern vereinzelt im dunklen Raum, und gegessen werden Pommes Frites einer bekannten Fast-Food-Kette. Der Vater verteilt das mitgebrachte Junkfood nacheinander an die Familienmitglieder und füttert seine Tochter/Frau und einen Sohn. Die Assoziation einer religiösen Speisung durch den selbst ernannten Messias wird dabei durch ein gieriges, nur allzu profanes In-den-Mund-Stopfen der Pommes Frites konterkariert. Auf diese Weise wird das angedeutete Familienidyll zusehends zu einem Zerrbild seiner selbst – zum einen auf der Ebene der dargestellten familiären Beziehungen, die immer obszöner werden, zum anderen auf der Ebene der Darstellung, und zwar mittels verschiedener Formen der Verfremdung. Die offensichtlichsten sind die bereits erwähnte Brechung des Blicks durch die mediale Konstruktion, dann eine Langsamkeit und repetitive Struktur, die die Zuschauer in eine ähnliche Situation des Wartens bringt, wie diejenige der Figuren im Keller, und ein fast vollständiges Fehlen des Dialogs als sprachlichem Ausdruck der zwischenmenschlichen Kommunikation. Verfremdend wirkt auch die Darstellung der gesamten Familie durch Männer. Das Cross Casting der Frau und Tochter wird dabei nicht durch Virtuosität oder einen naturalistischen Schauspielstil übertüncht, sondern als distanzierendes Mittel ausgestellt. Diese Familie, in der die Kinder ihrem Vater sexuell zu Diensten sind und die Tochter sich scheinbar ohne Zwang der Herrschaft des Vaters unterwirft, ihm tatenlos zusieht oder sich selbst als sexualisiertes Objekt in Szene setzt, ist eine reine Männerphantasie, in der die Frau als Subjekt nicht vorkommt. Die Dunkelheit der Anfangssequenz, in der das schummrig-gelbe Licht einer Taschenlampe die einzige Lichtquelle ist, exponiert die Familiensituation als eine ambivalente, zugleich heimelig, heimlich und unheimlich. Heimlich wird heute nur noch im Sinne von »geheim, verborgen« verwendet, stammt aber von Heim ab, meint also ursprünglich »zum Hause gehörig, vertraut«.6 Das warme, punktuelle Licht betont die Situation des Heimeligen und Heimlichen im Inneren des familiären Heims, zugleich vertraut und abgeschottet, geheim gehalten. Wie Siegmund Freud darlegt, ist das Unheimliche nicht das Gegenteil des Heimlichen, sondern trägt das Heimliche in sich: »Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich«.7 Es ist ein Heimliches, das verdrängt wurde, ein ›wiederkehrendes Verdrängtes‹: »Dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung ent6

Duden Band 7, S. 330.

7

S. Freud: »Das Unheimliche«, S. 237.

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fremdet worden ist«.8 Unheimlich finden wir das, was wir nur allzu gut kennen und verdrängt haben, und das uns nun in seiner Wiederkehr Angst bereitet. Unheimlich ist in der Aufführung gerade das Heimliche, das wir alle kennen: das Heim, die Familie, die intime Nähe. Freud führt als ein Beispiel für das Unheimliche die Angst vor der Dunkelheit auf die kindliche Phantasie vom Leben im Mutterleib zurück; und tatsächlich erinnert das schummrige Licht hinter der Plastikfolie an eine solche Höhle, in der die Differenzen verschwimmen. Das Heim, die Familie, der Keller steht für ein solches Verschwimmen von Differenzen, von klaren Rollen und Identitäten, für eine Symbiose im Dunkeln, abgekapselt von der Öffentlichkeit, eine inzestuöse Verbindung, die zugleich heimlich und unheimlich ist: die die Norm der bürgerlichen Familie (über)erfüllt und dabei die Einzelnen gewalttätig bindet und ihrer Identität beraubt. Die regressiven Tendenzen der inzestuösen Phantasie werden in mehreren Szenen betont, etwa wenn der Darsteller des Vaters nackt in Embryonalhaltung auf dem Boden liegt und minutenlang »Mutti Mutti Mutti« wimmert. Allerdings wird diese Vorstellung einer vorsprachlichen Symbiose mit der Mutter nicht an einen realen weiblichen Körper gebunden, sondern durch das Cross Casting als eine männliche Phantasie ausgestellt. Die Inszenierung spielt immer wieder mit Formen des Unheimlichen, mit dem Vertrauten, das zum Schrecken wird, mit Zeichen für Verdrängtes, das ausagiert wird, und mit dem Verhältnis von Verbergen und Zeigen, auf das sich das Wortpaar heimlich und un-heimlich auch beziehen lässt. Denn zunächst ist es die Unschärfe, die das Dargestellte unheimlich werden lässt: wir ahnen mehr als dass wir sehen, und werden so auch mit unseren eigenen Phantasien konfrontiert. Zunehmend jedoch wird das Dargestellte offensichtlich pervers im Sinne von ›verdreht, verkehrt‹ und obszön: Der Darsteller des jüngeren Kindes wälzt sich in Windeln und Wollstrumpfhosen auf dem Boden, wobei er nicht nur kindliche Bewegungen nachahmt, sondern auch sexuelle Lust und Selbstbefriedigung. Der Vater kniet sich neben ihn, betrachtet ihn, zieht ihm dann Windel und Strumpfhose hoch, immer wieder, ein Stoßen in Zeitlupe. Dann steht das Kind auf und spielt eine andere Rolle: mit zu einem Dauerlächeln verzerrtem Mund und verstellter Stimme heißt er den Vater willkommen, lächelt in die Kamera, fragt, ob er eine Massage möchte und spricht von seinem wunderschönen Körper. Er kniet sich vor ihn hin und beginnt, seinen Bademantel zu öffnen, was dann geschieht, ist dem Kamera- und Zuschauerblick entzogen, man hört nur das Lachen des Vaters. Auf diese Weise werden Inzest und Missbrauch zunächst angedeutet, ohne direkt gezeigt zu werden. Zugleich werden Rollenklischees und rassistisch-sexistische Stereotype aufgegriffen und durcheinander gewürfelt: der weiße, heterosexuelle Mann, der sich von ei-

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Ebd., S. 254.

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ner Asiatin sexuell bedienen lässt, der Vater, der seinen Sohn zum Sexdiener degradiert, der Sohn, der seinen Vater verführt. Das Prinzip des Cross Castings wird auf diese Weise weitergeführt: nicht nur die Geschlechtsidentitäten, auch die Identitäten und Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen werden verfremdet, unterbrochen und pervertiert. So spielt der Schauspieler des jüngeren Sohnes manchmal ein greinendes, strampelndes Kleinkind, manchmal einen mephistophelischen Verführer, der den Vater im Griff hat und gleichzeitig dessen sexuelle Phantasien bedient. Teilweise entwickelt sich ein sadomasochistisches Verhältnis zwischen beiden, in dem das Kind die dominante Rolle spielt. Dann wieder prügeln beide Brüder scheinbar völlig unkontrolliert auf den Vater ein, treiben ihn in die Ecke, hinters Sofa, und nehmen ihn brutal von hinten. Zwischen den »Eltern« gibt es keine Berührung; die Rollenverteilung innerhalb der Familie ist nicht klar durchschaubar, Identitäten und Beziehungen werden immer wieder gebrochen. Da ist der Vater, der, entsprechend der traditionellen Vaterrolle, aus der Außenwelt kommt und selbstbestimmt zwischen Außen und Innen wechseln kann, weibliche Puppen zur Hand nimmt für seine Bedürfnisbefriedigung, sich umschwärmen und sexuell bedienen lässt, mithin eine zentrale und dominante Rolle spielt, aber später auch in die devote Rolle wechselt, von seinen Söhnen geschlagen, gedemütigt und vergewaltigt wird. Da ist die Tochter/Mutter, die, ebenfalls überzogen, die stereotype Weiblichkeitsrolle der stummen Passivität erfüllt, sie liegt oder sitzt fast die gesamte Aufführung auf einem Sofa in der hinteren Ecke des Raums, hat also einen festen Ort zugewiesen, den sie kaum jemals verlässt, und spricht fast kein einziges Wort. Zeichen für Mütterlichkeit gibt es keine. Im Gegenteil, ihr Kostüm betont ihre Kindlichkeit, in rosa Leggings und einem pinken TShirt mit Glitzer-Applikationen ist sie wie eine Fünfjährige gekleidet, sexuell konnotierte Bewegungen, Rauchen und eine tiefe Stimme brechen dieses Aussehen, verfremden aber nicht unbedingt die Mädchendarstellung, sondern verstärken eher die Lolita-Assoziation. Sie wird als Objekt des Begehrens in Szene gesetzt, sowohl des Vaters, der sie immer wieder betrachtet, vor ihr onaniert, sie aber nicht berührt, als auch des Kamera- bzw. Zuschauerblicks, für den sie sich während eingeschobener Songs, die sie in ein Mikro haucht, in Pose wirft. Eine reine Männerphantasie: passiv wartend auf dem Sofa liegend oder sich als fetischisiertes Sexobjekt um Mikro und Tanzstange räkelnd. Allerdings übernimmt sie während der Songs auch die Kontrolle über den Zuschauerblick, blickt in Großaufnahme direkt in die Kamera und ignoriert den »Mutti« jammernden Vater vollständig. Im Keller ist also verkehrte Welt; Rollenbilder der heterosexuellen Familie werden übersteigert, verzerrt und in ihr Gegenteil gewendet: Erwachsene spielen Kinder, die sich wie Erwachsene verhalten, Sex haben, verführen und vergewaltigen. Der Vater rollt sich heulend auf dem Boden, und ist doch der Einzige, der die

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Gewalt über den Keller und seine Grenzen hat. Die Mutter wird lediglich zeichenhaft behauptet und bleibt als phantasmagorisches Objekt völlig isoliert. Auch die sprachliche und akustische Ebene ist verfremdet; es wird wenig gesprochen, statt dessen hört man verzerrte Musik oder Geräusche, die überzogen laut aus dem Inneren übertragen werden, z.B. lautes Schmatzen, Lachen oder Schreien. Im Sprechen sind die Stimmen stark verfremdet oder einzelne Sätze werden zigmal wiederholt. Das Geschehen findet fast ausschließlich betont langsam statt; diese Zeitdehnung verstärkt die Orientierungslosigkeit: man ist verwirrt über die Rollenspiele, vieles bleibt dem Blick entzogen, der Text ist nur schwer verständlich und es gibt keine Dialoge, die zu einer Klärung der genauen Beziehungen beitragen würden. Als Zuschauerin oder Zuschauer ist man einerseits dezidiert ausgeschlossen aus dem Bühnenraum, zugleich wird man bedrängt durch die Obszönität der Bilder und die hohe Lautstärke vieler Szenen. Es ist auch eine Verwirrung ethischmoralischer Kategorien: hier wird unter dem Titel »Geschichte der Liebe« eine gewalttätige Situation dargestellt, an der scheinbar alle aktiv und sogar lustvoll beteiligt sind. Auf der Ebene der Darstellung hinterfragt die Aufführung das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit. Der geheime Blick in das Innere durch das Schlüsselloch Kamera offenbart den Schrecken der Intimität; das Alltägliche, vermeintlich Natürliche gebiert hier Monster. Die Zuschauer werden in die Position von unfreiwilligen Voyeuren gebracht, die Schaulust aber nicht bedient, sondern durch die Überzeichnung abgestoßen. Es ist die Familie selbst, die hier den Schrecken gebiert. Die patriarchale Familie gründet auf dem Besitzanspruch des Vaters den anderen Familienmitgliedern gegenüber, auch wenn die Gewalt dieses Besitzanspruchs von den Vorstellungen romantischer Liebe und liebevoller Väterlichkeit überdeckt wird. In der Aufführung ist der Vater aber nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Er wird geschlagen, vergewaltigt, in die Ecke verbannt. Der Keller ist ein Raum tabuisierter Phantasien inzestuöser Sexualität und Gewalt. Diese Inzest- und Gewaltphantasien werden als das Verdrängte der bürgerlichen Familie dargestellt, das im Geheimen – und auf unheimliche Weise – seine Wiederkehr feiert. Nicht umsonst nennt Foucault den Inzest ein »unheimliches Geheimnis und unerläßliches Bindeglied« der bürgerlichen Gesellschaft, die sich in der Familie realisiert. In der Familie nimmt der Inzest Foucault zufolge einen zentralen Platz ein, »hier wird er ständig bemüht und abgewehrt, gefürchtet und herbeigerufen […], ist der Inzest streng verboten, und gleichzeitig wird er ständig in Anspruch genommen, damit die Familie der Dauerbrennpunkt für die Sexualität bleibt.«9 Für die Familie ist also nicht nur die Einhaltung des Inzestverbots, das Foucault mit Freud als »Schwelle aller Kultur« bezeichnet,10 wesentlich, mehr noch ist es ihm zufolge das 9

M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 131.

10 Ebd., S. 132.

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»Inzestverlangen«, das die Familienmitglieder aneinander bindet und das spezifische Sexualitätsdispositiv erzeugt, das die bürgerliche Gesellschaft kennzeichnet. Dieses Sexualitätsdispositiv meint nach Foucault die Verbindung von Sexualität und Macht, die dazu führe, dass über die Produktion von Sexualität die Körper und Subjekte ›vermehrt, erneuert, erfunden‹ und kontrolliert würden. Die »Intensivierung des Körpers« in der bürgerlichen Familie sei ohne das Inzestverlangen nicht zu denken.11 Die inzestuösen Beziehungen, die in der Aufführung dargestellt werden, können also als ein Verdrängtes oder Verleugnetes der Familie gelesen werden, das zugleich grundlegend für sie ist. Die drastische Form der Darstellung kommt einer Kritik an der inzestuösen Struktur der Kleinfamilie gleich. Sie verunsichert die Zuschauer auf mehreren Ebenen. Zum einen werden sie durch die Dauer und klaustrophobische Enge, durch die Langsamkeit, weitgehende Sprach- und Handlungsarmut sowie repetitive Struktur der Darstellung in eine ähnliche Situation gebracht wie die Dargestellten: zusammengesperrt in einen unerträglichen Raum des Immer-Gleichen. Zudem werden sie durch die Lautstärke von Musik, Geräusch- und Stimmverzerrungen sowie Schreien unmittelbar attackiert; eine Übersetzung der dargestellten Gewalt auf akustischer Ebene. Ein Angriff erfolgt aber auch auf ethische und moralische Kategorien, durch die permanente Darstellung sexueller Phantasien, Aktivitäten und Übergriffe. Aber auch rassistische Tabus werden bedient. Das Rollenspiel um eine Asiatin wurde bereits erwähnt, im zweiten Teil der Aufführung verkleidet sich schließlich der Vater, der weiße, heterosexuelle, europäische Mittelstandsmann in einen ›Wilden‹, einen ›Afrikaner‹. Denn mit dem autoritären Charakter der Familie geht der Ausschluss des Fremden einher; der abendländische Diskurs der intimen Familie bedeutet auch die Setzung eines ihr Anderen, das die Einheit der Familie erst ermöglicht. Dschungelgeräusche werden eingespielt, der Vater klettert an einem Seil wieder in den Keller, schreit affenähnlich, weckt seine Familie, und spielt dann den »Arzt ohne Grenzen«, der die »Afrikaner« behandelt (ihnen Fieber misst, Verbände anlegt). Dann verteilt er mitgebrachte Rasseln, zieht sich aus, macht affenartige Bewegungen, tanzt wild durch die Gegend, trommelt sich auf die nackte Brust, macht stoßende Bewegungen mit der Hüfte, stampft breitbeinig auf den Boden usw. Dabei gibt er nach wie vor affenähnliche Schreie von sich und ruft zwischendurch »Ich liebe Afrika!« Mitten in diesem Tanz zieht er sich eine braune Gummimaske über den Kopf, sodass sein Gesicht nun dunkel und verzerrt aussieht. Die Maske illustriert die rituelle Verwandlung in einen Anderen, und stellt diesen Anderen zugleich als Klischee dar. Der weiße Mitteleuropäer, der sich mittels des verdrängten Fremden in Ekstase versetzen will, und für diese persönliche Befriedigung den Anderen funktionalisiert und auf ein rassistisches Klischee reduziert. Mit der Maske scheint 11 Ebd., S. 129.

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er dann auch tatsächlich der Ekstase näher zu kommen, er stöhnt, schreit, schlägt und küsst seinen eigenen Körper, hängt schließlich, die Hüfte stoßend, kopfüber von der Decke. Am Ende der Szene wird ein Geschlechtsakt mit der weiblichen Stoffpuppe dargestellt, ebenfalls mit lautem Schreien und Stöhnen und heftigen Bewegungen, bei denen die Puppe völlig schlaff herumschlenkert und jede Kontur verliert. Die Szene wirkt extrem abstoßend, zum einen aufgrund der gewalttätigen SexDarstellungen, vor allem aber wegen der rassistischen Klischees, die über dreißig Minuten hinweg zwar überzogen, aber ansonsten ungebrochen ausagiert werden. Während die ›Welt oben‹ für das Bürgerliche und die Affektkontrolle steht, werden im Keller diese Affekte, das Andere des bürgerlichen Individuums, ausgelebt. Dieses Andere wird, abendländischen Traditionen folgend, mit Menschen aus anderen Kulturen, zumal mit afrikanischen Völkern, gleichgesetzt.12 Das rassistische Stereotyp des sexbesessenen, wilden Schwarzen entsteht in der patriarchalischen Gesellschaft der Neuzeit und wird ab dem 18. Jahrhundert durch die Naturalisierung des Konzepts der Rasse zementiert.13 Diese Naturalisierung der Rasse hängt zusammen mit der Naturalisierung der Geschlechtsidentitäten in der bürgerlichen Familie; Vorstellungen von Rasse und Geschlecht sind in der westlichen Gesellschaft kaum zu trennen. Die braune Maske zitiert die Tradition des blackfacing des europäischen Theaters, also der Darstellung schwarzer Figuren durch weiße, schwarz geschminkte Schauspieler, eine Tradition, die bis ins frühe 17. Jahrhundert zurückreicht und vor allem im 19. Jahrhundert für diffamierende Darstellungen der schwarzen Bevölkerung in den USA benutzt wurde. Wie die Weißseinsforschung gezeigt hat, ist die Normalisierung der weißen Perspektive Voraussetzung für Rassismus – Weißsein ist eine kulturelle Konstruktion, deren Künstlichkeit verborgen wird; von diesem angenommenen Nullpunkt des Weißseins aus erscheint alles Andere als Abweichung von der Norm.14 Nun wird der weiße Blick in Conte d’Amour nicht verschleiert, sondern durch Überzeichnung sichtbar gemacht. Der Vater inszeniert die Szene: er verteilt die Rasseln, zieht umständlich die Maske an usw. Eingeleitet wird diese Inszenierung des Fremden durch den überheblichen Blick des Weißen auf den ›schwarzen Kontinent‹: »Kleiner Afrikaner, bist du krank? Ja, du bist krank! Keine Angst, Ärzte ohne Grenzen helfen!«, wiederholt der Vater mehrmals während seines Arztspiels zu Beginn der Szene.15 Es geht hier nicht um die Darstellung eines schwarzen Menschen, sondern um die Inszenierung einer Phantasie des Fremden. 12 Zum europäischen Blick auf das Fremde vgl. E. Said: Orientalismus. 13 Zum Stereotyp des sexualisierten Wilden in der Frühen Neuzeit vgl. A. Loomba: Shakespeare, Race, and Colonialism, S. 91-97. 14 Vgl. M. Hill: Whiteness. 15 Alle Zitate nach der Videoaufzeichnung der Aufführung.

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Diese Phantasie des Fremden, die das Ausagieren der Triebe ermöglicht, nährt sich aus rassistischen Klischees; mittels stereotyper Zeichen wird ein Bild des Anderen vom Ort des Eigenen aus erzeugt, das abgespalten und verworfen werden kann, um sich seiner selbst zu vergewissern. Trotz des Inszenierungscharakters und der Übertreibung der Stereotype bleibt ein übler Nachgeschmack, weil die Szene einen nicht nur schonungslos mit den rassistischen Klischees konfrontiert, sondern diese auch sehr lange auskostet und im Kontext der gesamten Aufführung funktionalisiert – eine Phantasie unter anderen, die letztlich auf das Konstrukt der patriarchalen Kleinfamilie zurückgeführt wird, in der niemand nur Täter oder nur Opfer ist. Im ungehemmten Vorführen rassistischer Klischees vom wilden Schwarzen wird nicht nur unsere Erwartungshaltung verstört; die Reproduktion dieser Klischees läuft auch Gefahr sie zu affirmieren. Das Stereotyp des primitiven Schwarzen und der herablassende Blick des Weißen auf andere Kulturen findet sich auch in Freuds Totem und Tabu, das ja bekanntermaßen den Untertitel »Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker« trägt.16 Die Inszenierung bezieht sich an mehreren Stellen direkt auf diese Schrift Freuds, beispielsweise wird am Ende des ersten Teils, nachdem die beiden Brüder den Vater minutenlang geprügelt haben, von den drei Kindern chorisch vom »Urvater« gesprochen: »Der Urvater der Urhorde stirbt durch die Hände seiner Söhne, um als Inzestverbot wieder aufzuerstehen. Das Gesetz ist ein toter Vater. Sein erstes Gebot: Du sollst lieben. Aber wen lieben? Wie lieben? Wie nicht lieben? Wie nicht hassen?« Und der Vater selbst artikuliert seine Allmachtsphantasien: »Ich bin Gott. Ich bin allmächtig […]«; ein Thema, das in Freuds Totem und Tabu ebenfalls angesprochen wird.17 Ähnlich wie das Unheimliche das Heimliche, so tragen Tabus das Verbotene auch als ein Heiliges, Unberührbares in sich. Tabus beruhen Freud zufolge auf einem Begehren, das durch das Tabu verboten und verdrängt wird: »Grundlage des Tabu ist ein verbotenes Tun, zu dem eine starke Neigung im Unbewussten besteht.«18 Die »ältesten und wichtigsten« Tabus seien das Mord- und das Inzesttabu, mithin »müssten also die ältesten und stärksten Gelüste der Menschen« Mord und Inzest sein.19 Die zentrale Bedeutung des Mord- und Inzesttabus erklärt Freud mit seiner These vom gemeinsamen Mord der »Urhorde« bzw. der Brüder an ihrem (Ur-)Vater, »ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich be-

16 So spricht Freud durchgängig von »diesen Wilden« und stellt den »wilden Völkern« die »zivilisierten Völker« gegenüber; S. Freud: Totem und Tabu, S. 21. 17 Sie gehören ihm zufolge zur narzisstischen Phase und werden normalerweise mit der Reifung abgelegt; ebd., S. 86-112. 18 Ebd., S. 37. 19 Ebd., S. 39.

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hielt«.20 Dieser Vatermord ist Freud zufolge der Ursprung der Kultur, denn aus ihm entspringen Schuldgefühle, die zur Tabuisierung des Mordes und des Inzests führen – die begehrten, ›freigewordenen‹ Frauen werden aus Reue nicht angefasst, der Vater überhöht und im Totem (bzw. Gott) verehrt.21 Um den Vater, der gefürchtet und verehrt, dem gehorcht, der aber auch ignoriert, geschlagen und vergewaltigt wird, dreht sich die Inszenierung. Er steht für das Oberhaupt der patriarchalen Familie, aber auch für den Vater in der Psychoanalyse, der zugleich gehasst und geliebt wird und dessen Macht sich aus dem Schuldbewusstsein der Söhne nährt. Das Erklärungsmodell Freuds steht im Kontext der Aufführung auch für den abendländischen Diskurs über die Familie, in der zwar alle emotional aufs engste miteinander verbunden, aber nicht sexuell liiert sein sollen, in der der Einzelne sich zwar entfalten soll, aber zugleich unter permanenter väterlicher und normativer Kontrolle steht. Und es ist ein Erklärungsmodell, das Familie auf ein Inzesttabu zurückführt, das auf heterosexuellem Begehren gründet, und so Verwandtschaft nur als biologische, heterosexuelle denken kann.22 In der Verfremdung, Umkehrung und Pervertierung der familialen Rollen hinterfragt Conte d’Amour das naturalisierte Familienkonzept und die in ihm verankerten Geschlechter- und Machtverhältnisse. Während Freud den abendländischen Dualismen treu bleibt und Weiblichkeit als »dunklen Kontinent« bezeichnet, ist in Conte d’Amour die patriarchale Familie selbst ein solch ›dunkler Kontinent‹, in dem – im Dunkeln – verdrängte Triebe ausagiert und das Andere – der ›dunkle Kontinent‹ Frau und der ›dunkle Kontinent‹ Afrika – als männliche Phantasie ausgestellt werden. Die Tatsache, dass die Aufführung den Vater nicht nur als Täter, sondern auch als ein Opfer gewalttätiger Exzesse der Brüder inszeniert und so die Familie als ein Netz wechselseitiger Abhängigkeit deutet, kann einerseits als Offenlegung der inzestuösen und gewalttätigen Struktur der patriarchalen Familie bzw. Gesellschaft gelesen werden. Andererseits kann man hierin aber auch eine Verharmlosung des tatsächlichen Geschehens, auf das die Aufführung sich explizit beruft (der Fall Fritzl), sehen, als Verharmlosung der konkreten Gewalt des Vaters, als eine zweite (mediale) gewalttätige Inbesitznahme der Opfer. Das Tabu, schreibt Freud, ist »einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten«.23 Das exzessive Durchbrechen sämtlicher Tabus – sei es die Darstellung des Inzests, der Pädophilie, gewalttätiger Sexualität, des Missbrauchs, rassistischer und sexistischer Klischees, oder auch die Darstellung des Va20 Ebd., S. 158. 21 Ebd., S. 160-161. 22 Zur Problematik des Modells des Inzesttabus vgl. J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 195-199. 23 S. Freud: Totem und Tabu, S. 25.

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ters als Mit-Opfer – lässt solche Ambivalenz im Laufe der Aufführung allerdings verschwinden, unheimlich im Sinne Freuds ist hier gegen Ende nichts mehr, alle Tabubrüche werden – trotz der Brechung des Blicks – offen durchdekliniert.

2.2 D IE W IEDERKEHR DES V ERDRÄNGTEN : J OHN G ABRIEL B ORKMAN John Gabriel Borkman. 4. Teil der Ibsen-Saga von Vegard Vinge und Ida Müller nach Henrik Ibsen ist eine Performance, die auf mehreren Ebenen Grenzen überschreitet: sie dauert bis zu zwölf Stunden, die Lautstärke ist ohrenbetäubend, die Performer begehen Tabubrüche aller Art auf offener Bühne, übertreten die Grenzen des als ob ebenso wie diejenige zum Zuschauerraum und vertreiben die Zuschauer von ihren Plätzen. Die Aufführung widersetzt sich ganz bewusst der Reproduzierbarkeit, hinterfragt die Repräsentation, und betont ihre jeweilige Einmaligkeit, ihre Performativität und Prozesshaftigkeit. Sie fordert die Teilnahme der Zuschauerinnen und Zuschauer sowie verschiedene subjektive Perspektiven ein, und sie tut dies jeden Abend auf immer wieder andere Weise. Sie läuft damit nicht nur der ›vierten Wand‹ des Illusionstheaters, sondern auch der in der Mediengesellschaft sicher geglaubten Grenze zwischen Bild und Betrachter entgegen. John Gabriel Borkman speist sich aus einer zügellosen künstlerischen Kreativität und einer teils pubertär anmutenden Destruktivität, aus einer pointierten Deutung des dramatischen Textes und aus Anleihen an die Theater- und Performancegeschichte. »Wieviel Theater hält man aus?«, fragt eine Kritikerin;24 und tatsächlich ist die Aufführung eine einzige Überforderung aller Beteiligten: vor allem extrem lang und extrem laut, aber auch durch exzessive Wiederholungen und ebenso exzessive (wenn auch unrealistische) Gewaltdarstellungen und andere Normüberschreitungen aller Art. Lebensgroße Puppen werden zerfetzt und ausgeweidet, Performer und Pappfiguren werden gleich reihenweise erschossen, künstliche Gedärme fliegen über die Bühne, literweise Theaterblut wird verspritzt, es wird sich besudelt, uriniert, onaniert und gekotet. Die Überforderung ist ein Mittel, das Theater, seine Repräsentations- und Wahrnehmungskonventionen in Frage zu stellen, aber auch, um nach seinem Ort in der Mediengesellschaft zu fragen, einer Gesellschaft, in der die Reizüberflutung und schnelle Konsumierbarkeit sowie die Passivität des Betrachters zur Norm geworden sind. Sie wirkt unmittelbar sinnlich-affektiv und hinterfragt zugleich die eigene Rezeptionshaltung. Außerdem fordert sie auch in der Produktion zum Nach-

24 Doris Meierhenrich in der Frankfurter Rundschau vom 15.12.2011.

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denken über das eigene Tun heraus, weil sie über die Grenzen auch der Performerinnen und Performer geht. Das Überschreiten jedweden Maßes findet in John Gabriel Borkman vor allem in Bezug auf die zeitliche Dimension statt, und zwar sowohl bezüglich der Gesamtdauer als auch der Dauer einzelner Szenen, die durch Repetition ins Unendliche gedehnt werden. Immer und immer wieder werden da dieselben Treppen hinauf und wieder hinab gelaufen und dabei der immer selbe Satz wiederholt, wobei einzelne Wörter, Silben oder Laute zusätzlich gedehnt werden. Die Wiederholungsstruktur isoliert die Figuren und versinnlicht zentrale Themen des Stücktexts wie das Herausfallen aus gesellschaftlichen Zusammenhängen, das Vergehen von Zeit, das Warten, die stillstehende oder nicht chronologische voranschreitende Zeit, die Vereinsamung des Einzelnen. Wiederholung, Zeitdehnung und Verlangsamung lassen die dargestellte Zeit zu realer Zeit gerinnen und machen sie so als konkrete erfahrbar, als eine Zeit, die, anders gerade als die Echtzeit der Live-Übertragung in Fernsehen und Internet, Räume eröffnet anstatt sie zum Verschwinden zu bringen: subjektive Räume, Zwischenräume, Wahrnehmungsräume ohne vorgefertigte Bedeutung. Die zeitliche Maßlosigkeit ist also kein künstlerischer Selbstzweck, sondern erwächst zum einen aus dem Stücktext, zum anderen aus Fragestellungen, die unsere konkrete Lebensrealität in einer Gesellschaft betreffen, in der zeitliches Erleben immer mehr zu einzelnen optimierten Zeitpunkten zusammenschnurrt. Und sie betrifft die theatrale Darstellung selbst, denn sie fragt letztlich nach den Möglichkeiten der Darstellung subjektiver Zeiterfahrung, die immer auch eine Erfahrung unserer eigenen Vergänglichkeit ist (die wiederum Thema des Stücktexts ist). Auch die Normüberschreitung in Form des realen Vollzugs ist ein zugleich künstlerisch-praktisches, aber auch reflektierendes Mittel, es zitiert Praktiken der historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts (der Futuristen und Dadaisten) ebenso wie solche der frühen Happening- und Body Art-Bewegung der 1960er und 70er Jahre. Es handelt sich um Praktiken, die sich mit dem Verhältnis von Kunst und Leben, von Bühne und Zuschauerraum, von symbolischem Körper und subjektiver Empfindung auseinandersetzen. Vinge und Müller brechen solche Praktiken teils ironisch, etwa wenn Jackson Pollocks Action Painting in das Spritzen von Farbe aus dem Anus übersetzt wird, was wiederum an eine feministische Antwort auf Pollocks viriles Verspritzen der Farbe erinnert, Vagina Painting von Shigeko Kubota (New York 1965), in dem die Künstlerin eine Leinwand mit einem Pinsel in der Vagina bemalt. Teilweise werden sie künstlich verfremdet, etwa das Ausweiden der Puppen und Verspritzen offensichtlich künstlichen Theaterbluts, das als ein solch verfremdendes Zitat des Orgien-Mysterien-Theaters eines Hermann Nitsch gelesen werden kann. Teilweise agiert Vinge sie aber auch real aus, etwa wenn er tatsächlich in den Zuschauerraum kotet oder sich wirklich selbst in den Mund uriniert. Solche Aktionen sind zugleich

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konkretes Zitat (z.B. der »Künstlerscheiße« Piero Manzonis von 1961) und realer Vollzug im Hier und Jetzt. Die drastischen Mittel des realen Vollzugs werden allerdings erst nach einigen Stunden eingesetzt, zu Beginn der Aufführung sitzen wir als Zuschauer einem geschlossenen Bühnengeschehen gegenüber, das ganz offensichtlich mit theatralen Mitteln eine fiktive Welt erzeugt. Eine Puppenhauswelt, bestehend aus einem grellbunten Bühnenbild aus Pappe und Pappmaché, das das Haus der Familie Borkman detailreich nachbildet, und in dem die Schauspieler wie Marionetten agieren, mit mechanischen, streng choreographierten Bewegungen und elektronisch verzerrten Stimmen, die in endlosen loops einige wenige Sätze des Stücktexts wiederholen (»Ich will leben« oder »Ich will nicht arbeiten«). Der vordere Bereich der Bühne stellt eine Straße dar, den öffentlichen Raum, hier zerfetzt am Anfang der Vorstellung ein Eisbär lebensgroße Puppen aus Stoff und Gummi, Gliedmaße fliegen durch die Gegend, Theaterblut spritzt, dazu dröhnt unmäßig laut Wagner-Musik. Die Mittel der Übersteigerung und offensichtlichen Künstlichkeit werden so gleich zu Beginn eingeführt. Hinter der Straße ragt ein dreigeschossiges Bühnenhaus empor, das wir im Aufriss sehen. Einzelne Räume sind zu Beginn noch von einer Fassadenmalerei verdeckt, die im Laufe der Aufführung heruntergerissen wird, andere sind von Anfang an offen. So sehen wir ein Treppenhaus, ein Wohnzimmer mit Schaukelstuhl, eine Küche. Die Einrichtung der Räume besteht teilweise aus realen Objekten, die kulissenhaft bemalt sind, wie beispielsweise der Schaukelstuhl, teils aus offensichtlich aus Pappe nachgebauten Möbeln, z.B. eine Standuhr und ein Tisch, oder aus Pappsilhouetten von Gegenständen, in der Küche beispielsweise ein Teeservice und ein Radio. Auch die Wände des Hauses ebenso wie die Fassadenfragmente sind offensichtlich bemalte Theaterkulissen. Das bürgerliche Wohnhaus wird nachgebildet, die Mittel dieser Nachbildung sichtbar gemacht, sodass es als künstliches Konstrukt erkennbar ist. Es garantiert keine Privatheit, sondern öffnet sich den Blicken; die Darsteller betonen diese Öffnung, indem sie weitgehend demonstrativ zum Zuschauerraum gewandt agieren. Jeder Raum des Hauses bildet einen abgeschlossenen Bereich, in dem sich ein einzelner Schauspieler bzw. eine einzelne Schauspielerin befindet. Die funktionale Trennung der Räume in der bürgerlichen Wohnung ist Kennzeichen der Veränderungen des Alltagslebens ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert, sie steht für den Rückzug der Familie ins Private und die Intimisierung der Beziehungen. In John Gabriel Borkman verweist die Ausdifferenzierung der Räume auf diese Tradition, eine Intimisierung der Beziehungen findet jedoch gerade nicht statt, weder auf der Ebene des Dargestellten noch der Darstellung. Die Zimmer sind nicht nur zum Zuschauerraum hin offen, sie isolieren auch die Figuren voneinander. Sie sind zudem nicht einheitlich gestaltet, sondern ganz offensichtlich aus den verschiedenen Darstellungsmitteln montiert. Das bürgerliche Wohnhaus, das im abendländischen Diskurs für die organische Geschlossenheit der Familie steht, hat im Theaterraum von

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Ida Müller offenen Fragment- und Montagecharakter; auch die Familie erscheint so nicht als natürliche Einheit, sondern als künstliches Konstrukt. Der Charakter des Gebastelten und Montierten verweist mit einem Augenzwinkern auch auf die naturalistische Theaterästhetik, die gerade die Wohnräume der Familie – dem jeweiligen Milieu entsprechend – detailreich und realistisch abbilden und dabei den Akt des Abbildens verbergen möchte. Müllers Bühne bezieht sich auf Ibsens Anweisungen im Nebentext: »Durch die Scheiben sieht man hinaus in den Garten, wo in der sinkenden Dämmerung der Schnee treibt […] links vorn ein Fenster, verdeckt von dichten Gardinen. Zwischen dem Fenster und der Tür ein mit Rosshaarstoff bezogenes Kanapee, davor ein Tisch mit Plüschdecke. Auf dem Tisch eine brennende mit Schirm versehene Petroleumlampe. Beim Ofen ein Lehnstuhl mit hohem Rücken […].«25 Viele der Details lassen sich – in verfremdeter Form – im Bühnenraum finden, so etwa der Schnee, der Ofen, die Vorhänge. Vinge und Müller reflektieren nicht nur inhaltliche Elemente des Dramas, sondern auch die dramatische Form des Naturalismus. Die detailreiche und zugleich verfremdete Nachbildung der Szenenanweisungen Ibsens hinterfragt den Anspruch des Illusionstheaters, die Realität abzubilden und das als ob, also die Mittel der Abbildung, zu verbergen. Das Haus steht dabei für die nach außen heile Fassade der bürgerlichen Familie, die im Inneren aber zerrissen ist. Wie im Stücktext nehmen die Figuren gerade nicht die ihnen in der bürgerlich-patriarchalen Familie zugedachte Rolle ein und bilden keine Gemeinschaft. Die voneinander getrennten Räume dienen hier nicht so sehr der Funktionalisierung familiären Alltags, sondern vielmehr der Isolation der einzelnen Familienmitglieder, die wie eingesperrte Tiere die immer gleichen Bewegungen ausführen: Treppe hoch und wieder runter, Arme hoch und wieder runter, von links nach rechts gehen und wieder zurück. Die Familie zieht sich hier nicht in die Privatheit eines trauten Heims zurück, sondern ist eingesperrt in diesem Heim, das weder intime Geborgenheit noch Schutz bietet. Die dargestellte Gewalt wie das Zerfetzen lebensgroßer Puppen und gewalttätige Darstellungsmodi wie extrem laute Musik, ohrenbetäubendes Stampfen und Schreien in Endlos-Schleife wird auf der Ebene des Dargestellten aus dieser familiären Situation geboren: eine in sich zerrüttete Familie, zerbrochen an den Normen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die als Zwangsgemeinschaft in einem Haus zusammenlebt, jeder Einzelne in größtmöglicher Vereinsamung. Im Stücktext ist es eine Familie, die aus ökonomischem Kalkül gegründet wurde, nicht aus Liebe, eine Familie also, die für die kapitalistische Logik des Erfolgs steht und an ihr zerbricht. Ibsen kritisiert das gesellschaftliche System und die Funktionalisierung der Familie durch dieses System. An dem Ideal der Familie als Liebes-Einheit jedoch hält er fest, denn am Ende lebt die Liebe zwischen Borkman und seine Schwägerin Ella noch einmal auf. In der Auf25 H. Ibsen: John Gabriel Borkman, S. 5.

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führung bleibt von diesem Ideal nichts übrig – die Beziehungen sind sämtlich zerstört, die Figuren gehen in Gewaltexzessen aufeinander los, die Familie ist nur als Rahmen in Form des Bühnenhauses präsent. Abbildung 31: John Gabriel Borkman von Vegard Vinge/Ida Müller, Berlin 2011

Quelle: Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz Berlin, Foto: William Menke

Der Konstruktionscharakter betrifft nicht nur die Bühnenausstattung, sondern ebenso die Figuren selbst, auch sie sind montiert aus Masken, Perücken und künstlichen Körperteilen, mit elektronisch verfremdeten Stimmen und repetitiven, mechanischen Bewegungen. Es werden keine realistischen Charaktere verkörpert, sondern Kunst-Figuren her- und als solche ausgestellt. Hierin ist nicht so sehr eine Illustration der Charakterisierungen Ibsens zu sehen, also beispielsweise der Kälte und Steifheit Frau Borkmans, als eine grundsätzliche Dekonstruktion der Idee des bürgerlichen Individuums und der realistischen Verkörperung. Die Vorstellung einer bruchlosen Identität und der Familie als natürlicher Einheit ebenso wie der Darstellungsmodus der Verkörperung wird durch diese exponierte Künstlichkeit der Figur verabschiedet. So trägt beispielsweise die Mutter Gunhild eine weiße Maske mit schwarz aufgemalten Falten und einer blonden Langhaarperücke sowie unter ihrem Morgenmantel riesige künstliche Brüste, auf die mit blauer und roter Farbe Linien gemalt sind, die an Blutadern und Milchdrüsen erinnern. Die nackte weibliche Brust ist, neben ihren erotischen Dimensionen, Symbol der Mütterlichkeit und mütterlichnährender Fürsorge. Im bürgerlichen Zeitalter steht sie für ein biologistisches Kon-

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zept von Mutterschaft und die Reduktion der Frau auf ihre Funktion als leibliche Mutter. Durch die überdimensionierten, hängenden Brüste Gunhilds mit den weithin sichtbaren Adern wird die Vorstellung einer liebenden, ihr Kind mit süßer Milch nährenden Mutter ins Groteske verzerrt. Indem Vinge/Müller den mütterlichen Körper durch die Brust-Prothese denaturalisieren, hinterfragen sie die Vorstellung der fürsorglichen Mutter ebenso wie die Reduktion auf leibliche Mutterschaft. In einer Szene öffnet Frau Borkman ihren Morgenmantel, schiebt das Unterhemd hoch und entblößt ihre Brüste vor ihrem Sohn, der am Esstisch sitzt (Abb. 31). Das Motiv der Entblößung der mütterlichen Brust vor dem Sohn dient in der abendländischen Kultur der Erinnerung an die Herkunft des Sohnes aus dem mütterlichen Körper; es wird bereits in der attischen Tragödie eingesetzt, beispielsweise in der Orestie des Aischylos. Vor allem im Christentum ist die entblößte mütterliche Brust ein zentrales Symbol; in der christlichen Ikonografie ist sie im Bildtypus der Maria Lactans Zeichen für die Menschlichkeit – und damit Sterblichkeit – Jesu; über das Motiv des Stillens wird zugleich eine körperliche und emotionale Beziehung zwischen Mutter und Kind konstruiert. Die entblößte Brust verweist dabei aber nicht nur auf den natürlichen Vorgang des Stillens, sondern wird als Zeichen auch ostentativ zur Schau gestellt. Die Brust Mariens ist nicht auf die Anatomie beschränkt, sondern hat weitreichende symbolische Funktion (z.B. als Zeichen der Barmherzigkeit). Während im Mittelalter Klaus Schreiner zufolge diese symbolische Funktion überwiegt, so wird sie in der frühen Neuzeit zunehmend zu einem Zeichen für Natur, zumal für die Natürlichkeit der engen Mutter-Kind-Beziehung und das »Idealbild mütterlicher Fürsorge«.26 Dieses Idealbild mütterlicher Fürsorge und der symbiotischen Mutter-KindBeziehung wird in John Gabriel Borkman ad absurdum geführt. Wenn Vinge und Müller das Motiv der Entblößung der mütterlichen Brust vor dem Sohn aufgreifen, es in die häuslichen Küche verlegen und die natürliche Brust durch offensichtlich künstliche Brustprothesen ersetzen, brechen sie mit der tragischen, bildnerischen und diskursiven Tradition und stellen die kulturelle Konstruktion von Mütterlichkeit aus. Die mütterliche Brust als Garant der Natürlichkeit der Kleinfamilie wird durch ihre Größe und die sichtbaren Blut- und Milchadern überzeichnet, das Ideal der natürlichen Mutter-Kind-Beziehung verfremdet, die symbiotische Einheit von Mutter und Sohn zum grotesken Zerrbild ihrer selbst. Die abgehackten Bewegungen und repetitiven Lautäußerungen Gunhilds verstärken diesen Eindruck. Die Vorstellung des mütterlichen Körpers als eines natürlichen, Geborgenheit spendenden, wird durch diesen künstlich zusammengefügten, marionettenhaften Körper konterkariert.

26 K. Schreiner: Maria, S. 192; zur symbolischen Funktion der Brust Mariens ebd., S. 181201. Vgl. Kap. I.1.3 der vorliegenden Arbeit.

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Die überdimensionalen Brüste der Gunhild Borkman stellen aber auch ein Bild monströser Mütterlichkeit her, einer Mütterlichkeit, die den Sohn gewalttätig bindet oder durch ihre überbordende Leiblichkeit zu erdrücken und verschlingen droht. Die Vorstellung monströser Mütterlichkeit stellt gleichsam die andere Seite der Idealisierung der Mutter dar, bindet Mütterlichkeit aber ebenso an den anatomischen Körper der Frau. Auch wenn die Ambivalenz des mütterlichen Körpers als zugleich Heilsversprechen und Bedrohung Teil üblicher, abendländischer Mutterbilder ist, entspricht der fragmentierte Körper der Frau Borkman diesen Darstellungstraditionen nicht bruchlos. Denn auch die Bedrohlichkeit des mütterlichen Körpers wird gängiger Weise in seiner Natur gesehen – in der Tatsache von Schwangerschaft und Geburt, von pränataler Symbiose und ihrer zugleich erwünschten und gefürchteten Wiederkehr. Bei Vinge/Müller wird Mütterlichkeit als ein aus disparaten Fragmenten Montiertes dargestellt; die Monstrosität liegt hier in der Verbindung von Organischem und Künstlichen, die letztlich eine groteske Überzeichnung des weiblichen Körpers bedeutet. Die Figur der Frau Borkman kann so auch als männliche Phantasie monströser Mütterlichkeit gelesen werden; als Kunstfigur dekonstruiert und denunziert sie zugleich das Mütterliche als ein Aspekt des Weiblichen. Das Motiv der ›bösen Mutter‹ lässt sich darüber hinaus auf jene dramatischen Mutterfiguren beziehen, die ihr Kind für ihre eigenen Zwecke funktionalisieren, namentlich jene des bürgerlichen Theaters, von den kuppelnden Müttern des Trauerspiels bis hin zu einer Gunhild Borkman. Die Bedrohlichkeit der Frau und Mutter, wie sie in Teil II dieser Arbeit analysiert wurde, wird hier fratzenhaft ausgestellt. Durch die Montage der menschlichen Figur aus künstlichen Versatzstücken ebenso wie ihren mechanischen Bewegungsmodus wird in der Aufführung grundsätzlich die Einheit und Kohärenz von Identität hinterfragt. Auf diese Weise werden – bezogen auf die Textebene – die Zurichtungen des Menschen durch die bürgerliche Familie und die kapitalistische Gesellschaft, aber auch der Konstruktionscharakter des Menschen im Theater bzw. der medialen Repräsentation veranschaulicht. Die menschliche Figur ist hier gerade keine geschlossene organische Einheit, als dargestellte ist sie immer schon vermittelt und gerade nicht ›eins‹, sondern fragmentiert, montiert, inszeniert. Und auch die Familie ist hier kein Garant einer solchen Einheit und Natürlichkeit, sondern weit eher ein Ort des künstlich Zusammengefügten, der historisch-gesellschaftlichen Konstruktion. Die Familie als emotionale Einheit kommt in John Gabriel Borkman also nicht vor, so wie sie auch im Stücktext längst zerrüttet ist (das Ehepaar Borkman hat seit Jahren kein Wort miteinander gesprochen). Die Figuren agieren isoliert voneinander, auch die Konflikte werden während der ersten Stunden der Aufführung nicht direkt miteinander ausgetragen, sondern parallel geschnitten: die Mutter Gunhild in dem einen, ihre Schwester Ella in dem anderen Zimmer, rufen sie ewig lang die immer gleichen Sätze: »Ich werde mir Genugtuung verschaffen« die eine, »Ich bleibe hier, hier bleibe ich, ja, ich bleibe hier, hier bleibe ich« die andere. Die Spra-

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che wird verfremdet nicht nur durch die endlose Wiederholung, sondern auch durch Betonung und Dehnung einzelner Konsonanten und Vokale. Der Sohn Erhart tritt relativ spät auf und sitzt in seinem Zimmer, zwischen zwei Müttern, die durch die Zimmerwände auf ihn einreden, -singen und -schreien, und einem laut stampfenden Vater als Mensch-Maschine über sich, dessen patriarchale Machtansprüche den gesamten Theaterraum erzittern lassen. Erharts Zimmer ist ein typisches Jungenzimmer: ein Ghettoblaster, ein überdimensionales Spiderman-Heft, ein Poster mit Darth Vader an der Wand, Gitarre und Basketball in der Ecke. Er selbst, ebenfalls mit weißer Maske und blonder Perücke, sitzt dazwischen, onaniert ausgiebig, und wiederholt in ewiger Schleife »Ich will nicht arrrrbeiten!«, und schreit schließlich: »Ich will leeeeben!«. Im Stücktext heißt es im dritten Akt: »Erhart (leidenschaftlich): Ja, aber ich will nicht arbeiten – nicht jetzt! Denn ich bin jung! Ich habe das bisher noch nie gewusst. Doch jetzt, jetzt spüre ich es, so strömend und warm. Ich will nicht arbeiten! Ich will leben! Nur leben!«27

Und im weiteren Verlauf des dritten Akts äußert Erhart noch mehrmals, er sei jung und wolle leben: »Ich will weiter nichts als leben! Einmal möchte auch ich leben dürfen!«28 Dieser Ruf nach Leben steht für Erharts Bedürfnis, sich aus der klaustrophobischen Enge der Familie zu befreien, einer Familie, die sich seit Jahren nicht aus dem Haus bewegt, einer Mutter, die sich an ihren Sohn klammert, und einen Vater, der keine reale Vaterfunktion erfüllt, sondern wie ein Geist über bzw. auf dem Sohn herumtrampelt. Erhart wird von beiden Eltern funktionalisiert, sodass der Ruf nach Leben einer nach Emanzipation und nach dem Recht auf Subjektivität ist. Im Stück geht er einher mit seinem Entschluss, das Elternhaus zu verlassen, mit einer Frau, die den Wünschen und Erwartungen der Eltern gänzlich zuwiderläuft. Erhart vollzieht diesen Akt der Emanzipation, sein Vater stirbt, und die beiden Schwestern versöhnen sich – am Ende des Dramas steht so die Geburt eines Individuums, das sich aus der Umklammerung beider Mutterfiguren gelöst hat und mit dessen Emanzipation der Tod des Vaters einhergeht. Über »den Toten hinweg« reichen die Schwestern sich die Hand.29 Am Ende scheint es so, als hätte der Vater dem familiären Glück im Weg gestanden, als würde sein Tod neue Formen der Gemeinschaft ermöglichen: eine schwesterliche und eine neue Kleinfamilie. Denn Erhart geht mit Frau Wilton, die älter ist als er, und einem jungen Mädchen, Frieda Foldal, die Frau Wilton in ihre Obhut genommen hat, auf Reisen. In gewissem Sinne kreiert Ibsen hier die Aussicht auf eine andere Form der Familie, eine Wahlfamilie, die nicht auf Blutsverwandtschaft beruht und in der die familiären Beziehungen 27 H. Ibsen: John Gabriel Borkman, S. 74. 28 Ebd., S. 77. 29 Ebd., S. 96.

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nicht eindeutig sind, denn Frau Wilton sagt kurz bevor sie mit Erhart das Haus verlässt zu Frau Borkman »halb ironisch und halb ernsthaft«: »Ach, Frau Borkman – die Männer sind ja so unbeständig – und wir Frauen gleichfalls. Wenn Erhart eine Tages nichts mehr von mir wissen will – und ich nichts mehr von ihm – dann ist es für uns beide nur gut, dass der Arme jemanden hat, bei dem er sich trösten kann.«30 Zudem ist es eine Familie, die sich nicht in den Privatraum zurückzieht, sondern »in die Welt hinaus« geht, »ins Ausland«.31 Die Wahlverwandtschaft Erharts stellt einen radikalen Kontrast dar zu der Situation seiner Herkunftsfamilie, einer Familie, die durch Blutsverwandtschaft und die bürgerliche Norm der Ehe aneinander gebunden, aber nicht emotional miteinander verbunden ist. Die bürgerliche Familie, geschildert aus der Perspektive des Sohnes, wird in der Inszenierung zum Horrorkabinett, zu einer Geisterbahn voller fühlloser Zombies und Mensch-Maschinen. Der durch die mechanischen Bewegungsmodi, elektronisch verzerrten Stimmen und fragmentierten Körper erzeugte Eindruck der Fühllosigkeit entspricht dem Bild, das Ibsen von den Eltern zeichnet, und das er am Ende des Dramas aussprechen lässt: »Ein Toter, und zwei Schatten – das war das Werk der Kälte. – Ja, der Herzenskälte«.32 Die vom Körper getrennten Stimmen und fragmentierten Körper dekonstruieren aber auch den Darstellungsmodus der illusionistischen Verkörperung; die Figuren sind puppenhafte Typen, die nicht den Anspruch auf einen konsistenten Charakter erheben und auch die Einheit von Rolle und Schauspieler aufkündigen, da die Schauspieler in der Aufführung in wechselnden Rollen auftreten. Vom Ideal der bürgerlichen Familie ist hier nur der äußere Rahmen des gemeinsamen Hauses übrig geblieben, das Gerüst Familie, das aus Mechanik, disziplinierender Norm, Machtausübung und Isolation besteht. Nur folgerichtig erscheint es dann, wenn Erhart im weiteren Verlauf der Aufführung selbst zum gewalttätigen Täter wird. Bei Vinge/Müller gibt es nicht die Möglichkeit der Emanzipation durch Weggang, es gibt kein Entkommen, weder aus dem familiären Zwang noch aus dem Theater. Was bleibt, ist ein Anstürmen, Zerstören und Demontieren, das aber nicht in eine tatsächliche Befreiung mündet. Selbst der Übergriff ins Publikum ist nur eine Spielart, die nach anderen Formen der Darstellung fragt, ohne sie tatsächlich herstellen zu können. Vinge und Müller kreieren eine ästhetisch überformte Welt, die den theatralen Vertrag des als ob offenlegt und sich jedem Realismus verweigert. Es ist dieses ästhetische Konstrukt, diese überzeichnete künstlich-künstlerische Welt, die nach einigen Stunden exzessiv zerstört wird. Die Figuren erschlagen, erstechen, erschießen, ver30 Ebd., S. 79. 31 Ebd., S. 78. 32 Ebd., S. 95.

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gewaltigen einander, das so offensichtlich provisorisch zusammengezimmerte Bühnenbild wird ganz real zersägt und zertrümmert, und mit ihm sowohl das bürgerliche Heim als auch der Repräsentationsraum Theater. Auf diese Weise wird auch der Zusammenhang zwischen bürgerlicher Ideologie und spätkapitalistischer Gesellschaft, die sich durch distanzierten Konsum von Bildern und der Bedienung von Benutzeroberflächen auszeichnet, sichtbar. Denn nicht zuletzt ähneln der Aufriss des Hauses der Familie Borkman und das weitgehend zweidimensionale Bespielen dieses Aufrisses auch einer solchen Benutzeroberfläche, auf der man einzelne Felder oder Figuren durch eine Berührung an- und wieder abstellen kann. Und auch die vielen Splatter-Szenen, in denen künstliche Körper zerfetzt werden, erinnern an anachronistische Darstellungen von Computerspielen oder den Spektakelcharakter inszenierter medialer Ereignisse. Die reale Zerstörung dieser Oberfläche entspricht dem Schrei Erharts: »Ich will leben!«, ein Versuch, sowohl die dargestellte Zwangsintimität der Familie zu sprengen, als auch den Repräsentationsmodus, der die Gesellschaft des Spektakels kennzeichnet. Nun wird auch die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne übertreten, und zwar auf mehreren Ebenen. Zum einen im Sinne von Grenzüberschreitungen des Repräsentationsrahmens mit Mitteln des realen Vollzugs auf der Bühne (Normbrüche wie Urinieren und Onanieren auf offener Bühne, aber auch das gewalttätige Zerstören des Bühnenbildes durch die Darsteller), zum anderen durch ein tatsächliches Übertreten der räumlichen Grenze. So werden zunächst Papp-Steine ins Publikum geworfen, später kommt Vinge in den Zuschauerraum, klettert über die Sitzbänke, vertreibt Zuschauer und wirft Bänke auf die Bühne, um schließlich die Hosen herunterzulassen und auf ein Sitzkissen mitten im Zuschauerraum zu koten. Die Verwendung tabuisierter körperlicher Praktiken wie Koten, Urinieren, Onanieren in der Öffentlichkeit hinterfragt sowohl die Ordnung der Repräsentation als auch die normativen Grundfesten bürgerlicher Moral. Körperliche Ausscheidungen und Flüssigkeiten wie Urin, Kot, Blut, Sperma stehen für ein Verdrängtes, dessen Wiederkehr eine Bedrohung für das rationaler Kontrolle unterworfene Individuum bedeutet. Als Natürliches werden sie im abendländischen Diskurs mit dem Körper der Mutter assoziiert, der vom Subjekt ebenfalls verdrängt werden muss, um Autonomie zu erlangen. Die Ambivalenz des mütterlichen Körpers als zugleich Leben spendender und todbringender, die Sehnsucht nach und Horror vor der Symbiose mit dem mütterlichen Körper, stehen Julia Kristeva zufolge am Grund des Ekels vor körperlichen Ausscheidungen, vor dem Abjekten, das gleichzeitig fasziniert und abgewehrt wird: »L’abject nous confronte [..] à nos tentatives les plus anciennes de nous démarquer de l’entité materenelle« und »le dedans désirable et terrifiant, nourricier et meurtrier, fascinant et abject, du corps maternel«; als Beispiele nennt Kristeva genau jene Körperflüssigkeiten, mit denen die Aufführung arbeitet: »urine,

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sang, sperme, excrément«. 33 Aber auch das Zerreißen und Ausweiden der Puppen, das die schützende Hülle und rationale Form durchbricht und das Innere des Körpers nach außen kehrt, kann als Spiel mit dem Abjekten bezeichnet werden. Hier werden sowohl väterliche als auch mütterliche Körper zerrissen, es sind KunstKörper, die als Objekte beherrscht und an denen die Wiederkehr des Verdrängten gespielt werden kann, und die zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Spiel und Realität, Kunst-Körper und realem Körper aufwerfen. Tabubrüche dieser Art sind im Theater nichts Neues, wie bereits erwähnt handelt es sich auch um Zitate früherer anti-bürgerlicher Kunst- und Aktionsformen. Sie fungieren in John Gabriel Borkman zum einen als zeichenhaftes Ausagieren des Verdrängten der bürgerlichen Familie, für die das Drama eines Henrik Ibsen steht, zum anderen als Mittel der Hinterfragung gegenwärtiger gesellschaftlicher Praktiken der Konsumption von Bildern und Waren, der Kommunikation via Oberflächen, des Prinzips der Anpassung und Nicht-Einmischung. Denn es ist auch eine verzweifelte Körperlichkeit, die hier ausagiert wird, ein Anstürmen der realen Körper gegen ihre Normierung und Disziplinierung, eine Art Revolte gegen die Gesetze der Repräsentation, des Theaters, der Familie und Gesellschaft, gegen eine duldendkonsumierende Rezeptionshaltung, die sich durch (fast) nichts erschüttern lässt. Dabei tritt Vegard Vinge als Spielleiter auf, der den Ablauf unterbrechen, textunabhängig agieren, und eben die Grenze zum Zuschauerraum übertreten kann. Er repräsentiert den Regisseur im Sinne des Mythos vom Künstlergenie als gottähnlichen Schöpfer eines totalen Kunstwerks, oder auch im Sinne des totalitären Künstlers, der sein Werk zerstört. Er spielt diese Rolle einerseits selbstreflexiv-ironisch – beispielsweise trägt er ein T-Shirt mit einer Comic-haften Zeichnung von Richard Wagner oder zitiert mit seinen Aktionen Künstler wie Jackson Pollock – und dekonstruiert auf diese Weise die Figur des Regisseurs, andererseits füllt er sie auch aus, indem er als einziger den Ablauf unterbricht und die Grenze zum Publikum überschreitet. Seit der Moderne wird die Instanz des gottähnlichen Schöpfers immer wieder, zumal auf ästhetischer Ebene, angegriffen und zersetzt, dennoch spielt sie auch im gegenwärtigen Theater- bzw. Kunstbetrieb noch eine wesentliche Rolle. Auch Vegard Vinge verbleibt mit seiner Figur des totalen Regisseurs letztlich im Rahmen eines Kunstwerkbegriffs, den er doch vorgeblich zerstört. So sehr die Mittel des realen Vollzugs und der Grenzüberschreitung die Geschlossenheit der Repräsentation in Frage stellen, so sehr agieren sie doch im Rahmen eines Kunstbegriffs, der auch das Tatsächliche, Alltägliche und Reale zu Kunst erklärt. Folgerichtig ist die Zerstörung kein Befreiungsschlag, sondern eine weitere Spielart medialer Repräsentationen, bei denen wir nicht mehr sicher sein können, was ›echt‹ ist und was Fake, und ob es das ›Echte‹ überhaupt gibt. Denn aus der Perspektive des Theaterzuschauers kann auch der reale Kothaufen des Herrn Vinge als ein als-ob er33 J. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 66. Vgl. Kap. I.2.2 der vorliegenden Arbeit.

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scheinen, ein Ready-Made, gerahmt durch die Theateraufführung, autorisiert durch den Künstler. Und, auch das wird deutlich in der maßlosen und anmaßenden Überforderung, der unerträglichen Zumutung von Dauer, Lautstärke, Tabubrüchen und Gewaltausbrüchen, ein tatsächlich realer Vollzug, eine zu Ende gedachte Body oder Performance Art, eine wirkliche Zerstörung des Theaters und nicht nur des Bühnenbildes, würde Terror bedeuten.

3. Familie und heterosexuelle Norm: Familienbande von Lola Arias

Vinge und Müller beziehen sich auf einen Dramentext, der eine zerrüttete Familie zum Thema hat. Sie radikalisieren das Familienbild der Vorlage, indem sie auf der Ebene der Darstellung versuchen, nicht nur die tradierten Vorstellungen der Familie, sondern auch des Theaters zu zerrütten. Die Einheit der Familie ebenso wie die Geschlossenheit der Repräsentation werden dekonstruiert, es werden aber keine neuen, anderen Formen von Familie entworfen. Auch Markus Öhrn setzt sich in Conte d’Amour mit der bürgerlichen Familie als einer gewalttätigen Struktur auseinander, ohne einen Ausblick auf andere Möglichkeitsformen von Verwandtschaft zu eröffnen. Im Folgenden sollen Aufführungen untersucht werden, die sich mit anderen Modellen von Familie beschäftigen, zunächst Familienbande der argentinischen Regisseurin Lola Arias, die seit einigen Jahren auch in Deutschland arbeitet (Münchner Kammerspiele 2009). Die Familie, die Thema von Familienbande ist, steht auch auf der Bühne: Die Schauspielerin Katja Bürkle und ihre Partnerin Silja Bächli, die Tochter von Bürkle und ihrem ehemaligen Mann Florian Huber, Lena, und der Sohn von Bürkle und Bächli, Moses, dessen leibliche Mutter Silja Bächli ist, gezeugt mit Huber als Samenspender. Es handelt sich um eine moderne Patchworkfamilie, deren Kern eine gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft ist, und in der soziale Elternschaft als gleichwertig mit biologischer Elternschaft gelebt wird. Anders als in der heterosexuellen Kleinfamilie sind die symbolischen und realen Funktionen von Vater und Mutter nicht klar verteilt und nicht an den anatomischen Körper gebunden. Die gleichgeschlechtliche Partnerschaft mit Kind fordert kulturelle Normen der abendländischen Gesellschaft heraus, die über Ehe und Familie Geschlechteridentitäten und Begehren an den biologischen Körper binden und auf diese Weise das binäre, heterosexuelle Geschlechtermodell naturalisieren.

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3.1 P UPPENHAUS Auf der Bühne ist eine Hausfassade aus Sperrholzplatten mit einer Tür und einem Fenster aufgebaut, davor ein grüner Kunstrasen, eine rote Schaukel, und rechts ein Kaninchenstall mit zwei Zwergkaninchen. Auf beiden Seiten des Rasens stehen echte Bäume in Töpfen. Am Anfang der Aufführung werden auf die Hausfassade Videoaufnahmen eines kleinen, weißen Einfamilienhauses projiziert, später Bilder aus den Innenräumen des Bühnenhauses: Küche, Bad, Schlaf-, Wohn- und Kinderzimmer. Die Bühne baut eine kleinbürgerliche Welt nach, die zu Beginn von der Tochter Lena auch beschrieben wird: »Eine kleine Stadt in Süddeutschland, Häuser wie Zwillinge, ein weißes Haus mit einer braunen Tür, genau wie alle anderen Häuser, hinter dem Haus ein kleiner Garten mit Bäumen und Kaninchen und dem Lärm der Autobahn«. Dieses kleinbürgerliche Idyll, das in Lenas Beschreibung durch die Betonung der Vorstadt-Monotonie und den ›Lärm der Autobahn‹ leicht ironisch gebrochen wird, wird im Laufe der Aufführung reproduziert. Auf der Hausfassade erscheint nun, ebenfalls als Projektion, ein Puppenhaus mit zwei Räumen, von denen das Wohnzimmer mit Couchgarnitur herangezoomt wird. Lena öffnet das Puppenhausfenster an der Rückwand und spielt die Geschichte ihrer Familie mit Puppen nach: »Meine Mutter verliebt sich in meinen Vater [eine weibliche und eine männliche Puppe küssen sich], ich werde geboren [eine kleine Puppe kommt hinzu]. Meine Eltern trennen sich. Meine Mutter verliebt sich in eine Frau [zwei weibliche Puppen küssen sich]. Diese Frau wird meine zweite Mutter. Meine Mutter und meine Mutter wünschen sich ein Baby. Also fragen sie meinen Vater, ob er ihnen helfen kann. Mein Vater sagt ja [die Puppe nickt]. Ein Baby kommt zur Welt [das Baby landet auf dem Coachtisch]. Mein Bruder Moses, der Sohn von meinem Vater und meiner zweiten Mutter. Das ist meine Familie.«1

Die Bühne und das Element des Puppenhauses sind charakteristisch für die Inszenierung: Die Mittel des Theaters sind sichtbar – die gezimmerte Hausfassade, der Kunstrasen, die Videoprojektionen – und verfremden die Darstellung, zugleich bilden diese Mittel das Dargestellte nach und reproduzieren so die heile Welt der Reihenhaussiedlung. Es entsteht eine Puppenhauswelt auf der Bühne, die zwischen dem Abbilden einer Idylle und dem Ausstellen der Idealisierung changiert. Ähnliches gilt für den Bericht der Tochter: Das Spiel im Puppenhaus verfremdet und verniedlicht zugleich die Familiengeschichte; wir stolpern über Formulierungen wie

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Dieses und alle weiteren Zitate nach der Videoaufzeichnung der Münchner Kammerspiele 2009.

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›meine Mutter und meine Mutter‹, gleichzeitig erzeugt die Stimme des Kindes, die den Text in einem alltäglichen Erzählduktus spricht, den Eindruck von Normalität und Authentizität. Die ungewöhnliche Familiengeschichte wird nicht als etwas Exotisches ausgestellt, sondern als selbstverständlich präsentiert. Diese Normalisierung verleiht ihr etwas Faktisches, verhindert den voyeuristischen Blick und öffnet unsere Vorstellungswelt von Familie. Zugleich bedeutet die Normalisierung dieser anderen Familie auch ihre Einfügung eben in die Norm – der Kleinfamilien, Reihenund Puppenhäuser. Die Geschichte der Puppenhäuser geht in Einzelfällen bis ins 16. Jahrhundert zurück, im 17. und 18. Jahrhundert werden sie von reichen Bürgerfamilien in Deutschland, England und den Niederlanden in Auftrag gegeben, um das eigene Haus in Miniaturform nachzubauen und den eigenen Reichtum damit zur Schau zu stellen. Sie sind Anschauungsobjekte und ein Zeitvertreib reicher Kaufmannsfrauen, die viel Zeit und Geld in dieses Hobby investieren.2 Mit großer Genauigkeit und Detailliertheit werden reale Interieurs nachgebildet, besonders aufwändig sind meist die repräsentativen Wohnräume und diejenigen Räume, die die Wirkstätte der Hausfrau sind, ausgestattet: Küche, Wäschezimmer, Kinderzimmer und teilweise auch ein Entbindungszimmer. Im 19. Jahrhundert, speziell im Biedermeier, werden Puppenhäuser als Spielzeug für Kinder des Bürgertums entdeckt und nach der industriellen Revolution bald massenweise industriell gefertigt. Es sind Spielzeuge speziell für Mädchen, die mit den Puppenhäusern ihre späteren Tätigkeiten als Hausfrau und Mutter einüben sollen.3 Puppenhäuser sind historisch betrachtet also mit der Geschichte des Bürgertums und der Naturalisierung der Geschlechterrollen in der bürgerlichen Familie verbunden: Es ist die wohlhabende Bürgersfrau, die zu Hause bleibt, nicht berufstätig ist, und Zeit für eine Nachbildung des eigenen Lebens in Form des Puppenhauses hat. Bereits in dieser Phase lässt sich sagen, dass die Puppenhäuser Anteil haben an der Normalisierung der bürgerlichen Geschlechterrollen. Als Spielzeug für Mädchen schließlich wird diese normalisierende Funktion besonders deutlich. Puppenhäuser sind lange den Mädchen vorbehalten, sie naturalisieren als geschlechtsspezifisches Spielzeug nicht nur allgemein das binäre Geschlechtermodell sondern ganz spezifisch die Zuständigkeit des Mädchens für Haushalt und Familie. Der Anfang von Familienbande stellt also diese normalisierende Funktion des Puppenhauses aus: Ein Mädchen spielt mit einem Puppenhaus und stellt darin Familienleben nach, ja, die ganze Bühne gleicht einem Puppenhaus mit Miniaturbäumen, roter Schaukel, Kunstrasen und Zwergkaninchen. Die Mittel normalisierender Praktiken von Geschlechtsidentität und Heterosexualität werden reproduziert, dabei aber leicht übertrieben oder verschoben. Die Brechungen sind harmonisch in das 2

Vgl. J. Pijzel-Dommisse/P. Wardle: The 17th-Century Dolls' Houses, S. 38.

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Zur Geschichte des Puppenhauses vgl. H. Pasierbska: Dolls Houses.

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Gesamtbild eingefügt, sodass sie das bürgerliche Konzept von Ehe, Familie und Privatleben nicht grundlegend stören. So wirken in der oben zitierten Eingangserzählung nur die Doppelungen von Bild (kleines weißes Einfamilienhaus) und Text (›ein weißes Haus in einer kleinen Stadt‹) oder das Ende der Beschreibung (›der Lärm der Autobahn‹) leicht ironisierend. Die anderen Familienverhältnisse werden berichtet, ohne weiter kommentiert zu werden: »Meine Mutter verliebt sich in eine Frau […]«. Das im Puppenhaus nachgespielte Familienleben wird auf diese Weise als normal präsentiert: ganz im Rahmen der bürgerlichen, auf Biologie und Heterosexualität beruhenden Familie, die durch das Puppenhaus repräsentiert wird, konstituiert sich durch die Verschiebung der Geschlechterrollen eine andere Familie, die sich aber nicht grundlegend von der heterosexuellen unterscheidet. Das Puppenhaus steht so für beides: für die normalisierende Funktion der Repräsentation und des Spiels, sowie für die Möglichkeit, im Spiel »die Wiederholung zu verfehlen«, wie Butler schreibt,4 und auf diese Weise die Norm der binären Geschlechterordnung und der Zwangsheterosexualität zu hinterfragen.

3.2 F AMILIENBILDER Die Aufführung spielt einen Tagesablauf aus dem Familienalltag nach mit Aufwachen und Aufstehen, Frühstück, zur Schule gehen, einem Besuch des Vaters, Nachmittagskaffee, Unterhaltungen am Abend und Gutenachtgeschichte. Während dieser alltäglichen Verrichtungen erzählen die Beteiligten Details ihrer Familiengeschichte, von Vätern und Großvätern bis zur Zeugung des Babys Moses. Außerdem unterhalten sie sich über Familie im Allgemeinen, über Liebe, Treue und Sexualität und fügen zwischendurch kleinere Reflexionen über Familienbilder in der abendländischen Kultur ein. Diese Erzählungen und Dialoge werden meist situativ eingebunden – beispielsweise in ein Essen am Tisch oder eine Badezimmerszene – und weitgehend realistisch dargestellt. Durch diese realistische Darstellungsweise wird das Verhältnis von Alltag und Theater – wie dies etwa bei Rimini Protokoll durch die klare Rahmung der Fall ist – nicht hinterfragt, sondern Alltag auf der Bühne nachgespielt. Auch das Verhältnis der Rolle der Mutter und derjenigen der Künstlerin wird nicht reflektiert, wie dies etwa im Post Partum Document von Mary Kelly geschieht. Thema der Aufführung ist die etwas anders besetzte Kleinfamilie Bürkle/Bächli/Huber, nicht die Bedingungen oder Konsequenzen ihrer Theatralisierung. Durch diese Darstellungsweise werden bestimmte normative Muster bezüglich Eltern- bzw. Mutterschaft affirmiert. So reproduziert etwa das gemeinsame Frühstück der beiden Mütter und der zwei Kinder ein auch bezüglich der Geschlechter-

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J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 207.

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rollen typisches Frühstück der Kleinfamilie, denn auch wenn beide Frauen den Frühstückstisch gemeinsam decken, so sitzt die leibliche Mutter des Kleinkindes, Silja Bächli, doch zwischen den beiden Kindern und versorgt sie mit Essen und Trinken, während Katja Bürkle während des gesamten Frühstücks Zeitung liest. Auch im weiteren Verlauf der Aufführung ist das Kleinkind häufiger auf dem Arm seiner leiblichen Mutter als bei Bürkle. Diese Tatsache ist im Kontext der Darstellung einer nicht primär auf Biologie gründenden Familie auffällig, da sie die biologischen Verwandtschaftsbande betont.

Abbildung 32: Familienbande von Lola Arias, München 2009

Quelle: Videostill aus der Inszenierungsaufzeichnung, Münchner Kammerspiele 2009

Dennoch bekommen wir bei den alltäglichen Verrichtungen und im Umgang mit dem Baby mehrheitlich ein Elternpaar vor Augen geführt, bei dem es keine eindeutige geschlechtsspezifische Rollenverteilung gibt. Die symbolischen und realen Funktionen von Mütterlichkeit und Vaterschaft sind nicht an ein Individuum und nicht an einen biologischen Körper gebunden, sodass Zuschreibungen der sozialen und biologischen Elternschaft nebensächlich werden. Einige Szenen setzen sich direkt mit dem heterosexuell-patriarchalen Familienmodell auseinander und stellen es durch verfremdende Mittel als kulturelles Konstrukt aus. So beispielsweise in einer Szene, in der die beiden Mütter in rasantem Tempo Wäsche aufhängen und dabei Zitate und Sprichwörter zum Thema Familie aufsagen: »Du sollst Vater und Mutter ehren«, »Ein guter Familienmensch ist auch ein guter Bürger, Sophokles«, »Die Familie ist der Spiegel der Gesellschaft, Victor Hugo«, »Blut ist dicker als Wasser«, »Die Zukunft der Menschheit hängt von der

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Zukunft der Familie ab, Papst Johannes Paul II«, »Bei Muttern schmeckt es immer noch am besten«, »Die Familie ist eine wohltätige Einrichtung für faule Frauen, die Männer wie Sklaven für sich arbeiten lassen, August Strindberg«, »Kinder sind am besten aufgehoben bei Mann und Frau, sagt Herr Mosbach von der CDU« usw. Die unterschiedslose Montage von Zitaten aus ganz verschiedenen Zusammenhängen und Epochen führt die historische, diskursive und immer auch heterogene Konstruktion von Familie vor Augen. Die Verbindung mit dem Wäscheaufhängen verweist auf die Abhängigkeit des Alltags von solch diskursiven Praktiken, erinnert aber zugleich an die Möglichkeit des Spiels mit den Vorgaben, denn die Darstellerinnen jonglieren mit den Begriffen und Zitaten wie mit den Kleidungsstücken und ihrem eigenen Körper, wenn sie durch Tür und Fenster, über Tisch und Sofa zwischen drinnen und draußen hin und her springen, um die Wäsche aus dem Haus zu holen und an der Rampe aufzuhängen. In einer anderen Szene, die mit verfremdenden Mitteln arbeitet und nicht nur den Alltag der Familie nachspielt, werden Familienbilder gestellt. Wie zu einem Familienfoto drapieren sich alle auf einem Sofa vor dem Haus in unterschiedlichen Anordnungen und halten die jeweilige Pose für einige Sekunden, immer mit dem Blick ins Publikum. Die Sequenz beginnt mit einem Familienbild, bei dem der Vater außen vor bleibt: Die beiden Mütter sitzen eng nebeneinander auf dem Sofa, sie haben die Knie zusammen, die Hand der einen liegt auf dem Bein der anderen, das Baby auf dem Schoß der leiblichen Mutter. Lena sitzt auf der Lehne des Sofas rechts neben ihren Müttern und beugt sich über die Rückenlehne, der Vater steht links daneben, mit leicht gespreizten Beinen und hängenden Armen. Er ist deutlich von der Figurengruppe entfernt, und auch Lena ist körperlich nicht an die MutterKind-Gruppe gebunden. Das Sofa unterstreicht die Einheit der Familie, indem es sie optisch zusammenhält und nach außen abgrenzt – man denke etwa auch an Chodowieckis in Kapitel II.1.4 besprochenes Titelkupfer. Das folgende Gruppenbild zeigt alle Beteiligten körperlich nah zusammen: die biologischen Eltern, also Bächli und Florian Huber, mit dem Baby auf dem Sofa, wobei das Baby wieder auf dem Schoß der Mutter sitzt, Lena und ihre leibliche Mutter hinter dieser Kleinfamilie auf der Rücklehne, die Köpfe aneinander geschmiegt (Abb. 32). Bächli und Huber nehmen geschlechtsspezifische Körperhaltungen ein: sie mit geschlossenen, zur Seite gewendeten Beinen und eng um das Kind geschlungenen Armen, er mit weit geöffneten Knien und ausladend auf die Beine gestützten Armen. Huber lehnt sich leicht zu Bächli hinüber, umarmt sie aber nicht; die beiden Mutter-Kind-Verbindungen, die wir zu sehen bekommen, scheinen enger zu sein, als diejenigen zwischen den Eltern. Wieder erfolgt eine Umgruppierung, und nun sitzt Lena mit ihren leiblichen Eltern auf dem Sofa, die zweite Mutter mit dem Baby auf der Lehne daneben. Huber legt einen Arm um Bürkle, den anderen um Lena, die zwischen beiden sitzt. Er scheint hier ganz in der klassischen Vaterrolle die Familie zusammenzuhalten und

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nach außen abzuschirmen. Das nächste Bild setzt den Vater ins Zentrum, er sitzt in der Mitte des Sofas, die beiden Mütter rechts und links von ihm, und legt seine Arme hinter sie auf die Sofalehne, sodass seine Pose nun derjenigen eines Patriarchen ähnelt, der durch die Armhaltung Dominanz und Besitzanspruch zum Ausdruck bringt, ohne eine emotionale Bindung erkennen zu lassen. Lena sitzt mit Moses auf der rechten Lehne. Auffällig ist, dass dieses vierte Bild das erste ist, bei dem das Kleinkind Moses nicht auf dem Arm seiner leiblichen Mutter ist. Auf dem nächsten Bild sitzt der Vater mit Lena auf dem Sofa, Lena hat immer noch Moses auf dem Schoß, Huber legt den Arm um sie und neigt sich zu ihr. Bächli sitzt auf der Lehne, Bürkle liegt wie der Familienhund mit hechelnder Zunge vor dem Sofa auf dem Boden. Nach diesem Bild, das durch die Darstellung des Hundes als einziges offen ironisch ist, lösen sie sich voneinander und stellen sich in einer Reihe nebeneinander vor den Zuschauern auf: Vater, Mutter, Mutter, Tochter mit Baby. Sie bleiben kurz stehen, blicken ins Publikum, dann sagt der Vater »Tschüss« und verlässt die Bühne. Diese in der Art von Tableaux vivants gestellten Familienbilder spielen auf der Folie eines ›normalen‹ Familienporträts verschiedene Möglichkeiten des innerfamiliären Beziehungsgeflechts durch. Tableaux vivants auf dem Theater verfremden die Darstellung, da die Handlung unterbrochen, die Inszenierung in Form der Pose sichtbar gemacht und die Praxis des Theaters mit dem Medium Bild konfrontiert wird. Anders als im Fluss der Handlung oder der Bewegung werden – gerade im Falle der Selbstdarstellung – die dargestellten Personen distanziert und die Aufmerksamkeit auf den Akt der Darstellung, die Figurenkonstellation und einzelne Haltungen bzw. Körperbilder gelenkt. Familie wird in dieser Reihung von Tableaus nicht als natürliche Einheit, sondern als ein Herstellungsprozess, an dem alle Mitglieder aktiv beteiligt sind, ausgewiesen. Die bildnerische Form des Familienbildes wird, sieht man einmal von dem Bild mit Hund ab, ernst genommen. In sachlich-nüchterner Weise nehmen die Darstellerinnen und der Darsteller die verschiedenen Posen ein, ohne sie zu kommentieren oder Gefühle zu illustrieren. Die Posen selbst orientieren sich weitgehend an alltäglichen Körperhaltungen und als ungezwungen geltenden Gruppenbildern der Gegenwart. Die Familie Bürkle-Bächli-Huber setzt sich hier gleichsam selbst visuell in Bezug zu üblichen Formen der Familiendarstellung und damit zur traditionellen Familie. Welche Möglichkeiten der Darstellung des Beziehungsgeflechts Familie bietet das Familienporträt? Welche Konstellationen und Beziehungen zueinander sind möglich? Lässt die spezielle Familie Bürkle-Bächli-Huber sich im Familienporträt fixieren? Das profane Familienbild ist bereits seit der Renaissance nachweisbar, erlebt seine Blüte aber im bürgerlichen Zeitalter des ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert. Die bürgerliche Familie wird hier »als Hort privater Zurückgezogenheit und

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individueller Glücksverheißung« inszeniert.5 Charakteristisch ist die Darstellung der Familie als emotionale und körperliche Einheit. Renate Lorenz betont, dass, obwohl im Familienbild ab dem späten 18. Jahrhundert vermehrt zärtliche Väter auftreten, die patriarchalische Machtstruktur unverändert bestehen bleibt.6 Dies manifestiert sich in Form des pyramidalen Bildaufbaus oder durch eine gewisse optische Randständigkeit des Vaters; die Darstellungskonvention der Einheit MutterKind mit optisch distanziertem Vater entspricht der geschlechtsspezifischen Rollenverteilung der bürgerlichen Familie. Ihre Autonomisierung als Gruppe im Familienbild geht mit der Naturalisierung der Geschlechterrollen einher. Betrachtet man die in Familienbande gestellten Familienbilder vor dem Hintergrund des bürgerlichen Familienbildes in der Malerei, so wird deutlich, dass bestimmte Darstellungskonventionen auch heute noch greifen und in Familienbande reproduziert werden, auch wenn die Kleinfamilie hier um eine Position (die der zweiten Mutter bzw. des Vaters) erweitert ist. So wird die biologisch fundierte Einheit von Mutter und Kind betont, indem das Baby nie seinem Vater oder seiner anderen Mutter, sondern fast ausschließlich seiner leiblichen Mutter zugeordnet ist. Im Verhältnis zu dieser Mutter-Kind-Einheit werden sowohl der Vater als auch die zweite Mutter als randständig dargestellt. Der Vater wird entweder optisch von den Müttern und Kindern distanziert, oder er nimmt eine patriarchalische Pose der Dominanz und Abgrenzung ein, obwohl er im Familienalltag diese Rolle nicht innehat. Ein zärtlicher Bezug wird nur in einem Bild zugelassen, in dem er die Arme um seine Tochter und deren Mutter legt. Bemerkenswert ist, dass in den meisten Konstellationen ein Familienmitglied von den anderen distanziert ist, am deutlichsten der Vater in dem ersten Tableau, aber auch andere, jeweils nicht zur Kernfamilie gehörenden Figuren, wie etwa Bächli mit Moses, die seitlich auf der Lehne sitzt, während Huber, Bürkle und Lena als geschlossene, biologische Kleinfamilie auf dem Sofa sitzen. Das Sofa, das im bürgerlichen Familienbild nicht nur die Familie im Privatraum verortet, sondern als formales Element auch die Einheit der Familie betont, hat hier ebenfalls vereinheitlichende Wirkung. Sichtbar gemacht wird aber auch die Funktion der Ausschließung, die mit jeder geschlossenen Einheit einher geht. Insofern werden in der Szene der nachgestellten Familienbilder in Familienbande nicht nur die verschiedenen Facetten und Variationsmöglichkeiten des Beziehungsgeflechts Familie vorgeführt, sondern auch Ein- und Ausschlüsse sichtbar. Fraglich bleibt, inwiefern bestimmte Darstellungskonventionen aufgedeckt, oder aber unhinterfragt reproduziert werden, wie beispielsweise die Einheit von Mutter und Kind, die gerade nicht aufgebrochen wird. Während die schnelle Reihung mit den vielen Positionswechseln den Facettenreichtum dieser Modellfamilie 5

A. Lorenz: Das deutsche Familienbild, S. 8. Vgl. Kap. II.1.4 der vorliegenden Arbeit.

6

Ebd., S. 58-59.

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in den Vordergrund stellt, in der es keine festgelegte Hierarchie zu geben scheint, werden die Darstellungskonventionen der Mutter-Kind-Einheit und die mit ihr einhergehenden Implikationen (Betonung der Biologie, Naturalisierung der Geschlechterrollen, Reduktion von Weiblichkeit auf Mütterlichkeit etc.) nicht reflektiert. Am Ende lösen sich die Darstellenden aus dem Gruppenbild und stellen sich in der Mitte der Bühne nebeneinander auf. Wie bei einer Applausordnung treten sie den Zuschauerinnen und Zuschauern gegenüber, treten gleichsam aus ihren familiären Rollen heraus und präsentieren sich als Einzelne. Dieses Nebeneinander ist eine visuelle Anordnung, die Gleichberechtigung und Eigenständigkeit des Einzelnen betont, sie lässt aber jede Nähebeziehung oder emotionale Bindung außer Acht. Während der traditionelle Darstellungsrahmen ›Familienbild‹ scheinbar keine gleichberechtigte Anordnung ermöglicht, sondern immer Hierarchien und Ausschlüsse bereit hält, ermöglicht das Nebeneinander eine egalitäre Darstellung der Beteiligten, sagt aber nichts über zwischenmenschliche Beziehungen aus. Die Darstellenden stehen uns nunmehr jenseits von vorgefertigten Mustern gegenüber und geben die Frage nach möglichen Familien- und Beziehungsstrukturen auf diese Weise an uns weiter. Vaterbilder In der Szene der Familienbilder nimmt der Vater zwar teilweise eine randständige Position ein, wird aber insgesamt als zugehörig zur Gruppe der Familie dargestellt. Betrachtet man die Aufführung als Ganzes, so ist dies nicht der Fall; der Vater kommt erst nach einigen Szenen von außen hinzu und verlässt die Familie auch wieder. Insofern repräsentiert er eine stereotyp männlich-väterliche Position zwischen Familie und Außenwelt, während die beiden Mütter während der gesamten Aufführung an das Haus gebunden sind und keinen erkennbaren Bezug zur Außenwelt haben. Andererseits wird durch die Familie, die aus zwei Müttern und den Kindern besteht und in der der Vater nur einen flexiblen, randständigen Platz einnimmt, die patriarchale, heteronormative Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft herausgefordert. Bei seinem ersten Auftritt kommt Florian Huber mit einem Motorrad auf die Bühne gefahren. Er bleibt zunächst auf dem Motorrad sitzen und erzählt von seiner Rolle als Vater: »Ich bleibe immer vor dem Haus stehen und schaue es mir an bevor ich reingehe, so als müsste ich Kräfte sammeln. Einmal in der Woche besuche ich meine Tochter. Wir spielen Karten oder Fußball oder essen ein Eis, dann gehe ich wieder […] Ich bin so eine Art Call a Dad.« Dann kommt seine Tochter hinzu und er rennt mit ihr um das Haus, später sitzen sie zusammen auf dem Hausdach und unterhalten sich. Huber spricht Schwierigkeiten seiner Vaterrolle kurz an, sehr schnell aber löst sich diese Selbstreflexion in eine ungebrochene, realistisch dargestellte Vater-Tochter-Idylle auf.

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Die männliche Position, die er in der Inszenierung einnimmt, wird durch sein wesentliches szenisches Attribut bestärkt: das Motorrad. Es ist nicht nur Symbol für Männlichkeit und Virilität, sondern auch für die Freiheit des Individuums, für Mobilität, Geschwindigkeit und die große, weite Welt – also für das Gegenteil von Privatheit und Geschlossenheit der bürgerlichen Familie. Mit diesem Motorrad kommt Florian Huber auf die Bühne gefahren, und auf diesem Motorrad nimmt er später seine Tochter Lena mit – allerdings bewegen sie sich nicht von der Stelle. Sie sitzen gemeinsam auf dem Motorrad und bekommen von einer Windmaschine Wind ins Gesicht geblasen, die Haare fliegen, die Augen werden zusammengekniffen, Lena lacht. Einerseits wird so ein stereotypes Bild von Vaterschaft reproduziert – der Vater, der für das Erleben der Außenwelt, für Abenteuer, Action und ein gewisses Maß an Risiko steht, für eine Befreiung des Kindes aus der einengenden Fürsorge der Mutter. Ein Vater, der nicht immer präsent ist, keine pflegerischen Aufgaben übernimmt und nicht für das Alltägliche, sondern für das Außergewöhnliche zuständig ist. Diese Rolle des Vaters wird in dem idyllischen Bild des Motorradfahrens von Vater und Tochter affirmiert; zugleich aber durch die Statik mit einem Augenzwinkern versehen. Die sichtbare Windmaschine funktioniert als ironische Brechung, die Freiheit ist eine Konstruktion, eine Phantasie, an die die (Theater-) Wirklichkeit nicht heranreicht. Trotz dieses Augenzwinkerns kommen mit der Figur des Vaters traditionelle Darstellungskonventionen von Familie auf. So bleiben die beiden Mütter, wie bereits erwähnt, während der gesamten Aufführung im bzw. am Haus, sie werden einzig über ihre familiäre Situation bestimmt, Beruf und Arbeitsalltag bleiben fast vollständig außen vor. Intime Familienszenen wie das morgendliche Aufwachen im gemeinsamen Bett oder das abendliche ins Bett Bringen der Tochter sind den Frauen vorbehalten, und auch das Baby ist fast ausschließlich bei den Müttern. Der Vater hingegen bleibt weitgehend aus dem Familienleben ausgeschlossen: Er kommt nur zeitweise hinzu und betritt das Haus nur für kurze Momente. Er ist auch der einzige, der näher auf seinen Beruf eingeht. Auf diese Weise bleibt die Polarisierung der Geschlechter, wie sie prägend ist für die Kleinfamilie, aufrechterhalten. Dennoch ermöglicht das Hinzukommen der Vaterfigur auch eine Auffächerung möglicher familiärer Konstellationen, also etwa der Vater-Tochter-Einheit, der biologischen Kleinfamilie Bürkle/Huber, deren Geschichte im Rückblick erzählt wird, während sie zu dritt eng umschlungen und lächelnd auf dem Motorrad sitzen, oder der erweiterten Kleinfamilie mit drei Elternteilen. Da alle vorgestellten Konstellationen in gleicher Weise harmonisch in Szene gesetzt sind, wird Familie als ein Beziehungsgeflecht gedeutet, das auf unterschiedlichen Formen der Verbundenheit beruhen kann, und das immer wieder neu gestaltet wird; Familie ist hier nicht stabile Einheit sondern ein fortwährender Herstellungsprozess und lebendige Praxis.

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Mutterbilder Die Hauptrollen in Familienbande spielen ohne Frage die beiden Mütter, die mit den zwei Kindern die dargestellte Kleinfamilie bilden. Sie haben die Aufführung von Anfang an in der Hand, erzählen die Familiengeschichte aus ihrer Perspektive, und führen die Zuschauer von Szene zu Szene. Sie bilden auf diese Weise nicht nur das Zentrum der dargestellten Familie, sondern auch der Darstellung; die Figur der Mutter ist in Familienbande Protagonistin. Dennoch stellt sich die Frage, ob das einfache Nachspielen des Familienalltags nicht tradierte Vorstellungen von Mutterschaft zementiert, anstatt für andere Modelle von Verwandtschaft und Rollenverteilung einzutreten. Wie bereits erwähnt, sind beide Frauen in der Aufführung ganz auf den Bereich der Familie konzentriert, ihr Beruf und die gesellschaftliche Öffentlichkeit spielen szenisch keine Rolle und auch im Text nur eine nebensächliche. Da sie während der gesamten Aufführung mit dem Kleinkind beschäftigt sind, entstehen immer wieder konventionelle Mutterund Frauenbilder. Die meisten der versorgenden Tätigkeiten werden allerdings nebenbei und sachlich ausgeführt, und Bürkle und Bächli kommentieren währenddessen ihr Familienleben, sodass diese Bilder nicht ungebrochen vorgeführt werden. Dennoch ist die Normalität auch im Sinne einer Geschlechterrollennorm auffällig, Geschlechtsidentitäten oder das Rollenbild der Mutter werden, bis auf wenige Ausnahmen wie etwa eine Szene, in der die Frauen sich vorstellen, Männer zu sein (Abb. 33), nicht hinterfragt. Dies wird auch in einer Sequenz deutlich, in der der erste Geburtstag des Sohnes Moses mit der gesamten Familie am Kaffeetisch nachgespielt wird. Die Situation am Esstisch ist ein typisches Setting für Familienszenen, sowohl im Film als auch im Theater. Der Esstisch gilt als Zentrum des Familienlebens, da hier üblicherweise alle zusammenkommen, die gemeinsame Nahrungsaufnahme steht für die quasi-rituelle Stiftung von Gemeinschaft. Im bürgerlichen Familienbild steht die Darstellung der Familie am Esstisch für eine Naturalisierung der Darstellungskonventionen, durch die das Privatleben möglichst realistisch festgehalten werden soll.7 Beim Essen wird nicht nur die Gemeinschaft der Familie gefestigt, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen und Machtverhältnisse in Szene gesetzt, etwa durch die Sitzordnung. In Familienbande wird die Tischsituation von den beiden Müttern dominiert, die, mit dem Geburtstagskind in ihrer Mitte, den Zuschauern gegenüber und so im Zentrum des Arrangements sitzen; Tochter und Vater sitzen an den seitlichen Kopfenden. Es ist eine zum Zuschauerraum hin offene Sitzordnung, die den offenen Charakter der Familie repräsentiert. Der Vater ist, anders als in der traditionellen bürgerlichen Familie, nicht Oberhaupt der Tischgesellschaft, sondern sitzt gleichberechtigt mit den anderen Familienmitgliedern am Tisch. Die Mütter sind während des Sprechens in erster Linie auf die beiden Kinder 7

Vgl. A. Lorenz: Das deutsche Familienbild, S. 31. Vgl. Kap. I.1.1 dieser Arbeit.

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konzentriert – das Kleine wird von beiden, mehr noch von Bächli, gefüttert und umsorgt, Lena bekommt Fragen hinsichtlich der Familiengeschichte beantwortet. Die Familie, die hier am Tisch sitzt, widerspricht so gewissen Konventionen, indem sie offen gestaltet ist und zwei Mütter ins Zentrum rückt, während der Vater keine zentrale Position einnimmt. Zugleich werden Rollenmodelle auch bestätigt, da ausschließlich die Mütter – und hier auch wiederum die leibliche Mutter stärker – für die Versorgung des Kleinkindes zuständig sind. Inhaltlich werden Fragen der Bedeutung von Geschlechtsidentität und biologischer Verwandtschaft für Familie diskutiert. So erzählen alle drei Erwachsenen anlässlich des Geburtstags ihres Sohnes Moses die Geschichte von Mose, der ja bekanntlich sowohl eine leibliche, die ihn durch Aussetzen rettete und später als Amme stillte, als auch eine nicht-leibliche Mutter, die ihn adoptierte und aufzog, hatte. Nach dieser Erzählung um leibliche und nicht-leibliche Mütter berichten Bächli und Bürkle von den Schwierigkeiten, einen Arzt zu finden, der eine künstliche Befruchtung bei zwei Frauen durchführt: »Wir haben immer gesagt, dass wir zwei Frauen sind, die ein Baby wollen, und dass wir auch einen Vater haben für das Kind, und dann wollte keiner die Behandlung durchführen. Eine Ärztin hat gesagt: ›Ein Baby ist kein Accessoire‹, und ein anderer Arzt hat gesagt: ›Ich kann Sie nicht behandeln, ich bin schließlich dafür verantwortlich, dass das Kind nicht auf der Straße landet.‹«

Schließlich sei Bächli mit Huber zu einem Arzt gegangen, der wohl davon ausging, sie seien ein heterosexuelles Paar, und die Behandlung umstandslos durchführte. Auf der Ebene des Textes werden gesellschaftliche Vorurteile gegen nichtheterosexuelle Formen von Familie angesprochen und deutlich gemacht, wie wirkungsmächtig solche Normen in der Realität sind. Zugleich wird Familie explizit nicht als biologische Tatsache, sondern als ein bewusster Herstellungsprozess vor Augen geführt. Für den Ist-Zustand scheint beides, sowohl die gesellschaftlichen Normen als auch die Notwendigkeit, Familie herzustellen, allerdings keine Bedeutung zu haben, das familiäre Glück wirkt perfekt.

3.3 D IE N ORMALISIERUNG

DER

F AMILIE

Auffallend ist die Harmonie, die in Familienbande den dargestellten Familienalltag prägt, Konflikte oder Spannungen innerhalb der Familie oder mit Außenstehenden werden nicht angesprochen – »Hört sich kompliziert an, ist es aber nicht«, sagt Lena passender Weise zu Beginn über ihre Familie. Die Alltäglichkeit des Bühnengeschehens und diese bruchlose Harmonie erzeugen den Eindruck einer Normalität,

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die die Andersartigkeit der Familie trotz ihrer offenen Thematisierung in den Hintergrund treten lässt. Abbildung 33: Lola Arias: Familienbande, München 2009

Quelle: Lola Arias, Foto: Lola Arias

Schon nach wenigen Szenen erscheint eine Familie mit zwei Müttern ganz normal. Dies hat auch damit zu tun, dass der Anblick von Frauen bei alltäglichen Verrichtungen des Haushalts und der Kinderbetreuung der gesellschaftlichen und medialen Norm entspricht. Insofern hätte ein männliches Paar mit zwei Kindern bei ähnlicher Darstellungsweise sicherlich einen anderen Effekt. Dennoch ist die normalisierende Wirkung von Familienbande bemerkenswert; diese Normalisierung tritt für die Anerkennung unterschiedlicher Familienmodelle ein, für Formen des Zusammenlebens jenseits heterosexueller Ehe und Familie. Dass ein solches, nicht auf Biologie und Heterosexualität gründendes Familienmodell auch im 21. Jahrhundert noch grundlegend an die kulturelle Ordnung unserer Gesellschaft rührt, bezeugen die Diskussionen, die ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare in europäischen Ländern auszulösen imstande ist.8 Die Darstellung der Familie Bürkle/Bächli/Huber auf dem Theater fordert diese Ordnung heraus und macht ihre Kontingenz bewusst.

8

Zum Problem staatlicher Legitimierung gleichgeschlechtlicher Ehen vgl. J. Butler: Die

Macht der Geschlechternormen, S. 175-176.

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Durch die Normalisierung der anderen Familie gelingt eine Hinterfragung der patriarchalischen Kleinfamilie, ihrer Geschlechter- und Begehrensnormen. Zugleich aber hat die Normalisierung zur Folge, dass das vermeintlich andere Familienmodell in die gesellschaftlich Norm einfügt wird: eine Kleinfamilie, die abgeschieden von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ihren privaten Alltag mühelos meistert und mit keinen Konflikten oder Spaltungen zu kämpfen hat, und so die sozialen, politischen und kulturellen Normen letztlich nicht in Frage stellt. Die Alltäglichkeit des Bühnengeschehens beglaubigt auch das Authentizitäts-Versprechen, durch das die Darstellung der real existierenden Familie Bürkle/Bächli/Huber naturalisiert wird. Denn auch wenn theatrale Mittel sichtbar gemacht werden, so bleibt die Darstellung selbst, die Verkörperung der eigenen Person, doch ungebrochen. Durch diese Naturalisierung werden die dargestellten – geschlechtlichen oder familiären – Identitäten letztlich festgeschrieben. Das Ideal der Echtheit und Natürlichkeit bleibt unhinterfragt, ebenso wie das Ideal der sich in den Privatraum zurückziehenden Kleinfamilie als geschlossene, harmonische und natürliche Einheit. In einem Gespräch zwischen den beiden Müttern geht es um gegenseitige Verantwortung und Zuverlässigkeit bis zum Tod, in Krisen, Krankheit und Sterben. Judith Butler definiert Verwandtschaft, wie bereits erwähnt, als Praktiken, die sich auf die ›elementaren Formen menschlicher Abhängigkeit‹ richten, zu denen sie u.a. Geburt, Krankheit Tod zählt. Sie tritt damit dafür ein, »die Konzeptualisierungen von Verwandtschaft von der theoretischen Voraussetzung der Ehe« zu trennen.9 Familienbande verdeutlicht, dass Verwandtschaft als eine solche verantwortliche Praxis nicht an die Institution der Ehe und auch nicht an das anatomische Geschlecht und die Heterosexualität gebunden ist, und entwirft eine Vision von Verwandtschaft, die nicht allein auf Biologie gründet. Gleichzeitig aber wird das Ideal der Kleinfamilie, die sich ins Private zurückzieht und auf diese Weise gesellschaftliche Normen festigt, reproduziert. Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis von Norm und dem ihr Anderem auf: Inwiefern ist gesellschaftliche Teilhabe an Normalisierung gebunden? Und bedeutet diese Normalisierung einen Verlust der subjektiven Andersartigkeit des Einzelnen? Wie anders ist der Einzelne? Die ›Bande‹ der Familie aus Familienbande verbinden nicht nur die Familienmitglieder untereinander, sondern schließen sie auch nach außen ab. Auch diese Kleinfamilie läuft so Gefahr, Brüche, Uneinheitliches oder ihr Anderes auszuschließen. Und folgerichtig steht in einer Szene der Vater allein auf der Seitenbühne und spricht davon, dass er im Berufsleben als Inspizient immer auf der Seitenbühne stehe, und nun im Familienleben sich auch auf der Seitenbühne befinde. Er blickt dabei auf das geschlossene Haus, in dem die anderen Familienmitglieder sich für die Nacht fertig machen und die Kinder bereits schlafen. Das Haus ist in ein warmes, gelbes Licht getaucht, eine leise Gitarrenmusik begleitet die Szene. Florian 9

Ebd., S. 169.

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Huber blickt von außen auf seine im Inneren schlafenden Kinder und spricht von seiner Entscheidung, Vater des Kindes Moses zu werden und von seinen Zweifeln hinsichtlich seiner Vaterrolle: »Wenn Silja die Mutter ist und Katja der Vater, was bin ich dann? Und wenn die beiden die Mütter sind, was für eine Art Vater bin ich dann? Es ist ihr Kind, aber meins ist es eben auch […] Ich frage mich, welche Fragen mir Moses in Zukunft stellen wird.« Dann geht er ab. Familie wird in dieser Szene durch das geschlossene Haus, das warme Licht, die sanfte Musik und den Schlüssellocheffekt des Blicks in das Innere der Privaträume als Hort der Idylle, des Schutzes und der Abgeschiedenheit dargestellt. Der Vater kann dieses emotionale Refugium nur von außen betrachten. Deutlich wird, dass auch diese Familieneinheit ihre Opfer fordert und die Öffnung der Kernfamilie auf andere Menschen bzw. andere Beziehungsformen nicht unbedingt bruchlos funktioniert. Lola Arias kreiert mit Familienbande eine Form des dokumentarischen Theaters, das die Geschichte und den Alltag einer nicht der heterosexuellen Norm entsprechenden Familie unmittelbar auf die Bühne bringt. Die Familienmitglieder stellen sich allesamt selbst dar, so dass die Distanz zwischen Realität und ihrer Aufführung möglichst gering gehalten wird. Die Darstellung des eigenen Privatlebens auf der Bühne verspricht eine Authentizität des Dargestellten, die durch die Art der Darstellung, also dem realistischen Nachvollzug alltäglicher Handlungen, betont wird. Dieses Bestreben nach einer möglichst großen Authentizität im Sinne einer Unverfälschtheit und Direktheit verhindert aber auch eine (selbst)kritische Distanz zu dem Vorgetragenen und wirkt Brüchen, Widersprüchen und Ambivalenzen entgegen. Die harmonisierende Grundtendenz der Inszenierung läuft Gefahr, das bürgerliche Konzept von Familie als einer homogenen Einheit, das kleinbürgerliche Idyll als Ideal verwandtschaftlicher Praxis zu reproduzieren. Die affirmative Ästhetik untergräbt gleichsam die Vorstellung von Verwandtschaft als einem Herstellungsprozess, der sich gerade nicht auf vorgegebene Normen und Fakten stützt. Zugleich wird aber durch die Normalisierung der nicht-heterosexuellen und nicht allein auf Biologie gründenden Familie die Frage nach unserem Verständnis von Verwandtschaft aufgeworfen. Die Alltagspraxis, die szenisch nachvollzogen wird, ist aus dieser Perspektive betrachtet ein performativer Akt, durch den Familie erst hergestellt wird. Arias präsentiert eine chosen family, eine Wahlfamilie, die nicht allein auf Biologie gründet, ein Queering der normativen Kernfamilie bedeutet und die heteronormative Ordnung herausfordert.

4. Chosen Families

Lola Arias stellt in Familienbande eine chosen family vor, eine Familie, die nicht der heteronormativen, auf biologischer Verwandtschaft beruhenden Kleinfamilie entspricht, sondern soziale Beziehungen den biologischen gleichsetzt und als Verwandtschaft definiert. Zwar sind beide Kinder leibliche Kinder, die Elternschaft der zweiten Mutter geht aber auf eine bewusste Entscheidung zurück, ein nichtleibliches Kind als eigenes Kind zu bekommen und aufzuziehen. Dieser sozialen Mutterschaft wird der Vorrang gegenüber der leiblichen Elternschaft des Vaters gegeben, das Modell der Kernfamilie – ähnlich wie es bei vielen Patchworkfamilien der Fall ist – zugleich um den Vater als drittes Elternteil erweitert. Gleichzeitig wird in der Inszenierung Familie als Generationenfolge, als genealogischer Zusammenhang betont, indem in mehreren Szenen die Herkunftsfamilien der drei Elternteile angesprochen werden und in einer die Familiengeschichte von Katja Bürkle ausführlich über mehrere Generationen hinweg – seit 1582, dem Geburtsjahr des »Stammvaters aller Bürkles« – erzählt wird. Dies geschieht, ähnlich wie die Familiengeschichte zu Beginn der Aufführung, mit den Puppen im projizierten Puppenhaus, wird also durch die erzählerischen Mittel verfremdet. Dennoch ist die Situierung der chosen family in den biologisch-genealogischen Zusammenhang auffällig; sie stellt die Frage nach der Funktion, die die Genealogie für den Einzelnen hat, und nach dem Verhältnis derjenigen Familie, in die man geboren wird, und derjenigen, die man sich selbst wählt bzw. ›macht‹. In der Verwandtschaftsforschung wird bereits seit längerem davon ausgegangen, dass der Begriff der Verwandtschaft auch »optionale beziehungsweise potentiale Netzwerke« meinen kann, die nicht auf Blutsverwandtschaft zurückgehen.1 In Erweiterung der Thesen David Schneiders, der in den 1980er Jahren den in der Ethnologie verwendeten Begriff der Verwandtschaft vor allem hinsichtlich seiner Vorannahmen bezüglich Heterosexualität, Biologie und Ehe grundlegend hinterfragte,2

1

R. Nave-Herz: Ehe- und Familiensoziologie, S. 35.

2

D.M. Schneider: A Critique of the Study of Kinship.

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wird Verwandtschaft in der Anthropologie gegen Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend als eine performative Praxis und weniger als biologische Tatsache gesehen: »Kinship must always be created, negotiated, and brought into being in practice […] Kinship is not a preexisting thing but rather something ›congealed‹«.3 Bereits Schneider geht von der Performativität von Verwandtschaft aus, sie sei kein Faktum, sondern eine Funktion, die sozial hergestellt und reguliert werde.4 War die Anthropologie bislang von der biologisch-sexuellen Fortpflanzung als »ultimate referent« der Verwandtschaft ausgegangen,5 treten nunmehr Aspekte wie nichtbiologische Bindung und Alltagspraxis ins Zentrum des Interesses. Die Verwandtschaftsforschung macht zunehmend deutlich, dass Verwandtschaft keine biologische Tatsache sondern ein historisches Konstrukt ist; man spricht von »›doing‹ kinship, as opposed to simply ›being‹ a particular and fixed kind of kin.«6 Ein solches Verständnis von Familie als aktivem Gestaltungsprozess (»Doing Familiy«) wird inzwischen auch in der deutschen Sozialwissenschaft reflektiert.7 Das abendländische Konzept von Verwandtschaft als natürlichem Resultat der sexuellen Reproduktion wird, zumal in der US-Forschung, hinsichtlich seiner biologistischen und eurozentrischen Ausrichtung sowie der Naturalisierung hierarchischer Strukturen kritisiert.8 Diese kritische Revision der anthropologischen Verwandtschaftsforschung weist auch auf, in welcher Weise die Naturalisierung von Geschlechtsidentität und Familie zusammenhängen; die Setzung einer natürlichen, binären Differenz zwischen den Geschlechtern bildet im abendländischen Diskurs die Grundlage menschlicher Fortpflanzung und damit auch von Verwandtschaft. Umgekehrt betrachtet, garantiert ein Modell von Verwandtschaft, das diese als natürliche Tatsache konzipiert, das binäre Geschlechtermodell als Diskurs- und Machtordnung. Im Kontext der Hinterfragung biologistischer Verwandtschafts- und Familienkonzepte tritt in den 1990er Jahren zunehmend der Begriff der chosen family in den Fokus. Er bezieht sich auf nicht biologische Familien, die, häufig als Ersatz für problematische oder unbefriedigende biologische Herkunftsfamilien, selbst gewählt, aufgebaut und erhalten werden. Er ist vor allem in der homosexuellen Community in den USA gebräuchlich, um Familienformen zu bezeichnen, die nicht der heteronormativen Kleinfamilie entsprechen und meist aus Partnern, engen Freunden, Geliebten und/oder leiblichen bzw. adoptierten Kindern bestehen. Kath Weston schreibt in ihrer Studie Families We Choose von 1991: 3

S. Franklin/S. McKinnon: Relative Values, S. 13.

4

D.M. Schneider: A Critique of the Study of Kinship, S. 133.

5

K. Weston: Families We Choose, S. 33.

6

C. Thompson: »Strategic Naturalizing«, S. 176.

7

Vgl. K. Jurczyk/A. Lange/B. Thiessen: Doing Familiy.

8

Zu diesen Entwicklungen in der anthropologischen Forschung vgl. S. Franklin/S. McKinnon: Relative Values, S. 2-8.

C HOSEN F AMILIES | 265

»Although not always codified or clear, the discourse on gay families that emerged during the 1980s challenged many cultural representations and common practices that have effectively denied lesbians and gay men access to kinship […] What set this new discourse apart was its emphasis on the kinship character of the ties gay people had forged to close friends and lovers, its demand that those ties receive social and legal recognition, and its separation of parenting and family formation from heterosexual relations. For the first time, gay men and lesbians systematically laid claim to families of their own.«9

Weston zufolge wurden Homosexuelle bis in die 1980er Jahre hinein grundsätzlich aus Repräsentationen und Diskursen von Familie und Verwandtschaft ausgeschlossen; homosexuelle Identitäten und Beziehungen wurden auf Sex reduziert. Als Reaktion darauf wurde die »gay or chosen family« in Abgrenzung zur »straight, biological or blood family« entworfen und beide Modelle polarisiert: die frei gewählte, aus Freunden, Geliebten, Kindern »in any combination« bestehende Familie auf der einen, die auf Biologie, Heterosexualität und Genealogie gründende Kernfamilie auf der anderen Seite.10 Letztere wird mit der patriarchalischen Kleinfamilie identifiziert: »While dominant cultural representations have asserted that straight is to gay as family is to no family, at a certain point in history gay people began to contend that straight is to gay as blood family is to chosen families«.11 Auch wenn diese Polarisierung weiterhin die Biologie als Definitions- und Abgrenzungsmerkmal setzt, so sei hierin doch der Beginn einer Neuverhandlung (»renegotiation«) der Bedeutung und Praxis von Verwandtschaft zu sehen, die letztlich die Biologie denaturalisiere. Insofern können die chosen families als paradigmatisch nicht nur für eine homosexuelle Lebenspraxis gelten, sondern auch als Repräsentation anderer, nicht auf Biologie als unhintergehbarer Tatsache gründender Verwandtschaftsmodelle, unabhängig davon, ob diese homo- oder heterosexuell geprägt sind. »All our families are queer«, schreibt Judith Stacey 1996, und meint damit die Diversifizierung von Familie im Zeitalter der Postmoderne, in dem schwule und lesbische Familien ihr zufolge eine neue, »embattled, visible and necessarily self-conscious« Form postmoderner Verwandtschaft repräsentieren.12 Dass dies auch knapp zwanzig Jahre später keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen aktuelle Debatten um ein Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare in Deutschland oder Frankreich – die heterosexuelle

9

K. Weston: Families We Choose, S. 21-22.

10 Ebd., S. 27. 11 Ebd., S. 29. 12 J. Stacey: In the Name of the Family, S. 108. Sie spricht von »gay and lesbian families« als »paradigmatic illustration of the ›queer‹ postmodern conditions of kinship that we all now inhabit«. Ebd., S. 15.

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Kernfamilie erscheint nach wie vor als Garant des binären Geschlechtermodells und der Biologie als zugleich erste Referenz und ultima ratio von Verwandtschaft. Solchen Ambitionen der Konservierung und Naturalisierung von sozialen bzw. symbolischen Ordnungen stehen nicht nur die tatsächlichen Diversifizierungen alltäglicher, familiärer Praxis sondern auch mediale Konstruktionen von Familie und Verwandtschaft gegenüber. In der populären Kultur der Mehrheitsgesellschaft treffen wir nicht nur auf Darstellungen schwuler und lesbischer Beziehungen und Elternschaft,13 sondern auch zunehmend auf chosen families, die die biologische Familie ersetzen. So konstatiert beispielsweise Jes Battis für das 21. Jahrhundert einen »growing trend within televisual narratives to privilege chosen families over biological ones«.14 Ihm zufolge stellen die Freundesgruppen aus TV-Serien wie Friends, Sex and the City, Queer as Folk oder Buffy the Vampire Slayer solche chosen families dar: »›Chosen‹ family – the surrogate sphere of friends who sometimes succeed, and sometimes fail, to recuperate ideals that the character’s biological families cannot properly transmit«.15 Diese chosen families sind Battis zufolge »variations, or queerings of the normative family«, die die heteronormativen Grenzen der bürgerlichen Kleinfamilie herausfordern.16 Er resümiert am Ende seiner Untersuchung der Serien Buffy und Angel, dass diese »radical chosen families« nicht perfekt seien, aber neue Konstellationen der Zugehörigkeit, neue Modelle der Solidarität, Emotionalität und des Lebens böten: »They suggest that weird, queer, exotic, indescribable and even undead families can be better than the traditional ones«.17 Nicht nur der Ersatz problematischer Herkunftsfamilien ist also das Motiv der chosen family im Fernsehen, sie ist auch eine Infragestellung der traditionellen, heteronormativen Kernfamilie überhaupt. Und tatsächlich ist auffällig, in welchem Maße beständige, teils sogar zusammenlebende Freundesgruppen die Serienwelt des Fernsehens bevölkern.18 Das Zerbrechen traditioneller Familienstrukturen in der gesellschaftlichen Realität ebenso wie das Bedürfnis nach nicht hierarchischen, nicht normativen Formen des Zusammenlebens bzw. der Zugehörigkeit scheint zu Vorstellungen von Familie, die selbst gewählt und frei gestaltbar sind, aber emotio13 Als Protagonisten in TV-Serien wie Queer as folk oder The L-Word, aber auch in Serien wie Lindenstraße, Private Practice, Grey's Anatomy u.a. 14 J. Battis: Blood Relations, S. 158. 15 Ebd., S. 13. 16 Ebd., S. 13. 17 Ebd., S. 165. 18 An neueren Serien seien z.B. How I met your Mother oder Big Bang Theory genannt; auffällig ist zudem die teils brutale Demystifizierung des Kleinfamilienidylls in Serien wie Weeds oder Breaking Bad. Die erste US-Serie, die das konservative Bild der TVKleinfamilienidylle aufs Korn nahm, war Eine schrecklich nette Familie ab 1987.

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nale Qualitäten der bürgerlichen Kleinfamilie wie Zugehörigkeit, Verlässlichkeit, emotionale Nähe und Schutz garantieren, zu führen. Sie werden in den erwähnten Fernsehserien als dauerhaft, meist dauerhafter als jedwede durch Biologie, heterosexuelles Begehren oder die Ehe begründete Beziehung, dargestellt, zugleich aber auch als Effekt einer Praxis, eines alltäglichen Tuns, das die familiäre Gemeinschaft immer wieder aufs Neue kreiert und artikuliert. Auch für Judith Butler ist Verwandtschaft in allererster Linie eine »Form des Handelns, eine Praxis«, die immer wieder aufs Neue vollzogen werden muss, und keine biologische Tatsache. Für sie ist es in diesem Kontext wesentlich, die »Unterscheidbarkeit von Verwandtschaft und Gemeinschaft in Frage« zu stellen und »dauerhafte Bindungen außerhalb des ehelichen Rahmens zu denken.«19 In diesem Sinne sind viele der Freundesgruppen in Film und Fernsehen als Formen der Verwandtschaft zu betrachten; Verwandtschaft als eine solche performative Praxis zu verstehen ist aber auch grundlegend für reale chosen families, die aus nicht der heterosexuellen Norm entsprechenden, gleichgeschlechtlichen oder in anderer Weise queeren Beziehungen hervorgehen. Ein Beispiel für eine künstlerische Auseinandersetzung mit dieser Praxis ist das Fotoprojekt Chosen Family Portraits von Sarah Race und Sarah Buchanan.

4.1 C HOSEN F AMILY P ORTRAITS Für Chosen Family Portraits laden die Fotografin Sarah Race und die Journalistin Sarah Buchanan im Rahmen des Vancouver Queer Film Festivals 2010 Besucherinnen und Besucher ein, sich mit ihrer chosen family portraitieren zu lassen. Chosen Family Portraits besteht aus 28 Fotografien, auf denen sowohl Paare als auch größere Gruppen zu sehen sind, begleitet von Zitaten der Porträtierten. So sind auf Chosen Family Portraits # 2 beispielsweise zwei Frauen und ein Junge zu sehen, die sich umarmen und lächelnd in die Kamera blicken. Das Zitat »We always wanted to have children, and twelve years ago we had our son together«, begleitet das Bild. Auffallend ist, dass die Positionierung im Bildrahmen und die Haltung der beiden Frauen hier nicht nur die Verbundenheit ausdrückt, sondern auch heterosexuelle Muster reproduziert: die in Kleidung und Physiognomie männlicher wirkende Frau ist größer und steht hinter ihrer Partnerin und dem gemeinsamen Sohn, sie legt den Arm von hinten um die Schultern ihrer Partnerin, eine typisch männlichväterliche Geste. Die andere Frau, rechts im Bild, umschließt den direkt vor ihr stehenden Sohn mit beiden Armen und bildet auf diese Weise eine körperliche Einheit mit ihm, aus der die väterliche Position tendenziell ausgeschlossen ist. Das Umfas-

19 J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 208.

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sen des Kindes, das den kindlichen Körper an den mütterlichen bindet, sodass dieser fast vollständig hinter dem Kind verschwindet, ist eine traditionell mütterliche Pose der zugleich fürsorglichen und einengenden Nähe. Dieses Bild kreiert eine selbstbewusste, selbstverständlich und glücklich wirkende chosen family und reproduziert zugleich die Bildregeln und Darstellungskonventionen des traditionellen Familienbildes und damit auch die Rollenverteilung der heterosexuellen Kleinfamilie. Irritationsmomente sind das androgyne Erscheinungsbild der Frau in der linken Bildhälfte, das geschlechtliche Zuschreibungen verunsichert, und die offensive Geste der anderen Frau, die den Sohn vollständig in Besitz zu nehmen scheint. Letzteres ist, im Zusammenhang mit der Bildunterschrift, lesbar als Nachwirkung eines langen Kampfes um dieses Kind und verweist darauf, dass die homosexuelle Familie im gesellschaftlichen Kontext keine Selbstverständlichkeit ist. Abbildung 34: Sarah Race: Chosen Family Portrait #7 und #9, Vancouver 2010

Quelle: http://www.femininemoments.dk/blog/vancouver-chosen-family-portraits

Auf Chosen Family Portraits # 7 sind vier Menschen zu sehen, zwei Männer und eine Frau stehen, vor ihnen sitzt eine weitere Frau (Abb. 34 links). Sie ist im Gegensatz zu der stehenden Frau mit künstlichen weiblichen Attributen versehen (Schmuck, Boa, Perücke), sodass sie wie eine drag queen wirkt und ihre Geschlechtsidentität und damit auch die Rolle, die sie in der Familie einnimmt, nicht eindeutig sind. In der Mitte hinten steht ein Mann, links neben ihm eine etwas kleinere Frau, rechts ein größerer Mann. Der Mann in der Mitte legt beide Arme um die Schultern der anderen; sie bilden dadurch eine Einheit. Auch hier drückt die Geste des Umarmens eine gewisse Dominanz aus, die aber zugleich in Frage gestellt wird, da der Bildaufbau nicht pyramidal, der andere Mann deutlich größer ist. Die Rollen,

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die die Einzelnen in der Familie einnehmen, bleiben ungeklärt, es ist keine traditionelle, heteronormative Familienstruktur erkennbar. Chosen Family Portrait #9 zeigt sechs Personen, zwei Frauen und ein Mann stehend, davor eine Frau mit zwei Kindern auf dem Schoß sitzend (Abb. 34 rechts). Die Frau, die hinten in der Mitte steht, ist älter und kleiner als die anderen Porträtierten, sie wird von der Frau links von ihr und dem rechts stehenden Mann gleichsam gerahmt. Die drei stehen unabhängig voneinander, sie berühren sich kaum. Der Mann hat seine Hand auf der Schulter der vor ihm sitzenden Frau liegen. Allein diese Geste reicht aus, um die Assoziation einer traditionellen Kernfamilie aufzurufen: Die Frau und der Mann in der rechten Bildhälfte scheinen zusammenzugehören, die beiden Kinder, um die die sitzende Frau ihre Arme gelegt hat, scheinen ihre zu sein. Es liegt nahe, die ältere Frau als Großmutter zu sehen, nur die Frau links im Bild ist keiner üblichen familiären Figur zuzuordnen. Ihre Position am äußersten Bildrand scheint auf eine randständige Rolle innerhalb der Familie hinzuweisen, als einzige steht sie neben der Gruppe, da sich die sitzende Frau rechts von der Bildmitte befindet. Diese Lesart, die das Muster der heteronormativen Familie auf das Bild der chosen family legt, wird durch das Zitat, das das Porträt begleitet, verunsichert: »Especially within the queer community where people may have been rejected, or you don’t have always the ability to construct the sort of traditional family… it’s interesting to see how people come up with ways to meet the needs that the family traditionally needs. So look what we did.«20

Der Text macht bewusst, dass das Lesen von Familienporträts üblicher Weise nach vorgegebenen Mustern erfolgt, die nicht der gelebten Realität entsprechen müssen, und wirft die Frage auf, ob nicht noch ganz andere Beziehungsgeflechte unter den dargestellten Personen möglich sind als die im ersten Moment angenommenen. Chosen Family Portrait #9 stellt im Vergleich zur bürgerlichen Kleinfamilie eine erweiterte Familie vor, bei der die Rollenverteilung letztlich gerade nicht zu erkennen ist. Auf Chosen Family Portrait #5 sind fünf Personen zu sehen, drei stehend, zwei vorne sitzend (Abb. 35). Stehend ein Mann und eine Frau, etwa gleich groß, in ihrer Mitte eine kleinere Frau, deren Hände auf den inneren Schultern der anderen beiden liegen. Vorne eine langhaarige Frau und ein Mann mit punkigem Kurzhaarschnitt, dessen Geschlechtsidentität aber nicht eindeutig festzumachen ist. Auch hier ist keine eindeutige familiäre Rollenverteilung erkennbar, die Einzelnen wirken selbstständig und werden nur durch Pose und Rahmung zu einer Gruppe; es könnte sich auch um ein nicht-familiäres Gruppenbild handeln. Zu einem Familienbild wird es 20 http://www.femininemoments.dk/blog/vancouver-chosen-family-portraits-2 vom 10.4.13.

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durch den Titel »Familienporträt« – die Familien, die wir zu sehen gegeben bekommen, sind deshalb Familien, weil sie sich als solche bezeichnen. Abbildung 35: Sarah Race: Chosen Family Portrait #5, Vancouver 2010

Quelle: http://www.femininemoments.dk/blog/vancouver-chosen-family-portraits

Susan Sontag weist in ihrem Essay »In Platos Höhle« von 1977 darauf hin, dass »jede Familie eine Porträt-Chronik ihrer selbst« konstruiere, »eine tragbare Kollektion von Bildern, die Zeugnis von familiärer Verbundenheit ablegt«, und deren Funktion es sei, »die gefährdete Kontinuität und den schwindenden Einflussbereich des Familienlebens festzuhalten und symbolisch neu zu formulieren«.21 Während Sontag der Fotografie bzw. dem Familienfotoalbum also eine kittende Funktion beimisst, die den Einzelnen in der Kontinuität einer genealogischen Familientradition verortet, aus der die »klaustrophobische Einheit, die Kernfamilie«, ihn löst, konstituieren die Chosen Family Portraits eine solche familiäre Einheit unabhängig von genealogischen Beziehungen. Die Familienfotografie bildet hier keine Familie als gegebene Entität ab, sondern konstituiert sie erst, und erlaubt dadurch sowohl die Konstruktion einer ›klaustrophobischen Einheit‹ als auch einer offenen Form von Gemeinschaft. Chosen Family Portraits erzeugt die Familien im Akt des Porträtierens, durch Bildrahmung und –aufbau, sowie durch den sprachlichen Akt der Bezeichnung; die Familien sind hier Effekte diskursiver Praktiken. »You can choose your friends, but who says you can't choose your family?«, heißt es in der Bildunterschrift eines der Portraits. Was alle Bilder der Serie eint ist die

21 S. Sontag: Über Fotografie, S. 14.

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Tatsache, dass die dargestellten Menschen eine Familie bilden, weil sie sich als Familie präsentieren und sich selbst als solche bezeichnen. Sie sind somit nicht nur Abgebildete, sondern selbst aktiv am Akt der Bedeutungsproduktion beteiligt. Familie wird hier nicht als biologische Gegebenheit präsentiert, sondern als performativer Prozess. Insofern haben wir es mit einer »Resignifikation der Familie« im Butlerschen Sinne zu tun, die keine ›nutzlose Nachahmung‹ ist, sondern eine »kulturelle, neue Ausarbeitung von Verwandtschaft«.22 Die Chosen Family Portraits stellen traditionelle Formen von Familie in Frage, indem sie Darstellungskonventionen des Familienbildes übernehmen, diese aber durch mehr oder weniger offensichtliche Abweichungen irritieren und das Modell Kernfamilie nicht nur erweitern, sondern durch die Hinterfragung von Biologie und sexueller Reproduktion als Bedingung von Verwandtschaft auch destabilisieren. Anders als die biologische Familie, die sich als gegebenes Faktum versteht, muss die chosen family hergestellt werden, um sie real zu machen. Und weil sie eben auf keinen biologischen Tatsachen beruht, muss sie immer wieder aufs Neue von den Beteiligten ›gemacht‹ werden, sie muss beständig reartikuliert werden, um zu bestehen. Die chosen family ist keine stabile Einheit, sondern ein offener Prozess, der sich immer wieder neu erfinden muss und kann, und dies ist sicherlich auch als produktive Chance dieser Form von Familie zu sehen; ›Doing kinship‹ anstatt ›simply being a particular kind of kin‹, wie Charis Thompson es ausdrückt.23 Die Wahl-Verwandtschaft der chosen family ist als ein solches ›Tun‹ zu begreifen, als »ein Tun, das keine vorgängige Struktur reflektiert, sondern nur als ausgeübte Praxis verstanden werden kann.«24 Insofern kann die chosen family auch als Modell für biologisch verbundene Familien dienen, die familiäre Gemeinschaft als eine solche Praxis zu betrachten, die das Gemeinschaftliche immer wieder neu verhandelt und auf diese Weise stabilen Hierarchien entgeht und offen bleibt für Anderes.

4.2 Q UEER

AS

F OLK – Q UEERE F AMILIENVERHÄLTNISSE ?

Wie oben erwähnt, gibt es seit Ende der 1990er Jahre eine zunehmende Anzahl von Fernsehserien, in denen die traditionellen Bilder von Familie und Elternschaft durch neue, vielfältige Entwürfe ersetzt werden. Gerade in den vergangenen zehn Jahren übernehmen dabei chosen families Funktionen und Bedeutungen, die im Serienfernsehen vormals der biologischen Familieneinheit vorbehalten waren, wie etwa Kontinuität, intime Bindungen, Verantwortung, emotionale Sicherheit und Stabilität.

22 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 193. 23 Vgl. Fußnote 6. 24 J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 202.

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Häufig bleibt dabei eine mögliche subversive Wirkung zweifelhaft, etwa wenn am Ende der letzten Staffel von Sex and the City die biologische Kleinfamilie doch noch zusammenfindet und in ein Reihenhaus außerhalb Manhattans zieht. Mehr noch und vor allem subtiler als auf der Ebene des plots, leben tradierte Vorstellungen von Elternschaft auf der Ebene der Darstellung, zumal der visuellen Konstruktion weiter. 2006 startete mit der US-amerikanischen TV-Serie Queer as Folk (2000-2005) die erste Soap mit mehrheitlich homosexuellen Figuren im deutschen Fernsehen.25 Gleich in der ersten Sendung der ersten Staffel wird der schwule Protagonist Brian (Gale Harold) Vater von einem Sohn, für den er seinen Samen an seine lesbische Freundin Lindsay (Thea Gill) gespendet hat. Aus einem One-Night-Stand heraus wird er ins Krankenhaus gerufen. Mit schneller Musik und raschen Schnitten rennen Brian und zwei seiner Freunde durch Krankenhausflure, mit Eintritt in ein Krankenzimmer stoppen Musik und Akteure. Man sieht aus der Perspektive von Brian mehrere Frauen, die sich über ein Bett beugen. Sie blicken nun über ihre Schultern zu Brian, richten sich auf, gehen zur Seite aus dem Bild heraus und geben in der Art eines sich öffnenden Vorhangs dem Zuschauer und Brian den Blick frei auf das Bett (Abb. 36). Präsentiert wird eine Variation der Heiligen Familie: Die leibliche Mutter mit dem Baby im Arm sitzt im Bett, neben ihr auf der Bettkante ihre Partnerin Melanie (Michelle Clunie), den Arm um ihre Schultern gelegt, die andere Hand am Kopf des Babys. Das Kind ist in ein weißes Tuch gewickelt und eng an den Körper der Mutter gedrückt. Lindsay hat eine pastellfarbene Bluse an, ihre blonden Haare sind zu einem lockeren Zopf gebunden, Haarsträhnen fallen um ihr Gesicht und rahmen es in ähnlicher Weise, wie das Gesicht der Madonna meist durch ihren Schleier gerahmt wird. Durch diese fließende Rahmung, geringe Kontraste, die Helligkeit und Farbgebung sowie ihr Lächeln wirkt sie weich und madonnenhaft sanftmütig. Sie hält das Kind mit beiden Armen eng umschlossen an ihren Körper, eine Hand bedeckt fast den gesamten Babykörper. Sie lächelt Brian an, während ihre Partnerin feindselig guckt. Melanie wird in der Bildkomposition zur Rand- und Kontrastfigur. Sie ist im Gegensatz zu Lindsay eher maskulin gezeichnet: Jeans, ärmelloses, bordeauxrotes Top mit breiten Trägern, dunkler Kurzhaarschnitt. Bezogen auf den Bildaufbau nimmt sie die traditionelle Position des Mannes sowie eine typisch männlich-väterliche Pose ein: neben und leicht erhöht über der Mutter-Kind-Dyade, den Arm schützend und nach außen abgrenzend um beide gelegt. Nach einem Schnitt auf den fassungslosen Brian, der durch den bloßen Anblick des Babys wie verzaubert erscheint, ein Schnitt auf Lindsay in Großaufnahme, sie blickt lächelnd auf das Baby hinunter. Brian kommt an das Bett, wieder Schnitt auf die Mütter und das Kind, die zweite Mutter nun breitbeinig, Lindsay schaut 25 Die amerikanische Serie wurde 2000 von Ron Cowan und Daniel Lipman nach dem britischen Original von Russel T. Davies (1999) entwickelt.

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immer noch lächelnd mit geneigtem Kopf und gesenktem Blick auf das Baby in ihren Armen – ein madonnenhaftes Bild. Melanie rückt noch ein Stückchen näher, blickt ebenfalls auf den Säugling, schließt den Arm fester um Mutter und Kind.

Abbildung 36: Still aus »Queer as folk«

Quelle: Queer as folk, Folge 1/Staffel 1, USA 2000

Hier wird, trotz des Themas der queeren Elternschaft, das eine Loslösung von den biologischen Aspekten der Fortpflanzung vermuten lassen würde, Mutter- und Vaterschaft letztlich als biologische in Szene gesetzt. Das Kind wird visuell klar der leiblichen Mutter zugeordnet, mit der es eine körperliche Einheit bildet, und der biologische Vater, der nur seinen Samen gab und eigentlich gar kein Kind wollte, verstummt beim bloßen Anblick seines Sohnes. Seine Bedeutung als biologischer Vater wird auch durch die Inszenierung seiner Ankunft unterstrichen; die Frauen geben in der Art eines Spaliers den Weg für ihn frei und verschwinden dann zunächst ganz aus dem Bild. Die zweite Mutter, Melanie, nimmt die traditionelle Rolle des Vaters im Bildaufbau ein: optisch leicht abgesondert von der Einheit MutterKind, diese beschützend und nach außen abgrenzend. Durch die Inszenierung ihrer Eifersucht wird aber zugleich wiederum der biologische Vater ins Zentrum gerückt. Die leibliche Mutter wird stereotyp mütterlich gezeichnet (hell, weich, sanft) und madonnenhaft in Szene gesetzt. Wir haben es gleichsam mit einer doppelten Affirmation zu tun: zum einen wird die Bedeutung der Biologie und der heterosexuellen Fortpflanzung über die Figur des Brian und die Darstellung der Lindsay manifestiert, zum anderen das Modell der bürgerlichen Kleinfamilie durch die Inszenierung des lesbischen Paares nach heterosexuellem Muster zementiert. Auf diese Weise werden letztlich auch in einer Serie wie Queer as Folk über die Figur der biologischen Mutter und ihre Darstellungskonventionen tradierte Geschlechteridentitäten nach dem Muster der Heterosexualität reproduziert und gesellschaftliche Rollenund Machtverhältnisse fortgeschrieben. Dies bestätigt sich im weiteren Verlauf der Serie durch die heterosexuelle Rollenverteilung in der Beziehung von Lindsay und

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Melanie und ist auch in anderen TV-Serien mit homosexuellem Figurenpersonal zu beobachten, etwa in The L-Word, in der ebenfalls die blonde, weicher gezeichnete Frau die Rolle der leiblichen Mutter des gemeinsamen Kindes, die auf Partnerschaft und Baby fokussiert ist, und ihre dunkelhaarige Partnerin die Rolle des karriereorientierten Vaters übernimmt. Judith Butler zufolge ist die in unserer Kultur »hypostasierte Heterosexualität« Grundlage der Behauptung, dass Verwandtschaft immer schon heterosexuell sei; als symbolische Struktur verstanden begründe sie »das Feld der Verwandtschaft selbst«. Bezogen auf homosexuelle Elternschaft folgert sie: »Nach diesem Grundsatz werden diejenigen, die sich als Nichtheterosexuelle auf das bestehende System der Verwandtschaft einlassen, nur dann Sinn ergeben, wenn sie die Positionen von Mutter oder Vater besetzen.«26 Die angeführten Darstellungen homosexueller Elternschaft unterlaufen aus dieser Perspektive betrachtet nicht die heterosexuelle Struktur, nach der sich Verwandtschaft in der westlichen Kultur bildet, sondern reproduzieren sie. Interessanter Weise unterscheidet sich die visuelle Inszenierung der Mutterschaft in der US-amerikanischen Version deutlich vom britischen Original der Serie.27 Zwar thront auch hier die leibliche Mutter mit dem Baby auf dem Bett, die gesamte Szene ist aber dramaturgisch und visuell profaner gestaltet. Hier wird keine Heilige Familie nach heterosexuellem Muster in Szene gesetzt, sondern ein anderes Bild von Verwandtschaft. So sitzen von Anfang an drei Frauen neben der leiblichen Mutter auf dem Bett, alle drei unterscheiden sich in ihrem Aussehen nicht grundlegend voneinander. Die Partnerin der leiblichen Mutter ist zunächst nicht als solche zu erkennen, eine der anderen Freundinnen hat ihre Hände an Kopf und Körper des Babys. Die Freundin der Mutter wird nicht als eifersüchtig dargestellt, sondern als ebenso freundlich und offen sowohl dem Baby wie dem hinzutretenden Vater gegenüber wie alle anderen. Die Frauenfiguren werden nicht miteinander kontrastiert, wie das in der amerikanischen Version der Fall ist, sodass hier nicht der Eindruck einer heterosexuellen Rollenverteilung – und auch nicht der stereotyp weiblichen oder lesbischen Zickigkeit – erweckt wird. An die Stelle der bürgerlichen, heterosexuellen Kleinfamilie und der binären Geschlechterorganisation tritt hier das Bild einer aus fünf Erwachsenen und einem Kind bestehenden Familie, die nicht primär auf Biologie, sondern auf Freundschaft gründet. Auch die Figur der leiblichen Mutter selbst ist weitaus weniger klischeehaft gezeichnet, als dies in der US-amerikanischen Version der Fall ist. Sie trägt ein dunkelblaues Hemd und hat dunkle, relativ kurze Haare. Sie hält das Baby im Arm, umfasst es allerdings nicht mit ihren Armen und Händen und hält es nicht eng an ihren eigenen Körper, sondern eher offen 26 J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 202-203. 27 Queer as folk, Idee: Russel T. Davies, Großbritannien 1999-2000.

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vor sich, sodass es gut sichtbar ist und auch von den anderen berührt werden kann. Auch bleibt das Baby nicht lange im Arm der Mutter, sondern wird bald von ihr an den Vater weitergegeben. Besonders auffällig ist, dass es keine Einstellung gibt, die ausschließlich die Einheit Mutter-Kind zeigen würde, sondern entweder eine Großaufnahme des Babys mit drei oder vier es berührenden Händen, oder eine Aufnahme der gesamten Frauengruppe. Die in der abendländischen Kultur bevorzugte und als ausschließliche gestaltete Beziehung von leiblicher Mutter und Kind wird so geöffnet auf andere mögliche Beziehungsgeflechte. In der britischen Version der Szene werden auf diese Weise Darstellungskonventionen von Mutterschaft und Familie aufgebrochen, die in der amerikanischen Version nach heterosexuellem Muster reproduziert werden.

4.3 C HOSEN F AMILIES

IN DEN DARSTELLENDEN

K ÜNSTEN

Geschlechteridentitäten werden im Theater seit den 1990er Jahren im Kontext repräsentationskritischer Verfahren denaturalisiert und als Effekte von Zeichenprozessen ausgestellt. Die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten wird auf ganz unterschiedliche Weisen spielerisch verhandelt, künstlerische Mittel sind etwa verfremdende Strategien wie Übertreibung, Unterbrechung, Diskontinuität und Widersprüchlichkeit, sowie offensichtliche Maskeraden und ausgestellte Posen, die, ganz im Sinne Butlers, nicht als Ausdruck einer inneren Wahrheit fungieren, sondern als äußerliche Zeichen, die Identität überhaupt erst als Effekt hervorbringen. Ein wiederkehrendes Mittel der Hinterfragung von Geschlechtsidentität ist dabei das CrossDressing, das auch in den im Folgenden angeführten Beispielen verwendet wird. »Cross-Dressing is about gender confusion« schreibt Marjorie Garber in ihrer breit angelegten Studie zu Transvestismus Vested Interests, und seit Judith Butlers Gender Trouble gilt Cross-Dressing als eine wesentliche Strategie, die Konstruiertheit jedweder Geschlechtsidentität sichtbar zu machen. Auf dem Theater hat CrossDressing und Cross-Casting eine Tradition, die bis in die Antike zurückreicht; es bietet schon immer die Möglichkeit, Identitätskonstruktionen selbstreflexiv zu thematisieren und mit kulturell festgeschriebenen Geschlechterrollen zu spielen.28 Für Butler ist der Transvestismus eine zentrale Figur ihrer Theorie der Performativität von Geschlecht, das Konzept der Travestie steht für die imitative Struktur von Geschlecht überhaupt, für »Geschlecht-als-Drag«.29 Der Transvestit stellt Butler zufolge jedwede Geschlechtsidentität als Imitation ohne Original aus und hinterfragt

28 Inwieweit die Praxis des Cross-Dressing in einzelnen Epochen als subversiv anzusehen ist, ist in der Forschung umstritten. Vgl. L. Ferris: Crossing the Stage. 29 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 316.

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den Begriff des Originals als solchen.30 In Bodies that Matter relativiert sie, dass »es keine zwangsläufige Verbindung zwischen drag und Subversion gibt und dass drag so gut im Dienst der Entnaturalisierung wie der Reidealisierung übertriebener heterosexueller Geschlechtsnormen stehen kann«.31 Wesentlich für eine subversive Wirkung sei, dass die Imitationsstruktur von Geschlecht sichtbar gemacht und der »Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit« bestritten werde.32 Auch für Garber stellt der Transvestismus die Idee des Originals in Frage und weist Identität als Zeichen aus: »Das aber ist das subversive Geheimnis des Transvestismus, dass eben nicht der Körper der Urgrund ist, sondern das Symbol«.33 Neben dieser subversiven hat der Transvestit aber laut Garber auch eine normative, die Kultur stabilisierende Funktion, indem er die kulturelle Angst vor der Artefakthaftigkeit zumal des männlichen Körpers verdrängt und zugleich »den Eintritt in die Symbolwelt markiert«.34 Für das Theater stellt sich in unserem Zusammenhang also unter anderem die Frage, inwiefern das Mittel des Cross-Dressing den ›Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit‹ und damit auch ein biologistisches Verständnis von Verwandtschaft untergräbt.35 Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um (Tanz-)Performances, die Familie nicht zum expliziten Thema haben, sondern die Frage nach Identitäten und Beziehungen in den Vordergrund stellen, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen: Reproduction von Eszter Salamon (Podewil Berlin 2004), Gardenia von Alain Platel und den Ballets C de la B (Gent 2010), sowie mehrere Arbeiten des Performanceduos deufert&plischke, das heteronormative Familienstrukturen durch das Konzept des Künstlerzwillings herausfordert. 4.3.1 Eszter Salamon: Reproduction Eszter Salamons Choreografie Reproduction aus dem Jahr 2004 spielt im Titel auf die heterosexuelle Reproduktion an, setzt diese aber gerade nicht in Szene. Das Publikum sitzt jeweils in nur einer Reihe auf allen vier Seiten einer zehn mal zehn Meter großen Bühnenplattform ungefähr in Tischhöhe. Die Zuschauerperspektive ähnelt so derjenigen eines Table-Dances in Nachtclubs; die Tänzer werden auf der Plattform ganz offensichtlich den Blicken der Zuschauer präsentiert. Zugleich kön-

30 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 202-204. 31 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 178. 32 Ebd., S. 178. 33 M. Garber: Verhüllte Interessen, S. 524. 34 Ebd., S. 496. 35 Zu weiteren Aspekten des Cross-Dressing im zeitgenössischen Theater vgl. M. Dreysse: »Cross-Dressing«.

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nen sich die Zuschauer jedoch nicht uneingeschränkt der voyeuristischen Lust – die ja durch den Vergleich mit dem Table-Dance nahe liegt – hingeben, da sie durch ihre Position auch sichtbar gemacht werden – sie sind in das Bühnenlicht miteinbezogen, sitzen sich gegenüber in jeweils nur einer Reihe, sehen sich so immer auch gegenseitig, werden gesehen und können sich ihres eigenen Akts des Zuschauens bewusst werden. Es treten acht Tänzer auf, junge Männer in Alltagskleidung, also in Hose, Hemd oder T-Shirt, Turnschuhen, einer mit Baseballkappe. Sie haben halblange oder lange Haare, manche zu einem Zopf gebunden. Alle haben Bärte, einige einen Dreitagebart, einige einen Schnurrbart, ein Ziegenbärtchen, einen richtigen Vollbart trägt keiner. Sie treten auf, setzen sich verteilt über die Bühne, blicken in Richtung Zuschauer, bleiben eine Weile so sitzen – in Posen, die zum Teil deutlich männlich konnotiert sind, wie Sitzen mit einem abgewinkelten und einem aufgestellten Bein, rundem Rücken, den Arm auf das aufgestellte Bein gelegt, zum Teil aber auch weiblich, wie das Sitzen auf seitlich angezogenen Beinen. Durch die Kleidung und Gesichtsbehaarung sind dabei alle als Männer gekennzeichnet. Nach einer Weile beginnen sie, sich wie in Zeitlupe zu bewegen. Sie stehen langsam auf, legen sich wieder hin, drehen sich über den Boden, wälzen sich, machen Verrenkungen. Nach etwa zehn Minuten finden sie sich zu vier Paaren zusammen, weiterhin in Zeitlupe und ohne Musik umarmen sie sich, setzen sich aufeinander, verdrehen ihre Gliedmaßen ineinander. Immer deutlicher stellen sie alle möglichen Sex-Positionen nach, küssen sich, wälzen sich paarweise über den Boden. Die Bewegungen werden durch die Zeitlupe stilisiert, die meisten Posen sind sowohl hetero- als auch homosexuell lesbar. Nach weiteren ca. zehn Minuten gibt es einen Partnertausch – alle stehen auf, ›verlassen‹ ihre Partner, neue Paare bilden sich, wieder verschränken sich die Körper ineinander. Die Zeitlupe, reduzierte Bewegungen, fehlende Musik sowie ausdruckslose Mimik verfremden die narrative Ebene, die von Paarbeziehungen handelt. Als Zuschauerin und Zuschauer wird man zunehmend verunsichert, weil eindeutige Zuschreibungen unmöglich sind, weder die körperliche Erscheinung, die Ausstattung noch die Bewegungen und Posen sind geschlechtlich fixierbar. Der Versuch, solche Fixierungen vorzunehmen, mündet in der kritischen Selbstreflexion eigener Wahrnehmungsautomatismen. Auf diese Weise führt Salamon auch den Automatismus, ein Paar als heterosexuelles Paar wahrzunehmen, vor Augen. Die übliche Kohärenz von Geschlechtsidentität und Sexualität wird unterbrochen; Sexualität losgelöst von Geschlechtsidentität lesbar und der ›Anspruch der Heterosexualität auf Natürlichkeit und Ursprünglichkeit‹ hinterfragt. Nach ungefähr einer halben Stunde gehen die Tänzer ab und treten mit verändertem Aussehen wieder auf. Sie tragen immer noch ihre Bärte, haben nunmehr allerdings weibliche Frisuren oder Perücken und weitgehend weibliche Kleidung und Accessoires an: Pumps, bunte Halstücher oder eine Kette, Haarspangen, ein pink-

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farbenes Top zu rosafarbener Hose, ein enges Kleid im Leopardenmuster usw. Ihre Erscheinung stiftet Verwirrung, sowohl durch die Gesichtsbehaarung als auch die Inszenierung weiterer, primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale: manche Tänzer haben eine ganz flache Brust, andere einen deutlich sichtbaren Busen, manche tragen Schamkapseln. Die einzelnen Zeichen sind widersprüchlich montiert: Rosa Kleidung und blonde Haare mit mädchenhaften Haarspängchen werden mit einem dunklen Bart und auffallend flacher Brust kombiniert; ein relativ geschlechtsneutrales, sportliches Outfit mit einem Dreitagebart und großen Brüsten sowie Plateauschuhen und einem männlich wirkenden Gang. Die Perücken, die Bärte, Brüste und männlichen Geschlechtsteile – was ist echt, was nicht? Die Maskerade in Reproduction lässt sich nicht aufdecken, es gibt nur die Masken, aber sie verdecken keine eigentliche Identität.36 Als Zuschauerin oder Zuschauer scheitert man beständig in dem Bestreben, eindeutige Zuschreibungen zu machen und wird sich so des eigenen Denkens in binären Kategorien bewusst. Geschlechtsidentität wird als Effekt von Zeichenprozessen, an denen das wahrnehmende Subjekt mit beteiligt ist, inszeniert, zugleich wird jede fixierbare Identität als solche verunsichert. Abbildung 37: Eszter Salamon: »Reproduction«, Berlin 2004

Quelle: Videostill aus der Aufzeichnung der Aufführung

Diese Verunsicherung wird nicht nur durch die Kleidung und die körperlichen Attribute betrieben, sondern auch durch Bewegung und Gestik. So parodieren die nachgestellten Sex-Posen die konventionelle, heterosexuelle Rollen-Verteilung und heben auf diese Weise heterosexuelle Normen aus den Angeln. Auch in den Bewegungen selbst werden die Konnotationen von männlich und weiblich widersprüch36 Zum Begriff der Maskerade vgl. J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 75-93; L. Weissberg: Weiblichkeit als Maskerade.

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lich montiert. Typisch weiblich wirkende Posen wie abgespreizte Hände und ein schief gelegter Kopf wechseln mit männlich konnotierten Bewegungen wie das Stoßen mit der Hüfte beim Sex. Spielt hier ein Mann eine Frau? Oder eine Frau einen Mann, der eine Frau spielt? Wer imitiert wen? Laut Marjorie Garber ist die Schamkapsel, das codpiece, theatrales Zeichen für die »Sorge über die Künstlichkeit und Abnehmbarkeit der Männlichkeit«.37 Während der Transvestismus traditionellerweise die Künstlichkeit des Frauenkörpers zur Schau trägt (abnehmbare Brüste, Hüft- und Popolster, Perücken etc.) und damit laut Garber die kulturelle Sorge über die Künstlichkeit der Männlichkeit maskiert, wird in Reproduction die Künstlichkeit beider Geschlechter vorgeführt. Es wird keine innere Wahrheit repräsentiert, kein »innerern Kern oder eine innere Substanz« ausgedrückt,38 sondern die Produktion von Geschlecht mittels äußerer Zeichen, Attribute und Akte vorgeführt. Unter dem Codpiece verbirgt sich nichts, es ist ein Schein, der Bedeutung nicht ausdrückt, sondern als Effekt erzeugt. Sieht man mit Butler das subversive Potential der Travestie in der Offenlegung des imitativen Charakters jedes Geschlechts sowie des naturalisierten Status der Heterosexualität, so führt Reproduction mittels der ambivalenten und widersprüchlichen Körperbilder die Konstruktion von Geschlechtsidentität vor Augen, stellt die Existenz einer Identität hinter den Maskeraden in Frage und denaturalisiert Heterosexualität als Norm. Da hier tatsächlich nicht eindeutig zu entscheiden ist, wer wen imitiert, wird nicht nur, wie in der klassischen Mann-zu-Frau Travestie, die Weiblichkeit als Artefakt ausgestellt, sondern grundsätzlich jede Geschlechtsidentität entsubstantialisiert. So wird dann auch beim Applaus die Maske nicht gelüftet. Der Titel »Reproduction« lässt sich auf die biologische, heterosexuelle Fortpflanzung, deren Posen auf der Bühne (nach)gestellt werden, beziehen. In der Logik des heterosexuellen Geschlechtermodells dient Sexualität der Fortpflanzung und ist nur als eheliche Sexualität denkbar. Die Entwicklung des Ideals der bürgerlichen Familie hängt eng mit der Vorstellung ehelicher, heteronormativer Sexualität zusammen. Das abendländische Konzept von Verwandtschaft führt diese auf die biologische Tatsache der sexuellen Reproduktion zurück; sie ist nur als Blutsverwandtschaft denkbar. Reproduction unterzieht den Begriff der Reproduktion einer künstlerischen Revision: unsere Vorstellungen von Geschlechtsidentität, Intimität und Sexualität werden als Effekte von Zeichen- und Wahrnehmungsprozessen ausgestellt. Michel Foucault zufolge ist die bürgerliche Familie des 18. Jahrhunderts nicht, wie gängiger Weise angenommen, mit dem Ausschluss von Sexualität beschäftigt, sondern mit der Erzeugung eines bestimmten »Sexualitätsdispositivs«, das Sexualität innerhalb der Familie organisiert und über die heterosexuelle Reproduktion den 37 M. Garber: Verhüllte Interessen, S. 181. 38 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 200.

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Fortbestand des Bürgertums sichert: »Eines seiner [des Bürgertums, d. Verf.] ersten Anliegen war es jedenfalls, sich einen Körper und eine Sexualität zu geben und sich der Stärke, des Fortbestandes und der Fortpflanzung dieses Körpers durch die Organisation eines Sexualitätsdispositivs auf Jahrhunderte hinaus zu versichern.«39 Die Familie spiele so bei der Normalisierung und Kontrolle der Individuen, der »Einkörperung« bürgerlicher Normen, eine zentrale Rolle. Sexualität werde dabei nicht unterdrückt, »die Familie hat vielmehr die Sexualität zu verankern und ihren festen Boden zu bilden […]«.40 Die »Selbstsexualisierung« des bürgerlichen Körpers diene der Selbstaffirmation des Bürgertums und seiner Abgrenzung gegenüber anderen Schichten.41 Foucault zufolge geht es dabei nicht nur um die heterosexuelle Sexualität zwischen den Eheleuten, sondern auch um die »Einpflanzung von Perversionen« innerhalb der Familie, die letztlich die heterosexuelle Ordnung stabilisieren.42 Betrachtet man nun Reproduction, so haben wir es gerade nicht mit der Darstellung einer bürgerlichen Familie zu tun, sondern im ersten Teil mit wechselnden Paaren, die Sex miteinander haben, im zweiten Teil mit einer Gruppe von Menschen, die, in wechselnden Konstellationen, zu mehreren Sex haben. Sexualität ist hier ganz offensichtlich von der Institution der Familie und der Ehe sowie der Funktion der Reproduktion, aber auch aus jedem narrativen Kontext gelöst. Der Titel ruft die bürgerlich sanktionierte und auf biologische Reproduktion zielende Form von Sexualität auf, während sich auf der Bühne Sexualität als eigenständige Form des Zwischenmenschlichen konstituiert, unabhängig von jeder Funktion, Emotion, Narration oder Norm. Es scheint hier gerade keine stabilen Beziehungen zu geben, Sexualität findet in stilisierter Form und in der Öffentlichkeit statt (dieser Aspekt wird durch die Blicke der Tänzer ins Publikum betont); und die titelgebende Reproduktion scheitert gleich auf mehreren Ebenen: Es gibt keine heterosexuelle Paarung, die eine nächste Generation hervorbringen und den Einzelnen in einen genealogischen Zusammenhang einschreiben könnte, und so wird auch die Norm der Heterosexualität nicht reproduziert. Die Kohärenz zwischen Geschlechtsidentität und Begehren, zwischen heterosexueller Reproduktion und Verwandtschaft wird unterbrochen. Das Spiel mit den Geschlechtsidentitäten erzeugt so auch die Frage nach anderen Formen von Verwandtschaft, die gerade nicht auf Reproduktion, Heteronormativität und Genealogie beruhen. Der Titel »Reproduction« lässt sich nicht nur auf die heterosexuell-biologische Reproduktion, sondern auch allgemein auf das Konzept der Reproduktion eines Gleichen beziehen, auf einen Vorgang des Kopierens, Nachbildens oder Wiederge39 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 151. 40 Ebd., S 131. 41 Ebd., S. 147-149. 42 Ebd., S. 131, 156.

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bens. In der Soziologie bezieht sich der Begriff der Reproduktion auf die Aufrechterhaltung eines bestimmten gesellschaftlichen Zustands, laut Butler dient die Reproduktion von Geschlechtsidentität durch die ständige Wiederholung performativer Akte der Aufrechterhaltung des binären Geschlechtermodells und der Heteronormativität. Die technische Reproduktion als Erzeugung des Gleichen, Seriellen stellt nach Walter Benjamin den Begriff des Originals in Frage.43 Der Titel wirft also die Frage nach der heterosexuellen Reproduktion und der Reproduktion der Heterosexualität sowie diejenige nach dem Identischen und der Vorstellung eines Originals auf. Eine Reproduktion als Wiederholung des Gleichen, Identischen, scheitert in Reproduction gerade. Zwar werden tatsächlich alle möglichen Zeichen für tradierte Geschlechteridentitäten und Heterosexualität reproduziert, durch ihre Dekonstruktion und widersprüchliche Montage wird aber kein normativer Zustand aufrechterhalten, sondern die Identifikation verhindert und die Norm aufs Spiel gesetzt. Die Performativität der Aufführung, ihre Flüchtigkeit und Prozessualität, gehorchen gerade nicht den Gesetzen der Reproduktion; Darstellung wird hier nicht als Nachahmung eines Vorgängigen gedacht, sondern als performativer, nie abgeschlossener Prozess der Produktion und Rezeption. Laut Butler liegt der Wiederholungsstruktur der performativen Akte, die die Geschlechtsidentität konstituieren, die Möglichkeit der Verfehlung, der »DeFormation«, immer schon inne, auch wenn die Wiederholungsstruktur selbst zwingend ist.44 Reproduction legt diese Wiederholungsstruktur offen und experimentiert mit den Möglichkeiten der Verfehlung durch die (De-)Montage und die In-FrageStellung des Verhältnisses von Signifikant und Signifikat. Die verschachtelte Konstruktion hinterfragt den Begriff des Originals als solchen: Frauen stellen Männer dar, die Frauen darstellen, dafür tragen sie Perücken über ihren Haaren und falsche Brüste über ihren echten, oder sind es doch Männer, die Frauen darstellen und deshalb falsche Brüste tragen, oder sind es Männer, die Männer darstellen, die Frauen darstellen, und deshalb Schamkapseln tragen, damit man erkennt, dass es Männer sind, die Frauen darstellen, aber welche Bedeutung hat dann noch ihr anatomisches Geschlechtsteil, wenn es durch eine Schamkapsel sichtbar gemacht werden muss – beziehungsweise, um mit Lacan zu sprechen, ›haben‹ sie da überhaupt etwas, oder ist alles Schein? Diese Hinterfragung der Vorstellung eines Originals ist, wie Garber von einem selbst-reflexiven, transvestischen Theater sagt, auch als eine »Kritik an der Möglichkeit von Repräsentation überhaupt« zu verstehen.45 Die scheiternde Reproduktion von Reproduction erzeugt Körperbilder, die sich jedweden Biologismen und dem Identischen verweigern. Die Auflösung fixierbarer 43 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 14. 44 J. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 207. 45 M. Garber: Verhüllte Interessen, S. 496.

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Identitäten, Hierarchien und (Paar-)Beziehungen lässt am Ende des zweiten Teils neue Vorstellungen von Gemeinschaft entstehen, von einer Gemeinschaft, die nicht auf Biologie und Heterosexualität beruht, sondern nur als ausgeübte Praxis funktioniert, die sich beständig verändert und immer wieder neu artikuliert und so offen bleibt für das ihr Andere. 4.3.2 Alain Platel: Gardenia Auch in Gardenia von Alain Platel und der Ballets C de la B wird die Eindeutigkeit von Geschlechtsidentität durch Mittel des Cross-Dressings in Frage gestellt, und auch hier kann man den diskursiven Aufbau einer Gemeinschaft beobachten, die offen bleibt und nicht hierarchisch strukturiert ist. Alain Platel erarbeitet Gardenia im Jahr 2010 gemeinsam mit dem Regisseur Frank Van Laecke nach einer Idee von Vanessa Van Durme. Die Protagonisten sind neun Menschen, sieben von ihnen Transvestiten bzw. Transsexuelle im Alter von 60 bis 70 Jahren, ehemalige Kolleginnen der transsexuellen Schauspielerin Vanessa Van Durme, die auch selbst mitspielt.46 Zu Beginn stehen sie auf der quadratischen, leeren Bühne, alle in grauen Zweiteilern, eine jüngere Frau und ein junger Mann, die Schauspielerin Vanessa Van Durme sowie sechs ältere Herren, die durch die alltägliche Kleidung völlig unauffällig aussehen. Van Durme tritt an ein Mikro in der Bühnenmitte, singt in langsamem Tempo »Somewhere over the Rainbow« und erläutert dann die narrative Situation: Das Kabarett Gardenia habe heute seine letzte Aufführung vor der endgültigen Schließung.47 Van Durme dankt dem Publikum für seine Treue, und mit einer Schweigeminute wird den Verstorbenen der vergangenen vierzig Jahre, in denen das Kabarett bestand, gedacht. Sie betont, dass das Kabarett für alle Beteiligten wie eine Familie gewesen sei, und dass dieses Gefühl heute noch einmal aufleben solle. Wir haben es auf narrativer Ebene also mit einer Gemeinschaft zu tun, die emotional in ähnlicher Weise verbunden ist wie eine Familie, und die von dem gemeinsamen Spiel mit den eigenen Körpern und vom Akt des Darstellens vor einem Publikum lebt. Das Kabarett wird als ein Zuhause konstituiert, das das Zuhause der Herkunftsfamilie ersetzt, es steht für ein Gefühl der Zugehörigkeit, Sicherheit und Geborgenheit. Die Suche nach einer solchen Zugehörigkeit, nach einer Partnerschaft oder Familie, wird durch Kontaktanzeigentexte betont, die in mehreren Szenen in ein Mikrofon gesprochen werden (z.B.: »Après plusieurs déceptions cherche

46 Außerdem mit: Gerrit Becker, Griet Debacker, Andrea De Laet, Richard »Tootsie« Dierick, Timur Magomedgadz-Jeyev, Danilo Povolo, Rudy Suwyns, Dirk Van Vaerenbergh. 47 Platel knüpft mit diesem plot an den Dokumentarfilm Yo soy asi (NL 2000) von Sonia Herman Dolz über die Schließung eines Travestietheaters in Barcelona an.

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un partenaire pour la vie. Cette fois-ci le physique n’importe peu.«).48 Auf die gleiche Weise werden aber auch kurze Berichte kaputter Familienverhältnisse gesprochen: »Je suis mère de 5 enfants. Mon mari me casse régulièrement la gueule. Pourtant il m’aime. Il dit à chaque fois qu’il a des regrets«. Auf diese Weise wird die Sehnsucht nach einer festen Paarbeziehung bzw. Familie angesprochen und zugleich ihr Scheitern thematisiert. Inszeniert werden jedoch keine solchen Paarbeziehungen, sondern eine Gemeinschaft, die aus Einzelnen besteht, die alle miteinander in Beziehung treten. Die Menschen, die wir auf der Bühne sehen, repräsentieren prekäre Identitäten. Sie verkörpern die reale soziale Prekarität einer nicht heteronormativen Geschlechtsidentität, die sicherheitslos im konkreten gesellschaftlichen und alltäglichen Sinne ist, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, auf ganz bestimmte Funktionen in ihr fixiert oder von ihr ausgeschlossen. Sie changieren zwischen traditionellen Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit, spielen mit den körperlichen und vestimentären Zeichen beider Geschlechter und ihres bezeichnungslosen Zwischenraums, entziehen sich also einer eindeutigen Zuordnung im Rahmen der gültigen Geschlechter- und Identitätsnormen. Zudem sind sie alt und auch auf dieser Ebene prekarisiert, denn der alte Körper ist in der zeitgenössischen Mediengesellschaft vornehmlich als jung gebliebener präsent. Judith Butler geht mit Emmanuel Lévinas von der grundsätzlichen Verletzbarkeit des Menschen aus, die ihn in seiner Menschlichkeit bestimmt, »einer allgemeinen menschlichen Verletzbarkeit […], die mit dem Leben selbst entsteht«.49 Diese existentielle Prekarität des menschlichen Lebens hängt ihr zufolge mit der Abhängigkeit jedes Einzelnen vom Anderen zusammen, mit der »Disponiertheit unserer selbst außerhalb unserer selbst«.50 Das Subjekt sieht sie als immer schon durch die Ansprache des Anderen konstituiert und insofern als grundsätzlich ungesichert: »Wir [werden] durch unsere Beziehungen nicht nur begründet, sondern auch enteignet.«51 Dieses Prekäre der Existenz gilt für alle Menschen, aber es gilt für alle in unterschiedlichem Maße, denn auch die Verletzbarkeit des Menschen, also seine Menschlichkeit, sei Normierungen und medialen Formatierungen unterworfen. Für Butler ist deshalb die Frage der Darstellung des Prekären wesentlich, denn es sei auf »dem Gebiet der Darstellung, wo Vermenschlichung und Entmenschlichung unaufhörlich vor sich gehen.«52 Es gilt also, Formen der Darstellung zu finden, die den derart Entmenschlichten ihre Menschlichkeit zurückgeben und uns wecken »für

48 Alle Zitate nach dem Szenario, zur Verfügung gestellt von den ballets C de la B. 49 J. Butler: Gefährdetes Leben, S. 48. 50 Ebd., S. 42. 51 Ebd., S. 41. 52 Ebd., S. 167.

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die Gefährdetheit des Lebens der Anderen«.53 Gardenia zeigt diese Gefährdetheit, indem die Verletzbarkeit des Einzelnen sichtbar gemacht wird und dieser Einzelne aber auch Subjekt seiner Darstellung ist.54

Abbildung 38: »Gardenia« von Alain Platel und Frank Van Laecke

Quelle: les ballets C de la B, © Foto: Luk Monsaert

Van Durme kündigt mit aufreißerischem Gestus die Künstler des Kabaretts an, doch es treten nur die gewöhnlich aussehenden älteren Herren nach vorne und stellen sich nebeneinander auf. Sie heben ihre Arme, um einen imaginären Applaus entgegenzunehmen, der Blick, den sie dabei ins Publikum werfen, wirkt allerdings melancholisch, und während der gesamten Aufführung erscheint die Melancholie als eine Facette von Selbstinszenierung und Rollenspiel. Butler zufolge hängt die Melancholie ebenso wie die Entmenschlichung mit einem Verbot zu trauern zusammen, denn Trauer bedeute Anerkennung eines Verlusts. Das Verbot zu trauern sei ein politisches Mittel des Ausschlusses Einzelner aus dem Bereich des Menschlichen, so Butler in Precarious Life, und in früheren Schriften deutet sie die »heterosexuelle Melancholie« als Effekt der verweigerten Trauer um das gleichgeschlechtliche Liebesobjekt. Drag allegorisiert Butler zufolge diese heterosexuelle Melancholie bzw. »eine Reihe melancholisch einverleibender Phantasien, die die soziale Geschlechtsidentität stabilisieren.«55 Gardenia gibt der Trauer Raum und inszeniert

53 Ebd., S. 165. 54 Zu dem Aspekt des Prekären in Gardenia vgl. Dreysse: »Inszenierungen des Prekären«, S. 96-107. 55 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 323.

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Drag nicht als Stabilisierung der Geschlechtsidentität, sondern als zugleich Mittel und Effekt einer brüchigen Identität, die sicherheitslos ist zwischen männlich und weiblich, Begehren und Trauer, symbolischem, imaginärem und realem Körper. Zugleich wird in der Aufführung die Herstellung einer anderen Form von Gemeinschaft imaginiert, einer Gemeinschaft, die denjenigen, die sicherheitslos sind, Halt gibt, und denjenigen, die nicht in die Rollenverteilung der Kleinfamilie passen, eine Zugehörigkeit. In einer Szene zu Beginn der Aufführung werden Gruppenbilder gestellt, in der Art eines Tableau vivant einige Sekunden gehalten, aufgelöst, und neu gestaltet. Die Gruppierung erfolgt um drei Darsteller, die in der Mitte der Bühne auf Stühlen sitzen, der Blick aller ist ins Publikum gerichtet, sodass der Eindruck einer Porträtfotografie entsteht. Die Szene ähnelt von ihrem Aufbau her der Szene der Familienbilder in Familienbande; haben wir es auch hier mit Familienporträts, mit Bildern einer chosen family zu tun? Das erste Tableau ähnelt eher einem Gruppenbild von Geschäftsleuten, die in typisch männlichen Haltungen posieren: Anzug tragende Herren mit breit gestellten Beinen, vor der Brust verschränkten Armen oder Händen in den Hosentaschen. Anders als in einem gewöhnlichen Gruppenbild, anders auch als in üblichen Familienporträts, stehen sie jedoch räumlich distanziert voneinander und nicht zu einer geschlossenen Gruppe vereint. Die Haltung des sitzenden Herren in der Mitte erinnert zwar an Bilder von Patriarchen, die von ihrer Familie umgeben sind, allerdings ist ihm in diesem Fall die Familie nicht konzentrisch zugeordnet, sondern eher beziehungslos im Raum verteilt. Die stereotyp männlichen Posen werden durch das Freeze und die Isolation aus einem narrativen Kontext verfremdet, also als Pose im Sinne einer zeichenhaften Konstruktion des Selbst ausgestellt. Nur Van Durme trägt zum Anzug hochhackige Pumps, die im ansonsten homogenen Gruppenbild irritierend wirken. Das Tableau löst sich nach wenigen Sekunden in neue Posen auf und alle beginnen sich auszuziehen, sodass einige beim nächsten Freeze ihre Jacken halb ausgezogen, sich eines Schuhs oder der Krawatte entledigt haben. Sie entkleiden sich nun sukzessive, die Bewegungen des Umziehens werden routiniert und sachlich vollzogen. Die Tableaus halten jetzt mitten in der Bewegung inne, sodass slapstickartige Bilder entstehen: eine halb heruntergerutschte Hose, karierte Unterhosen, nackte Beine mit Socken usw. Im Kontrast zu dieser alltäglichen und unerotischen Form des Ausziehens steht weiterhin die Behauptung eines Porträts, für das eine bewusste Pose eingenommen wird, der Blick im Freeze ist nach wie vor ins Publikum gerichtet. Unter den Männerkleidern tauchen nunmehr Frauenkleider auf, bunt geblümte Sommerkleider. Je weiter das Umkleiden voranschreitet, desto mehr werden weiblich konnotierte Posen eingenommen, gefaltete Hände, ein schief gelegter Kopf, im Sitzen seitlich gewendete Beine mit geschlossenen Knien, ein kokettes Lächeln oder der Blick von unten (Abb. 38). Auch diese Posen werden wieder gelöst und der Vorgang des Umziehens wird weiterhin sachlich ausgeführt.

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Im Verlauf der Tableaus treten die Darstellerinnen und Darsteller zunehmend in Beziehung miteinander. Die Konstellationen wechseln dabei, manche posieren nur nebeneinander, andere umarmen sich, wieder andere küssen sich. Die narrative Ebene wird durch die verfremdende Art der Darstellung immer wieder unterbrochen, Widersprüche zwischen Kleidung, anatomischen und physiognomischen Zeichen sowie Körperhaltungen und –bewegungen bezüglich der Geschlechtsidentität verhindern klare Rollenverteilungen. Einige Bilder erinnern an Familienporträts, ohne diese Assoziation zu festigen, und bleiben so in der Schwebe. In dieser Sequenz der Tableaux vivants wird letztlich ein Dazwischen ausgestellt. Im Freeze wird der Moment des Umziehens als ein Zwischenraum ungesicherter Geschlechtsidentitäten angehalten und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Es ist ein Moment, der selten in der Öffentlichkeit zu sehen ist, ein privater, ja intimer Moment der Entblößung und Unentschiedenheit: zwischen zwei verschiedenen Rollen, zwischen männlich und weiblich, privat und öffentlich, alltäglichem und theatral inszeniertem Körper. Auch auf der Ebene der Darstellung wird ein Zwischenraum eröffnet, denn die gefrorene Pose bedeutet eine Unterbrechung des Darstellungskontinuums und hinterfragt so den Modus der geschlossenen Repräsentation. Das Tableau kehrt den Akt der Darstellung nach außen, indem es die Kontinuität des Spiels unterbricht und die Inszenierung sichtbar macht. Eine solche Repräsentationskritik fordert Butler bezüglich der Darstellung des Prekären: »Die Wirklichkeit wird nicht von dem vermittelt, was im Bild dargestellt wird, sondern dadurch, dass die Darstellung, welche die Realität übermittelt, in Frage gestellt wird.«56 Das Mittel der Unterbrechung öffnet die Repräsentation auf das ihr Andere, auf die konkreten Körper der Schauspielerinnen jenseits einer Rollenfigur, und damit auch auf ihre Verletzbarkeit. Für Butler ist das Menschliche nicht darstellbar, sondern kann nur durch das Scheitern der Darstellung vermittelt werden: »Damit die Darstellung das Menschliche vermitteln kann, muss sie nicht nur scheitern, sondern sie muss ihr Scheitern zudem noch zeigen. Es gibt etwas Nichtdarstellbares, das wir dennoch darzustellen versuchen, und dieses Paradox muss in der Darstellung, die wir geben, beibehalten werden.«57 Gardenia zeigt ein solches Scheitern der Darstellung und stellt auf diese Weise die Darstellung selbst, die Möglichkeit einer Verkörperung von Identität, in Frage. Auch die Gemeinschaft der Darstellenden wird dabei immer wieder hinterfragt, anstatt als eine stabile Einheit gesetzt zu werden. Je mehr die männliche Alltagskleidung abgelegt wird, umso mehr werden stereotype Posen von weiblichen Bühnen- oder Filmstars eingenommen. Gleichzeitig werden die Tableaus immer unstrukturierter, sodass die Form des Gruppenporträts und damit auch die Gruppe sich zunehmend auflöst. Die einzelnen Figuren wirken 56 J. Butler: Gefährdetes Leben, S. 173. Herv. i.O. 57 Ebd., S. 171.

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nun isoliert, da weder eine formale Einheitlichkeit noch ein narrativer Zusammenhang geboten wird. Vor allem aber wirken sie in einem ganz konkreten Sinn unfertig: Die bunten Sommerkleider sind nicht komplett angezogen, Reißverschlüsse stehen offen, ein Ärmel oder die Träger hängen herunter, manche halten mitten in der Bewegung inne, so dass Haare zerzaust sind oder der ganze Körper verdreht. Gezeigt werden Fragmente imaginärer Körperbilder, ungesichert und lückenhaft, und ebenso lückenhaft bleibt das Bild von Gemeinschaft: Es ist eine Wahl-Gemeinschaft, die auf der Verletzbarkeit des Einzelnen beruht, ihm als prekäres Subjekt einen Ort gibt, dabei aber unabgeschlossen bleibt. In einer weiteren Sequenz der Aufführung finden Rollenwechsel statt, deren Mittel wiederum offen gezeigt werden, sodass es nicht zu einer illusionistischen Verwandlung in eine andere Person kommt, sondern zu einer Reihe von Verkleidungen, die unterschiedliche Möglichkeiten von Identität hervorbringen, ohne eine davon als wahr oder eigentlich zu fixieren. Die Darstellerinnen und Darsteller gehen, zunächst noch in Männerkleidung, in geraden Linien über die Bühne, hin und her, vor und zurück, blicken dabei immer wieder ins Publikum, vereinzelt werden isolierte Tanzbewegungen ausgeführt. Einige beginnen, sich an einem Schminktisch im Bühnenhintergrund zurechtzumachen, um dann wieder über die Bühne zu gehen, leicht verändert: ein glitzernder Ohrring, ein farbiger Lidschatten irritieren das Bild. Im Folgenden verändern sie zunehmend ihr Aussehen: Jemand tritt mit Perücke auf, andere mit nacktem Oberkörper, unter einer Jacke kommt ein roter BH zum Vorschein, eine Hose wird aus- und Damenstrümpfe angezogen. Die Verkleidungen sind bruchstückhaft, sodass die Konstruktion von Geschlechtsidentität mittels äußerer Zeichen und performativer Akte vor Augen geführt wird. Und dies umso mehr, als auch die einzige biologische Frau an diesem Prozess der Selbstkonstruktion beteiligt ist, auch sie verkleidet sich als Frau bzw. bringt sich durch vestimentäre Zeichen als Frau hervor. Das Geschlecht erweist sich, unabhängig von biologischen Vorgaben, als kulturelle Fiktion. Auch in dieser Sequenz wird das Dazwischen in Szene gesetzt: Zwischen weiblich und männlich, zwischen realem Körper und Zeichen. In diesem Dazwischen fallen die Subjekte aus jeder Norm und sind in der Nacktheit zwischen männlicher und weiblicher Kleidung verletzungsoffen. Gerade in dieser Nacktheit fällt ihre Unterschiedlichkeit auf: Anders als gängiger Weise in Tanzensembles gibt es hier keine Norm, neben einem großen, schlanken Körper ist ein kleiner dicker, neben einem auffallend dünnen mit eingefallener Brust ein großer, kräftiger Körper. Die meisten von ihnen sind alt. Wir sehen alte, faltige Haut, hängende Bäuche und Brüste. Neben geraden, schlanken und festen Beinen sehen wir krumme oder dicke Beine, die unsicher gesetzt werden. Hierarchisierungen und Wertungen werden vermieden: Ob perfekte Diva oder alter, rundlicher Mann, alle präsentieren sich gleichermaßen dem Publikum, spielen lustvoll mit Rollen und Zeichen, werfen den auf sie gerichteten Blick selbstbewusst zurück und verweisen uns so auf unsere ei-

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genen Vorstellungen, durch die wir Körper in bestimmter Weise hervorbringen, beurteilen und ein- oder ausschließen.58 Nach ungefähr zwanzig Minuten sind alle Darsteller komplett als Frauen gekleidet: glitzernde Abendkleider, hohe Schuhe, Perücken, Make-up, Schmuck und Handtäschchen. Aber auch in der fertigen Verkleidung bleiben Irritationsmomente, auch jetzt sind die Darstellenden, gemessen an gängigen Schönheitskonventionen, zu groß oder zu klein, zu dick oder zu alt. Und auch in dieser Szene sind die Kostüme nicht perfekt, sitzt eine Perücke schief, schließt ein Reißverschluss nicht vollständig. Es geht nicht um die perfekte Täuschung oder die lückenlose Verkörperung eines Anderen, sondern um ein Spiel mit verschiedenen Rollen, das nie abgeschlossen ist. Und so ist auch die Gemeinschaft, zu der sich alle am Ende dieser Szene zusammenfinden, keine bruchlose; durch ihre Unterschiedlichkeit entsteht auch jetzt kein einheitlicher Eindruck, sondern eher derjenige einer Vielfalt, die gerade nicht vereinheitlicht werden kann. Auch der weitere Verlauf der Aufführung ist durch einen Wechsel zwischen Fokussierung Einzelner – durch gesprochene Texte, Songs oder Tanzeinlagen –, und Gruppenszenen gekennzeichnet. Das letzte Drittel zitiert fast ausschließlich Show-Auftritte, wobei die Kostüme immer aufwändiger, schriller und divenhafter werden. Das gemeinsame Agieren vor dem Publikum und die Aufmerksamkeit, die den Einzelnen bei ihren Solo-Auftritten von den anderen geschenkt wird, spricht von einer Gemeinschaft, die sich über eine gemeinsame Praxis bildet und die Einzelnen nebeneinander bestehen lässt, ohne sie einer fixen Ordnung zu unterwerfen. Auch wenn Gardenia die Frage der Familie, sieht man einmal von der Erwähnung zu Beginn ab, nicht explizit thematisiert, kann diese Gemeinschaft als ein Gegenmodell zum System der heteronormativen Kleinfamilie gelesen werden, als eine Form der Verwandtschaft, die sich durch das gemeinsame Tun, durch Achtsamkeit und Vertrauen bildet und das Andere nicht ausschließt. Diese Lesart wird auch durch die Rolle der Vanessa Van Durme unterstützt, denn sie stellt während der gesamten Aufführung eine Mutterfigur dar. Sie bringt die Familie zusammen, versammelt alle auf der Bühne um sich, ist immer als Beobachterin präsent, sorgt sich um die anderen, ermuntert und schützt sie. Zu Beginn stellt sie ihre ›Kinder‹ mit ihren Eigenarten vor und führt als Moderatorin durch den Abend, wobei die Gruppe im Verlauf der Aufführung immer selbsttätiger agiert. Sie nennt die anderen meist nicht bei ihren Künstler- sondern bei ihren Eigennamen oder verwendet Kosewörter, wie sie üblicher Weise von einer Mutter für ihre Kinder verwendet werden (»mon poussin«, »mon petit«). Die mütterlichen Funktionen der Fürsorge, des Schutzes und der Unterstützung, die sie übernimmt, sind nicht an ihren anatomischen Körper gebunden, sodass Mütterlichkeit von der Anatomie gelöst wird; mit Butler kann man von einer ›Resignifikation‹ von Verwandtschaft sprechen. Eine solche Resignifikation hat auch insofern statt, als dass Van Durme 58 Zur Darstellung alter Körper im Theater vgl. Dreysse: »Wie spielt man Altsein«.

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keine weiteren herkömmlichen Charakteristika von Mutterfiguren erfüllt; sie ist alles andere als asexuell, und auch textlich fällt sie oft aus der traditionellen Mutterrolle, wenn sie beispielsweise Schwulenwitze erzählt. Mütterlichkeit wird hier nicht biologisch verortet sondern durch bewusste Akte konstituiert, ohne dabei heterosexuelle Normen zu reproduzieren. Und sie definiert sich nicht über das Ideal einer symbiotischen Verschmelzung, sondern stiftet eine Gemeinschaft, die Vielfalt, Widersprüche und Andersartigkeit zulässt. Die Aufführung konstituiert eine chosen family, die sich der auf Anatomie gründenden Rollenverteilung verweigert und die Kohärenz von biologischem Körper, Mütterlichkeit, Begehren und Geschlechtsidentität, von Heterosexualität und Familie unterbricht. Und so sehen wir am Ende wieder ein Gruppenbild: Alle sitzen nebeneinander auf Stühlen, aufrecht dem Publikum gegenüber, in weitgehend alltäglichen Posen. Sie bilden eine offene Form, in der die Einzelnen gleichberechtigt miteinander verbunden sind, ohne in eine kohärente Logik (der Haupt- und Nebenrollen, der Familie oder Genealogie) eingebunden zu sein. 4.3.3 Künstlerzwillinge: deufert&plischke In Reportable Portraits aus dem Jahr 2007, dessen letzte Szene »Family Picture« heißt, experimentiert das Künstlerduo deufert&plischke mit einer Form der kollektiven Autorschaft, die auf dem Prinzip der Übersetzung und Rückübersetzung, des (Re)formulierens, wie sie es nennen, zwischen Körperbewegung und Schrift beruht. Es ist eine Choreographie für fünf Tänzerinnen und Tänzer, die von diesen fünf gemeinsam entwickelt wurde.59 Ausgehend von getanzten Selbstportraits wurden zunächst kurze Texte, Beobachtungen, Anmerkungen geschrieben und ausgetauscht. Dieses schriftliche Material wurde jeweils von anderen aus der Gruppe wieder in Bewegung übersetzt und dann wiederum schriftlich notiert und kommentiert. Diese Notate und Kommentare wurden wieder weitergegeben und wiederum in Körperbewegungen übertragen. Die mehrmalige Übersetzung bedeutet ein ständiges Reflektieren, Verändern und Erweitern des Ausgangsmaterials; ein Prozess, der die Vorstellung des Originals und der individuellen Autorschaft obsolet werden lässt. In ähnlicher Weise wie bereits in Directory 3: Tattoo, in dem das Text- und Bewegungsmaterial ebenfalls kollaborativ entwickelt wurde, arbeiten deufert&plischke hier nicht nur an der Beziehung von Bewegung und Schrift, sondern auch an der Auflösung der Autorposition, des Ursprungs von Schrift bzw. Körper, zugunsten kollektiver Autorschaft: »Partizipation durch konspirative Teilhabe«, nennen sie das Verfahren. Nicht ein individueller Ausdruck oder eine individuelle Schöpfung

59 Helena Golab, Hanna Sybille Müller, Benjamin Schoppmann, Kattrin Deufert und Tom Plischke.

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von originären Bewegungen werden gesucht, sondern im Gegenteil ein Prozess der kollektiven Entwicklung von Bewegungen, genauer, ein Prozess der Formulierung und Re-Formulierung von Wörtern und Bewegungen, der sich rhizomartig fortsetzt und nicht mehr auf einen Ursprungsort, auf eine Autorposition zurückzuführen ist. Der Einzelne changiert dabei beständig zwischen dem eigenen Körper und den Körpern, Bewegungen, Wörtern der anderen. Die Übersetzung meint hier also auch ein wiederholtes Verlassen des Feldes des Eigenen zugunsten des Anderen, in jedem Körper sind andere Körper präsent. Die Gruppe konstituiert sich durch diesen beständigen Prozess zwischen Einzelnem und Anderem als eine heterogene, in der Setzungen bewusst vermieden werden. Die so entstehende netzartige Struktur verabschiedet das autonome Individuum als Schöpfer ästhetischer Prozesse und als Autorität der Bedeutung ebenso wie als Autorität im konkreten Probenprozess. Diese Art des Arbeitens stellt ein Experimentieren mit Formen von Gemeinschaft dar, die nicht auf Einmütigkeit, Hierarchie und Ausgrenzung beruhen, sondern auf dem gleichberechtigten Neben- und Miteinander verschiedener Subjekte, Perspektiven und Impulse. In »Family Picture« sind alle fünf Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne. Sie bewegen sich langsam durch den Raum, jede bzw. jeder für sich, und bilden doch eine Gruppe. Ähnlichkeiten in den Kostümen und Bewegungen, Gesten und Blicken erzeugen eine Gemeinschaft, die eher einem flexiblen Beziehungsnetz gleicht als einer geordneten Gruppe. Sie schauen sich an, treffen aufeinander, lösen sich wieder voneinander, kommunizieren aber nicht dialogisch. »In den zu Ruhe kommenden Bewegungen weisen sich in und trotz Gemeinschaft die Eigenarten, die Solo-Stimmen der Tänzerinnen und Tänzer aus«, schreibt Sandra Noeth über »Family Picture«.60 Wenn man den Titel der Szene ernst nimmt, entwerfen Deufert, Plischke und die anderen Tänzerinnen und Tänzer hier eine Vorstellung von Familie, die dem Einzelnen Raum gibt, und die ihn nicht auf eine Rolle festschreibt, sondern ermöglicht, immer wieder andere Perspektiven einzunehmen und unterschiedliche Beziehungen einzugehen. Familie wird als ein Beziehungsgeflecht gedeutet, das im Prozess ist, und sich in diesem Prozess immer wieder neu und anders herstellt. Die Auflösung individueller Autorschaft und das Thema der Verwandtschaft ist bei Kattrin Deufert und Thomas Plischke schon seit Beginn ihrer Zusammenarbeit im Jahre 2001 angelegt, und zwar in ihrem Konzept des »artistwin«, des Künstlerzwillings. Der Künstlerzwilling stellt eine Spielart der chosen family dar: »Since they met Kattrin Deufert and Thomas Plischke have been sharing work and life. They came to exchange the dominant social fiction of the heterosexual couple for the fiction of the artistic twin, which links the impossible desire to coincide with the other to an illegal moment of incest, a betrayal of genealogy.«61 Ihr Projekt des 60 S. Noeth in K. Deufert/S. Noeth/T. Plischke: Monstrum, S. 120. 61 Jeroen Peeters auf www.entropischesinstitut.net/ vom 18.02.2013.

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»artistwin« meint ein gemeinsames Leben und Arbeiten in Form paritätischer Teilhabe, das nicht nach dem heterosexuellen Muster funktioniert, nach dem zweigeschlechtliche Paarbeziehungen üblicher Weise funktionieren. Denn auch bei Künstlerpaaren des 20. Jahrhunderts, so stellt Renate Berger fest, sind patriarchalische Muster sowohl in ihren Beziehungen wie in ihrem künstlerischen Schaffen ausgeprägt.62 Deufert und Plischke versuchen genau eine solch patriarchalische, geschlechtsspezifische und hierarchische Struktur in ihrer Beziehung und Arbeit zu verhindern. Sie setzen sich damit sowohl von der Praxis anderer Künstlerpaare und üblicher Produktionsprozesse am Theater, als auch von alltäglichen Mustern des Zusammenlebens, der Paar- und Familienbeziehungen ab. Das Konzept des artistwin versucht, eine andere Form von Verwandtschaft sowohl im Alltags- als auch im Arbeitsleben zu verwirklichen. Die Idee des nicht-biologischen Zwillings hinterfragt verfestigte Vorstellungen des heterosexuellen Paares, der biologischen Verwandtschaft und Genealogie ebenso wie solche von Identität und Individualität; alles auch Themen ihrer Performances. Deufert und Plischke versuchen, tradierte Rollenverteilungen aufzulösen, auch bezogen auf den Produktionsvorgang. So haben sie keine fixe Arbeitsteilung, sondern sind beide gleichermaßen für Konzeption, Text, Regie, Dramaturgie und Performance verantwortlich. Und auch auf der Bühne agieren sie paritätisch und folgen in Kostüm, Aktionen und Texten dem Modell des androgynen Zwillings. In Directory 2 beispielsweise treten beide mit einer fast identischen Kurzhaarfrisur auf und tragen die gleiche, geschlechtsunspezifische Kleidung (schwarzes Top, weiße Strumpfhose). Auch Bewegungsmodi, Körperhaltungen und Stimmmodulation sind nicht geschlechtsspezifisch differenziert und werden häufig synchron ausgeführt. Das Zwillings- oder auch Doppelgängermotiv steht in der Kulturgeschichte zugleich für Utopie und Schreckensvision der Verschmelzung und der Auflösung von Identität. Auch die Verbindung des Zwillingsmotivs mit der Hinterfragung der binären Geschlechterordnung ist nicht neu. So setzt beispielsweise William Shakespeare in Twelfth Night mit dem androgynen Zwillingspaar Viola und Sebastian sowohl eindeutige Geschlechteridentitäten als auch das heterosexuelle Begehren aufs Spiel. Die Idee des Zwillings inspiriert einige zeitgenössische Künstlerpaare, die sich von der Vorstellung des individuellen Schöpfertums lösen und Formen gemeinschaftlicher Kreativität zu realisieren suchen, beispielsweise die tatsächlichen Zwillinge Christine & Irene Hohenbüchler oder die Kunstzwillinge Eva & Adele, Gilbert & George und Twin Gabriel.63 Vor allem Eva & Adele hinterfragen als Kunstzwilling ganz bewusst normative Geschlechtsidentitäten und Beziehungsmuster ebenso wie die Trennung von privat und öffentlich, indem sie als lebendes 62 Vgl. R. Berger: Liebe macht Kunst. 63 Zu den Zwillingen Hohenbüchler und Twin Gabriel vgl. C. Muysers: »Das Sinnbild Zwilling«, S. 431-444; zu Gilbert & George K. Künkler: »Das kreative Duo«, S. 368-372.

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Kunstwerk in äußerst stilisierten Erscheinungsformen in der Alltags- und Kunstwelt agieren und keinerlei Hinweise auf eine ›wahre‹ Identität hinter ihrer offensichtlichen Maskerade geben. Durch ihre kahlgeschorenen Köpfe, überzogene Maske sowie damenhafte, häufig knallpinke Kleider und hochhackige Schuhe erzeugen sie einen zwitterhaften Eindruck und stellen so jedwede anatomische Geschlechtsidentität und auf Biologie gründende Verwandtschaftskonzepte in Frage.64 Bereits in den 1970er Jahren experimentieren Marina Abramović und Ulay mit einem ähnlichen, wenn auch ästhetisch anders gestalteten androgynen Zwillingsmodell und hinterfragen herkömmliche Geschlechterordnungen und Kunstvorstellungen. Ausgangs- und Kritikpunkt ist der bürgerliche Werkbegriff und das damit verbundene Konzept des männlichen, solitären Schöpfers, das auch noch die Aktionskunst der späten 1950er und 60er Jahre prägt.65 Abramović und Ulay inszenieren sich in vielen ihrer Performances, etwa den Relation Works von 1976/77, als androgynes Zwillingspaar, indem sie ihre Ähnlichkeit durch das Tragen derselben Frisur und Kleidung betonen. Symmetrische Anordnungen ihrer Körper im Raum und analoge Bewegungsabläufe verstärken den Eindruck. Dadurch erscheinen in Performances wie etwa Relation in Time (1977), in der beide stundenlang Rücken an Rücken mit zusammengeflochtenen Haaren sitzen, Geschlechterdifferenzen außer Kraft gesetzt. Neben dieser künstlerischen Ebene beschwören Abramović und Ulay auch für ihre private Beziehung das Prinzip des Synchronen, sie arbeiten an (dem Mythos) einer Symbiose beider Individuen sowie derjenigen von Kunst und Leben.66 Auf diese Weise setzen sie sowohl der bürgerlichen Kunstpraxis als auch dem patriarchalen Familienmodell einen nicht-heteronormativen Entwurf entgegen. Deufert und Plischke rekurrieren auf ein solches Künstlerzwillingsmodell, in dem das Leben in die Kunst eingeht und die Kunst als Lebenszusammenhang begriffen wird. In ihren Projekten wird eine enge Verbindung von Kunst und Leben betont und das Politische im Privaten hervorgehoben. Sie entwickeln den Kunstzwilling als einen utopischen Körper jenseits von Zweigeschlechtlichkeit, Genealogie und abgeschlossener Identität sowie als konkrete Utopie gleichberechtigter Kooperation und Verwandtschaft. Der Zwilling steht für die Sehnsucht nach dem Verschmelzen mit einem anderen, er ist eine Metapher der »nächstmöglichen Verwandtschaft« (deufert&plischke), die sich der heterosexuellen Norm entzieht und in ihrem inzestuösen Moment zugleich einen Gestus der Überschreitung solcher gesellschaftlichen Normen beinhaltet. Der nichtbiologische Zwilling hinterfragt Biologie sowohl hinsichtlich der Genealogie als auch hinsichtlich der Geschlechtsidentität. Allerdings überhöhen Deufert und Plischke das Konzept des Zwillings nicht, wie Abramović/Ulay es tun, sondern legen es offen und reflektieren es. 64 Eva & Adele: Wherever we are is museum. 65 Vgl. K. Künkler: »Das kreative Duo«, S. 364-374. 66 Vgl. F. Meschede: Marina Abramović.

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Die beiden ersten Directories, Directory: europe endless (2003) und Directory: Songs of Love and War (2005), arbeiten mit der persönlichen Biografie der beiden Performer, wobei die Authentizität der biografischen Fragmente nie gesichert ist. Sie erzählen von ihrer Familie, Kindheits- und Studienerinnerungen und ihrem Zusammentreffen in Brüssel 2001. Die Erinnerungen sind dabei nicht immer individuell zuzuordnen, so dass Geschlechterstereotypien und andere Gesetzmäßigkeiten der Individuation hinterfragt werden. Die subjektiven Erinnerungen werden mit kulturgeschichtlichen Utopien des Verschmelzens, z.B. dem Mythos des Hermaphroditen, montiert. In Songs of Love and War erläutern Deufert und Plischke ihr Modell des artistwin, erfinden sich neu als nichtbiologischer Zwilling, als inzestuöses Paar und als Utopie eines herrschaftsfreien Miteinanders. Sie spielen in den Directories in ähnlicher Weise wie Abramovic und Ulay mit Androgynität und Ähnlichkeit. So tragen sie, wie bereits erwähnt, gleiche, geschlechtsindifferente Kostüme und eine ähnliche, ebenso wenig geschlechtsspezifische Frisur. Auf Fotografien, die sie während der Aufführung auf eine Leinwand projizieren und auf denen man sie von hinten sieht, sind sie kaum zu unterscheiden, und in Überblendungen ihrer realen Körper mit Videobildern oder Fotografien verwischen sich die Physiognomien. Gerade in der Ähnlichkeit aber werden Differenzen sichtbar, die jedoch nicht in ein binäres Schema passen. Folgerichtig zeigen deufert&plischke »Identical Twins«, jenes Foto von Diane Arbus aus dem Jahr 1967, das mit der Unheimlichkeit von Ähnlichkeit spielt, mit dem Motiv des Doppelgängers, der Individualität und Identität in Frage stellt und dabei zugleich Sehnsuchtstraum und Schreckensbild der Verschmelzung mit einem Anderen evoziert. So identisch die beiden Mädchen auf diesem Bild auf den ersten Blick erscheinen, so sehr treten die Differenzen beim genaueren Betrachten hervor, allerdings ohne verfestigten binären Kategorien zu gehorchen. Arbus stellt solche Kategorien der Wahrnehmung ebenso wie gesellschaftliche Normen von Anderssein in Frage und verwischt die Grenze von Normalität und Fremdheit. Auch deufert&plischke hinterfragen mit Hilfe des Künstlerzwillings gesellschaftliche Normen, Normen der Wahrnehmung und der Kunstproduktion. Dem Modell des Zwillings liegt bei ihnen eine Kritik an dualistischen Welterklärungen und der heterosexuellen Ordnung inne, die die Anatomie als Fiktion offen legt: Jeder Körper ist anders, weil er andere Geschichten trägt, heißt es in Directory 2: Songs of Love and War. Letztlich zielt das Zwillingsmotiv bei ihnen nicht auf ein Verschmelzen, sondern auf eine Vervielfältigung von Körpern, Sexualitäten, Identitäten. Die Suche nach Subjektivität und künstlerischer Produktivität jenseits binärer Kategorien (also auch jenseits eindeutiger Subjekt-Objekt-Verhältnisse wie Regisseur-Schauspieler oder Zuschauer-Schauspieler) wird so auch zu einer Suche nach dem Politischen im eigenen Körper bzw. nach einem zugleich privaten und politischen Körper: »How to knit my own private political body« ist ein Schlüsselsatz mehrerer Performances des Zwillingspaares. Das Politische ist bei Deufert und Plischke nicht in realpolitischen Themen oder direkten Bezügen zur gesellschaftli-

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chen Wirklichkeit zu finden, sondern in der Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Resignifikation von Identität und Verwandtschaft. Der Körper des Einzelnen ist immer Ort politisch-gesellschaftlicher Normierungen und kann so auch zu einem Ort der Subversion werden – beispielsweise durch Denaturalisierung der Geschlechterdifferenz oder durch neue Formen der künstlerischen und privaten Kollaboration. »How to knit my own private political body« – das Stricken steht dabei als Metapher für eine Netzstruktur, die aus Löchern, Leerstellen etwas erzeugt – einen Kunstkörper beispielsweise, der Privates und Politisches verbindet. So sitzen Deufert und Plischke in den Directories auf der Bühne und stricken, eine alltägliche Handlung, bei der etwas Sichtbares entsteht, das sich aber nicht in die üblichen Kategorien der Kunst fügt. Auch tauchen immer wieder Strumpfhosen auf, die die Performer tragen, in denen sich ihre Beine auf merkwürdige Weise ineinander verdrehen oder die, in Kleinformat und mit Erde und Blumen gefüllt, an die Zuschauer verschenkt werden – die Utopie neuer, selbst gestrickter Körper, die frei von Herrschaftsverhältnissen aber sehr wohl Träger subjektiver Erinnerungen sind. Denn die Strumpfhose ist sicherlich beides: dehnbare, weil weitgehend (geschlechts)neutrale Projektionsfläche und Materialisierung konkreter – wahrscheinlich häufig auch negativer – Kindheitserinnerungen des Einzelnen. Und nicht ohne Grund zitiert die Strumpfhose und die Metapher des Strickens darüber hinaus die künstlerische Arbeit Rosemarie Trockels, allen voran den Titel einer Collage von 1998: Leben heißt Strumpfhosen stricken. Trockel greift in ihren Strickbildern eine weiblich codierte Tätigkeit auf, die gemeinhin mit dem Rollenmodell der Hausfrau und Mutter verbunden wird und im bürgerlichen Verständnis nicht als Kunst gilt. Sie entlarvt mit der Kulturtechnik des Strickens Geschlechterstereotype, zumal dasjenige der Verbindung von Frau und Natur bzw. kulturfernen Tätigkeiten. Mit Mitteln der seriellen Produktion und der Ironie – beispielsweise durch die Verwendung von Motiven wie dem Playboyhasen – stellt sie patriarchale Denkmuster bloß und bricht die Vorstellung einer weiblichen Produktivität bzw. die Verbindung einer solchen Produktivität mit dem mütterlichen Körper. Bereits 2001 stricken deufert&plischke ganze 96 Stunden in einer Frankfurter Galerie, und auch ihr Produktionsverfahren der Weitergabe und Übersetzung von Materialien bezeichnen sie als Stricken. Bei ihnen steht das Stricken für eine Form der Produktivität, die nicht auf einen Urheber, eine Autorität oder eine abgeschlossene Bedeutung zurückzuführen ist und die in der endlosen Vervielfältigung aus scheinbar Altbekanntem Neues entstehen lässt. Dass beide, sowohl Katrin Deufert als auch Thomas Plischke, stricken, entbindet die Tätigkeit ihrer traditionellen geschlechtsspezifischen Zuschreibung. Das Stricken als mütterliche Praxis der Fürsorge – ebenso wie das Verschenken der mit fruchtbarer Erde und Blumen gefüllten Babystrumpfhosen in der Directory-Serie – wird von seinen heteronormativen Codierungen befreit und umgekehrt wird Mütterlichkeit als eine Praxis gedeutet, die nicht an den anatomischen Körper gebunden ist.

5. Familiendarstellungen bei She She Pop

Die Performancegruppe She She Pop hat sich in den letzten Jahren in mehreren Arbeiten mit dem Thema Familie auseinandergesetzt: in Familienalbum (2008), Testament (2010), Sieben Schwestern (2010) und Frühlingsopfer (2014).1 Sie gehen dabei von ihren eigenen Erfahrungen und Biografien aus, ihren Kindheitserinnerungen einerseits, ihren Erfahrungen als erwachsene Kinder oder als Mütter andererseits. Durch verschiedene theatrale Mittel verfremden oder fiktionalisieren sie dieses Material und ziehen anderes hinzu, im Fall von Testament und Sieben Schwestern Dramentexte, erzeugen aber auch immer wieder die Illusion der Authentizität des Erzählens von sich selbst. Charakteristisch für She She Pop ist die kollektive Arbeitsform, die sich auf der Bühne in einer hierarchiefreien Gruppenstruktur widerspiegelt. Im Folgenden werden zwei dieser Arbeiten, Testament und Familienalbum, genauer untersucht und anschließend die Frage erörtert, inwiefern das Performancekollektiv auf der Ebene des gemeinsamen Arbeitens eine chosen family darstellt.

5.1 V ÄTER

UND

T ÖCHTER : T ESTAMENT

Einen ganz eigenen Blick auf Familie richten She She Pop mit ihrer Performance Testament von 2010, die 2011 zum Berliner Theatertreffen eingeladen ist. Die Performerinnen von She She Pop stehen hier gemeinsam mit ihren realen Vätern auf der Bühne, der Untertitel der Aufführung heißt: »Verspätete Vorbereitungen zum Generationenwechsel nach Lear«.2 Verhandelt wird das Verhältnis zwischen Kinder- und Elterngeneration, der Generationenvertrag: Was wird, wenn du ein Pflegefall wirst? Wie wird das Erbe verteilt? Was kann ich dir verzeihen, was nicht?

1

She She Pop sind: Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen,

2

Als Väter: Joachim Bark, Peter Halmburger, Manfred Matzke, Theo Papatheodorou.

Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou, Berit Stumpf.

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Die Vorlage der Aufführung ist King Lear von Shakespeare. She She Pop versuchen nicht, die Rollen aus King Lear zu verkörpern oder das Stück nachzuspielen, sondern verwenden den Konflikt zwischen Lear und seinen Töchtern als Folie für die eigene Auseinandersetzung mit ihren Vätern. Dass sie selbst, Töchter und Väter, auf der Bühne stehen, ist das Besondere an dieser Aufführung; die Rahmung durch die dramatische Vorlage verhindert dabei eine Privatisierung des Geschehens. Das Verhältnis von privat und öffentlich, Familie und Theater, wird aber auch auf der Ebene der Darstellung verhandelt. Die Aufführung beginnt mit dem Auftritt der jüngeren Generation. Eine nach der anderen treten sie an die Rampe und erläutern den Zuschauern, wie »man sich den Respekt meines Vaters sichert«. Was folgt, sind persönliche, teils ironisch gebrochene, teils auch wenig schmeichelhafte Beschreibungen der Väter durch ihre Kinder: »Wenn man von meinem Vater respektiert werden möchte, dann hat man eine linke Gesinnung, aber man vertritt sie niemals dogmatisch, man trinkt sehr gerne Alkohol, vor allem Rotwein, aber lässt sich nie in Diskussionen über Rebsorten oder ähnliches verwickeln…«, oder: »Wenn man sich den Respekt von meinem Vater sichern möchte, dann sollte man Bescheid wissen über die Dinge, die ihn auch interessieren […] Als Mann sollte man nicht effeminiert oder gar schwul wirken, als Frau sollte man nicht männlich oder auch nur ambivalent wirken.«3 Dieser erste Auftritt betont die Authentizität des Dargestellten und macht zugleich die Konstruktion dieser Authentizität sichtbar. Der Bezug auf die Väter zeigt: Die Performer stehen hier nicht nur in ihrer Rolle als Performer, sondern auch in ihrer Rolle als Sohn oder Tochter, einer sozialen Rolle aus ihrem Alltags- bzw. Familienleben. Auch wenn keine dramatischen Rollen verkörpert werden, keine schauspielerische Virtuosität verlangt wird, so geht es doch um Rollen, ihre Funktion in der Realität und ihre Darstellung auf dem Theater. Die Sprechhaltung ist distanziert und direkt an die Zuschauer gerichtet, die Körperhaltung weitgehend statisch. Auf diese Weise wird die Intimität des Gesagten verfremdet und der öffentliche Charakter der Rede ausgestellt. Die Distanzierung erfolgt nicht nur auf gleichsam privater Ebene über die ironische Brechung, sondern auch auf der Ebene der künstlerischen Konstruktion, die das Persönliche verallgemeinert, das vermeintlich Intime der Familie veröffentlicht. Nach dieser Vorstellung der Väter durch die Kinder treten die Väter selbst auf, angekündigt durch Trompetensignale, und nehmen auf drei Sesseln am linken Bühnenrand Platz. Dabei werden sie von Kameras aufgenommen, die Bilder ihrer Gesichter werden in der Art einer Ahnengalerie in drei große Rahmen an die hintere Bühnenwand projiziert. Vor diesen Porträts stehen die Kinder, ihr Blick richtet sich wie der ihrer Väter auf den Bildern geradeaus ins Publikum. Diese statische Grundsituation öffnet die Privatheit der familiären Beziehung von Vater und Tochter oder 3

Alle Zitate nach der Aufzeichnung der Aufführung; She She Pop 2010.

F AMILIENDARSTELLUNGEN

BEI

S HE S HE P OP | 297

Sohn, das Private wird öffentlich gemacht, das Autobiografische nicht als Garant einer persönlichen Echtheit inszeniert, sondern distanziert und einer kritischen Beobachtung überantwortet.

Abbildung 39: »Testament« von She She Pop, Berlin 2010

Quelle: She She Pop, Foto: Doro Tuch

Die Inszenierung folgt dem Text Shakespeares in groben Zügen: Sie ist entsprechend der fünf Akte in fünf Abschnitte gegliedert, die einzelnen Abschnitte orientieren sich inhaltlich an Handlungsverlauf und Motiven der Stückvorlage. Zu Beginn eines jeden Aktes werden Aspekte der Handlung, die sich auf den VaterTochter-Konflikt beziehen, kurz zusammengefasst. Außerdem lesen die Performerinnen einzelne Textstellen vor, die sie dann auf die eigene Familiensituation übertragen. So wird anlässlich der ersten Szene über die gerechte Verteilung des Erbes in der Familie nachgedacht und eine Liste erstellt mit Fragen an die andere Generation, mit Sorgen, Erwartungen, Befürchtungen. Dies geschieht teilweise auf sehr profane (wer bekommt den Lichtenstein-Druck?), teilweise auf komisch-groteske Weise, wenn z.B. ausgerechnet wird, was Kinderlosen als Ausgleich für in die Kinder ihrer Geschwister investierte Zeit zusteht. Der Shakespeare-Text bildet einen klaren Rahmen für die Aufführung. Eine mit Strichen und Markierungen bearbeitete Ausgabe des Stücks wird während der Aufführung gefilmt und auf eine Leinwand in der rechten Bühnenhälfte projiziert, im-

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mer wieder werden neue Markierungen eingefügt und einzelne Auszüge vorgelesen. Im Laufe der Aufführung arbeiten die Darsteller auf diese Weise den gesamten Stücktext durch, wobei sie, auch das kann man auf der Projektion sehen, einzelne Abschnitte oder ganze Szenen überspringen. Der Dramentext wird hier als Material vorgestellt, der Prozess der Bearbeitung sichtbar gemacht. Als konkretes Bühnenelement, dramaturgisches Mittel und symbolisches Referenzsystem bildet der Dramentext ein Gerüst, das das Persönliche bindet und familiäre Beziehungen als kulturelle Prozesse lesbar werden lässt. Auch der Konflikt Lears mit seinen älteren Töchtern um sein Wohnrecht auf ihren Burgen wird direkt auf die eigene Situation übertragen. So führt eine Tochter am Flipchart vor, dass ihr Vater unmöglich mit all seinen Büchern bei ihr einziehen könne, und ein Vater erläutert eine architektonische Lösung, die es doch ermögliche. Die Aufführung wird fortgesetzt, da unterbricht ein Vater mit einer anderen Lesart der Szene: Hier gehe es nicht um ein räumliches Problem, die hundert Ritter des King Lear seien vielmehr ein Schutzmantel, den Lear benötige, nachdem er sich selbst entmachtet und vor seinen Töchtern entblößt habe. Er sei alt, gebrechlich, und schutzlos seinen Töchtern ausgeliefert, die Ritter symbolisierten den letzten Rest Würde, den er sich bewahren wolle. Mit dieser Unterbrechung wird nicht nur inhaltlich das Thema des körperlichen Verfalls und der Pflegebedürftigkeit eingeleitet, sondern die beschriebene Gebrechlichkeit tritt durch das Mittel der Unterbrechung auch als Brüchigkeit des Darstellungskontinuums sowie der Beziehungen zueinander, der Perspektiven auf das Thema, den Text, den Anderen zutage. Der schützende Mantel, der in Testament die klare Rahmung der Performance, die formal und inhaltlich reflektierte Aufführungssituation ist, wird immer wieder durch Momente ungeschönter Direktheit durchbrochen: »Ich schäme mich für Euren Exhibitionismus« sagt ein Vater, »Du musst deinen Ekel vor allen körperlichen Details ablegen« sagt ein Sohn. Es werden gegen Ende, entsprechend der Versöhnung von Lear und Cordelia, zwar auch Versöhnungen inszeniert (z.B. ein von Vater und Tochter gemeinsam gesungenes Lied), die vielfältigen Konfliktlinien, die sich auftun, werden aber szenisch nicht gelöst. So bleiben die Väter fast während der gesamten Aufführung in ihren drei Sesseln auf der linken Bühnenseite sitzen und blicken gleichzeitig aus den Bilderrahmen an der Rückwand auf das Geschehen herab. Sie sind so einerseits dazu verdammt, ihren Kindern über Teile der Aufführung vom Rand der Bühne aus stillschweigend zuzusehen, andererseits thronen sie als paternalistisch inszenierte Bilder ihrer selbst über dem Geschehen und nehmen so eine Machtposition ein. Die übergroßen Bildnisse der Väter hinter/über den Töchtern und Söhnen hinterfragen das Verhältnis von Vater und Kind sowie dasjenige von realem Vater und seiner symbolischen Funktion. Die Väter stellen den alten König Lear und sich selbst dar – ihre Verdoppelung durch die Video-Bilder zeigen die ›zwei Körper‹ nicht nur des Königs, sondern auch ihrer selbst: den sterbli-

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chen, konkreten und den symbolischen, repräsentativen.4 Beide werden auch im Video-Bild sichtbar, wenn die aufrechte Haltung nach einer Weile in sich zusammen sinkt, der Blick abschweift oder die Mimik für Momente unwillkürlich entgleist. Die Statik dieser szenischen Konfiguration, die erst gegen Ende (nach einem symbolisch vollzogenen Generationenwechsel) zunehmend aufgelöst wird, legt die unterschiedlichen Positionen und Perspektiven, die nicht zu kittenden Brüche und Spaltungen innerhalb des Einzelnen und innerhalb der Familie offen. Lear ist alt und machtlos und wird von seinen Töchtern abgewiesen – eine Performerin steht am Mikrophon in der Bühnenmitte und zählt mit ruhiger und sachlicher Stimme auf, was alles auf sie zukommen kann bei zunehmender Pflegebedürftigkeit des Vaters, vom Entfernen verschimmelter Lebensmittel aus dem Kühlschrank über das Pürieren der Nahrung bis zum Leeren des Urinbeutels, Absaugen des Schleims und »ruhig mit ihm reden als könnte er dich verstehen«. Zwischendurch lesen die Väter Textstellen aus King Lear vor, in denen Lear seine Töchter beschimpft: »Ihr aus der Art geschlagenen Hexen, ihr«, oder »ein schwellender Karfunkel in meinem kranken Blut«, und ein Vater singt mit brüchiger Stimme ein Lied. Die Montage verschiedener Darstellungs- und Sprechweisen verfremdet das Bühnengeschehen und öffnet die Privatgeschichten der Performer auf Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten. Verwandtschaft wird nicht als idyllische Gemeinschaft idealisiert, sondern jener Aspekt von Verwandtschaft, den Butler die ›Bewältigung der Erfordernisse des Todes‹ nennt, als Herausforderung und Krise des Miteinanders inszeniert. Lear ist auf der Heide, im Sturm, entblößt all seiner symbolischen und realen Macht, aus der symbolischen Ordnung geworfen, selbst die Sprache hat ihren Bezug zur Wirklichkeit verloren. Auf der Bühne werden die Väter von ihren Kindern bis auf die Unterwäsche ausgezogen, ihres Schutzmantels beraubt, den Blicken der Zuschauer preisgegeben. Die Entblößung Lears wird konkret gemacht: »Hier stehe ich, ein alter Mann, arm, elend, siech, verachtet, euer Sklave« liest ein Vater aus dem Text vor. Wir sehen die alte, schlaffe Haut, den realen Körper, der sich im Prozess des Verfalls befindet, die drohende Gebrechlichkeit, die Verletzbarkeit des Körpers. Die Väter stehen entblößt ihren eigenen Kindern und den Zuschauern gegenüber, über ihnen die nunmehr leeren Bilderrahmen. Die Umkehrung der Rollen in Lear, die Identitätsverwirrung speziell der Sturmszene, die Verunsicherung des Bezugs von Sprache und Welt wird übersetzt in eine schnelle, laute Szene der Verwirrung von konkretem Körper, Identität und Rollenspiel: Die Töchter ziehen die Pullis ihrer Väter an, setzen sich Pappkronen auf und Papiermasken mit den Gesichtern ihrer Väter, stampfen über die Bühne, usurpieren den Platz des Vaters – im Sessel, im Bilderrahmen über dem Bühnengeschehen. Die Väter versuchen sich verbal noch ihrer Identität zu versichern: »Ich bin Theo Papatheodorou, ich bin 68 4

Zu den »zwei Körpern des Königs« vgl. E.H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs.

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Jahre alt. Ich habe drei Töchter«, sprechen sie ins Mikrophon, werden aber von den eingespielten Sturmgeräuschen übertönt. Die Kinder ziehen ihnen nach Jackett, Pulli und Hemd auch noch die Stiefel und die Hose aus; eine Tochter führt ihren Vater an der Hand ans Mikrophon, der Vater entkleidet, die Tochter mit der Maske seines Gesichts vor ihrem Gesicht, sie spricht seinen Text: »Ich bin Theo Papatheodorou, ich bin 68 Jahre alt. Ich habe drei Töchter« (Abb. 39). Eben noch sprach einer der Väter von seiner Scham und dem Exhibitionismus der Tochter, nun stehen sie selbst entblößt auf der Bühne – Testament verhandelt auch die Frage der Darstellung, das Verhältnis von Zeigen und Zuschauen, Sehen und Gesehenwerden. Eve Sedgwick hat auf die enge Verbindung von Scham und Performativität hingewiesen; Scham ist ihr zufolge insofern performativ, als dass sie Identität als Effekt des Wechselspiels von Zeigen und Gesehenwerden hervorbringt bzw. Raum schafft für die performative Hervorbringung von Identität.5 In »Schamszenen« wird Jens Roselt zufolge das Verhältnis von Sehen und Gesehenwerden verhandelt; die Scham sei eine »gefährliche und verlockende Grenzerfahrung, die den Betrachter zur Identifikation aufruft«.6 Nach Hans-Thies Lehmann ist der Prozess der Darstellung nicht ohne Scham denkbar: »Denn die Scham artikuliert das ganze Spiel von Verhüllung und Entbergung, Verkleiden und Zeigen, Verrätselung und Offenbarung«.7 Die Erfahrung der Scham sieht Lehmann als Chance, den Voyeurismus umzubiegen in eine »virtuelle Mitverantwortung«, da die Scham die Zuschauer sich als »potentiell Involvierte« erfahren lässt.8 Die Entblößungen, mit denen She She Pop in Testament, ihrer ersten Performance ohne direkte Einbeziehung des Publikums, arbeiten, appellieren an die Verantwortung der Zuschauerinnen und Zuschauer in einem ähnlichen Maße, in dem diese in anderen Performances direkt involviert werden. Sie rufen durch die Scham zur Identifikation auf und hinterfragen zugleich die spezifische Lust des Zuschauens. Die Entblößung hinterfragt aber auch das Authentizitätsversprechen, auf dem die Wirkung der Inszenierung beruht. »Ich sitze hier nicht als ich selbst, ich spiele die Rolle des Joachim Bark« sagt Joachim Bark im Lauf der Aufführung und verweist so auf die Distanz zum eigenen dargestellten Selbst. So persönlich die Aufführung einerseits ist und so sehr sie Intimes auf zum Teil direkte, zum Teil humorvolle Weise öffentlich macht, so sehr distanziert und schützt sie Beteiligte und Zuschauer doch auch. Wesentliche Mittel dieser Distanzierung sind die Rahmung durch den Dramentext, dialogferne Sprechweisen wie z.B. Aufzählungen, an das Publikum gerichtetes Sprechen oder Nachsprechen von Dialogen, die den Darstellenden über Kopfhörer souffliert werden, offensichtlich inszenierte Auftritte, ei5

E.K. Sedgwick: »Queer Performativity«, S. 14.

6

J. Roselt: »Big Brother«, S. 77.

7

H.T. Lehmann: »Das Welttheater der Scham«, S. 40.

8

Ebd., S. 47.

F AMILIENDARSTELLUNGEN BEI S HE S HE P OP | 301

ne repetitive Struktur, die die künstlerische Form hervorhebt, sowie Selbstreflexionen auf inhaltlicher Ebene. She She Pop inszenieren familiäre Bindungen als konfliktreiche, brüchige, den Einzelnen herausfordernde oder sogar bedrohende. Sie konzentrieren sich dabei, der literarischen Vorlage des King Lear entsprechend, auf die Beziehung von Vater und Tochter, die Mutter bleibt außen vor. So vielfältig und kritisch die väterlichen Funktionen in Testament dargestellt werden, so wird andererseits doch ein Familienbild reproduziert, das in der dramatischen Tradition häufiger anzutreffen ist und das vor allem das bürgerliche Trauerspiel, jene Gattung, die aufs engste mit der Entwicklung der modernen Familie verbunden ist, prägt: die Familie, die sich unter Ausschluss der Mutter formiert, und in der der Vater als zugleich symbolischer und realer allein zuständig ist für die Stiftung der symbolischen Ordnung, zu der auch der Generationenvertrag gehört.9

5.2 D IE G EISTER

DER

F AMILIE : F AMILIENALBUM

In Familienalbum aus dem Jahr 2008 setzen sich She She Pop mit unterschiedlichen Bildern von Familie und mit der Rolle, die der Einzelne innerhalb der Familie einnimmt, auseinander. Die Aufführung gleicht einem Familientreffen: Alle Zuschauer sitzen als große Familie um eine hufeisenförmig aufgebaute, gedeckte Tafel und bekommen durch Namenskarten Rollen zugewiesen: Mutter, Vater, Sohn, Tochter, Freundin des Sohnes, Onkel, Tante, entfernte Cousine usw. Vor eine Zuschauerin, die an der Kopfseite des Tisches sitzt, wird das Namensschild »Großmutter« gestellt, und gleich zu Beginn tritt ein mit einem Nylonstrumpf maskierter Performer hinter sie und flüstert ihr ins Ohr, sie solle bitte mit ihrem Glas in der Hand aufstehen und dem Publikum zuprosten. Der Zuschauerin werden dann von dem Performer Sätze souffliert, die sie laut in den Zuschauer- bzw. Bühnenraum spricht: »Liebe Kinder und Kindeskinder. Willkommen im Schoß der Familie. Ihr seid viele geworden. Aber jeder von euch hat hier seinen Platz. Hier gehört ihr her. Alles, was wir sagen und denken, geschieht im Geiste der Familie. Dieser Geist der Familie steht hinter uns und beschützt unser Haus.«10

Sie spricht den Text Satz für Satz, horcht nach einem Satz auf den nächsten, der ihr von hinten ins Ohr geflüstert wird. Das Sprechen wird auf diese Weise verfremdet,

9

Im April 2014, nach Fertigstellung dieser Arbeit, hatte Frühlingsopfer, eine Aufführung von She She Pop mit ihren Müttern, Premiere.

10 Alle Zitate nach der Aufzeichnung der Aufführung; She She Pop 2008.

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die Mittel der Darstellung sind reduziert und sichtbar. »Ein Toast auf die Familie. Prost Mutter«, antwortet ein Zuschauer, dem die Rolle »Vater« zugewiesen wurde. Im weiteren Verlauf der Aufführung treten immer wieder Performer hinter einzelne Zuschauer und soufflieren ihnen Texte, die die Zuschauerinnen und Zuschauer laut sprechen. Die auf diese Weise zustande kommenden Dialoge spielen die Situation des Familientreffens nach. Die Texte sind teilweise in Dialogform verfasst, teilweise als Statements bzw. kurze (Tisch-) Reden Einzelner. Verschiedene Familienmitglieder betonen die Zusammengehörigkeit der Familie, andere fangen an, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen oder zu streiten; z.B. sagt die Mutter zu ihrem Sohn: »Außer deiner hübschen Freundin hier hast du doch gar nichts vorzuweisen, das uns überzeugen könnte, dass du eine erwachsene Person bist.« Wieder andere äußern Liebesbekundungen oder sprechen über ihre Beziehungen, Erwartungen und Enttäuschungen. Die Texte selbst sind alltäglich und arbeiten mit Klischees (»Ich bin so enttäuscht von dir, mein Sohn!«), interessant werden sie durch die Inszenierung, die das Sprechen auf verschiedenen Ebenen verfremdet. So werden die Rollen von She She Pop teilweise bewusst geschlechtsunspezifisch verteilt, sodass einige weibliche Rollen von Männern gesprochen werden und umgekehrt, und auch die Altersverteilung stimmt nicht mit den dargestellten Figuren überein. Zudem wird der Redefluss durch das Soufflieren immer wieder unterbrochen und auch Anschlüsse zwischen den verschiedenen Sprechern funktionieren nicht reibungslos. Die für das Zuhören und Nachsprechen notwendige Konzentration wirkt ebenfalls verfremdend, und das Nachsprechen selbst macht die Distanz zwischen Sprecher und Text sichtbar. Hier werden keine Rollen verkörpert, es wird nicht so getan, als ob eine Rede spontan aus dem Inneren einer Figur käme, sondern der Akt des Sprechens wird in Form des Nachsprechens als bewusste Imitation sichtbar. Die Zuschauerinnen und Zuschauer stehen für jemand anderen und sprechen mit ihrer Stimme einen fremden, soufflierten Text. Der Akt der Darstellung wird offengelegt, die Zuschauer erfahren ihn am eigenen Leib. Wie in den meisten Aufführungen von She She Pop werden die Zuschauerinnen und Zuschauer auf diese Weise zu Mitspielern. Durch verschiedene Modalitäten des Spiels involvieren die Performerinnen sie immer wieder auf unterschiedliche Weise und befragen die Bedingungen und Möglichkeiten des Theaters gerade hinsichtlich seiner Spezifik der Kopräsenz von Zuschauern und Performern; das Publikum wird als konstitutiver Bestandteil der Aufführung inszeniert. So müssen in Trust! (Schließlich ist es ihr Geld) aus dem Jahre 1998 die Zuschauer für jede Szene, die sie sehen wollen, Geld zahlen, in Live! (Erfolgreiche Selbstdarstellung in 45 Minuten) von 1999 entscheidet das Publikum per Abstimmung, wer in der inszenierten Game Show weiterkommt, in What’s Wrong? (It’s okay) von 2003 spielen die Performerinnen ein Frage-Antwort-Spiel, bei dem die Zuschauerinnen und Zuschauer die Stichwörter liefern müssen, und in Warum tanzt ihr nicht? (2004) werden sie zum Tanzen aufgefordert. Anders als in diesen Aufführungen sind in Familienal-

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bum nicht Eigeninitiative und spontane Reaktionen gefragt, sondern es gibt klare Vorgaben: Die Zuschauer repräsentieren bestimmte Familienmitglieder und bekommen die Texte, die sie laut sprechen sollen, von den Performern souffliert. Auf diese Weise wird in Familienalbum durch die Aktivierung des Publikums nicht nur die Performativität der Aufführung im Sinne der Prozessualität, Einmaligkeit und leibhaftigen Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern betont, sondern auch die Beteiligung des Publikums hinterfragt: Was für eine Form von Gemeinschaft wird hier konstituiert? Wie selbstbestimmt sind die Einzelnen im Rahmen der Institution Theater/Familie? Das bürgerliche Theater gilt ursprünglich als eine Institution der Emanzipation des Bürgertums; die bürgerliche Familie als ein Freiraum, in dem der Einzelne, geschützt vor der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, sich frei entfalten kann. In Familienalbum kommt es weder zu einer Emanzipation von vorgegebenen Strukturen noch zu einer freien Entfaltung des Selbst, vielmehr werden die Zuschauer in ein Spiel mit ›Theater‹ und ›Familie‹ verwickelt, das Zwänge und Möglichkeiten beider Institutionen auf spielerische Weise erfahrbar macht. Die Gemeinschaft sowohl des Theaters wie der Familie, die dabei konstituiert wird, ist auch eine Zwangsgemeinschaft mit festgelegten Rollen. Zugleich jedoch wird die Lust an der Theatersituation und der spezifischen Form des Spiels deutlich: die Nähe der Performer, die Aufmerksamkeit, die sich auf die soufflierende Stimme richtet, die Sinnlichkeit der flüsternden Stimme am eigenen Ohr, die Erfahrung, selbst zum Laut-Sprecher dieser Stimme zu werden, und im Akt dieses LautSprechens die Wiederholung zu gestalten. Denn natürlich gehen die verschiedenen Zuschauerinnen und Zuschauer auf ganz unterschiedliche Weise mit den soufflierten Texten um, sprechen sie konzentriert nach, verhaspeln sich, sprechen sie distanziert, mit ironischem Duktus, oder spielen eine Rolle, geben Intonation, Akzente hinzu, vielleicht auch bewusste Verschiebungen oder Verfehlungen – der soufflierte Text wird zu einer Folie für ein Spiel mit den angebotenen Rollen der Familie und des Theaters. Die Verschiebungen und Verfehlungen der Wiederholung haben dabei, ganz im Sinne Butlers, durchaus auch subversives Potential, wenn rollen- oder geschlechtsspezifische Erwartungen gebrochen und Identitäten verunsichert werden. Die desillusionistische Unterbrechung der Verkörperung durch die Weitergabe der Texte von Performer an Zuschauer macht die familiären Rollen als kulturelle Konstruktionen erkennbar und denaturalisiert die familiären Beziehungen. Nach dem ersten Dialog von Mutter und Sohn setzt sich eine Performerin (Lisa Lucassen) in die Mitte der Kopfseite der Tafel, nunmehr ohne Maske, stellt ein mit »Die Kleine« beschriftetes Schild vor sich und »schlägt das Familienalbum auf«, wie eine Stimme verkündet. Sie öffnet ein vor ihr liegendes Fotoalbum, das zeitgleich auf eine Leinwand projiziert wird, die an der gegenüberliegenden, offenen Seite der Tische steht. Im Folgenden zeigt Lucassen Fotografien ihrer Familie, beginnend vor ihrer Geburt bis in die Gegenwart hinein. Sie berichtet dabei von ihrer Familie, deutet Komposition, Posen und Details der Familienbilder hinsichtlich der

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Familienstruktur und ihrer eigenen Position darin: »Auf diesem Bild sieht man auch ziemlich deutlich, wie ähnlich mein Gesicht dem meiner Mutter ist. Ich habe mich daran gewöhnt, eine Kopie zu sein; ich habe auch gar keinen eigenen Namen sondern heiße genauso wie meine Mutter«, oder: »Meine Schwester steht hier wieder am Rande, sie glaubt immer noch, sie wäre adoptiert«. Während sie erzählt, stellen sich die anderen Performer allmählich in die Bildprojektion hinein, so dass die Gesichter der Abgebildeten nunmehr auf ihre maskierten Gesichter projiziert werden. Die von den Zuschauerinnen und Zuschauern gesprochenen Familienszenen wechseln mit diesen Erzählungen der Performer zu ihren Familienfotos ab. Während die nachgestellten Familienszenen um den großen Tisch durch das Nachsprechen ganz offensichtlich verfremdet sind und den Akt der Darstellung selbst zum Thema machen, sind die Erzählungen der Performer als authentische Berichte über die eigene Familie und Kindheit inszeniert. Sie sitzen in entspannter Haltung mit an dem großen Tisch, haben ihre Masken abgenommen und erläutern die Familienfotos in einem alltäglichen Erzählduktus. Die Fotografien dienen dabei als Mittel der Authentifizierung (z.B.: »Das hier bin ich an Weihnachten 1978, daneben ist meine Schwestern, sie schaut so grimmig, weil sie damals nicht fotografiert werden wollte.«), zumal, wenn man die Sprechenden auf den Fotos erkennen kann (»Hier seht ihr mich zusammen mit meinem Mann und meinen beiden Kindern […]«). Die meisten Erzählungen sind Erinnerungen an die eigene Kindheit, an Familienfeste oder das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander, manche auch Beschreibungen der jetzigen Familiensituation. Dabei wird über eigene Vorstellungen von Familie, über Wünsche und Utopien gesprochen. Spätestens jedoch, wenn ein Performer, der gerade mittels Fotografien die Geschichte seiner weit verzweigten Familie erzählt hat, von einer Performerin unterbrochen und darauf hingewiesen wird, dass dieses Foto aber ihren Urgroßvater zeige, der nicht Theologe sondern Bäcker gewesen sei, und auch jenes Foto nicht in Düsseldorf, sondern im hessischen Garbenteich aufgenommen worden sei, wird klar, dass die Authentizität eine konstruierte ist und abhängig von der Wechselwirkung zwischen Produktion und Rezeption. Und auch die biografischen Erzählungen selbst werden verfremdet, beispielsweise durch die anderen Performer, die sich an die Stelle der Porträtierten in die Projektion stellen, oder indem die Erzähler in eine Kamera sprechen und in schwarzweißer, teils verzerrter Großaufnahme auf der Leinwand erscheinen. Und ähnlich wie die Zuschauer nehmen auch die Performer eine Rolle ein, indem sie, wie bereits erwähnt, Namensschilder vor sich stellen: »Die Kleine«, »Der Nachkomme« oder »Das ewige Kind« heißt es da. Das autobiografische Material wird in Familienalbum also verwoben mit den inszenierten Dialogen zwischen den Zuschauern und mit künstlerischen Prozessen, die deutlich machen, dass auch das Persönliche kein Naturgegebenes ist, sondern Teil komplexer kultureller Referenzsysteme, die unser Bild von uns selbst hervorbringen. Diese künstlerische Bearbeitung hinterfragt nicht nur die Authentizität der Erzählungen der Performerinnen und Performer, sondern

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auch das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Familiengeschichte und zu den kulturellen Bildern, Vorstellungen und Konzepten von Familie. In ihrem bereits erwähnten Essay »In Platos Höhle« stellt Susan Sontag fest, dass jede Familie durch Familienbilder eine ›Porträt-Chronik ihrer selbst‹ konstruiere, die Zeugnis ihrer familiären Verbundenheit ablege. Ihr zufolge hat die Familienfotografie in erster Linie die Funktion, die Kontinuität genealogischer Zusammengehörigkeit zu sichern, gerade auch über die Grenzen der Kernfamilie hinaus: »Fotografieren wird zu einem Ritus des Familienlebens in eben dem Augenblick, da sich in den industrialisierten Ländern Europas und Amerikas ein radikaler Wandel der Institution Familie anbahnt. Als jene klaustrophobische Einheit, die Kernfamilie, aus einem sehr viel umfassenderen Familienkollektiv herausgelöst wurde, beeilte sich die Fotografie, die gefährdete Kontinuität und den schwindenden Einflussbereich des Familienlebens festzuhalten und symbolisch neu zu formulieren. Jene geisterhaften Spuren, die Fotografien, sorgen jetzt für die zeichenhafte Präsenz der verstreuten Angehörigen. Das Fotoalbum einer Familie bezieht sich im allgemeinen auf die Familie im weiteren Sinne – und ist häufig alles, was davon übriggeblieben ist.«11

Sontag misst der Fotografie bzw. dem Familienalbum eine kittende Funktion bei, die den Einzelnen in der Kontinuität einer genealogischen Familientradition verortet. Das Familienfoto stiftet Identität als Kohärenz von Herkunft, Zugehörigkeit und Selbstbild. Es sichert diese Identität als zugleich biologische und kulturelle ab: die genealogische Verbundenheit wird durch den Akt des Posierens und der Bildproduktion beglaubigt und festgeschrieben. Man könnte aber auch sagen: Sie wird erst über diesen Akt der Bilderzeugung hergestellt. Die ›symbolische Formulierung‹ des Familienlebens in der Fotografie eröffnet auf diese Weise auch Möglichkeiten eben des ›neu Formulierens‹, der Re-Formulierung von familiären Zusammenhängen. Die Hinterfragung des eigenen Verhältnisses zu konventionellen Familienkonzepten wird von einigen Performerinnen auch direkt angesprochen. So berichtet Berit Stumpf, durch das Namensschild als »Mutter« gekennzeichnet, von der Familie, die sie selbst gegründet hat, und die auf erstaunliche Weise derjenigen gleiche, die sie als junge Erwachsene verlassen habe. Stumpf zeigt eine Farbfotografie, auf der sie mit zwei Kindern zu sehen ist, neben ihr ihr Ehemann auf der einen, Schwager und Schwägerin auf der anderen Seite. »Das ist meine Familie. So sieht’s anscheinend aus, wenn man von außen auf uns drauf schaut. Und jetzt ist die Frage, warum sieht es so aus, und nicht ganz anders. Warum sieht’s eigentlich wieder genauso aus wie immer?« Und tatsächlich sieht die Fotografie genauso aus, wie es die Tradition des Familienbildes vorgibt: die Mutter mit den beiden Kinder auf dem Schoß, der Vater eng daneben, aber eben doch optisch weiter von den Kinder entfernt als die 11 S. Sontag: Über Fotografie, S. 14, 15.

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Mutter, sodass die Kinder der Mutter zugordnet sind und eine Einheit von Mutter und Kind konstituiert wird. Das traditionelle Mutterbild gilt also als Modell auch für das eigene Leben, es scheint schwer möglich, sich von den Bild- und Rollenvorgaben der abendländischen Kultur zu lösen. Die Szene der »Mutter« setzt sich mit der eigenen Rolle als Mutter und dem eigenen Bezug zu tradierten Bildern von Mutterschaft auseinander. Stumpf sitzt ihrem eigenen Bild gegenüber und befragt es: »Und wie bin ich da rein gekommen, wie bin ich in dieses Bild rein gekommen?« Dann beschreibt sie, wie sie sich verliebte, das erste Kind kam, das zweite, und wie sich mit den Kindern der Alltag veränderte: »Erst waren wir ein Liebespaar mit Kind, und dann Vater-Mutter-Kind. Dann kam der Opel Kombi mit Kindersitz, die ADAC-Mitgliedschaft, der Geschirrspüler, und der große Eisschrank, weil das ganze Essen püriert und eingefroren werden musste, und die Großeltern kamen immer öfter zu Besuch, und die Lebensversicherung, und nach drei Jahren dann das zweite Kind. Und da war sie dann: die Kleinfamilie. Und ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, hatte ich meine eigene Familie sozusagen identisch reproduziert.«

Die Alltäglichkeit der Erfahrung wird über die alltägliche Sprache betont; die Attribute des Familienalltags, die Stumpf auflistet, drapiert sie in Form von Schnipseln aus Werbebroschüren – ebenfalls Fragmente der Alltagsrealität – auf die Fotografie ihrer Familie. Alltagserfahrung und künstlerische Bearbeitung greifen ineinander, ähnlich wie bei Künstlerinnen der 1970er Jahre erfolgt der Zugriff auf die Rolle der Mutter über eine Reflexion des Familienalltags. Inhaltlich wird die Reproduktion des bürgerlichen Familienmodells in dieser immer schneller gesprochenen Aufzählung als Selbstläufer dargestellt, in den man ohne viel eigenes Zutun hineingezogen wird. Die Mutter steht im Zentrum der Fotografie wie der Erzählung, da wir ihre Perspektive vermittelt bekommen, gebrochen durch den Blick Stumpfs auf das Bild ihrer selbst. Geschlechtsspezifische Rollenverteilung oder Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden nicht explizit thematisiert, sind aber durch diese Perspektivierung präsent. Das Bild der glücklichen Familie mit der Mutter-KindEinheit im Zentrum wird aber nicht nur durch den Text kritisch hinterfragt, sondern auch durch die anderen Performer, die sich in die Fotografie stellen (Abb. 40). Sie kopieren zunächst die Figurengruppe, verlassen dann aber die vorgegebenen Positionen und probieren andere Konstellationen aus. Auf diese Weise verfremden sie die Konvention des Familienbilds, versetzen es in Bewegung, lassen die einzelnen Gesichter unkenntlich werden und befragen das Bild auf Möglichkeiten der Reformulierung. Gegen Ende der Sequenz fragt Stumpf, die lauter werdende Musik übertönend, ob sie überhaupt noch als Einzelperson existiere und welche Möglichkeiten es gebe, diese »geschlossene Gesellschaft« der Familie zu öffnen. Eine Antwort auf diese Frage gibt sie nicht, sondern benennt nur das Paradox zwischen dem Wunsch nach

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Nähe, Geborgenheit und Verlässlichkeit einerseits, nach Offenheit andererseits. Eine solche Öffnung des geschlossenen Familienmodells gelingt der Inszenierung durch die sprachliche und performative Infragestellung der Fotografie. Familie wird nicht als natürliche Einheit, Mütterlichkeit nicht als biologische Eigenschaft inszeniert, sondern als eine kulturelle Konstruktion, die durch die Alltags- ebenso wie die künstlerische Praxis hergestellt, aber auch verschoben und kritisch hinterfragt werden kann.

Abbildung 40: »Familienalbum« von She She Pop, Berlin 2008

Quelle: She She Pop, © She She Pop

Diesem Modell der Kleinfamilie wird in der folgenden Erzählung ein anderes Konzept des Zusammenlebens gegenübergestellt. Fanni Halmburger erzählt von ihrer Kindheit in den 1970ern. Für ihre Eltern sei Familie kein privater Raum gewesen, sondern eine gelebte gesellschaftliche Utopie. Sie habe eine Adoptivschwester aus Korea und einen behinderten Pflegebruder gehabt, und immer wieder hätten noch andere Menschen, wie etwa ein alleinerziehender Vater mit Kind und eine depressive Tante, bei ihnen gelebt. Und dennoch habe ihr Vater vor Kurzem zu ihr gesagt, das Private sei das einzige, was zähle. Und auch Halmburger fragt nun, angesichts ihrer eigenen Schwangerschaft, nach den Möglichkeiten der Gestaltung dieses Privaten: »Wie will ich dieses Private, wie will ich diese Familie gestalten?« Familie wird, anders als in den 1970ern, als ein Privates gesehen, das individuell gestaltbar ist, das bedeutet aber auch: als ein Herstellungsprozess, und nicht als gegebene Entität. Hergestellt werden soll, dies klingt wiederholt an, eine offene Familie als Mo-

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dell für eine offene Gesellschaft, die Zugehörigkeit garantiert, das ihr Andere aber zu- und dem Einzelnen Raum lässt. Und dies ist besonders deutlich durch den Kontrast, den die bürgerliche Großfamilie, die mittels der Zuschauerinnen und Zuschauer inszeniert wird, zu einem solch offenen Familienmodell bildet. Denn sie greift während Halmburgers Erzählung immer wieder ein, Halmburger ist »Die Neue«, die sich als neues Familienmitglied vorstellt, und die von der Familie nicht ohne genaue Prüfung eingelassen wird: »Sind Sie musikalisch?«, »Seine vorherige Freundin sah besser aus«, »Ich habe gehört, in ihrer Familie seien Drogen konsumiert worden«, »Sie redet zu viel«, wird sie von allen Seiten gefragt und kritisiert. Die Familie der Tischgesellschaft wird als geschlossene Einheit dargestellt, die sich über bestimmte Regeln und Normen definiert, sich nach außen abgrenzt und den Einzelnen, der anders ist, ausschließt. Solche Ausgrenzungen werden auch anhand der Homosexualität des »Nachkommens«, der selbst keine Nachkommen zeugen wird, thematisiert. Hier werden abermals die beiden Darstellungsmodi miteinander verbunden, der Performer des »Nachkommens«, Sebastian Bark, der gerade anhand des Familienalbums von seiner Familie berichtet, wird von Zuschauern unterbrochen und von allen Seiten mit Fragen bombardiert: »Was ist aus deinen theologischen Studien geworden?«, »Für was kämpfst du?«, »In was investierst du?«, »Sebastian Konrad. Wie buchstabiert man Ka-pi-tal?«, »Was ist aus deinem Klavierspiel geworden?«, »Wo übernimmst du Verantwortung, Sebastian?«, »Hast du endlich Kinder bekommen?«, »Keine Kinder?!« Er muss alle Fragen abschlägig beantworten – er spielt kein Klavier mehr, hat nicht Theologie studiert, ist nicht in die Politik gegangen, will das Kapital spenden anstatt es zu investieren, hat keine Kinder, wird die Familie nicht reproduzieren. Dann stellt er seinen Freund vor (einen Zuschauer, der neben ihm sitzt): »Das ist mein Freund, den wollte ich hier mal vorstellen, wir sind schon lange zusammen, und wir haben keine Kinder und wir werden auch keine bekommen. Ich werde die Familie nicht fortsetzen«. Die Familiengemeinschaft wird hier fast zur Jagdmeute, die ihr Opfer verbal umstellt und erlegt, um es entweder auszustoßen oder sich einzuverleiben.12 Am eigenen Leib erfährt das Publikum eine Familie, die das ihr Andere – die andere Sexualität, den anderen Lebensweg – auszuschließen trachtet. Dieser strukturell gewalttätigen Familiengemeinschaft stellt sich »der Nachkomme« entgegen; Sebastian Bark in der Rolle des Sebastian Bark verweigert sich der bürgerlichen Familie als heterosexuelles, reproduktives und patrilineares Konzept von Verwandtschaft: »Ich werde diese Familie nicht fortsetzen. Ich werde zu der Verzweigung dieser Familie nichts beitragen. Wir beide werden damit aufhören.« 12 Zur Jagdmeute vgl. E. Canetti: Masse und Macht, S. 101-102, 106-108.

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Fragen der Gemeinschaft Die Gemeinschaft der Theaterzuschauer spielt die Gemeinschaft der Familie – beides Formen von Gemeinschaft, die zugleich Zwang und Utopie einer freien und schützenden Gemeinschaftlichkeit bedeuten. Die Aufführung spielt genau mit dieser Ambivalenz: die unfreiwillige Komplizenschaft der Zuschauer an dem gemeinsamen Tisch, in der gemeinsamen Situation, die reziproke Sichtbarkeit, die auch eine erzwungene Sichtbarkeit jedes Einzelnen bedeutet, die Lust am Rollenspiel bei gleichzeitiger Zuweisung nicht selbst gewählter Rollen, das fremdbestimmte Sprechen, das Verantwortung abnimmt, aber auch Unfreiheit bedeutet. In den Texten werden sowohl die möglichen Opfer der Gemeinschaft, die Qual erzwungener Gemeinschaft, als auch die Sehnsucht nach Geborgenheit und Zugehörigkeit in der Gemeinschaft artikuliert. Die Form, die die Partizipation der Zuschauer in Familienalbum annimmt, verweist nicht nur auf das Publikum als konstitutiven Bestandteil der Theateraufführung, sondern hinterfragt Theater als Gemeinschaft und als Rollenspiel. Die Zuschauer erleben hier am eigenen Leib den Akt der Repräsentation, sie fungieren als Lautverstärker des Textes, der ihnen souffliert wird, und als Teil eines Bildes, in dem sie eine bestimmte Rolle übernehmen – ähnlich wie die unbekannten Verwandten auf den Familienbildern, die während der Aufführung auf die Leinwand projiziert werden, und die wir nur in ihrer Funktion innerhalb der Familie kennenlernen. Und ähnlich wie beim Betrachten dieser Familienbilder wird auch beim Darstellen der zugewiesenen Rolle deutlich, in welch starkem Maße unsere Vorstellungen von Familie und von ihren einzelnen Mitgliedern kulturell geprägt und stereotypisiert sind. Im Illusionstheater bildet das Publikum üblicher Weise eine anonyme Gruppe, die lediglich durch gleichzeitige Präsenz am gleichen Ort zu einer zeitlich begrenzten Gemeinschaft wird. Andere Theaterformen bemühen sich darum, diese Gemeinschaft der Zuschauenden bzw. die gemeinschaftsstiftende Wirkung des Theaters zu stärken. Dies geschieht etwa durch eine Betonung der einmaligen Erfahrung, die auf affektive Weise gemeinschaftsstiftend wirken soll, oder durch eine Einbeziehung der Zuschauerinnen und Zuschauer auf körperlicher Ebene, die die Grenze zwischen Performern und Publikum zum Verschwinden bringen soll (z.B. in Aufführungen wie Dionysos in 69 der Performance Group, New York 1969). Die Risiken solcher Gemeinschaftsstiftung, namentlich die Ausschlüsse und Opferungen, die mit ihr einhergehen, werden dabei meist nicht problematisiert. In Familienalbum hingegen wird die Gemeinschaft der Theaterbesucher zu einem expliziten Thema der Aufführung. Die räumliche Organisation der Plätze um den großen Tisch stiftet eine Gemeinschaft derer, die an diesem Tisch sitzen, und bezeichnet diesen Akt der Gemeinschaftsstiftung mit dem Verweis auf das Familientreffen zugleich. Die Gruppe der Zuschauenden konstituiert sich sichtbar vor den Augen aller, alle sind zugleich

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Zuschauende und Angeblickte. Gleich zu Beginn der Aufführung werden alltägliche gemeinschaftsstiftende Rituale wie das gemeinsame Trinken durchgespielt. Die gemeinsame Nahrungsaufnahme ist Kern gemeinschaftsstiftender Rituale in religiösen und weltlichen Kontexten und bildet auch innerhalb der Familie ein wiederkehrendes gemeinschaftsstiftendes Moment. Solche gemeinschaftsstiftenden Funktionen werden in Familienalbum teilweise vollzogen (das gemeinsame am Tisch Sitzen und Trinken), teilweise lediglich zeichenhaft zitiert (die Gedecke bleiben leer) und verfremdet (die Tischkarten mit den Rollenzuweisungen, das soufflierte Sprechen). Dieser Grenzgang zwischen realem Vollzug und Distanzierung reflektiert die inszenierte Gemeinschaft und hinterfragt gemeinschaftsstiftende Prozesse. Die Darstellung der Familie durch die Theaterbesucher stiftet eine Gemeinschaft und macht aus dem Theater als öffentlichem Raum einen quasi privaten Raum – um den gemeinsamen Esstisch herum. Gleichzeitig werden die Mittel dieser Gemeinschaftsstiftung offengelegt und die Gemeinschaft selbst durch die verschiedenen Mittel der Distanzierung gebrochen. So wie die gemeinsame Tischsituation einerseits den öffentlichen Raum Theater in gewisser Weise privatisiert, öffnet die Reproduktion der Familie durch die Zuschauer andererseits die Privatheit der Familie auf die Öffentlichkeit der Theatersituation und stellt Familie als gesellschaftliches Konstrukt zur Disposition – indem das publicum die Familie darstellt, macht es sie öffentlich. Das Ausstellen der Mittel reflektiert dabei das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, derjenigen der Familie ebenso wie derjenigen des Publikums. Die Performerinnen und Performer bleiben weitgehend aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen; unter den Masken verborgen lenken sie, wie die Geister der Ahnen, das Geschehen von hinten, aus dem Off der großen Tafel. »Der Geist der Familie steht hinter uns«, sagt die Zuschauerin als »Großmutter« zu Beginn der Aufführung, und in den Texten wird immer wieder veranschaulicht, in welchem Maße das Bild des eigenen Selbst von der Familie geprägt wird, in der man aufgewachsen ist. Wie Geister dieser Familie stehen die Performerinnen und Performer hinter uns und soufflieren uns unsere Rollen – in der Familie, in der Aufführung. Die Reproduktion, die die Zuschauer durch das Nachsprechen realisieren, steht nicht zuletzt für die Reproduktion von Familie, ihren Beziehungs-, Macht- und Wertstrukturen. Durch die reduzierte Form der Darstellung als Nachsprechen und Ausführen bestimmter Anweisungen wie »Steh auf und hebe die Hände« wird die Sprechhaltung selbst Thema, das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Sprechen, sowie von einem öffentlichen Sprechen (auf der Bühne) und einem privaten Sprechen (in der Familie). Gilt Sprechen im privaten Rahmen als unmittelbarer Ausdruck des Selbst, so ist das öffentliche Sprechen als willkürliches, rhetorisch geformtes konzipiert. In Familienalbum wird diese Unterscheidung durch das soufflierte Sprechen in Zweifel gezogen, der Raum der Familie ist hier, wie der des Theaters, ein öffentlicher, in dem Sprechen keine Form des natürlichen Selbstausdrucks ist, sondern eine Form der

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performativen Hervorbringung des Selbst als Rolle. Die offensichtliche Imitationsstruktur hinterfragt Identität als originale, und letztlich den Begriff des Originals als solchen. Dabei werden auch die symbolischen Funktionen einzelner Familienmitglieder von einem anatomisch-geschlechtlichen Körper gelöst, etwa wenn ein männlicher Zuschauer die Rolle der »Mutter« oder eine Frau diejenige des »Sohnes« spricht. Das soufflierte Sprechen unterbricht die Einheit von Schauspieler und Rolle, aber auch von Körper und Stimme und hinterfragt so das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Sprechen. Wenn »theatralisch eine Differenz von sichtbarem Leib und Stimmkörper einen signifikanten Raum findet«, so Helga Finter, kann »die Geschlechterdifferenz zur Szene eines Spiels mit den sie konstituierenden Signifikantensystemen werden«.13 Während She She Pop in den meisten Arbeiten die Stimme als alltägliche und an den Performer-Körper gebundene inszenieren, so haben sie in Form des Soufflierens in Familienalbum einen Modus gefunden, das Verhältnis von Körper und Stimme und damit die Geschlechts- und Rollenidentität des Einzelnen im Rahmen der zugleich symbolischen und realen Ordnung der Familie und des Theaters in Frage zu stellen. Die Unterbrechungen der Darstellung, der Verkörperung und Stimmgebung unterlaufen auch die Konstitution einer Gemeinschaft, die als homogene gerade nicht zustande kommt. Inhaltlich werden die Konstellationen der verschiedenen Familien und die Zumutungen der eigenen Rolle in der Familie – eben als »Kleine«, »Nachkomme« oder »ewiges Kind« – reflektiert. Dabei werden auch, wie beschrieben, Fragen der Zugehörigkeit angesprochen. Auch auf der inhaltlichen Ebene setzt sich Familienalbum so mit der Familie als einer Gemeinschaft auseinander, die sich über ihren Umgang mit dem ihr Anderen definiert. Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als man als Zuschauer in die Rolle der ›Meute‹ versetzt wird, die den Einzelnen, der sich der Ordnung der Familie – der Heteronormativität, der Logik der Reproduktion und Genealogie – widersetzt, auszuschließen droht. Und so ist dann auch die Frage, die sich die Performerinnen bezüglich der von ihnen gegründeten Familien stellen, diejenige nach den Möglichkeiten der Öffnung des Modells der Kleinfamilie, nach den Möglichkeiten einer anderen, verfehlenden oder verschiebenden Wiederholung.

5.3 D AS P ERFORMANCE -K OLLEKTIV

ALS

C HOSEN F AMILY

Sebastian Bark sagt während der Szene, in der er von der (Zuschauer-)Familie in die Mangel genommen wird, dass er zwar keine Kinder bekommen und keine eigene Familie gegründet, aber sich für eine Form des Arbeitens entschieden habe, die

13 H. Finter: »Der Körper und seine Doubles«, S. 26.

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auch eine Art Familie sei, in der er Verantwortung übernehme: die Theatergruppe. Neben der nicht ausschließlich auf Biologie gründenden, offenen Familie nach dem Modell der 1970er Jahre wird damit eine weitere Form von Gemeinschaft als familienähnliche Utopie angesprochen: die Idee des Künstler-Kollektivs als dauerhafter, verantwortlicher Zusammenhalt. Künstlerkollektive oder kontinuierlich zusammenarbeitende Künstlerinnen und Künstler werden immer wieder als familienähnliche Zusammenschlüsse bezeichnet, wobei häufig eine Vaterfigur an der Spitze steht.14 Im Gegensatz dazu versuchen Performancegruppen wie She She Pop oder auch Gob Squad die Idee eines dauerhaften, verantwortlichen Zusammenhalts in einer hierarchiefreien Form zu realisieren. She She Pop arbeiten seit Mitte der 1990er Jahre in fast gleicher Besetzung zusammen, sodass man tatsächlich von einem familienähnlichen Zusammenhalt sprechen kann, in dem der Einzelne für die Gruppe und die Gruppe für den Einzelnen einsteht. Die Aufführungen entstehen in einem gemeinschaftlichen Arbeitsprozess von der Konzeption bis hin zur konkreten Ausgestaltung der Aufführung. Sie haben keine fixierte Arbeitsteilung, alle Gruppenmitglieder sind zugleich Autoren, Dramaturgen, Regisseure und Performer, sämtliche konzeptionellen, dramaturgischen und künstlerischen Entscheidungen werden gemeinsam gefällt.15 Jeder Einzelne trägt bei dieser Arbeitsweise das gleiche Maß an Verantwortung und ist im gleichen Maße in sämtliche Produktionsprozesse eingebunden. Diese Produktionsstruktur, die sich bewusst von der Spezialisierung in die verschiedenen Berufsgruppen am Theater absetzt, bezeugt auch eine grundsätzliche Gleichbewertung der verschiedenen künstlerischen Prozesse und Mittel. Das kollektive Arbeiten ist im Selbstverständnis von She She Pop wesentlicher Bestandteil und grundlegende Bedingung ihrer künstlerischen Praxis. Auch wenn im Kollektiv keine konkrete politische Utopie mit Vorbildcharakter für gesellschaftliche Verhältnisse gesehen wird, so haben sie doch eine bewusste Entscheidung für eine Form des Arbeitens getroffen, die übliche Hierarchisierungen und Entfremdungsprozesse außer Kraft setzt und den Beteiligten eine Möglichkeit bietet, ihre Vorstellungen vom individuellen wie gesellschaftlichen Leben im eigenen Arbeitsalltag umzusetzen. Und es handelt sich um eine Arbeitsweise, die nicht nur auf professionellem Miteinander, sondern auf freundschaftlicher Bindung beruht, in die jeder persönlich involviert ist und in der Verantwortung für die anderen steht. Die Gruppe stellt so in gewissem Sinne eine Familie für die Beteiligten dar, eine frei gewählte und frei gestaltete Form des verlässlichen Miteinanders, das immer wieder neu ausgehandelt wird. 14 Am bekanntesten ist wohl die »Fassbinder-Familie«. Auch Schlingensief spricht von seinem Stammensemble als »Familie«; vgl. J. Lochte/W. Schulz: Schlingensief, S. 14. 15 Vgl. A. Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, S. 224-126.

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Das Kollektiv setzt sich dabei nicht als einheitliches an die Stelle des Vaters/Autors/Regisseurs, sondern zeichnet sich gerade durch seine Vielstimmigkeit aus, die sich in den Aufführungen in der Eigenständigkeit der Performerinnen und Performer widerspiegelt. Jede Performerin entwirft ihre Figur und ihre Texte auf der Grundlage der gemeinsam entwickelten Konzeption selbst; im Zusammenspiel mit den anderen, im gemeinsamen Improvisieren, Diskutieren, Ausprobieren werden sie weiterentwickelt. Die Probe ist hier ein ergebnisoffener Raum, in dem das Verhältnis der Einzelnen zueinander und des Einzelnen zur Gruppe immer wieder neu verhandelt wird, ohne dass Positionen im Vorhinein festgelegt wären.16 Diese Mobilität im Probenprozess öffnet auch die Aufführung, die kein abgeschlossenes Werk sondern vielmehr eine Struktur ist, in der sich die einzelnen Elemente immer wieder neu zueinander verhalten. Entsprechend dem Kollektivgedanken sind die Performerinnen nicht in Hauptund Nebenrollen eingeteilt, sondern immer als gleichwertige Protagonisten in Szene gesetzt. Die offene und egalitäre Struktur wird dadurch verstärkt, dass der Text nicht im Detail schriftlich fixiert ist, sondern zu einem guten Teil auf Improvisation beruht. Einerseits ist so jede Performerin, jeder Performer für das verantwortlich, was sie oder er sagt, ist Autor seines eigenen Textes. Gleichzeitig haben wir es, betrachtet man den Aufführungstext als Ganzes, mit einer multiplen Autorschaft zu tun, die sich auch im Laufe jeder einzelnen Performance durch den Improvisationsoder Spielcharakter, durch den Einfluss, den die Zuschauer auf den Verlauf der Aufführung nehmen, noch multipliziert. Die Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Performer ermöglicht eine Form der Darstellung, die in hohem Maße auf spontaner Reaktion und selbstständiger Improvisation beruht, wie sie für die verschiedenen Spielmodalitäten bei She She Pop charakteristisch ist. Die Art und Weise, in der Theater gemacht wird, ist so auch auf der Bühne sichtbar. Die Infragestellung theatraler Konventionen, die sie in Form der vielfältigen Modalitäten des Spiels und der Zuschauerpartizipation praktizieren, ist eng verbunden mit der Dezentralität ihrer Produktionsweise und mit den multiplen Perspektiven, die diese eröffnet. Die CoAutorschaft des Publikums erfordert aber nicht nur Eigenverantwortung und Spontaneität, sondern bedeutet auch, dass Kontrolle an die Zuschauer abgegeben wird – wenn in Trust! niemand die nächste Szene bezahlt, geht es nicht weiter. Ein offensichtlicher Gegensatz also zu der Vorstellung des Regisseurs als künstlerischer Autorität, die die Kontrolle über das Werk und seine Bedeutung hat. Die Aufführung wird als offener Prozess verstanden, nicht als abgeschlossenes Werk. Diese Betonung der Prozessualität, wesentliches Kennzeichen der Performance-Kunst, stellt auf ästhetischer Ebene den bürgerlichen Werkbegriff und mit ihm das Konzept individueller Autorschaft ebenso wie die Geschlossenheit der Repräsentation bzw. im Fall von Testament und Familienalbum auch der dargestellten Familien in Frage. 16 Zum Improvisieren im Probenprozess vgl. A. Matzke: Arbeit am Theater, S. 216-227.

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Dass gerade die Position des Regisseurs nicht besetzt ist, die strukturell der Position des Vaters in der patriarchalischen Familie gleicht, ist dabei wesentlich. Annemarie Matzke zufolge zielen die kollektiven Arbeitsformen genau auf diese »Auflösung einer individuellen Instanz eines Autors als Urheber der Inszenierung, die beispielsweise durch die Funktion des Regisseurs besetzt wird.«17 Theater ist immer ein kollaborativer Prozess, an dem neben dem Regisseur viele andere Künstlerinnen und Künstler beteiligt sind. Dennoch gibt es seit den Anfängen des modernen Regietheaters eine Fokussierung auf den Regisseur, der auch heute noch meist als zentrales Künstler-Subjekt des Inszenierungsvorgangs angesehen wird. Die Ablösung des Theaters von der Autorität des literarischen Textes und des Dichters in der Theatermoderne hat nicht zu einer Verabschiedung der Instanz des Autors geführt, sondern zu einer Übertragung der Autorität vom Dichter auf den Regisseur. Im modernen Regietheater gilt fortan der Regisseur als individueller Schöpfer und künstlerische Autorität der Inszenierung. In ihm lebt mithin das Konzept der individuellen, männlichen Autorschaft, wie es sich seit der Renaissance in enger Verbindung mit dem neuzeitlichen Werkbegriff entwickelte, fort. Und auch wenn seit der Moderne der bürgerliche Kunstwerkbegriff und die Instanz des Autors immer wieder, zumal auf ästhetischer Ebene, angegriffen und zersetzt wurde, so spielt er doch bis heute eine wesentliche Rolle. Wie Theresia Birkenhauer feststellt, bleibt auch die zeitgenössische Theaterpraxis dadurch dem bürgerlichen Konzept des Kunstwerks verhaftet: »In der Geste der Autorisierung, im Festhalten an der Position des Regisseurs oder des Choreographen, die auch in der Performance-Kunst nur wenige Gruppen aufgegeben haben, bleibt eine Bindung an die Werkhaftigkeit erhalten.«18 Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es immer wieder kollaborative Produktionsformen in den Künsten, die vorrangig künstlerisch motiviert sind, aber teilweise durchaus auch Aspekte einer chosen family aufweisen, wenn man etwa an den Zusammenschluss der Dadaisten im Schweizer Exil denkt. Vor allem ab den 1960er Jahren wird die Frage der Arbeitsweise verstärkt diskutiert und es entstehen Gruppen mit kollektiven Arbeitsstrukturen wie z.B., um nur die bekanntesten zu nennen, das Living Theatre, die Performance Group oder das Théâtre du Soleil. Das kollektive Arbeiten der 1960er und 1970er Jahre versteht sich in erster Linie als ein gesellschaftliches, oft ideologisch motiviertes Modell, als politische Utopie nichtentfremdeter Arbeit und eines hierarchiefreien Miteinanders. Viele Gruppen zeichnen sich aber auch durch familienähnliche Strukturen aus, zumal Leben und Arbeiten teilweise fließend ineinander übergehen. Die Idee des miteinander Lebens und Arbeitens grenzt sich dabei dezidiert von dem die 1950er und 60er Jahre prägenden Modell der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihrer strikten Sexualmoral ab und versucht, Sexualität unabhängig von der Institution der Ehe und heterosexueller Re17 Ebd., S. 225. 18 T. Birkenhauer: »Werk«, S. 391.

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produktion zu denken. Mit der Absage an ein zentrales, schöpferisches Subjekt ist eine grundlegende Kritik am bürgerlichen Genie-, Individuums-, Familien- und Kunstbegriff verbunden. Dennoch stehen häufig einzelne Protagonisten im Zentrum der Gruppen, die teilweise eine ausgesprochen patriarchalische Rolle spielen und Gemeinschaft über Ausschlüsse zu stiften versuchen.19 Im Gegensatz dazu zeichnet sich She She Pop durch die Absage an jedwedes patriarchalische Prinzip und an eine auf Einmütigkeit zielende Gruppenstruktur aus. Annemarie Matzke spricht vom »Schutzraum Kollektiv«: »Das kollektive Arbeiten ist in den szenischen SelbstInszenierungen keine Suche nach einem emphatischen Gemeinschaftserlebnis, keine Ausgrenzung des Anderen, sondern ein Nebeneinander verschiedener Eindrücke und eine Aufsplittung in verschiedene Stimmen.«20 Die verschiedenen Stimmen, von denen Matzke spricht, werden nicht vereinheitlicht, sondern bleiben nebeneinander bestehen, sowohl im Produktionsprozess als auch auf ästhetischer Ebene. Dezentralisierung, Vielstimmigkeit und Prozessualität ermöglichen die Konstitution einer Gemeinschaft, die sich nicht über Ausschlüsse definiert und so offen bleibt. Gemeinschaft oder Familie ist hier, ganz im Sinne Butlers, eine Form des Tuns, das keine vorgängige Struktur reflektiert, sondern sich als ausgeübte Praxis beständig selbst befragt, formuliert und reformuliert. Grundlage der gemeinsamen Arbeit sind ausgiebige Diskussionen, sowohl über inhaltliche und künstlerische Fragen als auch über das Arbeiten selbst, seine Organisation, Form und konkrete Ausgestaltung. Die Mitglieder von She She Pop handeln immer wieder aufs Neue die Bedingungen ihrer Zusammenarbeit aus; wie eine chosen family sind sie in einem kontinuierlichen Prozess der »re-creation and renegotiation of ›family‹«.21 Auch wenn die Mitglieder der Gruppe nicht zusammen leben, so stellt die langjährige gemeinsame Arbeit in der Künstlergruppe doch eine familienähnliche Form des Zusammenhalts dar, der auf gegenseitiger Verantwortung, Verlässlichkeit, Fürsorge und dauerhafter Bindung basiert. Die chosen family des Performancekollektivs ist Produkt einer alltäglichen Praxis, die Verwandtschaft im Prozess erzeugt, anstatt sie als Tatsache vorauszusetzen. In Familienalbum beschäftigen sich She She Pop mit verschiedenen Formen von Familie: mit dem Modell der bürgerlichen Kleinfamilie, an dem sie ihre eigenen Familien messen, mit ihren Herkunftsfamilien, mit anderen Konzepten von Familie und Gemeinschaft wie derjenigen der Zuschauer oder der selbst gewählten des Performancekollektivs. Familienalbum ist so auch eine Reflexion auf das eigene Leben und Arbeiten, auf die Utopie des gemeinschaftlichen Arbeitens, die sich aus persönlichen Wünschen, aber auch aus kulturhistorischen Vorgaben wie beispielsweise 19 Etwa R. Schechner in der Performance Group; vgl. D. Savran: Breaking the rules, S. 3. 20 A. Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, S. 230, 231. 21 S. Battis: Blood Relations, S. 165.

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der Idee des Künstler-Kollektivs speist. Denn diese Utopie ist brüchig, ist von Konflikten, Machtverhältnissen und Ausschlüssen durchzogen. Und so legen She She Pop, neben aller Leichtigkeit, Komik und Lust am Rollenspiel, durch Distanzierungen und Brechungen auch die Problematik der Idee des Kollektivs bzw. einer Gemeinschaft von Zuschauern und Darstellern offen. Dabei werden Rollenzuschreibungen hinterfragt und es scheinen andere Möglichkeiten von Verwandtschaft auf. Auf diese Weise kann das Verhältnis des Einzelnen zu seiner Rolle – im Theater, in der Familie – neu gedacht und mit anderen Formen von Gemeinschaft experimentiert werden. Auf einer Fotografie, die She She Pop 2006 anlässlich der Aufführung Für Alle machen, sind sämtliche Gruppenmitglieder sowie mehrere Kinder unterschiedlichen Alters zu sehen, alle in Schlafanzügen oder Nachthemd gekleidet (Abb. 41). Sebastian Bark, einziger männlicher Performer der Gruppe, sitzt in der Mitte, ein Baby im Arm, die anderen stehen um ihn herum. Was auf den ersten Blick wie die Reproduktion einer patriarchalen Großfamilie aussehen mag, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Frage nach einem anderen Begriff von Familie, nach dem Verhältnis von öffentlich und privat, Familie und Arbeit, Utopie und Realität. Ein Gruppenbild, das die Performancegruppe als Familie imaginiert, und Familie zugleich loslöst von biologischer Bestimmung, Genealogie, Heteronormativität und eindeutigen Beziehungen. Abbildung 41: She She Pop 2006

Quelle: She She Pop, Foto: Barbara Dietl

6. Die Denaturalisierung von Mutterschaft bei René Pollesch

6.1 H ETEROSEXUALITÄT , ARBEIT

UND

Z UHAUSE

Ein Theaterautor und Regisseur, der das Konzept der bürgerlichen, heteronormativen Familie und das mit ihm einhergehende Verhältnis von privat und öffentlich grundlegend in Frage stellt, ist René Pollesch. »Normalität ist Heterosexualität, die nicht MARKIERT IST!«, heißt es in einem seiner Theatertexte,1 und folglich arbeitet er an der Markierung dessen, was als normal gilt, wie beispielsweise die heteronormative Kleinfamilie. Pollesch entwickelt seine Theatertexte aus Versatzstücken der Alltagskultur (Musik, Film, Fernsehen) und aus theoretischem Textmaterial, das direkt in die Figurenrede einfließt. Fragmente, einzelne Begriffe oder ganze Passagen des theoretischen Materials, etwa von Michel Foucault, Judith Butler, Giorgio Agamben oder Eva Illouz, werden mit der Ausdrucksweise der Alltags- und Medienkultur versetzt: »S: Dieses Zwangsverhältnis hier besteht aus WÜNSCHEN. C: Machttechnologie, die irgendwas mit Begehren zu tun hat, lässt sich eben nicht so gut SEHN! Die kann ich nicht so leicht sehn, wenn ich die begehrende Person bin und mich mit meinen Wünschen in irgendeinem Zwangsverhältnis einrichte. I:

Irgendein Begehren stützt meine Ausbeutung und ich kann von Glück sagen, dass das kein heterosexuelles Begehren ist. Momentmal! OH GOTT! Das ist es ja doch, ich bin ja scheiss-HETEROSEXUELL! SCHEISSE! Das hier ist HETEROSEXUELL!«2

Eine solche intertextuell angelegte Figurenrede stiftet keine personale Identität, sondern verwebt subjektive Impulse, Sprachfloskeln, die in der Mediengesellschaft Identitäten konstruieren, und kritische Reflexionen dieser Gesellschaft. Das Subjekt erscheint im Theater Polleschs als nachträglicher Effekt eines Sprechens, dessen 1

R. Pollesch: SEX, S. 155.

2

Ebd., S. 132.

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Herr es nicht ist: »Es sind gar nicht deine Texte. Es sind nur Texte, die meinen, du zu sein!« Pollesch spielt mit den Zeichen und Stereotypen der Massen- und Populärkultur, überzeichnet sie und stellt sie als Produktionsmittel aus. (Geschlechts-) Identität wird als Effekt einer Konstruktion aus eben solchen Zeichen und Zitaten sichtbar, die Annahme einer substantiellen Identität radikal in Frage gestellt. Theorien zur globalisierten, kapitalistischen Gesellschaft werden dabei direkt auf die Subjekte bezogen: »Und plötzlich wird die Umnutzung überschüssiger Stadtareale und ihre Aktivierung als Immobilie auf den menschlichen Organismus angewendet. AUF MICH! ODER AUF DICH! Diese Hure hier entwickelt ein unternehmerisches Profil«.3 Die Sprache zwischen den Figuren folgt nicht den Gesetzen eines zwischenmenschlichen Dialogs, sondern motivischen und rhythmisch-musikalischen Mustern; das gesammelte Textmaterial ist zu etwa gleichen Teilen unter den Schauspielerinnen und Schauspielern verteilt, sodass auch auf dieser Ebene keine personale Identität gestiftet wird. Pollesch hinterfragt in der Auseinandersetzung mit Theorien zur neoliberalen, spätkapitalistischen Gesellschaft und ihren Produktionsverhältnissen, mit Texten des kritischen Urbanismus, der postcolonial studies, der Gender und Queer Theory immer wieder den Zusammenhang zwischen heterosexueller Matrix und neoliberalen Arbeits- und Lebensverhältnissen. Dies geschieht bereits in den frühen Stücken wie der Heidi Hoh-Trilogie (Heidi Hoh, 1999, Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr, 2000, Heidi Hoh - die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat, 2001), Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels (2001) und SEX (nach Mae West, 2002); alles übrigens Arbeiten, in denen jeweils drei Frauen auf der Bühne sind. So wird in SEX die Porno- und Prostitutionsindustrie und ihre Machtverhältnisse als konsequente Zuspitzung der Zwangsheterosexualität dargestellt. Die drei Darstellerinnen Sophie Rois, Caroline Peters und Inga Busch thematisieren die Vermarktung nicht nur ihrer Körper, sondern auch ihrer Gefühle, Wünsche, Sehnsüchte, ihres Begehrens und ihrer Subjektivität: »I: In Arbeitsverhältnissen in denen marktfähige Subjektivität das Produkt ist, ist es irgendwie mehr Arbeit nicht offen zu sein, weil damit gleichzeitig die eigenen Person abgewertet wird. Das sieht irgendwie nicht gut aus, wenn ich das, was meine Subjektivität ist, nicht kann oder verweigere. Das ist so eine anstrengende Arbeit. Aber die muss gemacht werden! ICH WILL NICHTS ÜBER MICH ERZÄHLEN! S: Die intensivsten Gefühle und die besten Erlebnisse habe ich gekauft […]«4

3

R. Pollesch: Stadt als Beute, S. 7.

4

R. Pollesch: SEX, S. 132-133.

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Die geschlechtsspezifische Normierung von Körper und Subjektivität wird ›als Problem markiert‹: »S: Frauen werden in ihrer Produktion von marktfähiger Subjektivität als weiblich angesprochen. I:

Und das ist doch irgendwie Sexarbeit: die Differenzierung in Geschlechter, und damit dauernd umzugehen. […]

S: Du verkaufst hier Subjektivität und die ist weiblich. C: Du verkaufst deine weibliche Subjektivität hier in diesem Bordell. I:

Die Scheisse ist GLEICHZEITIG ZUHAUSE, FABRIK UND BORDELL!«5

Reflektiert werden sowohl die Machtverhältnisse der gesellschaftlichen wie der privaten Sphäre bzw. gerade die Untrennbarkeit beider, die Ökonomisierung und Ausbeutung nicht nur des Körpers, sondern, und das ist Kennzeichen eben der postfordistischen Gesellschaft, des vermeintlich Privaten, Subjektiven: »Die Arbeit an deiner SUBJEKTIVITÄT IST EIN SCHEISS-JOB! – Und den machen jetzt Erlebnisunternehmen!«6 Das Subjektive erscheint als eine aus ökonomischen Gründen produzierte Schimäre, eine Ware, die nur dazu dient, den Warenkreislauf am Leben zu erhalten, dessen Teil sie ist.7 Hier setzt auch Insourcing das Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels an, das auf Texten von Pauline Boudry, Brigitta Kuster und Renate Lorenz zum Verhältnis von Heterosexualität, Arbeit und Zuhause basiert, die auch in SEX eingeflossen sind. Die Autorinnen beschäftigen sich in Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause mit der Subjektivierung von Arbeit und der Ökonomisierung der Gefühle im Spätkapitalismus sowie mit geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen zu Hause bzw. bei der Hausarbeit.8 Arbeit ist ihnen zufolge in der postfordistischen Ökonomie immer sexuelle Arbeit, da eine eindeutige Darstellung von Heterosexualität und Geschlechtsidentität verlangt und Heterosexualität in der Dienstleistungsgesellschaft als Produkt mit vermarktet werde: »Formen von Arbeit, die Fähigkeiten einsetzen, die der Persönlichkeit und Subjektivität zugeordnet werden. - Und das ist doppelt produktiv: Zum einen erwirtschaften sie Profit zum andern zementieren sie gesellschaftliche Normen über Sexualität und Geschlecht«.9

5

Ebd., S. 140-141.

6

Ebd., S. 152.

7

Eine der ersten Studien zur Kommerzialisierung der Gefühle ist Arlie Russell Hochschilds Das gekaufte Herz von 1983; zum »emotionalen Kapitalismus« vgl. E. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 13.

8

P. Boudry/B. Kuster/R. Lorenz: Reproduktionskonten fälschen.

9

R. Pollesch in ebd., S. 47.

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Wie die Arbeitsplätze der neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft ist auch das Zuhause von geschlechtsspezifischen Machtverhältnissen durchzogen und heterosexuell normiert. Zentraler Angelpunkt dabei ist die Hausfrau und Mutter, denn ihre Arbeit zu Hause wird nicht als Arbeit sondern als »quasi-natürliche Verhältnisse« gesehen.10 Die Verträge, die diese Arbeit und die Beziehungen untereinander zu Hause regeln, sind üblicher Weise unausgesprochen, weil das Zuhause als ein Ort jenseits der ökonomischen Logik gilt. Boudry, Kuster und Lorenz zufolge ist aber gerade das Zuhause von Machtstrukturen und ökonomischen Regulierungen durchzogen, die jedoch unsichtbar bleiben: »Heterosexualität als gesellschaftliche Norm bleibt gewöhnlich unmarkiert, so dass die sozialen Praktiken, die mit ihr verknüpft sind, als solche gar nicht sichtbar werden.«11 Das Zuhause als Ort der bürgerlichen Familie und der mit ihr einhergehenden Naturalisierung des polaren Geschlechtermodells ist für sie der zentrale Ort, an dem die nicht markierte heterosexuelle Norm ihre Macht entfaltet, gerade weil die geschlechtsspezifische Arbeit im scheinbar außer-gesellschaftlichen Raum über die Figur der Mutter naturalisiert wird. Das bürgerliche Konzept von Familie beinhaltet die Fiktion des Privatraums als Rückzugsort aus der »kalten Öffentlichkeit« (Illouz); die Mutter steht für diese extra-soziale Wärme. Eva Illouz zufolge ist die Verinnerlichung der Trennung einer emotionsfreien Öffentlichkeit von einem emotionalen Privaten Kennzeichen der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft. Zugleich wird das private Selbst zunehmend öffentlich inszeniert, sodass gerade die Emotionen zu Tauschmitteln in der kapitalistischen Ökonomie geworden sind und das emotionale Leben der ökonomischen Logik unterworfen wird.12 Dabei sind die Emotionen Illouz zufolge geschlechtsspezifisch codiert und sozial hierarchisiert: »Die durch geschlechtsspezifische Spaltungen produzierten sozialen Hierarchien enthalten implizite emotionale Spaltungen […] Diese Spaltungen wiederum produzieren emotionale Hierarchien, in denen kühle Rationalität normalerweise als verlässlicher, objektiver und professioneller eingeschätzt wird als etwa Mitgefühl.«13 Pollesch greift auch diese geschlechtliche Codierung der Gefühle und ihre normative Wirkung auf: »Du performst hier Emotionalität und die zementiert gesellschaftliche Geschlechterdifferenzen«, heißt es in Insourcing das Zuhause.14 Das scheinbare Paradox der performativen Erzeugung von Gefühl hinterfragt dabei die affirmative Wirkung einer Theaterästhetik, die die Illusion einer Innerlichkeit von Gefühl herstellt und dabei die Verbindungen von Emotion und Macht übersieht.

10 P. Boudry/B. Kuster/R. Lorenz: Reproduktionskonten fälschen, S. 11. 11 P. Boudry/B. Kuster/R. Lorenz: Reproduktionskonten fälschen, S. 12. 12 E. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 12-15. 13 Ebd., S. 11. 14 R. Pollesch: Insourcing das Zuhause, S. 47.

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Die Codierung bestimmter Emotionen wie etwa Mitgefühl oder Wärme mit Weiblichkeit verläuft über die Figur der Mutter, der diese Gefühle ›natürlicher Weise‹ zugeschrieben werden. Die Mutter steht so am Grunde nicht nur der Naturalisierung des binären Geschlechtermodells sondern auch der Hierarchisierung und Ökonomisierung von Subjektivität und Emotionen im Kapitalismus. Dies bedeutet, folgt man Illouz, nicht etwa einen Rückzug ins Private, sondern im Gegenteil die öffentliche Inszenierung des privaten Selbst, an deren Grund sie die Familie sieht. Denn im Zusammenspiel mit der Psychoanalyse sei die kapitalistische Gesellschaft zu einem Raum geworden, in dem die Familie als ein »Narrativ des Selbst« konstituiert worden sei, »weil sie sowohl der Ursprung dieses Selbst als auch das war, wovon es befreit werden musste«.15 Auch bei Pollesch ist das Zuhause und die Familie ein Ort, an dem die Heteronormativität und der Warencharakter von Subjektivität und Gefühl in besonderer Weise ihre Wirkung entfalten, weil beides hier ›gewöhnlich unmarkiert‹ bleibt. »FICKEN IST KEIN NATÜRLICHES VERHÄLTNIS!«, heißt es in SEX,16 und auch Mutterschaft und Familie treten bei Pollesch nicht als ›natürliches Verhältnis‹ in Erscheinung. Er hinterfragt die Trennung von zu Hause und ökonomisch regulierter Außenwelt bereits in der Heidi Hoh-Trilogie: »Ich dachte, wir wollten zu dir nach Hause gehen. – Ja gut, aber das sind wir. Ich arbeite hier. Das ist mein Zuhause. – Es sieht aus wie eine Filiale von DaimlerChrysler.«17 Auch der Gegensatz von Hausfrau und arbeitender Frau wird in Frage gestellt: »T: Du bist eine Hausfrau und du arbeitest hier für die Mercedes Benz AG. C: Hausfrauenoutsourcing. N: Aber ich bin keine Hausfrau. T: Ja, gut. Aber dann bist du jetzt eine. Diese Hausfrau arbeitet für DaimlerChrysler. C: Ökonomische Bedingungen bestimmen das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem. N: Na und? ICH BIN KEINE HAUSFRAU.«18

In Insourcing das Zuhause wird der Privatraum als Raum der Natürlichkeit und Intimität in erster Linie dadurch hinterfragt, dass die Sprecherinnen ständig über die ›Produktion‹ von Zuhause reden: »N: Da ist dieses Produkt ›Zuhause‹, und das ist jetzt eben in diesem Hotel. T: Insourcing des Zuhause. C: Dieses Hotel produziert Zuhause […] 15 E. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 17. 16 R. Pollesch: Insourcing das Zuhause, S. 150. 17 R. Pollesch in P. Boudry/B. Kuster/R. Lorenz: Reproduktionskonten fälschen, S. 89. 18 Ebd., S. 95.

322 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: I NSZENIERUNGEN IN THEATER UND P ERFORMANCE C: Ja, gut, aber durch welche sozialen Praktiken soll hier eine Vorstellung von Zuhause produziert werden? Durch was denn? N: Ich hab ein persönliches Verhältnis zu dir, und deshalb ist das hier Zuhause. T: HALT’S MAUL!«19

All jene Dinge, die gewöhnlicher Weise als außerhalb der Ökonomie gedacht und mit dem Zuhause bzw. der Familie assoziiert werden, wie Intimität, Gefühle und ›persönliche Verhältnisse‹, werden hier als käufliches Produkt ausgestellt. Das Zuhause als ein Ort emotionaler Unmittelbarkeit und natürlicher Wärme gibt es bei Pollesch nicht, es ist immer produziert und daher Teil der ökonomischen und normativen Logik: »Die Produktion von Zuhause als einem Ort der Abgeschiedenheit, der Familie, der heterosexuellen Ordnung und der ethnischen Zugehörigkeit ist ein Mittel über das Normalisierung hergestellt wird.«20 Pollesch folgt hier, wie so oft, Michel Foucault, demzufolge die Familie gerade kein Ort gesellschaftlicher Abgeschiedenheit, sondern Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Normalisierungsprozesse ist. Ihre Funktion sei es nicht, Sexualität zu unterdrücken, im Gegenteil sei die Familie »der aktivste Brennpunkt der Sexualität«.21 In ihr werden nicht nur die Gefühlsbeziehungen intensiviert, sondern auch Sexualität produziert und dauerhaft verankert. Der Glauben an die Natürlichkeit der Beziehungen und Gefühle innerhalb der Familie verstärke dabei ihre Allianz mit der Macht. Pollesch macht diese Verbindung von Familie, gesellschaftlichen Normen und Machtstrukturen explizit; zugleich gilt die Familie bzw. das Zuhause in seinen Texten aber entgegen dieses theoretisch fundierten Wissens als ein Ort, an den man sich sehnt gerade als einer der ›Geborgenheit und Sicherheit‹ außerhalb der Ökonomie. Die Dekonstruktion des Zuhauses geschieht zum einen, wie beschrieben, auf textlicher, zum anderen auch auf darstellerischer Ebene, denn die Figuren bzw. Schauspielerinnen gehen gerade keine intimen Beziehungen zueinander ein. Christine Groß, Nina Kronjäger und Claudia Splitt sitzen in der Aufführung von Insourcing im Prater der Volksbühne getrennt voneinander auf drei Sitzgelegenheiten und berühren sich während der ganzen Aufführung kaum. Das Sprechen ist ein öffentliches, das sich nie nur an einen Dialogpartner richtet, sondern immer den ganzen Theaterraum miteinbezieht. Auch wird keine Einheit von Schauspielerin und Rolle erzeugt bzw. gar keine Rolle im Sinne einer personalen Einheit oder eines psychologischen Charakters geboten. Die Rede ist kein individueller Ausdruck einer Figur, sondern ähnelt einer Textlandschaft, die auf drei verschiedene Stimmen verteilt ist. Auch in den Stimmen selbst werden möglichst wenig individuelle Quali19 R. Pollesch: Insourcing das Zuhause, S. 43. 20 Ebd., S. 48. 21 M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 131.

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täten ausgebildet, Betonungsmuster und Intonation sind bei allen drei Schauspielerinnen weitgehend gleich. Sie sind zudem gleichwertig in Szene gesetzt, Hierarchisierungen wie im ›Zuhause‹ der bürgerlichen Familie oder im bürgerlichen Theater in Form der Einteilung in Haupt- und Nebenrollen gibt es nicht. Das Zuhause wird mithin nicht nur inhaltlich sondern auch auf der Ebene der Darstellung dekonstruiert. Die Denaturalisierung der bürgerlichen Familie auf Textebene geht bei Pollesch einher mit der Denaturalisierung der Darstellungskonventionen des bürgerlichen Theaters. Denn gerade die Unmittelbarkeit, die mit der Familie assoziiert wird, ist, wie dargelegt wurde, auch Ideal des bürgerlichen Theaters. Durch dessen Desillusionierung, durch die Offenlegung seiner künstlichkünstlerischen Mittel, stellt Pollesch auch die Familie als natürliche Einheit in Frage. Einerseits dekonstruiert Pollesch mithin Familie als herrschafts- und ökonomiefreien Raum, andererseits artikulieren seine Figuren aber immer wieder den Wunsch nach einer anderen Form des Lebens, das nicht von der Ökonomie und der Logik des Marktes reguliert ist, und zwar meist in Form eines Protestschreis: »NEIN!!!! ICH WILL NICHT!!!!« Ein solcher Aufschrei kann als subjektive Spontaneität gelesen werden, als Versuch, sich der Ökonomie der Repräsentation, der heterosexuellen Normierung und der ökonomischen Verfügbarkeit des Subjekts zu widersetzen. Dieser Wunsch nach einem anderen Leben artikuliert sich auch, gleichsam wider besseren Wissens, als Sehnsucht nach Familie und Zuhause: »ICH WILL IRGENDWO ZUHAUSE SEIN.«22 Am Ende von Insourcing schreien alle: »PRODUZIERE KEIN ZUHAUSE!« Dieser Schrei bleibt zweideutig: er ist sowohl lesbar als Protest gegen das bürgerliche Zuhause, das Heterosexualität und heteronormative Macht regelt, als auch als Protest gegen die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche, von Subjektivität und Emotion, für die das Zuhause auch steht: »Unter den Bedingungen von Liebe als einem unternehmerischen Gas KANN ICH EINFACH NICHT MEHR LEBEN! Oder sowas! Oder das WILL ICH NICHT! Ich will in diesem Hotel, in dem ich lebe, kein Zuhause produzieren!«23 Die Figuren René Polleschs können sich der ökonomischen/gesellschaftlichen/ heterosexuellen Ordnung nicht entziehen und sind unauflöslich in die Produktion von Identität als uneigentlicher ›verwickelt‹. Pollesch gelingt es aber, diese Verwicklung zu markieren, also sichtbar zu machen und damit kritisch zu hinterfragen: »Die Performativität beschreibt diese Beziehung des Verwickeltseins in das, dem man sich widersetzt, dieses Wenden der Macht gegen sie selbst, um alternative Modalitäten der Macht zu erzeugen und um eine Art der politischen Auseinandersetzung zu begründen, die nicht ›reine‹ Opposition ist, eine ›Transzendenz‹ derzeitiger Machtbeziehungen, sondern ein 22 R. Pollesch: Insourcing das Zuhause, S. 79. 23 Ebd., S. 80.

324 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: I NSZENIERUNGEN IN THEATER UND P ERFORMANCE schwieriges Abmühen beim Schmieden einer Zukunft aus Ressourcen, die unweigerlich unrein sind.«24

6.2 D IE D EKONSTRUKTION

DER

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Das Verhältnis von Familie und Ökonomie thematisiert Pollesch in vielen seiner Theaterarbeiten; Familie als natürliche Einheit wird dabei radikal dekonstruiert. So auch in Diktatorengattinnen von 2007, das mit der Rollenverteilung in der bürgerlichen Familie spielt, indem diese Rollen widersprüchlich montiert und vom anatomischen Körper der Schauspielerinnen und Schauspieler gelöst werden. In einem großbürgerlichen Saal sitzen zu Beginn drei Frauen (Christine Groß, Mira Partecke, Sophie Rois) an einem Tisch dem Publikum gegenüber, alle gleich gekleidet; sie stellen Elena Ceausescu und ihre Doppelgängerinnen dar, wobei unklar bleibt, wer Ceausescu und wer Doppelgängerin ist, und sie unvermittelt auch Texte von völlig anderen Rollen sprechen. Mit großen weißen Federn schreiben sie Briefe: »Bukarest 1837. Mutter. Die Familie stellt die Grundlagen der Gesellschaft in Frage. Sie ist die einzig mögliche Subversion gegen jede Form von Berechnung.« – »Bukarest 1842. Mutter. Die Auflösung der Familie liegt in der Logik der kapitalistischen Entwicklung. Deshalb stehen eigentlich nur wir noch Marx im Wege.« – »Mutter. Wie kommt es, dass wir immer noch an der Familie festhalten, die sich doch eigentlich gar nicht rechnet? Warum halte ich so sehr an der Familie fest?«25 Diese Themen werden im Laufe der Aufführung immer wieder aufgegriffen, die eingangs gesprochenen Sätze teilweise wörtlich wiederholt. Das Thema Familie wird dabei unvermittelt mit anderen verschnitten, sodass es nie erschöpfend erörtert und nicht der Eindruck einer abgeschlossenen thematischen Einheit erzeugt wird. Ebenso wie die Rollen wechseln auch die thesenhaft vorgetragenen Sätze zur Familie von Schauspielerin zu Schauspielerin, ohne dass eine Meinung an eine Figur geknüpft würde. Sowohl die Rollenwechsel als auch die Abkoppelung der Aussage vom Aussagenden führen zur Depersonalisierung; so wie es keine Einheit von Schauspielerin und Rolle gibt, gibt es auch keine personale Einheit, die durch Rede gestiftet würde. Gerade die familiäre Rolle der Mutter bzw. Tochter wird durch diese Technik verunsichert. Familie ist hier kein Garant für die Natürlichkeit und Kohärenz von Herkunft, Identität und zwischenmenschlicher Beziehung, sondern wird als diskursives Konstrukt ausgestellt. Diese Denaturalisierung lässt sich am Auftritt Volker Spenglers veranschaulichen: Nach einigen Wortwechseln von Rois, Partecke und Groß tritt er mit wuchti-

24 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 331. 25 Alle Zitate folgen der Aufführungsaufzeichnung der Volksbühne Berlin.

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gem Schritt in einer blauen Uniform auf und setzt sich ans Kopfende des Tisches, die Hände breit vor sich auf den Tisch gestützt. Sein Auftritt erzeugt durch Spenglers Gestalt, seine Bewegungen, die Uniform und seine Position am Kopfende den Eindruck, er sei der Patriarch bzw. Diktator höchstpersönlich. Dieser Eindruck wird sogleich gebrochen durch seine Stimme, mit der er quengelnd fordert: »Ich will eine Hauptrolle!« Auch im Folgenden stellt er keine väterliche oder überhaupt männliche Figur dar, sondern wird meist als »Tochter« angesprochen. Die Brechung der Erwartungshaltung und der üblichen familiären Rollenverteilung wirkt aufgrund des extremen Widerspruchs zwischen Volker Spengler und der Vorstellung einer Tochter äußerst komisch. Auch im weiteren Verlauf der Szene wird mit dieser Komik gespielt, Rollenzuschreibungen werden immer wieder gebrochen. Gerade die Beziehung zwischen Mutter und Kind, die als die natürlichste aller zwischenmenschlichen Beziehungen gilt, wird auf diese Weise verfremdet. Rois betont mehrmals, mit Fingerzeig auf Spengler, sie sei »gezwungen, das da zu lieben« und fragt, »ob sich das überhaupt rechnet, das Ding da in die Welt zu setzen«. Das als Inbegriff der Natürlichkeit und Garant einer heilen Familie und Individuation geltende Gefühl der Mutterliebe wird mit seinem vermeintlichen Gegenteil, mit Zwang und ökonomischem Kalkül, konfrontiert. Die Mutter, üblicherweise Repräsentantin der reinen Emotion und eines Außerhalb ökonomischer Logik, legt ökonomische Maßstäbe an ihr Kind an und ist zugleich, auf darstellerischer Ebene, als personale Einheit nicht zu greifen. Immer wieder wird auf diese Weise Familie als Teil der ökonomischen Logik reflektiert und als Einheit dekonstruiert. Sie wird aber auch als ein Widerstand gegen die allumfassende Logik des Marktes gedacht, als einziger Ort, an dem die Gesetze der Ökonomie nicht gelten: »Die Familie stellt die Grundlagen unserer Gesellschaft in Frage. Das da zu lieben ist die einzige Möglichkeit, unsere Realität zu erschüttern.« Pollesch bietet keine eindeutige Lösung, so sehr er die bürgerliche Familie als Ort außerhalb der Ökonomie desillusioniert, so sehr hält er doch auch an dem Ideal eines Ortes, der nicht dieser Logik gehorcht, fest. Dass dieses Festhalten die Gefahr der Affirmation festgefahrener oder gar reaktionärer Strukturen beinhaltet, macht einer der ersten Sätze von Sophie Rois deutlich: »Ich bin Traditionalistin«, sagt sie in der Rolle der Elena Ceausescu, »mir liegt etwas an der Familie. Sie ist das einzig Subversive.« Das Thema der Familie und der Mutter-Tochter-Beziehung wird verwoben unter anderem mit dem Thema des Schauspielens. Spengler als Tochter möchte Schauspielerin werden, er soll einer Jury etwas vorspielen, Rois als Mutter nimmt ihn beiseite und flüstert, er solle sich vorstellen, Erdbeeren auf einer Wiese zu pflücken, er möge doch Erdbeeren. Pollesch greift hier eine Übung für Schauspieler aus der Stanislawski-Tradition auf, die auch heute noch in der Schauspielausbildung üblich ist und für den Stil des psychologischen Realismus, für Einfühlung und Verkörperung steht. Die Frage der Darstellung wird so auf inhaltlicher und darstelleri-

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scher Ebene verhandelt, das Konzept der bürgerlichen Familie mit demjenigen der geschlossenen Repräsentation verknüpft. So wie die Familie in der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft als Hort der natürlichen Emotion und Echtheit verstanden wird, steht das bürgerliche Illusionstheater für das Vortäuschen einer solchen Echtheit, indem der Akt der Produktion verdeckt wird. Pollesch verfremdet die theatrale Darstellung, legt ihre Künstlichkeit offen und dekonstruiert den Kern des Illusionstheaters, die Figur als Verkörperung eines mit sich selbst identischen Individuums. Die Idee des Privaten als Raum der Familie, der Authentizität und des Nicht-Ökonomischen, die sich im Konzept der geschlossenen Repräsentation wiederfindet, hinterfragt Pollesch durch die Offenlegung der theatralen Mittel. Dies bedeutet auch, dass die Schauspielerinnen in Diktatorengattinnen ebenso wie in anderen Inszenierungen auch im Off gefilmt und die Aufnahmen live in den Theaterraum übertragen werden. Rois sagt in der Garderobe in die Kamera: »Jetzt wird man auch noch hier gefilmt, es gab doch mal ein Off, wenn man von der Bühne ging, es gab doch mal die Tradition eines Off!« So wie das Off als ein Ort des Privaten und der Unschuld, so werden Emotionen als natürliche Grundlage von Familie und Schauspiel hinterfragt: In der Übung für Schauspieler sollen sie produktiv gemacht werden, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen, in der Familie sollen sie der Logik der Produktion entgehen: »Was meinst du mit nicht produktiv, du bist doch meine Mutter!«, antwortet Spengler empört auf Rois' Bemerkung, man müsse eine Beziehung doch verlassen dürfen, wenn sie nicht produktiv sei. Rois daraufhin: »Ja mein Kind, du hast recht. Ich fall immer wieder darauf rein. Ich bin einfach erfüllt von der Mutterliebe. Ich kann nicht anders, ich muss das da einfach lieben.« Die historische Verfasstheit des Konzepts der Mutterliebe hat Elisabeth Badinter bereits 1981 analysiert;26 weiterhin aber herrscht in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ein weitgehender Konsens über die Naturbestimmtheit dieses Gefühls vor. Pollesch spielt immer wieder mit dieser vermeintlichen Sicherheit einer natürlichen Mutterliebe und greift dabei auch zeitgenössische Debatten über Mutterschaft und Familie auf. Er arbeitet in erster Linie mit der Gegenüberstellung von unausgesprochen vorausgesetzter Mutterliebe einerseits und ökonomischem Kalkül andererseits: »Wenn sie wenigstens mit sechs in irgendwelchen Turnschuhfabriken arbeiten würden, dann wüsste man wenigstens, dass sich das rechnet, das da in die Welt zu setzen«, sagt Sophie Rois mit Blick auf Volker Spengler; und er sagt an anderer Stelle: »Ich liebe dich wie eine Tochter ihre Mutter liebt und mehr ist da einfach nicht drin.« Die Untrennbarkeit von Gefühl, Ökonomie und Norm wird auf

26 E. Badinter: Die Mutterliebe. Vgl. Kap. II.1.3 der vorliegenden Arbeit.

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diese Weise explizit gemacht, Gefühl als wahrhaft Authentisches und Einzigartiges in Frage gestellt.27 Pollesch greift das Thema der Familie in vielen seiner Theatertexte auf, einzelne markante Sätze kommen in verschiedenen Stücken vor, wie beispielsweise die Frage nach der Produktivität von Familie: »C: Das Ende der Familie ist doch eine humane Tendenz. Ich muss doch eine Beziehung verlassen können, wenn sie nicht produktiv ist. So was kann sich eine liberale Marktwirtschaft nicht leisten, dass Beziehungen nicht produktiv sind. B: Was meinst du denn mit ›nicht produktiv‹? Du bist meine Mutter. C: Er hat recht. Ich kann nichts dagegen tun, ich bin erfüllt von dem Dreck. Und von der Mutterliebe und dem Mist. […]«28

In dieser Szene aus Liebe ist kälter als das Kapital (Stuttgart 2007) wird der Text der Mutter von einem männlichen Schauspieler gesprochen (Christian Brey), der laut Personenverzeichnis Max von Sydow spielt.29 Die Ablösung der Mutterrolle von dem anatomischen Körper einer Frau denaturalisiert Mütterlichkeit und hinterfragt Familie als gegebene Entität. Die Verwirrung der (Geschlechts-) Identitäten durch gebrochene und nicht geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen ist typisch für Polleschs Theaterästhetik, wirkt im Fall der Figur der Mutter aber besonders irritierend, da die Natürlichkeit der Mutter in der abendländischen Kultur in besonderer Weise vorausgesetzt wird. Interessanter Weise tauchen bei Pollesch, wenn es um Fragen der Familie geht, fast ausschließlich Mutterfiguren auf, keine Väter. Und diejenigen Vaterfiguren, die auftreten, werden nicht nur demontiert sondern zum Verschwinden oder Verstummen gebracht, etwa wenn Spengler in Diktatorengattinnen zwar als Patriarch aufzutreten scheint, aber die Tochter spielt, oder wenn er in L’Affaire Martin zwar die ganze Zeit als Vater im Zentrum der Familie sitzt, aber nichts zu sagen hat. Grundsätzlich widersetzt sich die demokratische und geschlechtsunspezifische Textverteilung bei Pollesch der Geschlechterhierarchie des abendländischen Theaters.30 Speziell die Vaterlosigkeit ist als deutlicher Widerstand gegen die Logik der patriarcha27 Auch Illouz geht von einer solchen Untrennbarkeit von Ökonomie und Emotion aus; der Markt forme »zwischenmenschliche und emotionale Beziehungen« und diese »zwischenmenschlichen Beziehungen [stehen] im Zentrum der ökonomischen«; E. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus, S. 13-14. 28 R. Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 182. 29 Der Titel des Stücks bezieht sich auf Fassbinders Film Liebe ist kälter als der Tod (1969), in dem es u.a. um das Verhältnis von Liebe und Geld geht. 30 Pollesch kritisiert diese Geschlechterhierarchie immer wieder; vgl. R. Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 349.

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lischen Familie, aber auch gegen die Tradition des bürgerlichen Dramas, das fast ausschließlich Vaterfiguren kennt und Mütter weitgehend ausschließt, zu sehen. In der oben angeführten Szene von Liebe ist kälter als das Kapital fährt C fort: »Ich muss heutige Radikalität doch irgendwo lokalisieren können. Warum nicht an der gefallenen Grenze zwischen Familie und Markt? Wie inhuman ist das denn: Das Festhalten an diesem Familienbegriff, mit dem nichts zu bearbeiten ist?«31 Hier wird wiederum die Ambivalenz der Auflösung des klassischen Familienmodells deutlich: Einerseits eröffnet sie die Möglichkeit, mit dem Familienbegriff zu ›arbeiten‹, ihn also in Bewegung zu versetzen und sowohl ihn selbst als auch mit ihm Lebensbedingungen, Normen, Begriffe zu ›bearbeiten‹. Andererseits kann diese Auflösung auch die Rationalisierung und Ökonomisierung von Familie bedeuten, also die Auflösung einer letzten Bastion nicht der kapitalistischen Marktlogik unterworfener Identitäten, Beziehungen und Gefühle.

6.3 D ER W UNSCH

NACH

U NMITTELBARKEIT

In einem weiteren Stück beschäftigt sich Pollesch ausführlich mit der Familie, auch hier geht es um das Verhältnis von Ökonomie und Gefühl: Die Welt zu Gast bei reichen Eltern, uraufgeführt am Thalia Theater Hamburg, ebenfalls im Jahr 2007.32 Die drei Darstellerinnen und zwei Darsteller diskutieren über die Funktion von Familie und speziell der Mutter in einer durchökonomisierten Welt, auch hier steht das Verhältnis einer Mutter und ihrer Tochter im Mittelpunkt: »– Mutter, neulich als wir gemeinsam auf der Bühne standen, da hast du mich total an die Wand geklatscht. Ich hatte ein hässliches graues Kleid an und du bist mit einem Flick Flack über die Bühne geturnt, in einem schicken Abendkleid, das macht man doch nicht! –

Aber ich muss doch die, die ich liebe, auch als Konkurrenten ernst nehmen können.



Das kannst du nicht machen!



Das kommt in jedem Bergmann-Film vor. Du glaubst, die Grundlage unserer gemeinsamen Geschichte ist Psychologie, aber es ist natürlich der Wettbewerb.



Ja, aber nicht jeder ist darauf eingestellt, nach den Regeln des Marktes behandelt zu wer-



Also gut, entschuldige, das nächste Mal klatsche ich dich aus psychologischen Gründen

den, und schon gar nicht hier zu Hause! an die Wand, wenn dir das besser gefällt.«33

31 Ebd., S. 182-183. 32 Mit: Anna Blomeier, Judith Hofmann, Felix Knopp, Jörg Pose, Katrin Wichmann. 33 Die Zitate folgen der Aufzeichnung der Aufführung, Thalia-Theater Hamburg 2007.

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Dieser erste Dialog der Aufführung wird von einem männlichen Schauspieler und einer Schauspielerin gesprochen; die Schauspielerin identifiziert man daraufhin als Mutter, den Mann als Sohn. Die Rollenzuschreibung des Sohnes wird durch seine Aussage, er habe ein Kleid angehabt, irritiert, und in der Folge wird das Irritationsmoment dadurch verstärkt, dass er von den anderen als Tochter bezeichnet wird. Im weiteren Verlauf der Aufführung wird deutlich: die Texte zirkulieren auch hier figurenunabhängig zwischen den Sprechern, es gibt keine Einheit von Schauspieler und Rolle, sodass die Rollen nicht an einen anatomischen Körper gebunden sind. Pollesch verfremdet durch diese geschlechtsunabhängige Textverteilung nicht nur die Darstellung und verhindert die Identifikation, sondern hinterfragt auch die Rollenverteilung innerhalb der Familie. Folgerichtig sagt eine Schauspielerin zu Beginn: »Demokratie haben wir erst, wenn in jeder Familie abgestimmt wird, wer hier die Mutter ist.« Mutterschaft wird von ihrer biologischen Bestimmung gelöst und als performativer Effekt einer politischen Praxis gedacht, also sowohl als ein Prozessuales, nicht Fixiertes, als auch als ein Historisches, nicht Natürliches. Die Idee der demokratischen Abstimmung betont dabei die gleichberechtigte, aktive Teilhabe aller an diesem Prozess. Die Mutter ist hier nicht länger eine Figur der Naturalisierung des binären Geschlechtermodells, sondern Effekt einer Praxis, die gerade nicht auf festgeschriebenen Rollen, binären Kategorien und eindeutigen Hierarchien beruht. Wenn Familie Teil der ökonomischen und gesellschaftlichen Ordnung ist, sind auch die Rollen in ihr nicht naturgegeben sondern Produkte dieser Ordnung. Gleichzeitig artikuliert Pollesch auch hier den Wunsch nach einem Außerhalb der kapitalistischen Logik, ein Außerhalb, das gewöhnlich mit der Familie gleichgesetzt wird: »Eine Familie ist das Gegenteil von Mord und Todschlag, es ist Sicherheit und Geborgenheit, das ist besser als die Kälte von Freiheit und Einsamkeit.« Mehrmals wird von den Eltern als einziger Sicherheit gesprochen, als eine unverrückbare Tatsache, die sich, anders als alles Gesellschaftliche, niemals auflösen wird. Die biologische Elternschaft wird auf diese Weise der kapitalistischen Gesellschaft entgegen gestellt: »Wenn ich nicht mehr weiter weiß, dann geh ich zu meinen Eltern, die Karriere hat nicht ganz so funktioniert, und da sind dann meine Eltern als letzte Ressource, die lieben mich, die können mich nicht einfach ausschließen, wie der Markt.« Gleichzeitig durchdringt die Sprache der Ökonomie auch die familiären Beziehungen, wenn Eltern als Ressource bezeichnet werden und nach den Kosten und Nutzen der Kinder gefragt wird. Auch hier ist es die Mutter, die die Rechnung aufmacht: »– Ich will, dass mein Kind sich rechnet, dass es schön ist und gut unterwegs ist in der Welt und später mal gefragt ist. Ja, gut, ich bin deine Mutter, und wir bewegen uns hier zu Hause auf einer außerökonomischen Matrix, aber trotzdem sollte ab und zu überprüft

330 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: I NSZENIERUNGEN IN THEATER UND P ERFORMANCE werden, ob wir es hier zu Hause auch mit Körpern zu tun haben, die auch außerhalb dieser Familiensituation stehen. – –

Wie meinst du das, stehen, du bist meine Mutter, du musst nicht auf mich stehen. Ich weiß doch auch nicht, woher mein automatisches Interesse an dir kommt, mein Kind. Die einen nennen es Natur, die anderen nennen es Liebe, aber ich werde mich doch fragen dürfen, ob du nach objektiven Kriterien gut genug aussiehst.



Ja, aber hier zu Hause muss ich nicht gut aussehen.«

Der Wunsch, der sich an die Mutter richtet, ist der nach bedingungsloser Liebe, nach Unmittelbarkeit und mütterlichen Funktionen wie Wärme, Fürsorge und Geborgenheit, die von der Mutter aber verweigert werden: »– Ich brauch doch etwas, auf das ich mich direkt beziehen kann, wir können uns normalerweise nur indirekt auf etwas beziehen, über den Markt. –

Ja, aber das bin nicht ich.



Aber du bist meine Mutter und alles andere ist so kalt.



Ja, und jetzt bin ich eben auch kalt. Dann kauf dir doch Wärme, das kann doch nicht so schwer sein!



Mutter, du musst für mich sorgen!«

Immer wieder hinterfragt die Figur der Mutter die scheinbare Natürlichkeit der Mutterliebe und die Annahme, diese stände außerhalb der gesellschaftlichen Logik, teilweise mit denselben Formulierungen wie in anderen Stücktexten Polleschs: »– Man muss doch eine Beziehung verlassen können, wenn sie nicht produktiv ist. – –

Was meinst du mit nicht produktiv, du bist meine Mutter! Ich bin gezwungen, das da zu lieben. Ich bin erfüllt von der Mutterliebe und dem Mist, ich kann da nichts dagegen tun. Da gibt es keine Form von Selbstwiderstand, ich liebe das einfach, das da. Sich nicht fragen zu dürfen, ob sich das überhaupt rechnet, was man da in die Welt setzt.«

Die Phantasie der bedingungslosen Mutterliebe sei eine Erzählung, die produziert werde, um einen Ausweg aus dem kalten Kapitalismus vorzugaukeln, heißt es an , anderer Stelle. Auch hierin kann eine Anleihe an Eva Illouz Theorie gesehen werden, der zufolge die wärmestiftende Funktion der Liebe bzw. der Familie eine zentrale Illusion der bürgerlichen Gesellschaft ist, die der Kälte des zweckrationalen Kapitalismus entgegengesetzt und zugleich der ökonomischen Logik unterworfen 34 wird. Dementsprechend wird bei Pollesch auch die Liebe der Tochter ihren Eltern gegenüber hinterfragt; sie sei eine »unnatürliche Tochter«, denn sie habe ihren 34 Vgl. E. Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus und dies.: Warum Liebe weh tut.

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Eltern eine Rechnung vorgelegt, in der sie sowohl die Kosten, die sie ihren Eltern verursacht, als auch den Wert ihrer Arbeitskraft, die sie über die Jahre der Familie zur Verfügung gestellt hat, auf Euro und Cent darlegt.35 Der Ruf nach der Mutter bedeutet die Phantasie der Unmittelbarkeit, eine Phantasie, die auch die Diskurse über Familie und Mutterschaft ab dem 18. Jahrhundert prägt. Die Vorstellung der Unmittelbarkeit, die mit dem Privatraum und den familiären Bindungen, zumal mit der Mutterliebe, assoziiert wird, tritt in den Schriften zum bürgerlichen Theater als Wunsch nach einer unverstellten Darstellungsweise auf, einer Darstellungsweise, die natürlich wirkt. Polleschs Theater reflektiert nicht nur den Wunsch nach Unmittelbarkeit als individuelles oder gesellschaftliches Phänomen, sondern auch als theatrales Darstellungsproblem. »Wir müssen hier nicht produktiv sein, wir sind hier zu Hause, also im Theater, zu Hause, außerhalb der Ökonomie«, wird im Verlauf der Aufführung mehrmals wiederholt. Pollesch greift die Phantasie des bürgerlichen Theaters auf, die schon Lessing benannte: Das Theater solle wie ein Familienbild sein, in dem man sich gleich zu Hause fühle, ein Theater also, das, ähnlich wie die Familie, unmittelbar wirkt und seine eigene Gemachtheit verbirgt. Dieses Ideal der Unmittelbarkeit wird auf darstellerischer Ebene konterkariert durch die verfremdende Spielweise und die Dekonstruktion der Figur. Pollesch hinterfragt im Aufführungstext die Logik der Repräsentation, untergräbt das Ideal des Unmittelbaren und stellt die Performativität von Identität aus. Die Normalisierungsprozesse, die das Theater ebenso wie die bürgerliche Gesellschaft prägen, werden klar benannt; so ist beispielsweise von der »unmarkierten Erzählerposition« die Rede, die so tue, als spreche sie für alle, aber eine »weiße Hete« sei, die ihre eigene Erfahrung zur universellen erkläre. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sitzen in Die Welt zu Gast bei reichen Eltern während ihrer Gespräche auf den Möbeln einer Einbauküche, die im vorderen Bühnenbereich aufgebaut ist. Das Setting verortet sie in demjenigen Raum des Zuhauses, der am eindeutigsten mit der Figur der Hausfrau und Mutter assoziiert wird und für ihren Einschluss ins private Heim steht. Die Assoziation der Kleinfamilie mit ihren klar geschiedenen Geschlechterrollen wird durch Kostüme, Frisuren und Accessoires, die den Stil der 1950er Jahre zitieren, unterstützt. Herd und Spüle werden allerdings nicht für die Hausarbeit, sondern als Sitzmöbel verwendet; in den wortlosen Clips werden scheinbar grundlos Schranktüren geöffnet und geschlossen. Die Küche wird so aus ihrem Funktionszusammenhang gelöst und als Zitat für die 35 Pollesch übernimmt das Motiv der »unnatürlichen Tochter«, die ihren Eltern eine detaillierte Kosten-Nutzen Rechnung vorlegt, dem Roman What Diantha did von Charlotte Perkins Gilman (1909), die um 1900 u.a. die Institution der »natürlichen Mutterschaft« kritisierte und sich für die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen einsetzte. Auszüge abgedruckt in P. Boudry/B. Kuster/R. Lorenz: Reproduktionskonten, S. 98-105.

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bürgerliche Familie und die mit ihr einhergehende Geschlechterordnung ausgestellt. Das auf den ersten Blick realistische Setting hebt die Verfremdung der Darstellung hervor. Anders als es vermuten lässt, wird hier keine Familiengeschichte erzählt, sondern Familie in ihre Bestandteile aufgelöst, seziert und neu verhandelt. Wie in allen Arbeiten Polleschs erfolgt eine Unterbrechung des Erzählkontinuums nicht nur durch die Clips, sondern auch zwischen Text und Darstellung, denn die Performerinnen und Performer sitzen fast während der gesamten Aufführung auf den Küchenmöbeln und sprechen die Texte, ohne sie mimisch oder gestisch zu illustrieren. Familie wird sprachlich verhandelt, aber nicht verkörpert. Der Abstand zwischen Körper und Sprache bedeutet eine Unterbrechung sowohl des verhandelten Familienmodells als auch des »Repräsentationstheaters«, wie es bei Pollesch heißt, also der abbildenden Verkörperung. Pollesch denaturalisiert in Die Welt zu Gast bei reichen Eltern die Kleinfamilie, die sich als Gegenwelt zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit konstituiert hat. Er hinterfragt sowohl auf inhaltlicher als auch auf darstellerischer Ebene die Natürlichkeit der Mutterrolle und der Mutterliebe. Die geschlechtsunabhängige Textverteilung dekonstruiert die Kohärenz zwischen anatomischem Körper und familiärer Rolle und stellt die Natürlichkeit der familiären Beziehungen in Frage. Familie wird so nicht nur als Phantasie des Außerökonomischen dekuvriert, sondern auch als natürliche Gemeinschaft aufgelöst. An die Stelle der Familie als einer geschlossenen Einheit mit klar verteilten Rollen tritt das Kollektiv der Schauspielerinnen und Schauspieler, die ohne fixierte Identitäten gemeinsam agieren und sich auf diese Weise von der Tradition sowohl der Familie als auch des bürgerlichen Theaters absetzen.

6.4 F AMILIE

UND DIE

A NDEREN : L’A FFAIRE M ARTIN ETC .

L’Affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le Mariage de Spengler. Christine est en avance zeigt die altschlesische Adelsfamilie »derer von Donnersmarck« im Ambiente eines Salons mit gemauertem Kamin, Chaiselongue, gepolsterten Sesseln und zierlichem Beistelltisch (Berlin 2006). Florian von Donnersmarck, gespielt von Sophie Rois, und Erika Steinbach, gespielt von Caroline Peters, suchen nach »dem Leben der Anderen« als Stoff für einen Film: »Das Leben der Anderen – was könnte das sein?« ist ein wiederkehrender Satz der Aufführung. Als Schlesier würden sie selbst als Andere konstituiert, deshalb könnten sie nicht über sich sprechen, und müssten einen Film über das Leben der Anderen machen, um über sich sprechen zu können. Pollesch bezieht sich nicht nur auf den Film Das Leben der Anderen von Florian von Donnersmarck, sondern greift auch den Diskurs der postcolonial studies hinsichtlich der Konstitution des Selbst durch die Konst-

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ruktion des Anderen auf, und führt die nationalistisch geprägte Politik deutscher Vertriebenenverbände ad absurdum, in der Familien wie »derer von Donnersmarck« sich als Opfer stilisieren. Gleichzeitig zeichnet er ein Familienbild. Die Verwandtschaftsverhältnisse sind dabei nicht eindeutig, so wird Caroline Peters teilweise als Erika Steinbach, teilweise als Schwester von Sophie Rois angesprochen, diese wiederum als Florian von Donnersmarck, aber auch als »Mutti« oder »Mama«. Volker Spengler sitzt fast während der gesamten Aufführung auf einem Sessel in der Bühnenmitte, vor dem Kamin, und nimmt so die klassische Pose des großbürgerlichen Patriarchen ein. Er wird von den anderen durchgängig als Vater oder »Papa« angesprochen; sie bewegen sich um ihn herum, er nimmt räumlich eine zentrale Position ein, bleibt aber stumm oder gibt unpassende Bemerkungen von sich. Etwa in der Mitte der Aufführung gruppieren sich die Darstellerinnen und Darsteller zu einem Familienbild. Eingeleitet wird diese Szene mit den Worten: »Papa sieht die Donnersmarck-Hütte in einem Nebel vor sich. Lasst uns zu einem Moment des stillen Gedenkens zusammen kommen.« 36 Abbildung 42: »L’Affaire Martin etc.«, Volksbühne Berlin 2006

Quelle: Videostill aus der Aufzeichnung, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin

36 Die Zitate erfolgen nach der Aufzeichnung der Aufführung, Volksbühne Berlin 2006.

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Rois und Peters von links, Martin Wuttke und Christine Groß von rechts kommend versammeln sich um Spengler; Wuttke, Rois und Peters hinter ihm stehend, Groß als Tochter rechts neben ihm auf ihren Knien sitzend. Sie stellen ein typisches Familienbild nach, mit dem Familienvater in der Mitte, um den sich die anderen Familienmitglieder gruppieren, Zugehörigkeit durch leichte Berührungen wie eine Hand auf seiner Schulter signalisierend (Abb. 42). Es ist ein Familienporträt alter Tradition, in dem keine emotionalen Bande dargestellt werden, sondern die Familie auf formale Weise Zusammengehörigkeit repräsentiert. Sie wird dabei einerseits als Einheit dargestellt, andererseits wird durch das Posieren und den Blick aus dem Bildrahmen bzw. Portal heraus offen auf den Repräsentationscharakter hingewiesen. Das Tableau wird eine Weile gehalten, dann von Martin Wuttke aufgebrochen, während die anderen weiter statuarisch verharren. Wuttke sagt gestikulierend, er sehe zwar aus wie der Ehegatte, es mache zwar den Anschein, als würde er dazu gehören, das stimme aber nicht, er sei immer der Andere. Er wisse selbst nicht, ob er ihr »Schoßhündchen« oder ihr Geliebter sei, er sei aber auf alle Fälle immer der Andere. Allmählich werden die anderen Familienmitglieder unruhig, Wuttke stört offensichtlich das Familienbild bzw. das ›stille Gedenken‹ der Familiengeschichte. Er spricht weiter, immer stärker gestikulierend: »Ich will aber was anderes sein und nicht der Andere«. Rois rückt daraufhin etwas von ihm ab und wendet sich Peters zu, sodass Wuttke nun tatsächlich leicht distanziert von der Gruppe steht. Er fährt fort: »Das ist alles so verwirrend, man kann sich an nichts mehr festhalten. Man kann an der Länge eines Stammbaums nicht mehr feststellen, ob es sich um einen Hund oder einen Menschen handelt. Das einzige, was wir wissen, ist, wenn irgendjemand eine Kanne in der Hand hält, handelt es sich wahrscheinlich um Tante Susanne und wenn Papa durch die Tür kommt ist er automatisch heterosexuell.«

Er spricht hier einerseits von der Auflösung tradierter Familiennormen, andererseits von solchen Normen, die ungeachtet aller gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen weiterhin Gültigkeit beanspruchen, wie die Heteronormativität der bürgerlichen Familie. Rois dreht sich jetzt zu Wuttke um und spricht ihn als Praktikantin am Filmset an: »Bringen Sie mir jetzt meinen Kaffee und hören Sie auf, Benno Fürmann zu erzählen, wie glücklich Sie als Kind gewesen sind! Sie sind meine Praktikantin!« Innerhalb kurzer Zeit wird so Familie als genealogischer Zusammenschluss mit traditioneller Rollenaufteilung hergestellt und wieder aufgelöst. Die Konstitution von Familie als Repräsentationsmodell wird vor Augen geführt und Familien- und Arbeitsverhältnisse bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verwoben. So wechselt auch Sophie Rois im nächsten Satz wieder Rolle und Kontext, wenn sie, unmit-

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telbar nachdem sie Wuttke mit tiefer, autoritärer Stimme als Praktikantin gemaßregelt hat, Christine Groß mit sanfter Stimme auffordert: »Mein Liebling, magst du uns vielleicht etwas vorspielen?« Auch hier werden familiäre Rollen mithin als diskursive Konstrukte ausgestellt. Auch die Familie ist, wie die Arbeitswelt, von Machtverhältnissen und ökonomischer Logik durchdrungen, so wie umgekehrt in der spätkapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft das Persönliche und Familiäre für ökonomische Zwecke funktionalisiert wird. Zudem aber greift Pollesch noch ein weiteres Thema auf, nämlich dasjenige der Familie als einer Gemeinschaft, die sich über den Ausschluss des ihr Anderen konstituiert. Während das schlesische Adelsgeschlecht sich ständig darüber beklagt, sie seien als Schlesier ›die Anderen‹, wird in der Szene des Familienbildes die Figur Wuttkes als Ehegatte/Schoßhund/Geliebter/Praktikantin zu einem ›Anderen‹. Zugehörigkeit, Macht- und Rollenverteilung funktionieren dabei wie auf dem freien Markt: Man muss seine Rolle erfüllen, sonst wird man ausgeschlossen, und eine familiäre Rolle unterscheidet sich nicht grundlegend von einer sozialen oder öffentlichen Rolle. So formuliert Wuttke: »Wir können doch nicht immer nur spielen! Spielen ist Gift für mich! Wir können doch nicht immer so tun als ob!«, um in nächsten Moment wieder die väterliche Rolle innerhalb der Illusion »Familie« einzunehmen, die die Bitte der Mutter an ihre Tochter unterstützt: »Ja, mach deiner Mutter doch die Freude, spiel uns etwas vor!« Familie und Politik sind bei Pollesch eng verzahnt; wie bereits in Dikatotorengattinnen, so hat Familie auch in L'Affaire Martin nicht nur eine private, zwischenmenschliche, sondern auch eine politische Funktion; die Familienmitglieder sind nicht so sehr Privatpersonen als Figuren politischer Zusammenhänge. Familie definiert sich als Gemeinschaft über den Umgang mit dem ihr Anderen. Indem die Familie ›derer von Donnersmarck‹ sich selbst als Andere stilisiert, grenzt sie sich von der Gesellschaft ab und konstituiert sich als schlesisches Adelsgeschlecht. Diese Selbstrepräsentation als Andere ist eine Täuschung, ähnlich wie eine realistische Ästhetik wie diejenige des Films Das Leben der Anderen eine Täuschung ist, die ihre Gemachtheit und die Distanz zu ›den Anderen‹ verbirgt. Die Anderen werden im Rahmen einer illusionistischen Ästhetik aus der eigenen Perspektive betrachtet, ohne diese Perspektive zu reflektieren. Pollesch legt diese Täuschung durch seine verfremdende Theatersprache bloß und hinterfragt sowohl das Selbstbild der Familie von Donnersmarck als auch grundsätzlich die bürgerliche Familie als Gemeinschaft, die auf dem Ausschluss des ihr Anderen beruht und sich selbst als Norm setzt. Und er kritisiert ganz grundlegend eine illusionistische Ästhetik, sei sie filmisch oder theatral, die die Fremdheit des Dargestellten vertuscht und die eigene Erzählposition verschleiert.

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6.5 D IE G RUPPE

DER

P ERFORMER

ALS

C HOSEN F AMILY

»Wie inhuman ist das denn: Das Festhalten an diesem Familienbegriff, mit dem nichts zu bearbeiten ist?«, fragt C in Liebe ist kälter als das Kapital.37 Tatsächlich aber bearbeiten Pollesch und die Schauspielerinnen und Schauspieler seiner Stücke ständig den Begriff der Familie und mit ihm auch andere Begriffe wie Geschlechtsidentität und Heteronormativität. Indem sie Familie ins Spiel bringen, sie aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und immer wieder aufs Neue aushandeln, die traditionelle Rollenverteilung auflösen, Beziehungen dehierarchisieren und familiäre Identitäten von den anatomischen Körpern lösen, versetzen sie den Begriff der Familie in Bewegung. Gerade diese Bewegung ist es, die das Konzept der bürgerlichen Familie stört, denn es basiert auf der Fixierung von Rollen, (Geschlechts-) Identitäten und Beziehungen. Die Bearbeitung des Familienbegriffs öffnet ihn auf Kritik und auf das ihm Andere: auf heterogene Identitäten, Beziehungen und Begehrensstrukturen. Grundsätzlich ist bei Pollesch die Abwesenheit heterosexueller Paarbeziehungen auffallend. In keinem seiner Theatertexte kommen heterosexuelle Paare vor und auch auf der Bühne vermeidet er ein Zusammentreffen von Schauspielerin und Schauspieler als Frau und Mann. Pollesch verweigert sich damit der »anhaltenden emotionalen Besetzung des heterosexuellen Paares per se« in der westlichen Kultur.38 Nur für kurze Momente werden Paare angedeutet oder sie werden im Text thematisiert, ohne auf der Bühne dargestellt zu werden. Indem er Heterosexualität und Familie im Text diskutiert, aber nicht zur szenischen Darstellung im Sinne einer Abbildung oder Verkörperung kommen lässt, werden sie als Problem verhandelt, ohne reproduziert und affirmiert zu werden. Der Bruch zwischen demjenigen, was inhaltlich bearbeitet wird, und demjenigen, was szenisch konkretisiert wird, verfremdet nicht nur die Darstellung sondern hinterfragt die üblichen Ordnungen, in denen wir zwischenmenschliche Beziehung denken. Auffallend sind stattdessen die Gruppenkonstellationen, häufig drei Frauen (Heidi Hoh, Insourcing, Sex, Tod eines Praktikanten, Diktatorengattinnen), oder Chöre, die das psychologisch motivierte Individuum endgültig verabschieden (Mädchen in Uniform, 2008, Ein Chor irrt sich gewaltig, 2009, Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen, 2010), oder aber, wie in Kill your Darlings! Streets of Berladelphia (2012), dem Einzelnen ein flexibles Netzwerk aus Vielen gegenüberstellen. Auch sprachlich arbeitet Pollesch der Idee der Paarbeziehung entgegen und betont die Gruppe der miteinander Agierenden; Dialoge zwischen zwei Figuren kommen nicht vor. Stattdessen sprechen die Darsteller in Form der oben beschriebenen, nicht personenspezifischen 37 R. Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 183. 38 J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 173.

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Textverteilung oder, in den Chor-Arbeiten, chorisch. Auch szenisch werden keine herkömmlichen, geschlechtsspezifischen Beziehungen konstituiert, da das Geschehen keiner heterosexuellen Logik folgt. So liegen beispielsweise in Sozialistische Schauspieler… alle gemeinsam in einem Bett, oder Sophie Rois tritt in Ein Chor irrt sich gewaltig einem ganzen Chor junger Frauen als Liebhaber gegenüber. Pollesch und seine Darstellerinnen und Darsteller unterminieren auf diese Weise Heterosexualität als Wahrnehmungs- und Denkmuster, entgrenzen das Feld der zwischenmenschlichen Beziehungen und vervielfältigen die Möglichkeiten sexuellen Begehrens. Dass man trotz der nicht weiter definierten Gruppenkonstellationen in vielen Aufführungen ›Familie‹ assoziiert, liegt nicht nur an wiederkehrenden inhaltlichen Verweisen auf die Kleinfamilie, sondern auch an der Ausstattung, die häufig an kulissenhafte Settings von Familienserien im Fernsehen erinnern. So sitzen etwa in Stadt als Beute die vier Schauspieler auf Ledersofas und werfen sich ihre Texte um die Ohren, Setting und Stimmklang erinnern unwillkürlich an Sitcoms der 1990er Jahre, in denen das Sofa unverzichtbares Zentrum des Familienlebens ist. Die typische Serienfamilie dieser Zeit mit Vater, Mutter, Sohn und Tochter tritt freilich nicht auf, sondern eine Gruppe etwa Gleichaltriger, die weit mehr an die chosen families jüngerer TV-Serien wie Friends oder How I met your Mother erinnern, die Jes Battis zufolge »variations, or queerings of the normative family” darstellen.39 Im Unterschied zu solchen Fernseh-Familien auch der neueren Generation geht es bei Pollesch nicht um Paarverwicklungen innerhalb der Freundesgruppe; und auch nicht-heterosexuelle Paare bilden sich höchstens für Momente, nicht als kontinuierliche Form der Zusammengehörigkeit. Liebe und zwischenmenschliche Beziehung werden nicht als Narration einer Liebesgeschichte erzählt, sondern in Form von Texten diskutiert, die zwischen den Schauspielern zirkulieren und die Problematik diskursiv verhandeln. Die Stimmen stellen eine Textlandschaft her, nicht eine personale Identität oder persönliche Geschichte. Immer ist der Text weitgehend demokratisch verteilt, sodass das Ensemble als eine Gruppe, bestehend aus Gleichberechtigen, in Erscheinung tritt. Der Einzelne definiert sich nicht über eine Abgrenzung von den anderen, sondern kommt als Teil der Gruppe zum Tragen. Das Zirkulieren der Texte verhindert dabei auch geschlechtsspezifische Zuschreibungen, wie sie klassische Theatertexte prägen. Der Ensemblegedanke ist wesentlich, denn er verhindert, dass Einzelne als Protagonisten oder unverwechselbare Individuen hervortreten und sich dadurch Hierarchien herausbilden. Das Ensemble ist bei Pollesch nicht dazu da, den Protagonisten zu stützen, sondern die Gruppe ist selbst der Protagonist. Insofern ist der Chorgedanke in Polleschs Arbeiten immer schon präsent, nicht erst, wenn er ab 2009 tatsächlich unisono-sprechende Chöre inszeniert. So sitzen etwa in Tod eines Praktikanten (2007) die drei Darstellerinnen in ausladen39 J. Battis: Blood Relations, S. 13. Vgl. Kap. III.4.

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den Brautkleidern auf der Bühne und tauschen Texte aus. Sie blicken sich dabei an, illustrieren aber keine Individualität im Sinne eines psychologischen Charakters; die Texte zirkulieren zwischen ihnen, ohne eine personale Identität zu konstituieren. Sie nehmen nicht nur Stichwörter von der jeweiligen Vorrednerin ab, sondern auch Tonfall, Akzentuierung und Intonation. Die Individualität der einzelnen Stimme wird so auf ein Minimum reduziert, die diskutierten Themen werden nicht als das Problem Einzelner, sondern als ein gesellschaftliches Problem, das alle betrifft, verhandelt. Subjektivität erscheint als performativer Akt, der an institutionelle Ordnungen gebunden ist, die der Einzelne nicht im Griff hat. Inga Busch, Christine Groß und Nina Kronjäger entwickeln in Tod eines Praktikanten trotz der entpsychologisierenden Spielweise im Laufe der Aufführung eine Beziehung zueinander, die allerdings nichts mit üblichen Erzählungen über Paarbeziehungen zu tun hat (wie etwa eine Dreiecksgeschichte), sondern eine Form der Komplizenschaft angesichts der Probleme ist, die alle gleichermaßen betreffen (Arbeitsbedingungen am Theater, Ausbeutung in der Kunst, das Verhältnis zum eigenen Körper und zur Repräsentation etc.). Dementsprechend bearbeiten sie auch in den Clips zwischen den Textblöcken gemeinsam das Bühnenbild, hängen Kulissen um und Ähnliches. Eine solche gemeinsame Praxis ohne Rollenzuweisungen ist kennzeichnend für die Inszenierungen Polleschs. Es ist eine chosen family, die sich hier zusammenfindet und Solidarität praktiziert, ohne in die Rollenmodelle der heteronormativen Paarbeziehung zu verfallen. Pollesch selbst zufolge kann eine solche Solidarität nur entstehen, wenn »man Theater macht, wo Figuren nicht im Zentrum stehen, wenn sie unabhängig von Geschlechtern verteilt sind«, denn nur dann gehe es nicht um die Abgrenzung vom Anderen, sondern um eine gemeinsame 40 Produktivität. Auch wenn Pollesch an der Funktion des Regisseurs festhält, entwirft er auf der Bühne doch die Utopie eines Miteinanders, das nicht hierarchisch geordnet und rollenspezifisch normiert, sondern offen, egalitär und heterogen ist. Erst durch die Praxis des gemeinsamen Spiels, der gemeinsamen Rede und der gemeinsamen Auseinandersetzung mit bestimmten Theorien und Fragestellungen konstituieren sich die Gruppen; die Performer handeln dabei ihr Verhältnis zueinander immer wieder neu aus. Gerade wenn inhaltlich Fragen der Familie diskutiert werden, lässt sich die Gruppe der Performer als ein Modell der Zusammengehörigkeit begreifen, das sich bewusst von der patriarchalen Familie absetzt, heterosexuelle Fortpflanzung als Grundlage verpflichtender Beziehungen hinterfragt und mit anderen Formen von verbindlichem Miteinander experimentiert. Dies lässt sich auch in chorischen Arbeiten beobachten, etwa in Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen (Frankfurt 2010). Hier bilden die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler einen Chor, der 40 R. Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 350.

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gemeinsam spricht und agiert, aus dem aber auch immer wieder Einzelne für kurze Momente heraustreten oder Texte auf sechs Einzelstimmen verteilt werden. Ein solches Sprechmodell erfordert besonders viel Aufmerksamkeit für die anderen Sprechenden und spiegelt so auf produktionstechnischer Ebene den Ensemblegedanken wider. Die Gruppe konstituiert sich durch eine gemeinsame, vielstimmige Praxis ohne kohärente Figurenzuweisung und ohne eindeutige Individuation und bleibt so permanent im Prozess. Pollesch spielt mit Möglichkeiten der Darstellung verwandtschaftsähnlicher Bindungen, die nicht an den anatomischen Körper oder die Vorstellung eines mit sich selbst identischen Individuums gebunden sind. Dem wirken seine Aufführungen durch die Gruppenstruktur sowie die Hinterfragung der Repräsentation und des Modus der Verkörperung bzw. des ›Selbstausdrucks‹ entgegen. Ein rein Privates gibt es hier nicht, auch Fragen des Begehrens und der Familie sind Teil des öffentlichen politischen Diskurses. Das Infragestellen der abendländischen Konzeption des Individuums geht bei Pollesch einher mit der Absage an auf Heterosexualität, Privatheit und Natürlichkeit beruhenden Vorstellungen von Beziehung und damit auch mit einer Absage an das Modell einer auf Biologie und Heterosexualität fußenden Familie. An ihre Stelle tritt das Kollektiv der Schauspielerinnen und Schauspieler, die ohne fixierte Identitäten gemeinsam agieren. Polleschs verfremdende Theaterästhetik verhindert dabei die Produktion einer Einmütigkeit, die das Kollektiv nach außen abgrenzen und im Inneren vereinheitlichen würde. Dieses hierarchiefreie, der Heteronormativität entgegenarbeitende Miteinander setzt sich sowohl von der Tradition der Familie als auch von den Produktions- und Darstellungskonventionen des bürgerlichen Theaters ab.

7. Reformulierung von Verwandtschaft im zeitgenössischen Theater

Judith Butler weist auf die Möglichkeit hin, Begriffe wie Verwandtschaft, Gemeinschaft und Freundschaft neu zu konzipieren und damit den definitorischen Rahmen unserer Kultur zu überdenken: »Wenn verpflichtende Beziehungen nicht länger auf die heterosexuelle Fortpflanzung zurückgeführt werden, wird genau die Homologie zwischen Natur und Kultur […] unterminiert«, und weiter: »Es geht tatsächlich genau dann um eine viel radikalere soziale Veränderung, wenn wir uns zum Beispiel weigern, zuzulassen, dass Verwandtschaft auf ›Familie‹ reduziert oder das Feld der Sexualität am Maßstab der Ehe gemessen wird«.1 Anlässlich des Films Paris is Burning von Jennie Livingston spricht Butler bereits in Bodies that matter von der Aneignung und Resignifikation der Begriffe von Verwandtschaft, die eine »neue Ausarbeitung von Verwandtschaft […] außerhalb des Privilegs der heterosexuellen Familie« ermögliche.2 Sie geht in diesem Kontext auf das »Verwandtschaftssystem« ein, das die im Film dokumentierten transvestitischen Bälle umgibt. Es ist ein System, das nichts mit biologischer Verwandtschaft zu tun hat, sondern auf dem »Aufbau einer Reihe von Verwandtschaftsbeziehungen« beruht, der willentlich vollzogen wird, um die von Vertreibung, Armut und Obdachlosigkeit bedrohten drag queens zu schützen und zu stützen.3 In Paris is burning (1991), einem bei seinem Erscheinen umstrittenen Film, weil die Regisseurin schwule Afro-Amerikaner und Latinos am Rande der Gesellschaft dokumentiert, ohne ihren eigenen, weißen Blick zu thematisieren,4 werden drag-Bälle in Harlem, New York, gezeigt, auf denen schwule Männer und Transsexuelle in verschiedenen Kategorien gegeneinander antreten. Butler analysiert den Film hinsichtlich der Verkörperung von Normen mit dem Effekt der Echtheit und 1

J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 210 und 212.

2

J. Butler: Körper von Gewicht, S. 193.

3

Ebd., S. 192.

4

Vgl. b. hooks: Black Looks, S.179-193.

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stellt die Frage, ob die ›Entnaturalisierung‹ von Geschlechtsidentität möglicherweise auch das Vehikel einer Festigung hegemonialer Geschlechternormen sein könne.5 Besonders interessiert Butler an Paris is burning allerdings die Praxis der Beteiligten, durch die Bälle ein Verwandtschaftssystem aufzubauen, das eine Gemeinschaft stiftet, »die bindet, Sorge trägt und lehrt, Unterschlupf gewährt und Möglichkeiten eröffnet«.6 Denn die Beteiligten schließen sich zu sogenannten Houses zusammen, die von je einer Mother geleitet werden, die jüngere Männer bei sich aufnimmt, sie behütet, für sie sorgt, sie unterrichtet. Es sind junge Männer aus zerrütteten Familien oder solche, die wegen ihrer Homosexualität von ihrer Familie verstoßen wurden, die in den Houses eine neue Familie finden: »Those kids come to me to fill that void, like I am their mother. The houses, let me put it sharply, the houses, they’re family. This is a new meaning of family, it’s a question of a group of human beings in a mutual bond«, sagt die Mutter des Hauses LaBeija, Pepper LaBeija.7 Die Häuser werden von allen als ihre Familie beschrieben, mit Mutter, Schwestern und Brüdern, manchmal auch Vätern: »My mother is Angie Xtravaganza, my father is David Xtravaganza, the House of Xtravaganza is my life, it’s my family, we’re always together […]«.8 Da die zehn bis zwanzig Familienmitglieder eines Hauses queere Geschlechtsidentitäten haben, schwule Männer, Transsexuelle oder dragqueens sind, sind die Rollen in der Familie nicht geschlechtsspezifisch verteilt und auch Mütterlichkeit ist keine an den biologisch weiblichen Körper gebundene Eigenschaft. Die Mutter definiert sich, unabhängig von ihrem anatomischen Körper, über ihre Funktion, anderen ein (emotionales) Zuhause zu geben, eine verlässliche Bindung aufzubauen, Verantwortung zu übernehmen und in den Belangen des Alltags (und auch der balls) zu helfen. Die Houses vollziehen also die Praxis familiärer Räume nach, den Einzelnen vor der Außenwelt zu schützen, ihm emotionale Sicherheit, Geborgenheit und Unterstützung zu geben. Begriffe wie Mutterschaft, Zuhause und Familie werden vom anatomischen Körper und der heterosexuellen Reproduktion ebenso wie von geschlechtsspezifischen Codierungen gelöst. Butler dazu: »Die Resignifikation der Familie durch diese Ausdrücke ist nicht eine vergebliche oder nutzlose Nachahmung, sondern der soziale und diskursive Aufbau einer Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, die bindet, Sorge trägt und lehrt, Unterschlupf gewährt und Möglichkeiten eröffnet. Zweifellos handelt es sich um eine kulturelle, neue Ausarbeitung von Verwandtschaft, die alle außerhalb des Privilegs der heterosexuellen Familie (und jene innerhalb des ›Privi5

Auch Peggy Phelan kritisiert die Reproduktion stereotyper Weiblichkeit in Paris is

6

J. Butler: Körper von Gewicht, S. 192.

burning, vgl. P. Phelan: Unmarked, S. 107. 7

Pepper LaBeija in Paris is burning, R: Jennie Livingston, USA 1991.

8

Ein Mitglied des »House of Xtravaganza« in Paris is burning.

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legs‹, die daran leiden) sehen müssten […] Bezeichnenderweise geschieht es gerade in dieser Ausarbeitung von Verwandtschaft, fabriziert durch eine Resignifikation der gleichen Begriffe, die unseren Ausschluss und unsere Verwerflichkeit herbeiführen, dass eine derartige Resignifikation den diskursiven und sozialen Raum für Gemeinschaft schafft, dass wir eine Aneignung der Begriffe der Beherrschung erkennen, die sie auf eine Zukunft hinlenkt, die mehr ermöglicht.«9

Familie ist für die Protagonisten des Films Paris is burning also keine biologisch definierte Einheit, sondern eine frei gewählte Gemeinschaft, die Funktionen der traditionellen Familie übernimmt. Die Resignifikation der Begrifflichkeiten Familie, Mutter, Vater etc. bietet die Möglichkeit einer ›neuen Ausarbeitung von Verwandtschaft‹. Bezeichnender Weise handelt es sich um eine Resignifikation derjenigen Begriffe, die in der westlichen Gesellschaft dazu dienen, Verwandtschaft an Biologie und Heterosexualität zu binden und Homosexuelle aus der auf der heteronormativen Familie gründenden bürgerlichen Gesellschaft auszuschließen. Butler versteht diese Neuformulierung von Verwandtschaft mithin »als Wiederholungen hegemonialer Formen der Macht […], die daran scheitern, getreu zu wiederholen, und die in diesem Scheitern Möglichkeiten eröffnen«.10 Die Resignifikation der Begrifflichkeiten von Familie subvertiert Butler zufolge das Konzept von Familie, das auf der Naturalisierung des binären Geschlechtermodells und der Zwangsheterosexualität basiert, und das ihr Andere ausschließt. Die Aneignung und Umdeutung der ›Begriffe der Beherrschung‹ ermögliche es den von Familie und Gesellschaft Ausgeschlossenen, eine andere Ausarbeitung von Verwandtschaft vorzunehmen und eine familiäre Gemeinschaft aufzubauen, die nicht auf Ausschluss beruhe – eine Gemeinschaft, ›die mehr ermöglicht‹. Butlers Konzept der Reformulierung von Verwandtschaft ist so auch dezidiert politisch: es geht darum, Teilhabe für diejenigen zu ermöglichen, die von den ›hegemonialen Formen der Macht‹ ausgeschlossen sind, eine Teilhabe allerdings, die nicht diese Formen der Macht reproduziert, sondern gerade verfehlt und so gegen sich selbst wendet. Die bürgerliche Familie ist Butler zufolge grundlegend an der Herstellung, Naturalisierung und Sicherung des binären, heterosexuellen Geschlechtermodells beteiligt; umgekehrt betrachtet führt die »hypostasierte Heterosexualität«, also das Postulat einer grundlegenden, natürlichen Heterosexualität, zu der Behauptung, dass Verwandtschaft immer schon heterosexuell sei.11 Eine Möglichkeit der Denaturalisierung dieses Modells und der Schaffung eines Handlungsvermögens, das Ausschlüsse verhindert, wäre die Resignifikation von Familie und der diskursive Aufbau anderer Formen von Verwandtschaft. Eine solche Praxis der Resignifikati9

J. Butler: Körper von Gewicht, S. 192-193.

10 J. Butler: Körper von Gewicht, S. 176. 11 J. Butler: Die Macht der Geschlechternormen, S. 203.

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on kann, das bezeugt auch die Tatsache, dass Butler sich in ihren Ausführungen auf einen Film bezieht, in künstlerischen Diskursen statthaben, denn diese sind an der Konstitution von Realität beteiligt; sie findet sich in mehreren der untersuchten Beispiele. So lässt sich etwa in Familienbande eine Umgestaltung der heterosexuellen Familie und eine Verschiebung von Begrifflichkeiten beobachten (»meine Mutter und meine Mutter«), die auf eine andere diskursive Ausarbeitung von Verwandtschaft deuten. Die Künstlerzwillinge deufert&plischke hinterfragen Biologie und Anatomie und reformulieren Verwandtschaft sowohl durch ihr Konzept des »artistwin« als auch in ihrer szenischen Praxis. Auf tänzerische Weise wird in Eszter Salamons Reproduction die Verbindung von heterosexueller Reproduktion, Geschlechtsidentität und zwischenmenschlicher Beziehung gleichsam im Scheitern der Wiederholung hinterfragt; und auch in Alain Platels Gardenia eignen sich die Tänzerinnen und Tänzer die ›Begriffe der Beherrschung‹ – sowohl in Form von Sprache als auch von Körperbildern, Bewegungen und Accessoires – an und resignifizieren sie, indem sie sie von den anatomischen Körpern lösen und die Wiederholungen leicht verfehlen. In Familienalbum von She She Pop wird an einer Reformulierung von Verwandtschaft gearbeitet, indem die Begrifflichkeiten durch die Unterbrechung der Darstellung in Form des soufflierten Sprechens denaturalisiert und aufs Spiel gesetzt werden. Und bei René Pollesch findet eine solche Reformulierung statt, indem die bürgerliche Familie sprachlich verhandelt, aber szenisch gerade nicht reproduziert wird, und auch hier die Begriffe von ihrer anatomischen Festschreibung gelöst, die Wiederholung also verfehlt wird. Gerade das Scheitern der getreuen Wiederholung, um mit Butler zu sprechen, ist ein Mittel, das im zeitgenössischen Theater eingesetzt wird, um Geschlechtsidentität, Heteronormativität und tradierte Konzepte von Familie zu hinterfragen. Zitate und Zeichen für Geschlechtsidentität werden ausgestellt und spielerisch verschoben, verfremdende Darstellungsmodi denaturalisieren Konzepte wie Mütterlichkeit, Genealogie und Familie. Die Wiederholung wird so immer wieder verfehlt und in diesem ›Scheitern‹ eröffnen sich andere Möglichkeiten. Ein ›diskursiver und sozialer Raum für Gemeinschaft‹ durch eine derartige Resignifikation wird auf dem Theater aber auch dann hergestellt, wenn Formen der Zusammengehörigkeit und des Miteinanders szenisch realisiert werden, die nicht der heteronormativen Logik entsprechen. Wenn etwa She She Pop durch das kollektive Arbeiten und die egalitäre, selbsttätige Gruppenstruktur Verwandtschaft als freiwilliges, verlässliches Fürund Miteinander reformulieren und auf diese Weise am Aufbau einer Gemeinschaft arbeiten, die ›bindet, Sorge trägt und Möglichkeiten eröffnet‹. Oder wenn, wie bei Pollesch, auf der Bühne durch die gemeinsame Praxis eine gemeinschaftlichsolidarische Gruppenstruktur erarbeitet wird, die nicht auf heteronormativen Strukturen beruht, und die durch die verfremdende Darstellungsweise offen bleibt für das ihr Andere, das Scheitern provoziert und sich immer wieder selbst hinterfragt.

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In ihrem Essay »Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?« plädiert Judith Butler unter Bezugnahme auf die neuere US-amerikanische Kinship-Forschung, die das Konzept der Verwandtschaft weitgehend von der heterosexuellen Reproduktion und den Voraussetzungen der Ehe löst, für ein performatives Konzept von Verwandtschaft: »Wenn wir unter Verwandtschaft eine Reihe von Praktiken verstehen, die verschiedenartige Beziehungen begründen, welche die Reproduktion des Lebens und die Erfordernisse des Todes bewältigen, dann werden verwandtschaftlich geprägte Praktiken solche sein, die sich auf die elementaren Formen menschlicher Abhängigkeit richten, zu denen Geburt, Kindererziehung, Beziehungen emotionaler Abhängigkeit und Unterstützung, intergenerationelle Bindungen, Krankheit, Sterben und Tod gehören, um nur einige zu nennen.«12

Verwandtschaft wird nicht als eine biologische Tatsache gedacht, die bestimmte kulturelle Praktiken nach sich zieht, sondern konstituiert sich überhaupt erst als Effekt solcher Praktiken. Damit ist Verwandtschaft auch nie abgeschlossen, sondern als ein Prozess zu begreifen, der immer wieder aufs Neue vollzogen wird. Butler versteht Verwandtschaft mithin als eine Form des Handelns oder Tuns, als »ein Tun, das keine vorgängige Struktur reflektiert, sondern nur als ausgeübte Praxis verstanden werden kann.«13 Wenn man weiterhin mit Butler annimmt, dass die Unterscheidbarkeit von Verwandtschaft, Freundschaft und anderen gemeinschaftlichen Bindungen keine sichere ist und sowohl durch die soziale Praxis als auch unter den Bedingungen der globalen Ökonomie sowie den Innovationen in der Biotechnologie in Frage gestellt wird, können Formen der Gemeinschaftlichkeit, wie sie im zeitgenössischen Theater sowohl auf ästhetischer Ebene als auch auf der Ebene der Arbeitsweise praktiziert werden, durchaus als Formen von Verwandtschaft gelten, die sich bewusst von der Tradition der heteronormativen, patriarchalen Kleinfamilie abgrenzen. Kollektive wie She She Pop setzen sich nicht nur inhaltlich mit Fragen der Familie auseinander, sondern experimentieren auch als Kollektiv mit anderen Arten der Zugehörigkeit und verantwortlichen Beziehungen. Im gemeinsamen Arbeiten über die Jahre, in dem Verantwortung übernommen und Sorge getragen wird, kann eine Ausarbeitung von Verwandtschaft ›als ausgeübte Praxis‹ gesehen werden. Butler schreibt zu solch gemeinschaftlichen Bindungen, die nicht auf heterosexueller Reproduktion beruhen:

12 Ebd., S. 168. 13 Ebd., S. 202. Ein ähnliches Konzept von Familie als Herstellungsprozess, als »Doing Family«, setzt sich zunehmend auch in den Sozialwissenschaften durch; vgl. K. Jurczyk/ A. Lange/B. Thiessen: Doing Family.

346 | M UTTERSCHAFT UND F AMILIE: I NSZENIERUNGEN IN THEATER UND P ERFORMANCE »In diesem Sinne lässt sich sagen, dass Verwandtschaftsbeziehungen eine Grenze erreichen, an der die Unterscheidbarkeit von Verwandtschaft und Gemeinschaft in Frage gestellt wird oder die eine andere Konzeption von Freundschaft erforderlich macht. Sie stellen einen ›Zusammenbruch‹ traditioneller Verwandtschaft dar, der nicht nur den Stellenwert von biologischen und sexuellen Beziehungen aus der Definition von Verwandtschaft verdrängt, sondern der Sexualität einen separaten Bereich neben der Verwandtschaft zuweist, der es erlaubt, dauerhafte Bindungen außerhalb des ehelichen Rahmens zu denken und Verwandtschaft für eine Reihe gemeinschaftlicher Bindungen zu öffnen, die sich nicht auf die Familie reduzieren lassen.«14

Die Ablösung traditioneller heterosexueller Paarbeziehungen durch nicht auf eine biologische Geschlechtsspezifik gründende Formen der Gemeinschaft in Aufführungen wie Gardenia, Reproduction oder Reportable Portraits, Arbeiten von She She Pop oder René Pollesch eröffnen die Möglichkeit, Verwandtschaft als eine Praxis neu zu denken. Sie stellen Gemeinschaften her, die nicht auf hierarchischen, normativen Ordnungen beruhen und sich nicht als nach außen geschlossene Identität begreifen, die sich notwendiger Weise von einem Anderen abgrenzen muss.15 Es sind Gemeinschaften, die im Prozess und auf diese Weise offen bleiben. Auf ästhetischer Ebene arbeiten Strategien der Performativität und Verfremdung an der Öffnung der Repräsentation, die auch eine Öffnung der ›Familie‹ der Darstellenden meint. Die zeitgenössischen darstellenden Künste bieten Möglichkeiten, Verwandtschaftskonzepte zu hinterfragen und entwickeln in nicht-emphatischen Gruppenstrukturen Entwürfe anderer Formen des Miteinanders.

14 Ebd., S. 208. 15 Butler macht auf Argumentationslinien biologistischer, heteronormativer Verwandtschaftskonzepte aufmerksam, die Familie als Sicherung europäisch-weißer Identität begreifen; ebd., S. 198-199.

Schlussbemerkung

Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, zeitgenössische Inszenierungen von Mütterlichkeit und Familie zu untersuchen und ist dabei von der Annahme ausgegangen, dass Mütterlichkeit keine ahistorische Konstante sondern eine historische Konstruktion ist, deren Historizität verschleiert wird. Diese Historizität sowie die Naturalisierung von Mütterlichkeit konnte an Diskursen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgezeigt werden; die Tendenz zur Naturalisierung und Verschleierung ihrer Geschichtlichkeit wurde auch in gegenwärtigen kulturellen Konstruktionen von Mütterlichkeit aufgedeckt, beispielsweise in medialen Bildern der Alltagskultur. Es konnte gezeigt werden, dass die Mutter eine zentrale Figur der Naturalisierung des binären Geschlechtermodells ist: die Ontologisierung der Geschlechterdifferenz wird im 18. Jahrhundert im Wesentlichen über die Figur der Mutter betrieben, mit der Biologisierung von Mütterlichkeit geht die Naturalisierung von Weiblichkeit und Männlichkeit als wesenhaft voneinander geschiedene Kategorien einher. Bemerkenswert ist dabei, dass das Theater in diesem Kontext eine Sonderrolle einnimmt; im Gegensatz zu den theoretischen Diskursen und zur bildenden Kunst tritt im bürgerlichen Trauerspiel die Figur der guten, reinen Mutter nicht auf. Während die bildende Kunst des 18. Jahrhunderts in ähnlicher Weise wie die theoretischen Diskurse die Mutter ins Zentrum setzen, wird sie im Theater an den Rand gedrängt und fungiert gerade nicht als Garantin von Natürlichkeit, sondern wird vielmehr auf Seiten einer künstlichen, sexualisierten Weiblichkeit verortet. Es liegt nahe, diese markante Differenz auf die unterschiedlichen Darstellungssysteme zurückzuführen: Während es die visuellen Künste ermöglichen, das Bild einer reinen Mutter als Inbegriff natürlicher Hingabe und Repräsentation eines vorsprachlichen, symbiotischen Paradieses zu konstruieren, ist die Darstellung einer solchen sprachlosen Natürlichkeit, als die die Mutter in den Schriften der Aufklärer imaginiert wird, dem Medium Sprechtheater nicht möglich. Auch wenn eine natürliche Spielweise angestrebt wird, so bedeutet die Darstellung einer Mutter auf dem Theater doch immer, dass sie (bzw. die Schauspielerin) als bewusstes, sprechendes und

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handelndes Subjekt auftritt; die Distanz zwischen Schauspielerin und Rolle kann nicht vollständig eliminiert werden. Ebenso wenig kann die Gleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption restlos verschleiert werden; die Geschlossenheit der Repräsentation, die in der bildenden Kunst die Konstitution einer intimen, sprachlosen Mutter-Kind-Einheit ermöglicht, kann auf dem Theater nicht bruchlos realisiert werden. So sehr der mütterliche Körper im Zeitalter der Aufklärung idealisiert wird, so sehr wird er als konkreter, als sinnlicher, sprechender und handelnder auf dem Theater verfemt. Selbst die Figur der unschuldigen Tochter ist erst als Leiche, mithin als Bild, tatsächlich unschuldig. Ein Bild, das Weiblichkeit in der Objekthaftigkeit bannt, in ähnlicher Weise, wie dies im Fall der Mütter mit ihren gesenkten Köpfen und niedergeschlagenen Blicken auf den Gemälden der Zeit der Fall ist. Und dennoch bieten die Texte des bürgerlichen Theaters auch ambivalente und sogar widerständige Facetten von Mütterlichkeit, wie am Beispiel der Claudia Galotti gezeigt wurde. Der unterschiedliche Umgang der künstlerischen Darstellungssysteme mit der Figur der Mutter lässt sich bis in die Gegenwart beobachten. So setzen sich seit den 1970er Jahren bildende Künstlerinnen wie Ulrike Rosenbach, Cindy Sherman oder Judith Samen kritisch mit Mutterbildern unserer Kultur auseinander, indem sie ihre Medialität herausstreichen, Mütterlichkeit denaturalisieren und die eigene Verwicklung in die Bildvorgaben reflektieren. Im Theater hingegen findet eine solche Beschäftigung speziell mit Mutterfiguren nicht statt. Dies mag zum einen daran liegen, dass für die darstellenden Künste eine Tradition wie diejenige der christlichen Ikonografie als inhaltliche und formale Grundlage für eine solche Auseinandersetzung fehlt, könnte aber auch damit zusammenhängen, dass das deutschsprachige Sprechtheater institutionell und künstlerisch bis weit in die 1990er Jahre hinein fast ausschließlich männlich dominiert war. Das Drama legt auch Ende des 20. Jahrhunderts das Augenmerk hauptsächlich auf Vaterfiguren bzw. nimmt die Perspektive der Kinder ein; das postdramatische Theater der 1980er und 90er Jahre beschäftigt sich so gut wie gar nicht mit Fragen der Familie. Eine Thematisierung von Mütterlichkeit scheint im Verdacht künstlerisch wenig produktiver Privatheit zu stehen, während Vaterfiguren aufgrund ihrer symbolischen Aufladung ein höheres Konfliktpotential zugesprochen wird. Dass Familie für nicht-dramenbasierte Theaterformen kein oder nur ein randständiges Thema ist, fällt auch für das beginnende 21. Jahrhundert auf; erst in den letzten Jahren werden die Beispiele zahlreicher. Bemerkenswert ist, dass neue Familienmodelle oder andere Formen von Verwandtschaft nur ausgesprochen selten explizit thematisiert werden, obwohl sie in der Lebensrealität und der öffentlichen Debatte um Familie einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Im Fall des zeitgenössischen dramenbasierten Sprechtheaters lässt sich, bezogen auf die Inszenierung von Familie, häufig eine Naturalisierung stereotyper Rollenbilder beobachten; zumal Mütterlichkeit wird oft unhinterfragt als natürliche Eigen-

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schaft der leiblichen Mutter dargestellt. Wie gezeigt werden konnte, gibt es aber auch Künstlerinnen und Künstler, die sich kritisch mit Bildern von Mütterlichkeit und Familie auseinander setzen, sowohl im Bereich des Sprechtheaters als auch in der zeitgenössischen Performancekunst oder in Spielarten des dokumentarischen Theaters. Ähnlich wie im Fall der bildenden Künstlerinnen geht etwa bei René Pollesch, She She Pop oder Rimini Protokoll die Kritik an Weiblichkeits- bzw. Familienentwürfen mit einer Repräsentationskritik einher. Der Blick der Theaterschaffenden ist allerdings meist weniger auf die Figur der Mutter, denn auf die Kleinfamilie als geschlossene, normative Einheit gerichtet. Eine Denaturalisierung des abendländischen Konzepts der Mutter hat im Theater zuerst Bertolt Brecht vollzogen, der Mutterfiguren nicht nur zu Protagonistinnen macht, die auf der Ebene der Handlung gängigen Stereotypen zuwiderlaufen, sondern auch die Darstellung verfremdet, so dass die sozio-kulturelle Konstruktion von Mutterschaft kenntlich wird. Bezogen auf die zur Untersuchung herangezogenen Beispiele aus Theater und Performance der Gegenwart wäre zu unterscheiden zwischen Inszenierungen wie etwa Die Welt zu Gast bei reichen Eltern, Conte d’Amour oder John Gabriel Borkman, die, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, in erster Linie an der Dekonstruktion und Demystifizierung der bürgerlichen Kleinfamilie arbeiten, und solchen Arbeiten, die sich mit der alltäglichen Praxis von Mütterlichkeit und Familie beschäftigen, wie etwa Black Tie von Rimini Protokoll, Familienbande von Lola Arias oder Familienalbum von She She Pop. Im Fall ersterer wird die Familie als ein gesellschaftliches bzw. diskursives Konstrukt ausgestellt, das den Einzelnen mehr oder weniger gewalttätig bindet und das nicht zuletzt mittels phantasmatischer Projektionen funktioniert, etwa männlichen Phantasien des Weiblichen und des Fremden (Conte d’Amour) oder Phantasien der Unmittelbarkeit, die bei Pollesch diskursiv verhandelt, bei Vinge/Müller ausagiert werden. Kennzeichen letzterer ist der biografische Ansatz, also die Auseinandersetzung mit den realen Alltagserfahrungen ihrer Protagonisten, ob diese nun ausgewählte Experten (Rimini Protokoll), Schauspielerinnen ihrer selbst (Lola Arias) oder die Performerinnen und Performer der Gruppe She She Pop sind. Diese biografischen Erfahrungen werden künstlerisch geformt und gerahmt und auf diese Weise verfremdet, behalten aber ihren Bezug zur Alltagsrealität. Ob Hinterfragungen tradierter Rollenmuster, kritische Selbstreflexionen bei She She Pop oder die radikale Denaturalisierung von Identität und Mutterschaft bei René Pollesch – das Mütterliche ist in den meisten der angeführten Beispiele als eine Bedeutung zu betrachten, die ihre historisch-kulturelle Gemachtheit offen legt und dadurch, ganz im Sinne der eingangs zitierten Formulierung Judith Butlers, offen ist für Veränderungen. Es sind Formen des Theaters, die den mütterlichen Körper nicht als ein der symbolischen Ordnung Vorgängiges konstituieren, sondern die Illusion einer solch natürlichen, außersprachlichen Mütterlichkeit dekonstruieren und so auch der Mythologisierung von Mutterschaft den Boden entziehen.

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Die Denaturalisierung der Mutter und der familiären Bande in den genannten Beispielen funktioniert über theatrale Mittel der Darstellung; das zeitgenössische Theater untergräbt das Modell der Kleinfamilie in erster Linie auf formalästhetischer Ebene. Es konnte gezeigt werden, dass das Konzept der geschlossenen Repräsentation und natürlichen Darstellung des bürgerlichen Theaters mit der Idee der geschlossenen, natürlichen Kleinfamilie zusammenhängt. So wie die Familie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft als Hort der natürlichen Emotion und Echtheit verstanden wird, steht das bürgerliche Illusionstheater für das Vortäuschen einer solchen Echtheit, indem der Akt der Produktion verdeckt wird. Diese Verbindung der Naturalisierung des bürgerlichen Familien- und Geschlechtermodells mit der angestrebten Naturalisierung der Theaterästhetik wird in Aufführungen wie etwa John Gabriel Borkman oder Conte d’Amour offengelegt. In John Gabriel Borkman geschieht dies, indem die Ästhetik des Illusionstheaters an der bürgerlichen Familie ausgestellt und zugleich denaturalisiert wird, um dann das Durchbrechen der Illusion im realen Vollzug durchzuführen. In Conte d’Amour wird die inzestuöse Gemeinschaft der Familie und die Geschlossenheit der Repräsentation räumlich konkretisiert, indem das Schauspiel der inzestuösen Verflechtungen in den geschlossenen Bühnenraum verlagert wird. Rimini Protokoll hinterfragen das Modell der genealogischen Familie und des Repräsentationstheaters durch seine Offenlegung vor dem Publikum, durch die Sichtbarmachung der theatralen Mittel und die antiillusionistische Form des Berichtens. Deufert&plischke hingegen desillusionieren das Theater durch eine fast beiläufige, reduzierte Form der Darstellung und ihr Konzept des Künstlerzwillings, mit dem sie der unsere Kultur prägenden Heteronormativität entgegentreten. Als exemplarisch für die Denaturalisierung sowohl der Repräsentationsästhetik als auch der Familie können die Theaterarbeiten René Polleschs gelten. Familie und Mutter sind wiederkehrende Motive in seinen Texten, szenisch verkörpert werden sie aber nie. Die Spaltung zwischen diskursiver Verhandlung und antiillusionistischer Darstellung, die Identitäten als performative Effekte kultureller Diskurse ausweist, legt die Naturalisierung von Mutterschaft und Familie offen. Und auch She She Pop verbinden ihre Inszenierungen von Familie mit einer Hinterfragung der theatralen Repräsentation, sodass durch die Sichtbarmachung des Akts der Darstellung auch die dargestellte familiäre Einheit in Frage gestellt wird. Die geschlossene Kleinfamilie bildet eine Gemeinschaft, die sich nach außen ab- und das ihr Andere ausgrenzt. Die Reproduktion einer solchen Gemeinschaft durch Mittel der realistischen, geschlossenen Repräsentation affirmiert sie als natürliche und wiederholt den Ausschluss des Anderen. Dass dies auf der Ebene der Darstellung auch geschehen kann, wenn die dargestellte Familie nicht der Norm entspricht, wurde an Familienbande von Lola Arias gezeigt. Es wohnt aber als Risiko den Darstellungen von Gemeinschaft immer inne; hierin ist sicherlich ein wesentli-

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cher Grund dafür zu sehen, dass Familie im Gegenwartstheater in erster Linie als geschlossene Gemeinschaft hinterfragt und auf formaler Ebene untergraben wird. Die Pluralisierung und Diversifizierung von gelebten Familienentwürfen findet auf dem Theater in Arbeiten wie Familienbande eine direkte Entsprechung. Aber auch andere der hier angesprochenen Aufführungen, etwa Reportable Portraits, Gardenia, Familienalbum oder Die Welt zu Gast bei reichen Eltern, entwerfen Phantasien einer chosen family, die die Normen der bürgerlichen Familie und der Heterosexualität aufs Spiel setzen. Mit Judith Butler konnte Verwandtschaft als eine ausgeübte Praxis begriffen werden, die verlässliche Bindungen erst hervorbringt. Formen der Gemeinschaftlichkeit, wie sie im zeitgenössischen Theater sowohl auf ästhetischer Ebene als auch auf der Ebene der Arbeitsweise praktiziert werden, sind durchaus als eine solche verwandtschaftliche Praxis zu sehen. Gerade Arbeiten von She She Pop und René Pollesch setzen sich explizit mit der Frage nach einer anderen Form von Verwandtschaft auseinander. Pollesch versucht, mit seinen Schauspielerinnen und Schauspielern einen gleichberechtigten, kollektiven Probenprozess zu realisieren, und entwirft auf der Bühne durch die entpersonalisierte Textverteilung Gruppen, die als Modell einer chosen family gelten können, die sich unabhängig von geschlechtlichen und heteronormativen Merkmalen zusammenfindet und sich beständig selbst neu aushandelt. Das Performance-Kollektiv She She Pop wurde ebenfalls, ausgehend von der anthropologischen Bestimmung des Begriffs, als eine chosen family gefasst, die sich durch die dauerhafte, verantwortliche und gegenseitig Sorge tragende Zusammenarbeit kennzeichnet. Mehr noch als Pollesch arbeiten sie an einer Gemeinschaft, die jede Hierarchisierung vermeidet und vielstimmig bleibt. Auch sie suchen kein emphatisches Gemeinschaftserlebnis und beziehen die konkrete Theatersituation in die Aufführung mit ein, sodass immer wieder aufs Neue theatrale Darstellungskonventionen und die Konstitution von Gemeinschaft im Theater hinterfragt werden. Die demokratische Arbeitsweise ebenso wie das gleichwertige Auftreten auf der Bühne stellen Formen von Gemeinschaft her, die im Prozess und auf diese Weise offen und vielfältig bleiben. Das zeitgenössische Theater versetzt den Begriff der Familie in Bewegung. Und diese Bewegung selbst stört das Konzept der bürgerlichen Familie grundlegend, denn sie basiert auf der Annahme ihrer Faktizität und Geschlossenheit. Die neu gewonnene Prozessualität macht Familie verhandelbar und öffnet sie auf das ihr Andere: auf heterogene Identitäten, Beziehungen und Begehrensstrukturen, auf Praktiken, die familiäre Positionen immer wieder neu und anders hervorbringen. In diesem Sinne bietet das Theater die Möglichkeit, Begriffe wie Familie und Verwandtschaft zu reformulieren. Es arbeitet durch das Spiel mit Zeichen und Zitaten, durch Strategien der Performativität, Verfremdung und Unterbrechung sowie des Scheiterns der getreuen Wiederholung an der Öffnung der Repräsentation und eröffnet dabei auch die Möglichkeit, Verwandtschaft als eine Praxis und als eine heterogene Vielheit neu zu denken.

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F ILME

UND

V IDEOS

Breitz, Candice: Mother and Father, 2005 (Viewing Copy der Videoinstallation). Paris is burning, R: Jennie Livingston, USA 1991. Queer as Folk, Idee: Russel T. Davies, Great Britain 1999-2000. Queer as Folk, Ron Cowan/Daniel Lipman nach R. T. Davies, USA 2000-2005.

T HEATERAUFZEICHNUNGEN Arias, Lola: Familienbande, Münchner Kammerspiele 2009. Kortner, Fritz: Emilia Galotti, Theater in der Josefstadt, Wien 1970, Edition Josefstadt Theater/ORF. Langhoff, Thomas: Emilia Galotti, Münchner Kammerspiele 1984. Öhrn, Markus/Nay Rampen/Institutet: Conte d’Amour, Ballhaus Ost, Berlin 2010. Platel, Alain/les ballets C de la B: Gardenia, Gent 2010. Pollesch, René: Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiss-Hotels, Prater der Volksbühne Berlin 2001. Pollesch, René: L’Affaire Martin! Occupe-toi de Sophie! Par la fenêtre, Caroline! Le Mariage de Spengler. Christine est en avance, Volksbühne Berlin 2006. Pollesch, René: Tod eines Praktikanten, Prater der Volksbühne Berlin 2007. Pollesch, René: Diktatorengattinnen, Volksbühne Berlin 2007. Pollesch, René: Die Welt zu Gast bei reichen Eltern, Thalia Theater Hamburg 2007. Pollesch, René: Sozialistische Schauspieler sind schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen, Schauspiel Frankfurt 2010. Rimini Protokoll: Sabenation. Go home and follow the news, Kunsten Festival des Arts Brüssel 2004. Rimini Protokoll: Black Tie, Rimini Apparat/Hebbel am Ufer Berlin 2008. Salamon, Eszter: Reproduction, Podewil Berlin 2004. She She Pop: Familienalbum, Hebbel am Ufer Berlin 2008. She She Pop: Testament, Hebbel am Ufer Berlin 2010. Thalheimer, Michael: Emilia Galotti, Deutsches Theater Berlin 2001.

Dank

Das vorliegende Buch ist aus einer langjährigen Beschäftigung mit genderspezifischen Fragestellungen und aus meinen vielfältigen Seherfahrungen in Theater, Performance, Ausstellungen, Kino und Alltag hervorgegangen. Theorie und Praxis des Theaters haben sich für mich immer verbunden, hierfür danke ich dem Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Universität Gießen, das mir als Ausbildungsund Arbeitsstätte über viele Jahre Impulse für eine derartige Verbindung gegeben hat. Ich danke im Besonderen Helga Finter, die mich als Studentin und Promovendin betreut und mit ihrem unerschöpflichen Wissen und dem Vertrauen, das sie in mich setzte, bereichert und gefördert hat. Mein Dank geht an Annemarie Matzke und Jens Roselt, die diese Arbeit als Habilitationsschrift an der Universität Hildesheim auf hervorragende Weise betreut haben. Gerald Siegmund möchte ich für die vielfältige Unterstützung danken, die er mir in all den Jahren, die er mir als Kollege verbunden ist, zukommen ließ. Mein Dank geht außerdem an all die Studentinnen und Studenten, sowohl in Gießen als auch in Berlin, die ich über die Jahre begleiten durfte, und die gerade meiner genderkritischen Lehre und Forschung immer mit großem Interesse und vielen Anregungen begegnet sind und mich so auf meinem Weg bestärkt haben. Und selbstverständlich danke ich all den Künstlerinnen und Künstlern, die meine Forschung auf vielfältige Weise unterstützt haben – allem voran durch ihre künstlerische Arbeit selbst, deren Vielfalt und Reichtum Ausgangs- und Endpunkt dieser Forschung ist. Judith Samen danke ich zudem ausdrücklich für die Überlassung ihrer Fotografie »o.T. (Brotschneiden)« für das Cover dieses Buches. Das Buch hätte ohne meine Familie nicht geschrieben werden können. Sie hat mich nicht nur immer unterstützt, gestärkt und mir Freiräume eröffnet, sondern war auch grundlegender Impuls und fortwährende Inspiration für die Beschäftigung mit Mutter- und Familienbildern. Mein ganz besonderer Dank geht an meine Eltern, Ursula und Diwi Dreysse, an meinen Mann Daniel und an meine Kinder Max, Carlotta, Paul und Ella.

Theater Natalie Driemeyer, Jan Deck (Hg.) »Odyssee: Heimat« Identität, Migration und Globalisierung im Blick der Darstellenden Künste Februar 2016, ca. 202 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2012-2

Andreas Englhart Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute Februar 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2400-7

Fu Li Hofmann Theaterpädagogisches Schauspieltraining Ein Versuch 2014, 202 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3009-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Céline Kaiser (Hg.) SzenoTest Pre-, Re- und Enactment zwischen Theater und Therapie 2014, 256 Seiten, kart., durchgängig farbig,, 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3016-9

Annemarie Matzke, Ulf Otto, Jens Roselt (Hg.) Auftritte Strategien des In-Erscheinung-Tretens in Künsten und Medien April 2015, 254 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2392-5

Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen 2014, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Anu Allas Spiel der Unsicherheit/ Unsicherheit des Spiels Experimentelle Praktiken in der estnischen Kunst und im estnischen Theater der 1960er Jahre März 2015, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2966-8

Nina Birkner, Andrea Geier, Urte Helduser (Hg.) Spielräume des Anderen Geschlecht und Alterität im postdramatischen Theater 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1839-6

Manfred Brauneck, ITI Zentrum Deutschland (Hg.) Das Freie Theater im Europa der Gegenwart Strukturen – Ästhetik – Kulturpolitik September 2015, ca. 500 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3242-2

Karin Burk Kindertheater als Möglichkeitsraum Untersuchungen zu Walter Benjamins »Programm eines proletarischen Kindertheaters« August 2015, ca. 350 Seiten, kart., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3176-0

Nora Haakh Muslimisierte Körper auf der Bühne Die Islamdebatte im postmigrantischen Theater

Melanie Hinz Das Theater der Prostitution Über die Ökonomie des Begehrens im Theater um 1900 und der Gegenwart 2014, 264 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2467-0

Denis Leifeld Performances zur Sprache bringen Zur Aufführungsanalyse von Performern in Theater und Kunst 2014, 310 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2805-0

Nikolaus Müller-Schöll, Leonie Otto (Hg.) Unterm Blick des Fremden Theaterarbeit nach Laurent Chétouane Juli 2015, 296 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2913-2

Camilla Schlie, Sascha Willenbacher (Hg.) »Eure Zwecke sind nicht unsre Zwecke.« Zur Kooperationspraxis zwischen Theater und Schule im Berliner Modellprojekt »JUMP & RUN« August 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2738-1

Julia H. Schröder (Hg.) Im Hörraum vor der Schaubühne Theatersound von Hans Peter Kuhn für Robert Wilson und von Leigh Landy für Heiner Müller März 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2908-8

August 2015, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3007-7

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

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