Sittenwidrige Verfügungen von Todes wegen [1 ed.] 9783428430178, 9783428030170

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Sittenwidrige Verfügungen von Todes wegen [1 ed.]
 9783428430178, 9783428030170

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GEORG TRIELMANN

Sittenwidrige Verfügungen von Todes wegen

Berliner Juristische Abhandlungen unter Mitwirkung von

Walter G. Becker, Hermann Blei, Arwed Blomeyer, Erich Genzmer, Ernst Heinitz, ErnstE. Hirsch, Hermann Jahrreiß, Emil Kießling, Wolfgang Kunkel, Richard Lange, Walter Meder, Dietrich Oehler, Werner Ogris, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, Erwin Seidl, Karl Sieg, Klaus Stern, Wilhelm Wengler, Franz Wieacker, Hans Julius Wolff (Freiburg i. Br.) herausgegeben von

Ulrich von Lübtow

Band 26

Sittenwidrige Verfügungen von Todes wegen

Von

Prof. Dr. Georg Thielmann

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichsrats Rechtswissenschaft der .freien Universität Berlin gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Vom Herausgeber in die Abhandlungsreihe aul:genommen aufgrund seines Erstgutachtens und des von Professor Dr. Arwed Blomeyer erstatteten Zweitgutachtens.

Alle Rechte vorbehalten

@ 1973 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1973 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH. Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 03017 6

Vorwort Die vorliegende Habilitationsschrift wurde im Jahre 1971 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin angenommen. Ihren aktuellen Anlaß bildete die Entscheidung BGHZ 53, 369 ff. über die Sittenwidrigkeit eines "Geliebten-Testaments" und die daran anschließenden Stellungnahmen in der Literatur. Wenn es der BGH in dieser Entscheidung auch nicht offen eingesteht, so stellt der Beschluß doch eine Abkehr von der vorher herrschenden Anschauung dar, wonach bei einem "Geliebten-Testament" die sittenwidrige Motivation des Erblassers vermutet wurde. Eine umfassende Monographie über den Gegenstand fehlte bisher. Als Vorläufer kann die Arbeit von Schmitz, Das Problem der Testierfreiheit, aus dem Jahre 1936 genannt werden, deren Thema jedoch einerseits weiter gefaßt ist, und die andererseits nicht die allgemeinen Grundlagen in der Weise berücksichtigt, wie ich es für nötig gefunden habe. Zu erwähnen ist außerdem die Kölner Dissertation von Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, 1938, deren thematische Beschränkung sich schon aus dem Titel ergibt. Die Schrift von Simshäuser, Zur Sittenwidrigkeit der Geliebten-Testamente, 1971, ist mir erst nach Einreichung meiner Habilitationsschrüt bekannt und zugänglich geworden. Ich freue mich, daß meine Ergebnisse mit denen Simshäusers im wesentlichen übereinstimmen. Abweichend von Simshäuser habe ich mich jedoch bemüht, die Ergebnisse meiner Arbeit für einzelne konkrete Fälle sittenwidriger Testamente auf einen umfangreichen "Allgemeinen Teil" zu gründen. Zudem beschränkt sich meine Schrift nicht auf das "Geliebten-Testament", sondern berücksichtigt vor allem auch Verstöße gegen die vom Grundgesetz geschützten Freiheitsrechte und den Gleichheitssatz. Zu herzlichem Dank bin ich zunächst meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Ulrich von Lübtow verpflichtet. Er hat nicht nur die Publikation der Arbeit durch ihre Aufnahme in die von ihm herausgegebene Abhandlungsreihe ermöglicht, sondern auch in seinem für die Habilitationsschrift erstatteten Gutachten, in Gesprächen und mancherlei Hinweisen viele klärende Gedanken beigetragen. Nicht zuletzt war mir seine kürzlich erschienene zweibändige systematische Darstellung des Erbrechts immer wieder ein unentbehrlicher Ratgeber in den Grundfragen dieser Materie. Besonderer Dank

Vorwort

6

gebührt schließlich Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Broermann, der die Arbeit trotz ihres Umfangs in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Berlin, im Oktober 1972

Georg Thielmann

Inhalt Einleitung. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil

Der Begriff der Sittenwidrigkeit im allgemeinen. Sein Verhältnis zu den Grundreehtswerten A. "Außerkonstitutionelle" Versuche zur Konkretisierung des Begriffs der. Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

B. Insbesondere: Art. 48 Abs. 2 des Testamentsgesetzes vom 31. 7. 1938

42

C. Die Einbeziehung rechtlicher Maßstäbe in den § 138 Abs. 1 BGB

44

D. Die "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . .

48

I. Verfassungstext -

Meinungsstand -

historische Situation . . . .

48

li. Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte gemäß Art. 1

Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

III. Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte und der Anwendungsbereich des § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Die prinzipielle Unentbehrlichkeit des § 138 Abs. 1 BGB als

Transponierungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Abgrenzung der Intensität der Drittwirkung durch die Generalklauseln des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die besondere Rolle der Grundrechtsträger als Privatrechtssubjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das verfassungsrechtliche Maß für die Intensität der Grundrechtsbindung im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 1 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes als Ausgangspunkt ..... .... ................... :. . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Kernbereich der Grundrechte gemäß Art.19 Abs. 2 des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sittenwidriges Verhalten im "Kernbereich" der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Besonderheiten der Grundrechtsbindung bei letztwilligen Verfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Anwendungsbereiche des § 138 Abs. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine, die Rechtsordnung tragende Prinzipien . . . .

54 56 56 58 61 61 62 70 76 76 77

8

Inhalt b) Rechtserhebliche Bereiche der guten Sitten außerhalb der Grundrechtswerte und sonstiger allgemeiner, die Rechtsordnung tragender Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 138 Abs.1 BGB in seiner Eigenschaft als Generalklausel . . . . . . . . bb) Verbot sittenwidrigen Verhaltens durch Art.1 Abs. 1 des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verbot sittenwidrigen Verhaltens durch Art. 2 Abs.1 des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Beschränkung der speziellen Grundrechte durch das .,Sittengesetz" gemäß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes ee) Das Problem der den Grundrechten immanenten Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Die Menschenwürde als Anhaltspunkt für immanente Schranken der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Der vom Grundgesetz nicht berührte Zuständigkeitsbereich des§ 138 Abs.1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kumulative Konkurrenz von .,schlichter" Sittenwidrigkeit und Grundrechtswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E. § 134 BGB und die Wirkung der Grundrechtswerte im Privatrecht . .

78 78 78 79

79 81 82 84

87 89

Zweiter Teil

Der Tatbestand der sittenwidrigen Verfügungen von Todes wegen im aUgemeinen A. Die sittenwidrigen Faktoren . . . . . . . . . . • . . . . . . . . . . . . . • . . . . . . . .. . .. .. .

90

I. Die Fonnel der Rechtsprechung . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. .. . . . . . . . . 90 II. Sittenwidriger Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Sittenwidrigkeit wegen des Gegenstandes der Verfügung . . 90 2. Sonstiger sittenwidriger Inhalt . .. . .. . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . 93 III. .,Gegenleistung" als Zweck einer Verfügung von Todes wegen . . 95 1. Zweck und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2. Die rechtlichen Mittel zur Herbeiführung einer .,Gegenleistung" . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erbvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erbverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gemeinschaftliches Testament ... . . ..................... d) Gewöhnliches Testament . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . e) Insbesondere: Auflage und Testamentsvollstreckung ... . aa) Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Testamentsvollstreckung ............................ f) Vergleich der rechtlichen Interuiität der verschiedenen Mittel zur Zweckerreichung . . . . . . . .. . . .. .. .. .. . . . . .. .. .

95 99 99 104 108 110 112 112 113 115

Inhalt

9

3. Tatsächliche Einwirkungen .... , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4. Kumulierung von Zwecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5. Besonderheiten bei der Enterbung, der Pflichtteilsentziehung und der Beseitigung erbrechtlicher Zuwendungen . . . . . . . . . . 128 IV. Das Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Zweck und Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

2. Einwirkungen des Motivs auf die Verfügungen von Todes wegen ............ .. ...................................... a) Die Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ermittlung des Motivs ... ...... .............. . .... c) Zulässigkelt und Nützlichkeit der Motiverforschung . . . . . . d) Teilweise Sittenwidrigkeit ..... ...... ............. , . . . . .

133 133 139 141 147

3. Kumulation von Motiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . • . . . . . 148 4. Kumulation von Zwecken und Motiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 V. Der für die Beurteilung maßgebende Zeitpunkt .............. 154 1. Änderung der tatsächlichen Verhältnisse .................. 154

2. Änderung der sittlichen Anschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 VI. Weitere subjektive Tatbestandsmerkmale ...................... 165 1. Kenntnis der Umstände, aus denen sich die Sittenwidrigkeit

ergibt .... . ......... .......... .............. .. ............ 165

2. Bewußtsein der Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 VII. Die Beweislast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 B. Die rechtliche Auswirkung des sittenwidrigen Faktors auf die Ver}ü.gung von Todes wegen .........................•................ 171

I. Die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 li. Nichtigkeit und Umdeutung bei sittenwidrigen Motiven und nicht zum Inhalt der Verfügung gewordenen Zwecken ........ 173

1. Vollständige Nichtigkeit und das Problem ihrer Abmilderung 173 2. Teilnichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 3. Umdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 III. Bedingungen 1. Nichtigkeit

191 191

2. Umdeutung .......................... .. ................... 194 3. Insbesondere: Die ,condicio in praesens vel in praeteritum collata' ............ .. ....... . ................ . ............. 196

10

Inhalt IV. Zuwendungen unter einer Auflage ..... . ...................... 197 V. Verbindung einer unter Lebenden begründeten Verpflichtung mit einer erbrechtliehen Zuwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 VI. Zwecksanktion durch Testamentsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . 199 VII. Auswirkung der Nichtigkeit auf andere Verfügungen .......... 199

Dritter Teil

Einzelne Tatbestände sittenwidriger Verfügungen von Todes wegen A. Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

I. Abgrenzung des Problemkreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 II. Die Benachteiligung von Familienangehörigen zugunsten von Familienfremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 a) Die prinzipielle Drittwirkung des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes ................................................ 201 b) Der Umfang der Privatrechtswirkung ............ .... .. 203 2. Das Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 3. "Schlichte" Sittenwidrigkeit gemäß § 138 Abs.1 BGB .. .... a) Benachteiligung der gesetzlichen Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuwendungen an eine Geliebte .................. ..... ... aa) Das Liebesverhältnis als Grund der Zuwendung . . . . bb) Anbahnung und Fortsetzung eines Liebesverhältnisses als Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Aus einem Liebesverhältnis des Erblassers entspringende Motive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Wechselbeziehungen zwischen Motiven und Auswirkungen ............... . ....................... . . ... c) Zuwendungen an nichteheliche Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zuwendungen an die Kinder selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) "Verschleierte" Zuwendungen an die Mutter des nichtehelichen Kindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

213 213 215 215 218 219 231 248 248 252

III. Freiheitsbeschränkungen im Bereich von Ehe und Familie . . . . 254 B. Zuwendungen unverheirateter Erblasser ohne eheliche Kinder aufgrund von Liebesverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

I. Zuwendungen an die Geliebte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 II. Zuwendungen an gleichgeschlechtliche Partner . . . . . . . . . . . . . . . . 270 III. Zuwendungen an nichteheliche Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Inhalt

11

C. Beeinträchtigung von Freiheiten außerhalb des Bereichs von Ehe

und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

I . Allgemeine Vorbemerkungen ........ ... ............. .... ... . 273 II. Die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 III. Die Religions- und Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 IV. Freiheiten des Art. 5 des Grundgesetzes . .. ........... . . . ..... 283 V. Die Vereinigungsfreiheit .... .. ........ ... ............ .. . . . . . .. 285 VI. Die Freizügigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 VII. Die Berufsfreiheit und die Freiheit der Wahl der Ausbildungsstätte ............. .. ............... ... . . .............. .. ..... 289 VIII. Die Freiheit der Wahl der Staatsangehörigkeit ................ 295 IX. Die Freiheit in sonstigen Fragen der persönlichen Lebensführung ................................................ .. .. .... 296 D. Das Gleichbehandlungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 I. Einteilung der Tatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 II. Benachteiligung oder Bevorzugung der an der Verfügung direkt Beteiligten wegen ihrer Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 III. Der Bedachte oder Enterbte als Werkzeug einer vom Erblasser bezweckten Diskriminierung ... . ........................ .... .. 310 IV. Benachteiligung wegen Nichtvornahme vom Erblasser für richtig gehaltener Differenzierungen .......... . ............. . . .. .... 314 E. Die Sozialstaatsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316

F. Sonstige Fälle der Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 I. Kaptatorische Verfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 II. Ausnutzung der Todesnot des Erblassers

318

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Einleitung. Die Problemstellung Eine Reihe von Entscheidungen des BGH1 hat in der Literatur! Stellungnahmen zu den Problemen des sogenannten Geliebten-Testaments hervorgerufen. Sie geben Anlaß, die im Zusammenhang mit sittenwidrigen Verfügungen von Todes wegen auftauchenden Fragen auf einem breiteren Hintergrund zu erörtern. Die Problematik dieses Gebietes stellt sich zunächst allgemein im Hinblick darauf dar, daß der Begriff der Sittenwidrigkeit gemäß § 138 Abs. 1 BGB3 näher bestimmt werden muß. Die Vorschrift wird zuweilen abwertend als Leerformel bezeichnet'. Von einer Leerformel kann man indessen nur dort sprechen, wo eine Aussage oder eine Regelung keinen oder keinen näher angehbaren Sach- oder Normgehalt besitzt11, wo sie in Wahrheit "völlig nichtssagend und irrelevant" ist8 • Mag§ 138 Abs. 1 BGB auch zu seiner Konkretisierung des Rückgriffs auf Maßstäbe bedürfen, die außerhalb der Privatrechtsordnung, ja teilweise sogar außerhalb der Rechtsordnung überhaupt liegen, so kann doch nicht gesagt werden, daß die Vorschrift keine Anhaltspunkte dafür bietet, wo nach solchen Maßstäben gesucht werden muß. Die Auffassung des § 138 Abs.1 BGB als "Leerformel" birgt zudem praktisch die Gefahr in sich, diese angebliche Leere auf mehr oder t BGH NJW 1968, 932 ff.; BGHZ 52, 17 ff.; BGHZ 53, 369 ff., (ergangen auf Vorlagebeschluß des KG FamRZ 1960, 670 ff. Leitsätze auch in NJW 1968,

2032).

z Zu BGH NJW 1968, 932 ff.: Müller- Freienfels, JZ 1968, 441 ff.; Breithaupt, NJW 1968, 932 f.; Speckmann, JZ 1969, 733 ff. Zu BGHZ 52, 17 ff.: Reinicke, NJW 1969, 1343 ff.; Bosch, FamRZ 1969, 327 f.; Thilo Ramm, JZ 1970, 129 ff. (scharf ablehnend; dagegen Speckmann, JZ 1970, 401 ff.). Zu BGHZ 53, 369 ff.: Speckmann, NJW 1970, 1839 f. Allgemein über die neuere Rechtsprechung zum Geliebten-Testament Steffen, DRiZ 1970, 347 ff.; Husmann, NJW 1971, 404 ff.; Speckmann, NJW 1971, 924 f . 3 Wegen der Vorläufer der Bestimmung im früheren Recht (C. 8, 38, 4; I 4 § 7 ALR; art. 1131 Cod. civ.) vgl. Staudinger- Coingu, 1957, Randnr. 2 zu § 138; Spieß, Unsittliche Bedingungen in letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 33. Zur historischen Entwicklung im übrigen eingehend Arzt, Die Ansicht aller billig und gerecht Denkenden, Diss. Tübingen 1962, 3 ff.; Flume, Allgemeiner Teil II, 1965 § 18, 1, S. 363 f., 365; § 18, 2, S. 367 f.; Helmut Schmidt, Die Lehre von der Sittenwidrigkeit der Rechtsgeschäfte in historischer Sicht, 1973; auch Spieß, a.a.O. ' So durch Arzt, 2 f.; Teubner, Standards und Direktiven in ßeneralklauseln, 1971, 115. II Topitsch, Probleme der Wissenschaftstheorie, Festschrift Kraft, 1960, 233 f. &

Topitsch, 244.

14

Einleitung

weniger bequeme Weise willkürlich auszufüllen. Anders sieht es aus, wenn man sich darum bemüht, seinen Tatbestand anhand der von der Vorschrift selbst aufgestellten Richtlinie zu konkretisieren. Das Ausweichen in eine Generalklausel- nicht Leerformell-ist dem Gesetzgeber angesichts der Vielfalt7 und Wandelbarkeit8 der menschlichen Verhältnisse nicht zum Vorwurf zu machen9 • Es stellt der Rechtswissenschaft aber die Aufgabe, nach praktikablen Anhaltspunkten zu suchen, die eine möglichst weitgehend rational kontrollierbare Entscheidung des Einzelfalls gestatten10• Angesichts der immer wieder aller juristischer Phantasie spottenden Mannigfaltigkeit menschlicher Verhältnisse und Interessen muß es naiv oder aber vermessen erscheinen, ein vollständiges, ohne jeden generalisierenden Begriff auskommendes System der Nichtigkeitsgründe bei der Sittenwidrigkeit aufstellen zu wollen. Es soll aber versucht werden, durch Reduzierung des aufgrund der Erfahrung vorliegenden Materials auf möglichst genau abgrenzbare Falltypen und Begriffe dem Ideal rationaler Kontrolle und Vorhersehbarkeit der Entscheidungen näher zu kommen. Das Erfordernis der Konkretisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeitführt zu der Frage, wo Anhaltspunkte für die Bewältigung dieser Aufgabe gewonnen werden können. Dabei gilt es, einerseits der Gefahr zu begegnen, daß eine Generalklausel durch eine andere ersetzt wird11 , andererseits der Gefahr, daß allein faktische Übungen und Anschauungen mehr oder minder gewichtiger Bevölkerungskreise oder gar des Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, 1933, 58 f. s Darauf beruht der Vorwurf Hedemanns, 59, das "Avancieren" der Generalklauseln hänge mit "innerer Haltlosigkeit" zusammen. e Über den Wert der Generalklauseln im Sinne einer Förderung der "Beweglichkeit" des Rechts Hedemann, 60 ff. to Zur Gefährlichkeit der Generalklauseln ("bequemes Polster" im Denken und daraus erwachsende Rechtsunsicherheit sowie Willkür) ebenfalls Hedemann, 66 ff. u Wie dies in der berühmten, vor allem vom RG benutzten Definition geschehen ist, wonach die guten Sitten verletzt, was mit dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden unvereinbar ist, sich also mit dem in der Sitte, der Übung zutage tretenden Empfinden, gemessen an einem durchschnittlichen Maßstab, in Widerspruch setzt (RGZ 48, 114 [124]; 55, 367 [373] ; 73, 107 [113]; 80, 219 [221]; 120, 142 [148]; RG LZ 1927, 531 [533]; RG JW 1929, 33 [34]; übernommen von BGHZ 10, 228 [232]; 17, 327 [332]; BGH LM Nr. 1 zu § 138 [Cs] BGB; BGH NJW 1970, 2017). Nach RGZ 58, 214 (218) sind die "allgemeinen Anschauungen über Anstand und Redlichkeit" maßgebend, in RGZ 128, 92 (96) wird auf das "Anstandsgefühl der Volksgenossen mit einer dem Durchschnitt entsprechenden billigen, gerechten und anständigen Gesinnung" abgestellt, in RGZ 150, 1 (4) dann auf "das seit dem Umbruch herrschende Volksempfinden, die nationalsozialistische Weltanschauung". - Soweit ersichtlich, taucht die Formel vom "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" zuerst in den Motiven zum BGB II, 727 (aus dem Jahre 1888) auf. - In BGHZ 52, 17 (20) wandelt sich die Formel zum "Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden". Vgl. dazu unten, S. 44 ff. 7

Die Problemstellung

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Richters selbst zur Ausfüllung des vom Gesetzgeber erteilten Blanketts verwendet werden. Die Nutzlosigkeit des ersten liegt auf der Hand, der zweite Weg würde der normativen, nicht auf Vermittlung von Erkenntnissen des Seins, sondern des Sollens ausgerichteten Funktion des Rechts kein Genüge tun. Es stellt sich also die Frage nach den Grundwerten unserer staatlichen Lebensordnung, die jedoch im Rahmen einer das geltende Recht behandelnden Arbeit nicht spekulativ das zu Wünschende oder Künftige zum Gegenstand haben darf, sondern sich an die hic et nunc geltenden Wertentscheidungen halten muß, wie sie vor allem in den Grundrechtsartikeln des Grundgesetzes zum Ausdruck kommen. Der Komplex der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte wird also zu berücksichtigen sein, aber auch die Frage, ob damit die hier in Frage kommenden Werte erschöpfend erlaßt sind. Erhebt sich die Frage der Konkretisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeit zunächst für die Rechtsgeschäfte allgemein, so bietet der erbrechtliche Charakter der vorliegend zu untersuchenden Tatbestände eine Besonderheit: Anders als beim Normaltyp der Zuwendung unter Lebenden fehlt es oft an der sofort und eindeutigerfaßbaren Abhängigkeit von einer "Gegenleistung". Mag diese beim Erbvertrag und vor allem bei bedingten oder mit einer Verpflichtung des Bedachten (Auflage!) verbundenen Verfügungen noch einigermaßen klar in Erscheinung treten, so verflüchtigt sie sich häufig zu einer nur mit gewisser Mühe eruierbaren Motivation des Erblassers, in der Freigebigkeit, Dankbarkeit, PflichtgefühP 2 nähere Anhaltspunkte abgeben, die neben der objektiven Auswirkung der Zuwendung für die Frage der Sittenwidrigkeit zu berücksichtigen sind. Somit ergibt sich der Gang der Untersuchung: Nach Feststellung des Kreises der Werte, die für die Abgrenzung des Begriffs der Sittenwidrigkeit im Recht der Verfügungen von Todes wegen maßgebend sind, muß erörtert werden, inwieweit diese Werte durch den äußeren und inneren Tatbestand der Verfügungen, aber auch durch ihre Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten verletzt werden. Dabei soll zunächst der Tatbestand der verwerflichen erbrechtlichen Verfügungen allgemein betrachtet werden und dann einzelne konkrete Fälle sittenwidriger Verfügungen.

t2 Zu dieser Unterscheidung der Motivation Lange, Erbrecht, 1962, § 34 V 2 c, S. 377; Müller-Freienfels, JZ 1968, 446; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 308 ff.

ErsterTeil

Der Begritl der Sillenwidrigkeit im allgemeinen. Sein Verhältnis zu den Grundrechtswerten A. "Außerkonstitutionelle" Versuche zur Konkretisierung des Begriffs der Sittenwidrigkeit Die meisten "vor-" und "außerkonstitutionellen" Versuche1 , den Begrüf der guten Sitten- und damit als seine Kehrseite den der Sittenwidrigkeit - näher zu bestimmen, orientieren sich an zwei außerrechtlichen Faktoren2 • Der eine ist ethisch-normativ, indem er auf die Moral, Sittlichkeit oder Sitte abstellt, der andere orientiert sich an der faktischsoziologischen Geltung der Normen. Was den ethisch-normativen Faktor anlangt, so dominiert im modernen Schrifttum die Ansicht, der Begriff der guten Sitten im § 138 Abs. 1 BGB habe nicht die Sitte im Sinne des billigenswerten äußeren Lebensbrauchs, also der Konvention, zum Gegenstand, sondern die Moral oder Sittlichkeit als innere ethische Richtschnur menschlichen Verhaltens3 • Diese Meinung herrschte im ersten Jahrzehnt des BGB indessen keinesfalls so unumschränkt wie heute. Offenbar unter dem Einfluß von Iherings' haben sich damals viele Autoren für die wörtliche Interpretation des Terminus "Sitten" ausAlso die nicht an die Wertordnung des GG anknüpfenden. Vgl. zu dieser Dualität Staudinger- Coingu, 1957, Randnrn. 3-5 zu § 138; Meyer- Cording, JZ 1964, 274 f., der die hier faktisch genannte Komponente als "formell" oder "formalistisch" einstuft. Das ist sie vom Standpunkt der allgemeinen philosophischen Ethik zwar auch. Die hier bevorzugte Bezeichnung läßt aber bereits erkennen, worin die Formalistik konkret besteht. a von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II 2, 1918, § 70, S. 23; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil II15, 1960, § 191 Fußn. 5, S. 1164; Krüger.- Nieland im RGRKll, 1959, Anm. 1 zu § 138; Staudinger- Coingu, 1959, Randnr. 3 zu § 138; Lebmann- Hübner, Allgemeiner TeiiUI, 1966, § 29 IV 1, S.199; Arzt, 4; Meyer- Cording, JZ 1964, 273 f., mit eingehenden Darlegungen zu dem Verhältnis von Sitte und Sittlichkeit, auch unter historischen Gesichtspunkten; Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 591. Vgl. im übrigen Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 190 ff. Die Abhandlung betrifft das Wettbewerbsrecht. Ihre eingehende Darstellung der in Literatur und Rechtsprechung zum Begriff der guten Sitten vertretenen Ansichten würde eine erneute erschöpfende Ausbreitung des Stoffes zu einer bloßen Wiederholung degradieren. • Der Zweck im Recht na, 1916, 189 ff. t

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gesprochen5 • Hermann Herzog' etwa, der sich mit der Frage "Sitte oder Sittlichkeit" besonders eingehend auseinandersetzte, kam zu der Überzeugung, das Recht verlange etwas Unmögliches, wenn es ein die innere Gewissenshaltung betreffendes Gebot aufrichte. Das Recht habe nur äußeres Verhalten zum Gegenstand, könne deshalb auch nur an Normen anknüpfen, die wie das Recht selbst ebenfalls auf das äußere Verhalten abstellten7. Einen modernen Nachfolger hat Herzog in Larenz8 gefunden, der mit dem Ziel der Eliminierung des subjektiven Elements beim Sittenverstoß zwar an der ethischen Qualifizierung der guten Sitten festhält, aber nur im Sinne einer "einfachen Sittlichkeit der Sozialmoral"9. Er stellt diese der von moralischer Gesinnung getragenen "Hochethik" oder "strengen Ethik" gegenüber10• Die Anforderungen der "einfachen Sozialmoral" sind nicht nur im ganzen geringer, also leichter zu erfüllen als die der Hochethik, sondern verlangen auch nur ein äußeres Verhalten. Immerhin löst sich Larenz nicht völlig von wertenden Maßstäben, indem er die der Rechtsordnung eigenen Wertungsprinzipien einbezieht11 • Um zu der heute herrschenden Doktrin zurückzukehren, wonach § 138 Abs. 1 BGB die Moral oder Sittlichkeit und nicht die - äußerliche - Sitte anspricht, so steht die ethisch-normative Komponente im Vordergrund, wenn etwa der für die ältere Literatur dieser Richtung repräsentative12 von Tuhr13 § 138 als eine Verweisung auf "die Vors Vgl. die Zusammenstellung bei Hermann Herzog, Zum Begriff der guten Sitten im BGB, 1910 (Studien zur Erläuterung des bürgerlichen Rechts, herausgegeben von R. und F. Leonhard, 33. Heft), 2, 7 ff.; Schricker, a.a.O. 200 ff. Vor allem R. Leonhard, Der allgemeine Teil des BGB in seinem Einfluß auf die Fortentwicklung der Rechtswissenschaft, 1900, 372 ff. (vgl. Herzog, 8 f.) meinte, gegen die "guten Sitten" verstießen auch Handlungen, die zwar aus moralisch einwandfreien Beweggründen geschähen, aber nach den herrschenden Anschauungen über Anstandspflichten ein schlechtes Beispiel zu geben imstande wären. 6 Vgl. die vorstehende Fußnote. 7 Herzog a.a.O. 105 ff.; Zusammenfassung S. 114. s Juristen-Jahrbuch 7, 1966/67, 105 ff., im Anschluß an Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 128 ff.; 133 ff. (der sich allerdings nicht speziell mit § 138 BGB, sondern mit dem allgemeinen Verhältnis von Recht und Sittlichkeit befaßt). Dazu Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 214. Im gleichen Sinn wie Henkel und Larenz Steffen, DRiZ 1970, 349; Husmann, NJW 1971, 405. 9 Larenz, Juristen-Jahrbuch 7, 1966/67, 107. to a.a.O. 106 f. u a.a.O. 109 ff. Dazu unten S. 44 ff. 12 So Larenz, Allgemeiner Teil!, 1972, § 22 III a, S. 362. Übersicht über die Literatur der Jahrhundertwende bei Herzog, 2 ff. Auffällig ist die dort vielfach zu findende Hervorhebung der faktischen Komponente, so etwa durch Planck, DJZ 1907, 8: Dem "Ideal", den "subjektiven Ansichten" über die Sittlichkeit wird als maßgebend das jeweilige "Gesamtbewußtsein des Volkes" gegenübergestellt (Herzog, 3); im gleichen Sinne vor allem auch Oertmann (vgl. Herzog, 4) und Zitelmann (vgl. Herzog, 5). In dieser Erscheinung manüestiert sich das von unserem heutigen gesellschaftlichen 2 Thielmann

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schriften der Sittlichkeit (Moral)" bezeichnet. In der bekannten, vor allem vom RG14 verwendeten Definition, wonach es sich bei den guten Sitten um das dem "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" Entsprechende handele, liegt hingegen sprachlich das Schwergewicht auf einem Faktum, nämlich dem - tatsächlich vorhandenen - AnstandsgefühP6. Eine solche faktisch-soziologische Komponente ergibt sich auch aus den näheren Ausführungen von Tuhrst 6• Er meint die wirklich vorhandene, "herrschende" Moral der Allgemeinheit. In der Formulierung des RG steckt das ethisch-normative Element insofern, als nicht auf das Anstandsgefühl aller schlechthin, sondern nur auf das der "billig und gerecht Denkenden" abgestellt wird. Die Herrschaft der sittlichen Norm wird also eingeschränkt durch das Erfordernis ihrer faktischen Geltung; denn es erschien wenig praktisch, im täglichen Rechtsleben etwa die Forderungen der strengen philosophischen oder christlichen Ethik durchsetzen zu wollent7. Man begnügte sich also mit einer "Durchschnittsmoral", mit der Erzwingung eines "Minimums von sittlicher Handlungsweise"t8 • Auch im Schrifttum der Nachkriegszeit fand diese Inhaltsbestimmung der guten Sitten durch eine Verweisung auf die Normen der Ethik, meistens gemildert mittels Beschränkung auf das vom Durchschnitt für sittlich Erachtete, Anhänger wie Coingt9 , Nipperdey20 , Flume2t, Hübner22• Pluralismus noch nicht "angekränkelte" Bewußtsein einer homogenen Moral. Vgl. dazu unten S. 40. Sie darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die damaligen Autoren die Moralanschauungen nicht als bloßes psychologisch-soziologisches Faktum begriffen haben, sondern als - praktisch brauchbare - Realisierung von Sollensnormen. Es geht ihnen durchaus um den Wertaspekt, nicht um eine wertneutrale Registrierung irgendwelcher Anschauungen. Auch insofern findet sich also die ethisch-faktische Dualität in der Betrachtung wieder. t3 Allgemeiner Teil II 2, 1918, § 70, S. 22. Dort in Anm. 8 weitere Literatur der Zeit. t4 Vgl. oben Fußn. 11 auf S. 14. ts in RGZ 58, 214 (218) verschwindet das ethisch-normative Element ganz, und es bleiben nur die "allgemeinen Anschauungen über Anstand und Redlichkeit" übrig. RGZ 150, 1 (4) setzt mit Palmströmlogik das herrschende Volksempfinden einfach mit der nationalsozialistischen Weltanschauung gleich. t& Allgemeiner Teil II 2, § 70, S. 23 f.; vgl. Larenz ebd. t7 von Tuhr II 2, S. 23; Larenz ebd. ts von Tuhr II 2, S. 23; im gleichen Sinne RGZ 55, 367 (373); 58, 214 (217); 73, 107 (113); 150, 1 (4); BGHZ 10, 228 (232); Lebmann- Hübner, Allgemeiner Teilt&, § 29 IV 1, S. 199; Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 592. ts Staudinger - Coing, Randnrn. 3-5 zu § 138. 2o Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil llt5, § 191 I 1-2, S. 1164 f. 2t Allgemeiner Teil II, 1965, § 18, 1, S. 364 f. 22 Lebmann- Hübner, Allgemeiner Teilt&, § 29 IV 1, S. 199. H. Lange, Allgemeiner Teilt2, 1969, §53, 3, S. 329, übernimmt die Formel des RG, ohne ihr zu widersprechen. - Zur Einführung des "Durchschnittsmaßstabs" in der Rechtsprechung Arzt, 14 ff., vgl. im übrigen Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 159 ff.

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Weitere Abgrenzungskriterien ergeben sich daraus, daß nicht nur die Vorstellungen der Allgemeinheit schlechthin, sondern auch die bestimmter Bevölkerungskreise23 herangezogen werden müssen, wenn sich der betreffende Sachverhalt gerade in ihnen auswirkt. So kann etwa für ländliches Milieu ein anderer Maßstab gelten als in einer Großstadt24 , wenn auch die modernen Lebensumstände, insbesondere die Verkehrsverhältnisse und die sogenannten Massenmedien, zu einer immer stärkeren Nivellierung der Lebensweise und damit auch der Sitten und der Sittlichkeit beitragen. Beachtlich bleiben aber immer noch die besonderen Moralanschauungen mancher Berufe, etwa der Ärzte und Rechtsanwälte25. Diese Differenzierung darf indessen nicht dazu führen, daß bestimmte, an einer laxen Moral interessierte Kreise die Maßstäbe setzen26 • "Eigeninteresse" muß also bei der Ermittlung der Moralvorstellungen außer Betracht bleiben21• Als Kriterium ist schließlich noch zu berücksichtigen, daß es auf die sittlichen Anschauungen unserer Rechtsgemeinschaft und nicht auf die in der ganzen Welt oder die eines mehr oder weniger bestimmten abendländischen, europäischen oder atlantischen Kulturkreises ankommt28. Das schließt natürlich nicht aus, daß die Vorstellungen unseres "westdeutschen"29 Rechtskreises gleich oder ähnlich in anderen europäischen Staaten ebenfalls vorhanden sindso. 23 von Tuhr, Allgemeiner Teil II 2, § 70, S. 23 f.; Staudinger- Coingll, Randnr. 5 a zu § 138; BGHZ 10, 228 (232); Dürig in Maunz- Dürig- Herzogs, 1969, Randnr. 16 zu Art. 2 Abs. 1 GG mit Polemik in Fußn. 1 gegen die diesen Gesichtspunkt nicht genügend berücksichtigende Entscheidung BVerwGE 1, 303 (308). - Zu den Schwierigkeiten, den maßgebenden Personenkreis im Wettbewerbsrecht abzugrenzen, Meyer- Cording, JZ 1964, 274 f. 24 BGH JZ 1956, 279 (280); vgl. Dürig ebd. 25 von Tuhr, 24; Dürig ebd.; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil II15, § 191 I 2, S.1165 mit weiteren Beispielen sowie Belegen in Fußn. 11, der allerdings nicht auf die Anschauungen dieser Kreise, sondern auf die Vorstellungen der Allgemeinheit über die von diesen Kreisen zu verlangende Moral abstellt. Vgl. auch Larenz, Allgemeiner Teil!, 1972, § 22 III b 7, S. 372. 26 BGHZ 10, 228 (232); von Tuhr, 24; Enneccerus- Nipperdey, 1165. 21 Enneccerus- Nipperdey mit Fußn. 12; Dürig ebd. .28 Dürig, Randnr. 16 zu Art. 2 Abs. I GG. 29 Die Unterschiede der verfassungsmäßigen Sozial- und Wirtschaftsordnung der DDR schließen trotz formeller Fortgeltung des § 138 Abs. 1 BGB in beiden Teilen Deutschlands eine hier und dort gleichartige Konkretisierung der "guten Sitten" aus. Richtlinie für die "guten Sitten" sind in der DDR die Interessen der Arbeiter- und Bauernmacht (vgl. Posch, in: Das Zivilrecht der Deutschen Demokratischen Republik, Allgemeiner Teil, 1954, 300). In erster Linie verstoßen dagegen Elemente, die ihre ökonomische Position zur Durchkreuzung der Politik der Arbeiter- und Bauernmacht ausnutzen (Posch a.a.O.). Zur Rechtsprechung in der DDR aufgrund des § 138 Abs. 1 BGB Arzt, 20 f.; Pleyer, JR 1965, 241 ff. Zum Inhalt der Sittlichkeit nach marxistischen Anschauungen näher Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 220 ff. Das Fehlen einer einheitlichen, axiomatisierten Soziallehre im "Westen" verschließt hier den- einfachen Weg, die Interessenbewertung einer solchen Soziallehre zu entnehmen (wo-

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Beiden Elementen des Begriffs der guten Sitten, dem ethisch-normativen wie dem faktisch-soziologischen, haften indessen Schwächen an, die sie als wenig geeignet für rational kalkulierbare Entscheidungen erweisen. Zunächst das ethisch-normative Element. Die Normen der Ethik - und damit auch die Kriterien für die Abgrenzung der "billig und gerecht31 Denkenden" -sind nirgends kodifiziert. Alle genannten Richtlinien dienen nur der Abgrenzung, aber nicht der Herleitung dieses Normenkomplexes. Ein philosophisches Zweitstudium würde die meisten Richter und anderen Anwender des Rechts sicherlich überfordern - ganz abgesehen von seiner Nützlichkeit; denn vor allem gibt es in der Philosophie nicht die Ethik, sondern eine Vielzahl von Lehren32, die jede für sich behaupten, die wahre zu sein. Der Ausgang eines Prozesses soll aber nicht davon abhängen, ob gerade ein dem "christlichen Abendland" zugetaner oder mit dem Marxismus liebäugelnder Richter entscheidet. Die Beseitigung dieses Synkretismus durch eine die moralischen Gesetze erlassende höchste Instanz wie eine Kirche oder eine Partei scheidet für die gegenwärtige, dem Ideal des Pluralismus wenigstens in Grenzen huldigende Allgemeinheit aus33 . bei die Kategorie "Bewertung" auf die DDR-Verhältnisse natürlich nur mit Vorbehalt anzuwenden ist, da es sich nach dortiger Auffassung um die Realisierung eines zwangsläufigen "gesellschaftlichen" Prozesses handelt). Vgl. zu den Maximen des DDR-"Privat"-Rechts ferner Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht/Allgemeiner Teil II, 1969, § 18, S. G 428 ff. (dort auch, warum man von einem "Privat"-Recht in der DDR eigentlich nicht sprechen kann). - Zum Recht als Produkt und Instrument der KPdSU, insbesondere zur Aufgabe der Generalklauseln im sowjetischen Recht, Lücken zwischen Politik und "hinterherhinkendem" formellen Recht zu schließen, Norbert Reich, ZRP 1970, 279 ff. (280). 30 BGH St 4, 1 (6); Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, 1; MeyerCording, JZ 1964, 274, meinen, es werde sich "in der Regel" um moralische Grundanschauungen handeln, die wegen der Verbundenheit der gesamteuropäischen Kultur dem gesamten westeuropäischen Kulturkreis eigen sind. Wie vorsichtig man mit solchen Urteilen sein muß, zeigt vor allem die herrschende Moralauffassung mancher südeuropäischer Länder in Fragen der Familie und der geschlechtlichen Beziehungen sowie des religiösen Bekenntnisses. Schweden, Sizilien und Spanien kann man hier gewiß nicht über einen Kamm scheren! Zur Sittenwidrigkeit des Testaments zugunsten eines Ehebruchspartners nach österreichischem Recht Weiser, Jur. Blätter

1973, 1 ff.

31 Wörtlich genommen handelt es sich insoweit um eine Rückverweisung auf einen Teil des Rechts selbst. Vgl. dazu unten S. 44 ff. und S. 77. Wahrscheinlich sind mit den "gerecht Denkenden" Leute gemeint, die sich ethischer Prinzipien außerhalb des positiven Rechts bewußt sind. 32 Dazu eindrucksvoll Weischedel, Recht und Ethik2, 1959, 23; Arzt, 30 ff.; vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, 610; Breithaupt, JZ 1964, 284; Thommen, Ein Beitrag zur Lehre vom Begriff der guten Sitten im schweizerischen Privatrecht, Diss. Zürich 1954, 96. 33 Das wird heute selbst von christlicher Seite zugestanden. Vgl. Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung, zur öffentlichen Diskussion über die Reform des Eherechts und des Strafrechts, herausgegeben von Julius Kardinal Döpfner und Landesbischof D. Hermann Dietzfelbinger, 1970, 11.

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Zudem sei die Bemerkung erlaubt, daß alle Philosophie auf dem Gebiet der Ethik vom Gesichtspunkt der juristischen Alltagspraxis bisher im Formalismus stecken geblieben ist. Sie bemüht sich um W ~ge, konkrete Einzelergebnisse zu erreichen, endet aber schließlich doch immer in einer Verweisung auf Fakten. Der Vorwurf der formalistischen Weiterverweisung, den ein für die "Rückkehr zum ethischen Standard" plädierender Jurist wie Meyer- Cording34 der ethischen Methode Kants macht, dürfte nach dem heutigen Stand der Ethik für jedes juristisch-praktisch brauchbare Verfahren der Ermittlung der "guten Sitten" unvermeidlich sein. Gewiß ist das Postulat einer materialen W ertethik35 theoretisch nicht von der Hand zu weisen. In der juristischen Praxis verflüchtigt sie sich jedoch zu der Mahnung, die Bedeutung der ethischen Prinzipien anhand der Einzelfälle "behutsam" zu entwickeln, sich von Vernunft und Gewissen leiten zu lassen und sein Gewissen dazu "anzuspannen"ae. Ein Anhänger der Existenzphilosophie wie Arzt kommt ebenfalls nicht umhin, nach Erschöpfung objektiver Kriterien, nämlich der Natur der Sache, der in der "Rechtsgemeinschaft" und in der Rechtsprechung vertretenen Ansichten sowie der Praktikabilität der Entscheidung vom Richter das Wagnis einer "existentiellen Entscheidung" zu verlangen37 •

Am ehesten könnte die Frage nach den ethischen Prinzipien noch aus der Naturrechtsdiskussion beantwortet werden38 • Als bleibender Bestand von Ansatzpunkten für übergeschichtlich verbindliche Werte der Ethik39 erweisen sich nach heutiger kritischer Erkenntnis die Personhaftigkeit des Menschen, seine Angewiesenheit auf den Mitmenschen 34 JZ 1964, 275. Dazu Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 214 ff. 35 So Meyer - Cording, JZ 1964, 275, unter Berufung auf die Ontologen

Max Scheler und Nicolai Hartmann. Kritisch zu der auf der phänomenologischen Methode aufbauenden materiellen Wertethik im Recht Wieacker, JZ 1961, 338 f.; Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, 604 mit Fußn. 79; Evers, JZ 1961, 245 f.; beide unter Berufung auf Weischedel; Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, 1971, 17 ff. Zu der an die Ontologie, besonders Nicolai Hartmanns, anknüpfenden Phänomenologie im Recht allgemein Larenz, Methodenlehre2, 1969, 118 ff. 36 Meyer- Cording, JZ 1964, 277 f., unter Berufung auf Wieacker, Zur rechtlichen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, 13 ff.; Gesetz und Richterkunst, Vortrag 1958, 10 ff.; Esser, Grundsatz und Norm!, 1964; Larenz, Methodenlehret, 1960, 192 ff. (2. Aufl. 1969, 260 ff.) sowie BGHSt 4, 5. Für den historischen Aspekt des Problems der Werttindung Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 586 ff.; Larenz, Methodenlehre2, 132 ff., beide mit weiterer Literatur. 37 Arzt, 73 ff. (99); Als letzte Zuflucht stellt auch Larenz, Methodenlehre2, 267 f., auf das höchstpersönliche Urteil des Richters ab. ss Vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 15 ff., zur Rechtsprechung und Literatur in dieser Richtung. 39 Vgl. dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 609 ff. mit weiteren Angaben. Übersicht über die verschiedenen rechtsphilosophischen Bestrebungen zur Begründung des Naturrechts bei Evers, JZ 1961, 242 ff.

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und seine geschlechtliche Differenziertheit40. Die Herleitung eines detaillierten Nonnenkodex41 aus diesen Grundelementen kann indessen praktisch nur unter Zuhilfenahme weiterer, in ihnen noch nicht enthaltener Faktoren erfolgen. Der primitivste Weg wäre der unkritische Rückgriff auf Präjudizienu. Sie können nach unserem Rechtssystem indessen nur als "Diskussionsbeiträge" gewertet werden, die dem Richter zwar Hinweise auf beachtliche Gesichtspunkte zu liefern vermögen, die er bei seiner Entscheidung bedenken muß, diese aber nicht einmal in Teilfragen ersetzen43. Aber auch abgesehen von der unkritischen Übernahme von Präjudizien bleibt kein anderer Ausweg als die Heranziehung von Fakten, nämlich faktisch vorhandener Moralanschauungen - sei es der des Richters selbst oder der eines irgendwie abgegrenzten Kreises Dritter. Die ethisch-nonnative Komponente des Begriffs der guten Sitten entgleitet damit. Es wird nicht auf die Moral selbst, sondern auf eine über sie bestehende Anschauung, also ein psychologisch-soziologisches Faktum abgestellt. Wie schwer es ist, diesem Zwang zu entgehen, zeigen die Ausführungen Meyer- Cordings44. Es geht ihm beim Begriff der guten Sitten um die Rückkehr zum "ethischen Standard", und er sieht sie in der Beachtung eines dialektischen Prozesses verwirklicht, in dessen Verlauf die objektivierte Werttradition und die konkrete Entscheidung des einzelnen fortwährend wechselseitig aufeinander einwirken und den objektiven Bestand der Tradition weiterentwickeln45. Der objektivierte 40 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit4, 1962, 244 f.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 613 f. 41 Wieacker a.a.O. 612; auch Breithaupt, JZ 1964, 284, resigniert bei der Heranziehung des Naturrechts. Für die Herleitung des Sittengesetzes aus dem Naturrecht besonders auf strafrechtlichem Gebiet Weinkauff, NJW 1960, 1689 ff.; gegen ihn Evers, JZ 1961, 241 ff.; Wieacker, JZ 1961, 337 ff.; Breithaupt, JZ 1964, 284; NJW 1968, 932. Abschreckende Beispiele "naturrechtlieber" Gutachtertätigkeit und Rechtsprechung des BGH sind zusammengestellt bei Wieacker, JZ 1961, 344 f. 42 Nach H. Lange, Allgemeiner Tenu, 1969, §53 III 3 c, S. 329 (in die 12. Aufl. 1969 nicht übernommen), erfolgt die Ausfüllung des Begriffs der guten Sitten im Einzelfall "nach dem Präjudiziengebäude, das die Rechtsprechung . .. seit dem Inkrafttreten des BGB errichtet hat". Dies ist sicherlich eine zutreffende Beschreibung der Rechtswirklichkeit bei manchen Instanzgerichten, mehr aber nicht. Auf etwas höherer Ebene sieht die Orientierung an Präjudizien Siegers', FamRZ 1965, 594; 595 f. Danach orientiert sich der Richter an Vorentscheidungen, entwickelt aber durch sein eigenes Urteil die guten Sitten im Detail weiter. Seine Entscheidung wird dann wieder Grundlage späterer über sie hinausführender Erkenntnisse usw. Also ein dialektischer Prozeß aufgrund des faktischen Materials der Präjudizien und der Wertungen des Richters. 43 Näheres Arzt, 79 ff. 44 JZ 1964, 277 f. unter Berufung auf Larenz, Methodenlehre, 1960, 193 f. (in der 2. Aufl. 1969, S. 264 f.). 45 Im gleichen Sinne für die Entscheidung und Weiterentwicklung anband von Präjudizien Siegers, FamRZ 1965, 594, 595 f. Vgl. die vorstehende Fußn.

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Bestand der guten Sitten manifestiert sich auch für Meyer - Cording in "übereinstimmenden Wertvorstellungen" die "faktisch(!) anerkannt", in das subjektive Denken des einzelnen übernommen und auf die konkreten Fälle angewendet werden. Auch hier also letzten Endes die Zuflucht zu faktisch vorhandenen Überzeugungen - wobei es in diesem Zusammenhang dahinstehen kann, wie sich diese bilden, ob sie bloßes Produkt, "ideologischer Überbau", ökonomischer Verhältnisse sind oder eigenständige Werte darstellen. Noch Savigny48 konnte den Richter als Repräsentanten des Bewußtseins des "Volksgeistes" in Bezug auf Recht und Sitte hinstellen. Heute erscheint uns die Annahme einer solchen Unfehlbarkeit vermessen47. 46 Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft2, 1828, 12 (ebenso in der Ausgabe 1840). Dazu Arzt, 5. 47 Gegen die Erheblichkelt der Moralanschauungen des Richters (das gilt entsprechend für die eines jeden anderen Rechtsanwenders) von Tuhr, Allgemeiner Teil II 2, § 70, S. 23; Staudinger- Coingu, Randnr. 5 a zu § 138 (beide ausdrücklich gegen Hölder, AcP 73, 102 - dazu sogleich im Text); Wieacker, JZ 1961, 340 f.; 342 f.; Woesner, NJW 1964, 3; Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, § 18, 1, S. 364 f.; Eichmann, Die vergleichende Werbung in Theorie und Praxis, 1967, 54; Lebmann- Hübner, Allgemeiner Teill&, § 29 IV 1, S.199; Müller- Freienfels, JZ 1968, 442 f. (mit weiteren Zitaten); Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 216 f.; Husmann, NJW 1971, 405; 409; BVerwGE 10, 164; siehe auch Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht/Allgemeiner Teil II, 1969, § 44 III, S. G 452. Anders noch in der Gegenwart Völp, NJW 1968, 2098, und - vorsichtig - Breithaupt, JZ 1964, 284 f. Der Richter - so Breithaupt - soll aber stets berücksichtigen, was andere billig und gerecht Denkende meinen und danach streben, allgemeine Anerkennung zu finden (S. 285), Nach Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 379, verbirgt die "Anstandsformel" der Rechtsprechung eine vorwiegend vom Richter bestimmte Wertfindung. Thommen, Beitrag zur Lehre vom Begriff der guten Sitten im schweizerischen Privatrecht, Diss. Zürich 1954, 111 ff., hält das "Rechtsgefühl" des Richters für entscheidend. - Eine eigene Wertentscheidung billigt Larenz, Methodenlehre2, 1969, 265, 267 f., dem Richter zu (S. 265: " ... Wertverstehen des Richters stellvertretend für das der Gemeinschaft"), wenn allgemein gewordene Unsitten zu eliminieren sind und beim Fehlen jeglicher Maßstäbe für eine Konkretisierung der guten Sitten. Ähnlich will Meyer- Cording den Richter entscheiden lassen, wenn das "allgemeine Rechtsbewußtsein" mit Gruppenmeinungen im Widerspruch steht oder "wenn es keine Lösung bereithält". Zunächst zu Meyer- Cording. Im ersten Fall soll es bei ihm also doch auf das Bewußtsein der "Allgemeinheit" ankommen. Auch im zweiten Fall soll der Richter selbst als Repräsentant der Vorstellungen der Allgemeinheit hervortreten und diesen Geltung verschaffen. Wie er das tun soll, wenn das Bewußtsein der Allgemeinheit gerade "keine Lösung bereithält", bleibt unerfindlich. Bei einem solchen Vakuum fehlt es eben in Wahrheit an einer "guten Sitte", und demzufolge kann ihr auch nicht zuwidergehandelt werden. In RGZ 153, 294 (296), worauf sich Meyer- Cording beruft, handelte es sich darum, daß die Anschauungen ärztlicher Standesvertretungen nicht schlechthin für alle Ärzte und die Allgemeinheit verbindlich sind. Daß beim Fehlen jeglicher Maßstäbe nun einmal keine einschlägige "gute Sitte" vorhanden ist, muß auch Larenz gegenüber zu bedenken gegeben werden. Die Bekämpfung von "Unsitten", welche die Allgemeinheit nicht oder nicht mehr als solche betrachtet, kann nicht mehr Aufgabe des Richters sein, dem als Waffe nur eine Generalklausel zur Verfügung steht. Hier muß der

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Sie resultierte aber schließlich aus dem Umstand, daß es zu Savignys Zeiten tatsächlich eine einheitliche, "herrschende", allgemein gebilligte Moralanschauung gab48, von der man ohne weiteres annehmen konnte, daß sie dem Richter geläufig war. Spätere Zeiten begannen, dem Richter als unfehlbarem Medium der "Volksanschauung" zu mißtrauen49 • So stellte Hölder5° im Jahr 1888 noch auf die Moralanschauung des Richters ab, allerdings nicht nur auf sie, wie man den Äußerungen von Tuhrss1 und Staudinger - Coings62 vielleicht entnehmen könnte. Der Richter durfte nach Hölder weder seine Auffassung als maßgebend behandeln, wenn sie der herrschenden widersprach, noch die herrschende, wenn sie nicht mit seinem Gewissen vereinbar war. Das Gewissen des Richters sollte also als Filter für die herrschende Moralauffassung wirken. Eine ähnliche Kombination findet sich dann in den aus dem gleichen Jahre stammenden Motiven zum BGB63, wo es heißt, dem richterlichen Ermessen werde (durch § 106 des 1. Entwurfs) ein Spielraum gegeben, wie er bisher unbekannt gewesen sei; bei der Gewissenhaftigkeit des deutschen Richterstandes dürfe indessen darauf vertraut werden, daß Gesetzgeber Bollwerke errichten, wie es vornehmlich in den Grundrechten der Verfassungen geschieht. Wieacker, JZ 1961, 341: "Der Gesetzgebungsweg ist der legitime Schauplatz für den Kampf um die Einfügung neuer materialer Ethik in die geltende Rechtsordnung." - Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzision des § 242 BGB, 1956, 15, meint zur Anwendung der Generalklausel des § 242 BGB, sie enthalte neben dem kognitiven, logischen Urteilsakt auch volitive Elemente, es handele sich jedesmal um "punktuelle Rechtsneubildung", "law in the making". Wieweit das auch für § 138 Abs. 1 BGB gelten soll, wird nicht gesagt, geht vor allem nicht eindeutig aus der einschlägigen S. 13 der Abhandlung hervor. Praktisch wird kaum eine Entscheidung ohne volitives Element auskommen, je nachdem wie präzise der gesetzliche Tatbestand gefaßt ist. Anders als vielleicht die Formel von Treu und Glauben kann man das Abstellen auf die "guten Sitten" aber nicht als Aufforderung an den Richter begreifen, über das praktisch immer inhärente volitive Element hinaus sein persönliches Ermessen auf dem Gebiet der Ethik zu betätigen. Das hat nicht einmal Savigny sagen wollen. Der "Alles-oder-nichts"-Standpunkt des § 138 Abs. 1 BGB, der nur die Wahl zwischen Gültigkeit und (gänzlicher oder Teil-)Nichtigkeit kennt, eignet sich auch viel weniger zur volitiven Rechtsgestaltung durch den Richter als die hinsichtlich der Rechtsfolgen völlig elastische Formel von Treu und Glauben. 48 Vgl. dazu Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 216 f.: Früher war dem Richter der Moralkodex geläufig. Das änderte sich mit den Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Daher auch die Schwierigkeiten gewisser Bestrebungen unter dem Nationalsozialismus, dem Richter die Rolle als Sprachrohr eines - angeblichen - "Volksgeistes" zuzuweisen; vgl. dazu Gernhuber, Festschrift Kern, 1968, 174 f. 49 Dazu Arzt, 6 ff. so AcP 73, 102 f. st Allgemeiner Teil II 2, § 70, S. 23. 52 Randnr. 5 a zu § 138. 53 Mot. I, 211 f.

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die Vorschrift im "Ganzen und Großen nur in dem Sinne angewendet" werde, "in dem sie gegeben" sei. Schon das RG benutzt dann aber seit RGZ 48, 114 (124) vom 11. 4. 1901 die Formel von den billig und gerecht Denkenden, ohne eine Einschränkung durch das Richtergewissen anzudeuten. Der Richter als Repräsentant verschwindet also, und an seine Stelle treten die Repräsentierten54 • Moderne rechtssoziologische Zweifel an der Unvoreingenommenheit der Richter im Hinblick auf ihre soziale Herkunft, Erziehung und Ausbildung55 tragen aus anderer Richtung dazu bei, das Vertrauen in die Richtigkeit ihrer persönlichen Moralüberzeugungen zu zerstören. Mag hier auch ein Trend vorliegen, der darauf ausgeht, alles in Zweifel zu ziehen, so waren sich frühere Zeiten darüber im klaren, daß solche Zweifel im Kern durchaus berechtigt sein können. So verweist Keuk56 , was den Einfluß des religiösen Bekenntnisses des Richters anlangt, auf Kreittmayer57 • Bei der Beurteilung der Bedingung des Religionswechsels, so meint Kreittmayer, werde etwa der katholische Richter zwar die Bedingung, das katholische Bekenntnis für ein anderes aufzugeben, für verwerflich halten, nicht aber die Bedingung, den katholischen Glauben anzunehmen. Kreittmayer beruft sich dafür auf ein Responsum der juristischen Fakultät zu Ingolstadt. Die Ausschaltung der ethisch-normativen Komponente aus der Definition der guten Sitten führt folgerichtig zur Erweiterung des Kreises "aller billig und gerecht Denkenden" auf "alle". Es leuchtet ein, daß der Richter unmöglich das gesamte Volk der Bundesrepublik befragen kann58 • Nahe liegt jedoch der Gedanke, daß demoskopische Umfragen dem Richter das nötige Wissen über die Anschauungen der Allgemeinheit über das, was den guten Sitten entspricht, verschaffen könnten. So berichtete die Presse Anfang Dezember 197059 über eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach. Danach fanden 49 Ofo der Bevölkerung die in Illustrierten zu findenden sexuell aufreizend sein sollenden Bilder und Berichte abstoßend, 42 Ofo nahmen keinen Anstoß und 9 °/o waren unentschieden. Zur Ermittlung des Inhalts der guten Sitten im Wettbewerbsrecht (§ 1 UWG) wurde das auf demoskopischer Umfrage beruhende Sachverständigengutachten in der Literatur schon wieder54 Eine andere Frage ist es, inwieweit das RG nicht trotz der Formel in Wahrheit eigene Maßstäbe verwendet. Vgl. Arzt, 12 ff. (19). 55 Vor allem Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969; dazu Rasehorn, NJW 1970, 24 ff.; Weyrauch, Zum Gesellschaftsbild des Juristen,

1970.

FamRZ 1972, 11. Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum bavaricum civilem III, Neue Auflage 1821, 350 f. 58 Siegers, FamRZ 1965, 594; Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968, 51 f. 59 Vgl. z. B. "Die Welt" vom 1. 12. 70, S. 2. se

57

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holt empfohlen6°. Überhaupt kann man sagen, daß die Demoskopie im Recht des unlauteren Wettbewerbs und der Warenzeichen bereits eine nicht unerhebliche praktische Rolle spielt61, allerdings nicht, was gerade die Ermittlung der guten Sitten anlangt. Insofern ist es auch im Wettbewerbsrecht bei Anregungen der Literatur geblieben. So wollte etwa Rheinfels6l! zum Thema der Preisschleuderei darauf abstellen, was 900 von 1000 befragten Gewerbetreibenden für sittenwidrig halten. Noelle-Neumann- Schramm63 haben für Umfragen über Themen des Wettbewerbs die wissenschaftlich-methodischen Probleme aufgezeigt. Birke64 ist schließlich dafür eingetreten, Generalklauseln mit Durchschnittswertungen, die durch Repräsentativbefragungen ermittelt wurden, zu konkretisieren. Er hält dieses Verfahren vor allem deswegen für richtig, weil der Gesetzgeber, der sonst als Repräsentant der Volksmeinung fungiere, sich bei den Generalklauseln einer Wertung enthalten habe, weshalb der Richter im Wege gleichsam demokratischer Volksbefragung nach der "vox populi" entscheiden müsse. Die Bedenken gegen die Ermittlung des Inhalts konkretisierungsbedürftiger Generalklauseln für den Einzelfall durch demoskopische Umfragen reichen von prinzipieller Ablehnung bis zu Hinweisen auf praktische Hindernisse. So stellt das OLG Hamburgll' lapidar fest, das Sittengesetz (von den guten Sitten ist dort allerdings nicht die Rede) lasse sich "nicht mit wissenschaftlichen oder logischen Mitteln ergrünso Callmann, Der unlautere Wettbewerb!, 1932, 50; Reimer, Wettbewerbsund Warenzeichenrechta, 1954, 503 (in die 4. Auflage 1966 nicht übernommen); vgl. Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 199; auch Schricker erkennt an, daß die modernen demoskopischen Methoden zur Ermittlung der herrschenden Moralüberzeugungen geeignet sind (S. 218). Der Partei muß es seiner Ansicht nach auch gestattet sein, sich auf eine bereits vorliegende Ermittlung zu berufen. Allerdings - so Schricker - ist der Richter dann gehalten zu prüfen oder durch einen Sachverständigen prüfen zu lassen, ob diese Ermittlungen wissenschaftlich einwandfrei vonstatten gingen und vor allem, ob sie nicht durch neue Entwicklungen oder bloßen Zeitablauf überholt sind. 81 z. B. hinsichtlich der "Alleinstellung" einer Marke oder der Verkehrsgeltung von Warenzeichen. Vgl. Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, 1971, 10 f. Beispiele aus der Rechtsprechung: RGZ 167, 171 (177); BGH GRUR 1957, 426, (428); BGH NJW 1973, 1840 f.; OLG Harnburg NJW 1959, 106. Weitere Rechtsprechung bei Noelle-Neumann- Schramm, Umfrageforschung in der Rechtspraxis, 1961, 91; Teubner, 11 Fußn. 6-15. 8! WuW 1956, 785 ff.; zustimmend Kellmann, Grundsätze der Gewinnhaftung, 1969, 147. Dagegen Reimann, WuW 1957, 623; Meyer- Cording, JZ 1964, 274; Arzt, Die Ansicht aller billig und gerecht Denkenden, Diss. Tübingen 1962, 56, sowie die anderen bei Teubner, Standards und Direktiven, 33 Fußn. 228, Zitierten. 63 Umfrageforschung in der Rechtspraxis, 1961, insbesondere 19 ff., 33 ff., 76 ff. 64 Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968, insbesondere 45 ff., 48 f., 51, 59; vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 33,

108.

65

NJW 1972, 115 (116).

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den". Genauer werden solche Bedenken in der Literatur spezifi.ziert66 • Es wird auf den Wertpluralismus unserer Zeit67, auf die primitive Emotionalität des Urteils der Masse68, auf die Gefahren der Verwässerung ethischer Werte durch das Abstellen auf die "laxe Durchschnittsmoral"t9 oder die "Auslieferung" des Richters an die DemoskopieInstitute70 hingewiesen. Schon darin spiegeln sich zum Teil rein praktische Schwierigkeiten. So stellt sich das Problem des Wertpluralismus prosaisch in der Frage nach den Mehrheitsverhältnissen, die für das Verdikt der Sittenwidrigkeit entscheidend sein sollen, während bei der Frage nach der "Auslieferung" an die Demoskopie-Institute die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Umfrageergebnisse jedenfalls nach dem heutigen Stand der demoskopischen Wissenschaft und Praxis durchscheinen. Solche Zweifel werden zuweilen ganz offen ausgesprochen71 , und zwar näher dahin, daß die Kriterien der Auswahl der Befragten und der Bewertung der Stimmen noch nicht geklärt seienn, ganz abgesehen von der Unzuverlässigkeit der Interviewer73 . Bezweifelt wird indessen nicht nur die Verläßlichkeit der Umfragetechnik, sondern auch die Kompetenz der Öffentlichkeit zur Beurteilung komplizierter Einzelfallverhältnisse74. Ganz "handfeste" praktische Einwände werden gegen die Zuverlässigkeit von demoskopischen Umfragen schließlich aus den Gesichtspunkten der Prozeßökonomie75, genauer der Kosten der Umfragen78, hergeleitet. Hält man aus den geschilderten Gründen die demoskopischen Umfragen für ein ungeeignetes Instrument zur Ermittlung der guten Sitten, so bleibt als Ausweg nur, zwar nicht die persönliche Moralanschauung des Richters, wohl aber sein Wissen um solche herrschenden Anschauungen seiner Entscheidung zugrundezulegen. Dieses Verfahren befürwores Vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 33 f. mit Fußn. 229-233. Zu praktischen Bedenken auch OLG Köln WRP 1972, 269. 67 Esser- Stein, Werte und Wertewandel in der Gesetzesanwendung, 1966,

21.

Esser - Stein a.a.O. Eichmann, Die vergleichende Werbung in Theorie und Praxis, 1967, 45. 1o Arzt, 56. 71 Dafür zitiert Erbe!, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 83, ein nicht veröffentlichtes Urteil des AG Dortmund vom 15. 2. 57 (in einer Strafsache). Die Zweifel Sontheimers, "Der Monat", April 1964, 44 f., hinsichtlich des Wertes politischer Umfragen betreffen weniger die Zuverlässigkeit der Umfrageergebnisse als die daraus von den Veranstaltern gezogene Schlüsse. Über die Unzuverlässigkeit demoskopischer Ermittlungen im allgemeinen Gayer, Das große Verhör. Fug und Unfug der Demoskopie, 1969, passim, besonders 109 ff. 1z Erbe!, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 369 f. 73 Dazu Gayer, Das große Verhör, 65 ff. 74 Erbel ebd. 75 Erbel, 369. 78 Erbel, 368 f. 88 89

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tet ErbeF7 bei der Ermittlung des "Sittengesetzes", wobei der Richter nicht nur sein allgemeines Erfahrungswissen zugrundelegen solle, sondern sich auch anband der "Reaktion der Öffentlichkeit" ein Bild zu machen habe. Dabei soll er etwa in der Presse veröffentlichte Beschwerden und Leserbriefe, Pressekommentare und Äußerungen von "Repräsentanten der Allgemeinheit" berücksichtigen. Daß solche Stellungnahmen in privatrechtliehen Fragen - man denke etwa an die Beurteilung von Geliebten-Testamenten - nur ganz selten vorliegen werden, ist sicher. Im übrigen dürfen solche veröffentlichten Meinungen nur mit großer Vorsicht als repräsentativ angesehen werden. Sie können sehr wohl zum Beispiel von besonders abgestumpften oder überempfindlichen einzelnen stammen, wie ja überhaupt die Bedenklichkeit der Gleichsetzung von veröffentlichter und öffentlicher Meinung nicht besonders betont zu werden braucht. Aber auch das "allgemeine Erfahrungswissen" des Richters ist natürlich nicht unproblematisch. Die Gefahr bei seiner Verwendung besteht darin, daß der Richter unbewußt seine eigene Überzeugung an die Stelle der Ansichten anderer setzt78 • Oft wird der Richter ehrlich glauben, sich mit einer "herrschenden" Anschauung im Einklang zu befinden und auf diese Weise seine rein persönliche Wertung einfließen lassen. Nach alledem gibt es keine allseits befriedigende Lösung für die Ermittlung der guten Sitten. Es kann sich im Rahmen des zur Zeit Menschenmöglichen nur darum handeln aufzuzeigen, was die Demoskopie trotz aller gegen sie vorgebrachten Einwände für das hier untersuchte Gebiet zu leisten vermag und was der Richter auf sich selbst gestellt allein vollbringen muß. Dafür ist eine nähere Analyse der Elemente der guten Sitten und ihrer Funktion im Recht nötig. Nach dem Wortlaut des Ausdrucks gehören die "guten" Sitten zu den Sitten schlechthin. Damit man von einer Sitte sprechen kann, muß zunächst ein faktisch zu beobachtendes gleichförmiges Verhalten, eine "Gewohnheit" vorliegen79• Um die guten Sitten von den Unsitten abzu77 Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 373 ff. Zum Richter als "Sprachrohr" der Allgemeinheit vgl. auch die bei Erbel, 123 f., Zitierten. Erbel führt auf S. 83 ein nicht veröffentlichtes Urteil des AG Dortmund vom 15. 2. 57 in einer Strafsache an, wonach der Richter auf dem Gebiet der Sittlichkeit durchaus "hypothetische Fragen des Alltagslebens an Bürger stellen und beantworten" könne. Skeptisch dazu allerdings Erbel selbst auf

S.84.

78 Vgl. Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 199: Die Gerichte können das sittliche Bewußtsein aller billig und gerecht Denkenden gar nicht kennen und werden daher in Wahrheit selbst werten. Das muß indessen nicht immer so sein. Schricker stellt vornehmlich auf das Wettbewerbsrecht ab, wo in der Tat der Außenstehende oft nicht Bescheid weiß. 79 So schon Ihering, Der Zweck im Recht Il5, 1916, 19; M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft I', Ausgabe 1964, 21; vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 1971, 29 ff., 73 ff. mit weiterer Literatur.

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grenzen, ist außerdem die Vorstellung nötig, daß es sich bei diesen Verhaltensweisen um "richtiges", "gutes" Verhalten handeltll0 • Diese beiden Elemente werden üblicherweise mit Konformität und Legitimität bezeichnetst. Hinzuzukommen hat, damit man den guten Sitten den Charakter einer Verhaltensnorm zuschreiben kann, die Vorstellung, daß man sie befolgen soll (sogenannte Normativität)82 • Damit würden die guten Sitten ein fertiges außerrechtliches Normensystem darstellen, das der Richter für die Entscheidung von Rechtsfällen nur zu übernehmen brauchte83, und wobei ihm nur noch eine Kontrollfunktion hinsichtlich der Vereinbarkeit der außerrechtlichen Normen mit den zwingenden Rechtssätzen und den Wertmaßstäben der Verfassung zukäme84. Solche aus den drei Elementen Konformität, Legitimität und Normativität bestehenden außerrechtlichen Verhaltensnormen mögen im Erwerbsleben, vor allem auf dem Gebiet des geschäftlichen Wettbewerbs, recht häufig vorkommen. Es überrascht deshalb nicht, wenn gerade dort die Ermittlung von guten Sitten durch Umfragen verhältnismäßig häufig befürwortet wird. Die faktische Gleichförmigkeit des Verhaltens und die Vorstellungen der Betroffenen von der Legitimität dieses Verhaltens- alles Fakten- erscheinen der Ermittlung durch Umfragen prinzipiell zugänglich. Die Formulierung der Fragen, die Auswahl der zu Befragenden, die ganze Aufbereitung des Stoffes der Umfrage ("Operationalisierung") wäre dann eine wissenschaftliche Aufgabe für den Demoskopie-Spezialisten85 • Natürlich darf dieser den Richter nicht mit einem fertigen Umfrageergebnis abspeisen, sondern muß ihm die kritische Nachprüfung der Umfrage ermöglichen, so wie es Aufgabe eines jeden Sachverständigen im Prozeß ist, dem Richter nicht nur ein fertiges Ergebnis zu liefern, sondern ihn mit Gründen von dem gefundenen Ergebnis zu überzeugen. Hier muß sich der Richter so Ihering, Der Zweck im Recht ns, 22; M. Weber, ebd.; vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 29 ff., 75 ff. mit weiterer Literatur. "Richtig" darf hier allerdings nicht im Sinne von logisch-wertneutral verstanden werden, damit die - wertneutrale - Konvention ausgeschieden bleibt. Vgl. dazu unten S. 39. st Vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 78. s2 M. Weber a.a.O.; vgl. Teubner, 74ff. 83 In diesem Sinne Thommen, Beitrag zur Lehre vom Begriff der guten Sitten im schweizerischen Privatrecht, Diss. Zürich 1954, 246; M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967, 117; NJW 1966, 1549 ff.; Trappe, Die Rechtssoziologie Theodor Geigers, Diss. Mainz 1959, 288 ff.; Die legitimen Forschungsbereiche der Rechtssoziologie, Einleitung zu Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1964, 13 ff.; Zur Situation der Rechtssoziologie, 1968, 12 ff.; Ernst E. Hirsch, Kontrolle wirtschaftlicher Macht, 1958, 31; JZ 1962, 333 f.; Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966, 45; vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 9 f., 35 f. 84 Ernst E. Hirsch, JZ 1962, 334; vgl. Teubner, 9 f., 35 f. ss Zur "Operationalisierung" im einzelnen Noelle-Neumann- Schramm, Umfrageforschung in der Rechtspraxis, 1961, 19 ff.; Teubner, Standards und Direktiven, 79 ff.

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vor allem hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Umfragetechnik eine eigene Meinung bilden. Die Frage der Kosten einer solchen ErhebungS~~ wirft auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts keine besonderen Schwierigkeiten auf, da die Prozeßparteien zu den betroffenen Kreisen gehören und es ihnen daher zuzumuten ist, das Risiko eines einschlägigen Prozesses angemessen zu bewerten. Zweüel bestehen allerdings selbst in demoskopischen Fachkreisen darüber, ob auch das Element der Normativität im Wege der Umfrage ermittelt werden kann87 ; jedoch erscheint es auch hier wenigstens theoretisch nicht ausgeschlossen, daß die Vorstellungen der Beteiligten über die Verbindlichkeit einer Verhaltensweise demoskopisch ermittelt werden88 • Berechtigt sind die Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit, die Normativität zu ermitteln, allerdings in einem Punkt: Die Umfrage kann allenfalls Meinungen, Vorstellungen über die Geltung einer (außerrechtlichen) Norm offenlegen, aber niemals die Geltung selbst bewirken. Meinungsumfragen sind daher nicht geeignet, Normen zu setzen89• Der Meinung einer Person fehlt die Verbindlichkeit für andere90• Der Schritt von einer Erkenntnis über die Welt des Seins (Meinung) zu einer Norm kann nicht im logisch-erkenntnismäßigen Raum vollzogen werden, sondern erfordert einen originären Willensakt. Dies zeigt sich daran, daß keine logische Spekulation über die erforderliche Mehrheit, die für den positiven oder negativen Ausgang einer Umfrage entscheiden soll, zum Ziele führt. Es geht mit anderen Worten darum, ob etwa eine Mehrheit von 51 °/o91 der Befragten für die Annahme einer guten Sitte ausreichen soll oder - wie Rheinfels92 wollte - eine solche von 90 Ofo erforderlich ist, oder welcher dazwischen, darüber oder darunter liegende Prozentsatz93 maßgebend ist. Diese Frage kann nur durch Setzung einer Norm entschieden werden. Natürlich könnte man auch darüber, welche Mehrheit für die Annahme einer guten Sitte ausreichen soll, eine Umfrage anstellen. Aber selbst wenn diese hinsichtlich der Formulierung der Fragen, der Auswahl der Befragten, der Auswertung usw. demoskopisch perfekt wäre, würde erst die Unterwerfung unter das Ergebnis dieser Umfragen mehr se Nach Noelle-Neumann- Schramm in der 1961 veröffentlichten Schrift Umfrageforschung in der Rechtspraxis, 96, "3-10 000 DM und mehr". 87 Dazu Teubner, Standards und Direktiven, 79 f. mit weiterer Literatur. 88 Vgl. Teubner ebd. 89 Dahrendorf, Homo sociologicuss, 1969, 43 f.; vgl. Teubner ebd. 90 Dahrendorf ebd. 91 RGZ 167, 171 (177) ließ für die Entscheidung über eine Herkunftsbezeichnung ("Alpenmilch") Mehrheiten von 51 Ofo der befragten Hausfrauen und 60 °/o der befragten Händler .genügen. 92 WuW 1956, 785. 93 Auch die im Wahlrecht anzutreffende 5 °/e-Klausel wäre willkürlich, obschon zu bedenken ist, daß die Gesetzgeber dort die Übergehung einer solchen Minderheit für demokratisch legitim erachten.

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als die Ermittlung von Fakten bedeuten, nämlich eine Nonnsetzung und zwar eine Nonnsetzung durch den Richter entsprechend der Meinung der Befragten. Die Alternative dazu wäre die Normsetzung durch den Richter, der aufgrund seiner eigenen Bewertung die nötige Mehrheit festsetzt. Die Mehrheit der Befragten über alle mit den guten Sitten zusammenhängenden Fragen entscheiden zu lassen - also etwa im Sinne der Meinung Birkes94 .:..._, fasziniert auf den ersten Blick als "demokratische Legitimation" des Richters95 . Die Volksbefragung, so könnte man glauben, holt hier gleichsam das nach, was der demokratisch legitimierte Gesetzgeber versäumt hat. Als Kronzeugen gegen die Berechtigung dieses Verfahrens treten indessen Fachleute auf dem Gebiet der Soziologie und Politologie selbst auf96 , indem sie vor einer Erscheinung warnen, die Hennis97 das "plebiszitär-demokratische Mißverständnis" nennt. Es handelt sich darum, daß die von der empirischen Sozialforschung ermittelten Meinungen summierte private Ansichten darstellen, die aber nicht mit dem Ergebnis des Prozesses gleichbewertet werden dürfen, der zur verfassungsmäßig-demokratisch legitimierten Gesetzgebung führt. Zwar erscheint es überholt, summierte private Meinungen, wie sie von demoskopischen Umfragen zutage gefördert werden, einer angeblich mit erhöhter Garantie für ihr rationelles Zustandekommen ausgestatteten "öffentlichen Meinung" gegenüberzustellen98. Die Garantie für die erhöhte Rationalität der "öffentlichen Meinung" soll sich aus ihrer Orientierung an den Konsequenzen für das Gemeinwohl, der damit verbundenen Reflexion der Motive und Interessen und der öffentlichen Diskussion ergeben99. Indessen liegt dieser Vorstellung ein vom Zeitalter der Aufklärung geprägtes utopisches Menschenbild zugrunde, das sowohl die im Durchschnittswähler obwaltenden Kräfte der Vernunft als auch seinen Sachverstand überschätzt100• Damit soll allerdings 94 Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968,

45 ff., 51, 59.

95 Vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 112. 96 Hennis, Meinungsforschung und repräsentive Demokratie, 1957, 38 ff.; Schmidtchen, Die befragte Nation!, 1961, 253 ff.; Sontheimer, "Der Monat", April 1964, 44; Teubner, Standards und Direktiven, 112 f. 97 Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, 39; Teubner, Standards und Direktiven, 112, spricht demgemäß vom "plebiszitären Mißverständnis". 98 So aber Teubner, Standards und Direktiven, 113, im Anschluß an Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, 41. Gegen die Annahme einer besonders rationalen "öffentlichen Meinung" Schmidtchen, Die befragte Nation!, 1961, 251; kritisch dazu Sontheimer, "Der Monat", April .1964, 44. 99 Zum Begriff dieser "öffentlichen Meinung" Schmidtchen, Die befragte Nation2, 236 ff.; Teubner, Standards und Direktiven, 108 ff., beide mit Literatur. 1oo Schmidtchen, Die befragte Nation!, 240 ff., 253.

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nicht den vulgärsoziologischen Motivlehren das Wort geredet werden, die das menschliche Verhalten etwa hauptsächlich aus materiellen Interessenlagen heraus zu erklären suchen oder aus der leichten Manipulierbarkeit der angeblich dummen Massen101 . Gewiß sind aber die politischen Ansichten der Allgemeinheit nicht auf einem höheren rationalen Niveau angesiedelt als die hier in Rede stehenden Wertvorstellungen. Trotzdem sind demoskopische Umfragen nicht als Ersatz für das zu gebrauchen, was der Gesetzgeber unterlassen hat. Der Prozeß der politischen Willensbildung vollzieht sich nämlich durch den Filter des Parlamentarismus1Dll, das heißt im Wege der von der Verfassung vorgesehenen Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG)103. Die Abgeordneten des Bundestages sind gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz nur ihrem Gewissen unterworfen und an keine Aufträge oder Weisungen gebunden. Dieser Faktor verbietet eine Gleichsetzung der demokratisch-parlamentarischen Rechtsetzung mit derjenigen im Wege der direkten "Umfrage-Demokratie". Mithin hat Teubner104 im Ergebnis doch recht, wenn er meint, die Meinungsforschung könne die Hoffnung auf eine demokratische Legitimierung des Richterrechts nicht erfüllen. Die Demoskopie kann dem Richter mithin mehr oder weniger Rohmaterial in Gestalt von Fakten - vor allem Meinungen - für seine Entscheidung liefern105. Die Bildung der Norm für den konkreten Fall bleibt jedoch seine Aufgabe. Dafür fehlt es nicht an seiner demokratischen Legitimation; denn das Gesetz in Gestalt der Generalklauseln wie des § 1 UWG oder des § 138 Abs. 1 BGB ermächtigt ihn dazu mangels einer anderen zur Entscheidung berufenen Instanz106. Damit ergibt sich auch die Rolle der Demoskopie in diesem Entscheidungsprozeß. Sie ist nach ihrem heutigen wissenschaftlichen Stande in der Lage, dem Richter mehr oder weniger Entscheidungshilfen in Gestalt von ermittelten Fakten zu gewähren107. Die Verhältnisse können 1o1 Dagegen Schmidtchen- Noelle-Neumann, Politische Vierteljahresschrift

1963, 187; vgl. aber auch Sontheimer, "Der Monat", April 1964, 44. 1o2 Hennis, 38 ff. (41). Vgl. auch Schmidtchen, 263 f. Zur Interdependenz

von öffentlicher Meinung und politischen Entscheidungen Schmidtchen a.a.O.

253 ff.

103 Hennis, 41. 104 Standards und Direktiven, 113. 105 Ebenso für das Gebiet der Politik Sontheimer, "Der Monat", April 1964, 45. Er warnt jedoch davor, falsche Schlüsse aus den Umfrageergebnissen zu ziehen. Auch dort ersetzt also die Meinungsforschung nicht die politische - Entscheidung. 106 In diesem Sinne auch Arzt, Die Ansicht aller billig und gerecht Denkenden, 99; vgl. Teubner, Standards und Direktiven, 43; Redecker, NJW 1972, 412. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts2, 1964, 65, hält den Richter aufgrund der Generalklauseln sogar für ermächtigt zur "Institutionenbildung". 107 Teubner, Standards und Direktiven, 116 f.

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ihr dabei ein mehr oder weniger großes Feld der Nützlichkeit einräumen. So überrascht es nicht, daß sie gerade im Wettbewerbsrecht am weitesten vorgedrungen ist; denn hier gibt es einmal gefestigte, weithin konforme Verhaltensweisen zu ermitteln; zum anderen ist die Auswahl der zu Befragenden verhältnismäßig leicht, weil sie in ihrer Rolle als beteiligte Geschäftsleute oder Kunden ziemlich homogene Gruppen bilden. Auch besteht für die Ermittlung im Wege der Umfrage sicherlich häufig ein Bedürfnis, weil dem Richter die Ansichten der Geschäftswelt oder des Publikums nicht immer aufgrund eigener Erfahrung geläufig sein werden. Auf dem Gebiet der Verfügungen von Todes wegen sieht die Praxis allerdings ganz anders aus. Zunächst erscheint es schon reichlich absurd, hier von Sitten im Sinne von konformen, ständig praktizierten Verhaltensweisen zu sprechen. So wird man keine feste Praxis entdecken können, wie etwa ein Erblasser seine Ehefrau von Todes wegen bedenkt, wenn er ein "Verhältnis" unterhalten hatte, oder gar wie ein Erblasser testiert, der seinen Sohn davon abhalten will, eine bestimmte Person zu heiraten oder den Beruf eines Schauspielers zu ergreüen. Die Tatbestände sind hier nach den einzelnen begleitenden Umständen viel zu düferenziert, als daß die Häufigkeit des Auftretens gewisser Merkmale Anlaß zur Herausbildung konformer Verhaltensmuster bieten könnte. Um hier überhaupt mit § 138 Abs. 1 BGB arbeiten zu können, muß man also den Begriff der Sitte im Sinne gleichartiger Verhaltensweise preisgeben. Gleichwohl tauchen in dieser Sphäre Konflikte auf, die der Richter zu beurteilen hat1 08 • Schon Herzog109 weist darauf hin, daß der Richter auch dort entscheiden muß, wo keine bestehenden "Sitten" zu ermitteln sind. Teubner110 sieht diese Situation nur unter dem Gesichtspunkt des Wandels, also des Vergehens und der Entstehung außerrechtlicher Normen. Es ist aber zu bedenken, daß sich aus den soeben geschilderten Gründen111 auf bestimmten Gebieten überhaupt keine Sitten im strengen Sinne jemals ausbilden können. Teubner112 verweist dann zu Recht auf das, was man gleichsam das Rohmaterial der guten Sitten nennen kann, nämlich die Wertvorstellungen, die zur Bildung von guten Sitten führen könnten, gäbe es nur genügend praktische Fälle, an denen sie sich auswirken könnten. Daß dem Gesetz mehr an der Verwirklichung solcher Wertvorstellungen als ihrem Produkt, den konformen Verhaltensweisen, liegt, sollte nicht zweüelhaft sein; denn die Konformität von Verhaltensweisen ist kein irgendtos Teubner, Standards und Direktiven, 99. tos Zum Begriff der guten Sitten im bürgerlichen Gesetzbuche, 1910, 144 ff.;

vgl. Teubner ebd. 110 s. 99, 117. 111 Zu geringe Anzahl homogener Sachverhalte. 112

117, 118.

3 Thielmann

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wie gearteter eigenständiger Wert, sondern allenfalls ein Indikator für Werte, die es verdienen, von der Rechtsordnung geschützt zu werden. Erst solche Wertvorstellungen erheben die Sitten in den Rang von guten Sitten, und es entspricht dieser ihrer entscheidenden Rolle, sie auch dort zu beachten, wo sie (noch) nicht zur Herausbildung von "Sitten" im strengen Sinne des Wortes führen konnten. Diese Wertvorstellungen wären als Fakten theoretisch durchaus der Ermittlungaufgrund demoskopischer Umfragen zugänglich113 • Ganz abgesehen von dEm Schwierigkeiten, hier einen Kreis der zu Befragenden auszuwählen, deren Antworten repräsentativ für die Allgemeinheit sind, muß jedoch ernstlich bezweifelt werden, daß solche Umfragen dem Richter neue Erkenntnisse zu vermitteln vermögen. Daß etwa Wertvorstellungen existieren, wonach die Entlohnung geschlechtlicher Hingabe verwerflich ist, wohl aber eine Geliebte belohnt werden darf, die den Erblasser aufopfernd gepflegt hat, sind dem Richter auch ohne Meinungsumfrage geläufig. Anders als im Wettbewerbsrecht geht es hier nicht um Ansichten von Gruppen, die dem Richter mehr oder weniger fern stehen, sondern um solche der Allgemeinheit schlechthin, zu der er selbst gehört. Die genauen Mehrheitsverhältnisse, die von Umfragen hier zutage gefördert werden könnten, sind für den Richter ohnehin nicht verbindlich und daher ohne Interesse. Für ihn genügt es, wenn er weiß, daß die betreffende Wertvorstellung von einem nicht ganz unerheblichen Teil der Bevölkerung geteilt wird. Das Abwägen von verschiedenen Wertvorstellungen, die in einem konkreten Fall miteinander kollidieren mögen (z. B. einerseits Achtung der Würde der Ehefrau, andererseits Entlohnung der Geliebten für wertvolle, aufopfernde Dienste) ist ebenso Sache des Richters und kann ihm durch kein Umfrageergebnis abgenommen werden, ebensowenig wie die Berücksichtigung der pluralistischen Struktur unserer Rechtsgemeinschaft. Er muß auch überlegt denkende Minderheiten114 achten und sich bemühen, deren Anschauungen erforderlichenfalls in einem tragbaren Kompromiß mit anderen Wertvorstellungen zu vereinen. Damit bleibt für die empirische Sozialforschung auf dem Gebiet der Verfügungen von Todes wegen allenfalls ein sehr begrenzter Raum. Zu denken ist hier an Anschauungen bestimmter Bevölkerungskreise, über die sich der Richter nicht im klaren ist, weil sie ihm fremd sind, vielleicht Meinungen in abgeschiedenen ländlichen Gebieten mit besontta Teubner, Standards und Direktiven, 113 f., 118. Vgl. auch Redeker, NJW 1972, 415: "Richterrecht" soll nicht ohne vorherige "Erforschung . ,.. der überwiegenden Auffassung der Gesellschaft" gebildet werden. m Breithaupt, NJW 1968, 932 im Anschluß an Bauer, Die deutsche Strafrechtsreform, 1967, 30 ff. Für Achtung der Ansicht von Minderheiten BGHSt 4, 24 ff. (Bestimmungsmensur), anders BGHSt 6, 46 ff. (Kuppelei !iurch die Brautmutter). Vgl. dazu Breithaupt ebd. mit weiteren Nachweisen.

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derer ländlicher Tradition (wenn es so etwas überhaupt noch geben sollte). Mit dieser Abgrenzung der Einsatzmöglichkeit demoskopischer Erkenntnismittel ergeben sich auch die Kriterien für die Beantwortung der Frage, ob die guten Sitten im Sinne des § 138 Abs.1 BGB zu den beweisbaren Tatsachen im Sinne des Prozeßrechts gehören. Die Frage war von jeher umstritten. Wer die "guten Sitten" als Tatsache ansieht115, muß folgerichtig zu dem Ergebnis kommen, daß sie vorbehaltlich des § 291 ZPO (Offenkundigkeit bei Gericht) des Beweises durch die auf demoskopischer Umfrage basierenden Sachverständigengutachten zugänglich sind118. Das Gericht dürfte dann einen entsprechenden Beweisantrag nicht wegen Untauglichkeit, z. B. im Hinblick auf unangemessene Kosten, zurückweisen und selbst im Wege "freier Schätzung" entscheiden; denn § 287 li ZPO gestattet dies nur, wenn die Höhe einer geldwerten Forderung streitig ist, nicht aber bei Unklarheiten über die Existenz eines Rechts. Wer hingegen den normativ-ethischen Charakter der guten Sitten betont, gelangt dazu, ihre Beurteilung zu den Rechtsfragen zu zählen117• Nach der hier vertretenen Auffassung muß differenziert werden. Soweit es sich nämlich um die Ermittlung der Sitten und W ertvorstellungen handelt, die das "Rohmaterial" für die Entscheidung des Richters hergeben, handelt es sich um eine Tatfrage. Die Herleitung des Rechtssatzes für den konkreten zu entscheidenden Fall mit Hilfe dieses "Rohmaterials" ist indessen eine Rechtsfrage. Nach diesen allgemeinen Ausführungen über die Bedeutung faktischer Wertvorstellungen ist im Anschluß an Arzt118 noch auf einige Faktoren hinzuweisen, die der unbesehenen Verwertung solcher Vor115 Schon Lotmar, Der unmoralische Vertrag, 1896, 90 f., bezeichnete die Frage der "Immoralität" als "quaestio facti". Bewertung der guten Sitten als Tatsache auch bei Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts I, 1900, 227; Cosack- Mitteis, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts IB, 1924, 227. Vgl. Schricker, 199. Zum "faktischen" Verständnis der guten Sitten tendieren neuerdings Gernhuber, FamRZ 1960, 328, 329; Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 592 ("außerrechtliche objektive Gegebenheit, die in das Bewußtsein der Rechtsgemeinschaft eingedrungen sein muß"); Müller- Freienfels, JZ 1968, 449; Husmann, NJW 1971, 405, im Anschluß an Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968, 43 ff. 116 Über den Inhalt des Beweisbeschlusses und den Aufbau des Gutachtens Noelle-Neumann- Schramm, Umfrageforschung in der Rechtspraxis, 1961, 93 ff. 111 RGZ 58, 219 (220); 160, 52 (56); BGH FamRZ 1954, 195 (196) = LM Nr. 2 zu § 138 (Cd); KG FamRZ 1967, 226 (227); aber auch Mikat a.a.O.; vgl. Schricker, 200 ff. Für die Beurteilung als Rechtsfrage auch die Rechtsprechung und die herrschende Lehre im schweizerischen Recht; vgl. Thommen, Beitrag zur Lehre vom Begriff der guten Sitten im schweizerischen Privatrecht, Diss. Zürich 1954, 59 f. 11s Die Ansicht aller billig und gerecht Denkenden, Diss. Tübingen 1962, 46 ff., der allerdings von "Moralanschauungen" spricht.

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stellungen durch den Richter entgegenstehen könnten. Es handelt sich einmal darum, daß sich zu einer Frage entgegengesetzte Wertvorstellungen entwickelt haben, ohne daß man die eine oder andere als "herrschend" bezeichnen kann119• Dieser Sachverhalt ist nicht mit der Kollision verschiedener Wertvorstellungen im Einzelfalll20 zu verwechseln, die der Richter auszugleichen hat. Zum anderen geht es darum, daß sich eine Wertvorstellung nicht "einwandfrei" gebildet hat121 • Die nicht "einwandfreie" Bildung kann ihre Ursachen in Gruppenegoismus, Propagandaeinflüssen, also sogenannter Außenlenkung122, oder mangelndem Sachverstand haben. Die Ermittlung einer hypothetischen "Moralauffassung" im Falle ihres Fehlens oder ihrer Fehlerhaftigkeit, wie sie Jellinek123 vorgeschlagen hat, stellt keine Lösung dar, da sie bestenfalls eine soziologische Hypothese (aber keine wirkliche Wertvorstellung) zutage fördern kann124 sowie überdies mit der Versuchung des Richters belastet ist, seine eigene Wertung zur Geltung zu bringen125 und damit eine pseudonormative Komponente entscheiden zu lassen12&. Was das Fehlen einer "herrschenden" Wertvorstellung in bestimmten Fragen anlangt, so kann die Wirksamkeit eines Rechtsgeschäfts an ihr nicht scheitern. Es ist ja nicht so, daß jedes Rechtsgeschäft unbedingt irgendwie wertungsmäßig klassifiziert werden müßte, sondern es kommt nur darauf an, daß ihm keine "gute Sitte" entgegensteht127 • Bei einem non liquet ist das Geschäft also gültig. Das entspricht auch dem Bekenntnis des Grundgesetzes zur prinzipiellen Freiheit des Handeins in Art. 2 Abs.l. Die Auswirkung des Gruppenegoismus hat der Richter bei seiner Entscheidung einzukalkulieren, so daß wirklich die Wertvorstellungen der Allgemeinheit erfaßt werden und nicht nur diejenigen besonders eigeninteressierten Kreise. Hat die Allgemeinheit in der Frage keine Meinung, sondern haben sie nur die eigeninteressierten Gruppen, fehlt es wieder an einer guten Sitte. Propagandaeinflüsse1!8 sind praktisch nicht auszuschließen, müssen aber in einer Demokratie unbeachtet bleiben, da sie auch bei der demokratischen Willensbildung hinzunehmen sind. Ihnen kann schließlich nur im Rahmen des richterArzt, 52 ff. z. B. einerseits Wahrung der Würde der Ehefrau, andererseits Entlohnung der aufopferungsvollen Dienste der Geliebten. 121 Arzt, 57 ff.; Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 218 f. 122 Schricker ebd. 123 Gesetz, Rechtsanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913, 102 ff., 173; dazu Arzt, 53, 55, 57. 124 Arzt, 55; zu den damit verbundenen Gefahren Arzt, 43 ff. 12s Arzt, 57. 126 Arzt, 57: die Ansicht, die nach Meinung des Richters herrschen sollte, nicht die herrschende. 127 Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, § 18, 1, S. 365. 12s Arzt, 58; Schricker, 218 f. 119 12o

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liehen Entscheidungsspielraums Rechnung getragen werden, soweit sie nicht in einem pluralistischen Staat unbewertet bleiben müssen. Zu sagen ist noch etwas über die Frage der Sachkunde. Ihr Fehlen kann nicht mit dem Hinweis auf das demokratische Mehrheitsprinzip überspielt werden129 ; denn die Entscheidung über Fachfragen wie die ansteckende Natur einer Krankheit130, die Konstruktion einer Lokomotive131 oder den Wert einer wissenschaftlichen Arbeit können nicht von der Meinung einer irgendwie gearteten Mehrheit im Volke abhängig gemacht werden132• Arzt133 will die Herrschaft des Mehrheitsprinzips deshalb auf politische Grundsatzfragen beschränken. Ob man in der Einschränkung tatsächlich so weit gehen muß, kann hier dahinstehen. Beachtlich ist aber Arzts Gedanke, die von ihm angenommene prinzipielle Mehrheitsherrschaft auf dem Gebiet der guten Sitten durch sachbezogene Kriterien zu kontrollieren134 , nämlich die sachlogischen, sich aus der "Natur der Sache" ergebenden Strukturen135 und die Bedürfnisse der Beteiligten. Was die sachlogischen (Seins-)Strukturen anlangt, so steht der zu konkreten Entscheidungen aufgerufene Jurist indessen vor einem ähnlichen Dilemma, wie es sich bereits bei der Ermittlung der Normen der philosophischen Ethik bot. Die menschliche Erkenntnismöglichkeit im Hinblick auf die den Dingen angeblich innewohnende Logik ist be129 Arzt, 66 ff. unter Hinweis auf Stammler, Richtiges Recht2, 1926, 114; Koschaker, Europa und das römische Recht, 1947, 200, und Fechner, Friedhof und Denkmal, 1958, Nr. 11/12, 9. 130 Stammler, Arzt ebd.; Koschaker ebd.: keine "Volksmedizin". tat Fechner, Arzt ebd. 132 Das ändert nichts daran, daß zuweilen aus praktischen Gründen die Beurteilung einer Fachfrage vom Mehrheitsvotum eines Gremiums abhängig gemacht werden muß, etwa die Beurteilung einer wissenschaftlichen Leistung durch eine Fakultät oder einen Fachbereichsrat. Aber dann müssen die Abstimmenden jedenfalls wenigstens alle wirkliche Fachleute auf dem betreffenden Gebiet sein. Anspruch auf objektive Wahrheit kann natürlich ein von Fachleuten gefaßter Mehrheitsbeschluß ebensowenig erheben wie das Urteil eines einzelnen Fachmanns. 133 S. 67 ff. (69). Zu den Gefahren, die eine unbesehene Übernahme politischer Entscheidungsmodelle auf den "gesellschaftlichen Bereich" mit sich bringt, im übrigen Rupp, NJW 1972, 1541 ff. tM Arzt, 73 bei Fußn. 3 und 4; Schricker, 233 ff.; für die Beachtung solcher Kriterien auch Thommen, Beitrag zum Begriff der guten Sitten im schweizerischen Privatrecht, Diss. Zürich 1954, 114. Was das von Arzt hervorgehobene Kriterium anlangt, daß die Lösung nicht "dem Willen der machthabenden Schicht widersprechen" dürfe (S. 73 bei Fußn. 2, S. 45 f.) so kann man es m. E. nicht gesondert neben die empirische Mehrheitsmeinung stellen, da deren Bildung bereits das Machtkriterium enthält. Seine zusätzliche Betonung fördert nur antidemokratische Mißverständnisse. 135 Vgl. zur "Natur der Sache" von Lübtow, Autonomie oder Heteronomie der Universitäten, 1966, 17 ff. mit Anm. 114-140 auf S. 87 ff. Dort weitere Nachweise wie auch bei Arzt, 40, Fußn. 41 und 42. Zum historischen Aspekt dieser Denkform jetzt auch Sprenger, Sein und Werden im Recht, Festgabe für Ulrich von Lübtow, 1970, 603 ff.

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grenzt und erweist sich bei näherer Betrachtung nur allzuoft als das Hineintragen äußerer Gesichtspunkte aus ideologisch, gewohnheitsmäßig oder gar (bewußt oder unbewußt) eigennützig determinierten Verhaltensmustern138• Auch davon abgesehen, wird die Frage nach der Natur der Sache oft keine eindeutige Antwort gestatten, einfach weil uns die abstrakten Kriterien für die Richtigkeit einer Antwort fehlen137 ; denn der Mensch ist nun einmal nicht in der Lage, den Urgrund aller Dinge zu erfassen. Hinzukommt auch wieder das allein vom Richter zu bewältigende Problem, wie die Erkenntnisse über Seinsstrukturen in normative Sollenssätze, nämlich von den guten Sitten ausgesprochene Gebote und Verbote, umzusetzen sind. Dennoch kann das Abstellen auf die den Dingen innewohnende Sachlogik manchmal weiterhelfen, wie die von Arzt138 angeführten Beispiele aus der Rechtsprechung des BGH139 zeigen. Es werden sich weniger grundlegend neue "gute Sitten" auf ganzen Lebensgebieten daraus herleiten lassen, wohl aber können für die Beurteilung konkreter Einzelfälle im Hinblick auf bestehende Wertvorstellungen Anhaltspunkte gewonnen werden. Diese Wertvorstellungen generalisieren notwendigerweise, und der objektivierten Phantasie der betreffenden Bevölkerungskreise kann es ebensowenig wie einem Gesetzgeber gelingen, alle wirklichen Fallgestaltungen des Lebens vorausschauend mit ihren Besonderheiten zu erfassen. Hier, wo die einen "groben Raster" bildenden allgemeinen Überzeugungen Lücken lassen, können die mit der nötigen Vorsicht herangezogenen Sachstrukturen weiterhelfen, um das Besondere eines Einzelfalls zu erfassen14o. Die von Arzt141 ebenfalls herangezogenen "Bedürfnisse der Beteiligten" lassen sich auf deren Interessen zurückführen. Interessen sind meist leicht zu erkennen, umso schwerer ist es aber, bei ihrem Widerstreiten eine "richtige" Lösung zu finden142, wenn sie sich nicht schon aus der Bewertung einer analogen Situation im Gesetz ergibt. Einfach der Anschauung den Vorzug zu geben, die sich "durchsetzt", die also praktiziert wird, läuft auf die Anerkennung einer Dschungelmoral hinaus. Arzt, 41. Arzt, 40 ff. (42). 138 s. 41. 139 BGHZ 25, 369 (373); 27, 170 (172). 140 Dagegen, daß bei richterlichen Werturteilen eine bloße Subsumtion möglich ist, Larenz, MethodenlehreZ, 263 ff. mit Literatur; ebenso Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, 14, zu § 242 BGB. Auch nach der hier vertretenen Ansicht kommt der Richter nicht mit einer bloßen Subsumtion aus, da die Wertvorstellungen wenig präzise zu sein pftegen sowie besonders in "Randzonen" unscharf sind. Der Richter wird daher vor allem mit Hilfe des Vergleichs sachlogischer Strukturen zu Parallelbewertungen gelangen müssen, wo "ähnliche Fälle" im Bewußtsein der Allgemeinheit eine Rolle spielen. 141 S. 42 bei Fußn. 3. 141 Schricker, 237; vgl. im übrigen unten Fußn. 3 zu S. 44. 138

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Es muß deshalb auf die Anschauungen der Allgemeinheit ankommen und nicht auf diejenige besonders robuster einzelner oder Gruppen143 • Als ein Faktor können die "Bedürfnisse der Beteiligten" jedoch im Rahmen der sachlogischen Strukturen berücksichtigt werden. Als praktisch entscheidender Faktor des Begriffs der guten Sitten gemäß § 138 Abs. 1 BGB bleiben nach alledem nur die herrschenden Moralvorstellungen, möglicherweise manchmal ergänzt durch Gesichtspunkte aus der jeweiligen "Natur der Sache". Somit kommt es nicht auf den Gehorsam des einzelnen gegenüber dem Anruf seines persönlichen Gewissens an, sondern auf die äußerliche Beachtung der von "herrschenden" Überzeugungen getragenen Wert,. vorstellungen. Immerhin weist dieser Komplex insofern einen Bezug zur Ethik auf, als sein Ursprung auf eine moralisch-sittliche Wertung zurückgeht, mag eine solche Wertung auch nicht vom einzelnen Menschen verlangt werden, sondern nur eine Unterwerfung, eine äußerliche Anerkennung144• Er unterscheidet sich insofern vom wertneutralen Lebensbrauch, von der Konvention, also von Gruß-, Tisch-, Kleidersitten und verwandten Regeln14li. Die "guten Sitten" stehen mithin auf der gleichen wertmäßigen Stufe wie die "einfache" Soziahnoral, die "praktische", "herrschende" Moral146• Sie entsprechen einer "abgeschwächten", "vergröberten" Ethik147 im Gegensatz zur Hochethik. Eine völlige Gleichsetzung der "einfachen", "praktischen" Moral mit den von Rechts wegen zu beachtenden guten Sitten148 empfiehlt sich jedoch nicht, weil es für die Rezeption der Wertvorstellungen in das Recht über § 138 Abs. 1 BGB nicht darauf ankommt, ob diese Wertvorstellungen schon - außerrechtliche - Normativität erlangt haben. Zwar können diese Wertvorstellungen zur Ausbildung von - guten - Sitten im strengen Wortsinn, also von außerrechtlichen Verhaltensnormen, geführt haben. Der Richter orientiert sich im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB aber auch an Wertvorstellungen, die zwar, wie Teubner149 es formuliert, "nicht den Verbindlichkeitscharakter sozialer Normen haben, die aber Ausgangspunkt für rechtliche Verhaltensnormen sein können". Arzt, 43, mit Beispielen aus dem Wettbewerbsrecht. Wieacker, JZ 1961, 340. Natürlich kann deren Verletzung auch zum ethisch mißbilligenswerten Verhalten benutzt werden, etwa das Unterlassen des Grüßens als Ausdruck der Mißachtung. 14& Vgl. Wieacker, JZ 1961, 340; Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 133 ff.; Larenz, Juristen-Jahrbuch 7, 1966/67, 105 ff.; Allgemeiner Teilt, 1967, § 3 I, S. 42 (in die 2. Aufl. 1972 nicht übernommen); Steffen, DRiZ 1970, 349. Ebenso Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 109 f., 261 f., zum Sittengesetz des Art. 2 Abs. 1 GG, wo die "verfassungsimmanente Ethik" Lücken offen läßt; vgl. dazu auch Erbel, 102 Fußn. 326 mit weiteren Angaben. tu Larenz, Allgemeiner Teil a.a.O. 148 Wie sie die in der vorstehenden Fußn. Zitierten vornehmen. t49 Standards und Direktiven, 117. 143 144 145

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Wegen ihres Bezuges zur Ethik können die guten Sitten des § 138 Abs. 1 BGB ebensowenig wie die "praktische Sozialmoral" auf die Stufe der - wertneutralen - Konvention gestellt werden. Sie stehen zwischen der "reinen" Ethik und der Sitte (ohne das Adjektiv "gut"!) im Sinne der Konvention160. Die Bezeichnung "gute Sitten" im § 138 Abs. 1 BGB kommt - abgesehen von der möglicherweise fehlenden Normqualität der Wertvorstellungen- der Sache nahe, ist aber doch wohl zu wenig scharf, weil man darunter trotz des Adjektivs "gut" auch wieder die wertneutrale Konvention verstehen könnte. Die Abgrenzung zu dieser ist insofern von Bedeutung, als ihre Verletzung nicht zur Unwirksamkeit gemäß § 138 Abs. 1 BGB führt. Selbst wenn man auf diese Weise dazu gelangt, das Faktum der Wertvorstellungen zum Ausgangspunkt juristischer Entscheidungen zu machen, so verspricht dieser Weg doch nur einen Teilerfolg. Er funktioniert nämlich nur dort, wo es wirklich herrschende Wertvorstellungen gibt. Diese Voraussetzung mag in Zeiten zwischenmenschlicher und politischer Stabilität oder bei ruhiger, kontinuierlicher Entwicklung in weitem Umfang erfüllt sein151 . Die Umwälzungen seit dem 1. Weltkrieg haben indessen dazu geführt, daß zwischen dem von der großen Mehrheit als nicht unbedenklich Empfundenen und dem von ihr als verwerflich Angesehenen11' eine breite Zwischenzone von Verhaltensweisen entstanden ist, hinsichtlich derer es an homogenen Überzeugungen über den Wert oder Unwert fehlt153. Erwähnt seien als eindrückliche Beispiele aus neuerer und neuester Zeit die freiwillige Sterilisation1114, die Beurteilung der Anstößigkeit der Darstellung sexueller Themen in Wort und Bild155 sowie das Vordringen "härterer" Geschäftssitten, vor allem in der W erbung1ss. uo Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil ebd.

151 Dazu Wieacker, JZ 1961, 342; Larenz, Allgemeiner Teil, § 28 III a, S. 430,

unter Berufung auf Regel; Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 216 f.

152 Vgl. die Beispiele Larenz' ebd.: Geschlechtliche Hingabe nur um des Geldes willen, Ausbeutung des wirtschaftlich schwächeren Partners bis zur Vernichtung seiner Existenz. 153 Für das Gebiet des Strafrechts Kohlhaas, NJW 1963, 2348 ff. 154 Die Entscheidung BGHSt 20, 81 ff., die seinerzeit die Gemüter sehr bewegte, umgeht das Problem der Sittenwidrigkeit der Einwilligung (§ 226 a StGB) durch gesetzestechnische Erwägungen, siehe aber BGHSt 19, 201 ff. für den Sonderfall der Keimdrüsenentfernung bei entartetem Geschlechtstrieb. Vgl. auch Kohlhaas, NJW 1963, 2348 ff.; Woesner, NJW 1964, 1 ff.; Urbanczyk, NJW 1964, 425 ff.; von Schumann, NJW 1964, 1158 ff., sowie die übrigen von der Schriftleitung der NJW 1965, 357 Zitierten. 155 Zum Abbau sittlicher Vorstellungen auf geschlechtlichem Gebiet in der Gegenwart Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 20 ff., 382 ff.; Jeder, Eheähnliche Verhältnisse und die Stellung der "Geliebten" im Spiegel der deutschen Rechtsprechung, Diss. Kiel 1971, 118 ff.; OLG Harnburg NJW 1972, 115 (116). 156 Dazu eingehend Eichmann, Die vergleichende Werbung in Theorie und Praxis, 1967, passim (Rezension von Völp, NJW 1968, 2098).

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Läßt man es bei der "außerkonstitutionellen" Definition der guten Sitten bewenden, so muß man folgerichtig den Bereich der Sittenwidrigkeit auf den Kernbereich von Sachverhalten beschränken, bei denen sich "allgemeine" Wertvorstellungen erhalten haben167 • Ehrlich angewendet wird § 138 Abs. 1 damit zu einer recht stumpfen Waffe. Rechtliche Sanktionen vermag er nur in einem "populären" Kernbereich von Verhaltensweisen zu rechtfertigen, wo sich die vox populi bilden konnte. Dabei wäre dieser Kernbereich auch noch der Gefahr fortschreitender Abstumpfung ausgesetzt; denn schlechte Beispiele verderben nun einmal gute Sitten, und von der tatsächlichen Übung von Unsitten zur Anpassung der Wertvorstellungen ist ein kurzer Weg. Daß laxe Ansichten oder Unsitten, die in einigen Kreisen bestehen oder in unruhigen Zeiten eingerissen sind, keinesfalls als maßgebend betrachtet werden dürfen158, stellt nur ein schwaches Korrektiv dar. Es käme dann nur darauf an, daß die Kreise mit laxer Auffassung ihre Anschauungen der erforderlichen Mehrheit schmackhaft zu machen verstehen, und "unruhige Zeiten" waren im Laufe der Geschichte zu häufig, als daß man sie für die Ausformung des Anstandsgefühls der Mehrheit außer Betracht lassen könnte. Eine Konservierung - oder auch Erneuerung - ethischer Werte ist mithin durch eine bloße Verweisung auf die "guten Sitten" nicht zu erreichen. Die Rechtsordnung darf sich zu diesem Zweck nicht damit begnügen, auf ein normativ praktisch nicht zu ermittelndes System von Regeln Bezug zu nehmen. Dieses Abschieben des "Schwarzen Peters" an außerrechtliche Instanzen rächt sich in der Weise, daß Werte, die eigentlich geschützt werden sollen, der ungeschützten Faktizität ausgeliefert werden. Abhilfe kann hier nur der Gesetzgeber schaffen, indem er einzelne Werte positiv normiert1119, wie dies vor allem in den Grundrechten der Verfassung geschehen ist. Dieser Weg der "Verrechtlichung" ethischer Werte ist in der vom Grundgesetz vorgezeichneten Konzeption eines pluralistischen Gemeinwesens durchaus legitim16o.

So Staudinger- Coingu, Randnr. 5 a zu § 138, Abs. 5. Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil II, § 191 I 2, S.1165; RGZ 55, 367 (373); 58, 214 (217); BGHZ 10, 228 (232). 159 Vgl. Wieacker, JZ 1961, 341. 160 Wieacker, 340 f. (341). 157 158

B. Insbesondere: Art. 48 Abs. 2 des Testamentsgesetzes vom 31. 7.1938 Eine besondere erbrechtliche Ausprägung der Regel, wonach sittenwidrige Rechtsgeschäfte nichtig sind, ~and sich in Art. 48 Abs. 2 des Gesetzes über die Errichtung von Testamenten und Erbverträgen vom 31.7.1938 (RGBI. I, 973). Die Vorschrüt lautete: "Eine Verfügung von Todes wegen ist nichtig, soweit sie in einer gesundem Volksempfinden widersprechenden Weise gegen die Rücksichten verstößt, die ein verantwortungsbewußter Erblasser gegen Familie und Volksgemeinschaft zu nehmen hat." Sie ist durch Art. I a des Kontrollratsgesetzes Nr. 37 vom 30.10. 1946 mit Wirkung ab 5. 11.1946 aufgehoben worden1 • Natürlich diente sie dazu, die Wirksamkeit der Verfügungen von Todes wegen nach nationalsozialistischer Weltanschauung zu beurteilen. Dabei vertrat man teils die Ansicht, Art. 48 Abs. 2 wiederhole für das Erbrecht nur das, wozu man bei nationalsozialistischer Interpretation des § 138 Abs. 1 BGB gelange%, meinte aber überwiegend, Art. 48 Abs. 2 habe § 138 Abs. 1 BGB für das Erbrecht verschärft3 • Welche dieser Ansichten zutrüft, mag für die vorliegende Untersuchung dahinstehen. Es genügt hier die Feststellung, daß Art. 48 Abs. 2 für das Erbrecht an die Stelle des § 138 Abs. 1 BGB getreten war. Was heute noch an der Vorschrüt interessiert, ist die Formulierung, welche die "guten Sitten" ersetzt. Abgesehen von ihrer gemeinschaftst Amtsblatt des Kontrollrats, 220. Vgl. Staudinger- Firschingu, 1960, Vorbem. vor § 2229, Randnr. 43; Husmann, NJW 1971, 404; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 16 Fußn. 66. 2 Gegen wesentliche Unterschiede zwischen § 48 Abs. 2 TestG und § 138 Abs.1 BGB die amtl. Begründung (DJ 1938, 1254 fi.); RG SeuffArch. 96, 59 (60). Nationalsozialistische Interpretation des § 138 Abs. 1 BGB: RGZ 150, 1 (4); vgl. oben Fußn. ll auf S.14; Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 37; 77 ff.; Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 35 f. 3 RG DR 1942, 850; vgl. Staudinger- Firsching11 a.a.O. Zur Versehärtung durch Art. 48 Abs. 2 TestG vor allem mittels Zurückdrängen der subjektiven Tatbestandselemente Gernhuber, FamRZ 1960, 328, mit Fußn.ll-13; Steffen, DRiZ 1970, 347; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 16. Ein Beispiel, wo diese Tendenz ausdrücklich verfolgt wird: RGZ 166, 395 (397). Näher zur Interpretation des § 48 Abs. 2 TestG u. a. Greiser, DFG 1939, 52 ff.; Guggumos, DFG 1943, 61 ff. Husmann, NJW 1971, 404, betont die durch Art. 48 Abs. 2 TestG gegenüber § 138 Abs. 1 BGB angeblich geschaffene freiere Stellung des Richters im Hinblick auf die Achtung des Erblasserwillens.

Teil I. B. Art. 48 Abs. 2 des Testamentsgesetzes von 1938

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betonenden Tendenz bietet sie indessen keine methodische Neuerung im Hinblick auf die Möglichkeit, den Inhalt der "guten Sitten" näher zu erfassen. Auch im Art. 48 .A!bs. 2 finden sich das ethisch-normative und das faktisch~psychologisch-soziologische Element, wie dies in den erörterten "vorkonstitutionellen" Definitionen der Fall war. Das "Volksempfinden" vertritt die faktisch-soziologische Komponente; im Adjektiv "gesund" ist bereits eine normative Korrektur enthalten, und das ethischnormative Element zeigt sich dann vollends beim Zitieren des "verantwortungsbewußten" Erblassers und der Rücksichten, die ihm obliegen. Auch hier führt der ethisch-normative Teil des Tatbestandes kaum weiter. Wann das Empfinden des Volkes "gesund" war und wie ein "verantwortungsbewußter" Erblasser zu testieren pflegt, sagt die Vorschrift dem Richter ebensowenig, wie etwa die Definition des RG, wer denn nun zu den "billig und gerecht Denkenden" zu zählen ist. Nur die Betonung der Interessen von Familie und Volksgemeinschaft weist die Richtung, in der sich die Bemühungen des Interpreten zu bewegen hatten. Praktisch sollte er natürlich der nationalsozialistischen Weltanschauung genüge tun - ein Unterfangen, das in einem Kernbereich (Zuwendungen an Juden unter Übergehung naher arischer Verwandter und an "staatsfeindliche Organisationen")4 wiederum wenig Schwierigkeiten bot, wohl aber in "Randgebieten", in denen die nationalsozialistische Weltanschauung noch keine festen Konturen angenommen hatte. Der Schwierigkeit, die "herrschende Moral" zu ermitteln, stand also hier die gegenüber, Verhaltensmaximen aus der nationalsozialistischen Weltanschauung zu gewinnen.

4 So die amtliche Begründung zu Art. 48 Abs. 2 TestG, abgedruckt bei von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 16. Weitere dort genannte Fälle: Die Familie benachteiligende Zuwendungen an eine Maitresse, die sachlich nicht gerechtfertigte Zuwendungen von Familienschmuck, altem Tafelsilber, Familienerinnerungsstücken u. dergl. an Fremde.

C. Die Einbeziehung rechtlicher Maßstäbe in den § 138 Abs. 1 BGB Die geschilderten Schwierigkeiten bei der Ermittlung des näheren Inhalts der "guten Sitten" haben in neuerer Zeit dazu geführt, daß die Rechtslehre auf andere Maßstäbe für die Konkretisierung des § 138 Abs. 1 zurückgegriffen hat, als sie in den vagen Wertvorstellungen einer ebenso vage eingegrenzten Gruppe der Bevölkerung zu finden waren. So ergänzen Nipperdey1 und Simitis2 die guten Sitten um die "öffentliche Ordnung" beziehungsweise den "ordre public"3 • Dabei will Nipperdey Verstöße gegen die öffentliche Ordnung frei von moralischem Vorwurf verstanden wissen, und Simitis schränkt die "guten Sitten" auf die Moral im Bereich des Geschlechts- und Familienlebens ein'. Beide verstehen unter der öffentlichen Ordnung oder dem ordre public die Grundprinzipien der Recht.rordnung, wie sie nicht in einzelnen spezielt

Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil

2

Gute Sitten und ordre public, 1.960. Vgl. dazu Larenz, Allgemeiner Teil2,

5.1164.

ITlli;

1960,

§ 191 Fußn. 6,

1972, § 22 III a, S. 362 f~; Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, s. 207 f.

a Im Wettbewerbsrecht (§ 1 UWG) führten die Schwierigkeiten, den Begriff der guten Sitten zu erfassen, zu Ansichten, welche die Ziele und Zweck::! der Wirtschaftspolitik oder eine Interessenahwägung (Kraft, Interessenabwägung und gute Sitten im Wirtschaftsrecht, 1963; dazu Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß, 1970, 208 ff.) an ihre Stelle setzen. Vgl. dazu Meyer - Cording, JZ 1964, 276 f. Gegen das Abstellen auf die Wirtschaftspolitik spricht, daß sie etwas ganz anderes als die guten Sitten darstellt (Meyer- Cording, 276; Eichmann, Die vergleichende Werbung in Theorie und Praxis, 1967, 50 ff.) und sogar außerhalb der Ethik liegt. Die Heranziehung der Interessen leidet an einem Grundübel der ganzen Interessenjurisprudenz: Die Interessen sind meist leicht ermittelt; ihre Kenntnis impliziert aber noch nicht ihre Bewertung (so auch Meyer- Cording, 277). Maßstäbe zur Lösung des Konflikts aus dem Gesetz, worauf die Interessenjurisprudenz sonst (und nur!) für die Bewertung zurückgreift (vgl. etwa Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, 574 ff. mit weiteren Nachweisen), fehlen gerade! 4 Dagegen schon aus sprachlichen Gründen Larenz a.a.O. 363. Es bleibt aber zu beachten, daß der Sprachgebrauch im täglichen Leben die Ausdrücke Sittenverstöße, Unsittlichkeit usw. überwiegend zur Bezeichnung von Verfehlungen auf geschlechtlichem Gebiet verwendet, während ihrer Übertragung auf zu mißbilligende Sachverhalte anderer Art stets etwas juristisch-künstlich und an Amtsdeutsch gemahnend· empfunden wird. - Auch im englischen Recht w~rden nur Verstöß.e in der Sexual- und Familiensphäre unter die "contracts contrary to morality" subsumiert, andere Verstöße hingegen unter die "contracts contrary to public p.olicy" (Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil nu, § 191 Fußn. 6, S. 1164).

Teil I. C. Einbeziehung rechtlicher Maßstäbe

45

len Vorschriften, sondern in der Gesamttendenz des Rechts zum Ausdruck kommen5 : Es werden also Spezialnormen in einem Verfahren gewonnen, das man als Rechts- (im Gegensatz zur Gesetzes-) -analouie6 zu bezeichnen pflegt. Hier dient als Vergleichsobjekt allerdings nicht ein einzelnes Rechtsinstitut, sondern die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit, oder genauer, die aus ihrer Gesamtheit herzuleitenden Prinzipien. Aufgegriffen wurde die These von der Einbeziehung spezifisch rechtlicher Wertmaßstäbe in den Begriff der guten Sitten des § 138 Abs.1 BGB durch Larenz7 • Er stellt die der Rechtsordnung selbst immanenten ethischen Prinzipien neben die "herrschende Moral" 8 im Sinne eines übereinstimmenden Bewußtseinsinhalts der Allgemeinheit'. Die ethischen Prinzipien des Rechts selbst machen danach die ethisch-normative Komponente aus, während der "Rest" der guten Sitten der Faktizität überlassen bleibt. Der nächste Schritt auf dem Wege der Verrechtlichung der guten Sitten besteht dann darin, neben den tragenden Prinzipien unseres Privatrechts die positivierten grundlegenden Wertvorstellungen unserer gesamten Rechtsordnung zur Konkretisierung des § 138 Abs. 1 heranzuziehen, nämlich die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden Wertmaßstäbe des Grundgesetzes10• Sie sollen wie bei den anderen wertausfüllungsbedürftigen .Generalklauseln des Privatrechts so auch beim § 138 dazu dienen, auf dem Gebiete des Privatrechts die Wertvorstellungen des Verfassungsgesetzgebers zu verwirklichen (Lehre von der "Drittwirkung der Grundrechte", besser sagt man "Privatrechtswirkung der Grundrechte11). Nimmt man § 138 Abs. 1 in seiner ursprünglichen Bedeutung, so muß dieses Verfahren befremden. Die Verweisung auf die "guten Sitten" hat zum Ziel, primär außerrechtliche Werte in das Recht einzubeziehen. 5 Die Tendenz zur "Verrechtlichung" der guten Sitten wird auch offenbar, wenn BGHZ 52, 17 (20) in Abwandlung der überkommenen Formel auf das Rechtsgefühl statt auf das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden abstellt. & Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil 115, §58 II 1 b, S. 340. 7 Juristen-Jahrbuch 7, 1966/67, 109 ff.; Allgemeiner Teil2, 1972, § 22 III a, S. 364 f. Dazu Schricker, 214. Nach Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, § 18, 1, S. 367, ist der Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung im Begriff der guten Sitten enthalten. Die Einbeziehung rechtlicher Maßstäbe in den Begriff der guten Sitten nach dem Vorbild von Simitis und Larenz billigt Schricker, 233 ff. s Juristen-Jahrbuch, 7, 1966/67, 107, im Anschluß an Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, 128 ff. (133 ff.), der sich aber nicht speziell mit § 138 BGB befaßt, sondern mit dem Verhältnis von Recht und Sittlichkeit im allgemeinen. o Vgl. oben S. 16 ff. to Larenz, Allgemeiner Teil2, § 22 III a, S. 365. 11 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, 33.

46

Teil I. C. Einbeziehung rechtlicher Maßstäbe

Hier aber wird auf Normen zurückgegriffen, die bereits dem Recht angehören, sei es dem Privatrecht, sei es dem Verfassungsrecht. Dabei liegt das Schwergewicht durchaus auf den in Rede stehenden Rechtssätzen. Entweder wird ihnen der Vorrang gegenüber den herrschenden Wertvorstellungen eingeräumt, und zwar dergestalt, daß sie nicht nur bei Ungewißheit, Unsicherheit oder Zwiespältigkeit der Anschauungen gelten, sondern die Wertvorstellungen auch überall dort verdrängen, wo sie im Widerspruch zu den in Rede stehenden Rechtsprinzipien geraten12 • Zur Begründung wird auf Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes verwiesen, da die Gerichte an das "Gesetz" gebunden seien13 • Oder man geht sogar so weit, die im Grundgesetz enthaltenen Wertungen für abschließend zu betrachten, weil sich alle Einschränkungen der Individualfreiheit am Grundgesetz orientieren müßten, also keine Generalklausel mit anderen Wertmaßstäben ausgefüllt werden könne14 • Danach gibt es also keinen Sittenverstoß neben dem Grundgesetz15• Das führt zwangsläufig dazu, daß man auch das "Kerngebiet" der herrschenden Wertvorstellungen darauf prüft, ob eine im Grundgesetz zum Ausdruck kommende Wertung die betreffende Handlungsweise mißbilligt. So aber hat sich ein primär außerrechtlicher Begriff der "guten Sitten" vollends verflüchtigt. § 138 Abs. 1 wird zu einem Gebot, bei der Rechtsanwendung neben den speziellen Vorschriften des Privatrechts auch die verfassungsrechtlichen Prinzipien bei der Beurteilung privatrechtlicher Verhältnisse heranzuziehen. Damit gelangt man an die Stelle, an der nach der verbleibenden Daseinsberechtigung des § 138 Abs.1 BGB zu fragen ist. Man könnte meinen, die der Privatrechtsordnung bereits immanenten "tragenden Prinzipien" seien Rechtssätze und gelten als solche, ohne daß es der Androhung ihrer Geltung durch § 138 Abs. 1 oder einer anderen Vorschrift bedürfe. § 138 hätte dann insoweit allenfalls deklaratorische Bedeutung. Die Einwirkung der Grundrechte auf das Privatrecht muß primär von der Warte des Verfassungsrechts beurteilt werden. Denn als höherrangige Norm bricht das Grundgesetz trotz seines generellen Inhalts die mit ihm nicht vereinbaren privatrechtliehen Bestimmungente. Eine "Überlagerung" des BGB durch das Grundgesetz ist daher in erster Linie aus dem Grundgesetz selbst zu rechtfertigen. Nur wenn man zu 12 Larenz, Allgemeiner Teil ebd. u Larenz ebd. 14 Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht I Allgemeiner Teil des BGB II, 1969, § 44 III 2, S. G 452. 15 Thilo Ramm ebd. 1e Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht I Allgemeiner Teil I, § 17 V 3, S . G 105.

Teil I. C. Einbeziehung rechtlicher Maßstäbe

47

dem Ergebnis kommt, das Grundgesetz habe privatrechtliche Verhältnisse überhaupt nicht zum Gegenstand oder doch nur in einzelnen, bestimmten Punkten, bedürfte es einer privatrechtliehen Norm, um die Wertungen der Verfassung in das Privatrecht zu transformieren, und man müßte fragen, ob man im § 138 Abs.1 eine solche Norm vor sich habe. Andernfalls, wenn die Grundrechte also schon von sich aus auf das Privatrecht einwirken, käme § 138 Abs.1 wiederum nur höchstens deklaratorische Bedeutung zu.

D. Die "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht I. Verfassungstext- Meinungsstand-historische Situation Abgesehen von Art. 9 Abs. 31 enthält das Grundgesetz keine Äußerung über die "Drittwirkung der Grundrechte"11• Es soll hier nicht die ganze Diskussion über diesen Fragenkomplex wiederholt werden. Wegen der Hauptpositionen kann vor allem auf die gründliche Darstellung des Problemstandes von Dürig3 verwiesen werden. Die herrschende Meinung4 vertritt bekanntlich ebenso wie das BVerfGS die These, die Wertordnung des Grundgesetzes finde nur "mittelbar" über die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln des Privatrechts, also auch § 138 Abs. 1, in dieses Eingang, während vor allem der BGH6 , das BAG7 und Nipperdey8 sowie speziell im Erbrecht G. 1 Dürig in Maunz- Dürig- Herzogs, 1969, Randnr. 127 zu Art. 1 GG; Maunz, Staatsrechtts, 1971, § 14 II 11, S. 106. 2 Formulierung von Ipsen in: Die Grundrechte, herausgeg. von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Bd. II, 1954, 143. s Randnr.102 und 127-133 zu Art.1 GG. Lit. und Rechtsprechung zu der Frage bei Dürig, Fußn.1 und 2 bei Randnrn.127, 128 zu Art. 1 GG, sowie bei Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil !15, 1959, § 15 Fußn. 62, S. 93 f. Vgl. außerdem von Mangoldt- Klein2, 1966, Vorbem. A II 4 c - f, S. 62 ff.; Zippelius im Bonner Kommentar, Randnr. 34 zu Art. 1 GG; Maunz, Staatsrechtt8, § 14 II 11, S. 106; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, 354 ff.; Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 582 ff.; Hefermehl in Soergel- Siebert1o, 1967, Randnr. 7 zu § 134; speziell zum Testamentsrecht Lange, Erbrecht, 1962, § 34 IV, S. 374 f., und neuestens von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 307 f.; Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, passim. 4 Vgl. die Angaben in der vorstehenden Fußn. Für nur "mittelbare" Drittwirkung neuerdings auch Buschmann, NJW 1970, 2083 Fußn. 27; von Lübtow a.a.O. Im internationalen Privatrecht wirken die Grundrechte nach Auffassung des BGH ebenfalls nur "mittelbar", und zwar über Art. 30 EGBGB. Vgl. BGHZ 42, 7 (12 ff.); BGH NJW 1971, 1509 (1510); Friedrich Becker, NJW 1971, 1491 ff. (1492); Rupp, NJW 1972, 1542. 5 BVerfGE 6, 55 (71); 7, 198 (sog. Lüth-Urteil). 6 BGHZ 6, 360 (365 f.); 13, 334 (338); 15, 249 (257 f.); 24, 72 (76) (zu Art. 6 Abs. 1 GG und dem aus Art. 1, 2 GG hergeleiteten sog. allg. Persönlichkeitsrecht). Dagegen hat BGHZ 37, 381 (385) ausgeführt, die in der Entscheidung beurteilte privatrechtliche Vertragsklausel lasse sich mit der "Würde des Menschen" (Art.1 Abs.1 GG!) nicht vereinbaren und verstoße daher gegen die guten Sitten. Der "Würde des Menschen" gesteht dieses Urteil also keine unmittelbare Wirkung zu, sondern nur Wirkung über § 138 Abs. 1 BGB. 7 BAGE 1, 185 (191 ff.); BAGE 4, 274 (276); BAG NJW 1957, 1688; NJW 1973, 77 (78). Anders BAGE 3, 296. Dazu Dürig, Fußn. 2 bei Randnr. 128 zu Art.1 GG. s Die Grundrechte Il, 20; DVBl. 1958, 446; Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil J15, 1959, § 15 II 4, S. 91 ff.; ebenso Leisner, Grundrechte und

I. Verfassungstext-Meinungsstand

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Boehmer9 für die "unmittelbare" Wirkung der Grundrechte im Privatrecht eingetreten sind. In der Diskussion wird außerdem teilweise danach differenziert, ob es sich bei einem gegebenen Grundrecht um ein (subjektives öffentliches) Abwehrrecht des einzelnen gegenüber dem Staat handelt oder um eine sog. Institutsgarantie, die das Bestehen einer Rechtseinrichtung als solcher gewährleistet10• Solche Institute (Einrichtungen) sind Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes), die Gewerbefreiheit (Art. 12 des Grundgesetzes), das Eigentum und das Erbrecht (Art. 14 des Grundgesetzes), Teilgebiete des Schulwesens (Art. 7 des Grundgesetzes) sowie des Berufs- und Arbeitslebens (Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes)11 • Bei Institutsgarantien ist man eher geneigt, eine unmittelbare Bindung des Privatrechtsverkehrs zu konzedieren12. Die Formulierung der Grundrechte im Grundgesetz erklärt sich aus der politischen Situation des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts13. Die Emanzipationsbestrebungen des liberalen Bürgertums setzten sich mit den Reglementierungs- und Bevormundungstendenzen des mehr oder weniger absolutistisch orientierten Staates auseinander, der vom Monarchen mit seinem Regierungs- und Verwaltungsapparat repräsentiert wurde14 • Daraus resultiert die ursprüngliche Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber der Staatsgewalt15. Trotz des Wechsels der den Staat tragenden Schichten im Laufe des 20. Jahrhunderts bleibt natürlich die Wahrung der im Grundrechtssystem verkörperten Werte gegenüber der öffentlichen Gewalt eine wichtige Aufgabe, und es ist den Schöpfern des Grundgesetzes nicht zum Vorwurf zu machen, daß sie diesen Aspekt mittels Art.1 Abs. 3 des Grundgesetzes in den Vordergrund gerückt haben16. Trotzdem wird heute niemand die Gefahr Privatrecht, 361 ff.; jede "Drittwirkung" leugnet Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, passim; NJW 1973, 229 ff.; die Grundrechte wirken nach seiner Meinung im Privatrecht ebenso direkt wie im öffentlichen Recht (vgl. insbes. 45 ff.). o In: Die Grundrechte, herausgegeben von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Bd. II, 1954, 422. 1o von Mangoldt- Klein2, Vorbem. A II 4 e, S. 66; Anm. II 7 zu Art. 5 GG; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil I15, § 15 II 4 a und b, S. 92 f . 11 Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil I 15, § 15 II 4 b, S. 92; Maunz, Staatsrecht1s, 1971, § 14 II 5, S. 100 f.; § 14 II 7, S. 102 f. 12 von Mangoldt- Klein!, Vorbem. A II 4 e, S. 66 ff., gesteht den Institutsgarantien und den von ihm sogenannten Grundsatznonnen (dazu Vorbem. A VI, S. 79) eine Drittwirkung zu. Auch Nipperdey differenziert bei der Begründung seiner Ansicht zwischen Institutsgarantien und Abwehrrechten (Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil I15, § 15 II 4 b und c, S. 92 f.). 13 Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil I15, § 15 II 4 c, S. 95 f.; von Mangoldt- Klein2, Vorbem. A II 4 a, S. 62; Maunz, Staatsrecht1S, 1971, § 14 I 1, S. 94; ausführlich Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, 30 ff. (32) (zum ideengeschichtlichen Hintergrund). u Vgl. von Mangoldt- Klein ebd.; Maunz, ebd.; Leisner, 31 f. 15 Maunz ebd.; BAGE 4, 274 (276). 16 Dazu Dürig, Randnr. 103 zu Art. 1 GG. Gegen Ansichten, wonach die 4 Thielrnann

50

Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

leugnen können, daß die im Grundrechtskatalog enthaltenen ethischen

WeTte auch von "Dritten", d. h. von Privaten, beeinträchtigt werden können. Die Verletzung dieser WeTte ist indessen nicht schon mit dem Verstoß gegen die NoTmen der Verfassung, in denen sie Ausdruck ge-

funden haben, gleichzusetzen. Es kommt vielmehr darauf an, ob die Verfas8ung die Wahrung dieser Werte gerade auch im Privatrecht gebietet.

Die Bindung des privatrechtliehen Handeins an die Grundrechte kann nicht aus Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes hergeleitet werden. Zwar heißt es dort "Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht". Zur rechtsprechenden Gewalt gehört auch die Ziviljustiz. Die rechtsprechende Gewalt darf jedoch nicht mit dem materiellen Recht gleichgesetzt werden, das sie ihren Entscheidungen zugrundelegt. Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes gebietet dem Zivilrichter daher nur, bei der Verfahrensgestaltung und der Urteilstindung die Grundrechte zu achten, während den Inhalt seiner Entscheidungen die Verfassung nur insoweit berührt, als die zu beurteilenden Rechtsverhältnisse selbst der Grundrechtsbindung unterliegen17. Wendungen, die statt eine Begründung für die "Drittwirkung" der Grundrechte zu bringen, in Wahrheit nur eine Behauptung aufstellen, führen in der Frage nicht weiter. Das gilt für die Unmöglichkeit eines "Dualismus der Rechtsmoral" 18 im öffentlichen (Verfassungs-)Recht und im Privatrecht. Dürig19 schreibt dieser Behauptung zwar eine "fast charismatische Anziehungskraft" zu; dies ersetzt jedoch keine rechtslogische Begründung. Auch die Ausführungen des BVerfG-2°, wonach das Wertsystem des Grundgesetzes als "verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten" müsse, "selbstverständlich auch das bürgerliche Recht" beeinflusse und "keine bürgerlichrechtliche Vorschrift ... im Widerspruch zu ihm stehen" dürfe sowie "jede ... in seinem Geiste ansgelegt werden" müsse, mögen im Ergebnis durchaus zutreffen, befriedigen als Begründung jedoch nicht. staatsgerichteten Grundrechte mit zunehmender Demokratisierung des Staates obsolet werden, Rupp, NJW 1972, 1540 f. 17 Dürig, Randnr. 119, 121 zu Art. 1 GG. Anders Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, 26 ff., 45 ff., 54, indem er den "Dualismus öffentliches- privates Recht" leugnet, soweit es sich um die "Grundrechtsgeltung" handelt. Er rechnet jede rechtliche Wirkung unterschiedslos dem Staat zu, was offensichtlich nicht dem Standpunkt des Grundgesetzes entspricht, wie er in Art.1 Abs. 3 zum Ausdruck kommt. 18 Dürig, Randnr. 131 zu Art. 1 GG; in Randnr.102 nur als unterstützendes Argument herangezogen, und zwar zu Recht; vgl. unten S. 54. 19 Randnr. 102, S. 52. 2o BVerfGE 7, 198 (205).

li. Die sogenannte Drittwirkung

51

II. Die sogenannte Drittwirkung der Grundredlte gemäß Art. 1 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes Ein Ansatzpunkt für die Herleitung der "unmittelbaren Drittwirkung" der Grundrechte könnte sich indessen aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes ergeben, welcher der staatlichen Gewalt gebietet, die Würde des Menschen nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen, d. h. Angriffe Dritter auf diese Rechte abzuwehren. In der Tat meinen vor allem Nipperdey21 und der BGH22, Art.1 Abs.l des Grundgesetzes gewähre ein absolutes subjektives Recht, das sich auch auf den Privatrechtsverkehr auswirke. Die Qualität des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes als eines subjektiven Rechts ist bekanntlich umstritten. Entgegen Nipperdey sieht die herrschende Meinung213 darin ein "oberstes Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts", das aber erst durch Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes mittels Nennung des Anspruchsgegners "aktualisiert"!' und in den einzelnen Grundrechten der Art. 2 ff. des Grundgesetzes konkret positivrechtlich ausgestaltet25 wird. In der vorliegenden Untersuchung geht es um die Wirksamkeit privatrechtlicher Akte. Eine solche Wirksamkeit oder Unwirksamkeit setzt keine entsprechenden subjektiven Rechte der Betroffenen voraus, sondern ergibt sich aus dem objektiven Recht. Eine Auswirkung des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes auf das gesamte objektive Recht, also auch das Privatrecht, wird nun aber auch von den Anhängern der Lehre konzediert, die in Art.l Abs. 1 nicht die Gewährung eines subjektiven öffentlichen Rechts erblicken28 • Danach ist der Staat gehalten, die Gesamtrechtsordnung einschließlich des Privatrechts so auszugestalten, daß auch von außerstaatlichen Kräften eine Verletzung der Menschenwürde nicht möglich ist27• Das bedeutet vor allem, daß das vorhandene Normensystem in diesem Sinne zu interpretieren ist, auch wenn sich der Staat an einem Verletzungsvorgang nicht beteiligttS. Mit dieser Grunderkenntnis sind jedoch weitere Probleme noch nicht gelöst. Zunächst muß neben der Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde eine korrespondierende Pflicht der Dritten konstruiert werden, vor denen der Staat die Menschenwürde schützen soll. Nipperdey, Die Grundrechte li, 11 ff. BGHZ 13, 334 (338); 24, 72 (76) mit weiteren Nachweisen. Vgl. im übrigen zu dem Problem Dürig, Fußn. 2 bei Randnr. 4 zu Art. 1 GG. Angaben zum Streitstand auch bei Hamann- Lenzs, 1970, Anm. A 2 zu Art. 1 GG. 23 Dürig in Maunz - Dürig - Herzogs, Randnr. 4 zu Art. 1 GG mit Lit. in Fußnote 1. 24 Dürig, Randnr. 4 mit Lit. und Randnr. 7. 25 Dürig, Randnr. 10. I!& Hamann - Lenzs, 1970, Anm. A2 zu Art. 1 GG; vgl. im übrigen die Angaben oben Fußn. 21 und 22. 27 Dürig, Randnr.16 zu Art. 1 GG. 28 Dürig a.a.O.; für die privatrechtliche Betätigung BAGE 4, 274 (276). 21 22

Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

52

Der Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes gestattet hier keine eindeutige Entscheidung, da man sich die "adressatlose" Formulierung des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes als durch Satz 2 ("staatliche Gewalt") näher bestimmt denken kann oder auch im Sinne eines an jedeimann gerichteten Verbots. Art. 1 Abs. 2 hilft hier jedoch weiter. Dort bekennt sich "das Deutsche Volk" in seiner Gesamtheit zu den Menschenrechten als Grundlage u . a. "jeder menschlichen Gemeinschaft" und "der Gerechtigkeit in der Welt". Zwar könnte man meinen, dieses Bekenntnis werde durch das verbindende Partikel "darum" relativiert, indem Abs. 2 nur als eine Folgerung aus Abs. 1 des Art. 2 des Grundgesetzes erscheint. Damit würden die Zweifel hinsichtlich des Adressaten der Pflicht zum Schutz der Menschenwürde aus Abs. 1 auf Abs. 2 übertragen. Indessen können die "Grundlagen jeder menschlichen Gemeinschaft" und der "Gerechtigkeit in der Welt" nicht auf den Sektor der Staatsgewalt reduziert werden. Sie umfassen notwendig die gesamte Rechtsordnung und damit auch das Privatrecht. Wenn die Menschenrechte die Grundlagen der menschlichen Gemeinschaft und der Gerechtigkeit sein sollen, müssen sie nun einmal mehr zum Gegenstand haben als den Schutz der Menschenwürde gerade nur vor der Staatsgewalt. Eine weitere Schwierigkeit entsteht dadurch, daß Art. 1 Abs. 1 und 2 nicht von den Grundrechten schlechthin handeln, sondern von der "Menschenwürde" und den "Menschenrechten" die Rede ist. Der Zusammenhang des Art. 1 des Grundgesetzes mit den nachfolgenden Grundrechten der Art. 2 ff. zeigt jedoch, daß sowohl die "Menschenrechte" des Art. 1 Abs. 2 als auch die konkreten in Art. 1 Abs. 3 und Art. 2 ff. behandelten Grundrechte als Folgerung aus dem Prinzip der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde zu verstehen sind29, Zwar kann der Inhalt der Grundrechtsartikel des Grundgesetzes nicht einfach als Konkretisierung des Begriffs der Menschenwürde herangezogen werden, da sich eine kompromißlose Wahrung aller dieser Rechte nicht widerspruchsfrei durchführen läßt3°. Die Heraushebung einzelner Grundrechte und ihre Zusammenfassung in einer Formalkategorie "Menschenrechte" würde dieses Problem nicht lösen, da eine schrankenlose Geltung auch einzelner Grundrechte in einem geordneten Staatswesen nicht praktikabel wäre31 • Eine solche Beschränkung aller Grundrechte auf einen unantastbaren und unveräußerlichen Kern ändert jedoch nichts daran, daß Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes jedenfalls die Übernahme des Wertsystems der Grundrechte in das Privatrecht gebietet. Eine völlig starre und kompromißlose Anwendung der Grund29 30 31

Dürig, Randnrh. 6, 10, 73 zu Art. 1 GG. Dürig, Randnrn. 75-81 zu Art. 1 GG. Vgl. Dürig, Randnr. 78.

II. Diesogenannte Drittwirkung

53

rechtsartikel ist dort, wie sich zeigen wird, wegen der besonderen Gegebenheiten des Privatrechts ohnehin nicht möglich. Es kann sich also nur darum handeln, die rechtsethischen Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers, die "Grundrechtswerte" im Privatrecht unter Beachtung der Eigenarten dieses Rechtsgebietes zur Geltung zu bringen. Zusammenfassend kann somit gesagt werden, daß Art.1 Abs.1 in Verbindung mit Abs. 2 des Grundgesetzes das als Wertekatalog verstandene Grundrechtssystem in das bürgerliche Recht einführt32• Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes gebietet zwar nicht die privatrechtliche "Aktualisierung" der Grundrechte, steht ihr aber auch nicht im Wege. Er hat nur das Verhältnis Bürger- Staat zum Gegenstand. Das Fehlen einer privatrechtliehen Aktualisierungsnorm als Gegenstück des Art. 1 Abs. 3 erklärt sich aus dem historisch fixierten Blickwinkel der Väter des Grundgesetzes, denen die Problematik der Drittwirkung der Grundrechte nicht oder jedenfalls nicht im vollen Umfang bewußt war. Die Fassung des Art. 1 Abs. 2 gestattet jedoch, wie soeben dargelegt, sogar noch im Rahmen des Verfassungspositivismus die Be· rücksichtigung der GrundrechtsweTte im Privatrecht - natürlich nur soweit diese überhaupt geeignet sind, auf privatrechtliche Verhältnisse einzuwirken. Mit dieser verfassungspositivistischen Rechtfertigung der "Drittwirkung" wird es entbehrlich, auf eine überpositive Geltung der in den Grundrechten verkörperten Rechtswette zu retirieren33 • Allerdings hat das Grundgesetz die Menschenrechte nach dem in Art. 1 Abs. 2 enthaltenen "Bekenntnis" nicht konstituiert, sondern nur deklariert. So war jedenfalls die Vorstellung des Verfassungsgesetzgebers34 - deren Vorhandensein selbstverständlich nicht ihre objektive Richtigkeit impli.:. ziert. Diesem Bekenntnis zum Naturrecht in seiner spezifischen Ausgestaltung stehen wir heute eher skeptisch gegenüber35 • Auch wenn es sich aber bei den Grundrechten jedenfalls teilweise "nur" um Manifestationen der Tradition handelt, so entspricht der Grundrechtsteil doch den Bedürfnissen der in seinem Geltungsgebiet herrschenden wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse, nämlich einer auf prinzipieller FreiIm Ergebnis ebenso Dürig, Randnr. 102 zu Art. 1 GG. Vgl. Wieacker, JZ 1961, 338. Vgl. Maunz, Staatsrechtte, 1971, § 14 II 1, S. 96 f. Siehe etwa einerseits Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit2, 1967, 610 ff. mit Literatur, andererseits aber zur praktischen Bedeutung des Naturrechts von Lübtow, Autonomie oder Heteronomie der Universitäten, 1966, 10 f., 19 f.; Studi Sassaresi I, 1969, 627 ff., in beiden Schriften mit Belegen. 32

33 34 35

54

Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

heit beruhenden, nur wo nötig im sozialen Interesse diese Freiheit einschränkenden Ordnung3'.

Als unteTstützendes Argument für die hier vertretene Ansicht kann die Vorstellung des Verfassungsgesetzgebers, überpositive Werte zu verwirklichen, allerdings herangezogen werden. Die vorstaatlichen Rechte müssen notwendigerweise für alle Rechtsgebiete gelten. Die Überzeugung von der Einheit der Rechtswerte muß den Gesetzgeber also auch bei der Formulierung der Absätze 1 und 2 des Art. 1 des Grundgesetzes beherrscht haben. Diese Normen können deshalb jedenfalls nicht im Sinne einer gewollten Beschränkung der von den Grundrechtsartikeln geschützten Werte auf das Verhältnis Bürger- Staat verstanden werden. Mit der Geltung der Grundrechtswerte im Privatrecht ergibt sich auch die verfassungsmäßige Grenze der Testierfreiheit. Als wichtiger Bestandteil des im Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes garantierten "Erbrechts" ist sie zwar im Prinzip verfassungsrechtlich geschützt37• Das entbindet den Erblasser aber nicht davon, seinerseits die grundrechtlieh geschützten Positionen anderer zu achten, soweit sie auf dem Gebiet des Privatrechts Wirkungen entfalten.

m. Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte und der Anwendungsbereich des § 138 Abs. 1 BGB

1. Die prinzipielle Unentbebrlldlkelt des §138 Abs. 1 BGB als Transponlerungsnorm

Mit der Herleitung der Geltung des WeTtsystems der Grundrechte aus Art. 1 und 2 Grundgesetz auch für das Privatrecht ist allerdings noch nicht entschieden, ob der Wertkatalog des Grundgesetzes im Privatrecht unmittelbar gilt oder nur durch Vermittlung der Generalklauseln wie § 138 Abs.1, § 242 oder § 826 BGB. Das Verfassungsrecht ist zwar gegenüber dem Privatrecht die höherwertige Rechtsmaterie-,s. Es gilt ohne weiteres auf allen Rechtsgebieten und verdrängt gewöhnliches· Gesetzesrecht-vorbehaltlich des Normenkontrollverfahrens des Art. 100 des Grundgesetzes für sogenanntes nachkonstitutionelles 311 Darüber für das Gebiet des Privatrechts Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht I Allgemeiner Teil I, 1969, § 17 II, S. G 104 f. 37 Das ergibt die Entstehungsgeschichte, siehe die Entstehungsgeschichte des GG, Jahrb. f. öff. Recht 1, 1951, 145. Vgl. im übrigen Boehmer in: Die Grundrechte, herausgegeben von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Bd. II, 1954, 418 ff.; ders., Staudingers Kommentar vu, 1954, Einleitung, § 23, Randnr.18; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 19. 38 Als höherrangige Norm bricht es die privatrechtliehen Gesetze: Thilo Ramm, Einführung I Allgemeiner Teil I, § 17 V 3, S. G 105.

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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Rechtae. Diese Geltung reicht aber nur so weit, wie sie das Verfassungsrecht selbst in seinen Normen vorsieht. Was die Grundrechte anlangt, so wurde soeben dargelegt, daß die den einschlägigen Verfassungsartikeln zugrundeliegenden Werte auch im .Privatrecht gelten. Damit ist aber nichts darüber gesagt, wie sich diese Werte im Privatrecht aktualisieren. Zu einer solchen Verwirklichung bedarf es eines spezifisch privatrechtliehen Instrumentariums, das die in Rede stehenden Werte gerade im Privatrecht realisiert. Im einzelnen geht es darum, Verstöße gegen die Grundrechtswerte durch die dem System des Privatrechts eigentümlichen Rechtsbehelfe zu sanktionieren, also etwa durch die Nichtigkeit von Rechtsgeschäften, durch Begründung von Ansprüchen auf Schadensersatz oder durch die Modifikation vertraglicher Pflichten. Nun wäre es zwar nicht logisch undenkbar, ein solches System privatrechtlicher, die Grundrechtswerte in Normen realisierender Regeln im Wege der Rechtsschöpfung zu erstellen. Ganz abgesehen von der .Frage der Legitimation für eine solche Rechtsschöpfung kann man aber mit ziemlicher Sicherheit voraussagen, daß das "neue" System dem entsprechen würde, was die §§ 138, 157, 242, 826 BGB anordnen. Dieser Gesichtspunkt spricht dafür, die Grundrechtswerte über die erwähnten Vorschriften im Privatrecht wirken zu lassen, also für die mittelbare Privatrechtswirkung der Grundrechte. Was den hier insbesondere interessierenden§ 138 Abs. 1 BGB anlangt, so ist allerdings zu bedenken, daß die Bestimmung ursprünglich nicht zu dem Zweck konzipiert worden war, verfassungsrechtlichen W ertvorstellungen im Privatrecht Wirksamkeit zu verschaffen. Die "guten Sitten", die § 138 Abs.1 primär zum Gegenstand hatte, sind nach der hier vertretenen Überzeugung von den jeweils faktisch "herrschenden" Wertvorstellungen abhängig.§ 138 Abs. 1 dient- jedenfalls zunächstder Transformation dieser Wertvorstellungen in Rechtsnormen. Demgegenüber liegt der Grund der Geltung der Grundrechtswerte nicht in der Verbindlichkeit einer solchen faktischen Sittenordnung, sondern im positiven (Verfassungs-)Recht40• Der vom Gesetzgeber gemeinte sittliche Grund der Geltung der Grundrechtswerte liegt allein in der "Tugend des Gesetzesgehorsams" 41 • Diese Werte gelten deshalb auch unabhängig von einer "herrschenden" Überzeugung. Kleinere oder größere Gruppen von Nonkonformisten können sie- anders als die von faktischer Überzeugung abhängenden guten Sitten - nicht antasten, solange die in der Verfassung zum Ausdruck gekommene Grundordnung selbst nicht beseitigt wirdu. se Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Tell !111, 1959, § 15 II 4 c, S. 97, unter Berufung auf Art. 123 GG. •o Vgl. Wieacker, JZ 1961, 340. 41 Wieacker a.a.O. 42 Vgl. Wieacker a.a.O.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

Dennoch würde es keine "Umfunktionierung" des § 138 Abs.1 BGB bedeuten, wollte man sich seiner - neben anderen Paragraphen des BGB - zur Realisierung der Grundrechtswerte im Privatrecht bedienen; denn bei den Grundrechtswerten handelt es sich nicht nur um rechtsethische, sondern auch um ethische Werte, genauso wie bei den guten Sitten im Sinne der faktisch "herrschenden" Moralvorstellungen. Nun rechtfertigt allerdings das bei beiden Normkreisen vorliegende Merkmal der ethischen Qualifizierung allein noch keine gemeinsame Subsumtion unter den Begriff der guten Sitten im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB, umfaßt dieser doch ursprünglich nicht alle ethischen Normen schlechthin, sondern nur einen Ausschnitt aus ihrem Kreis, nämlich die "einfache" Sozialmoral im Gegensatz zur "Hochethik" 43 • Die Grundrechtswerte fallen also nicht schon deswegen unter § 138 Abs. 1 BGB, weil sie ebenfalls ethische Gebote enthalten. Sind aber aufgrund des § 138 Abs.l schon faktisch "herrschende" ethische Vorstellungen im Privatrecht zu beachten, so muß dies um so mehr von den verfassungsrechtlich festgelegten Grundrechtswerten gelten. Das Privatrecht darf diesen nicht eine Reverenz versagen, die sie den nur faktisch anerkannten erweist. Es ist mithin geboten, im Wege erweiterter Interpretation die Grundrechtswerte in den Begriff der guten Sitten des § 138 Abs. 1 einzubeziehen44 • Nach alledem sprechen die besseren Gründe für die sogenannte mittelbare Wirkung der Grundrechte - genauer: der Grundrechtswerte - im Privatrecht. Der Einfachheit der Terminologie wegen soll im folgenden jedoch trotzdem von der Geltung von Grundrechten oder einzelnen Grundrechtsartikeln im Privatrecht die Rede sein. Es versteht sich dabei also jmmer, daß sich diese Wirkung über § 138 Abs. 1 BGB vollzieht. 2. Abgrenzung der Intensität der Drittwirkung durch die Generalklauseln des Privatrechts

a) Der Ausgangspunkt Mit der Bejahung der Geltung der Grundwertsrechte im Privatrecht ist noch nichts über die Intensität dieser Drittwirkung gesagt. Zu Recht meint Flume", die Prinzipien der Grundrechtsnormen enthielten meist keine konkrete Aussage darüber, wann ein Rechtsgeschäft in der Weise gegen sie verstoße, daß seine Anerkennung für die Rechtsordnung ca Vgl. oben S. 39. 44 Eine neue, die ·Geltung der Grundrechtswerte und ihrer Grenzen im Privatrecht feststellende Bestimmung - etwa im Zusammenhang mit § 134 BGB- wäre zu begrüßen. Die Schwierigkeit einer solchen Normierung soll allerdings nicht unterschätzt werden. 45 Allgemeiner Teil II, 1965, § 18, 1, S. 367.

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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"untragbar" sei. Die Bezugnahme auf die "guten Sitten" gebe aber hierfür den Maßstab ab. Dagegen ist einzuwenden, daß der Katalog der Grundrechtswerte jedenfalls konkreter ist als der Begriff der guten Sitten. Schon weil § 138 Abs. 1 BGB ursprünglich gar nicht als privatrechtliches Instrument zur Verwirklichung von Grundrechtswerten ausersehen war, kann ihm keine Konkretisierungs- oder VerdeutHebungsfunktion zukommen46 • Umgekehrt sind die Grundrechtsartikel eher geeignet, § 138 Abs. 1 BGB zu konkretisieren, was den Begriff der guten Sitten anlangt. Ausgangspunkt einer Abgrenzung der Intensität der Geltung der Grundrechtswerte im Privatrecht müssen die Konsequenzen der unbesehenen Übernahme dieser Werte haben, so wie sie ihren Ausdruck in dem jeweiligen besonderen Grundrechtsartikel gefunden haben. Diese Konsequenzen sind in der Literatur als Argumente gegen die "unmittelbare" Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht bemüht worden und müssen daher hier in diesem Zusammenhang gewürdigt werden. So wurde gegen die direkte, nicht von den Generalklauseln vermittelte Geltung der Grundrechte im Privatrecht eingewendet, die Intensität der Grundrechte sei an ihrer Geltung gegenüber dem Staat ausgerichtet und Bindungen, die der öffentlichen Gewalt durchaus anstünden, wären im Verhältnis privater Einzelner und Gruppen zueinander unerträglich47• Die unmittelbare Drittwirkung würde, so meint Dürig48 , die Privatautonomie - und damit das ganze Privatrechtssystem- "an der Wurzel" treffen. An anderer Stelle49 spricht er davon, daß die Lehre von der Drittwirkung der Grundrechte "in ihren extremsten Auffassungen ... ziemlich gewiß einer Selbstpreisgabe unseres Privatrechts gleichkäme" und- speziell auf das Erbrecht abgestelltschlechthin das Ende der Testierfreiheit bedeute5°. Er führt dazu das Paradebeispiel Böhmers51 an, wonach gemäß Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes eine letztwillige Bestimmung nichtig ist, durch die jemand wegen seines Geschlechts (insoweit gilt nach Böhmer auch Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes), seiner Abstammung, seiner Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen An46 Vgl. Nipperdey in: Die Grundrechte, herausgegeben von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Bd. li, 1954, 35 f., allerdings vom Standpunkt der "unmittelbaren" Drittwirkung der Grundrechte aus. Im gleichen Sinne schon Mallmann, JZ 1951, 27. 47 Galperin, JZ 1965, 107; Dürig, Randnr. 128 zu Art.1 GG; dagegen zutreffend Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, 358 f.; Rupp, NJW 1972, 1542; s. a. Grunsky, JZ 72, 766, allerdings ohne klare Stellungnahme. 48 a.a.O. 49 Randnr. 102 zu Art. 1 GG, S. 52. so Fußnote 1 zu Randnr. 102, S. 53. 51 Die Grundrechte, herausgegeben von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Band II, 1954, 422; vgl. auch von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 309.

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schauungen wegen benachteiligt oder bevorzugt wird. Danach, so Düriglll!, wäre etwa eine letztwillige Zuwendung an männliche Abkömmlinge wegen ihres Geschlechts, an Glaubensgenossen ihres Glaubens wegen usw. unwirksam. Galperin13 fürchtet durch die Anerkennung der Grundrechte eine völlige Rechtsunsicherheit und eine entwürdigende Knebelung der Vertragspartner.

b) Die besondere Rolle der Grundrechtsträger als Privatrechtssubjekte Eine solche intensive Beeinflussung des Privatrechts wäre in der Tat die logische Konsequenz, wenn die in ihrer Wirkung auf das Verhältnis Bürger-Staat abgestimmten positiv normierten Grundrechte des Grundgesetzes unbesehen auf das Verhältnis der Privatrechtssubjekte zueinander übertragen würden, wie es das Schlagwort ausdrückt "dem Privaten kann nicht erlaubt sein, was dem Staat verboten ist"64• Zutreffend ist indessen in Literatur~~~~ und Rechtsprechung" betont worden, daß die Besonderheit der privatrechtliehen Beziehungen gegenüber dem Verhältnis Bürger-Staat eine differenziertere Behandlung der Grundrechtswerte im Privatrecht verlangt. So haben nach Dürig67 die Grundrechte auf dem Gebiet des Privatrechts gerade deshalb keine absolute Wirkung, weil Art.l Abs.l in Verbindung mit Art. 2 Abs.l ,.koordinierten Rechtsgenossen" gestatte, sich über die für das staatliche Handeln gezogenen Grenzen hinwegzusetzen. Nur diese Freiheit garantiert nach Dürig68 die Existenz eines eigenständigen Privatrechts "nicht zuletzt als Ausfluß eben der Grundrechte". Das Problem liegt also darin, daß sich nach der historisch bedingten Konzeption des Grundgesetzes die Bürger als Grundrechtsträger dem nicht grundrechtsfähigen Staat69 gegenüberstehen, die Grundrechte also nur in einer Richtung, vom Bürger gegen den Staat, wirken. Die Privatrechtssubjekte stehen sich jedoch auch als Inhaber grundrechtlich geschützter Positionen gegenüber, so daß die Grundrechtswerte nunu a.a.O. Fußn.1, S. 53; s. auch Rupp, NJW 1972, 1542; Grunsky, JZ 1972, 766.

u JZ 1956, 107. 6' So etwa Nipperdey, RdA 1950, 125 (aber vorsichtig: wenn sich nicht

ergibt, daß Private freiere Hand haben sollen als der Staat!); von Mangoldtl, 1953, Anm. 3 zu Art. 5 GG, S. 62 (in die 2. Aufl. 1966 nicht übernommen); Hamel, DVBl. 1957, 619. Dagegen Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil !16, 1959, § 15 II 4 c, S. 97; Dürig, DÖV 1958, 196; Randnr. 130 zu Art. 1 GG, S. 65 f.; Maunz, Staatsrechtle, 1971, § 14 II 11, S. 106. M Siehe die vorstehende Fußn. u BVerfGE 7, 198 (220), sog. Lüth-Urteil. 57 Randnr. 130 zu Art. 1 GG, S. 65. 68 a.a.O. 58 Dürig, Randnr. 31 zu Art. 1 GG; Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil !16, § 15 II 4 c, S. 97.

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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mehr auch gegeneinander gerichtet sein können. Es handelt sich mithin um ein Problem der Kollision von Rechtspositionen, und zwar konkret um den Zusammenstoß der privatrechtliehen Handlungsfreiheit mit den speziellen Grundrechtspositionen anderer4'0 , z. B. der Gleichheit (Art. 3 des Grundgesetzes), der Bekenntnisfreiheit (Art. 4), dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9), der Freizügigkeit (Art. 11) oder der Freiheit des Berufs (Art. 12). Die privatrechtliche Handlungsfreiheit tritt in den Formen der Vertragsfreiheit, der Testierfreiheit und der Freiheit zur Vomahme sonstiger privatrechtlicher Geschäfte in Erscheinung. Im Hinblick auf vermögensrechtliche Geschäfte unter Lebenden hat sie ihren Sitz im Art. 14 Abs. 1111 • Dort ist auch die Testierfreiheit als Bestandteil des verfassungsrechtlich gewährleisteten Kerns des Erbrechts beheimatet62• Im übrigen gilt für die privatrechtliehe Handlungsfreiheit Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes83• Kollisionen von Rechten werden am einfachsten aus der Welt geschafft, wenn einer der Beteiligten insoweit auf seine Rechte verzichtet, als die des anderen reichen. Die Konstruktion über einen "Verzicht" (im weitesten Sinne) bietet sich natürlich in erster Linie im Vertragsrecht an. Man muß jedoch fragen, ob ihr nicht die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte gemäß Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes entgegensteht. Diese Unveräußerlichkeit besagt, daß die Menschenrechte nicht einmal durch eigenes Verhalten, also auch nicht durch Verzicht, verloren gehen können84 • Die unbesehene Übertragung dieses Satzes auf die Vertragsfreiheit würde dazu führen, daß privatrechtliche Bindungen angesichts des Freiheitsrechts des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes überhaupt nicht mehr möglich wären. Man könnte daher argumentieren, daß die privatrechtliche Handlungsfreiheit eben nur im Rahmen der vom Privatrecht selbst zur Verfügung gestellten Handlungsmöglichkeiten mit den ihnen immanenten Bindungen ("pacta sunt servanda") gegeben sei. Damit würde man aber außer acht lassen, daß gerade auch das so Die Ausführungen Maunz' bei Maunz - Dürig - Herzoga, 1969, Randnrn. 14 -20 betreffen die Überschneidungen von Grundrechten, und zwar die des

wie Art. 2 Abs. 1 GG recht allgemeinen Art. 14 mit anderen Grundrechten. Für das hier in Rede stehende Problem sind die Darlegungen jedoch nicht ergiebig, da sie sich in der Betrachtung des Verhältnisses des einzelnen zum Besonderen erschöpfen (vgl. Randnr. 15 a. E.) und im übrigen Einzelgrundrechte pragmatisch gegeneinander abwägen. Aus den gleichen Gründen führen die dort angeführten Belegstellen hier nicht weiter. e1 Laufke, Festschrift Heinrich Lehrmann, 1956, 156; Dürig, Randnr. 53 zu Art. 2 Abs. I. 82 Dürig, Randnr. 43 zu Art.14 GG; Boehmer in: Die Grundrechte, herausgegeben von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Bd. Il, 1954, 418; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 19. es Dürig, Randnr. 53 zu Art. 2 Abs. I, allerdings nur unter dem Aspekt der Vertragsfreiheit. Einzuschließen ist aber auch die Freiheit zu anderen privatrechtliehen Handlungen. 64 Dürig, Randnr. 74 zu Art.1 GG.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

Privatrecht verfassungsmäßigen Bindungen unterliegt ("Drittwirkung" der Grundrechte). Dieser Teufelskreis kann nur durchbrachen werden, wenn man berücksichtigt, daß sich die privatrechtliche Gestaltungsfreiheit selbst ad absurdumführen würde, wollte man sie nicht mit der Möglichkeit einer Selbstbindung und einer Bindung des Vertragspartners kombinieren65 • Diese Bindungsmöglichkeiten aber sind nichts anderes als der "Negativabdruck" des Verzichts auf Gestaltungsfreiheit beim Vertragspartner. Um überhaupt zu praktikablen Gestaltungsmöglichkeiten und damit zu einer Gestaltungsfreiheit auf dem Gebiet des Vertragsrechts zu gelangen, ist also die Annahme einer Bindungsmöglichkeit überhaupt unerläßlich. Insofern kann man sagen, daß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (und auch Art. 14 Abs. 2) erlaubt, sich zu binden, oder mit anderen Worten, auf seine Freiheit insoweit zu verzichten. Dürig" deduziert von der in Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes zum Ausdruck kommenden "grundrechtlichen Freiheit" die Befugnis "koordinierter Rechtsgenossen", sich über die für staatliches Handeln unabdingbaren Grundrechtssätze hinwegzusetzen. Dies würde für sich genommen bedeuten, daß "koordinierte Rechtsgenossen" die grundrechtliehen Freiheiten schlechthin abbedingen dürften. So weit möchte Dürig aber in Wahrheit nicht gehen, da er den Grundrechtswerten über die Generalklauseln des BGB wieder zwingend Zutritt zum Privatrecht verschaffen will67• Es fehlt also an einem Maß für den möglichen Verzich~8 • Die Generalklauseln des BGB können ihn nicht abgeben, schon weil sie für sich genommen überhaupt nichts von den Grundrechten wissen69 • Deshalb überzeugt es nicht, wenn Dürig70 entgegen Nipperdey71 meint, es komme 85 Dürig, Randnr. 59 zu Art. 2 Abs. I GG, zählt die "Technik der Gegenseitigkeitsordnung" als zum "traditionellen Ordnungsgefüge unseres Zivilrechts gehörend" zu den die Vertragsfreiheit beschränkenden Gemeinwohlforderungen. Unter diese "Technik der Gegenseitigkeitsordnung" könnte man auch die Bindung der Vertragspartner subsumieren. Entsprechendes wäre für die das Vermögen betreffenden Verträge aus Art. 14 Abs. 2 herzuleiten (denn die "Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 gilt, ganz gleich welche Auffassung man hinsichtlich des Verhältnisses des Art. 2 zu den nachfolgenden Einzelgrundrechten vertritt [dazu unten S. 79 ff., 81 ff.], nicht für diese). Die Berufung auf das Gemeinwohl oder die Bindung des Gebrauchs des Eigentums zugunsten der Allgemeinheit erfassen n icht die Fälle, in denen ein konkreter Vertrag nur die privaten Interessen einzelner tangiert. Der Begriff des Gemeinwohls usw. würde uferlos, wollte man darunter das Wohl eines jeden einzelnen - obschon zur Allgemeinheit Gehör enden - verstehen. 66 Randnr. 130 zu Art. 1 GG, S. 65. 67 Randnr. 132 zu Art. 1, 57 zu Art. 2 Abs. I GG. 88 Der Gesichtspunkt des Verzichts paßt in erster Linie für das Gebiet des Vertragsrechts. Speziell zu letztwilligen Verfügungen unten S. 76. 69 Vgl. oben S. 55 f. 70 Fußnote 1 bei Randnr. 102 zu Art. 1 GG, S. 53. 71 DVBl. 1958, 447.

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-für die Intensität der Grundrechtswirkung im Privatrecht- darauf an, welchen Weg der Grundrechtswertrealisierung im Privatrecht man wähle, nämlich den direkten oder den über die Generalklauseln des BGB. Das Problem der Intensität stellt sich nach beiden Ansichten.

c) Das verfassungsrechtliche Maß für die Intensität der Grundrechtsbindung im Privatrecht aa) Art. 1 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes als Ausgangspunkt Das Maß für die Intensität der Grundrechtsbindung im Privatrecht könnte das Verfassungsrecht selbst abgeben. Die Aktualisierungsnorm des Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes, die auf die konkreten, nachfolgend statuierten Grundrechte verweist, richtet sich nicht an die Beteiligten des Privatrechtsverkehrs. Es verbleiben also die Absätze 1 und 2 des Art. 1 des Grundgesetzes. Danach sind die Menschenrechte - die Sublimierung der im Art.1 Abs. 1 getroffenen grundlegenden Wertentscheidung - unverletzlich und unveräußerlich und damit auch unverzichtbar72. Diese Schranke muß auch das Privatrecht achten. Die Menschenrechte sind nicht mit den konkret in den Art. 2 ff. des Grundgesetzes normierten Grundrechten identisch, sondern stellen ihren unantastbaren Kern dar73. Die Reduzierung der Grundrechte im Privatrecht auf diesen Kern würde ein brauchbares Mittel abgeben, die Kollision zwischen privatrechtlicher Handlungsfreiheit auf der einen Seite und den Grundrechten der Artikel 3, 5, 6 usw. zu vermeiden. Die Grundrechte der Art. 3, 5, 6 usw. wären dann im Privatrecht nur so weit gewährleistet, wie ihr "Kern" reicht. Die Schwierigkeit besteht natürlich nun darin, diesen "Kernbereich" näher abzugrenzen. Der Gedanke eines "unantastbaren" Kerns der Grundrechte findet sich im Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes. Eine direkte Heranziehung dieser Norm verbietet sich allerdings deswegen, weil er, wie der Zusammenhang mit Art.19 Abs.1 ergibt, nur für Einschränkungen von Grundrechten "durch Gesetz oder aufgrundeines Gesetzes" gilt. Immerhin würde die Beschränkung eines Grundrechts über den von der Menschenwürde gezogenen Rahmen in jedem Fall, weil praktisch nichts mehr von dem jeweiligen Grundrecht übrig lassend, unzulässig sein. Mit dem "Wesensgehalt" wird demnach der Mindestrahmen dessen abgesteckt, was Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes als Menschenrecht 72 Dürig, Randnr. 74 zu Art.1 GG; im gleichen Sinne Hamann- Lenz3, 1970, Anm. B 7 zu Art. 19 GG, wenn dort auf die "Menschenwürde" des Art. 1 Abs. 1 GG abgestellt wird. 73 Vgl. oben S. 52. Näheres sogleich.

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gewahrt wissen will. So stimmt nach Dürig74 der "Wesensgehalt" der Grundrechte mit den "Menschenrechten" des Art. 1 Abs. 2 überein. Demzufolge ist Art. 19 Abs. 2 die Konkretisierung des Bekenntnisses zu den "Menschenrechten"; das "Bekenntnis" besteht darin, daß diese Rechte "unantastbar" sind; der Begriff der Menschenrechte wird näher dahin bestimmt, daß es sich um den "Wesensgehalt" der Einzelgrundrechte handelt. Die in Art. 19 Abs. 2 ausdrücklich für den Gesetzgeber normierte Schranke gilt somit auch für den Privatrechtsverkehr, mit anderen Worten, zur Lösung des Problems der Kollision der privatrechtlichen Handlungsfreiheit mit anderen Grundrechten kann auf eine Analogie zu Art.19 Abs. 2 abgestellt werden. Die mit der privatrechtliehen Handlungsfreiheit kollidierenden Grundrechte gelten nur im Rahmen dieser- entsprechendangewandten- Vorschrift711. bb) Der Kernbereich der Grundrechte gemäß Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes verbietet, Grundrechte in ihrem "Wesensgehalt" anzutasten. Von Mangoldt-Klein78 halten die Bestimmung für rechtstheoretisch überflüssig, da man überhaupt keine Grundrechte zu garantieren· brauchte, wenn nicht einmal ihr Wesensgehalt 74 Randnr. 74 zu Art. 1 GG. Dagegen besteht nach Herzog in MaunzDürig- Herzogs, 1969, Randnr. 254 zu Art. 5 GG, der "Wesensgehalt" nicht nur aus dem "Menschenrechtskern" eines jeweiligen Grundrechts. Zur Erläuterung verweist er auf BVerfGE 7, 198 (208) (sog. Lüth-Urteil), das sich mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG befaßt (Herzog, Randnr. 249 zu Art. 5 GG). Danach müssen die "allgemeinen Gesetze" (nämlich im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG) "in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte dieses Grundrechtes gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts ... auf jeden Fall gewahrt bleibt". Dazu ist zu sagen, daß gerade der "Menschenrechtskern" der Grundrechte die Achtung des "besonderen Wertgehalts" des jeweiligen Grundrechts verlangt, auf diese Weise also wieder die Deckung beider Begriffe erreicht wird. Vgl. dazu unten S. 67. Ebenfalls kritisch gegenüber Dürig, aber ohne eigene Lösung Schwark, Der Begriff der "Allgemeinen Gesetze" im Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes, 1970, 77. 76 Diesen "Kernbereich" der Grundrechte muß also auch das Privatrecht achten. So Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, 155 ff. (158 f.). Er betrachtet allerdings den Menschenwürdegehalt der Grundrechte nur als ein "Kernelement", neben dem andern stehen. Diese anderen Elemente, die nach Leisner ebenfalls zum "Kern" gehören, entstammen seiner Ansicht nach dem "traditionell-technischen" Bereich eines jeden Grundrechts, so z. B. "universitäre" Gesichtspunkte bei Art. 5 GG. Dieser traditionell-technische Bereich verdient indessen den besonderen Schutz des Art. 19 Abs. 2 GG nur, soweit die Wahrung der Menschenwürde nicht auch auf anderem "technischen" Wege möglich ist. Die traditionelle Struktur der deutschen Universität müßte es sich also für die Anwendung des Art. 19 Abs. 2 gefallen lassen, auf ihre Unentbehrlichkeit für die Freiheit von Wissenschaft, Lehre und Forschung geprüft zu werden. Zu dieser Freiheit von Lübtow, Autonomie oder Heteronomie der Universitäten, 1966, 9 ff. 78 von Mangoldt - Klein!, 1966, Anm. V 7 a zu Art. 19 GG.

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vor staatlichen Eingriffen sicher sei. Sie legen der Norm jedoch große rechtspraktische Bedeutung zu, indem sie in ihr ein "mahnendes Ausrufungszeichen" erblicken, den Wesensgehalt zu achten77• Jedenfalls dient Art.19 Abs. 2 dazu, das Bekenntnis zu den "Menschenrechten" zu konkretisieren. Wie Art.19 Abs. 2 zeigt, bedeutet jedoch die Konkretisierung nicht immer auch eine Verdeutlichung. Dem Wortsinn nach ist das Wesentliche im Gegensatz zum Zufälligen dasjenige, was zum Sein eines Dinges begriffsnotwendig gehört, ohne das es etwas anderes sein würde. Es liegt auf der Hand, daß diese Definition hier nicht weiter führt, da sie gerade nicht aufzeigt, was denn nun eigentlich der begriffsnotwendige Gehalt eines Grundrechts ist. Es handelt sich also wieder um eine ausfüllungsbedürftige Formel, wie sie schon bei § 138 Abs. 1 BGB begegnete, nur mit dem Unterschied, daß im Gegensatz zum § 138 Abs. 1 hier jede Verweisung des Gesetzgebers auf einen Komplex von Normen oder Tatsachen fehlt, die zur Ausfüllung herangezogen werden sollen, wenn man einmal von der "Rückverweisung" auf die Menschenrechte des Art. 1 Abs. 2 absieht. Man darf davon ausgehen, daß der Gesetzgeber mit Art. 19 Abs. 2 den Rechtsanwendenden nicht dazu anhalten wollte, sich mit den philosophischen Theorien über das "Wesen" (otla!« ,essentia, quidditas)78 vom aristotelischen Realismus über Thomas von Aquin und Hegel bis zur Ontologie und Phänomenologie auseinanderzusetzen. Vielmehr pflegt der Gesetzgeber die Kategorie "Wesen", "wesentlich" mit Vorliebe dort zu gebrauchen, wo ihm selbst in Wahrheit scharfe Abgrenzungskriterien fehlen79 • Berühmte, nicht aus sich selbst heraus, sondern praktisch nur anhand präjudizieller Kasuistik praktikable Beispiele sind die §§ 93 und 119 Abs. 2 BGB. Der Begriff "wesentliche Eigenschaft" des § 119 Abs. 2 BGB ist aus der Unterscheidung zwischen error in substantia und error in qualitate hervorgewachsen, einem Erzeugnis der nachklassisch-byzantinischen Rechtslehre, die in lebensfremder Scholastik Zuflucht bei philosophischen Kategorien suchte8°. Seit Kant verbietet uns die Philosophie, vom Wesen einer Sache oder von ihren wesentlichen Eigenschaften zu sprechen, da wir das "Wesen" an sich nicht zu erkennen vermögen81• Man hilft sich in Rechtswissenschaft und Praxis bei der Anwendung der §§ 93 und 119 li mit dem Rückgrüf auf Anm. V7b. Dazu Scheuerle, AcP 163, 1964, 430 f., 469 f. Nach Scheuerle, 430, ist das "Wesensargument" in Wahrheit ein Kryptaargument, hinter dem sich andere Argumente verbergen. Außerdem teilt es seine Unklarheit mit dem gleichnamigen Argument der Philosophen (Scheuerle a.a.O.). 8o Gschnitzer, AcP 121, 1923, 202 f.; von Lübtow, Das römische Volk, 1955, 11 78 711

596f. 81

Gschnitzer, AcP 121, 203; von Lübtow, 596.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

wirtschaftliche Gesichtspunkte82 oder eine (wirklich vorhandene oder nur vom Richter postulierte?) "Verkehrsanschauung"83 • Es versteht sich von selbst, daß weder in der Wirtschaft noch im "Verkehr" philosophische Spekulationen angestellt werden. In der Rechtswirklichkeit - und die Theorie hat bisher keinen besseren Weg gewiesen - werden "wesentliche" Umstände also zu erheblichen, bedeutsamen, wichtigen. Eine nähere Eingrenzung ergibt das Sachgebiet, auf das sich die Regelung beziehtB'. Wo es um wirtschaftliche Fragen geht, werden "wesentliche" Umstände dementsprechend zu wirtschaftlich erheblichen, bedeutsamen, wichtigen. Dem menschlichen Denkvermögen oder auch dem Zeitgeist kommt es dabei zustatten, wenn er sich zur Deduktion der Erheblichkeit, Bedeutsamkeit, Wichtigkeit an Fakten klammern kann. So überrascht es nicht, wenn das BVerfG85 bei der Interpretation des Art. 19 Abs. 2 zunächst auf das "zu regelnde Lebensverhältnis, die tatsächlich getroffene Regelung und" - hier kommt das interessanteste Kriterium - "die gesellschaftlichen Anschauungen hierüber" abstellt. Um einen dezisionistisch auszufüllenden Spielraum zu erhalten, wird dann aber noch ein normativ gefärbtes Element eingeführt: "sowie das rechtlich geläuterte Urteil über die Bedeutung" 86• Man steht also auch hier wieder wie bei der Definition der guten Sitten vor einer zweigliedrigen, einerseits faktisch-soziologischen, andererseits normativen Formel. Das normative Element entwindet sich auch hier wieder - wie bei den guten Sitten - dem Zugriff. Scheitert er dort an der praktischen Unmöglichkeit, die Regeln der philosophischen Ethik anzuwenden, so hier wegen des Fehlens rechtlich geläuterter Urteilsmaßstäbe, die ja gerade erst gesucht werden. 82 So bei § 93 BGB: Enneccerus- Nipperdey, AllgemeinerTeil !Illi, § 125 II 1 b, S. 796; Staudinger- Coingu, Randnr. 8 zu § 93; Larenz, Allgemeiner TeilZ, § 22 II d, S. 231 f.; BGHZ 18, 226 (229); 20, 154 (156); 20, 159 (162). Gschnitzer, AcP 121, 206, stellt auf die Brauchbarkeit oder den Wert ab. Larenz, Allgemeiner Teil2, § 20 II b, S. 319, zu § 119 BGB: Es kommt auf den typischen wirtschaftlichen Zweck an. 83 Enneccerus - Nipperdey bei § 93. Staudinger - Coing, Randnr. 18 zu § 119~ Daneben gibt es die subjektive Auffassung von dem Begriff der "verkehrswesentlichen" Eigenschaft. Danach kommt es darauf an, ob sie von den Parteien ausdrücklich oder "stillschweigend" zum Vertragsinhalt gemacht wurde. So Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil Ilt5, § 168 II 2 und 3, S. 1046 ff. Das Abstellen des Gesetzes auf den "Verkehr", also ein objektives Merkmal, läßt diese Ansicht nicht richtig erscheinen. Es trifft allerdings zu, daß die Frage der "Wesentlichkeit" nur bei gleichartigen Geschäften gleich beantwortet werden kann; vgl. Enneccerus- Nipperdey, 1047. 84 Das entspricht also der von Scheuerle, AcP 163, 446 ff., als die "teleologische" bezeichneten Spielart des "Wesensarguments". 85 BVerfGE 2, 266 (285). 86 Treffend ziehen von Mangoldt - Klein!, Anm. V 5 zu Art. 19 GG die Parallele zu den "billig und gerecht Denkenden" des RG.

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Was das maßgebende faktisch-soziologische Element, "die gesellschaftlichen Anschauungen" über das "Lebensverhältnis" anlangt, so dürfte seine Ermittlung noch weit größere Schwierigkeiten bereiten als die der herrschenden Wertvorstellungen. Nicht nur, daß sich in Deutschland bisher kaum eine herrschende Überzeugung vom Kern der Grundrechtswerte ausbilden konnte, werden gerade heutzutage weite Teile der Welt und auch die Bundesrepublik von der Auseinandersetzung über politische Grundfragen erschüttert. Es dürfte deshalb jedenfalls für die Gegenwart jede Möglichkeit zu leugnen sein, Art. 19 Abs. 2 mit Hilfe allgemeiner Überzeugungen zu verdeutlichen. Literatur und Rechtsprechung tragen im übrigen nur zur Abgrenzung in einer Teilfrage bei, die Art. 19 Abs. 2 aufwirft87• Es handelt sich darum, ob die Vorschrift "absolut" oder "relativ" zu verstehen ist. Nach der "relativen" Theorie wird das Erlaubtsein eines Eingriffs in den "Wesensgehalt" an der Stärke der Gegeninteressen, die für den Eingriff sprechen, gemessen88• Im Einzelfall kann danach ein Eingriff so weit gehen, daß von dem betroffenen Grundrecht "nichts mehr übrig bleibt" 89 • Die in der Literatur vorherrschende "absolute" Meinung tritt dafür ein, daß Beschränkungen eines Grundrechts auf jeden FalZ die typischen Grundzüge unversehrt lassen muß, die den Charakter des betreffenden Grundrechts ausmachen90• Das BVerwG9 1 kombiniert beide Gesichtspunkte, indem es einen Kernbereich des Wesensgehalts annimmt, der allen Relativierungsgesichtspunkten zum Trotz unangetastet bleiben muß, also eine äußere Zone, die gleichsam den einfachen Wesensgehalt darstellt und der Interessenahwägung zugänglich ist, sowie einen inneren, harten Kern, der auf jeden Fall erhalten bleiben 87 Nicht realisierbar ist nach dem heutigen geringen Bestand gesicherter naturrechtlicher Erkenntnis die These, Art. 19 Abs. 2 GG gelte nur für Grundrechte, die der Disposition des Gesetzgebers unterliegen, die vorstaatlich gegebenen seien hingegen überhaupt nicht einschränkbar (so etwa Hamann- Lenz3, 1970, Anm. 6 zu Art. 19). Vgl. dazu oben S. 21 f. 88 So vor allem der BGH (BGHSt4, 375, 377; BGH DVB1.1953, 471 [472]; BGH DÖV 1953, 343; BGH DÖV 1955, 729 ff. = BB 1955, 1035 f.); vgl. dazu von Mangoldt- Klein2, Anm. V 4 b zu Art. 19 GG; Schmidt- Bleibtreu- Klein2, 1969, Randnr. 10 zu Art. 19 GG (beide Kommentare vertreten aber die "absolute" Theorie!). Für die "relative" Theorie auch E. von Hippe!, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, 47 ff.; Maunz, Staatsrechtts, 1971, § 17 I 1 b, S. 139. 89 E. von Hippe!, 47. 90 Wernicke im Bonner Kommentar, Anm. li 2 a zu Art. 19 GG; von Mangoldt- Klein2, Anm. V 4 a und d zu Art. 19 GG mit weiteren Nachweisen, vor allem Herbert Krüger, DÖV 1955, 598 (bei von Mangoldt- Klein an der entscheidenden Stelle wörtlich zitiert); Schmidt - Bleibtreu - Klein, Randnr. 9 zu Art. 19 GG; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, 152 ff.; Schwark, Der Begriff der "Allgemeinen Gesetze" im Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes, 1970, 76 f. 91 BVerwGE 1, 48 (51 f.); 1, 90; 1, 92 (93 f.); 1, 165 (168); BVerwG NJW 1955, 1532 (1533 f.); BVerwG DVBl. 1956, 198 f.; vgl. von Mangoldt- Klein!, Anm. V2 c zu Art.19 GG.

5 Th!elmann

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

muß. In der Literatur will Häberle die relative und die absolute Theorie miteinander verschmelzen81• Er betrachtet die zulässigen Grenzen der Grundrechte nicht als Beschränkungen, die von außen an diese herangetragen werden, sondern als dem jeweiligen Grundrecht immanente Schranken, die sich aus seiner Abwägung mit höher- und gleichwertigen Rechtsgütern ergeben13• Unantastbarer "Kern" ist für ihn jener Bereich, "von dem ab es fraglos keine legitimen grundrechtsbegrenzenden gleich- ode-r höherwertigen Rechtsgüter mehr gibt" 9'. Die völlige Verdrängung eines Grundrechts ist also auch nach Häberles Lehre nicht ausgeschlossen, nämlich wenn nur ein "gleich- oder höherwertiges Rechtsgut" vorhanden ist. Es bleibt dann also möglicherweise von einem Grundrecht auch einmal nichts übrig; sein "Kern" schrumpft auf ein Nichts. Die Stellungnahme zu diesen Ansichten muß davon ausgehen, daß ein "unantastbarer" Bereich keinerlei Nützlichkeitsgesichtspunkten geopfert werden darf. Die Relativierung des Grundrechtsschutzes auch im Kernbereich des Wesensgehalts schließt die Verfolgung keines wie immer gearteten Ziels auf Kosten der Grundrechte aus, wenn es nur nützlich genug erscheintts. Um dem allgemeinen Rechtsprinzip der Verhältnismäßigkeit oder dem der Güterahwägung zu genügen, hätte es keiner besonderen Regelung bedurft. Vom Standpunkt der relativen Theorie ist Art. 19 Abs. 2 überflüssig". Es ist mithin der "absoluten" Theorie zu2'JUStimmen. Erwägungen über Nützlichkeit und Verhältnismäßigkeit, ein Hindern am leichtfertigen Hinwegsetzen über Grundrechtswerte, mögen außerhalb des von Art. 19 Abs. 2 geschützten Kernbereichs ihre Bedeutung haben; der Forderung nach Unantastbarkeit genügen solche Erwägungen jedoch nicht. Es muß vielmehr einen Bereich der Grundrechte geben, der solchen generellen Verhältnismäßigkeits- und Nützlichkeitserwägungen verschlossen ist. Dabei kann es dahinstehen, ob sich ein solcher besonders gesicherter Bereich schon aus dem Sinn der Grundrechte ergibt97 - Art. 19 Abs. 2 hätte dann nur deklaratorische Bedeutungee - oder ob er erst durch Art. 19 Abs. 2 konstitutiv geschaffen wurde. Jedenfalls erscheint es nicht richtig, den Bereich der Unantastbarkeit der Grundrechte erst dort beginnen zu lassen, wo die Unantastbarkeit eines 92 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz!, 1972, 64ff. 93 Häberle, 51 ff., 58 ff. u Häberle, 64. 95 Herbert Krüger ebd.; von Mangoldt- Klein!, Anm. V 4 d zu Art. 19 GG; Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 154. 96 Diese Konsequenz zieht von seiner Ansicht aus zutreffend E. von Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, 63. 97 So von Marigoldt - Kleint, 1966, Anm. V 7 a zu Art. 19. 98 von Mangoldt - Klein ebd.; Häberle, 261.

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jeden Rechts schon aus allgemeinen Gesichtspunkten der Rechtsgüterabwägung resultiert. Der Sinn der besonderen Zone der Unantastbarkeit gerade der Grundrechte wird aber klar, wenn man die von Häberle sogenannten "gleich- oder höherwertigen Rechtsgüter" konkretisiert. Ist ein Kernbereich "unantastbar", dann dürfte er nach der strengen Wortbedeutung des Ausdrucks allerdings gar keinem anderen Rechtsgut geopfert werden. Strikt durchführen kann man dieses Prinzip indessen nicht, wo gerade die Kernbereiche von Grundrechten miteinander in Konflikt geraten99• Allein sie sind anderen Grundrechtskernen mindestens gleichwertig. Hier bleibt dann in der Tat nichts anderes übrig als eine Rechtsgüterabwägung100• Da die Kerne der Grundrechtswerte nur ziemlich enge Bereiche umfassen, wie sogleich dargelegt wird, bleibt die Möglichkeit solcher "Kernkonfiikte" entsprechend gering, jedenfalls viel geringer als die der Grundrechtskonflikte überhaupt101 • Wieweit der Kern= Wesensgehalt der Grundrechte reicht, ist damit noch nicht gesagt. Nach dem BVerfG1ot muß der besondere Wertgehalt des Grundrechts (im entschiedenen Fall Art. 5 Abs. 2 des Grundgesetzes) auf jeden Fall gewahrt bleiben. Die Konkretisierung dieser Formel soll hier wie folgt versucht werden. Denkbar (das bedeutet hier nicht: zulässig) ist es, ein Grundrecht für eine Person103, für mehrere oder überhaupt gänzlich und für immer, vorübergehend, in einzelnen Richtungen auszuschließen oder aber seine Ausübung zu erschweren oder mit Nachteilen zu verbinden. Es liegt auf der Hand, daß eine gänzlich und für immer wirkende Verhinderung als denkbar stärkste Beeinträchtigung den "Wesensgehalt" trifft. Vorübergehende gänzliche Verhin88 Beispiele für Konflikte von Grundrechtswerten (nicht ihrer "Kerne"!) etwa bei Wehrhahn, AöR 82, 1957, 273; E. von Hippe!, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, 35 ff.; Maunz in Maunz - Dürig -Herzogs, Randnrn.14-23 zu Art.14 GG. Näher zur Grundrechtskollision Dürig, Grundrechtsverwirklichung auf Kosten von Grundrechten, in: Summum ius, · summa iniuria, 1963, 80 ff. too Diese Kategorie weist natürlich den Weg der Lösung nur allgemein (vgl. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, 38 ff.). Sie enthebt nicht der Mühe, für jede konkrete Konfliktsituation eine individuelle Abwägung der jeweils in Frage stehenden Interessen und ihrer Bewertung vorzunehmen. Die Staatsrechtswissenschaft ist hier von einem halbwegs vollständigen System noch weit entfernt (vgl. Knies, 40 f.). Eine solche umfassende Kasuistik geht indessen über das vorliegende Thema hinaus. 1o1 So ist es etwa klar, daß das Anbringen des Wahlplakats im Wohnungsfenster (BVerfGE 7, 230) nicht zum Kern des Rechts auf freie Meinungsäußerung gehört, weil der Wohnungsinhaber seine politische Oberzeugung auch auf anderem, obgleich kostspieligerem oder schwierigerem, Wege Ausdruck verleihen konnte. 102 BVerfGE 7, 198 (208). Vgl. Herzog in Maunz- Dürig- Herzogs, Randnm. 249 und 254 zu Art. 5 GG; oben Fußn. 74 zu S. 62. 10s Zum subjektiven "personellen" Aspekt der Wesensgehaltsgarantie von Mangoldt - Klein2, Anm. V 6 b zu Art. 19 GG.

5•

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

derungen müssen ein absehbares Ende haben und dürfen nicht zu schweren "irreparablen" Folgen führen104. So würde etwa ein striktes Verbot101i der Eheschließung vor Vollendung des 35. Lebensjahres den Wesensgehalt des Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes antasten, da die Familiengründung natürlicherweise früher erfolgt. Desgleichen würde eine ein halbes Jahr von einer Wahl bis zu deren Zeitpunkt angeordnete totale Informationssperre den Wesensgehalt des Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes angreifen. Der Ausschluß der Ausübung eines Grundrechts in einzelnen Richtungen trifft den Wesensgehalt, wenn keine oder keine praktikablen Ausweichmöglichkeiten bestehen106. So würde das Verbot einer Zeitung den Wesensgehalt des Art. 5 treffen, wenn danach nur noch die Information aus einer parteipolitisch festgelegten Richtung möglich wäre. Das Verbot in einer Richtung kann aber auch einer Totalbehinderung gleichkommen, wenn der Sinn des Grundrechts gerade dahin geht, eine Wahl in einer bestimmten Richtung treffen zu dürfen107, so z. B . hinsichtlich eines religiösen Bekenntnisses, das sich grundlegend von allen anderen unterscheidet (Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes). Das gilt vor allem für das all~emeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes. Nachteile und Behinderungen108 bei der Ausübung von Grundrechten tasten den "Wesensgehalt" an, wenn sie im Kernbereich prohibitiv wirto4 Ein Beispiel zu Art. 1 GG, in dem der Wesensgehalt nicht angetastet würde, bildet das Notaufnahmegesetz, um das es in BVerfGE 2, 266 ff. ging. tos Hingegen würden mäßige Erschwerungen der Eheschließung oder ihr Verbot für unter 20jährige jedenfalls den Wesensgehalt des Art. 6 Abs.1 GG nicht antasten, da eine normale Familiengründung immerhin möglich bleibt. Art. 6 GG verlautbart zwar überhaupt keine Einschränkungsmöglichkeiten dieses Grundrechts, aber es ist an die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG und an ungeschriebene "immanente" Grundrechtsschranken zu denken. Dazu unten S. 79 ff. tos Dies ist der von Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, 157, hervorgehobene Gesichtspunkt des "Quantums" der Freiheitssphäre, von der nach Leisner ein "- wenn auch geringer - selbständiger Teil" verbleiben muß. Beispiel Leisners (S. 157 Fußn. 98): Beschränkung eines Berufstätigen auf ein Gebiet, wenn alle Gebiete gleiche Arbeitsmöglichkeiten bieten. Auf die Intensität der Beschränkung (im konkreten Fall: der Freizügigkeit) stellt auch Merten, NJW 1972, 1799, ab für die Frage, inwieweit privatrechtliche Verträge über § 138 Abs. 1 BGB wegen Verstoßes gegen einen Grundrechtswert sittenwidrig sind. 107 Die von Leisner, 157, als "qualitativ" verschieden angesprochenen Teilbereiche. Von jedem von ihnen muß nach Leisner ein "Minimum" bleiben. Wenn sich die "qualitative" Wahl auf eine Wahlmöglichkeit beschränkt (es gibt z. B. nur eine Sekte, die der religiösen Haltung des Betreffenden entspricht), dann muß sie indessen nach Art. 19 Abs. 2 GG erhalten bleiben. Die Reduzierung auf ein "Minimum" entfällt, da eine quantitative Einschränkung nicht mehr möglich ist. 1os Dazu für den Bereich staatlichen Handeins Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970.

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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ken, d. h. wenn sie einen durchschnittlich standhaften Charakter von der Ausübung abhalten. So braucht sich z. B. niemand nur wegen der Praktizierung seiner Rede- oder Glaubensfreiheit auf eine wirtschaftliche Kümmerexistenz beschränken zu lassen. Zu beachten ist jedoch, daß niemand einen Mehrbedarf vom Staat oder von anderen ersetzt verlangen kann, den die Ausübung eines Freiheitsrechts mit sich bringt. Wer in eine Gegend zieht, wo er keine Arbeit findet (Art. 11 des Grundgesetzes), eine "brotlose Kunst" als Beruf wählt (Art. 12), einem seine finanziellen Möglichkeiten übersteigenden Verein beitritt (Art. 9) kann nicht unter Berufung auf Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes finanziellen Ausgleich erwarten1llll. Freiheitsrechte begründen jedenfalls in ihrem "Wesensgehalt" keine Verpflichtung des Staates oder anderer, mehr zu tun als Freiheitsbeschränkungen zu unterlassen. Bestätigt wird dies durch Art. 11 Abs. 2 Satz 1, wonach das Recht der Freizügigkeit dem Vorhandensein einer ausreichenden Lebensgrundlage nachgeht. Anders sieht es bei Grundrechten aus, die eine weitergehende Leistungspflicht enthalten (sog. status positivus im Gegensatz zum bloßen status negativus des Berechtigten). Neben Art. 6 ist hier vor allem Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes zu nennen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Daher muß der Staat jedem, der eine Familie gründen will, eine angemessene finanzielle Mindestgrundlage gewähren, und aus Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes sowie dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes ergibt sich der Anspruch auf ausreichende Sozialhilfe in Gestalt eines subjektiven Rechts110• Leistungen unter dem Existenzminimum des einzelnen (Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes) oder der Familie (Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes) wären mit Art. 19 Abs. 2 unvereinbar. Eine Sonderstellung nimmt in diesem Zusammenhang auch das Grundrecht der Gleichheit (Art. 3 des Grundgesetzes) ein. Gleichheit kann man aus begrifflichen Gründen nicht in verschiedenem Ausmaß gewähren. Eine unterschiedliche Intensität der an gleichzubehandelnde Tatbestände anknüpfenden Sachverhalte ist indessen auch hier denkbar. So kann auf der einen Seite die Ungleichbehandlung existenzvernichtend wirken, auf der anderen Seite nur mehr oder weniger nichtige Unbequemlichkeiten zum Gegenstand haben, z. B. den Besuch eines Parks, einer Gaststätte oder einer Ausstellung. Anders sieht es natürlich aus, wenn z. B. einer ethnischen Gruppe der Zugang zu allen Parks, Lokalen usw. ganz oder in erheblichem Umfang verwehrt wird. Zu beachten ist dabei auch der Faktor der Entwürdigung einer solchen Gruppe, der meist schwerer wiegt als die eigentliche "äußerliche" Un109 110

Vgl. Bauschke- Kloepfer, NJW 1971, 1237. Näher dazu Dürig, Randnr. 27 zu Art. 1 GG mit weiteren Nachweisen.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

gleichbehandlung. Nicht die Unmöglichkeit z. B. des Lokalbesuchs - in Wahrheit eine Nichtigkeit - ist meistens das Ausschlaggebende, sondern die in dem Ausschluß liegende Erniedrigung etwa einer Rasse oder eines Volkes (Afrikaner, Türken; im Dritten Reich: "Juden unerwünscht"). Eine solche Erniedrigung verstößt gegen das Leitprinzip der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes), das auch den Gleichheitssatz des Art. 3 beherrscht. In Anlehnung an die Freiheitsrechte ist der "Wesensgehalt" des Art. 3 also dahin zu bestimmen, daß niemand aufgrundseiner "andersartigen" Merkmale, also z. B. wegen seines Geschlechts, seiner Rasse, seiner politischen oder religiösen Anschauungen, dergestalt beeinträchtigt werden darf, daß die Beeinträchtigung bei einem Freiheitsrecht "prohibitiv" wirken würde, einen durchschnittlich standhaften Charakter also zur Aufgabe des Merkmals veranlassen würde, könnte er dies tun (was zuweilen denkbar wäre, etwa bei der politischen oder religiösen Überzeugung, manchmal nicht, wie bei der Rasse). Die nach Art. 3 Abs. 3 ebenfalls verbotenen Bevorzugungen sind auf privatrechtlichem Gebiet insoweit unstatthaft, wie sie die "prohibitive" Benachteiligung eines anderen zur Folge haben (z. B. bei der Enterbung der Abkömmlinge des Erblassers zugunsten seiner Glaubensgenossen)111 • Ferner ist in ·jedem Fall eine Verletzung der Menschenwürde durch die Ungleichbehandlung verboten. Im übrigen ist hier eine gewisse Flexibilität der Grundrechtsverwirklichung dadurch verbürgt, daß der Gleichheitssatz keine schematische Gleichmacherei gebietet, sondern ein Willkürverbot und ein Gebot zu sachgerechtem Handeln darstellt11t. cc) Sittenwidriges Verhalten im "Kernbereich" der Grundrechte In den beschriebenen Kernbereich der Grundrechte darf also weder von Staats wegen noch durch ein privates Rechtsgeschäft, etwa ein Testament, eingegrüfen werden. Nach dem bisher Gesagten wäre der Wesensgehalt der Grundrechte auch gedeckt, soweit er sittenwidriges Verhalten zum Gegenstand hätte. Das träfe etwa auf die Wahl des Berufes einer Prostituierten113 oder die Betätigung in einer Sekte zu, zu deren Glaubensbekenntnis die Verbreitung pornographischer Darstellungen gehört114• Ein Erblasser dürfte dann einen Abkömmling möglicherweise wegen solcher Verhaltensweisen nicht enterben. Näheres unten S. 308 f. m Dazu näher unten S. 300 f. ua Beispiel nach Dürig, Randnr. 74 zu Art. 2 Abs. I GG. m Konkret: etwa ein neuer Priapuskult.

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III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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Die Lösung, hier einfach das Vorliegen eines Berufes oder eines Glaubensbekenntnisses zu leugnen, dürfte zu billig sein. Mit Hilfe der "gesellschaftlichen Anschauungen" und des "rechtlich geläuterten Urteils", worauf das BVerfG1 16 für Art.19 Abs. 2 abstellt, käme man zu praktikablen Ergebnissen, aber nur, weil die Formel volitiven Entscheidungen weitesten Raum gibt. Besser gelangt man zum Ziel, wenn man die Grundrechtsordnung in ihrer Gesamtheit selbst betrachtet. Das bedeutet zunächst, daß die vom Grundgesetz postulierten Werte nicht von "der" oder irgendeiner sich neubildenden Sittlichkeit verdrängt werden dürfen. Eine Moral.:. auffassung, wonach die religiöse Betätigung und ein Glaubensbekenntnis überhaupt "unsittlich" ist111, wäre gegenüber dem Kernbereich des Art. 4 des Grundgesetzes unbeachtlich. Entsprechendes gilt für die Ehe (Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes). Das Grundgesetz versteht darunter die prinzipiell auf Dauer, wenn nicht auf Lebensdauer angelegte, freiwillige Verbindung eines Mannes mit einer Frau zur Lebensgemeinschaft117. Eine "neue" Sittenanschauung könnte demgegenüber nichts ausrichten. Diese "Sittenfestigkeit" gilt nicht zuletzt auch für das allgemeine Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes. Zwar ist die Freiheit der Entfaltung der Persönlichkeit unter anderem durch das "Sittengesetz" beschränkt. Das darf aber nicht dazu führen; daß die prinzipielle Freiheit selbst aufgehoben, das Sittengesetz also von einer bloßen Schranke der Freiheit zu ihrem Surrogat wird. Selbstverständlich wirkt sich das Sittengesetz immer auf Kosten der persönlichen Freiheit aus, und diese Beschränkung kann sogar zu ihrer Aufhebung auf einzelnen Gebieten führen. Immer sind dies jedoch Beschränkungen, die von außen, aus anderen Gesichtspunkten an die Freiheit herantreten, sie gleichsam nur quantitativ begrenzt aus einzelnen konkreten Gründen verdrängen. Als "sittenfest" gemeint ist demgegenüber die Freiheit als solche. Eine Moral, welche die persönliche Freiheit in ihrer BVerfGE 2, 266 (286). ua So ist die Gedankenassoziation Bettler-Popen-Läuse-asoziales Verhalten in der USSR, obschon nicht allgemein gebilligt, so doch auch nicht derart abwegig, wie sie bei uns erscheinen mag. 117 BVerfGE 10, 59 (66); von Mangoldt- Klein!, 1966, Anm. III 3 und 4 zu Art. 6 GG; Maunz in Maunz- Düriga, Randnm.14, 17 zu Art. 6 GG; HamanLenzs, 1970, Anm. 2 zu Art. 6 GG; Das Gesetz des Staates und die sittliche Ordnung (vgl. oben Fußn. 33 auf S. 20), 15; Wieacker, JZ 1961, 344; Thilo Ramm, Einführung in das Privatrecht I Allgemeiner Teil 111, § 55 1 I c, S. G 655; OVG Münster OVGE 18, 214. - Die Oberzeugung von der alleinigen Sittlichkeit der "Gruppenehe" erscheint heute jedenfalls nicht so völlig absurd wie noch vor wenigen Jahren. Vgl. Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 313 f. Auch ·die Konstruktion der Unsittlichkeit jeglicher intensiver erotischer Bindung in Aldous Huxleys Brave New World beeindruckt heute nicht mehr als so extrem phantastisch wie beim Erscheinen des Bucht-s im Jahre 1932. 115

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Teil I.D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

Qualität, als eigenständigen Wert leugnen wollte, wäre grundgesetzwidrig und daher unbeachtlich. Es darf sich bei den nach Art. 2 Abs. 1 beachtlichen Sitten also immer nur um solche handeln, die punktuell einzelne Aspekte der Freiheit in ihrer konkreten Ausprägung treffen, etwa den Sexualbereich oder die wirtschaftliche Betätigung. Hier können die guten Sitten einen heute engeren, morgen weiteren und übermorgen wieder engeren Bereich abstecken. Grundgesetzwidrig wäre hingegen eine Norm, die den Gehorsam einem "Führer" oder einer anderen Instanz (etwa irgendeiner "Führung") gegenüber zum Eigenwert proklamieren wollte. Angesichts der Hypothese solcher die auf der Einehe basierende Familie oder den Eigenwert der persönlichen Freiheit negierenden "guten" Sitten taucht natürlich die Frage auf, ob das Grundgesetz einen derart einschneidenden Wandel der Verhältnisse überhaupt faktisch überleben würde. Man braucht kein Marxist zu sein, um dem rechtlichen im Grundgesetz positivierten "Überbauelement" für den Fall einer solchen Entwicklung die Überlebenschance abzusprechen. Die außerpositive Fortgeltung der Grundrechtswerte ist dann eine Frage naturrechtlicher Überzeugung. Abgesehen von einem derartigen "Erdrutsch" wirkt das Grundgesetz jedoch als Bollwerk gegen eine Erosion der in den Grundrechten verkörperten ethischen Werte. Schwieriger und auch praktisch bedeutsamer als die "Sittenfestigkeit" der Grundrechte überhaupt ist das Problem, wenn es, wie in den Beispielen des "Berufs" der Prostituierten oder der pornographischen Aktivität der Sekte, darum geht, ob die guten Sitten die Freiheitsräume der als solche nicht in Frage gestellten Grundrechte lediglich einengen. Die guten Sitten sind, wie Art. 2 Abs. 1 zeigt, kein dem Grundrechtssystem fremder Faktor. Sie begrenzen im Rahmen der sogenannten Schrankentrias118 dieser Vorschrift die allgemeine Handlungsfreiheit durch das "Sittengesetz". Neben der - ja auch im Rahmen des § 138 Abs. 1 BGB zu berücksichtigenden - "verfassungsimmanenten Ethik" umfaßt das "Sittengesetz" des Art. 2 Abs. 1 auch die allgemein oder überwiegend anerkannte und praktizierte MoraP19 und deshalb auch die gleichrangige120 "einfache" Sittlichkeit des § 138 Abs. 1 BGB. Insofern decken sich "Sittengesetz" und "gute Sitten". Man müßte also nun weiter fragen, ob die "Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 und damit ue von Mangoldt- Kleint, Vorbem. B XV 3 a, S.130: "allgemeiner Gemeinschaftsvorbehalt". ue Zu der Frage der Deckung des "Sittengesetzes" des Art. 2 Abs. 1 GG und der "guten Sitten" des § 138 Abs. 1 BGB vgl. Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 102, 261 f., 378 f. mit weiterer Literatur 102 Fußn. 326. 120 Vgl. oben S. 39.

111. Drittwirkung und Anwendungsbereich des§ 138

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die Begrenzung durch das "Sittengesetz" ungeschrieben auch für die nachfolgenden Einzelgrundrechte gilt121 • Damit wäre jedoch die Schwierigkeit nicht überwunden. Art. 2 Abs. 1 - selbst wenn man seine Schranken auf die anderen Grundrechte ausdehnen wollte - bestimmt nämlich nur, aus welchen Gründen, aufgrund welcher wertmäßigen Erwägungen ein Grundrecht u. a.122 eingeschränkt werden darf. Die Beschränkung besagt aber nichts darüber, wieweit eine solche Einschränkung in das Grundrecht eingreifen darf. Art. 2 Abs. 1 ordnet an, daß das allgemeine Freiheitsrecht (und vielleicht auch die anderen Grundrechte) aus gewissen Gesichtspunkten eingeschränkt sind, aber nicht, was von den Grundrechten etwa übrig bleiben muß, wenn die Gesichtspunkte der Schrankentrias eingreifen. Natürlich kann man, wenn man Art. 2 Abs.1 und die Einzelgrundrechte isoliert betrachtet, logisch in der "Schrankentrias" eine absolute Grenze aller Freiheit erblicken. Das läßt sich aber an den beiden anderen Gliedern der "Schrankentrias" ad absurdum führen. Weder die "verfassungsmäßige Ordnung" noch die "Rechte anderer" können als absolute Maßstäbe genommen werden. Selbstverständlich müssen sie sich am Wertsystem der Grundrechte orientieren, wenn sich die Verfassung nicht selbst aufheben wollte. Rechtstechnisch läßt sich der Zwiespalt nur überwinden, indem man den "Wesensgehalt" der Grundrechte als "Schranke der Schranken" anerkennt, mit anderen Worten, Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes geht Art. 2 Abs. 1 vor. Dieses Rangverhältnis gilt für das Sittengesetz und alle übrigen generellen oder speziellen positiv oder "immanent"123 vorhandenen Grundrechtsschranken124. Art. 2 Abs. 1 gibt also nichts für die Lösung der Frage her, ob die Grundrechte generell ihre Grenze am Sittengesetz finden. Weiter führt indessen die Besinnung auf den wertmäßigen Ursprung des Art.19 Abs. 2. Die Bestimmung stellt die rechtstechnische Nutzanwendung der in Art. 1 Abs. 2 getroffenen Entscheidung für die "Menschenrechte" dar125, die ihrerseits wieder die "Sublimierung" der in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes enthaltenen Grundwertentscheidung zugunsten der Menschenwürde ist. 121 Dazu unten S. 79 ff. 122 Daneben gibt es natürlich noch die konkreten, in den einzelnen Grundrechtsartikeln ausdrücklich aufgeführten Schranken, besonders düferenziert z. B. in Art. 11 GG. 12s Zu den "immanenten" Grundrechtsschranken unten S. 81 f. 124 von Mangoldt- Klein!, Vorbem. XV 3 c, S. 133; Anm. V 1 a zu Art. 19 GG; Wernicke im Bonner Kommentar, Anm. II 2 b zu Art. 19 GG; Hamann- Lenzs, 1970, Anm. B 6 zu Art. 19 GG; anders Maunz, Staatsrecht18, 1971, § 15 I 2, 8.112 f.

1211 Vgl. oben S. 62.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

Schon sprachlich liegt im Begriff der Würde ein Element des Maßes und der Zurückhaltung. Zügelloses Verhalten ist auch stets würdelos. Sucht man allerdings nach einer Konkretisierung dieses Elements des Maßes und der Zurückhaltung, so stößt man ganz überwiegend auf variable, von den jeweils herrschenden gesellschaftlichen Anschauungen und wirtschaftlichen Bedingungen geprägte Faktoren. Um als Beispiel das Gebiet von Ehe und Familie auszuwählen, so entspricht die Einehe unseren "abendländisch" geprägten Vorstellungen von "würdigem" Verhalten (und auch den wirtschaftlichen Erfordernissen einer bürgerlichen "Mittelstandsgesellschaft", in der sich nur wenige Männer mehrere Frauen "leisten" könnten)128• Vielleicht bahnt sich hier mit zunehmender Berufstätigkeit der Frauen eine Änderung an, wobei die Moralvorstellungen natürlich immer zeitlich hinter den wirtschaftlichen Gegebenheiten herhinken117• Kaum jemand würde aber deshalb den in Vielweiberei lebenden Gerechten des Alten Testaments oder den Pascha eines gegenwärtigen fremden Kulturkreises als würdelos bezeichnen. Entsprechendes gilt für die Geschwisterehe der Pharaonen128• Die Menschenwürde ist mithin ein variabler Begriff, dessen detaillierte Ausgestaltung nicht von den jeweils allgemein als verbindlich anerkannten ethischen Werten getrennt werden kann. Zu diesen Werten gehören die guten Sitten. Ihre Beachtung auch bei der Ausübung der Grundrechte steht also in Einklang mit der Menschenwürde und daher auch mit Art.19 Abs. 2 des Grundgesetzes129. t28 Man denke demgegenüber an die halbinstitutionalisierte maitresse a la courdes 17. und 18. Jahrhunderts. 127 Zu der "modernen" aus mehreren Paaren mit Kindern bestehenden "Großfamilie" Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 313f. 12s Beispiele nach Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit!, 1967, 612, gegen die Möglichkeit, einen detaillierten Normenkodex unwandelbarer Geltung durch das Naturrecht aufzustellen. 121 So im Ergebnis auch Maunz, Staatsrechtts, 1971, § 15 I 2, S. 112 f. Das gilt ebenfalls für Art. 5 GG, insbes. die Kunstfreiheit seines Abs. 3 (OLG München NJW 1971, 844 [846] mit weiterer Rechtsprechung; Lit. bei F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1969, 17 Fußn. 20; zu Besonderheiten der Freiheit der Forschung gemäß Art. 5 Abs. 3 GG - Möglichkeit der Gefährdung von Gemeinschaftsgütern in viel größerem Ausmaß als bei der Kunstfreiheit I - BayObLG NJW 1972, 348 [349]). Zu den Schranken der Kunstfreiheit näher Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967. Zwar leugnet Knies zu Unrecht jede "immanente" Grundrechtsschranke (S. 85 ff.; ihm zustimmend F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 17). Das läßt sich mit der Herkunft der Grundrechte vom Prinzip des Art. 1 Abs. 1 und 2 GG nicht vereinbaren (vgl. unten Fußn. 158 zu S. 82). Knies ist aber zuzustimmen, wenn er ein besonderes "Genieprivileg" ablehnt (S. 286 ff. (273 f.]) und Lösungen verwirft, die aufgrund eines in Wahrheit unmöglichen qualitativen Kunstbegriffs einen absoluten Vorrang der Kunstfreiheit konstruieren wollen (Knies, 112 ff., 119 ff., 134 ff.). Die Kunstfreiheit ist also kein vom GG konkretisierter, besonderer "sittenfester" Wert wie etwa die auf der Einehe basierende Familie oder die Glaubensbetätigung als solche (oben S. 71). Richtig erscheint es auch, mit

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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Diese Grenze der Grundrechte gilt auch für die durch Art.14 Abs. 1 des Grundgesetzes garantierte Testierfreiheit130• Ihr verfassungsmäßiger Schutz impliziert nicht die Befugnis für den Erblasser, entgegen den guten Sitten zu verfügen. Diese Grenze tritt also zu derjenigen hinzu, wonach der Erblasser die grundrechtlich geschützten Positionen anderer zu achten hat131 • Das "Sittengesetz" nimmt mithin in der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 einen besonderen Platz ein. Es begrenzt, anders als die übrigen Glieder der "Schrankentrias" auch den "Wesensgehalt" der Grundrechte, soweit es nicht in Widerspruch zu den positivierten Grundrechtswerten tritt. Diese Wirkung, das muß betont werden, ergibt sich aber nicht aus Art. 2 Abs.l des Grundgesetzes, sondern aus Art.1 Abs.1 in Verbindung mit Abs. 2. Eine Verbindungslinie zu Art. 2 Abs.1 besteht allerdings insofern, als die Erwähnung des Sittengesetzes dort eine konkrete Auswirkung der Grundwertentscheidung des Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes darstellt13!.

Knies die aktuelle Problematik des Spannungsverhältnisses Kunstfreiheit sexuelle Sittlichkeit in der Unbestimmtheit des Tatbestandes des § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB (Knies, 268 ff.), besonders im Hinblick auf die gegenwärtige "Neubesinnung und Krise" (Knies, 273) auf dem Gebiet der Sexualität zu suchen (zur Konkretisierung des § 184 StGB im Hinblick auf neue, laxe Moralvorstellungen Erbe!, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, 1971, 382 ff.). Dieser Gesichtspunkt gilt für das Verhältnis der guten Sitten zu den Grundrechten allgemein. Begreift man unter jenen wirklich nur, was (noch) "herrschende" Auffassung ist und bedenkt man, daß die konkrete Art und Weise der "Veröffentlichung" des Kunstwerks (z. B. Leserkreis einer Zeitschrift!) nicht aber dieses selbst beurteilt werden muß, so verliert das Problem Art. 5 GG und sexuelle Sittlichkeit viel von seiner emotionellen Brisanz. Simpel: "Gewagte" Darstellungen in der Illustriertenpresse irritieren heute 49 Ofo der Bevölkerung, 42 °/o nehmen daran keinen Anstoß, 9 Ofo sind unentschieden (Bericht in der Zeitung "Die Welt" vom 1. 12.1970, Seite 2, über eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach). Das erlaubt aber noch nicht den Schluß, daß ein gleicher Prozentsatz der Bevölkerung die Praktizierung sexueller Libertinage gutheißt. Zum Verhältnis von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 3 GG auch BGH NJW 1971, 1645 (1647). Der BGH nimmt eine gegenseitige Beeinflussung an, verneint jedoch, daß die Kunst "sich ohne weiteres über den allgemeinen Achtungsanspruch des Menschen hinwegsetzen darf". Zustimmend BayObLG NJW 1972, 348 (349). Näher zu den Grenzen der Wissenschaftsfreiheit von Lübtow, Autonomie oder Heteronomie der Universitäten, 1966, 11 ff. (19). 130 Vgl. zum Schutz der Testierfreiheit durch Art. 14 Abs. 1 GG Boehmer in: Die Grundrechte, herausgegeben von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Bd. Il, 1954, 418 ff.; ders., Staudingers Kommentar vu, 1954, Einleitung, § 23, Randnr. 18; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 19. 1a1 Vgl. oben S. 54. 132 Dürig, Randnr. 72 zu Art. 2 Abs. I GG, bezeichnet Art. 2 Abs. 1 als die "hervorragendste Wertverdeutlichung" des Art.1 Abs.1 GG.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

dd) Besonderheiten der Grundrechtsbindung bei letztwilligen Verfügungen Maßstab für die Intensität der Grundrechtsbindung im Privatrecht sind also Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie 19 Abs. 2 des Grundgesetzes. Diese hier aus dem Begriffspaar Freiheit und bindender Verzicht entwickelte Richtlinie paßt natürlich in erster Linie für das Vertragsrecht, wenn es darum geht, inwieweit ein Vertragspartner mit bindender Wirkung auf Grundrechtswerte verzichten kann. Sie ist aber auch für die Beurteilung einseitiger Rechtsgeschäfte, die bei den Verfügungen von Todes wegen überwiegen188, maßgebend. Hier kommt ein Verzicht auf Grundrechtswertenurin Betracht, wenn von dem Begünstigten ein Verhalten verlangt wird, das Grundrechtswerte tangiert, also eine Zuwendung etwa unter der Bedingung, daß der Empfänger heiratet, nicht heiratet, sein Bekenntnis, seine Parteizugehörigkeit, seinen Wohnsitz oder seinen Beruf wechselt oder nicht wechselt, bestimmten Vereinigungen beitritt oder nicht beitritt, bestimmte wissenschaftliche Schriften nicht verfaßt oder Kunstwerke nicht schafft. Soll die erbrechtliche Verfügung den Empfänger nicht in seinem Verhalten bestimmen, sondern stellt sie eine Reaktion auf vergangenes Verhalten (Heirat, Nichtheirat, Kirchen- und Parteiein- oder -austritt usw.) oder auf Eigenschaften oder Zustände (Geschlecht, Rasse, Herkunft, Wohnsitz, Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften, Parteien, anderen Vereinigungen usw.) dar, so scheidet der Gesichtspunkt des Verzichts und damit der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte aus. Es gilt dann aber der gleichwertige Gesichtspunkt der Unverletzlichkeit. Er bedeutet, daß die Menschenrechte, also der jeweilige Kern der Grundrechte, nicht von außen, weder vom Staat, noch von Gruppen, noch von einzelnen184 angetastet werden dürfen. 3. Die Anwendungsbereicb.e des § 138 Abs. 1 BGB

§ 138 Abs. 1 BGB dient nach alledem der Realisierung der Grundrechtswerte im Bereich des Privatrechts, allerdings nur "dem Grunde nach", während die Anpassung der Grundrechtsartikel an die besondere Situation des Privatrechts mit Hilfe eines aus dem Verfassungsrecht selbst gewonnenen Maßstabs, nämlich mit Hilfe des Art. 1 Abs. 1 und 2 und der Analogie zu Art.19 Abs. 2 des Grundgesetzes zu geschehen hat. Daneben bleiben für§ 138 Abs.l weitere Anwendungsbereiche denkbar: Erstens die Verwirklichung von "allgemeinen, die Rechtsordnung 133 Zu den Begriffen letztwillige Verfügung und Verfügung von Todes wegen (diese umfaßt im Gegensatz zur ersten auch die Erbverträge) von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 99 ff. mit Literatur. 134 Dürig, Randnr. 74 zu Art. 1 GG.

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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tragenden Prinzipien", zweitens eine "konkurrenzlose" Sphäre in einem Restbereich der guten Sitten, die weder bereits durch das Grundgesetz zu - verfassungsmäßigen - Rechtswerten erhoben wurden, noch im Widerspruch zum Wertsystem des Grundgesetzes stehen, noch der heterogenen Entwicklung der Wertvorstellungen zum Opfer gefallen sind135.

a) Allgemeine, die Rechtsordnung tragende Prinzipien Die allgemeinen, die Rechtsordnung tragenden Prinzipien138 bedürfen, ebenso wie die Grundrechtswerte im Privatrecht, um konkret wirksam zu werden, eines privatrechtliehen "Instrumentariums" von Regeln, welche die privatrechtliehen Sanktionen (Nichtigkeit von Rechtsgeschäften, Schadensersatzpflichten usw.) ergeben. Auch solche allgemeinen, die Rechtsordnung tragenden Prinzipien sind ethisch fundiert oder können es jedenfalls sein. Soweit sie es sind, bestehen keine Bedenken, sie unter den Begriff der guten Sitten zu subsumieren, der ja sogar nur faktisch anerkannten ethischen Normen zu rechtlicher Wirksamkeit verhilft. Im übrigen muß es bei der analogen Anwendung der §§ 134, 138, 157, 242, 826 usw. bewenden. Praktische Bedeutung erlangen die allgemeinen, die Rechtsordnung tragenden Prinzipien auf dem hier zu behandelnden Gebiet der Verfügungen von Todes wegen allerdings nur selten. Soweit ersichtlich, kommt hier - abgesehen vom Grundgesetz- nur die in§ 42 EheG 1946 zum Ausdruck gelangte Pflicht zur ehelichen Treue in Betracht137. Dieser Rechtsgrundsatz ist ethisch fundiert, so daß der direkten Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB nichts im Wege steht. Im übrigen geht es um die Grundrechtswerte, im wesentlichen also, was die "guten Sitten" anlangt, um das Nebeneinander der Grundrechtswerte und der sonstigen, "einfachen", das heißt nicht im Grundgesetz normierten guten Sitten.

135 Vertritt man die Lehre von der "unmittelbaren" Drittwirkung der Grundrechte, so wird ein zusätzlicher Bereich denkbar, in dem § 138 Abs. 1 mit den unmittelbar geltenden Grundrechten konkurriert. Für ein Nebeneinandergelten von § 138 Abs. 1 und den Grundrechtsartikeln in solchen Fällen Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil Il15, 1960, § 191 III, insbesondere 2, S. 1169 ff. (1170). 136 Zu denken ist etwa an die prinzipielle Geltung des Satzes "pacta sunt servanda" oder an den Schutz des Vertrauens auf den Rechtsschein (zu diesem Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil IIU,§ 15 I, S. 74). Das Prinzip von Treu und Glauben ist in § 242 normiert und scheidet hier aus der Betrachtung aus. 137 Vgl. dazu unten S. 216. 138 Einführung in das Privatrecht I Allgemeiner Teil II, § 44 III 2, S. G 452; anders Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 591.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

b) Rechtserhebliche Bereiche der guten Sitten außerhalb der Grundrechtswerte und sonstiger allgemeiner, die Rechtsordnung tragender Prinzipien Was Residuen der guten Sitten anlangt, die nicht von Grundrechtswerten und den allgemeinen, die Rechtsordnung tragenden Prinzipien erfaßt sind, so leugnet Thilo Ramm138 jeden rechtserheblichen Bereich der "guten Sitten" außerhalb des Grundgesetzes, weil die Einschränkung der Individualfreiheit durch eine Generalklausel mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sei. aa) Verfassungsrechtliche Bedenken gegen§ 138 Abs. 1 BGB in seiner Eigenschaft als Generalklausel Thilo Ramms Begründung13t ist nicht eindeutig. Der Terminus "Generalklausel" lenkt den Verdacht des Lesers darauf, daß Ramm seinen Standpunkt aus Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes herleitet. Nach einhelliger Meinung140 ergibt sich aus der Gesamtheit dieses Artikels, insbesondere aus der Festlegung der Gewaltenteilung und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit die Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers für das Rechtsstaatprinzip. Dieses verlangt zwar eindeutige Gesetze, die den Adressaten nicht im Unklaren darüber lassen, was eigentlich rechtens sein .soll1C1, verbietet jedoch nicht die Verwendung unbestimmter Rechtsbegrüfe, ohne die es zu einer "kirchhofsfriedlichen" Erstarrung des Rechtslebens kommen müßte1u . Zumal das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 selbst auf das Sittengesetz zur Abgrenzung der Freiheitssphäre zurückgreift, kann in§ 138 Abs.1 BGB keine verfassungswidrige Vorschrüt erblickt werden. Die entgegengesetzte Ansicht würde sich päpstlicher als der Papst gerieren, nämlich aufgrund des Grundgesetzes eine Eindeutigkeit verlangen, die dieses Gesetz selbst nicht wahrt. bb) Verbot sittenwidrigen Verhaltens durch Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes Schwerer wiegt ein anderes Bedenken gegen die Anerkennung grundrechtsfreier, aber dennoch nach § 138 Abs. 1 BGB verbotener Verhaltensweisen. Selbst im Kernbereich der Grundrechte, den Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes schützt, wird sittenwidriges Handeln nicht von den FreiSiehe die vorstehende Fußnote. Vgl. Maunz- Dürig in Maunz- Dürig- Herzog3, vor Randnr. 58 zu Art. 20 GG. 141 Maunz- Dürig, Randnr. 89 zu Art. 20 GG. 14! Maunz- Dürig, Randnr. 90 zu Art. 20 GG. 138 14o

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des§ 138

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heitsgarantien erfaßt143 • Es wäre indessen verfehlt, daraus auf ein grundgesetzliches Verbot sittenwidrigen Handeins zu schließen; denn damit

steht nur fest, daß der "Wesensgehalt" der Grundrechte einem Verbot sittenwidrigen Handeins nicht im Wege steht. Nicht gesagt ist damit, wie ein solches Verbot ausgesprochen wurde. Es könnte im Grundgesetz stehen, aber auch in einem "einfachen" Gesetz wie dem BGB. Man kann deshalb nicht argumentieren, die sittenwidrigen Geschäfte lägen jedenfalls außerhalb des Kerngebiets verfassungsrechtlichen Schutzes und deshalb habe das Privatrecht freie Bahn, sie zu verbieten; denn das wäre nur richtig, wenn das Grundgesetz den Komplex der guten Sitten nicht schon selbst geregelt hätte. cc) Verbot sittenwidrigen Verhaltens durch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes Ein solches grundrechtliches Verbot könnte in Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes gegeben sein. Er begrenzt das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit144 unter anderem durch das "Sittengesetz". Auch diese Anordnung gilt aber nur in der Richtung der Freiheit des Handeins von Beschränkungen. Die Vorschrüt verbietet nicht das sittenwidrige Handeln, sondern erlaubt nur, es zu verbieten. Das wird besonders deutlich durch einen Vergleich mit den beiden anderen Gliedern der "Schrankenirias" des Art. 2 Abs. 1. Es wäre abwegig, die "Rechte anderer" in verfassungsmäßigen Rang zu erheben, nur weil Art. 2 Abs. 1 auf sie abstellt. Sie sind nur die Grenzen der verfassungsrechtlichen Freiheitsgewährung. Ebenso wirkt die "verfassungsmäßige Ordnung" aus sich heraus und wird nicht el"St durch Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes zur Geltung erhoben. Dementsprechend steht diese Norm "grundrechtsfreien" Bereichen der Sittlichkeit und damit einer konkurrenzlosen Geltung des § 138 Abs. 1 BGB in ihnen nicht entgegen. Festgehalten werden kann also zunächst, daß jedenfalls ein Restbereich konkurenzloser Geltung des § 138 Abs. 1 BGB denkbar ist, der nicht von Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes "aufgezehrt" wird. dd) Beschränkung der speziellen Grundrechte durch das "Sittengesetz" gemäß Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes Damit ist aber noch nicht gesagt, daß dieser Restbereich nicht durch andere Aspekte des GG eingeengt wird. Bei den konkret normierten t4s Dazu oben S. 70 ff. Konkrete Wertentscheidungen des Grundgesetzes können durch entgegenstehende "gute Sitten'' allerdings nicht beiseite., geschoben werden; vgl. oben S. 71 f. 144 Die herrschende Meinung sieht durch Art. 2 Abs. 1 GG ein subjektives Recht verbürgt und betrachtet ihn nicht als eine bloß objektive Verfassungsnorm. So vor allem BVerfGE 1, 8; 1, 264 (273); 4, 7 (15); 4, 52 (56 f .); 6, 32 (36); Dürig, Randnrn. 5 und 71 zu Art. 2 Abs. I GG mit überzeugender Begründung und Auseinandersetzung mit abweichenden Ansichten.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

Freiheitsrechten des Grundgesetzes fehlt es nämlich an einer ausdrücklichen Beschränkung der Freiheit durch das Sittengesetz. Im Ergebnis ist es klar, daß daraus keinesfalls die Freiheiten auch zum sittenwidrigen Gebrauch der einzelnen Grundrechte hergeleitet werden können. Das resultiert schon aus der oben145 getroffenen Feststellung, daß die "Wesensgehalts"-Garantie des Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht die Garantie der Freiheit auch zum unsittlichen Verhalten einschließt. Es ist jedoch nötig, eine rechtsdogmatisch vollständige Begründung zu geben. Dies schließt es aus, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun, selbst wenn feststeht, daß, wenn nicht der erste, so doch der zweite Schritt zu dem Ergebnis führt. Der "zweite Schritt" besteht in der Heranziehung des Art. 1 Abs.1 und 2 und des Art. 19 Abs. 2. Auf diese tragenden Prinzipien darf indessen erst zurückgegriffen werden, wenn nicht schon die im Grundgesetz enthaltenen Konkretisierungen der Grundrechtswerte zum Ziel führen. Insofern kommtes-diese Prüfung ist der "erste Schritt"- darauf an, ob nicht die Begrenzung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes auch für die nachfolgenden Spezialgrundrechte gilt. Dann wäre auch bei ihnen ein Raum für Verbote sittenwidrigen Handeins gegeben, ohne daß ein solches Verbot aber bereits der "Schrankentrias" entnommen werden könnte. Die staatsrechtliche Diskussion um das Verhältnis der "Schrankentrias" zu den anderen Grundrechten dreht sich bekanntlich um die - von der Praxis verneinte - Frage, ob in Art. 2 Abs. 1 "die Mutter der übrigen personenbezogenen Grundrechte" zu sehen istas. Wie so oft bei der Verwendung von Bildern anstelle vielleicht weniger treffend wirkender, aber nichtsdestoweniger klarer Begriffe kann man sich auch hier aussuchen, was man unter der "Mutter" im juristischen Sinne verstehen will147• Abzulehnen ist jedenfalls bereits nach dem bisherigen Stand des Meinungsstreits die Annahme, · Art. 2 Abs. 1 zwinge zur Übernahme der "Schrankentrias" dieser Norm (Rechte anderer, verfassungsmäßige Ordnung, Sittengesetz) in die Einzelfreiheitsrechte148 in der Weise, daß dort dieselben Schranken gelten müßten, 145 s. 75. 14& Dazu Dürig, Randnr. 7 zu Art. 2 Abs. I GG mit Nachweisen. 147 Vgl. die Darstellungen des Problemstandes bei Wehrhahn, AöR 82, 1957, 259 ff.; E. von Hippe!, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, 23 ff.; Dürig, Randnrn. 6--9 zu Art. 2 Abs. I GG. us So aber Wernicke im Bonner Kommentar, Anm.II 1 b zu Art. 2 GG; von Mangoldt- Klein!, 1966, Vorbem. B XV 3 a, S. 130; wohl auch Maunz, Staatsrecht1s, 1971, § 15 I 2, S. 112. Für die Lehre vom "Muttergrundrecht" BGHZ 24, 72 (78). Ablehnend u. a. Wehrhahn, AöR 82, 1957, 250 ff. (273);

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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oder in der Weise, daß dort Einschränkungen anderer Art nicht zulässig wären. Die Einzelfreiheitsrechte verdanken ihre Normierung der historischen Erkenntnis, daß auf diesen Gebieten der Staat besonders geneigt war, in die Freiheit des Bürgers einzugreifen149 • Art. 2 Abs. 1 kommt demgegenüber die Rolle einer lückenfüllenden Generalklausel ("Auffangsrecht") zu150. Dieser Funktion einer Generalklausel entspricht die ebenfalls generell gefaßte, im konkreten Fall durch Hineinnahme anderer Normenkomplexe (rechtlicher oder sittlicher) ausfüllungsbedürftige Abgrenzung der Freiheit mittels der "Schrankentrias". Die Einzelfreiheitsrechte hingegen werden ihrem speziellen Anwendungsbereich entsprechend durch besondere Kriterien abgegrenzt, die gerade dem betreffenden Spezialbereich adäquat sind151 . Eindrückliche, positiv normierte Beispiele finden sich in Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 12 a Abs. 2 und 3 (Kriegsdienstverweigerung), Art. 9 Abs. 3 Satz 3 (Arbeitskämpfe) und Art. 12 Abs. 2 (öffentliche Dienstleistungspflicht). ee) Das Problem der den Grundrechten immanenten Schranken Das soll jedoch nicht heißen, daß die Einzelgrundrechte nur den ausdrücklich positiv normierten Schranken unterlägen. So bemühte sich die Rechtsprechung, durch Rückgriff auf ein - notwendigerweise weltanschaulich gefärbtes - "Menschenbild" 162 oder die Formel, es sei "der Inbegriff aller Menschenrechte, daß sie nicht in Anspruch genommen werden dürfen, wenn dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter gefährdet werden" 153 , zu "immanenten Schranken"154 aller Grundrechte zu gelangen. Solche Versuche erinnern zu stark an apodiktische "Begründungen" wie "dies könne unmöglich rechtens sein; denn wo kämen wir sonst hin"! Man muß vielmehr der von Maunz begründeten und von Dürig sowie Bachof weitergeführten E. von Hippel a.a.O.; Dürig a.a.O.; Schmidt- Bleibtreu- Kleint, 1969, Randnr. 11 zu Art. 2 GG; Hamann- Lenzs, 1970, Anm. A 3 a zu Art. 2 GG; vor allem das BVerfG, das BVerwG und das BSG (Nachweise bei HamannLenz ebd.). 149 Dürig, Randnr. 8 zu Art. 2 Abs. I GG, unter aa. 150 Dürig ebd. m Dürig ebd. unter cc). 162 Damit arbeitet etwa BVerfGE 4, 7 (15 f.); näher dazu Dürig, Randnr. 70 zu Art. 2 Abs. I GG mit Literatur. Der - jedenfalls teilweise vorhandene weltanschauliche Synkretismus unseres Lebens wirkt sich auch hier aus. 153 BVerwG in ständiger Rechtsprechung; vgl. Dürig, Randnr. 70 zu Art. 2 Abs. I GG, Fußn. 2. Bachof, JZ 1957, 337, wirft dem BVerwG vor, seine Formel sei mehr oder minder frei und willkürlich geprägt; dagegen Dürig a.a.O. 154 BVerwGE 2, 295 (300) und öfter. 6 Thlelrnann

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

Ansicht155 den Vorzug geben, die, anstatt Axiome aufzustellen, versuchen, aus der Wertordnung des Grundgesetzes selbst zu praktikablen Schranken zu gelangen. Dürig166 geht dabei von dem objektiven Gehalt des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes aus, den er als die hervorragendste Verdeutlichung der in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes getroffenen Wertentscheidung versteht. Die Gefahr, daß auf diesem Wege doch wieder die konkrete "Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 in die Einzelgrundrechte eingeführt wird, sucht diese Lehre zu vermeiden, indem sie ·in der durch Art. 2 Abs. 1 verdeutlichten Wertentscheidung · des Art. 1 Abs. 1 nur einen Hinweis darauf erblickt, daß die prinzipiell gewährte Freiheit jedenfalls nicht schrankenlos ist157. Dürig168 selbst meint, dieser Weg sei nicht ideal, sieht ihn aber jedenfalls von den Vorwürfen frei, einerseits, er führe grundgesetzfremde Grundrechtsschranken ein, und andererseits, er übertrage die "Schrankentrias" des Art. 2 Abs. 1 unbesehen auf die anderen Grundrechte. ff) Die Menschenwürde als Anhaltspunkt für immanente Schranken der Grundrechte In der Tat wird man dem Gedanken zustimmen müssen, Grenzen der grundgesetzlich verbürgten ·Freiheiten dürften nur dem Grund-

165 Vgl. Maunz, Staatsrecht, jetzt 18. Auf!. 1971, § 15 I 2, S.l12 f.; Dürig, Randnr. 71 unter d) bis Randnr. 72 zu Art. 2 Abs. I .GG; Bachof, JZ 1957, 337 f.; JZ 1958, 289; die Grundrechte III 1, 1958, 167 f. Fußn. 47; weitere Nachweise bei. Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, 106, Fußn. 253. 15& Randnr. 72 unter bb) zu Art. 2 Abs. I GG. 1117 Dürig, Randnr. 72 zu Art. 2 Abs. I GG, unter bb); vgl. auch Maunz, Staatsrecht1B, 1971, §15 I 2, s. 112. 158 a.a.O. Randnr. 70 unter d). Starke Kritik der Immanenzlehre bei Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, 92 ff., insbesondere 106 ff. Er leugnet alle generellen, nicht expressis verbis angeordneten Grundrechtsschranken, ein Ergebnis, das mit Art.1 Abs. 1 und 2 GG unvereinbar ist. Zuzugeben ist Knies, daß die Maunz - Dürigsche Immanenzlehre mit einem erheblichen Unbestimmtheits- und damit Unsicherheitsfaktor operiert. Aber solche generellen Auffangtatbestände sind nun einmal wegen der notwendigen Lückenhaftigkeit einer jeden positiven Rechtsordnung unvermeidlich. Gegen "orphische Immanenzlehren" früher schon Wehrhahn, AöR 82, 1957, 250 ff. (274), der die Beschränkung der Grundrechte allein als Problem der Abgrenzung von Einzelgarantien untereinander betrachtet (S. 273). Auch dieser Weg läßt Lücken offen, die mit dem Ausgangspunkt der Grundrechte, Art. 1 Abs. 2 und 2 GG, nicht vereinbar sind. Gleiches gilt für Lehren, welche die Grenzen eines jeden Grundrechts aus diesem selbst herleiten wollen. So will sie etwa E. von Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, 1965, 37 ff. (39) nach der objektiven Wertordnung, der Rangfolge, die sich für einzelne Rechtsgüter ergibt, bestimmen, und F. Müller, Die Positivität der Grundrechte, 1969, 12 ff. (21 ff., 36) verwirft ebenfalls alle Versuche, "material-allgemeiner Grundrechtsbegrenzung". Er fordert eine von der speziellen "garantierten ,Sache' (also dem einzelnen Grundrecht) aus argumentierende Bereichsdogmatik" (S. 36, 37 ff.). .

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gesetz entnommen werden. Auch erscheint es richtig, daß die der Generalklausel des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes angemessenen Schranken nicht unbedingt stets zu den Einzelfreiheitsrechten oder gar zu den Einrichtungsgarantien passen. Man darf schließlich auch nicht den Vorwurf leicht nehmen, die positiv normierten Inhaltsbeschränkungen der Einzelgrundrechte sprächen gegen die Zulässigkeit der ,,stillschweigenden" Hinzufügung weiterer Schranken16t. Die Lösung liegt wieder in der Besinnung auf die "Wertgrundentscheidung" des Verfassungsgesetzgebers. Die einzelnen Grundrechte sind in ihrem Kern die Konkretisierung der "Menschenrechte" des Art. 1 Abs. 2 des Grundgesetzes, der seinerseits die Sublimierung des Bekenntnisses zur Achtung der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes darstellt. Wie schon bei der Ermittlung des "Wesensgehalts" der Grundrechte gemäß Art.19 Abs. 2 des Grundgesetzes180 ist auch bei der Suche nach ihren "immanenten" Schranken davon auszugehen, daß die Wahrung der Menschenwürde kein Recht zur sittenwidrigen Freiheitsbetätigung verlangt. Das Ergebnis läuft also auf dasselbe hinaus, wie wenn man das "Sittengesetz" aus Art. 2 Abs.1 des Grundgesetzes als generelle Schranke der Grundrechte auf alle nachfolgenden Grundrechtsartikel übertragen wollte. Daß es sich hier in Wahrheit aber nicht um eine solche Schranke handelt, zeigt sich in der "Festigkeit" dieser Grenze gegenüber Art. 19 Abs. 2. Das "Sittengesetz" ist also, obwohl nur in Art. 2 Abs. 1 ausdrücklich genannt, mehr als eine der gewöhnlichen in diesem und den speziellen Grundrechtsartikeln aufgeführte "Schranke"tot.

Abgesehen von den - gegenwärtig noch nicht akuten - Fällen, in denen positivierte Grundrechtswerte durch eine Neuentwicklung der 159

Dürig, Randnr. 72 zu Art. 2 Abs. I GG, unter d) a. E.

t&o Oben S. 62 ff., 70 ff. tot Jedenfalls auch als allen Grundrechten immanente Schranke versteht

das Sittengesetz Dürig, Randnr. 74 zu Art. 2 Abs. I GG. Die "Rechte anderer" zählt er ebenfalls dazu (Randnr. 73, "rechtslogische immanente Schranke"). Sie müssen sich aber gefallen lassen, an ihrer Vereinbarkelt mit dem "Wesensgehalt" der Grundrechte (Art.19 Abs. 2 GG) gemessen zu werden, d. h. sie müssen dem Kernbereich der Grundrechte weichen. Die "verfassungsmäßige Ordnung" ist als Einschränkung der verfassungsmäßig garantierten Freiheiten eigentlich selbstverständlich; denn man kann der Verfassung schwerlich unterstellen, sie wolle von ihrer Einhaltung selbst Dispense erlauben. Die "verfassungsmäßige Ordnung" gehört deshalb auch zu den allen Grundrechten immanenten Schranken (Dürig, Randnr. 75 zu Art. 2 Abs. I GG). Innerhalb dieser Ordnung gebührt aber den durch Art. 19 Abs. 2 GG geschützten Kernbereichen der Grundrechte der Vorrang. Die beiden anderen Glieder der "Schrankentrias" sind also nicht "wesensgehaltsfest". Das gleiche gilt für weitere, ungeschriebene immanente Grundrechtsschranken (die man unter dem Gesichtspunkt "öffentliche Ordnung" zusammenfassen kann; Hauptgebiete: Strafrecht, Polizei; vgl. Dürig, Randnrn. 76-85 zu Art. 2 Abs. I GG).

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

Moralanschauungen mit den "guten Sitten" in Konflikt geraten, garantiert das Grundgesetz also nirgends die Freiheit zum unsittlichen Verhalten. Es verbietet ein solches Verhalten aber auch nicht selbst, sondern erlaubt nur das Verbot. Der vom Grundgesetz nicht in die Grundrechte einbezogene Restbereich der guten Sitten, die "außerkonstitutionelle Sphäre" der Sittlichkeit, ist keinem Freiheitsrecht geopfert. Entgegen Ramm162 gibt es mithin doch noch einen nicht vom Grundgesetz erfaßten Bereich der "guten Sitten". Dort, "praeter Grundgesetz", ist für Regelungen durch einfache Gesetze, also auch durch§ 138 Abs. 1 BGB, Raum im Sinne einer "konkurrenzlosen" Zuständigkeit. Damit taucht die Dualität faktisch-soziologischer Elemente einerseits und normativer andererseits, wie sie etwa in der Formel vom "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" zum Ausdruck kommt1 auf höherer Ebene wieder auf. Der normative, vor faktischer "Erosion" geschützte "höhere" Bestandteil der "guten Sitten" im weiteren Sinne wird von den Grundrechtswerten verkörpert. Daneben besteht als "einfache", nicht solchen Schutz genießende Komponente der für seine Geltung auf faktisch-soziologische Anerkennung angewiesene Komplex der ungeschriebenen W ertvorstellungen163. gg) Der vom Grundgesetz nicht berührte Zuständigkeitsbereich des § 138 Abs. 1 BGB Trotz der Einwirkung der Grundrechtswerte auf das Privatrecht verbleibt § 138 Abs. 1 BGB also noch ein Anwendungsbereich, wo er nicht der Realisierung von Grundrechtswerten dient. Für die wirtschaftliche Betätigung gilt diese jedenfalls hinsichtlich der in den Artikeln 9 Abs. 2, 12 und 14 Abs. 1 des Grundgesetzes geregelten Materien. In der Literatur ist man auch dafür eingetreten, sogenannte Knebelungsverträge164 an der allgemeinen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs.1 des Grundgesetzes und - soweit es um die Verwertung des Eigentums geht- an Art.14 Abs.1 des Grundgesetzes zu messen. Für gemeinschädigende Geschäfte sollen danach Art. 14 Abs. 2 und die Sozialstaats162 Einführung in das Privatrecht I Allgemeiner Teil II, § 44 III 2, S. G 452. 163 Im Sinne einer solchen Dualität auch Simshäuser, Zur Sittenwidrigkeit der Geliebten-Testamente, 1971, 59, für das Verhältnis von Art. 6 Abs. 1 GG und § 138 Abs.1 BGB. 164 Vgl. Staudinger- Coingu, Randnr. 18 w zu § 138; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil IIUI, 1960, § 191 III 3, S. 1170 f.; Larenz, Allgemeiner Teil2, § 22 III b 2, S. 367 f.- Zur Wettbewerbsfreiheit Dürig in Maunz- DürigHerzogs, 1969, Randnrn. 48--51 zu Art. 2 Abs. I GG mit weiteren Nachweisen. - Zum pactum de non licitando und verwandten Erscheinungen Enneccerus Nipperdey, Allgemeiner Teil II15, § 191 IV, S. 1174; Thielmann, Die römische Privatauktion, 1961, 262 ff. Fußn. 14, 16, 19, 20; BGH NJW 1969, 1764; dazu Franzen, NJW 1970, 662.

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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klausei des Art. 20 Abs. 1 einschlägig sein165. Die Schwierigkeiten, die der Konkretisierung dieser allgemeinen Bestimmungen im Sinne positiver Freiheiten des Betreffenden bieten, sind jedoch praktisch unüberwindlich, wie sich bei der Erörterung einzelner Tatbestände sittenwidriger Verfügungen von Todes wegen noch zeigen wird166. Der systematisch ehrlicherweise allein mögliche Ausgangspunkt liegt deshalb bei der Begrenzung der Freiheit des Handelnden, also desjenigen, der einen anderen in seinen Rechtsgütern beeinträchtigt. Insoweit ist auf Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes zu verweisen, wo das Sittengesetz als Schranke der allgemeinen Freiheit hervorgehoben wird1&7. Normiert durch das Grundgesetz sind aber vor allem die Freiheit der Religion und des Gewissens (Art. 4), der Meinungsäußerung, der Information, von Kunst und Wissenschaft (Art. 5), die Versammlungs(Art. 8) und Vereinigungsfreiheit (Art. 9), die Freizügigkeit (Art. 11) sowie die Freiheit des Berufs und der Ausbildung (Art. 12). In die Sphäre der gesellschaftlichen Sittlichkeit greift Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes ein, soweit es um den Schutz von Ehe und Familie geht. Dabei ist allerdings zu beachten, daß es sich bei Ehe und Familie um eine nicht nur von detaillierten rechtlichen Vorschriften188, sondern besonders stark auch von der Sitte inhaltlich determinierte Institutionen handelt. Es kann nicht Zweck des Art. 6 Abs. 1 sein, diese ganze detaillierte Ausgestaltung von Ehe und Familie im einzelnen in den Rang des Verfassungsrechts zu erheben und damit gleichzeitig zu "zementieren"169. Art. 6 Abs. 1 garantiert deshalb nur einen Kernbestand des Inhalts und der Voraussetzungen von Ehe und Familie, die "Fundamentalstruktur" der- abstrakten- Institutionen und ihrer konkreten Ausprägungen170. Neben Art. 6 Abs. 1 bleibt also noch Raum für die "schlichte" Geltung des § 138 Abs. 1 BGB. Hingegen ist das Liebesleben des kinderlosen Junggesellen (und der kinderlosen Junggesellin) allein der Beurteilung nach§ 138 Abs. 1 BGB überlassen - natürlich nur, soweit sie sich nicht mit einem "familiengebundenen" Partner abgeben. Die Fälle, in denen nicht ein Verhalten als solches, wohl aber die Bindung zu einem solchen Verhalten einem Vorwurf ausgesetzt ist171 , werden meistens vom Grundrechtskatalog 165 Vgl. Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil II, § 191 III, S. 1169. 1&6 Vgl. unten S. 275 f. 187 Das bedeutet keine Anerkennung der Lehre, wonach die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG allen Einzelgrundrechten "immanent" sind. Vgl. oben S. 79 ff. und 81 f.; unten S. 275 ff. 168 Sie stehen im Rang unter dem Verfassungsrecht. 169 Vgl. unten S. 204. tro Vgl. unten S. 205. m Vgl. Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, § 182 b bb, S. 368 f.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

mit seiner die Freiheit betonenden Tendenz erlaßt. Zu nennen sind hier vornehmlich Bindungen auf dem Gebiet der R~ligion, der Berufstätigkeit, der Freizügigkeitm. Für § 138 Abs. 1 ohne Grundrechtsartikel verbleibt etwa die Verpflichtung, die Staatangehörigkeit zu wechseln oder beizubehalten173• Weiter bleiben dafür die Tatbestände übrig, in denen etwas von Geld und Geldeswert abhängig gemacht wird, was nach den guten Sitten davon nicht abhängen soll. Dabei kann das Verhalten, das gefördert oder gehindert werden soll, selbst neutral oder zu mißbilligen sein. Der Grundrechtswertkatalog versagt hier, weil er, vom Schutz gewisser Institutionen wie vor allem Ehe und Familie sowie des Eigentums abgesehen, auf die Wahrung von Freiheiten hin orientiert ist und seiner primär gegen die staatliche Gewalt ausgerichteten Stoßrichtung die Erfassung der kommerziellen Denaturisierung gewisser Verhaltensweisen ferner lag. Beispiele für sittenwidriges Verhalten durch dessen Veranlassung mittels Geld oder Geldeswert174 finden sich bei der Nichtbegehung oder Nichtanzeige eines Verbrechens, der Fürsprache bei der Verleihung eines Amtes, Titels oder Ordens, der Eingehung oder Nichteingehung einer Ehe (überhaupt oder im Hinblick auf einen bestimmten Partner), dem Schweigegeld, der Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts, dem Stimmenkauf, der Änderung oder Beibehaltung der Konfession oder der Parteizugehörigkeit, der Nichtbeteiligung oder der Zurückhaltung der Leistung bei einem sportlichen Wettbewerb zur Ermöglichung des Sieges eines Konkurrenten. Diese Tatbestände sind für das Erbremt von unterschiedlicher praktischer Bedeutung, theoretisch aber sämtlich zu beachten, weil die Bestimmung zu allen solchen Verhaltensweisen auch durch erbrechtliche Verfügung erfolgen kann, vor allem mittels entsprechender Bedingungen, von denen eine Zuwendung oder Enterbung abhängig gemacht wird. Schließlich verbleiben für § 138 Abs.1 BGB ohne Grundgesetz gewisse nur kasuistisch erfaßbare Rechtsgeschäfte, die sich nicht unter einem generellen für die Sittenwidrigkeit maßgebenden Gesichtspunkt zusammenfassen lassen, z. B. die Verleitung zum Glücksspiel oder des17! Vgl. Flume ebd., der diese Fälle unter § 138 Abs.1 BGB subsumiert. 173 Flume ebd. Die Unterscheidung zwischen dem schon wegen seines "Inhalts", den erst durch die Bindung zu einem Verhalten sittenwidrigen Tatbeständen und solchen, bei denen erst die Verknüpfung des Verhaltens mit geldwerten Vorteilen zum Vorwurf des Sittenverstoßes führt, geht auf Lotmar, Der unmoralische Vertrag, 1896, 68 ff., zurück. Er durchzieht die gesamte Literatur zum sittenwidrigen ·Rechtsgeschäft (so etwa bei Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil II1&, 1960, § 191 III 1, 3, 4, S. 1169 ff.). Vgl. Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 39 f. 174 Nach Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil uu, 1960, § 191 III 4, S. 1173; Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 2 b cc, S. 369; Coing, NJW 1947/48, 216; teilweise mit Rechtsprechung.

III. Drittwirkung und Anwendungsbereich des § 138

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sen Förderung, die Adoption nur zum Zwecke des Erwerbs eines "klingenden" Namens175 oder nur zu dem der Steuerersparnis116 • Damit soll nur gesagt sein, daß solche Sachverhalte für die Qualifizierung als sittenwidrig in Frage kommen. Die Aiiwendung des" § 138 Abs. 1 BGB setzt voraus, daß der Richter von einer wirklich vorhandenen diesbezüglichen Wertvorstellung überzeugt ist oder überzeugt wird.

c) Kumulative Konkurrenz von "schlichter" Sittenwidrigkeit und Grundrechtswidrigkeit Zu erwähnen bleiben noch die Tatbestände, in denen der Grundrechtsverstoß gleichzeitig eine "schlichte" Sittenwidrigkeit darstellt. Es ist klar, daß die "schlichte", aufgrundfaktisch geltender Sitten oder Wertvorstellungen ermittelte Sittenwidrigkeit nicht den Grundrechtsverstoß verdrängt. Aber auch für die entgegengesetzte Konstruktion - "Konsumtion" der "schlichten" Sittenwidrigkeit durch den Grundrechtsverstoß - besteht kein Anlaß. Der "schlichte" Sittenverstoß wirkt also insoweit "im Schatten" der Grundrechtswerte weiter177• Eine praktische Auswirkung auf das jeweilige Entscheidungsergebnis ergibt sich allerdings nur dort, wo die Grundrechte lediglich für "Deutsche" gelten (Art. 8, 9, 11, 12 des Grundgesetzes). Nichtdeutsche sind dann nur durch § 138 Abs. 1 BGB geschützt. Den zur Entscheidung über reale Sachverhalte berufenen Juristen enthebt die Klassifizierung eines Rechtsgeschäfts als grundrechtswidrig der oft schwierigen und zu keinem eindeutigen Ergebnis führenden Prüfung, ob das Geschäft auch den wirklich vorhandenen W ertvorstellungen entspricht, das heißt, ob es "schlicht" sittenwidrig ist. Die Katalogisierung der Grundrechtswerte im Grundgesetz dient also auch der Rechtssicherheit. Sie stellt einen Fortschritt in dieser Richtung 175 Vgl. Staudinger- Coingu, Randnr. 19 g zu § 138 mit Rechtsprechung; Enneccerus- Nipperdey, § 191 IV, S.1174 f. (soweit die Fälle dort nicht die wirtschaftliche Betätigung zum Gegenstand haben. Die dort erwähnte Ausbeutung von Mehrheitsrechten in Verfolgung eigensüchtiger Interessen in Gemeinschaften widerspricht der Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 3 GG); Larenzl?, § 22 III b 7, S. 372; Gernhuber, Familienrecht!, 1971, § 62 VII 5, S. 746. 176 BGHZ 35, 75 (80, 82); Gernhuber a.a.O. Als weiteren Grund für die Sittenwidrigkeit einer Adoption führt er den Zweck an, die Möglichkeit zur Beseitigung einer bindenden letztwilligen Verfügung zu schaffen. 111 Eine solche Konkurrenz nimmt auch Nipperdey bei EnneccerusNipperdey, Allgemeiner Teil Il15, § 191 III 2, S . 1170, auf dem Boden der "unmittelbaren" Drittwirkung an. Die dort genannten Fälle sind allerdings besser unter die Verletzung des allgemeinen Freiheitsrechts (Art. 2 Abs. 1) oder spezieller Freiheitsrechte (Art. 11, Art. 4 GG) zu subsumieren, da diese Normen erst den von Nipperdey herangezogenen Art.l Abs.1 GG konkretisieren.

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Teil I. D. "Drittwirkung der Grundrechte" im Privatrecht

gegenüber der bloßen Generalklausel des § 138 Abs. 1 BGB dar, indem sie vor allem dem Richter, aber auch· den anderen mit der Angelegenheit Befaßten die Erforschung der sittlichen Anschauungen erspart und sie davor bewahrt, als bequemen oder auch verzweifelten Ausweg zu den eigenen diesbezüglichen Überzeugungen Zuflucht zu nehmen. Auch diese Abhandlung wird sich bei Feststellung der Grundrechtswidrigkeit einer Fallgruppe damit begnügen und keine letzten Endes sterilen Untersuchungen darüber anstellen, ob außerdem Sittenwidrigkeit im "schlichten", "einfachen" Sinne vorliegt.

E. § 134 BGB und die Wirkung der Grundrechtswerte im Privatrecht Obwohl die vorliegende Untersuchung sittenwidrige Reclltsgeschäfte zum Gegenstand hat, drängt sich die Frage auf, welche Rolle§ 134 BGB1 (Unwirksamkeit verbotener Geschäfte) im Zusammenhang mit der Wirkung der Grundrechtswerte im Privatrecllt hat. Für das Ergebnis kommt es allerdings nicht darauf an, ob die Grundreclltswidrigkeit über § 138 Abs. 1 oder über § 134 BGB hergeleitet wird. Die Reclltsfolge der Nichtigkeit ist jedesmal die gleiche. Im Interesse einer dogmatisch einwandfreien Lösung ist jedoch dem Art. 138 Abs. 1 der Vorzug zu geben; denn es handelt sich nach der hier vertretenen Auffassung bei den Grundreclltsartikeln nicht um direkt auf das Privatrecllt wirkende Normen. Die Grundreclltsartikel sind, was das Privatrecllt anlangt, keine "fertigen" Verbotsgesetze. Vielmehr geht es darum, den ihnen zugrunde liegenden Rechtswerten auch im Privatrecht Geltung zu verschaffen.

1 Für die Geltung des § 134 BGB neben der des § 138 BGB bei der Realisierung der Grundrechtswerte im Privatrecht Nipperdey in: Die Grundrechte, herausgegeben von Neumann, Nipperdey, Scheuner, Bd. II, 1954, 36; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil nu, 1960, § 190 I, S. 1152 f.; § 191 III 2, S. 1170. Vgl. demgegenüber aber Allgemeiner Teil IU, 1959, § 15 II 4 c, S. 97, wo er meint, es bedürfe für die Geltung von Grundrechten als objektiver Normen im Privatrecht keines "Mediums", keiner "Einbruchsstellen", wie sie die Generalklauseln (§§ 138, 826, 242 BGB) sein sollen. Auch das BAG (BAGE 4, 274 [285]; NJW 1973, 77 f.) wendet Grundrechte über § 134 BAG an (Nichtigkeit von sogenannten Zölibatsklauseln, vgl. Dürig, Randnr. 57 zu Art. 2 Abs. I GG); ebenso Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, 403.

ZweiteT Teil

Der Tatbestand der sittenwidrigen Verfügungen von Todes wegen im allgemeinen A. Die sittenwidrigen Faktoren I. Die Formel der Redltspredlung Während der Entstehungsgeschichte des heutigen § 138 Abs. 1 BGB wurde davon abgesehen, die Nichtigkeit nuT bei sittenwidrigem Inhalt eines Rechtsgeschäfts anzuordnen1 • Die Rechtsprechung: bedient sich daher der Formel, es komme auf den "Gesamtcharakter" des Geschäfts an, der sich ergebe "aus der Zusammenfassung von Inhalt, Motiv und Zweck, nach den objektiven und subjektiven Momenten". Diese Formel ist reichlich unbestimmt3 • Sie läßt nicht einmal erkennen, ob stets alle diese Faktoren gegeben sein müssen. Immerhin bildet sie einen brauchbaren Ansatz für die Analyse der sittenwidrigen Geschäfte. ll. Sittenwidriger Inhalt 1. SlttenwidrlgkeU wegen des Gegenstandes der Verfttgung

Verhältnismäßig wenige Schwierigkeiten wirft die Frage auf, ob eine erbrechtliche Verfügung wegen ihres Objekts sittenwidrig sein kann. Der mögliche Inhalt der Verfügungen von Todes wegen ist begrenzt4. Im Vordergrund stehen Wertzuwendungen5 oder ihr Ausschluß: Erbeinsetzung(§ 1937 BGB), Vermächtnis(§ 1939 BGB), Auflage(§ 1940 Prot. I, 257 f.; vgl. Flume, Allgemeiner Teil li, 1965, § 18,2 a, S. 367 f . RGZ 56, 229 (231); 63, 346 (350); 68, 97 (98); 75, 68 (74); 114, 338 (341); RG Gruch. 70, 548 (550) (in JW 1929, 33 [34] gekürzt); RG DR 1940, 2167 (2168); OGHZ 1, 249 (250); OGHZ 3, 158 (161); BGH LM Nr. 7 a zu § 138 (Aa); Nrn. 2, 9, 11, 14 zu§ 138 (Cd); BGH NJW 1968, 932 (934); BGHZ 52, 17 (20); BGHZ 53, 369 (375); OLG Oldenburg VersR 1955, 513; OLG Köln OLGZ 1968, 489 (490). Vgl. von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II 2, 1918, § 70, S. 28 ff. mit Fußn. 44--49; Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testlerfreiheit, 1936, 38, 40; Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, § 18, 2 a, S. 368; Larenz, Allgemeiner Teil!, 1972, § 22 III a, S. 366. a Flume ebd. 4 Dazu eingehend von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 107 ff.; 110 f. 5 Lange, Erbrecht, 1962, § 34 V 2 a, S. 376. 1 2

II. Sittenwidriger Inhalt

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BGB), Bestimmungen über den Vorrang von Vermächtnissen und Auflagen vor anderen erbrechtliehen Beschwerungen (§ 2189 BGB), Enterbung (§ 1938 BGB), Entziehung des Pflichtteils (§§ 2333-2335 BGB), Ausschließung der erbrechtliehen Anwachsung gemäß §§ 2094 Abs. 3, 2158 Abs. 2 BGB, Widerruf einer letztwilligen Verfügung(§§ 2253 Abs.1, 2299 Abs. 2 BGB) sowie Teilungsanordnungen (§ 2048 BGB). Hinzu kommt die Einsetzung eines Testamentsvollstreckers (§ 2197 Abs. 1 BGB)8 • Es ist außerdem möglich, in einer letztwilligen Verfügung familienrechtliche Anordnungen zu treffen7 oder eine Stiftung zu errichten (§ 83 BGB). Auch kommen Geschäfte aus dem Obligationenrecht in Betracht8 • Diese den Materien der Bücher 1 bis 4 angehörenden Rechtsgeschäfte sollen indessen außerhalb des Kreises der Betrachtung bleiben, da sich die Untersuchung sonst einer solchen der sittenwidrigen Geschäfte überhaupt zu sehr nähern würdell. Gleiches gilt im Hinblick auf die sogenannten Rechtsgeschäfte unter Lebenden auf den Todesfall10. Zuwendungen von Gegenständen - sei es in Form von Einzelzuwendungen, sei es in Form der Zuwendung des gesamten Nachlasses oder von Nachlaßquoten- sind ihrem bloßen Gegenstand nach wertneutral11. Es ist nicht" denkbar, daß ein Gegenstand als solcher die Lange ebd. Dazu näher von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 111 f. s Dazu von Lübtow, 112 f. 9 Bei den familienrechtlichen Anordnungen ist klar, daß ihr Inhalt nicht gegen die guten Sitten im engeren Sinne verstößt, weil es sidl darum handelt, daß der Berechtigte von Einridltungen Gebrauch macht, die ihm das Gesetz zur Verfügung stellt. Audl verfassungsrechtHeile Bedenken sind hinsichtlich der in Frage kommenden familienrechtlichen Einrichtungen bisher nicht aufgetaucht. - Eine inhaltlidl sittenwidrige Stiftung ist jedoch durchaus denkbar, z. B. zum Betrieb eines Bordells. - Zuzustimmen ist jedenfalls Gernhuber, FamRZ 1960, 328 f. mit Fußn. 18 a, wenn er gegen eine unterschiedliche Bewertung von "Ersatzgeschäften" unter Lebenden und Verfügungen von Todes wegen plädiert (gegen H. Krüger, Arbeit und Recht, 1960, 32, die wegen "strenger" Redltsprechung in Testamentsfragen ein Ausweichen auf solche "Ersatzgeschäfte" befürwortet). Deshalb werden in dieser Arbeit manchmal audl Belege zitiert, die Geschäfte unter Lebenden, z. B. Schuldversprechen oder Lebensversidlerungen betreffen. Nur bei vollzogenen Zuwendungen unter Lebenden ergibt sich wegen § 817 S. 2 BGB (Ausschluß der Rückforderung wegen Sittenverstoßes des Empfängers) eine abweichende Situation gegenüber den in aller Regel nicht "vollzogenen" Zuwendungen von Todes wegen (bei diesen pflegt erst um den "Vollzug" gestritten zu werden!).§ 817 S. 2 BGB wirkt audl gegenüber dem Erben des Zuwendenden: RGZ 111, 151 (154 f.). Neue Rechtsprechung zur Zuwendung an eine Geliebte unter Lebenden: BGH NJW 1973, 1645. tu Dazu von Lübtow, Erbrecht II, 1971, 1220 ff., sowie erschöpfend unter eingehender Berücksichtigung von Literatur und Rechtsprechung M. Harder, Zuwendungen unter Lebenden auf den Todesfall, 1968. u Lange, Erbredlt, § 34 V 2 a, S. 376: Die Zuwendung an eine weibliche Person kann geschehen, um sie als Künstlerin zu ehren oder aber um sie &

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Teil li. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Sittenwidrigkeit seiner Zuwendung begründet. Das gilt für Zuwendungen unter Lebenden ebenso wie für solche von Todes wegen. Lange13 bringt als Beispiele Diebesgut und Diebeswerkzeug. Sie können aus guten oder schlechten Motiven zu guten oder schlechten Zwecken zugewendet werden14• Entsprechendes gilt von pornographischen Darstellungen oder einem Bordellbetrieb. Jene können auch zu wissenschaftlichen Zwecken, dieser, damit er geschlossen wird, vererbt oder vermacht werden. Es gibt eben keine Gegenstände, die an sich sittenwidrig wären. Zwar kennt das Strafrecht die Einziehung und Unbrauchbarmachung von Schriften, Tonträgern, Abbildungen und Darstellungen, deren vorsätzliche Verbreitung in Kenntnis ihres Inhalts den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllen würde (§ 141 StGB). Auch diesen Gegenständen kommt aber nicht schon per se rechtswidrige Qualität zu, sondern erst durch ihren Verwendungszweck. Mag auch in § 41 Abs.1 StGB auf ihren typischen Verwendungszweck abgestellt werden, so knüpft das Gesetz dennoch seine Sanktion nicht an den Gegenstand als solchen, sondern an seinen, wenn auch typischen, Verwendungszweck, nämlich die Verbreitung. Nicht so einfach liegen die Dinge bei der Testamentvollstreckung. Bei ihr ist eine inhaltlich sittenwidrige Ausgestaltung durch Festlegung des Testamentsvollstreckers denkbar. Einfachstes Beispiel: Einsetzung zur Verwaltung, das heißt Forführung eines Bordellbetriebes gemäß §§ 2209, 2208 Abs. 1 Satz 2 BGB (gegenständlich beschränkte Dauervollstreckung) gekoppelt mit einem Veräußerungsverbot gemäß § 2216 Abs. 2 Satz 2 BGB1s. Während also erbrechtliche Zuwendungen von Gegenständen ihrem Inhalt nach nicht gegen die guten Sitten verstoßen können, kommt dies bei der Einsetzung eines Testamentsvollstreckers durchaus in Frage. Enterbungen, Pftichtteilsentziehungen und der Widerruf letztwilliger Verfügungen sind ebenfalls immer inhaltlich wertneutraL Sie erhalfür geschlechtliche Hingabe zu entlohnen. Nach Husmann, NJW 1971, 409, hat eine Zuwendung "grundsätzlich" den Charakter einer sittlich guten Tat. 12 Lange ebd. vorsichtig: kaum. ts ebd. 14 Lange zum Diebeswerkzeug: Zuwendung an einen Nachfolger des diebischen Erblassers oder an ein Kriminalmuseum. Beim Diebesgut ist dementsprechend zu ergänzen: zur eigennützigen Verwertung oder zur Rückgabe an den Bestohlenen. u Demgegenüber ist die Einsetzung einer Geliebten zur Testamentsvollstreckerin nicht schon deshalb sittenwidrig, weil sie dadurch der Familie des Erblassers übergeordnet wird (so aber BGH FamRZ 1954, 198; zustimmend von Lübtow, Erbrecht I, 311). In der Regel wird das Motiv des Erblassers allerdings die Erniedrigung ("Bestrafung") von Familienmitgliedern sein. Dafür spricht eine tatsächliche Vermutung, die sich auf die Beweislast auswirkt. Es sind aber ausnahmsweise auch edle Motive denkbar, wenn z. B. die ehemalige Geliebte die Ehefrau ehrlich unterstützen soll und die Ehefrau dies auch so empfindet. Vgl. unten S. 243 f.

II. Sittenwidriger Inhalt

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ten erst im Zusammenhang mit weiteren Umständen wie Motiven, Zwecken, der Person des Benachteiligten und seinen Beziehungen zum Erblasser, seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, der Person des Begünstigten und deren Beziehungen zum Erblasser, deren wirtschaftlichen Verhältnissen, der Höhe der Enterbung usw. wertmäßiges Kolorit. 2. Sonstiger sittenwidriger Inhalt

Abgesehen vom Objekt der Verfügung könnte sich ein sittenwidriger Inhalt einer Verfügung von Todes wegen zunächst wegen eines in ihr zum Ausdruck gebrachten Zwecks ergeben. Inhalt und Zweck sind also nicht antinomistisch gegenüberzustellen; vielmehr kann der Zweck durchaus zum Inhalt der Verfügung gemacht werden, so etwa wenn der Betroffenen durch die Verfügung zu einem bestimmten, dem Erblasser genehmen Verhalten veranlaßt werden soll, und zwar kann dieses Verhalten noch zu Lebzeiten des Erblassers oder in der Zeit nach seinem Ableben liegen. Infrage kommt etwa die Fortsetzung eines Liebesverhältnisses, Eingebung oder Nichteingebung einer Ehe, Ergreifen oder Nichtergreifen eines bestimmten Berufs, Wechsel oder Beibehaltung eines Wohnsitzes, religiösen Bekenntnissen, Berufs oder der Mitgliedschaft in einer Vereinigung. Zum "Inhalt" kann ein solcher Zweck etwa durch eine Bedingung oder Auflage werden. Die finale Qualifikation ändert sich aber auch dann nicht, wenn solche Anordnungen fehlen und lediglich Widerrufs-, Rücktritts- oder Anfechtungsmöglichkeiten den Zweck sanktionieren. Die innere Gemeinsamkeit der Finalität aller dieser Verfügungen rechtfertigt ihre Behandlung in einem besonderen Abschnitt. Demgegenüber muß das äußerliche Merkmal des Ausdrucks der Finalität im Inhalt zurücktreten. Verfügungen, die eine "Gegenleistung" des Betroffenen bezwecken, werden also Gegenstand des folgenden Abschnitts A III sein16. Zu einer starken Erweiterung des "Inhalts" eines Geschäfts gelangt man, wenn man dazu alle Auswirkungen und Umstände rechnet, die den "Hintergrund" ausmachen, also die persönlichen Beziehungen der Beteiligten untereinander und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse. Zu dieser Ausweitung bekennt sich Gernhuber17, indem er alle objektiven Umstände, die eine Verfügung von Todes wegen begleiten, als "Inhalt" den Beweggründen des Erblassers gegenüberstellt, und zwar mit dem Ziel, die Beweggründe als Ansatzpunkt für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit einer Verfügung zu eliminieren und eine Überprüfung nach rein objektiven Kriterien vorzunehmen. Wenn man schon den "Hintergrund" der Verfügung zu ihrem "Inhalt" erklärt, wäre es nur folge16 17

s. 95 ff.

FamRZ 1960, 326 ff. (334); ähnlich weit Steffen, DRiZ 1970, 347, 348.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

richtig, auch die subjektiven Begleitumstände, also Zwecke und Motive, in den Begrif einzubeziehen. Gernhuber hätte mithin zwischen objektivem und subjektivem "Inhalt" unterscheiden sollen, und es wäre dann die (von ihm bejahte) Frage, ob man nur die objektiven Bestandteile des "Inhalts" berücksichtigen sollte. Dieses Problem hängt zu stark mit dem von Gernhuber als unbeachtlich verworfenen Tatbestandsmerkmal Motiv1s zusammen, als daß die Erörterung schon hier erfolgen könnte. Es muß also insoweit auf die Ausführungen über das Motiv der Verfügung von Todes wegen18 verwiesen werden, da es auch nicht angängig erscheint, die vom Objektiven zum Subjektiven fortschreitende Darstellung zu zerreißen, indem hier schon der Abschnitt über das Motiv als Exkurs vorweggenommen wird. Kann demnach hier noch nicht über die Alleingeltung objektiver Umstände entschieden werden, so soll doch die Berechtigung, sie zum "Inhalt" der Verfügungen zu zählen, bestritten werden. "Inhalt" wäre danach alles, was die Verfügung irgendwie determiniert. Mit einem solchen uferlosen Begriff, zu dem - wären sie nicht von Gernhuber für seine Zwecke "positiv" ausgeschieden - folgerichtig auch die subjektiven Umstände zählen müßten, ist wenig anzufangen. Seine Weite disqualifiziert ihn als juristisches Selektionsprinzip. Zum "Inhalt" der Verfügungen soll deshalb .hier nur das gezählt werden, was in der Regelung des Erblassers zum Ausdruck kommt. Alles andere sind "Auswirkungen", "Umstände", subjektive Tatbestandsmerkmale. Von dieser Abgrenzung her erscheint auch die Darstellung in BGHZ 53, 369 ff. nicht von vorbildlicher Schärfe. Nachdem das Gericht zunächst20 die Gesinnung des Erblassers als Ausgangspunkt der Beurteilung der Sittenwidrigkeit herausgestellt hat ("der entscheidende Grund") und das Verhalten der Beteiligten als eine Art Hintergrundkulisse erscheint, heißt es später (S. 377), für die Entscheidung komme es "wesentlich auf den Inhalt des Rechtsgeschäfts unter Einschluß seiner Auswirkungen an". Dabei sind unter "Inhalt" die Umstände zu verstehen, in denen die Beteiligten21 gelebt haben und leben sowie ihre Beziehungen zueinander. Um der wissenschaftlich gebotenen klaren Distinktion willen sollte man hier nicht vom "Inhalt", sondern von "Umständen" und "Auswirkungen" sprechen. Daß die objektiven Umstände und Auswirkungen nicht unbeachtlich sind, werden die nachfolgenden Ausführungen ergeben. Vor allem die 1s Er stellt nur Motiv und "Inhalt" antithetisch gegenüber, ohne auf den Gesichtspunkt "Zweck" einzugehen, berücksichtigt also nur die kausale, aber nicht die finale Komponente der subjektiven Seite. 11 Unten S. 131 ff. :o S. 375. Die Entscheidung betrifft ein sogenanntes Geliebten-Testament. 21 Der Erblasser, seine Ehefrau, die bedachte Geliebte, Kinder des Erblassers, andere zugunsten der Geliebten "Zurückgesetzte".

III. Gegenleistung als Zweck

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Bewertung des Motivs des Erblassers ist nicht ohne Einbeziehung dieser objektiven Gegebenheiten möglich22 • Im Zusammenhang mit der sogenannten Sozialstaatsklausel des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes wird es sogar nötig sein, die Unwirksamkeit einer Verfügung von Todes wegen allein aufgrund ihrer Auswirkungen in Betracht zu ziehen13• Sie zum "Inhalt" zu rechnen, wäre jedoch der Aufgabe der Analyse der Tatbestände erbrechtlicher Verfügungen nicht dienlich und unterbleibt deshalb.

m. "Gegenleistung" als Zweck einer Verfügung von Todes wegen 1. Zweek und Inhalt

Gernhuber läßt bei seinen Ausführungen, welche die Objektivierung des Tatbestandes sittenwidriger Verfügungen von Todes wegen zum Ziel haben, diejenigen Verfügungen außer Betracht24 , die eine "Gegenleistung"26 des Betroffenen bezwecken, also ihn zu einem bestimmten Dazu unten S. 136 f. Unten S. 316.f. 24 Dies hängt damit zusammen, daß er bewußt solche Verfügungen ausscheidet, wo der Erblasser "in guter Absicht allzustark in die wirtschaftliche oder persönliche Freiheit seiner Angehörigen eingriff" (FamRZ 1960, 326 Fußn. *). Gegenüberstellung von Beweggründen und Inhalt ohne Berücksichtigung des Zwecks a.a.O., 334 oben links. 25 Es handelt sich hier in aller Regel nicht um eine "echte" Gegenleistung im Sinne eines wirtschaftlichen Austauschs. Der "umittelbare" Zweck bei Verfügungen von Todes wegen ist meistens derjenige einer "Liberalität" (vgl. für Schuldverhältnisse Kreß, Allgemeines Schuldrecht, 1929, § 5, 1, S. 35 ff. [37}); der Austausch wirtschaftlicher Leistungen kommt allenfalls beim Erbvertrag häufiger in Frage (von Lübtow, Erbrecht I, 399). Allerdings kann auch bei der Liberalität als unmittelbarem Zweck der Verfügung ein sogenannter weiterer Zweck (Kreß a.a.O. § 5, 5, S. 62 f.) vom Erblasser verfolgt werden, der darin besteht, den Empfänger vornehmlich in seinem Interesse zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen (Kreß a.a.O. S. 62: z. B. Begründung einer Erwerbsstellung, Aufnahme oder Fortsetzung einer bestimmten wirtschaftlichen, künstlerischen Tätigkeit, zur Heirat, zur Aufgabe des bisherigen Lebenswandels, zum Verschweigen einer dem Zuwendenden peinlichen Tatsach.e usw.). Um diesen "weiteren" Zweck geht es hier im folgenden in aller Regel. Auch wo eine (z. B. bedingte) Enterbung, Pflichtteilsentziehung oder die Aufhebung einer Verfügung (vor allem der Widerruf eines Testaments) zu beurteilen ist, gelten diese Erwägungen entsprechend. "Unmittelbarer" Zweck ist die Vorenthaltung des Vermögensvorteils, den der Betroffene aufgrund des Erbfalls hätte, "weiterer" Zweck das vom Erblasser gewünschte Verhalten. Ein ;,unmittelbarer" Austauschzweck. ist nur in den wenigen Fällen gegeben, wo der Erblasser selbst ein wirtschaftliches Interesse an dem gewünschten Verhalten des Bedachten oder Betroffenen hat. Es muß sich dann immer um ein Verhalten noch zu Lebzeiten des Erblassers handeln. Denkbar ist es etwa im Hinblick auf eine bestimmte Berufstätigkeit des Bedachten oder Betroffenen, von welcher der Erblasser in irgendeiner Weise zu profitieren gedenkt. 22

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Verhalten zu Lebzeiten oder nach dem Tode des Erblassers veranlassen sollen (Fortsetzung eines Liebesverhältnisses, Eingehung oder Nichteingehung einer Ehe, Religionswechsel oder Beibehaltung des Bekenntnisses, Wechsel oder Beibehaltung eines Wohnsitzes, Berufs, der Mitgliedschaft in einer Vereinigung usw.). Diesen Zweck26 einer Verfügung muß man zu ihrem Inhalt rechnen, wenn er in ihr zum Ausdruck kommt, etwa durch eine Bedingung21 oder Auflage. Die finale Qualifikation ändert sich aber auch dann nicht, wenn solche besonderen Anordnungen fehlen und "nur" Widerrufs-, Rücktritts- und Anfechtungsmöglichkeiten den Zweck sanktionieren. Der Zweck kann also zum Inhalt gehören, muß es aber nicht. Greift man zur Ermittlung von Umständen, welche die Sittenwidrigkeit eines Geschäfts ergeben können, über dessen Inhalt hinaus, so hat man allerdings zu bedenken, daß es hier immer um die Beurteilung des Rechtsgeschäfts als Regelung geht und nicht um die Bewertung des Handeins des Erblassers28• Das gilt gleichermaßen für die Verstöße gegen Grundrechtswerte wie für die "schlichte" Sittenwidrigkeit. Es bedeutet jedoch nicht, daß nur der Inhalt des Geschäfts für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit heranzuziehen wäre%9 • Maßgebend sind zunächst auch die Auswirkungen des Rechtsgeschäfts, die es über die für sich betrachtete Zuwendung oder Entziehung hinaus hat. Hier sind "Gegenleistungen" im weitesten Sinne zu berücksichtigen, die der an einer erbrechtliehen Verfügung (oder ihrer Beseitigung) passiv Beteiligte30 zu erbringen hat, um in den Genuß einer Zuwendung zu kommen, sie sich zu erhalten oder um eine Enterbung oder Pflichtteilsentziehung abzuwenden31. Solche "Gegenleistungen" - mögen sie zum "Inhalt" gehören oder nicht- können schon für sich genommen ein sittenwidriges Verhalten 26 Es handelt sich also um den "weiteren" Zweck im Sinne der vorstehenden Fußnote. 27 Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 48. 2s BGHZ 53, 369 (375 f.); Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, § 18,2 a, S. 368, und 5, S. 376 (kritisch gegenüber der früheren Rechtsprechung des BGH); Larenz, Allgemeiner Teil!, 1972, § 22 III a, S. 366; Müller- Freienfels, JZ 1968, 446 ; Steffen, DRiZ 1970, 348; Husmann, NJW 1971, 405 f.; vgl. unten S. 216. 29 Larenz ebd. ao Also der Bedachte, der Enterbte, der Pftichtteilsberechtigte, dem der Pflichtteil entzogen wurde, der durch Widerruf oder Anfechtung eines Testaments, durch Anfechtung des Erbvertrages oder Rücktritt von diesem Benachteiligte. Man könnte ihn auch den "Adressaten" der Verfügung oder des ihrer Beseitigung dienenden Aktes nennen; nur führt dies leicht zu Mißverständnissen; denn man muß sich darüber im klaren sein, daß er meistens nicht Empfänger der Willenserklärung des Erblassers im technischen Sinne ist. Letzwillige Verfügungen sind nämlich keine empfangsbedürftigen Erklärungen: vgl. von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 134. 31 Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 43 f., für die unsittliche ("Willkür-") - Bedingung.

!II. Gegenleistung als ZwecK

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zum Gegenstand haben. Es lassen sich allerdings nur reichlich theoretische Beispiele bilden; denn welcher Erblasser verlangt schon von einem Eingesetzten oder von der Enterbung Verschonten, daß er ein sich in Nur-Sexualität erschöpfendes "Verhältnis" eingeht oder fortführt, ein Bordell oder ein Wuchergeschäftllt betreibt, Diebeswerkzeug für seinen eigentlichen Zweck bereithält. Was für die "schlichte" Sittenwidrigkeit gilt, hat allerdings auch für Verstöße gegen Grundrechtswerte Bedeutung. Verfügungen, die solche Verstöße eines Bedachten33 bezwecken, sind gemäߧ 138 Abs.l BGB unwirksam. In Frage kommen solche Tatbestände beispielsweise bei Bedingungen oder Auflagen, welche die gegen Art. 3 des Grundgesetzes verstoßende Diskriminierung Dritter bewirken sollen34 oder darauf abzielen, daß der Bedachte andere in ihren Freiheitsrechten beschränkt35• Häufiger als die schon wegen des erstrebten Verhaltens an sich als sittenwidrig zu bezeichnenden Tatbestände sind Fälle, in denen das verlangte Verhalten seine sittenwidrige Qualität erst durch die Verknüpfung mit der (geldwerten!) Zuwendung oder dem Unterlassen der Enterbung (Pflichtteilsentziehung, des Testamentswiderrufs) erhält36• Hierher gehören die Fälle, wo der Erblasser die Fortsetzung oder Anknüpfung eines (nicht notwendig "niedrigen") Liebesverhältnisses (mit ihm oder einem Dritten!), eine Eheschließung, eine Ehescheidung, einen Religions- oder Konfessionswechsel erreichen, herbeiführen oder verhindern oder einen Ein- oder Austritt bei einer Partei bewirken will. Alles Handlungen, die für sich genommen wertneutral sind und die einen sittenwidrigen Charakter erst durch die "Kommerzialisierung" erhalten könnensr. Abgesehen davon kann aber die Bindung zu einem bestimmten Verhalten schon an sich aus dem Gesichtspunkt der Beeinträchtigung der 32 Beispiel von Model, Testamentsrecht2, 1964, Randnr. 61: Auflage, mit dem vermachten Geld ein Wuchergeschäft zu betreiben. 33 Entsprechendes gilt bei der Enterbung, Pflichtteilsentziehung und der Aufhebung erbrechtlicher Verfügungen, vor allem beim Widerruf eines Testaments. 34 Dazu unten S. 310 ff. 35 Hier ist Vorsicht bei der Annahme der Unwirksamkeit am Platze. Die Willensrichtung des in seiner Freiheit zu Beschränkenden darf nicht außer acht gelassen werden. Vgl. unten S. 273 f. 36 Der Unterschied zwischen dem schon "an sich" sittenwidrigen Verhalten und solchen Verhaltensweisen, die erst durch die Verknüpfung mit geldwerten Vorteilen sittenwidrig werden, geht auf die Klassifizierung der sittenwidrigen Geschäfte durch Lotmar, Der unmoralische Vertrag, 1896, 68 ff. zurück. Vgl. oben Fußn. 173 S. 86. Differenzierung in dieser Hinsicht speziell in Bedingungen letztwilliger Verfügungen: Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 47. Den Unterschied stellt auch Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 44 ff., heraus. 37 Vgl. oben S. 86. Einzelheiten unten S. 254 ff., 273 ff.

7 Thielma nn

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Teil li. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Willensfreiheit sittenwidrig sein38• Das ergibt sich vornehmlich aus den Freiheitsrechten des GG, die nicht an der "Kommerzialisierung" bestimmter Verhaltensweisen Anstoß nehmen, sondern an der Beschränkung der Freiheit. Auch die hier in Frage stehenden Verhaltensweisen sind für sich genommen wertneutral. Der Vorwurf richtet sich nicht gegen sie selbst, sondern gegen die Beeinträchtigung der Freiheit des auf sie gerichteten Willens. Eine solche Beeinträchtigung kann auch durch wirtschaftlichen Druck, also auch durch erbrechtliche Verfügungen39, stattfinden. Trotz des wirtschaftlichen Charakters des Druckmittels muß man aber beachten, daß es sich hier nicht um den Gesichtspunkt des Abhängigmachens des Verhaltens von einer gerade geldwerten Gegenleistung handelt, sondern der ökonomische Zwang hier nur als eine Spielart des Druckes auf die Willensfreiheit schlechthin auftritt. Das Urteil über die Verwerflichkeit braucht deshalb hinsichtlich des gleichen Verhaltens auch nicht identisch auszufallen, wenn einerseits eine "Kommerzialisierung", andererseits Druck auf die Willensfreiheit (in der Spielart des wirtschaftlichen Druckes) vorliegt. So erscheint die Beeinträchtigung der Willensfreiheit etwa in den Fragen der Freizügigkeit oder der Berufswahl anstößig, nicht aber das ·Abhängigmachen der Entscheidung bei ihnen von geldwerten Vorteilen40• Eine letztwillige Verfügung, die beispielsweise die Zuwendung von einer bestimmten Berufswahl oder der Wahl eines bestimmten Wohnorts des Bedachten im Wege der Bedingung abhängig macht, kann also wirksam sein oder nicht, je nachdem, ob sie unter dem Aspekt der Beeinträchtigung der Willensfreiheit oder des Abhängigmachens der Wahl von geldwerten Vorteilen zu beurteilen ist41 • Beide Gesichtspunkte berühren sich insofern, als es beide Male um Einwirkungen auf den Willen geht. Als entscheidender Unterschied soll jedoch hier zunächst hervorgehoben werden, daß es sich einmal darum handelt, den Willen des Bedachten, der dem des Erblassers entgegensteht, zu "brechen", während zum anderen ein Unentschlossener, Gleichgültiger durch den materiellen Vorteil zu einer dem Erblasser genehmen Entscheidung angereizt wird. Ganz gleich, welche der drei Spielarten des Einwirkens des Erblassers auf den Bedachten vorliegt (Beeinträchtigung der Willensfreiheit, "Kommerzialisierung" oder Sittenwidrigkeit des gewünschten Verhaltens selbst), es handelt sich hier um das Moment, .das in der Formel der Rechtsprechung'2 als "Zweck" auftritt. Der Erblasser will den passiv ss Vgl. die Gegenüberstellung bei Flume, Allgemeiner Teil li, 1965, § 18, 2 b bb und cc, S. 368 f. 39 Dazu näher unten S. 119 ff. 40 Darüber näher unten S. 120 und S. 286 ff., 289 ff. 41 Näheres unten ebd. 42 Oben S. 90.

III. Gegenleistung als Zweck

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Beteiligten der Verfügung in irgendeinem Sinne beeinflussen, ihn "lenken"43. Die erbrechtliche Verfügung ist hier nicht notwendig in ihrem Inhalt sittenwidrig, wohl aber kann sie es ihrem Zweck nach sein, indem sie einen möglicherweise sittenwidrigen Vorgang oder Zustand herbeiführen soll, bei ihrem "Erfolg" also eine möglicherweise sittenwidrige Wirkung entfalten würde wie ein bereits seinem Inhalt nach sittenwidriges Geschäft. Insofern wirkt sich die Zwecksetzung auch objektiv aus. Die Gleichbewertung mit inhaltlich sittenwidrigen Rechtsgeschäften ist daher im Prinzip richtig. Von einem "Zweck" 44 der Verfügung kann man natürlich auch da sprechen, wo der Erblasser keine "Gegenleistung" mehr erstrebt, sondern ein bestimmtes Verhalten des Bedachten, Enterbten usw. lediglich zum Anlaß seiner Anordnungen nimmt. Der Zweck besteht dann also nicht mehr in einer "Lenkung" des Betroffenen, sondern nur in seiner Bevorzugung oder Benachteiligung, mit anderen Worten in "Belohnung" oder "Bestrafung". Hier sollen zunächst die Fälle der Einwirkung auf den Bedachten usw. behandelt werden. Der Begriff "Zweck" wird dabei also in einem engeren Sinne verwendet. Mit den Tatbeständen bloßer "Reaktion" des Erblassers, also der "Belohnung" und "Bestrafung", befaßt sich sodann ein weiterer Abschnitt45 • Die Art und Weise und damit auch die Intensität, mit der die Verfügung von Todes wegen als Druck wirkt, kann allerdings je nach dem vom Erblasser verwendeten rechtlichen Mittel und den tatsächlichen Umständen verschieden sein. 2. Die redttlidten Mittel zur Herbeiführung einer "Gegenleistung"

a) Erbvertrag Was die rechtlichen zu Gebote stehenden Mittel der "Lenkung" anlangt, so ist zunächst an gegenseitige obligatorische Verträge (§§ 320 ff. BGB) zu denken, in denen sich der eine Teil zu einer Verfügung von Todes wegen, ihrer Unterlassung, Aufhebung oder Nichtaufhebung und der andere Teil sich zu dem vom Erblasser bezweckten Verhalten als Gegenleistung verpflichtet. Solche synallagmatischen Verträge sind indessen wegen § 2302 BGB nicht möglich, wonach ein Vertrag nichtig ist, durch den sich jemand verpflichtet, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten oder nicht zu errichten, aufzuheben oder nicht aufzuheben46 • 43 "Lenkungsfälle": Ausdruck von Lange, Erbrecht, § 34 V 2 c, S. 377.

Der "unmittelbare" Zweck (bei Verfügungen von Todes wegen meist derjenige der "Liberalität") bleibt ohnehin. Hier geht es um den sog. weiteren Zweck, vgl. oben Fußn. 25. 45 Unten S. 131 ff., insbesondere zur terminologischen Abgrenzung von Zweck und Motiv S. 131 f. 46 von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 404. 44

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Die synallagmatische Verknüpfung einer erbrechtliehen Verfügung selbst mit einer obligatorischen Gegenleistung gemäß §§ 320 ff. BGB scheitert daran, daß die Verfügungen von Todes wegen keine obligatorischen Leistungspflichten begründen und die §§ 320 ff. nur für die Verknüpfung solcher Pflichten geschaffen sind•1 . Das gilt insbesondere auch für den Erbvertrag. Er ist nicht auf eine obligatorische Leistungspflicht des Erblassers gerichtet, sondern verwirklicht bereits selbst die Erbeinsetzung, das Vermächtnis oder die Auflage48 • Auch wenn sich der Vertragspartner zu einer Gegenleistung verpflichtet, gehört diese Abrede nicht zum Erbvertrag selbst49. Denkbar ist jedoch die Verbindung eines Erbvertrages mit einem anderen, obligatorischen, auf ein bestimmtes Verhalten gerichteten. Beispiele: Der Erblasser setzt seinen Sohn, der noch Geschwister hat, als alleinigen Vertragserben ein, der Sohn verpflichtet sich, nicht den Beruf eines Schauspielers oder eine verwandte Berufstätigkeit (Regisseur, Sänger usw.) zu ergreifen, weil der Vater solche Betätigungen für "brotlose Kunst" hält und fürchtet, der Sohn werde den Nachlaß in kurzer Zeit "durchbringen". Oder der Sohn verpflichtet sich, als "Gegenleistung" für die Einsetzung als Alleinerbe auf keinen Fall Soziologie oder Politologie, sondern möglichst Jurisprudenz zu studieren. Die Verbindung des Erbvertrages mit einem anderen Vertrag ist dem Gesetz nicht fremd50• Es geht im § 34 Abs. 2, 2. Halbsatz des BeurkG vom Lange, Erbrecht, § 37 VII 2 b, S. 418; von Lübtow, Erbrecht a.a.O. von Lübtow, Erbrecht I, 398 f., 404 mit weiteren Angaben. Mit erbvertragsmäßiger Wirkung können nur Erbeinsetzungen, Vermächtnisse und Auflagen vereinbart werden (§§ 1941 Abs. 1, 2278 BGB). Nur sie unterliegen der speziellen erbvertragliehen Bindung (§§ 2281 ff. BGB). Anderer Verfügungen, wie sie durch Testament getroffen werden können, sind zwar im Erbvertrag ebenfalls statthaft, nehmen aber an der erbvertragliehen Bindung nicht teil, sondern dürfen wie testamentarische widerrufen werden (§ 2299 BGB). Dazu von Lübtow, Erbrecht I, 400. 49 von Lübtow, Erbrecht I, 405. so Hier ist auch der sogenannte gegenseitige Erbvertrag (§ 2298 BGB) zu erwähnen. Besser bezeichnet man ihn, um Verwechslungen mit den schuldrechtlichen Verträgen gemäß §§ 320 ff. BGB zu vermeiden, als wechselseitigen (von Lübtow, Erbrecht I, 468). Das Gesetz sieht bei ihm eine echte synallagmatische Verknüpfung der beiderseitigen Verfügungen vor. Für den hier interessierenden Problemkreis bringt er jedoch keine Besonderheiten. Für die Sittenwidrigkeit kommt immer nur die Verbindung der erbrechtliehen Verfügung mit einem andersartigen Verhalten in Frage, da die Verbindung zweier solcher Verfügungen wegen der inhaltlichen Wertneutralität der erbrechtliehen Zuwendungen nie sittenwidrig ist. Der Sittenverstoß resultiert stets aus der Verbindung einer erbrechtliehen Verfügung mit einem anderweitigen Verhalten, wie im folgenden näher beschrieben wird. Die synallagmatische Abhängigkeit zweier oder mehrerer Verfügungen intensiviert auch nicht die Verknüpfung einer der erbrechtliehen Zuwendungen mit dem bezweckten anderweitigen Verhalten. Diese Problematik taucht wieder beim gemeinschaftlichen Testament auf (unten S. 108 ff.) und ist dort praktisch von größerer Bedeutung als beim gegenseitigen Erbvertrag. Es sei deshalb wegen der Einzelheiten nach dort verwiesen. 41

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III. Gegenleistung als Zweck

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28.8.1969 davon aus, daß beide Verträge in dieselbe Urkunde aufgenommen werden können51 • Das bedeutet indessen nur eine äußerliche Zusammenfassung ohne inneren rechtlichen Zusammenhang. Einen solchen inneren Zusammenhang kennt das Gesetz für den Sonderfall des§ 2295 BGB: Der Erblasser kann vom Erbvertrag zurücktreten, wenn seine Verfügung mit Rücksicht auf eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung des Bedachten getroffen wurde, wonach dieser dem Erblasser für dessen Lebenszeit wiederkehrende Leistungen zu entrichten hat, und diese Verpflichtung vor dem Tode des Erblassers aufgehoben wird. Es handelt sich also um die "kausale" Verbindung ("mit Rücksicht auf ...") des Erbvertrages mit einem sogenannten Verpfründungsvertrag. Das Gesetz regelt nur den Fall der vorzeitigen Aufhebung der Verpflichtung des Vertragsgegners des Erblassers. Eine allgemeine Erweiterung dieser in ihrem Anwendungsbereich eng begrenzten Bestimmung durch Analogie erscheint nicht möglich. Man kann allenfalls daran denken, sie analog bei von vornherein gegebener Nichtigkeit eines Verpfründungsvertrages anzuwendene, nicht aber bei Aufhebung oder Nichtigkeit anderer mit einem Erbvertrag verbundener Verpflichtungen oder wenn bei solchen Verpflichtungen Leistungsstörungen auftreten. Hier kann nur mit generellen Bestimmungen geholfen werden. Die sichersten Wege dazu sind die über den Vorbehalt des Rücktritts (§ 2293 BGB) oder über eine echte Bedingung (§ 158 BGB)M. Der Fortbestand des Erbvertrags wird beim Vorliegen einer Bedingung vom Weiterbestehen und der ordentlichen Erfüllung der Verpflichtung des Vertragsgegners (künftigen Ereignissen!) abhängig gemacht54• Was das wirksame Zustandekommen der Verpflichtung anlangt, so stellt sie kein künftiges Ereignis dar. Eine echte Bedingung scheidet also aus. Es muß aber ebenso möglich sein, die Wirkungen eines Geschäfts von einem objektiv bereits feststehenden, den Parteien oder einer von ihnen jedoch möglicherweise (subjektiv) ungewissen Umstandes, wie dem der Gültigkeit eines anderen Geschäfts, abhängig zu machenss. Diese 51

vor.

Früher sah § 2277 Abs. 1 Satz 2 BGB diese Möglichkeit ausdrücklich

52 So Oertmann, Die Geschäftsgrundlage, 1921, 112. Dazu kritisch von Lübtow, Erbrecht I, 408. 53 Dazu von Lübtow, Erbrecht I, 407 f. 54 Soll die Verpflichtung nach dem Tode des Erblassers fortwirken, so muß dafür Sorge getragen werden, daß sie nicht mit dem Erbfall durch Konfusion erlischt. Ist der Bedachte = Verpflichtete zum Alleinerben berufen, muß also ein Dritter die Gläubigerrolle des Erblassers fortsetzen. In Frage kommt die Begründung für den Dritten zu Lebzeiten des Erblassers, eventuell aufschiebend befristet bis zum Zeitpunkt seines Todes. Das wäre dann ein Vertrag zugunsten eines Dritten auf den Todesfall. Zu diesem von Lübtow, Erbrecht li, 1232 ff., und eingehend M. Harder, Zuwendungen unter Lebenden auf den Todesfall, 1968, 122 ff. 55 von Lübtow a.a.O. (für den Verpfründungsvertrag).

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

juristischen Konstruktionsmöglichkeiten bestehen jedoch nur, wenn eine diesbezügliche Abmachung dem Erbvertrag zu entnehmen ist. Sie muß, wenn nicht ausdrücklich, so doch wenigstens in Anhaltspunkten aus der Verfügung von Todes wegen hervorgehen. Es muß sich dann einerseits die Finalität, andererseits die Verknüpfung des Schicksals der Zuwendung mit dem Erfolg der Zweckrealisierung ergeben, so wenn der Erblasser z. B. verfügt: "Das Vermächtnis soll meinen Enkel davor bewahren, das sinnlose Studium der Theologie zu unternehmen; es dient einzig und allein diesem Zweck." Fehlt eine solche Anordnung in einer finalen Verfügung (z. B. "Das Vermächtnis soll meinen Enkel davor bewahren, das sinnlose Studium der Theologie zu unternehmen") ohne weiteren Zusatz, so bleibt natürlich zunächst die Leistungsklage gegen den Bedachten = Verpflichteten auf Erfüllung seiner Verhaltenspflicht. Der Bestand der Zuwendung bleibt davon unberührt. § 139 BGB führt zur Unwirksamkeit der Zuwendung nur im Falle der Nichtigkeit der Verpflichtung66. Im übrigen ist an eine Irrtumsanfechtung durch den Erblasser oder - nach dem Tode des Erblassers - eines nach §§ 2285, 2080 BGB berechtigten Dritten gemäß §§ 2281-2284, 2078 Abs. 2, 2081, 2082 BGB zu denken. Anfechtungsgründe sind der Irrtum des Erblassers über das (wirksame) Zustandekommen sowie die enttäuschte Erwartung über den Fortbestand und die ordnungsgemäße Erfüllung des anderen Vertragesllr. Die sogenannte ergänzende Vertragsauslegung58 und der Gesichtspunkt des Fehlens oder des Wegfalls der Geschäftsgrundlagell9 - beide basieren auf § 242 BGB60 - scheiden demgegenüber nach dem Prinzip "lex speci:alis derogat legi generali" aus61• Als weniger wirksames Mittel bleibt dem Erblasser anstelle der Anfechtung auch die Bereicherungsklage gemäß § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB (sogenannte condictio causa data causa non secuta) mit der Begründung, der mit dem Abschluß des Erbvertrages bezweckte Erfolg sei nicht eingetreten62• Der Anspruch geht auf Aufhebung des Erbvertrags gemäߧ 2290 BGB63. 58 von Lübtow, Erbrecht I, 405, 408 f. Vgl. auch unten S. 199. von Lübtow, Erbrecht I, 405, für den Verpfründungsvertrag; allgemein bei einer Verpflichtung zur Gegenleistung Lange, Erbrecht, § 37 VII 2 b, S. 418 mit Literatur in Fußn. 4. 58 Vgl. dazu von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 59 ff. mit weiteren Nachweisen. 59 Dafür Lange, Erbrecht, § 37 VII 2 b, S. 418. Zum Begriff der Geschäftsgrundlage vor allem Lehrmann - Hübner, Allgemeiner Teil18, 1966, § 35 A VII, S. 288 ff. (Lit. S . 288) mit der sogenannten Lebmannsehen Formel a.a.O. VII 4, 57

S . 292.

so Zur Vertragsergänzung von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 61 f.

61 von Lübtow, Erbrecht I, 408, 410. 62 von Lübtow, Erbrecht I, 406 f. mit Literatur in Fußn. 15. es von Lübtow ebd.

III. Gegenleistung als Zweck

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Die Verknüpfung der Verfügung von Todes wegen mit einer Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten des Bedachten ist zunächst so verhältnismäßig ausführlich erörtert worden, weil eine solche Verknüpfung beim Erbvertrag am nächsten liegt. Die D~legungen über den (vorbehaltenen) Rücktritt, die Bedingung und das Unterstellen eines gegenwärtig feststehenden, aber ungewissen Ereignisses {"condicio in praesens vel in praeteritum collata") gelten entsprechend, wenn nicht eine Verpflichtung des Bedachten zu einem bestimmten Verhalten die "Gegenleistung" darstellt, sondern dieses Verhalten direkt ohne das Dazwischenschalten einer diesbezüglichen Verpflichtung (also etwa die Bedingung oder die Erwartung, der Bedachte ergreife nicht den Beruf des Schauspielers). Aufschiebende und auflösende Bedingungen kommen gleichermaßen in Betracht. § 139 BGB scheidet natürlich aus, da es jetzt nicht mehr um die Verknüpfung von Rechtsgeschäften geht, sondern um die eines Rechtsgeschäfts mit einem bestimmten Verhalten. Mittels der sogenannten condicio in praeteritum collata können auch vor der Errichtung der Verfügung von Todes wegen liegende Ereignisse erfaßt werden. Der Erblasser ist sich z. B. im ungewissen darüber, ob sein "verlorener" Sohn schon Schauspieler geworden ist und setzt ihn als Alleinerben ein unter der Voraussetzung, daß dies nicht zutrifft. Die Kombination mit der echten Bedingung, daß der Sohn nicht Schauspieler wird, liegt dann tatsächlich nahe. Fehlt eine solche ausdrückliche oder dem Zusammenhang der Verfügung zu entnehmende Anordnung, so kann man nicht ohne weiteres mit der Irrtumsanfechtung arbeiten. Sie scheidet aus, wenn der Erblasser von der bloßen Hoffnung beherrscht war, der Bedachte werde sich - im Hinblick auf die Zuwendung oder überhaupt - eines bestimmten Verhaltens befleißigen. § 2078 Abs. 2 BGB verlangt vielmehr die - sichere - Erwartung des Eintritts des künftigen Umstandes. Der Erblasser muß von dieser Erwartung nämlich zu der Verfügung bestimmt worden sein. Bloße Finalität der Verfügung reicht also nicht aus. Deshalb gehören diese Fälle streng genommen nicht zu der Gruppe, wo der Erblasser mittels einer Zuwendung eine "Gegenleistung" erreichen will. Er erwartet vielmehr die "Gegenleistung" ohnehin; sie ist kausal für die Zuwendung. Insofern besteht ein Unterschied zu den Tatbeständen, wo die Bedingung Zustandekommen, Fortbestand und Erfüllung einer Verpflichtung des Bedachten zum Gegenstand hat. Die Verpflichtung ergibt das finale Moment, das hier fehlt. Trotzdem erscheint es gerechtfertigt, die Anfechtungsmöglichkeit wegen des Nichteintritts künftiger, vom Erblasser erwarteter Umstände in diesem Zusammenhang zu behandeln, da sie sich praktisch als Sanktion gegenüber dem Bedachten auswirkt. Hat der Erblasser etwa seinen Sohn in der Erwartung zum Alleinerben eingesetzt, er werde nicht Schauspieler,

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Teil li. A. Die sittenwidrigen Faktoren

so wirkt sich die Anfechtungsmöglichkeit im Sinne eines mehr oder weniger starken Drucks auf den Sohn aus, nicht den Beruf eines Schauspielers zu ergreifen. Natürlich müssen dem Sohn die Erwartungen des Vaters und ihre Rechtsfolge bekannt sein. Aber das ist bei allen Sanktionen so. Sie wirken nur, wenn sie als solche erkannt werden. Vollends verlassen wird der Gesichtspunkt der Zwecksanktionierung nun allerdings, wenn der Erblasser auf wirkliche oder vermeintliche zurückliegende Ereignisse abstellt oder von ihnen zu der Verfügung veranlaßt wird. Hier will der Erblasser den Begünstigten nicht mehr "lenken", und - das kommt hinzu - er kann es auch gar nicht mehr. Die Verfügung ist bloß noch Reaktion auf ein Verhalten. Sie will deswegen "bestrafen"- oder auch "belohnen". "Zweck" ist hier nur noch die - nachträgliche - "Bestrafung" oder "Belohnung" wegen eines Verhaltens, das der Erblasser, da es nun einmal geschehen ist, nicht mehr ändern kann. Damit verflüchtigt sich der Zweck zum Motiv. Der Einfluß des Motivs einer Verfügung auf ihre Qualifizierung als sittenwidrig ist Gegenstand der Erörterung in Abschnitt A IV 2". b) Erbverzicht

Auf den ersten Blick scheint der Erbverzicht (§ 2346 Abs. 1 BGB - ebenso der Pflichtteilsverzicht: § 2346 Abs. 2 BGB) - dem Erbvertrag nahe ru stehen. Auch hier kann man sich Fälle denken, in denen die Sittenwidrigkeit wegen der Verknüpfung mit einer "Gegenleistung" in Frage kommt, so etwa, wenn ein Verwandter auf seinen Erbteil verzichtet, falls der Erblasser nicht wieder heiratet oder eine bestimmte Frau nicht heiratet. Die Ähnlichkeiten sind jedoch meistens nur scheinbar. Sie bestehen zwar insofern, als der Erbverzicht ebenfalls keine obligatorische Leistungspflicht zum Inhalt hat, die §§ 320 ff. BGB also ebensowenig auf eine Kombination Erbverzicht - Verpflichtung angewendet werden können wie auf die des Erbvertrages mit einer Verpflichtung. Im übrigen ist aber zu beachten, daß der Erbverzicht keine Verfügung von Todes wegen ist6s. Das bedeutet zunächst, daß seine Behandlung, streng genommen, gar nicht mehr zum Thema gehört. Wegen der wirtschaftlichsozialen Komplementärfunktion zur Erbeinsetzung soll er hier jedoch trotzdem berücksichtigt werden. Die fehlende Struktur als Verfügung von Todes wegen bewirkt die Unanwendbarkeit des § 2302 BGB. Er gilt auch nicht analog, da sein Schutzzweck, die Testierfreiheit zu erhalten, durch einen Erbverzicht 84 &II

Unten S. 104 ff. von Lübtow, Erbrecht I, 526.

!II. Gegenleistung als Zweck

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nicht berührt wird&e. Es sind also schuldrechtliche Verträge gemäß §§ 320 ff. BGB möglich67 , in denen sich ein Teil zum Erbverzicht verpflichtefls, der andere zu einem bestimmten Verhalten. Verletzungen der Verhaltenspflicht sind dann als Leistungsstörungen nach den §§ 323 bis 326 BGB zu beurteilen69, d. h. sie führen zum Rücktritt, Schadensersatz oder zur Abwicklung nach Bereicherungsrecht. Praktisch wird vor allem der Rücktritt mit Aufhebung des Erbverzichtsvertrages gemäß §§ 346 Satz 1 (also nur obligatorische Verpflichtung!), 2351 BGB in Frage kommen. Echte Bedingung70 und "condicio in praesens vel in praeteritum collata" sind ebenso wie beim Erbvertrag möglich, sei es in Zusammenhang mit einer Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten, sei es mit dem V erhalten selbst. Bei der Verpflichtung besteht auch eine Verknüpfung gemäß § 139 BGB71 • Sie wirkt sich natürlich nur bei Nichtigkeit der Verpflichtung aus. Bei der Irrtumsanfechtung zeigt sich hingegen wieder das Fehlen der Eigenschaft als Verfügung von Todes wegen: § 2078 Abs. 2 BGB gilt nicht, und eine Anfechtung wegen Motivirrtums ist daher meistens nicht möglich72• Die "condictio causa data causa non secuta" (§ 812 Abs. 1 Satz 2 BGB) führt nicht zum Ziel, weil der Erblasser nichts erlangt, sich vielmehr nur die Person des Erbanwärters geändert hat7a. Die ältere Literatur half sich vielfach mit der Annahme einer "stillschweigenden" Bedingung74• Die "stillschweigende" Willenserklärung bedeutet jedoch in Wahrheit eine Fiktion und ist als solche abzulehnen75 • Möglich ist allerdings die Berücksichtigung eines irrealen Willens76 ; aber er ist etwas anderes als eine "stillschweigende" Erklärung. § 139 BGB77 hilft nicht weiter, wo die Gegenverpflichtung gültig ist, aber nicht ordnungsgemäß erfüllt wird78. Eine moderne Lehre79 will durch den Rückgriff auf eine schuldrechtliche synallagmatische Grundlage helfen, die den Erblasser zum Erbverzicht und den Gegner zur Gegenleistung verpflichtet. Bei Leistungsstörungen gilt danach unter anderen§ 326 BGB. Diese Konstruktion setzt eine Vervon Lübtow, Erbrecht I, 536. von Lübtow, Erbrecht I, 536 f . Das heißt noch nicht: den Erbverzicht selbst erklärt. Näheres bei von Lübtow, Erbrecht I, 537. von Lübtow, Erbrecht I, 537. von Lübtow, Erbrecht I, 535. von Lübtow, Erbrecht I, 538. von Lübtow, Erbrecht I, 538 f. Anders ohne überzeugende Begründung Lange, Erbrecht, § 7 V b, S. 72; Kipp- Coing, Erbrechtt2, 1965, § 82 II 3 c, S. 363; weitere Literatur bei Lange ebd. Fußn. 9. 74 Vgl. Lange ebd. mit Literatur in Fußn. 4 und 5. 75 von Lübtow, Richtlinien für die Anfertigung von Obungs- und Prüfungsarbeiten, 1962, 28 ff. 76 von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 57; Erbrecht I, 295. 11 Dafür Kipp - Coing, Erbrechtt2, 1965, § 82 II 3 b, s. ::\63. 78 Lange ebd. 66 67 68 69 10 11 72 73

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

pflichtung des Erblassers voraus. Sie ist, da der Erbverzicht keine Verfügung von Todes wegen darstellt, trotz § 2302 BGB zulässig, fehlt aber in der Regel, weil sich Erbverzicht und Gegenleistung direkt gegenüberstehen. Es bleibt der Weg über eine Korrekturanhand des§ 242 BGB. Dabei könnte man zunächst an den Gesichtspunkt des Fehlens oder des Fortfalls der sogenannten Geschäftsgrundlage denken80. Der Begriff der Geschäftsgrundlage geht auf Oertmann81 zurück. Nach Oertmann ist Geschäftsgrundlage "die beim Geschäftsschluß zutage tretende und vom etwaigen Geschäftsgegner in ihrer Bedeutsamkeit erkannte und nicht beanstandete Vorstellung eines Beteiligten - oder die gemeinsame Vorstellung der mehreren Beteiligten - vom Sein oder vom künftigen Eintritt gewisser Umstände, auf deren Grundlage sich der Geschäftswille aufbaut" 8t. RG und BGH haben diese Definition übemommen83• Während aber Oertmann die "Geschäftsgrundlage" nicht als Bestandteil des Geschäfts ansah, hat das RG teilweise einen "stillschweigend" vereinbarten Vertragsbestandteil konstruiert, um zu einer Anfechtbarkeit gemäߧ 119 Abs. 1 BGB zu gelangen84. Oertmann unterscheidet die Geschäftsgrundlage vom Motiv einmal dahin, daß sie weniger sei als dieses; denn sie brauche den Geschäftswillen nicht positiv hervorgerufen zu haben. Zum anderen sei sie mehr; denn sie gehöre tatbestandsmäßig 79 Lange, Erbrecht, § 7 V c, S. 73; Bartholomeyczik, Erbrecht9, 1971, § 5 I 4 c dd, S.24. 80 So früher Bartholomeyczik, ErbrechtS, 1961, § 5 I 4 c bb, S . 21 f.; vgl. 9.Aufl. 1971, § 5 I 4 c dd, S. 23 f. 81 Die Geschäftsgrundlage, 1921. 82 Geschäftsgrundlage, 37. Vgl. auch die sogenannte Lehmarmsehe Formel, Lehmann- Hübner, Allgemeiner Teil18, 1966, § 35 A VII 4, S. 292. 83 RGZ 168, 121 (126); BGH NJW 1953, 1585; BGH MDR 1954, 27; BGH LM Nr. 8 zu § 242 (Bb); BGHZ 25, 390 (392). 84 So RGZ 97, 138 (140); 116, 15 (17 f.). Dagegen wird in RG Gruch 69, 216; RG JR 1927, 219; RG HRR 1929, 485; RGZ 126, 243 (245) die Entscheidung mit § 242 BGB begründet. Auf § 242 BGB stellt auch der BGH ab (vgl. die Angaben der vorstehenden Fußnote). Gegen die Konstruktion über § 119 Abs. 1 BGB ist einzuwenden, daß die Aufnahme von unrichtigen "Vorstellungen" niemals zu einem Irrtum im Sinne des § 119 Abs. 1 BGB führt (anders RGZ 94, 65 [67]; 97, 138 [139 f.]; 101, 51 [53]; 105, 406 [407]; 116, 15 [18]; PalandtDanckelmansl, Anm. 3 zu§ 119); denn bei§ 119 Abs.1 handelt es sich darum, daß die Umsetzung des Willens in die Erklärungshandlung an einem Fehler leidet. Unrichtige Vorstellungen führen zu einem Irrtum im Sinne des § 119 Abs. 1 allenfalls dann, wenn sich jemand über die Bedeutung der von ihm gebrauchten Worte, Schriftzeichen, Gesten usw. irrt. Sonst führen unrichtige Vorstellungen über irgendwelche Umstände aber höchstens zu Fehlern bei der Willensbildung, also im Stadium vor der Umsetzung des Willens in die Erklärungshandlung (diese Umsetzung hat § 119 Abs. 1 zum Gegenstand). Solche Fehler bei der Willensbildung führen zu Motivirrtümem, die im begrenzten Rahmen - etwa gemäß § 119 Abs. 2 BGB - berücksichtigt werden können. Die Aufnahme oder Nichtaufnahme der unrichtigen Vorstellung in die Erklärung ändert jedenfalls nichts an der Qualiftkation eines Irrtums und rechtfertigt nicht die Anwendung des § 119 Abs. 1.

III. Gegenleistung als Zweck

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dem zweiseitigen Vertragsschluß an, wenn sie auch nicht inhaltlicher Geschäftsbestandteil werde. Danach steht die Geschäftsgrundlage in der Mitte zwischen Motiv und Geschäftsinhalt. Ein solches Mittelding existiert jedoch in Wahrheit nicht85. Vorstellungen bleiben entweder außerhalb des Geschäftsinhalts, oder sie werden in ihn einbezogen. Eine dritte Möglichkeit besteht nicht. Oertmanns Denkfigur der Geschäftsgrundlage führt deshalb nicht weiter86. In neuerer Zeit ist die Lehre von der Geschäftsgrundlage vor allem von Larenz87 und Wieackez-88 dahin differenziert worden, daß es eine subjektive und eine objektive Geschäftsgrundlage gebe. Während e~ sich bei jener um die gemeinsamen Vorstellungen handelt, von denen die Parteien sich beim Abschluß des Geschäfts leiten ließen, geht es bei dieser um das Vorhandensein oder die Fortdauer von Umständen, unter denen die von den Parteien getroffene Regelung sinnvoll bleibt, also um die Fälle der Zweckvereitelung und der Äquivalenzstörung89 • Bei der subjektiven Geschäftsgrundlage handelt es sich um eine Anknüpfung an die von Windscheid entwickelte Voraussetzung", bei der objektiven Geschäftsgrundlage um ein Anknüpfen an die gemeinrechtliche Denkfigur der clausula rebussie stantibus•1• Bei der Frage des Zusammenhangs von Erbverzicht und Gegenleistung handelt es sich um den Gesichtspunkt der Äquivalenz, also um die sogenannte objektive Geschäftsgrundlage. Sie ist von der subjektiven jedoch nicht soweit entfernt, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Es geht jedesmal darum, daß die Parteien als redliche Geschäftspartner die Wirkungen eines Geschäfts von gewissen Umständen abhängig gemacht hätten, wäre ihnen dies notwendig erschienen, um diesen Umständen, was die Wirkung des Geschäfts anlangt, Rechnung zu tragen92• Henle, Unterstellung und Versicherung, 1922, 19. Gegen den Begriff der Geschäftsgrundlage überhaupt und für eine differenzierende Lösung nach verschiedenen Fallgruppen Flume, Allgemeiner Teil II, 1967, § 26, S. 497 ff. Dagegen, was die sogenannte subjektive Geschäftsgrundlage anlangt, Larenz, Allgemeiner Tei12, 1972, § 20 III, S. 330 f. 87 Allgemeiner Teil2, § 20 III, S. 327 ff.; Schuldrecht I10, 1970, § 21 II, S. 235 ff.; Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllungs, 1963. ss Festschrift für Wilburg, 1965, 229 ff. Siehe auch A. Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht I4, § 27 II, 8.139 ff.; Esser, Schuldrecht I4, 1970, § 36 I, s. 229 f. 89 Larenz, Schuldrecht I, 237 ff.; A. Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht I 4, § 27 II 2, 8.141 f. eo Vgl. A. Blomeyer, § 27 II 1, S. 141. 91 Vgl. A. Blomeyer, § 27 II 2, S. 142. 92 Nach BGH NJW 1953, 1585 (dazu Esser, Schuldrechti4, § 36 I, S. 229) wird "die Geschäftsgrundlage eines Vertrages gebildet durch die bei Abschluß eines Vertrages zutage getretenen, dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei oder die gemeinschaftlichen Vorstellungen beider Parteien von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, sofern der Geschäftswille der Parteien auf diesen Vorstellungen aufbaut". Diese Formel gewinnt 85 86

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Sie haben es unterlassen, eine diesbezügliche Klausel in das Geschäft aufzunehmen, weil sie von dem Umstand als sicher ausgingen oder nicht an ihn gedacht hatten. Es handelt sich also stets um die Berücksichtigung des irrealen93 Willens der Parteien - korrigiert durch die objektiven Erfordernisse von Treu und Glauben. Die Berücksichtigung der "Geschäftsgrundlage" erweist sich damit als ein Zweig des Gebietes der Vertragsergänzung94. Im Wege der Vertragsergänzung wird anhand des irrealen Parteiwillens in den Vertrag eine Bedingung95 und eine "condicio in praesens vel in praeteritum collata" aufgenommen, wonach der Erbverzicht von der wirksamen Begründung und der ordnungsmäßigen Erfüllung der Abrede über die Gegenleistung abhängig gemacht wird. Die Nichtigkeit des Erbverzichts wirkt gegebenenfalls inter omnes96. Diese im Schuldrecht sonst nicht übliche Wirkung des § 242 BGB gegenüber jederman ergibt sich aus der entsprechenden Wirkung des ergänzten Vertrages, des Erbverzichts. Auch bei einer direkten Lösung über den Gedanken der Geschäftsgrundlage würde sich übrigens eine Wirkung inter omnes ergeben.

c) Gemeinschaftliches Testament Zwischen Erbvertrag und gewöhnlichem Testament steht, was die Bindungswirkung für den Erblasser anlangt, das gemeinschaftliche Testament der §§ 2265 ff. BGB. Die in einer solchen Urkunde enthaltenen "wechselbezüglichen" Verfügungen (vgl. § 2270 BGB) können zu Lebzeiten der Ehegatten nur in der erschwerten Form des § 2296 widerrufen werden (§ 2271 Abs. 1 BGB), nach dem Tode eines Ehegatten nur, wenn der Überlebende das ihm Zugewendete ausschlägt (§ 2271 Abs. 2 BGB)97, Es handelt sich also um die gegenseitige Abhängigkeit erbrechtlicher Verfügungen, nicht anderer Rechtsgeschäfte oder Rechtswirkungen, sofort an Überzeugungskraft, wenn man das Gebot, die Vorstellungen der Parteien usw. zu beachten, dahin ergänzt, daß der aufgrund dieser Vorstellungen zu ermittelnde irreale Parteiwille in den objektiven Grenzen von Treu und Glauben maßgebend zu sein hat. 93 Diese Bezeichnung ist dem Adjektiv "hypothetisch" vorzuziehen. Vgl. unten Fußnote 71 zu S. 184. 94 Dieser Ausdruck ist der "ergänzenden Vertragsauslegung" vorzuziehen. Dazu und zu § 242 BGB als Grundlage der Vertragsergänzung von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 59 ff.; Erbrecht I, 539. 96 von Lübtow ebd. 96 Bartholomeyczik, Erbrecht9, § 5 I 4 c dd, S. 23. 97 Jedoch kann der überlebende Ehegatte die Verfügungen des Vorverstorbenen nach § 2078 BGB anfechten. Nach § 2270 Abs. 1 BGB bewirkt die Anfechtung auch die Nichtigkeit der Verfügung des Anfechtenden. Vgl. von Lübtow, Erbrecht I, 515, Seine eigenen Verfügungen kann der Überlebende nach allgemeiner Meinung analog den Regeln über die Anfechtung von Erbverträgen (§§2281 ff. BGB) beseitigen. Dazu eingehend von Lübtow, Erbrecht I, 512 ff. mit weiteren Nachweisen.

III. Gegenleistung als Zweck

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wobei § 2270 Abs. 3 BGB den Bereich dieser sogenannten Korrespektivität sogar noch auf die bereits vom Erbvertrag bekannten Erbeinsetzungen, Vermächtnisse und Auflagen beschränkt. Als eigenständiges "Lenkungsmittel" scheidet die Korrespektivität daher aus98 • Sie ist nicht geeignet, ein vom Erblasser gewünschtes Verhalten des Ehegatten von sich aus zu sanktionieren, weil die korrespektive Verfügung nicht ein solches Verhalten, sondern nur wiederum eine erbrechtliche Verfügung zum Gegenstand haben kann. Allerdings kann sich die Korrespektivität im Sinne der zusätzlichen Stabilisierung einer bereits mit einem anderen Mittel zwecksanktionierten letztwilligen Verfügung auswirken. So zunächst, wenn die Ehegatten in einem gemeinschaftlichen Testament einen Dritten begünstigen, z. B. wenn sie ihren Sohn, der noch Geschwister hat, als Alleinerben unter der Bedingung einsetzen, daß er nicht Schauspieler wird oder nicht Soziologie studiert. Die eigentliche "Absicherung" der Gegenleistung gegenüber dem Sohn, der sie zu erbringen hat, liegt in der Bedingung. Die Korrespektivität sichert nur gegenüber Eingriffen durch den anderen (überlebenden) Ehegatten. Diesem wird es erschwert (oder er wird sogar daran gehindert), die Zuwendung und damit den Anreiz für das bezweckte Wohlverhalten zu beseitigen. Eine solche Absicherung wirkt sich mithin nicht auf den passiv Beteiligten (den Bedachten, Enterbten usw.) der letztwilligen Verfügung aus. Er wird nicht stärker beeinträchtigt, als es bei einer nicht wechselberuglichen Verfügung der Fall wäre. Es wird durch die Korrespektivität kein stärkerer Druck auf ihn ausgeübt. Sie hat deshalb als rechtlicher Faktor für die Intensität der Zwecksanktion und damit auch für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit außer Betracht zu bleiben. Etwas anders sieht es allerdings aus, wenn die bedingte korrespektive Verfügung keinen Dritten, sondern den anderen Ehegatten begünstigt, wie etwa die gegenseitige Erbeinsetzung mit sogenannter Wiederverheiratungsklausel99. Sanktion der gewünschten Nichtheirat ist hier die Bedingung, die dem Zuwiderhandelnden den Verlust oder die Schmälerung des erbrechtliehen Erwerbs androht. Die Korrespektivität übt keinen zusätzlichen Druck auf den Zuwendungsempfänger in dem Sinne aus, daß er sich des vom Erblasser gewünschten Wohlverhaltens befleißigt. In dieser Richtung wirkt nur die Bedingung. Die Korrespektivität fördert nur die Stabilität der bedingten Verfügung überhaupt, das heißt, die Chance wächst, daß der Überlebende vor die Alternative (ungeschmälerter) Nachlaß oder Wiederheirat gestellt wird. Es wird aber kein zusätzlicher Druck geschaffen, in dieser Situation statt der Heirat den Nachlaß zu wählen. 98

Ebenso wie der gegenseitige Erbvertrag. Vgl. oben Fußn. 50.

99 Zu dieser Klausel im einzelnen unten S. 257 ff.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Die vorstehenden Ausführungen über die Bedingung gelten entsprechend, wenn als "Sanktion" der bezweckten Gegenleistung keine echte Bedingung fungiert, sondern eine "condicio in praesens vel in praeteritum collata", eine mit dem Testament verbundene vertragliche Verpflichtung inter vivos oder die Möglichkeit einer Irrturnsanfechtung gemäß § 2078 Abs. 2 BGB. Nirgends verstärkt die Korrespektivität die bereits durch diese Tatbestände geschaffene Intensität der Bindung an das vom Erblasser gewünschte Verhalten. Für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf die Intensität der Verfolgung eines inkriminierten Zweckes durch den Erblasser hat die Korrespektivität deshalb auszuscheiden. Insoweit sind korrespektive Verfügungen wie gewöhnliche zu bewerten.

d) Gewöhnliches Testament Die praktisch häufigste Erscheinungsform der Verfügung von Todes wegen ist die im gewöhnlichen Testament enthaltene. Trotzdem kann die Erörterung wegen der vorangegangenen Ausführungen verhältnismäßig kurz gehalten werden. Wegen § 2302 BGB scheidet wieder die synallagmatische Verknüpfung (§§ 320 ff. BGB) einer Verpflichtung zur Errichtung, Unterlassung der Errichtung, Aufhebung und Unterlassung der Aufhebung einer Verfügung von Todes wegen mit einer Verpflichtung zu anderweitigem V erhalten aus. Ebensowenig ist die Verbindung einer Verpflichtung mit einer Verfügung von Todes wegen selbst gemäß §§ 320 ff. BGB möglich, weil die Verfügung von Todes wegen keine Verpflichtung ist und die §§ 320 ff. BGB nur für Verpflichtungen gelten. Wenigstens theoretisch ist an die Verknüpfung einer Zuwendung von Todes wegen mit einer inter vivos begründeten Verpflichtung des Bedachten zu einem bestimmten Verhalten zu denken. Beispiel: A verpflichtet sich gegenüber B, ihm bis an das Lebensende einen bestimmten Unterhaltsbetrag zu zahlen. B setzt dafür den A in seinem Testament zum Erben ein. Oder: X verpflichtet sich gegenüber Y, dem Eigentümer eine Landgutes, Landwirt zu werden. Y setzt ihn dafür zum Erben ein, weil er glaubt, X sei nach landwirtschaftlicher Ausbildung zur Bewirtschaftung des Gutes besonders geeignet. In der Praxis werden solche Verbindungen einer inter vivos begründeten Verpflichtung mit einer testamentarischen Zuwendung allerdings kaum vorkommen, weil der Verpflichtete wegen der Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs des Testaments in keiner Weise gesichert ist. § 139 BGB gilt hier nicht100• Anders ist dies alles bei einer Kombination der Verpflichtung mit einem Erbvertrag. 100

Dazu unten S. 197 f.

III. Gegenleistung als Zweck

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Was das Testament anlangt, so ist praktisch am wichtigsten die echte, auf ein künftiges Verhalten des Begünstigten abstellende - aufschiebende oder auflösende- Bedingung101. Sie ist das ganz überwiegend anzutreffende Mittel, um den mit einer letztwilligen Verfügung verfolgten Zweck zu sanktionieren, zumal sie keiner Mitwirkung des Betroffenen zu ihrer rechtlichen Wirksamkeit bedarf. Daneben verbleibt der "condicio in praesens vel in praeteritum collata" eine Bedeutung. Beide Arten von Bedingungen müssen ausdrücklich oder wenigstens aus dem Zusammenhang erschließbar in der letztwilligen Verfügung enthalten sein. Fehlt die Anordnung einer Bedingung, so bleibt zu Lebzeiten des Erblassers der Ausweg des Widerrufs (§§ 2253 ff. BGB). Im Gegensatz zur Anfechtung102 ist er auch geeignet, die Finalität zu sanktionieren; denn er kann aus jedem - natürlich nicht verbotenem oder sittenwidrigem103 - Anlaß erfolgen. Damit sich die Widerrufsmöglichkeit in dem Sinne auswirkt, eine "Gegenleistung" des Bedachten zu sichern, muß diesem selbstverständlich der Zweck der Zuwendung bekannt sein, sei es, daß er in der dem Bedachten bekannten Verfügung niedergelegt ist oder daß er dem Bedachten auf andere Weise mitgeteilt wurdel04. Ein solches Wissen des Bedachten ist insbesondere anzunehmen, wenn ihm die Verfügung ausgehändigt worden wartos oder wenn er ihre Errichtung selbst angeregt hatte100• Fehlt es hingegen an der Kenntnis des Begünstigten107, so geht der Widerrufsmöglicheit die Eigenschaft als Sanktion ab, und sie muß für die Beurteilung, ob ein Sittenverstoß wegen des mit der Verfügung verfolgten Zweckes vorliegt, außer Betracht bleiben. Nach dem Tode des Erblassers bleibt manchmal der Ausweg einer Irrtumsanfechtung (§ 2078 Abs. 2 BGB)108, der allerdings nur ent101 Sie muß allerdings "finale" und nicht bloß "konditionale" Bedeutung haben, d. h. auf die Beeinflussung des Verhaltens des Bedachten gerichtet sein und dieses nicht nur zur Voraussetzung machen. Vgl. zu dem Unterschied unten S. 132 f. 102 Vgl. oben S. 103 f . 103 Dazu unten S. 129. 104 RG LZ 1927, 531 (533); von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II 2, 1918, § 26 II 1, S. 26 Fußn. 27; Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 41. Beispiele, wo der Begünstigte Kenntnis hatte: RG JW 1910, 6; OLG München HRR 1940, Nr. 354. 105 KG OLG 10, 301; Schmitz a.a.O. 1os Schmitz ebd. 107 Beispiele: RG LZ 1927, 531 (533); BGH NJW 1968, 932 (934). 1os Neben der Anfechtung kommt beim Motivirrtum die Testamentskorrektur in Betracht. Sie ermöglicht nicht nur die Vernichtung der fehlerhaften Verfügung, sondern in Anlehnung an die Regeln über die Testamentsergänzung auch eine Korrektur des Testaments. Auf diesem Wege kann der positive, auf eine andere Verfügung gerichtete irreale Wille des

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

täuschte Erwartungen des Erblassers erfaßt und damit streng genommen nicht mehr die finale Verknüpfung von Zuwendung und "Gegenleistung", sondern die kausale109• Praktisch kann sich die Anfechtungsmöglichkeit allerdings wie eine Zwecksanktionierung •auswirken, indem sie den Bedachten- wenn er sie kennt- veranlaßt, sein Verhalten entsprechend den Erwartungen des Erblassers einzurichten110 • Neben der Anfechtung steht auch - weniger praktisch - der Bereicherungsanspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB111 zu Gebote. Die Fälle des Abstellens auf faktische Umstände der Vergangenheit leiten sodann vollends von der Zweckverfolgung zur Belohnung oder "Bestrafung" des Begünstigten überm:, also vom Gesichtspunkt des Zweckes zu dem des bloßen Motivs, der später noch zu behandeln ist113 • Es sei auch hier erwähnt, daß neben der Irrtumsanfechtung kein Raum für die Konstruktion einer (realiter} fehlenden echten oder unechten Bedingung im Wege der Testamentsergänzung ist114• § 2078 Abs. 2 BGB und auch§ 812 Abs. 1 Satz 2 BGB gehen als Spezialregelungen vor.

e) Insbesondere: Auflage und Testamentsvollstreckung aa} Auflage Nicht erwähnt wurde bisher die Auflage (§§ 2192 ff. BGB}. Sie ist selbst eine Verfügung von Todes wegen116• Als besonderes erbrechtliches Institut rechtfertigt sie eine Erörterung in einem besonderen Abschnitt, nachdem bisher die Sanktionen der mit Verfügungen von Todes wegen verfolgten Zwecke durch allgemeine Rechtsinstitute behandelt wurden. Es handelt sich hier also um die Sanktion einer erbrechtliehen Verfügung durch eine andere. Erblassers verwirklicht werden. Vgl. dazu von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 68 ff.; Erbrecht I, 1971, 302 ff. Von der anfechtbaren sittenwidrigen Verfügung selbst ist die sittenwidrige Anfechtung einer - einwandfreien - Verfügung von Todes wegen zu unterscheiden. Beispiel, in dem eine solche sittenwidrige Anfechtung abgelehnt wurde: RGZ 138, 373 (375 f.). Vgl. Staudinger- Seyboldll, 1954, Randnr. 21 zu § 2078. tos Vgl. S. 101. uo Vgl. S. 103. 111 Vgl. S. 102. 112 Vgl. oben S. 104. 113 Unten S. 131 ff. 114 Zum Erbvertrag entsprechend oben S. 102. 115 Der Begriff "Verfügung von Todes wegen" hat eine doppelte Bedeutung. Er bezeichnet einmal das ganze Rechtsgeschäft (Testament, Erbvertrag), zum anderen die einzelne darin enthaltene Anordnung (Erbeinsetzung, Vermächtnis, Auflage, Enterbung usw.): von Lübtow, Erbrecht I, 97 f. Zur unterschiedlichen Bedeutung des Terminus "Verfügung" im gesamten Recht Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 13 ff.

III. Gegenleistung als Zweck

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Die Auflage kann im Erbvertrag, im gemeinschaftlichen und im gewöhnlichen Testament mit der diesen Verfügungsarten jeweils eigentümlichen Bindung angeordnet werden (§§ 2278 Abs. 2, 2270 Abs. 3, 1940 BGB). Sie setzt keine Zuwendung voraus, sondern kann zum Inhalt alles haben, was möglicherweise Gegenstand eines Schuldverhältnisses ist116, also in diesem Rahmen jedes Tun oder Unterlassen. Abgesehen von der Frage der Sittenwidrigkeit eignet sie sich daher auch zur Auferlegung von Pflichten, wie sie hier in Rede stehen, z. B. zu heiraten oder nicht zu heiraten, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, den Beruf, die Konfession oder den Wohnsitz nicht zu wechseln, einer Vereinigung beizutreten oder nicht beizutreten117• Die Intensität der Sanktion mit Hilfe einer Auflage ist jedoch anders als bei der Bedingung, der Anfechtung oder dem Rücktritt. Die Nichterfüllung der mit der Auflage begründeten Pflicht hat keinen Einfluß auf den Fortbestand einer Zuwendung. Die Auflage gewährt nur den in § 2149 BGB Genannten118 und dem Testamentsvollstrecker119, wenn ein solcher vorhanden ist, einen Anspruch. Jedoch ist auch sie als Druckmittel gegenüber dem Begünstigten nicht außer acht zu lassen. bb) Testamentsvollstreckung Auch die Testamentsvollstreckung ist noch als besonderes erbrechtliches Institut zu würdigen, durch das gegenüber einem Bedachten rechtlicher Zwang ausgeübt werden kann. Im Vordergrund steht dabei die soeben erwähnte Möglichkeit, mit Hilfe eines Testamentsvollstreckers die Erfüllung einer Auflage zu verwirklichen. von Lübtow, Erbrecht I, 390 f. Nach Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts III, Erbrecht, 1. HälfteS/9, 1919/20, 733 f.; Bartholomeyczik, Erbrecht9, 1971, § 44 IV, S. 315; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 392, setzt die Auflage einen rechtlichen Vollziehungszwang voraus und daher eine Leistung des Verpflichteten, die "außerhalb seiner Sphäre" liegt (anders die bei von Lübtow a.a.O. Fußn. 14 zitierte Literatur). Beispiele: Nicht mehr Alkohol trinken, nicht mehr am Glücksspiel teilnehmen. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch solche Verhaltensweisen rein logisch - also abgesehen von der Frage der Sittenwidrigkeit - negativ oder positiv zum Inhalt eines Schuldverhältnisses gemacht werden könnten. Im übrigen handelt es sich bei den im Text gegebenen Beispielen (vgl. aber auch unten S. 296 ff. nicht um solche nur in der Sphäre des Beschwerten liegende Verhaltensweisen. Gemäß der geschilderten abweichenden Ansicht kann eine danach unwirksame Auflage allenfalls in eine Bedingung umgedeutet werden (Bartholomeyczik a.a.O.). 118 Erbe, Miterbe sowie derjenige, dem der Wegfall des mit der Auflage zunächst Beschwerten unmittelbar zustatten kommen würde. Wenig praktisch ist hier das Recht der Behörde gemäß § 2194 Satz 2 BGB, da es sich nur selten um Auflagen im öffentlichen Interesse handeln wird. Immerhin ist dies nicht völlig ausgeschlossen. So können etwa beim Beruf oder der Mitgliedschaft in Vereinigungen (auch privaten!) öffentliche Interessen eine Rolle spielen. 119 von Lübtow, Erbrecht I, 393. 118 117

8 Thielmann

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Teil 11. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Damit sind die rechtlich "gezielten" Einwirkungsmöglichkeiten durch Testamentsvollstreckung allerdings auch fast erschöpft. Zwar kann der Erblasser den Testamentsvollstrecker gemäß § 2216 Abs. 2 Satz 1 BGB an einzelne Anordnungen binden, die der Testamentsvollstrecker - abgesehen vom Fall des § 2216 Abs. 2 Satz 2120 - zu befolgen hat. Solche Anordnungen können sich als Druckmittel gegenüber dem Erben auswirken, was die Verwendung des Nachlasses anlangt. So kann etwa die Veräußerung von Nachlaßgegenständen vom Erblasser verboten sein mit dem Zweck, den Erben davon abzuhalten, das vom Erblasser mißbilligte Studium der Soziologie zu finanzieren oder das Verbot der Veräußerung eines Landgutes oder eines Gewerbebetriebes den Berufswechsel des Erben inhibieren. Auch Anordnungen über die Verwendung von Einkünften aus einem größeren hinterlassenen Vermögen (Wiederanlage in ganz bestimmter Weise) können sich in dieser Richtung auswirken. Indessen ist das vom Erblasser gewünschte Verhalten hier schon nicht mehr direkter Gegenstand der rechtlichen Sanktion; vielmehr wird nur ein mittelbarer Druck auf den Empfänger der Zuwendung ausgeübt. Das gilt erst recht, wenn der Erblasser den Testamentsvollstrecker nicht an bestimmte Anordnungen bindet, sondern tatsächlich darauf vertraut, der entsprechend instruierte Testamentsvollstrecker werde durch seine Verwaltungsmaßnahmen den Erben schon "zur Raison bringen". Immerhin wirken sich solche Testamentsvollstreckungen für den Bedachten praktisch wie Auflagen aus. Natürlich hängt ihr Zwangscharakter stärker als bei der Auflage davon ab, wie gut der "Vollstreckungsberechtigte", hier der Testamentsvollstrecker, seine ihm zugedachte Aufgabe erfüllt. Die tatsächliche Intensität der rechtlichen Zwangsmittel zu würdigen, muß jedoch einem späteren Abschnittlf1 vorbehalten bleiben. Hier ist nur festzuhalten, daß die Testamentsvollstreckung jedenfalls als rechtliches Zwangsmittel in Verbindung oder auch ohne Verbindung mit einem obligatorischen Anspruch1!! gegen den Erben eingesetzt werden kann. Ist die wahre Bedeutung einer Testamentsvollstreckung, nämlich ihr Charakter als Sanktion eines vom Erben erwarteten Wohlverhaltens, nicht offenkundig, also etwa der Verfügung von Todes wegen nicht ausdrücklich zu entnehmen, so obliegt dem Erben im Feststellungsprozeß gegen den angeblichen Testamentsvollstrecker der Beweis. Es handelt sich um Tatsachen, die den Ausnahmetatbestand der Sittenwidrigkeitl23 12o Erhebliche Gefährdung des Nachlasses. Für die Außerkraftsetzung ist ein gerichtlicher Beschluß erforderlich, der einen Antrag des Testamentsvollstreckers oder eines Beteiligten voraussetzt. 121 Unten S. 119 ff. 122 Aus einer Auflage. 123 Dazu näher unten S. 168 f.

III. Gegenleistung als Zweck

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für die Anordnung der Testamentsvollstreckung ergeben, und der Erbe beruft sich auf sie. Dringt er damit durch, so kann dies bei einem durch Verfügung von Todes wegen Eingesetzten allerdings einen Pyrrhussieg bedeuten; denn trotz § 2085 BGB kann die Erbeinsetzung von der Nichtigkeit mitergriffen werden. Das müßte dann allerdings der Gegner des Erben (der vermeintliche Testamentsvollstrecker) als Kläger (oder Widerkläger) geltend machen, so daß die Darlegungsund Beweislast bei ihm liegt. Zur Überwachung der Erfüllung einer Bedingung eignet sich die Testamentsvollstreckung allerdings nur, wenn es um ein Vermächtnis geht. Ein Testamentsvollstrecker kann dann gegebenenfalls Ansprüche des bedingt Bedachten gegen den Nachlaß abwehren oder Rückgewähransprüche (§ 812 BGB) geltend machen, so etwa, wenn der Erblasser fürchtet, der Erbe werde diese Rechte nicht oder nicht mit dem gebotenen Nachdruck wahrnehmen. Bei der Erbeinsetzung ist dieser Weg jedoch verschlossen; denn der Testamentsvollstrecker kann keine Klage auf Feststellung darüber anstrengen, wer Erbe ist1Z4 • Der Status des Erben gehört nämlich nicht zum Nachlaß und unterliegt daher nicht der Verwaltung des Testamentsvollstreckers1u. f) Vergleich der rechtlichen Intensität der verschiedenen Mittel zur Zweckerreichung

Bei den mit Verfügungen von Todes wegen verfolgten Zwecken läßt sich nach alledem ein Vergleich der Intensität der Mittel anstellen, mit denen die Zwecke rechtlich durchgesetzt werden können. Der Widerruf des Testaments zu Lebzeiten des Erblassers gemäß §§ 2253-2256, 2258 BGB ist von seinem Willensentschluß abhängig. Er ist deshalb verhältnismäßig "milde". Der Bedachte hat die Chance, auch ohne das von ihm erwartete Verhalten in den Genuß der Zuwendung zu kommen. In die gleiche Linie gehören der Rücktritt des Erblassers vom Erbvertrag (aufgrund eines entsprechenden Vorbehalts, § 2293 BGB}, die Anfechtung des Erbvertrages durch den Erblasser gemäß § 2281 Abs. 1 BGB und des gemeinschaftlichen Testaments analog dieser Vorschrift. Die Anfechtungsmöglichkeit nach dem Tode des Erblassers (§§ 2078 Abs. 2, 2281 Abs. 1 BGB) bedeutet ebenfalls keine automatische Sanktion, sondern räumt den Anfechtungsberechtigten nur die Befugnis ein, die Zuwendung zu Fall zu bringen. Automatisch sanktionieren hingegen die (echte) Bedingung und die sogenannte condicio in praesens vel in praeteritum collata1! 6 • Es 1!4 125 12a

s•

von Lübtow, Erbrecht II, 964, mit Nachweisen. von Lübtow ebd. Bei der Zwecksanktionierung kommt diese nur in Frage für den mehr

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

bedarf keiner WillensenU;chließung oder sonstigen Handlung anderer Personen, um den Verlust der Zuwendung - oder den Eintritt der Enterbung- herbeizuführen. Die Alternative, Behalten der Zuwendung oder Zuwiderhandlung gegen den Willen des Erblassers, gilt ausnahmslos und zwingend127• So stellt sich jedenfalls die RechU;lage dar. TaU;ächlich ist zur Verwirklichung der ipso iure eintretenden RechU;folgen natürlich oft ein Prozeß erforderlich (ErbschafU;klage gemäß §§ 2018 ff. BGB, Einzelansprüche gemäß § 2029 BGB, FesU;tellungsklage hinsichtlich der Erbeneigenschaft128, bei erfolgten Leistungen auf Vermächtnisse und Auflagen vor allem § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB). Deshalb ist der praktische Unterschied zu der Sanktion durch die Irrtumsanfechtung gemäß §§ 2078 Abs. 2, 2281 Abs. 1 BGB nicht allzugroß. Hier tritt zwar die RechU;wirkung der Sanktion nicht automatisch, sondern erst durch Erklärung des Anfechtungsberechtigten128a ein. Die endgültige Klärung für die Beteiligten wird auch hier häufig erst durch einen RechU;streit erreicht werden können. Die tatsächliche Auswirkung der rechtlichen Nuance ist daher gering. Für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf die Intensität der Zwecksanktionierung kann sie außer Betracht bleiben. Das gleiche gilt für den Umstand, daß der Widerruf eines TestamenU; ·lurch den Erblasser "frei", die Anfechtung aber durch die gesetzlichen ·'-nfechtungsgründe "gebunden" ist; denn diese Anfechtungsgründe gehen ja gerade mit dem zu sanktionierenden Zweck konform. Außer acht gelassen werden kann auch der mit der Anfechtung konkurrierende Bereicherungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB. Er führt nicht zu einer stärkeren Benachteiligung des Zuwendungsempfängers. Allen bisher erwähnten "Sanktionen" ist gemeinsam, daß der Bedachte, Enterbte oder sonst Benachteiligte nicht verpflichtet wird, sich wie vom Erblasser gewünscht zu verhalten. Ihn trifft kein rechtliches Sollen, sondern es wird ihm nur ein (Erwerben- oder Behalten-)Dürfen eingeräumt. Rechtlich ist daher die Alternative ungetrübt: Gehorsam gegenüber den Wünschen des Erblassers oder VermögensnachteiL Nicht so klar ist die Situation, wo eine Verpflichtung des an der erbrechtlichen Verfügung passiv Beteiligten zu einem bestimmten, vom theoretischen Fall des Abstellens auf das wirksame Zustandekommen einer Verpflichtung des Begünstigten. Sonst dient sie zur Absicherung des Motivs. 121 Das gilt ebenso, wenn man mit dem Gesichtspunkt der Geschäftsgrundlage oder der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) arbeitet. 128 Dazu näher von Lübtow, Erbrecht II, 1045 ff., mit weiteren Angaben. 12sa Näheres in den §§ 2080--2082, 2281 Abs. 2 - 2285 BGB.

III. Gegenleistung als Zweck

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Erblasser erstrebten Verhalten eingeschaltet oder eine Testamentsvollstreckung als "Sanktion" angeordnet wurde. Auszuscheiden sind allerdings die Tatbestände, wo Zustandekommen, Fortbestand und Erfüllung der Verhaltenspflicht Inhalt einer Bedingung der Zuwendung sind. Dort wirkt die Sanktion wieder "automatisch". Es verbleiben also die Fälle der Verknüpfung der Verhaltenspflicht mit der Zuwendung und- praktisch bedeutsamer- der Auflage. Eine Verpflichtung ohne jede Möglichkeit, sich von ihr durch Preisgabe der Zuwendung "freizukaufen", wird indessen kaum jemals vorkommen. Von der Auflage kann sich der Bedachte-Verpflichtete durch Ausschlagung der Erbschaft (§§ 1944 ff. BGB) oder des Vermächtnisses (§ 2180 BGB) befreien, wenn er als Erbe berufen ist, allerdings nur in den Fristen des§ 1944 BGB. In den Fällen des§ 139 BGB wird die Auslegung oder Vertragsergänzung (§ 242 BGB) meistens dazu führen, daß die Verpflichtung eine "Gegenleistung" für die erbrechtliche Zuwendung ist, deren Ausschlagung deshalb die Verpflichtung entfallen läßt. Gefährlich ist aber auch hier für den Betroffenen - wenn er Erbe ist - der Umstand, daß die Ausschlagung nach Ablauf der Fristen des § 1944 BGB nicht mehr erfolgen kann1Z9 • Eine Milderung der mißlichen Lage desjenigen, der die fristgerechte Ausschlagung versäumt hat und die Annahmel30 auch nicht anfechten kann, könnte man in den Regeln über die Beschränkbarkeit der Erbenhaftung (§§ 1975 ff., 2059 ff. BGB) suchen. Indessen führt dieser Versuch nicht zum Ziel. Die§§ 1975 ff., 2059 ff. BGB gestatten nämlich nur eine Beschränkung der Erbenhaftung, aber nicht der Schuld. Das LeistensolZen bleibt von den Maßnahmen zur Beschränkung der Erbenhaftung unberührt; sie führen nur zur Begrenzung der Zugriffsmöglichkeiten der Gläubiger auf den als Sondervermögen vom übrigen Vermögen des Erben abgesonderten Nachlaß131 • Daraus erhellt, daß die Beschränkung der Erbenhaftung nur für vermögensrechtliche Ansprüche möglich ist. Hier aber geht es um Handlungen, die nicht auf vermögenswerte Leistungen gerichtet sind, sondern das Verhalten des Verpflichteten in bezug auf Ehe, Religion, Beruf, Freizügigkeit, Zugehörigkeit zu Vereinigungen usw. zum Gegenstand haben. Mögen diese Verhaltensweisen auch manchmal vermögenswerte Auswirkungen haben, so handelt es sich doch nicht um vermögenswerte Leistungen als solche. Der Erbe "haftet" daher unbeschränkbar, oder richtig, eine "Haftung" kommt gar nicht in Frage, da es nicht um den Zugriff auf das Vermögen des Schuldners geht, und damit entfällt auch die Möglichkeit einer Haftungsbeschränkung. 129 Manchmal kann vielleicht noch eine Anfechtung der Annahme (§§ 1954 -1957 BGB) helfen, die aber ebenfalls einer Frist unterliegt (§ 1954). 1so Die wirkliche oder die gemäß § 1956 BGB fingierte. 131 Dazu von Lübtow, Erbrecht II, 1088 ff.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Man kann mithin folgende Gruppen der Mittel bilden, mit deren Hilfe ein Erblasser die mit seiner Verfügung von Todes wegen verfolgten Zwecke zu sanktionieren in der Lage ist: 1. Die Fälle des Widerrufs und der Anfechtungsmöglichkeit sowie - beim Erbvertrag - des Rücktritts aufgrund eines entsprechenden Vorbehalts. Hier hat der Bedachte die Alternative Vermögensnachteil oder Gehorsam. Das Privatrecht selbst läßt ihm sogar die Chance offen, daß der Erblasser oder ein nach seinem Tode Anfechtungsberechtigter von der Sanktionsmöglichkeit keinen Gebrauch macht. 2. Die Bedingungen (einschließlich der "condicio in praesens vel in praeteritum collata" 132). Von Privatrechts wegen wirkt sie als automatische, nicht mehr menschlichem Eingreifen anheimgestellte Sanktion. Auch hier besteht wieder die Alternative wie zu 1. 3. a) Bei der Auflage einschließlich der mit der Zuwendung eine Einheit gemäߧ 139 BGB bildenden Verhaltenspflicht sowie bei der Testamentsvollstreckung ist die Alternative133 stärker zum Nachteil des Bedachten eingeschränkt. Mit der Annahme entfällt die Möglichkeit der Ausschlagung, also des "sich Freikaufens". Mit der nur einmal gegebenen Wahlmöglichkeit erschöpft sich die Alternative. Zeitlich ist sie allerdings nicht begrenzt, wenn die Zuwendung in einem Vermächtnis besteht; denn die Ausschlagung unterliegt dann keiner Frist. b) Die Wahlmöglichkeit ist zeitlich auf die Ausschlagungsfrist beschränkt, wo die Auflage, die nach§ 139 BGB verbundene Verpflichtung oder die Testamentsvollstreckung einen Erben beschwert. Ein bemerkenswerter Unterschied ergibt sich zwischen den Gruppen 1 und 2 einerseits sowie 3 a und b andererseits. Bei jener verliert der Bedachte durch die Annahme nicht die Chance, sich durch Preisgabe des Vermögensvorteils "freizukaufen", bei dieser büßt er sie ein. Mit der Annahme entfällt also bei 3 a und b die Möglichkeit, daß wegen wirtschaftlichen Desinteresses von der Verfügung gar kein "Druck" auf ihn ausgeht. Dieser Gesichtspunkt ist indessen kein rein rechtlicher mehr, sondern bezieht bereits tatsächliche Umstände ein. Rechtliche und tatsächliche Umstände wirken also im Rahmen der Intensität zweckgerichteter Verfügungen zusammen. Die Beurteilung der Intensität ist nicht nur nach rechtlichen Gesichtspunkten möglich. Kein Unterschied in der Frage der Intensität ist allerdings im Hinblick darauf zu machen, ob das vom Erblasser erstrebte Verhalten schon 1s2 "Verkümmert" in der Anfechtungsmöglichkeit des § 2078 Abs. 2 BGB. Diese fällt unter 1. 133 Die Wahlmöglichkeit fehlt natürlich überhaupt in den wohl rein theoretischen Fällen, wo sich jemand zu einem Verhalten ohne Rücksicht auf die Ausschlagung verpflichtet. Diese Fälle sollen im folgenden außer Betracht bleiben.

III. Gegenleistung als Zweck

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von sich aus sittenwidrig ist oder nur durch die Verknüpfung mit einem geldwerten Vorteil. Beide Male geht es darum, daß die erstrebte Auswirkung der Verfügung einen Sittenverstoß darstellt und die Intensität der Zweckverfolgung für die Verwirklichungschance einer solchen Wirkung den Ausschlag gibt. 3. Tatsädilldle Einwirkungen

Während sich die rechtliche Intensität der Zwecksanktionierung scharf umreißen läßt, ist eine solche Präzision bei den tatsächlichen Faktoren, die auf den Betroffenen einwirken, nicht zu erreichen. Das hat seinen Grund darin, daß die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten bei der Zwecksicherung auf bestimmte Typen begrenzt sind, während die Vielfalt der tatsächlichen Faktoren keine noch so reiche Phantasie erschöpfen kann. Es ist deshalb nur möglich, einige Anhaltspunkte aufzuzeigen, die bei gleicher rechtlicher Intensität des vom Erblasser ausgeübten "Drucks" zu einer unterschiedlichen faktischen Stärke führen. Am leichtesten zu fassen ist neben dem rechtlichen noch der wirtschaftliche Aspekt. Es geht darum, ob der Betroffene wirtschaftlich auf die Zuwendung "angewiesen" ist, ihr Erwerb einen mehr oder minder großen Anreiz für ihn darstellt, sein Verhalten nach den Wünschen des Erblassers einzurichten134, oder ob sie für den Bedachten eine quantite negligeable, gleichsam nur ein "Trinkgeld" darstellt. Das hängt einmal von dem Wert der Zuwendung ab1~, zum anderen aber auch von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Empfängers und seinen beruflichen Lebensumständen. Das krasseste Beispiel wäre die Situation, daß der Bedachte von der Sozialhilfe lebt und die Annahme der Zuwendung ihn zum Millionär machen würde. Es liegt auf der Hand, daß der Anreiz für den Betroffenen, sich dem Willen des Erblassers zu fügen, hier größer ist als wenn etwa ein Millionär vor die Alternative gestellt wird, einen Nachlaß im Wert von 3000,- DM zu erwerben oder die Dame seines Herzens zu heiraten, was ihm der Erblasser bei "Strafe" des Verlustes des Nachlasses "verboten" hat. Die wirklichen Schwierigkeiten liegen natürlich wieder in dem weiten Bereich zwischen den Extremen, und es zeigt sich vor allem auch, daß der wirtschaftliche Aspekt nicht allein ausschlaggebend ist, sondern persönliche Neigungen und Charaktereigenschaften des Betroffenen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Neben der allgemeinen Standhaftigkeit gegenüber pekuniären Versuchungen, die bei Wohlhabenden übrigens durchaus 134 Dies gilt natürlich nur, wo dem Bedachten noch eine Wahlmöglichkeit bleibt, also vor allem bei der Bedingung, sonst nur, solange eine Ausschlagung möglich ist. 135 Keuk, FamRZ 1972, 14.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

nicht geringer zu sein braucht als bei Leuten, die in knappen Verhältnissen leben, sind hier besonders die persönlichen Wünsche und Interessen des Bedachten wichtig. So kann es ihm etwa ein Nachlaß ermöglichen, endlich den heißersehnten Beruf eines Landwirts zu ergreifen, sei es, daß der Nachlaß ein Landgut enthält, oder ihm den Erwerb eines solchen finanziell ermöglicht. Eine solche Verfügung übt einen starken faktischen Druck auf den Bedachten aus, dem Willen des Erblassers zu entsprechen und seinen eigenen hintanzusetzen, etwa die vom Erblasser mißbilligte Ehe entgegen den Neigungen seines Herzens nicht zu schließen. Wieder anders liegt es dort, wo der Bedachte ohnehin schon dazu neigt oder entschlossen ist, sich den Wünschen des Erblassers entsprechend zu verhalten, z. B. wenn er die ihm vom Erblasser als Ehefrau zugedachte Dame schon selbst erwählt hatte, wenn er sich selbst nichts mehr ersehnte, als endlich den vom Erblasser zur Bedingung gemachten Landwirtsberuf auszuüben oder er sowieso nicht gewillt war, den ihm vom Erblasser vorgeschriebenen Wohnsitz aufzugeben138• Eine weitere Gruppe bilden schließlich die Gleichgültigen, Unentschlossenen, Indifferenten, die in der vom Erblasser geregelten Frage überhaupt keine Meinung haben, sondern ohne weiteres bereit sind, "für Geld" alles zu tun, was er von ihnen will. Man kann demnach fünf Grundsituationen herausstellen, die im Sinne von "Idealtypen" als Ausgangspunkt für die Beurteilung des Zweckes von der faktischen Intensität seiner Sanktionierung her geeignet sind: 1. Der Bedachte ist ohnehin gewillt, den Wünschen des Erblassers zu entsprechen. Hier ist er in Wahrheit vor keine Alternative gestellt. Die Zwecksanktionierung in der Verfügung von Todes wegen läuft leer. Es wird kein Druck auf den Bedachten ausgeübt. Im Gegenteil wird er höchstens in der Weise begünstigt, daß er nun mit den finanziellen Mitteln des Nachlasses seine mit denen des Erblassers übereinstimmenden Wünsche erfüllen kann, etwa ein Studium aufzunehmen, einen bestimmten Beruf zu ergreifen (Landwirt!) oder zu heiraten.

Hier zeigt sich, daß die Zwecksetzung bei Verfügungen von Todes wegen zunächst immer erst unter dem Aspekt des Schutzes der Willensfreiheit des Bedachten gesehen werden muß. Der Gesichtspunkt der Verknüpfung geldwerter Vorteile mit Verhaltensweisen, die schon an 136 Vgl. KG OLG 13, 317 (318). Das Gericht verneinte die Sittenwidrigkeit der Besdlränkung des Wohnsitzes auf zwei Orte unter anderem deshalb, weil die Bedachte "den Aufenthalt in der Heimat selbst durchaus nicht als eine übermäßige Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit empfindet". Für Sittenwidrigkeit hingegen von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 349 f. mit Fußn.49.

III. Gegenleistung als Zweck

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sich sittenwidrig sind oder nach den guten Sitten nicht von geldwerten Vorteilen abhängig gemacht werden dürfen, spielt in diesem ersten Stadium der Prüfung noch keine Rolle. Er erlangt in dem Falle, daß der Wille des Erblassers und der des Bedachten konform gehen, nur unter dem Aspekt der Zulässigkeit einer Belohnung Bedeutung. Diese wirkt nicht auf den Willen des Bedachten ein, sondern knüpft an sein vom Erblasser als unabänderlich hingenommenes Verhalten an. Der Gesichtspunkt des Zweckes entfällt damit, und die Sittenwidrigkeit bleibt nur noch unter dem Aspekt des Motivs zu prüfen137• Problematisch sind die hier erörterten Sachverhalte allerdings im Hinblick auf künftige Sinnesänderungen des Bedachten138• Es kann ja durchaus so sein, daß der Betroffene im Augenblick mit den Wünschen des Erblassers konform geht, nach einiger Zeit aber anderen Sinnes wird. So ist ihm z. B. der Nachlaß unter der Bedingung zugewendet, daß er seinen Wohnsitz im Dorfe Krähenwinkel behält. Das entspricht zunächst auch den Wünschen des Bedachten. Einige Jahre später zieht es ihn aber in die Großstadt, und er wird nun vor die Alternative gestellt "Nachlaß oder Freizügigkeit". Hier, könnte man meinen, müsse man mit einer nachträglich eintretenden Sittenwidrigkeit operieren139• Die Sinnesänderung - und nicht erst der Umzug in die Großstadt - würde dann die Zuwendung140 unwirksam machen. Dem Bedachten wäre also zu raten, in solchen Fällen mit Äußerungen über sein Innenleben vorsichtig zu sein. Indessen ist das kein entscheidendes Argument gegen die Annahme "nachträglicher" Sittenwidrigkeit. Dieser Gesichtspunkt jst nämlich immer zu beachten, wenn ein bedingt Bedachter um des Nachlasses willen etwas tun oder nicht tun soll, dessen Vornahme oder Nichtvornahme seinem freien Entschluß zu überlassen die guten Sitten gebieten, entspricht also der Situation, wo jemand von Anfang an einen von dem des Erblassers abweichenden Willen hat. Auch ist es bei bedingten Zuwendungen, Enterbungen oder Entziehungen des Pflichtteils nichts Besonderes, wenn eine Verfügung von Todes wegen erst nach Dazu unten S. 131 ff. Sie kommen nur dort in Betracht, wo das vom Erblasser erstrebte Verhalten auf Dauer angelegt ist, also hinsichtlich der Freizügigkeit oder des Berufs oder des Nichtheiratens. Hingegen scheiden sie aus, wenn sich das gewünschte Verhalten in einer einmaligen Handlung erschöpft, z. B. einer Eheschließung. 139 Bartholomeyczik, Erbrechts, 1971, § 23 I 2 e, S. 122, will den Einwand unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB) immer dann gelten lassen, wenn sich der Sachverhalt nach dem Erbfall dergestalt ändert, daß ein Verstoß gegen die guten Sitten eintritt. uo In erser Linie kommt hier eine Zuwendung unter einer Bedingung in Frage. Zu berücksichtigen ist aber auch eine diesbezügliche Erwartung des Erblassers in Verbindung mit der Anfechtungsmöglichkeit nach § 2078 Abs. 2 BGB sowie eine mit einer Zuwendung verbundene Verpflichtung, vornehmlich aus einer Auflage. Entsprechendes gilt bei einem bedingt Enterbten. 137 138

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dem Erbfall ihre Wirkung einbüßt - eben wegen des Bedingungseintritts. Dennoch erscheint eine Gewissenskontrolle des Bedachten auf unabsehbare Zeit nicht angänglich. Sie müßte zu einer dauernden Überwachung des Seelenlebens des Erben durch diejenigen führen, die beim Eintritt der Bedingung Rechte hinsichtlich des Nachlasses hätten. Deshalb wird man den Verlust der Zuwendung hier erst mit dem Eintritt der Bedingung erfolgen lassen - natürlich unter der Voraussetzung, daß die Zuwendung nicht schon beim Erbfall sittenwidrig war. Abzustellen ist für die Willensrichtung des Bedachten also auf den Erbfall. Bei dieser Gelegenheit ist eine Erforschung des Willens des Bedachten zumutbar. Nicht zurnutbar aber wäre eine permanente Willensüberwachung. Der umgekehrte Fall, daß nämlich der Wille des Bedachten zunächst dem des Erblassers widerspricht, später aber mit ihm konform geht, führt nicht zur nachträglichen Wirksamkeit der Verfügung; denn es genügt für die Nichtigkeit, daß die Verfügung einmal sittenwidrige Auswirkungen gehabt hat. 2. Wenig problematisch ist als entgegengesetzes Extrem ein weiterer "ldealtatbestand", nämlich der, wo die Vorteile der bedingten Zuwendung einen unwiderstehlichen Druck auf den Bedachten ausüben, ihm also die Möglichkeit verschaffen, das ersehnte Studium zu finanzieren, den heißgewünschten Beruf auszuüben oder die Erwählte seines Herzens zu heiraten, er sich diese Vorteile aber mit dem Gehorsam gegenüber den - von ihm nicht geteilten! - Wünschen des Erblassers "erkaufen" muß. Z. B. erlaubt ihm die Zuwendung endlich finanziell, wie schon lange sehnliehst gewünscht, Rechtswissenschaft zu studieren, verlangt von ihm aber das Opfer eines Konfessionswechsels. Ebenso ist es, wenn der Erblasser eine Schwäche des Bedachten ausnutzt, z. B. eine Krankheit, die mit Mitteln aus der Zuwendung geheilt werden könnte, eine kostspielige "Leidenschaft" oder gar eine Sucht. Diesen Fällen sind diejenigen an die Seite zu stellen, wo eine rechtlich bindende Verpflichtung des Bedachten, vor allem in Gestalt einer Auflage, zu dem vom Erblasser gewünschten Verhalten besteht, weil sich der Bedachte hier, wenn er einmal angenommen hat, nicht mehr "freikaufen" kann. Mit der Annahme (oder dem Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist), also mit dem Wirksamwerden, können faktische Umstände den Druck auf den Bedachten, sich wie vom Erblasser gewünscht zu verhalten, nicht mehr mindern. Dieser rechtliche Druck wirkt wie ein faktisch unwiderstehlicher. In allen diesen Fällen "unwiderstehlichen" Drucks liegt die Intensität der Zwecksanktionierung aus dem Gesichtspunkt der Beeinträchtigung der Willensfreiheit auf der Hand- übrigens ein schwacher Trost für

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den Bedachten; denn wegen der Sittenwidrigkeit der Sanktion ist meistens die gesamte Zuwendung nichtig141 • 3. Es sind ferner die Tatbestände zu bewerten, in denen zwar der Wille des Bedachten ebenfalls nicht mit dem vom Erblasser gewünschten korrespondiert, der "Druck", der von der Zuwendung ausgeht, aber nur ganz gering ist142• Einem Millionär werden z. B. 3000,- DM unter der Bedingung zugewendet, daß er eine beabsichtigte Ehe nicht eingeht. Hier muß man im Regelfall die Zwecksanktion als wirkungslos ansehen. Der Zweck hat keine besondere Bedeutung neben dem Motiv, und die Sittenwidrigkeit ist nicht im Hinblick auf den Zweck, sondern nur noch in Anbetracht des Beweggrundes zu untersuchen143• Eine besondere Rolle spielen hier allerdings die Auflage, die sonstige mit einer Verfügung eine Einheit gemäߧ 139 BGB bildende Verpflichtung und die Testamentsvollstreckung. Sie binden den Betroffenen, wenn er die Zuwendung einmal angenommen hat, ohne Rücksicht auf die Höhe der materiellen Vorteile aus der Verfügung. Aus diesem Grunde können sie nicht nur im Hinblick auf den von diesen V orteilen ausgehenden "Druck" beurteilt werden. Sie sind vielmehr, da sie anders als in den Fällen der Bedingung, der Widerrufs-, Rücktritts- und Anfechtungsmöglichkeit schon von sich aus "absolut" zwingende Wirkung haben, auch bei geringem Wert der Vorteile aus der Verfügung sittenwidrig. 4. Es sind ferner die Fälle zu bewerten, in denen der Bedachte vor eine echte Alternative gestellt wird, z. B. mit Hilfe des Nachlasses zu studieren oder eine vom Erblasser "verbotene" Ehe einzugehen, wenn dem Bedachten beides mit einer gewissen, nicht auch unbedingt der gleichen Stärke am Herzen liegt. Hier widersteht der Bedachte möglicherweise dem "schnöden Mammon", seine Standhaftigkeit wird aber zumindest versucht. Was zunächst die Grundrechtswerte angeht, so ist zu beachten, daß im Privatrecht nur ihr Kernbereich, der "Wesensgehalt" im Sinne des Art.19 Abs. 2 des Grundgesetzes geschützt wird144• Im übrigen sind gewisse Nachteile bei der Ausübung der Grundrechte auch im Kernbereich noch nicht verboten, solange diese Nachteile nicht "prohibitiv" wirken, d . h. einen durchschnittlich standhaften Menschen in der konkreten Situation von der Ausübung des Grundrechts abhalten würden. Die Grundrechtswerte müssen dem Bürger so viel wert sein, daß er sie nicht wie Esau sein Erstgeburtsrecht gleichsam um ein 141 Näheres unten S. 191 ff. (Bedingung) sowie 5.197 ff. (Verpflichtung), S. 199 (Testamentsvollstreckung). 142 Vgl. die Erwägungen der Vorinstanz in KG JGF 17, 306 (309). 143 Dazu näher unten S. 131 ff. 144 Vgl. oben S. 61 ff.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Linsengericht verkauft. Wer, ohne sich in einer nicht unerheblichen Drucksituation zu befinden, um eines Vorteils willen auf sie verzichtet, hat es nicht besser verdient. Eine gewisse Standhaftigkeit gegenüber materiellen Verlockungen ist dem einzelnen zuzumuten. Das Vorliegen eines verwerflichen Drucks auf die Willensfreiheit ist deshalb zu verneinen, wenn der Erblasser nicht eine besondere Zwangslage oder Schwäche des Bedachten ausnutzt. Nicht anders steht es bei Werten außerhalb des Grundrechtskataloges. Auch hier verdient derjenige keinen Schutz, der nicht bereit ist, den Verlockungen materieller Vorteile zu widerstehen, solange es sich wirklich nur um Verlockungen handelt und nicht um einen Druck, der auch einen durchschnittlich besonnenen, wertbewußten Menschen wanken läßt145• Sanktionsmittel, die nach Annahme der Zuwendung aus sich heraus zu wirken geeignet sind, ohne daß der von dem materiellen Vorteil ausgehende Anreiz auf den Bedachten wirken muß (Auflage, andere im Sinne von § 139 BGB mit der Verfügung eine Einheit bildende Verpflichtungen, Testamentsvollstreckung) sind wieder besonders zu beurteilen, nämlich, wie soeben unter Nr. 3 ausgeführt, als schlechthin sittenwidrig; denn hier spielt die "Standhaftigkeit" des Bedachten keine Rolle mehr, wenn er einmal der Versuchung erlegen ist, die Zuwendung anzunehmen. Die hier unter Nr. 4 behandelten Fälle können im übrigen (also bei Bedingung, Widerrufs-, Rücktritts- oder Anfechtungsmöglichkeit als Sanktion) jedoch den unter Nr.1 erörterten gleichgestellt werden, wo der "Druck" des Erblassers ins Leere trifft, weil der Bedachte den gleichen Willen wie dieser hat. Es liegt zwar kein "unwiderstehlicher" Druck auf die Willensfreiheit vor wie bei Nr. 2, aber für die Willensbildung des Bedachten wird dennoch die Aussicht auf den vermögenswerten Vorteil ursächlich. Da ein beachtlicher Gegenwille des Bedachten anders als in den Fällen unter Nr. 2 nicht besteht, geht es hier nicht um das "Brechen" des Willens, das heißt nicht um die Beeinträchtigung der Willensfreiheit. Diese Fallgestaltungen leiten deshalb über zu der letzten Gruppe. Sie sind wie diejenigen zu beurteilen, wo 5. der Bedachte in der vom Erblasser geregelten Frage überhaupt keinen eigenen Willen hat, sondern bereit ist, sich durch den Vorteil der 145 Damit soll nicht der Wertmaßstab des ,homo constantissimus' (Gai. D. 4, 2, 6); dazu von Lübtow, Der Ediktstitel ,Quod metus causa gestum erit', 1932, 107 ff.) wiedereingeführt werden. Es geht nicht um die Standhaftigkeit des Idealmenschen in der stoischen Philosophie (siehe von Lübtow a.a.O. 108 f.), sondern um den Mitbürger mit "menschlicher" Standhaftigkeit. Auch Hartkamp, Der Zwang im römischen Privatrecht, 1971, 27 f., hält es für sehr unwahrscheinlich, daß der Begriff ,homo constantissimus' der klassischen Jurisprudenz zuzuschreiben sei.

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Zuwendung zu dem vom Erblasser gewünschten Verhalten bestimmen zu lassen. Bei diesen "Gleichgültigen", "Unentschlossenen", "Indifferenten", wie sie im folgenden bezeichnet werden sollen, scheidet der Gesichtspunkt der Beeinträchtigung der Willensfreiheit aus und damit auch die Anwendung der Freiheitsrechte des Grundgesetzes. Das bedeutet aber noch nicht, daß der Aspekt der Zweckverfolgung schon verlassen werden könnte und nur noch die Statthaftigkeit einer Belohnung in Frage stünde; denn immerhin geht es ja noch um die Willensbildung. Man muß deshalb fragen, ob eine solche Willensbildung im Hinblick auf vermögenswerte Vorteile mit den guten Sitten in Einklang steht. Die Antwort darauf kann nicht einheitlich ausfallen. Bei der Eingehung einer Ehe, der Beibehaltung oder dem Wechsel des religiösen Bekenntnisses lautet sie beispielsweise anders als bei der Berufswahl. Festzuhalten ist hier aber vor allem zunächst der Wechsel des Beurteilungsstandpunktes. Von der Frage der Freiheit des Willensentschlusses ist man weitergegangen zu derjenigen der Zulässigkeit des Hervorrufens eines Verhaltens durch geldwerteVorteileund damit vom Verstoß gegen die Freiheitsrechte des Grundgesetzes zur "einfachen" Sittenwidrigkeit des § 138 Abs. 1 BGB. Deshalb ist in dieser Gruppe auch kein Unterschied zu machen zwischen Bedingungen, Widerrufs-, Rücktrittsund Anfechtungsmöglichkeiten auf der einen Seite sowie Auflagen, anderen im Sinne von § 139 BGB mit der Verfügung eine Einheit bildenden Verpflichtungen und der Anordnung einer Testamentsvollstreckung auf der anderen. Es geht stets darum, daß der materielle Anreiz den Willen des Indifferenten bestimmt. Nachträgliche Wandlungen des Willens des Betroffenen können es allerdings möglich machen, vom Gesichtspunkt der Willensbestimmung durch geldwerte Vorteile zu dem der Beeinträchtigung der Freiheit (Nm. 1 bis 4) überzugehen. Aber ein solcher Wechsel der Klassifizierung ist nichts der Gruppe Nr. 5 Eigentümliches, sondern gilt für die anderen entsprechend. Es kann insoweit auf die Ausführungen über den nachträglichen Eintritt der Sittenwidrigkeit zu Nr.1 verwiesen werden. Die vorstehenden fünf Gruppen unterschiedlicher faktischer Intensität einer Zwecksanktion orientieren sich entweder an der Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Bedachten oder am Abhängigmachen seines Verhaltens von einer geldwerten Gegenleistung. Beide Gesichtspunkte stehen als Kriterium der Verwerflichkeit einer Zweckverfolgung zurück, wenn schon das vom Erblasser erstrebte Verhalten für sich genommen gegen die guten Sitten einschließlich des "Wesensgehalts" von Grundrechten verstößt. Hier liegt der Vorwurf nicht in der Beeinträchtigung der Willensfreiheit oder der Lenkung durch vermögenswerte Vorteile, sondern im Inhalt des erstrebten Verhaltens. Zwar wirkt sich auch hier der vom Erblasser ausgeübte Druck je nach den tatsächlichen

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Umständen, insbesondere der Willensrichtung des Bedachten, unterschiedlich aus im Hinblick auf die Chance der Verwirklichung der Ziele des Erblassers. Jedoch ist hier eine Differenzierung des Vorwurfs des Sittenverstoßes je nach der Intensität des Druckes nicht am Platze; denn es geht nicht an, auch nur eine Spur der Verwirklichung des sittenwidrigen Erfolges zuzulassen. Dieser muß auf jeden Fall unterbunden werden, ganz gleich, was der Bedachte will oder ob die Verwirklichung durch geldwerte Gegenleistungen verursacht wird. Solche Fälle (z. B. Eingebung oder Fortführung eines sich in Nur-Sexualität erschöpfenden Verhältnisses, Betrieb eines Bordells oder Wuchergeschäfts, Bereithaltung von Diebeswerkzeug für seinen eigentlichen Zweck, grundrechtswidrige Diskriminierung Dritter) sind indessen, jedenfalls was Verfügungen von Todes wegen anlangt, praktisch ganz selten148, so daß sie hier erst in letzter Linie berücksichtigt zu werden brauchten. Vorstehend wurden die sich aus den wirtschaftlichen und persönlichen Umständen des Bedachten in ihrer Wechselwirkung mit Art und Umfang der Zuwendung ergebenden Intensitätsunterschiede erörtert. Außerdem spielt es für die faktische Intensität der Zwecksanktionierung natürlich eine Rolle, ob die aus der Verfügung (so vor allem bei einer Auflage) gegenüber dem Bedachten, Berechtigten147 oder diejenigen, die bei Wegfall des Bedachten wegen Bedingungseintritts oder aufgrund einer Anfechtung begünstigt werden, von ihren Rechten Gebrauch machen. Wo kein Kläger ist, gibt es bekanntlich auch keinen Richter und erst recht kein Vollstreckungsorgan. Die Aussicht auf die Mehrung eigenen Erwerbs wird ihre Wirkung auf das sittliche Bewußtsein der Zurückgesetzten meistens nicht verfehlen14B. Man kann nicht sagen, daß es hier nicht mehr um Wirkungen gehe, die der Verfügung von Todes wegen selbst eigentümlich sind; denn das Verhalten der Dritten vermag durchaus von Art und Umfang der Zuwendung bestimmt zu werden. Trotzdem kann dieser Faktor nicht zur Beurteilung der Sittenwidrigkeit herangezogen werden, weil das Bestehen von Rechten oder Rechtsverhältnissen nicht davon abhängt, ob sie jemand geltend macht. Umgekehrt ist vielmehr der Bestand eines Rechts oder Rechtsverhältnisses logische Voraussetzung für die Geltendmachung. Als Bestandsvoraussetzung muß daher die Geltendmachung der Sittenwidrigkeit für die Beurteilung ihres Vorliegens ausscheiden. Die unterschiedliche Bewertung des Zweckes je nach den begleitenden rechtlichen und tatsächlichen Umständen präzisiert die für sich genommen wenig brauchbare Formel der Rechtsprechung, wonach es für die ua Vgl. oben S. 96 f. Dazu gehört möglicherweise auch ein Testamentsvollstrecker. Lange, Erbrecht, § 34 V 2 b, S. 376.

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Sittenwidrigkeit einer Verfügung von Todes wegen auf ihren "Gesamtcharakter" ankommt, der sich aus Inhalt, Zweck und Motiv ergibt. 4. Kumulierung von Zwecken

Es kann vorkommen, daß der Erblasser mit einer Verfügung von Todes wegen zwei oder mehrere Zwecke verfolgt, indem er die Zuwendung beispielsweise unter die Bedingung stellt, daß der Bedachte a) seinen, des Erblassers, Geschäftsbetrieb fortführt, b) nicht aus der Kirche austritt und c) eine bestimmte, dem Erblasser mißliebige Person nicht heiratet. Hier kann die Sanktionsintensität in den einzelnen Punlden verschieden ausfallen, etwa weil der Bedachte ebenso wie der Erblasser gern Gastwirt sein möchte, ihm die Frage der Kirchenzugehörigkeit gleichgültig, die Heirat mit der "mißliebigen Person" aber ein echter Herzenswunsch ist. Für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit muß zunächst die Intensität der einzelnen Zwecksanktionen addiert werden. Schwierigkeiten tauchen auf, wenn erlaubte mit sittenwidrigen Zwecken zusammentreffen. Nur selten werden sich bestimmt abgrenzbare Teile der Verfügung einzelnen Zwecken zuordnen lassen und dergestalt eine Teilung der Zuwendung in einen einwandfreien und einen sittenwidrigen Teil gestatten149• Meistens werden die verschiedenen Zwecke die Gesamtheit der Verfügung untrennbar durchziehen. Verdient dann eine der Zwecksetzungen nach Inhalt und Intensität den Vorwurf der Sittenwidrigkeit, so ist die ganze Verfügung- zunächst jedenfalls - sittenwidrig. Eine Teilung scheidet aus, weil der untrennbar mit der ganzen Verfügung "verfilzte" Faktor dadurch nicht eliminiert werden könntetso. Mehrere Zwecke können auf die soeben erwähnte Art und Weise nebeneinander stehen. Denkbar ist es aber auch, daß sie der Erblasser einander nachordnet, so daß der primär erstrebte Zweck nicht Endzweck, sondern Mittel zur Verwirklichung eines sekundär verfolgten Zieles ist. So kann der Erblasser beispielsweise die Freizügigkeit des Bedachten beschränken, damit dieser nicht einen unerwünschten Beruf ausübt, kein mißbilligtes Studium aufnimmt oder von einer Person getrennt wird oder bleibt, die der Bedachte nach dem Willen des Erblassers nicht heiraten soll. Hier wird es oft - aber nicht notwendigerweise - so sein, daß der primäre Zweck, etwa die Beschränkung der Freizügigkeit, mittels Bedingung oder Auflage zum Inhalt der Verfügung erhoben wird, während der sekundäre in ihr keinen Ausdruck 149 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen zum Motiv unten S. 148 ff. "Motivbündel" sind häufiger als "Zweckbündel". Der Schwerpunkt der Darstellung liegt deshalb dort. tso Vgl. die entsprechenden Darlegungen zum "Motivbündel" unten S.151.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

findet. Dementsprechend kann es auch vorkommen, daß hinter dem zum Inhalt gewordenen Zweck zwar kein sekundärer Zweck, aber ein Motivm steht, daß sich in der Verwirklichung des Zweckes nicht erschöpft. So hatte der Erblasser in KG OLG 13, 317 (318) die Zuwendung von der Bedingung abhängig gemacht, daß die Bedachte ihren Wohnsitz in D. oder St. behältle. Er wollte sie damit vor den Gefahren der Großstadt bewahren. Diese, wie das Gericht meinte, etwas "schrullenhafte" Fürsorge steht also als sekundärer Faktor hinter dem primär verfolgten Zweck. Für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit muß der "sekundäre" Faktor (Zweck oder Motiv), mag er zum Inhalt der Verfügung geworden sein oder nicht, ebenso berücksichtigt werden wie der primäre. Eine Zerlegung des Geschäfts scheidet in diesen Fällen der "Nachordnung" aus, da das eine Element um des anderen willen existiert. Die Sittenwidrigkeit eines Faktors macht daher die ganze Verfügung sittenwidrig. Sowohl in den Fällen des untrennbaren Nebeneinander mehrerer Zwecke als auch in denen der "Nachordnung" ist jedoch stets an eine Eliminierung des sittenwidrigen Elements im Wege der Umdeutung zu denken. Sie führt zum Erfolg, wenn ermittelt werden kann, daß der Erblasser die Verfügung bei Kenntnis ihrer Nichtigkeit ganz oder teilweise ohne die sittenwidrige Zwecksetzung (oder das sittenwidrige Motiv) getroffen hätte. Es handelt sich dabei nicht mehr· um eine Frage der Sittenwidrigkeit des - real vorliegenden - Tatbestandes, sondern seiner Rechtsfolgen. Die Einzelheiten müssen daher einem späteren Abschnitt vorbehalten bleibenlsa. 5. Besonderheiten bei der Enterbung, der Pßidltteilsentziehung und der Beseitigung erbredltlidler Zuwenduncen

Die bisherigen Ausführungen hatten im Interesse der Übersichtlichkeit der Darstellung nur Zuwendungen zum Gegenstand. Sie gelten entsprechend, wenn die Verfügung von Todes wegen eine Enterbung (§ 1938 BGB) oder eine Pflichtteilsentziehung zum Inhalt hat, die unter der Bedingung steht, daß der Erb- oder Pflichtteilsberechtigte sich nicht eines vom Erblasser gewünschten Wohlverhaltens befleißigt. Also etwa Enterbung für den Fall, daß der Sohn heiratet oder nicht heiratet, eine bestimmte Person heiratet oder nicht heiratet, aus der Kirche austritt, 151 Zur Abgrenzung von Zweck und "bloßem" Motiv unten S. 131 f. 'Ober die Kumulation von Zwecken und Motiven im übrigen unten S. 153 f. Dort auch zum "Nebeneinander" mehrerer Zwecke und Motive (im Gegensatz zur hier erwähnten "Nachordnung"). 152 Vgl. oben Fußn. 136. 163 Unten S. 186 ff. und 194 ff.

III. Gegenleistung als Zweck

129

Schauspieler wird usw. Die Sanktion mittels einer Auflage oder einer anderen mit der Verfügung von Todes wegen eine Einheit im Sinne von § 139 BGB bildende Verpflichtung scheidet hier aus. Die Verpflichtung zu einem erwünschten Verhalten kann aber mittels einer - aufschiebenden oder auflösenden - Bedingung (Zustandekommen, Fortbestand, ordnungsmäßige Erfüllung der Verpflichtung) mit der Enterbung verbunden werden. Die Anfechtung gemäß § 2078 Abs. 2 BGB entfällt als Sanktion des Erblasserwillens. Sie dient nur dem Rückgängigmachen der Enterbung, wenn sich herausstellt, daß der Erblasser über vergangene oder gegenwärtige Umstände geirrt hat oder in seinen Erwartungen für die Zukunft enttäuscht wurde, wirkt also nur zugunsten des Enterbten und nie als Sanktion gegen ihn. Die Pflichtteilsentziehung ist überhaupt nur wirksam, wenn die Gründe der §§ 2233-2235 BGB wirklich vorlagen (§ 2336 Abs. 2 BGB). Was über die Enterbung eines kraft Gesetzes zur Erbfolge Berufenen gesagt wurde, gilt entsprechend für die "Enterbung" eines testamentarisch Bedachten durch Verfügung von Todes wegen154, d. h . für den Widerruf einer letztwilligen Verfügung. Man darf hier nicht etwa deswegen mit anderen Maßstäben messen, weil der Erblasser ja gar nicht gehalten war, dem Bedachten überhaupt etwas zu hinterlassen; denn das gilt auch schon für die Verfügung von Todes wegen mit "positivem" Inhalt, also wo der Erblasser eine Zuwendung verfügt. Man darf nicht argumentieren, der Erblasser hätte dem Bedachten ja gar nichts zuzuwenden brauchen, also darf er ihm Zuwendungen auch unter beliebigen Bedingungen machen. Damit würde man verkennen, daß der Widerruf der Verfügung von Todes wegen benutzt wird, um vom Bedachten eine "Gegenleistung" in Gestalt eines bestimmten Verhaltens zu erreichen. Gerade in dieser "Gegenleistung", entweder schon in ihr allein oder in ihrer Verknüpfung mit dem- geldwerten- Vorteil der Zuwendung ist die Sittenwidrigkeit zu suchen. Die gleiche Konstellation findet sich beim Widerruf einer Zuwendung unter einer Bedingung (wenn der Bedachte z. B. die A heiratet oder Soziologie studiert, erhält er den vorher testamentarisch zugewendeten Nachlaß nicht). Natürlich kann der von einer Bedingung ausgehende Druck stärker sein, wenn es sich um t54 Entsprechendes müßte für den Widerruf, der nicht durch letztwillige Verfügung, sondern durch Realakt erfolgt (§ 2255 - Vernichtung oder Veränderung der Urkunde -; § 2256 - Rücknahme aus der amtlichen Verwahrung -) gelten. Zur Konstruktion dieser Tatbestände näher von Lübtow, Erbrecht I, 239 ff. Eine Nichtigkeit kommt hier jedoch nicht in Betracht, da kein Rechtsgeschäft vorliegt - ganz abgesehen davon, daß eine Verknüpfung dieser Realakte mit den rechtlichen Sanktionsmitteln Bedingung, Auflage usw. gänzlich ausscheidet. Die Drohung mit dem faktischen Widerruf kann allenfalls zu einem Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB führen.

9 Thlellhann

130

Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

die Enterbung eines für die Aufrechterhaltung seiner wirtschaftlichen Existenz auf den väterlichen Nachlaß angewiesenen gesetzlichen Erben handelt, als wenn z. B. ein entfernter Verwandter, der mit Zuwendung kaum rechnete, vom Widerruf betroffen wird. Aber dabei handelt es sich um die konkreten Umstände des Einzelfalls, die nichts an der generell gebotenen Gleichbewertung des Widerrufs einer Zuwendung mit der Enterbung ändern. Die Beseitigung einer Verfügung von Todes wegen durch Ausübung eines Gestaltungsrechts (Anfechtung; Rücktritt beim Erbvertrag §§ 2293 ff. BGB)155 kann wegen der prinzipiell bedingungsfeindlichen Struktur solcher Geschäftet" in der Regel nicht unter einer Bedingung erfolgen. Der Grund dafür besteht in dem Interesse des Erklärungsgegners an einer eindeutigen Rechtslage. Deshalb sind Bedingungen zulässig, die dieses Interesse nicht beeinträchtigenu7• Dazu gehören die Fälle, wo die Bedingung in der Willkür des Gegners liegt168 oder - bei der ,condicio in praesens vel in praeteritum collata' - wo der Gegner sich nicht im Unklaren über den Umstand befindet, von dem der Erklärende die Anfechtung oder den Rücktritt abhängig macht. Bei der Anfechtung eines Testaments gelten die allgemeinen Bestimmungen des§ 143 Abs. 1 und 4 Satz 1 BGB nur, wenn es um Vermächtnisse und Teilungsanordnungen geht159. In den- wichtigeren- Fällen des § 2081 Abs. 1 BGB (Erbeinsetzung, Enterbung, Einsetzung eines Testamentsvollstreckers) sowie dann, wenn durch die Anordnung kein Recht für einen Dritten begründet wurde (§ 2081 Abs. 3, vor allem bei der AuflageH10), ist die Anfechtung gegenüber dem Nachlaßgericht zu erklären. Die Regelung des § 2081 Abs. 2 (Mitteilung von der Anfechtung an den Betroffenen durch das Nachlaßgericht in den Fällen des Abs. 1) zeigt, daß der Betroffene, obschon kein Erklärungsgegner, doch nicht im Unklaren über die Rechtslage bleiben soll. Deshalb ist die Heranziehung der Rechtsregeln über die Bedingungsfeindlichkeit der Anfech155 Bei solchen Geschäften handelt es sich natürlich nicht um Verfügungen von Todes wegen. Der sachliche Zusammenhang rechtfertigt aber ihre Behandlung an dieser Stelle. 158 Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil Il15, 1960, § 195 II 2, S.1194 f.; Palandt- Heinrichs31, 1972, Einf. 6 vor § 158; RGZ 66, 153 (154). Die Gleichbehandlnug der ,condicio in praesens vel in praeteritum collata' mit der echten Bedingung ist gerechtfertigt: Palandt- Heinrichs a.a.O. Ui7 Vgl. die Lit. in der vorstehenden Fußnote. 158 Palandt- Heinrichs ebd.; BGH LM Nr. 7 zu § 346 HGB (D). Ob hier allerdings überhaupt von einer Bedingung gesprochen werden kann, ist umstritten. Nach Henle, Allgemeiner Teil, 1926, 311, schließt die Wollensbedingung das Vorliegen eines Rechtsgeschäfts aus. Anders die herrschende Meinung; vgl. Staudinger- Coing11, 1957, Vorbem. vor § 158, Randnrn. 11 und 12. 159 Vgl. von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 331. 180 Dazu von Lübtow a.a.O. 330.

IV. Das Motiv

131

tung außer im Fall des § 2081 Abs. 3 BGB auch bei der Testamentsanfechtung angemessen. Die Verfügung, in der eine Enterbung oder Pflichtteilsentziehung widerrufen wird, ist wieder entsprechend einer Zuwendung zu beurteilen, ihr Widerruf (§ 2257 BGB) und ihre Anfechtung1&1 wie Widerruf und Anfechtung einer Zuwendung.

IV. Das Motiv 1. Zweck und Motiv

Bei den soeben behandelten Sachverhalten wurde auf den Zweck der Verfügungen von Todes wegen abgestellt. Er bestand darin, auf den Bedachten einzuwirken, damit er sich eines vom Erblasser gewünschten Verhaltens befleißigt. Diesem Zweck liegt als Motiv der Wunsch des Erblassers auf das jeweilige Verhalten zugrunde. Die Entwicklung des Motivs zum Zweck in diesem Ausmaß rechtfertigt es, den Zweck als Kriterium für die Sittenwidrigkeit der Verfügung von Todes wegen heranzuziehen. Es kann aber auch sein, daß der Zweck nicht auf eine Beeinflussung des Bedachten gerichtet ist, sondern der Erblasser sich mit dessen Verhalten abfindet, "nichts mehr von ihm will". Die Zuwendung hat dann nur noch den Charakter einer "Belohnung" oder ganz allgemein einer Vergünstigung, die Enterbung, die Pflichtteilsentziehung, der Widerruf einer Zuwendung162 oder die Einsetzung eines Testamentsvollstreckers den einer "Bestrafung"183• Bei den Zuwendungen und ihrem Gegenstück, den Enterbungen usw. gibt es natürlich immer einen Begünstigten und einen Benachteiligten oder Gruppen von Begünstigten und Benachteiligten. Es kann nun so liegen, daß der Erblasser den oder die Begünstigten belohnen und gleichzeitig den oder die Benachteiligten bestrafen will. Oft wird ihm aber nur daran gelegen sein, einen der beiden Beteiligten (oder der Gruppen von Beteiligten) zu belohnen oder m1 bestrafen, während die entgegengesetzte Auswirkung zugunsten oder zuungunsten anderer nur eine von ihm in Kauf genommene Nebenfolge darstellt. Auch hier gibt es einen Zweck der Verfügung von Todes wegen - eben die Belohnung, Bestrafung oder die Kombination beider. Die Belohnung oder Bestrafung kann dabei auch eine differenzierte BedeuDazu von Lübtow, Erbrecht I, 251 f. Entsprechendes gilt für die Beseitigung einer Zuwendung durch Anfechtung oder Rücktritt sowie vom Erbverzicht, obwohl dies natürlich keine Verfügungen von Todes wegen sind. 163 Vgl. Lange, Erbrecht, § 34 V 2 b, S. 376 f. 161 162

9•

132

Teil li. A. Die sittenwidrigen Faktoren

tung gewinnen, z. B. über den materiellen Vorteil hinaus das Prestige des Bedachten stärken oder die enterbte Ehefrau gegenüber der zur Erbin eingesetzten Geliebten des Erblassers zu erniedrigen. Besonders zu dem soeben genannten Zweck sind verschiedene Gestaltungen erbrechtlicher Verfügungen denkbar, so etwa die Einsetzung der Geliebten zur Testamentsvollstreckerin "über" die Ehefrau164, Zuteilung der Wohnungseinrichtung, Kleidung und Wäsche des Erblassers an die Geliebte165, von persönlichen Erinnerungsstücken an sie oder die Zumutung der Zusammenarbeit von Ehefrau und Geliebter in der hinterlassenen Arztpraxisl66. Der Zweck hat jedoch hier insofern keine selbständige Bedeutung, als ein bestimmtes Verhalten des Betroffenen als "Gegenleistung" nicht erstrebt wird. Die Zweckverwirklichung erschöpft sich in der Auswirkungder Verfügung selbst, ohne daß der Betroffene noch etwas dazu beizutragen hätte. Solche Sachverhalte sind deshalb zur bloßen Motivation im Sinne einer Belohnung oder Bestrafung zu zählen. Im folgenden sind sie mitgemeint, wenn vom "Motiv" die Rede ist. Die Grenze zwischen dem Zweck in Gestalt des finalen Erstrebens einer "Gegenleistung" und dem Motiv im hier beschriebenen engeren Sinne ist in der Praxis nicht immer leicht zu erkennen. Das Vorhandensein einer echten Bedingung ist kein sicheres Kriterium; denn sie kann ebenso im Sinne eines "Wenn" wie eines "Damit" gemeint sein1&7. So kann die Erbeinsetzung einer Frau A unter der Bedingung, "wenn sie sich von ihrem Mann scheiden läßt" 168 eine solche Scheidung be164 BGH FamRZ 1954, 195 (198) = LM Nr. 2 zu § 138 (Cd); von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 311. Dies kann, aber muß nicht eine Erniedrigung der Ehefrau bezwecken. Gleiches gilt für die beiden folgenden Beispiele. 165 BGH ebd., von Lübtow ebd. 166 Vgl. RG Gruch. 70, 548 (551) = JW 1929, 33 f.; von Lübtow ebd. mit weiteren Beispielen. 167 Dazu Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 46 ff. Sittenwidrig können immer nur Wollensbedingung oder sogenannte gemischte Bedingungen sein, dagegen keine Zufallsbedingungen: Spieß a.a.O. 53 ff., 57 f. Ein unter eine Zufallsbedingung gestelltes Geschäft kann als solches wegen seines Motivs sittenwidrig sein. Die Sittenwidrigkeit resultiert dann aber nicht aus der Bedingung: Spieß, 56 f. Kein qualitativer Unterschied ist bei der Bewertung im Hinblick auf den aufschiebenden oder auflösenden Charakter einer Bedingung zu machen, vgl. Spieß, 61. 168 Beispiel von Spieß a.a.O. 47; ebenso Keuk, FamRZ 1972, 13 für die Bedingung der Eheschließung. Vgl. auch RGZ 98, 176 f.: Ein Schuldversprechen ist nichtig, wenn es dazu dienen soll, von der Eingebung einer Ehe abzuhalten, nicht aber, wenn nur der Zeitpunkt der Fälligkeit festgelegt wird. Für Verträge unter Lebenden im gleichen Sinne (Geld als Gegenleistung zur Verpflichtung der Scheidung oder als Zusage für den Fall der Scheidung) Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil !15, 1959, § 191 III 4, S. 1173. Vgl. auch RGZ 62, 273 (278) (Schenkungsversprechen, das darauf ausgeht, daß eine schwangere Frau vor der Entbindung von einem anderen Mann als dem Schwängerer geheiratet wird).

IV. Das Motiv

133

zwecken oder aber lediglich eine Vergünstigung für den Fall der Scheidung, eine "Belohnung" oder auch eine wirtschaftliche Sicherung darstellen. Nur im ersten Fall liegt eine Finalität im Sinne einer "Lenkung" des Verhaltens der Bedachten vor. Oft wird der Bedingung allerdings die Bedeutung eines "Damit" zukommen, also finaler und nicht nur konditionaler Gehalt. Ist für den Betroffenen eine Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten begründetl6', so muß allerdings mit Gewißheit eine finale Bedeutung angenommen werden. Entsprechendes gilt bei einer Sanktion durch Testamentsvollstreckung170• Umgekehrt scheidet sie bei einer sogenannten condicio in praesens vel in preateritum collata aus. Fehlt eine Bedingung oder Verpflichtung, so braucht deshalb der Verfügung der finale Charakter noch nicht abzugehen. Sie kann trotzdem zu dem Zweck getroffen worden sein, daß der Bedachte durch sie "gelenkt" werde - nämlich wegen des Widerrufsrechts (§§ 2253 ff. BGB) und auch der Möglichkeit der Anfechtung nach §§ 2078 Abs. 2, 2281 ff. BGB171• Voraussetzung für die Annahme der Finalität ist allerdings, daß sich der Erblasser dieser rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten bewußt ist und damit rechnet, daß sie ihre Wirkung auf den Willen des Bedachten nicht verfehlen. Dazu muß dieser ebenfalls von ihnen - und natürlich auch von der Verfügung- wissenm. 2. Einwirkungen des Motivs auf die Verfügungen von Todes wegen a) Die Grundlagen

Die Kongruenz von Motiv und Wirksamkeit ist bei den erbrechtliehen Geschäften jedenfalls immer gesichert. Fehlt eine Bedingung, so greift der Widerruf des Testaments (§§ 2253-2256, 2258 BGB) oder die Anfechtung aufgrund der §§ 2078 Abs. 2, 2281 ff. BGB oder auch eine sogenannte Testamentskorrektur ein. Insofern unterscheiden sich diese Verfügungen von den Geschäften unter Lebenden, wo eine Anfechtung wegen Motivirrtums nur ausnahmsweise Platz greütna. 169 Auflage, Verknüpfung einer unter Lebenden begründeten Pflicht mit der Verfügung im Sinne von § 139 BGB oder eine Bedingung. 110 Dazu oben S. 113 ff. 171 Neben der Anfechtung ist beim Motivirrtum an eine Testamentskorrektur zu denken. Vgl. dazu oben Fußn.108. 112 Vgl. oben S. 111. 173 Nach § 119 Abs. 2 BGB, wenn man mit der älteren und herrschenden Lehre (Zitate bei Larenz, Allgemeiner Teilt, § 20 II b, S. 316 Fußn. 1, vgl. auch Staudinger- Coingu, 1957, Randnr.16 zu § 119) annimmt, es handele sich dort stets um Fälle des Motivirrtums. Eine besondere Art sogenannten geschäftlichen Eigenschaftsirrtums soll nach Flume, Eigenschaftsirrtum und Kauf, 1948, 11 ff., 100 ff.; Allgemeiner Teil II, 1965, § 24,2 b, S. 476 ff. (zu-

134

Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Von einer "Sanktion" kann bei den keine Gegenleistung erstrebenden Verfügungen von Todes wegen allerdings keine Rede sein; denn es wird ja vom Erblasser nichts über dasjenige hinaus erstrebt, was die Verfügung nicht schon selbst verwirklicht, nämlich die Belohnung oder Bestrafung. Deshalb kommt hier auch keine Beurteilung der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf den Druck in Frage, der auf den Betroffenen ausgeübt wird. Einen solchen Druck gibt es nie. Bei der Frage der Sittenwidrigkeit wegen des Motivs geht es mithin nicht mehr um die Willensfreiheit des Betroffenen. Er wird weder gezwungen noch "versucht", sittenwidrig zu handeln. Man muß deshalb fragen, warum und inwieweit hier überhaupt Sittenwidrigkeit in Betracht kommt; denn das Verhalten, an das die Verfügung anknüpft, geschieht ja genauso auch ohne sie. Die Kongruenz zwischen Handlung einerseits sowie Bestrafung oder Belohnung andererseits, die für das Erbrecht mit Rücksicht auf die §§ 2253 ff., 2078 Abs. 2, 2281 ff. BGB lückenlos zu realisieren ist, eliminiert nur das Problem, ob die Belohnung oder Bestrafung einer vermeintlich vorgenommenen Handlung sittenwidrig sein kann174• Die Frage, warum die Belohnung oder Bestrafung sittenwidrig ist, beantwortet sie nicht. Zur Lösung des Problems hat man sich vor Augen zu halten, daß es um Eigenschaften oder um Verhaltensweisen des Bedachten geht, die entweder für sich genommen bereits sittenwidrig sind, es erst durch die Verknüpfung mit (geldwerten) Vorteilen werden ( diese beiden Fallgruppen sind bei der Belohnung einschlägig) oder daß der Betroffene wegen bestimmter Eigenschaften oder - erlaubter - Handlungen benachteiligt wird (Bestrafung). Die Klassifizierung als sittenwidrig ist deshalb zunächst dort zu vertreten, wo eine an sich oder wegen der stimmend Staudinger- Coingu, Randnr. 16 zu § 116; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil nu, 1960, § 168 I, S. 1043) vorliegen, wenn die - irrige Vorstellung des Erklärenden über die wesentliche Eigenschaft in der Erklärung zum Ausdruck gekommen ist. Dagegen zutreffend Larenz, Allgemeiner Teil2, § 20 II b, S. 318, mit Literatur in Fußn. 2. Schlechthin für die Qualifizierung des Irrtums gemäß § 119 Abs. 2 BGB als Irrtum über den Erklärungsinhalt Palandt- Heinrichs:tt, Anm. 4 a zu § 119. - Wo das Motiv in die Erklärung aufgenommen worden ist, arbeitete die Rechtsprechung des RG, gefolgt von einem Teil der Literatur, mit § 119 Abs. 1 BGB (vgl. die Angaben bei Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teilll15, § 167 IV 4, S. 1040, Fußn. 24; Staudinger- Coingu, Randnr. 14 a zu § 119, vor allem RGZ 116, 15 [17]; Lebmann- Hübner, Allgemeiner Teilte, § 34 III 1 c ß, S. 261 f.). Diese Lösung erscheint nicht richtig, weil sich die Art des Irrtums (Motiv- oder sogenannter Geschäftsirrtum) nicht durch die Verlautbarung des Motivs ändert. Korrekt sind diese Fälle über den Gedanken der Vertragsergänzung (§ 242 BGB) zu lösen. Die herrschende Lehre arbeitet hier mit der sogenannten Geschäftsgrundlage; vgl. Staudinger- Coingu a.a.O. mit Literatur in der Sternfußnote; Enneccerus- Nipperdey, 1040 f. mit Literatur in Fußn. 25; Hefermehl in Soergel- Siebertto, 1967, Randnr. 22 zu§ 119; ErmanWestermann', Anm. 6 zu § 119. 174 Vgl. unten S. 165 ff.

IV. Das Motiv

135

Verknüpfung mit geldwerten Vorteilen sittenwidrige Verhaltensweise von der Verfügung hervorgerufen wird, wo also der Bedachte, mag auch beim Erblasser das finale Moment fehlen176, in Erwartung der Belohnung oder zur Vermeidung der Bestrafung handelt (oder nicht handelt). Diese Fälle stehen denjenigen der Nichtigkeit wegen Sittenwidrigkeit aufgrund des Zwecks so nahe, daß eine Gleichbewertung angemessen ist. Jenseits dieses Bereichs kann man an folgende Ansatzpunkte denken:

1. Generalprävention17' ("Niemand soll insgeheim damit rechnen können, für sittenwidriges Verhalten belohnt zu werden"); 2. Schonung der

Gefühle des Betroffenen (bei der Bestrafung), der durch die Belohnung eines anderen Benachteiligten oder auch mehr oder weniger beteiligter Dritter, vielleicht sogar des breiten Publikums. Zu 1. Der Gesichtspunkt der Generalprävention versagt bei der Bestrafung sowie bei der Belohnung von Verhaltensweisen des Betroffenen, die nicht schon an sich sittenwidrig sind, sondern es erst dadurch würden, daß man sich ihrer "für Geld" befleißigt. Es besteht kein generelles Interesses daran, Heiraten oder Nichtheiraten, Konfessionstreue oder -wechsel usw. einzuschränken, wohl aber ehebrecherische Verhältnisse, Glücksspiel, Prostitution oder ausbeuterische Geschäftspraktiken. Allerdings ist der Gedanke, einen Beitrag zur Eindämmung von ehebrecherischen Verhältnissen, Glücksspiel, Prostitution oder ausbeuterischer Geschäftspraktiken durch die Nichtigkeit solche Verhaltensweisen belohnender erbrechtlicher Verfügung zu leisten, einigermaßen absurd. Praktisch bleiben ohnehin nur die Fälle übrig, in denen ein Verhalten des Bedachten erst durch die Verknüpfung mit geldwerten Vorteilen sittenwidrig wird. Der Gesichtspunkt der Generalprävention scheidet somit weitgehend aus. Zu 2. Was die Gefühle des "Bestraften" oder der durch die Belohnung eines anderen Benachteiligten anlangt, so sind sie gewiß ein beachtliches Kriterium, dreht sich doch vieles auf dem Gebiet der guten Sitten um den Schutz der Anstandsgefühle einzelner oder gar des Publikums. Man kann jedoch die Gefühle nicht als solche schützen, sondern nur dort, wo sie schutzwürdig sind. Es muß deshalb ein weiteres Kriterium hinzutreten, das aber wiederum nur aus den guten Sitten selbst gewonnenwerden kann. Nur wo die Verfügung wegen ihres Beweggrunm Fehlt es nicht, hat die Beurteilung unter dem Gesichtspunkt des Zweckes zu erfolgen! 11e Hier darf natürlich nicht an die Verhinderung der wegen ihres Motivs möglicherweise sittenwidrigen Verfügungen selbst gedacht werden; denn es geht ja gerade erst um ihre Qualifizierung als sittenwidrig. Es kann sich also nur um das Eindämmen außerhalb der Verfügungen selbst liegender sittenwidriger Umstände und Vorgänge handeln.

136

Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

des sittenwidrig ist, können die Gefühle irgendwelcher Personen aus dem Gesichtspunkt der guten Sitten geschützt werden; denn Gefühlsverletzungen sind für sich genommen noch nicht sittenwidrig, sondern nur sittenwidrige Gefühlsverletzungen sind es. Der Versuch, die Sittenwidrigkeit mit Rücksicht auf Gefühlsverletzungen zu begründen, führt also wieder zur Sittenwidrigkeit als Kriterium zurück. Abgesehen von dem schwachen Argument der Generalprävention und den Fällen, wo jemand sein Verhalten von der Erwartung einer "Strafe" oder Belohnung her einrichtet, gibt es nach alledem keinen generellen Gesichtspunkt, mit dessen Hilfe man den Tatbestand der Sittenwidrigkeit wegen des zugrunde liegenden Motivs analysieren könnte. Es bleibt nur der Rückgriff auf die guten Sitten selbst, also die "herrschenden" Moralanschauungen übrig. Man muß im Einzelfall fragen, ob die "Belohnung" oder "Bestrafung" durch Verfügung von Todes wegen mit den "herrschenden" Moralanschauungen harmoniert oder nicht177• Zu bejahen ist die Sittenwidrigkeit jedenfalls bei "Belohnung" eines schon an sich sittenwidrigen Verhaltens. Deshalb ist eine Bedingung, die ein solches Verhalten zum Gegenstand hat, auf jeden Fall unsittlich, mag sie "finale" oder bloß "konditionale" Bedeutung haben178• Anders bei Verhaltensweisen, die erst durch die Verknüpfung mit geldwerten Vorteilen zu sittenwidrigen werden. So geht man wohl nicht in der Annahme fehl, daß eine nachträgliche "Belohnung" des Schwiegersohnes durch den Schwiegervater für die Heirat der Tochter keinen Sittenverstoß darstellt, wohl aber die nachträgliche Belohnung für außereheliche geschlechtliche Hingabe179 • Ferner darf die Beurteilung des "Belohnungs-" oder "Bestrafungs-" Motivs niemals im gleichsam luftleeren Raum erfolgen. Er darf nicht isoliert von den objektiven Umständen und der Auswirkung im Einzelfall gesehen werdenlso. Vor 177 Das Fehlen einer einheitlichen Linie in der Frage, ob das Motiv allein den Vorwurf des Sittenverstoßes mit Nichtigkeitsfolge rechtfertigt, konzediert auch Coing (Staudinger- Coing11, Randnr. 15 zu § 138). Er verweist einerseits auf RGZ 68, 97 (98 f.); 71, 192 (194); 75, 68 (74); 138, 373 (375 f.), wonach das Motiv allein nicht ausreicht. Andererseits meint er, es genüge ausschließlich bei der Schenkung an eine Geliebte und in einem Fall wie RGZ 81, 175 (176) (Abtretung einer Forderung an einen vermögenslosen Zessionar nur behufs Einziehung der Forderung für den Zedenten und in der Absicht, dem Schuldner im Falle seines Obsiegens die Wiedereinziehung der Kosten unmöglich zu machen). 178 Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 44 ff. 179 Dazu unten S. 220. 180 So schon RG Warn. 1910 Nr. 371 (S. 388). Eingehend dazu BGHZ 53, 369 (377 ff.). Die Darstellung durch den BGH befriedigt allerdings insofern nicht, als zunächst (S. 375) - zutreffend - auf die Gesinnung des Erblassers abgestellt, dann (S. 377) aber der "Inhalt" des Geschäfts unter Einschluß der Auswirkungen als "wesentlich" für die Sittenwidrigkeit bezeichnet wird.

IV. Das Motiv

137

allem ist ja die Kehrseite einer jeden Zuwendung nun einmal die Benachteiligung der oder des gesetzlichen Erben. In diesem Punkt gebührt das Hauptinteresse wieder dem sogenannten Geliebten-Testament. Dort sind etwa folgende Faktoren neben dem Motiv des Erblassers in Erwägung zu ziehen181 : Bestehen einer Ehe des Erblassers, Nähe des Verwandtschaftsgrades sonstiger gesetzlicher Erben (Kinder!), Art der Nachlaßgegenstände (Überlassung persönlicher, "emotionell belasteter" Gegenstände gerade an die Geliebte), Herbeiführung persönlichen Kontakts zwischen Geliebter und "ehelichen" Hinterbliebenen (Zusammenwohnen, Zusammenarbeit in einer hinterlassenen Praxis182, Geliebte als Testamentsvollstreckerin u . a.)1ss. Diese Wechselbeziehungen zwischen Motiv, Umständen und Auswirkungen sind es, die in der Formel der Rechtsprechung184 dahin ausgedrückt werden, die Verfügung müsse ihrem "Gesamtcharakter" nach, der sich aus Inhalt, Zweck und Motiv ergebe, den Vorwurf der Sittenwidrigkeit verdienen. Was eine Gegenüberstellung von Zweck und Motiv anlangt, so erkennt man demnach, daß sie nicht immer in gleicher Weise zur Sittenwidrigkeit führen. Wo ein bestimmter Zweck die Sittenwidrigkeit indiziert, braucht das Motiv diese Wirkung nicht hervorzurufen185. Die Erbeinsetzung unter der final gemeinten Bedingung, daß der Bedachte die Konfession oder den Wohnsitz nicht wechselt, kann durchaus sittenwidrig sein, während es die Belohnung wegen der Wahnsitztreue oder Bekenntnistreue nicht ist. Damit ergibt sich zudem, daß eine Bedingung, die ein nicht schon an sich, sondern erst wegen der Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Bedachten oder wegen Verknüpfung mit geldwerten Vorteilen sittenwidriges Verhalten zum Gegenstand hat, keineswegs einheitlich dem Verdikt des Sittenverstoßes verfällt. Von ihrer Qualität her ist das sicher der Fall, wenn sie finale Bedeutung hat, also den Betroffenen zu dem vom Erblasser gewünschten Verhalten bestimmen soll188. Allerdings ist für die Sittenwidrigkeit noch die faktische Intensität zu beDie Reihenfolge 1. Motiv, 2. Umstände (samt Auswirkungen) wird dadurch verdunkelt, ebenso der Begriff "Inhalt" durch die Einbeziehung der "Umstände" über Gebühr ausgedehnt. Vgl. dazu oben S. 93 ff. - Daß die "Umstände" und "Auswirkungen" der Verfügungtrotz Ausgehens vom Motiv des Erblassers nicht unbeachtlich sind, verkennt KG FamRZ 1968, 670 (672). 181 Vgl. unten S. 231 ff. 182 RG Gruch. 70, 548 (551). 183 Vorsicht ist aber bei wirtschaftlichen Gesichtspunkten geboten. Vgl. unten S. 213 ff., 232 ff. 184 Oben S. 90. 185 Lange, Erbrecht, 1962, § 34 V 1 c, S. 377. 188 Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 46 ff. Dagegen keine Sittenwidrigkeit bei Zufallsbedingungen: Spieß, 53 ff.

138

Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

rücksichtigen, mit der sie im Einzelfall auf den Betroffenen wirkt187. Ist diese Intensität gering, so verflüchtigt sich die Finalität im Ergebnis zur bloßen Motivierung188. Die nicht final, sondern bloß "konditional" gewollte Bedingung kann eine sittenwidrige Belohnung darstellen, wenn die guten Sitten in dem betreffenden Fall eine Belohnung verbieten. Es kann aber sogar der Aspekt der Belohnung fehlen, wenn der Erblasser für die Vergünstigung andere Motive hat, z. B. die wirtschaftliche Sicherstellung der unter der Bedingung der Ehescheidung Bedachten18e. Dann scheidet ein Sittenverstoß bestimmt aus. Im Zusammenhang mit den Grundrechtswerten ist zu beobachten, daß im Privatrecht nur ihr "Wesensgehalt" (Art.19 Abs. 2 des Grundgesetzes) geschützt ist190. Belohnungen sind daher grundrechtswidrig, soweit sie ein gegen diesen Kernbereich verstoßendes Verhalten zum Gegenstand haben, aber auch dann, wenn sie eine den Wesensgehalt antastende Beeinträchtigung eines anderen nach sich ziehen. Auch bei erbrechtliehen "Bestrafungen" kann man, was die Sittenwidrigkeit wegen des Motivs anlangt, keine allgemeingültige Begründung geben. Jedenfalls kann die "Bestrafung" nicht einfach als Kehrseite der "Belohnung" gewertet werden. Wo eine Bestrafung unzulässig ist, braucht es die Belohnung für das entgegengesetzte Verhalten nicht zu sein. So erscheint die "Bestrafung" des Sohnes durch den Erblasser z. B., weil der Sohn Schauspieler geworden ist, in anderem Licht als die "Belohnung" für eine erfolgreiche Standhaftigkeit gegenüber dem Wunsch, Schauspieler zu werden. Die "Bestrafung" eines sittlich gebotenen Verhaltens ist aber jedenfalls sittenwidrig. Für die durch den Grundrechtskatalog garantierten Werte gewährt aber wieder Art. 19 Abs. 2 des Grundgesetzes die Richtlinie, d. h. es darf niemand im "Wesensgehalt" seiner Grundrechte beeinträchtigt werden. Dazu gehört auch - immer im Rahmen des Kernbereichs gemäß Art. 19 Abs. 2 - , daß niemand wegen Ausübung der Grundrechte oder im Hinblick auf die darin verbürgten Rechtsgüter191 erhebliche Nachteile erleidet. Da der Schutz sich nur aus dem analog Art.19 Abs. 2 garantierten Kernbereich ergibt, kann er nicht jede noch so geringfügige Benachteiligung umfassen. Die Grenze ist dort zu ziehen, wo der Nachteil, wäre er, statt nachträglich als Bestrafung, vorher als "Sanktion" angeordnet, einen durchschnittlich charakterfesten Menschen von der 187 Was Spieß nicht berücksichtigt. 188

Einzelheiten oben S. 123.

18& Spieß, 47; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 348 ff.; Keuk, FamRZ 1972,

13 (Bedingung der Eheschließung). 1so Oben S. 61 ff. t91 Hauptbeispiel: Die Gleichheit (Art. 3 GG).

IV. Das Motiv

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Wahrnehmung des Grundrechts192 abgehalten hätte. Das gilt entsprechend, wo eine Verletzung nicht nur bei "Wahrnehmung" eines Grundrechts in Betracht kommt wie vor allem im Bereich der Gleichheit (Art. 3 des Grundgesetzes). Danach wäre etwa die existenzvernichtende Enterbung wegen eines Konfessionswechsels (Art. 4 des Grundgesetzes), einer Berufswahl (Art.12 des Grundgesetzes) oder eines bestimmten Studiums (Art. 12 des Grundgesetzes) unwirksam. Entsprechendes hat zu gelten, wo die guten Sitten außerhalb des Grundgesetzes einen Freiheitsraum gewähren, so etwa in der Frage der Staatsangehörigkeit. b) Die Ermittlung des Motivs

Was die Ermittlung des Erblassermotivs anlangt, so liegt die Schwierigkeit darin, daß es als "innere Tatsache" keines unmittelbaren Beweises zugänglich ist. Es muß daher aus - bewiesenen oder unstreitigen Hilfstatsachen (Indizien) erschlossen werden193. Als solche IDUstatsache kommt primär eine Ä.ußerung des Erblassers in der Verfügung selbst in Betracht. Als allein maßgebend kann sie allerdings nicht hingenommen werden, da der Erblasser ja auch die Unwahrheit gesagt haben kann194. Neben Äußerungen, die er zu Lebzeiten gegenüber Dritten getan hat, sind deshalb auch sein Gesamtverhalten und sein "persönlicher Zuschnitt" zu berücksichtigen195• So erscheint es wenig glaubwürdig, wenn ein als Antisemit bekannter Erblasser die Enterbung seiner mit einem Juden verheirateten Tochter in der Verfügung damit begründet, seine Tochter habe sich um ihn in seinem Alter zu wenig gekümmert198. Die Behauptungs- und Beweislast hinsichtlich der Sitten192 In seinem Kernbereich gem. Art. 19 Abs. 2 GG. Weiter reicht die "Drittwirkung" der Grundrechte im Privatrecht nicht. Vgl. oben S. 61 ff. 193 Sogenannter Anzeichen- oder Indizienbeweis, vgl. A. Blomeyer, Zivilprozeß, Erkenntnisverfahren, 1963, § 72 II 1, S. 361 f.; Schumann- Leipold in Stein- Jonast9, 1968, Anm. II 4 zu § 282 ZPO; Rosenberg- Schwab, Zivilprozeßto, 1969, § 113 II 5, S. 561 f., wie er besonders zum Beweis geistiger Vorgänge meistens erforderlich wird (A. Blomeyer a.a.O., 362). Es sind dabei tatbestandsfremde Tatsachen (zu behaupten und) zu beweisen, aus denen nach der Lebenserfahrung auf das Vorliegen des zu beweisenden Tatbestandsmerkmals geschlossen werden kann. Eine Unterart des Indizienbeweises ist der prima-facie- oder Anscheinsbeweis, wonach bei Geschehensabläufen, die nach der Lebenserfahrung typisch sind, derjenige den Gegenbeweis (nicht den Gegenteilsbeweis!) erbringen muß, der einen abweichenden Verlauf für sich in Anspruch nimmt (A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, § 72 III 1, S. 363; diese Verwandtschaft verkennt Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 602 mit Fußn. 70; zum Anscheinsbeweis unten S.169 f. 194 Verdecken der wahren Motivlage durch vorgeschützte Gründe: Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 601. 195 Mikat, 601 f. 196 Vgl. Mikat, 602 f.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

widrigkeit und damit auch hinsichtlich des Erblassermotivs obliegt zunächst demjenigen, der sich zu seinen Gunsten auf die Unwirksamkeit der Verfügung beruft197. In dem erwähnten Fall dürfte die Tatsache der antisemitischen Einstellung des Erblassers zu dem Schluß führen, daß das von ihm in der Verfügung genannte Motiv nur vorgeschoben ist. Dem Gegner der enterbten Tochter obliegt es daher, seinerseits Tatsachen zu beweisen, die ergeben, daß die Angabe des Motivs doch ehrlich gewesen sein könnte198 : etwa mündliche oder schriftliche Äußerungen des Erblassers außerhalb des Testaments in dem Sinne, die Heirat mit dem Juden habe er seiner Tochter zwar verziehen, aber daß sie sich in seinem Alter so wenig um ihn gekümmert habe, werde sie noch einmal bereuen. Lange199 hält es für unbefriedigend, daß der Erblasser, der den Grund seiner Verfügung offen angibt, mit ihr eher scheitern wird als derjenige, der ihn verschweigt. Lange will diesen Umstand offenbar ins Feld führen, um gegenüber der Klassifizierung letztwilliger Verfügungen aufgrund des Erblassermotivs allgemein Zurückhaltung zu empfehlen. Indessen sind Beweisschwierigkeiten in gewissen Fällen kein Argument dafür, die Beweismöglichkeit in anderen, wo sie nicht bestehen, von vornherein abzuschneiden. Der Aussicht, wenigstens einen der anstehenden Fälle "richtig" zu entscheiden, ist der Vorzug gegenüber einer zwar gleichmäßigen, aber materiell unbefriedigenden Behandlung zu geben. Im übrigen ist zu bedenken, daß die Angabe des Motivs in der Verfügung sich nicht nur im Sinne ihrer Unwirksamkeit auswirken, sondern auch ein wichtiges Indiz zugunsten ihrer Aufrechterhalten abgeben kann. Es kommt eben nicht nur darauf an, ob das Motiv angegeben wurde, sondern auch darauf, welches genannt ist. Fehlt in der Verfügung die Angabe des Motivs, so ist allerdings nicht zu bezweifeln, daß dieser Umstand ihrer Aufrechterhaltung zunächst günstiger ist; denn hier obliegt es dem Gegner desjenigen, für den die Verfügung von Vorteil ist, Tatsachen zu behaupten und notfalls zu beweisen, die für ein verwerfliches Motiv sprechen, also Äußerungen des Erblassers gegenüber Dritten sowie Umstände in bezug auf den "perVgl. unten S. 168 f. Sogenannter Gegenbeweis, nicht Gegenteilsbeweis. Es genügt, daß der von der Verfügung Begünstigte die Überzeugung des Richters erschüttert, von dem Indiz könne auf das Vorliegen der beweisbedürftigen Tatsache geschlossen werden (vgl. A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, 1963, § 72 II 2, S. 362; Beweislast und Beweiswürdigung im Zivilprozeß, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band I, 1966, 18 f.) Hier fallen allerdings Gegenbeweis und Gegenteilsbeweis praktisch zusammen; denn mit dem Beweis der im folgenden erwähnten Äußerung des Erblassers ist nicht nur der Schluß von der antisemitischen Einstellung des Erblassers auf sein Motiv durchkreuzt, sondern auch ein achtenswertes Motiv durch Indiz erwiesen. 199 Erbrecht, 1962, § 34 V 3 c, S. 378; zustimmend Mikat, 600. 197 198

IV. Das Motiv

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sönlichen Zuschnitt" des Erblassers. Allzugroß wird der praktische Unterschied zu den Fällen der ausdrücklichen Angabe des Motivs allerdings nun auch wieder nicht sein; denn ihre Beweggründe pflegen sich die Erblasser ja nicht gleichsam heimlich im stillen Kämmerlein zusammenzubrauen. Sie ergeben sich vielmehr in aller Regel aus ihren persönlichen Eigenarten und Beziehungen, die den Beteiligten wohlbekannt zu sein pflegen. Daß in allen diesen Fragen oft keine absolute Sicherheit, sondern nur ein mehr oder wenigerhoher Grad von Wahrscheinlichkeit zu erlangen ist, liegt an der Unzulänglichkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens200• Deswegen auf die Berücksichtigung innerer Tatbestandsmerkmale überhaupt zu verzichten, dürfte aber für die Idee des Rechts von größerem Nachteil sein als die Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen, welche die "Motiverforschung" aufwirft201 • Darüber wird noch näher im folgenden Abschnitt zu handeln sein.

c) Zulässigkeit und Nützlichkeit der Motiverforschung In dem Bestreben, die Sittenwidrigkeit erbrechtlicher Verfügungen völlig von dem subjektiven Tatbestandselement der Motivation des Erblassers zu lösen, ist Gernhuber2°2 dafür eingetreten, der Beurteilung nur den objektiven "Inhalt" der Geschäfte von Todes wegen zugrunde zu legen. Seine Darlegungen ergeben, daß er damit die Auswirkung der Verfügung auf andere Personen meint und die äußeren Umstände, auf deren Hintergrund sich diese Auswirkung entfaltet, also etwa die Benachteiligung der Ehefrau und der ehelichen Kinder zugunsten einer Geliebten des Erblassers (Nur-Sexualität oder "ernste" seelische Verbundenheit implizierende Zuneigung) und alle möglichen sonstigen Umstände, nicht aber die Motivierung des Erblassers durch diese Auswirkungen und sonstigen Umstände. Auf fruchtbaren Boden ist diese Ansicht Gernhubers beim KG gefallen203• Es erkennt zwar der Gesinnung des Erblassers entscheidende Bedeutung zu, soweit es ihm bei der Verfügung darum gegangen sei, die Geliebte für die geschlechtliche Hingabe zu belohnen oder sie zur Fortsetzung des Verhältnisses zu bestimmen. Im übrigen aber soll nur der "Inhalt" der Verfügung maßgebend sein, nämlich ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sie eine mit den guten Sitten nicht zu vereinbarende Mißachtung von Ehe und Familie enthalte. Mikat a.a.O. Vgl. Speckmann, JZ 1970, 402 f. FamRZ 1960, 326 ff. (334). FamRZ 1968, 670 (672). FamRZ 1968, 670 ff. Wiedergabe des Referats des BGH über die Entscheidung des KG in NJW 1970, 1273 (in BGHZ 53, 369 ff. insoweit nicht abgedruckt). 2oo

201 202 203 204

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Die aui Vorlage des KG-204 ergangene Entscheidung des BGH205 hat sich dieser Objektivierungstendenz nicht angeschlossen. Unter allerdings nicht ganz einsichtiger Berufung auf BGHZ 20, 71 (73 f.) stellt der BGH heraus, der entscheidende Grund für die Sittenwidrigkeit einer letztwilligen Verfügung als Rechtsgeschäfte liege in der "unredlichen" Gesinnung des Erblassers, wie sie in dem Rechtsgeschäft selbst zum Ausdruck kommt und eine Verwirklichung erstrebt2oe. Die Kritik der Ansicht Gernhubers muß sich zunächst daran orientieren, daß sie eine pointierte Reaktion auf die von ihm als unzulänglich empfundenen ETgebnisse der Praxis darstellen, welche die Gesinnung des Erblassers, wie hier ausgeführt, auf dem Hintergrund der Umstände und der Auswirkung der Verfügung für die Beurteilung heranzieht2117• Mit der Schelte des Ergebnisses ist indessen noch nichts über die Kausalität der "subjektiven" Methode gesagt. Warum aber gerade die Berücksichtigung der Motive des Erblassers zu den seiner Meinung nach ungerechtfertigten Ergebnissen führt, erläutert Gernhuber nicht. Man muß also fragen, ob das Ausgehen vom Motiv entbehrlich oder gar schädlich ist, wenn die Sittenwidrigkeit einer erbrechtliehen Verfügung ermittelt werden soll. Die Befragung der guten Sitten selbst wäre an sich der direkte Weg zur Beantwortung. Insoweit kann man nur konstatieren, daß das Sittengebot die Berücksichtigung des Motivs jedenfalls nicht verbietet. Von ihm eine Auskunft darüber zu verlangen, ob es dies gebietet, hieße die Anforderungen an seine Präzision zu hoch zu schrauben. Mit der Frage nach subjektiven und objektiven Tatbestandsmerkmalen legt man eine juristische Sonde an. Der in Kreisen juristischer Laien entstehende, meistens ungenügend rationell reflektierte Normkomplex der guten Sitten wäre damit überfordert. Mehr als das "man" dies oder jenes "nicht tut", gibt das Sittengebot nicht her. Wird etwas von den guten Sitten "Verbotenes" mit Hilfe eines Rechtsgeschäfts "getan", so ist die Analyse der Instrumentalfunktion des Rechtsgeschäfts füglieh Aufgabe des Juristen, an die er mit den Mitteln seiner Disziplin herangehen muß. Es handelt sich ja nicht um die Beurteilung des Verhaltens des Erblassers, das dem Rechtsgeschäft zugrunde liegt, sondern um das Geschäft selbst oder, wie der BGH208 in dem von ihm entschiedenen konkreten Fall sagte, nicht die Beziehungen des Erblassers zu seiner Geliebten, sondern allein die letztwillige Zuwendung ist auf ihre Vereinbarkeit mit den guten Sitten zu prüfen. BGHZ 53, 369 ff. Für das Ausgehen vom Motiv auch Husmann, NJW 1971, 409, da eine Zuwendung "grundsätzlich" den Charakter einer sittlich guten Tat habe. zo7 Vgl. Gemhuber, Fam.RZ 1960, 329 ff. 1!08 BGHZ 53, 375 f. Z05 Z06

IV. Das Motiv

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Aus einem anderen Grunde wendet sich Thilo Ramm2011 gegen die Erforschung der Motive des Erblasser. Er fürchtet, der Unsicherheitsfaktor sei bei diesen Ermittlungen zu groß, so daß stets eigene Motivationen des Richters einfließen werden. In der Tat ist diese Gefahr nicht gering zu achten210. Die tatsächlichen Schwierigkeiten der Ermittlung der Motive des Erblassers mögen den Richter nur allzuoft in Versuchung führen, seine eigenen Vorstellungen und Wünsche als Lückenfüller fungieren zu lassen. Solche Schwierigkeiten und Gefahren sind jedoch immer in Kauf zu nehmen, wo aus Indizien auf - reale oder irreale - innere Tatsachen geschlossen wird. Der Gewinn an individueller Gerechtigkeit dürfte indessen im großen und ganzen die in Rede stehenden Nachteile aufwiegen211 • Es handelt sich hier letzten Endes um die das ganze Recht durchziehende Antinomie zwischen Rechtssicherheit212 und Einzelfallgerechtigkeit. Das Erbrecht hat im großen und ganzen keine Austauschverhältnisse zum Gegenstand, die eine besonders harte Betonung der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes verlangten. Vollends bei letztwilligen Verfügungen darf niemand, auch kein Bedachter, auf die Erklärungen des Erblassers vertrauen213. Außerdem hält Thilo Ramm214 die Motiverforschung" im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des Individualbereichs der Persönlichkeit!15 für unzulässig. Es ist jedoch nicht .,seltsam", wie Thilo Ramm meint, daß die höchstrichterliche Rechtsprechung diese verfas2oe JZ 1970, 131. 21o Dagegen meint Speckmann, JZ 1970, 403, dem Gesichtspunkt der Berechenbarkeit der Entscheidungen, mit dem es im Zivilprozeß ohnehin nicht weit her sei, komme außerhalb formeller Vorschriften wenig 'Oberzeugungskraft zu. Diesen Argumenten aus der Sicht des Richters stellt interessanterweise Husmann, NJW 1971, 410, aus dem Blickwinkel des Rechtsberaters den Wunsch nach "Berechenbarkeit" entgegen - allerdings nicht in Hinsicht auf das Motiv des Erblassers, sondern auf die Ermittlung der zulässigen Quote bei "achtbaren" Motiven, wenn nahe Angehörige des Erblassers durch die Zuwendung beeinträchtigt werden. Gegen Husmann wiederum Speckmann, NJW 1971, 924 f.: Bei totaler Nichtigkeit wiegt die Gefahr der Regreßpflichtigkeit des Notars schwerer als bei Teilnichtigkeit. 211 In diesem Sinne Speckmann, JZ 1970, 402 f. 212 Im Sinne der Vorhersehbarkeit richterlicher Entscheidungen. 213 von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 48, 64 mit Lit. S. 64 Fußn. 267; Erbrecht I, 1971, 297 mit Lit. Fußn. 23. 214 JZ 1970, 131. 216 Wobei er es offen läßt, ob diese Rechtsfolge aus Art. 2 Abs. 1 oder Art. 1 GG herzuleiten ist oder dem von ihm in der Einführung in das Privatrecht I Allgemeiner Teil I, 1969, § 17 III 1 c, S. G 91 f., erläuterten "abgestuften Aufbau der Grundrechte, die dem Individuum je mehr Schutz gewähren, je privater der Bereich wird" (JZ 1970, 131 Fußn. 39). Die dem Richter im Eheverfahren seiner Ansicht nach eingeräumte "Sonderstellung" hält er nicht für "generalisierbar" (ebd. mit Fußn. 40). - Für die Zuläs:ligkeit der Erforschung der "Intimsphäre" Welser, Jur. Blätter 1973, 9. 218 JZ 1970, 131.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

sungsrechtliche Konzeption ignoriert. Er sieht die Motiverforschung zu einseitig als Mittel, um erbrechtliche Verfügungen (teilweise) zu Fall zu bringen, und erhofft sich von ihrer Ablehnung eine dem (unverkürzten) Bestand der sogenannten Geliebten-Testamente günstige Zurückhaltung der Gerichte. Diese Hoffnung ist indessen unberechtigt, die sich die aus einer Objektivierung im Sinne Ramms resultierende Härtegenauso gut gegen den Erblasser und die Bedachten auswirken kann. Das Eindringen der Gerichte in die "Intimsphäre" ist also nicht notwendig als "feindlich" gegenüber dem Bestand der Verfügung zu klassifizieren. Die von ihm aufgestellte Behauptung des verfassungsrechtlichen Verbots von Nachforschungen in der Intimsphäre hält im übrigen keiner kritischen Prüfung stand. Zunächst kann man die Position des Richters in Ehescheidungs- und Aufhebungsverfahren nicht mit Ramm218 als Sonderstellung bezeichnen. Die Intimsphäre ist Gegenstand einer Vielzahl gerichtlicher Verfahren, wobei nur an weite Gebiete des Strafrechts217, an das Sozialrecht, an Vormundschaftssachen und zivilrechtliehe Schadensersatzprozesse wegen der Verletzung des sogenannten allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder wegen Körperschäden erinnert sei. Die Erforschung der Intimsphäre durchzieht weite Gebiete des Verfahrensrechts und kann ohne schwerwiegende Nachteile hinsichtlich der materiellen Gerechtigkeit nicht preisgegeben werden. Eine solche Preisgabe würde deshalb sogar gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes verstoßen. Abhilfe gegen die natürlich auch nicht zu leugnenden Nachteile des Eindringens in die Intimsphäre müssen vom Verfahrensrecht herkommen, d. h. es sind die nötigen gesetzlichen Vorkehrungen zu treffen, damit nur diejenigen Personen Einblicke in die Intimsphäre erhalten, die für die Entscheidung darauf angewiesen sind. Eine Einschränkung des Öffentlichkeitsprinzips steht hier an erster Stelle. Im übrigen ist die Unzulässigkeit des Eindringens in die Intimsphäre kein spezifisches Argument gegen die Motivforschung. Auch objektive Tatsachen, die für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit erheblich sein könnten, würden ihr nämlich angehören. Wenn man somit die Unzulässigkeit der Motiverforschung aus keinem Gesichtspunkt begründen kann, ist nach ihrer Entbehrlichkeit oder -von der anderen Seite betrachtet- Nützlichkeit zu fragen. Gernhuber selbst läßt den Leser insoweit im Stich, wenn er ausführt21S, erst "weitere und größere Anstrengungen" könnten "vom Programm zum detaillierten Entwurf219 führen, dessen Ausführung die Rechtsprechung m Man denke an die Verfahren wegen §§ 153 ff. StGB, die vielen Eheprozessen nachfolgen! 21s JZ 1960, 335. 219 Gemeint ist ein Gesetzentwurf.

IV. Das Motiv

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in ihren grundsätzlich legitimen Teilen nicht übersehen kann, ohne sich bei ihr beruhigen zu dürfen". Inwiefern die geforderte Unruhe gerade durch die Objektivierung zu konkreten Ergebnissen gelangen soll, bleibt jedoch ungesagt. Mit der inhaltlichen Konkretisierung des Objektivierungspostulats hat sich hingegen Thilo Ramml!20 befaßt. Er kommt zu der einleuchtenden Feststellung, auch über die von Gernhuber für das "Geliebten-Testament" zur Debatte gestellten Ausgangspunkte wie Dankbarkeitspflicht, Zukunftssicherung, Entschädigung für gebrachte Opfer werde "sich trefflich streiten lassen". Über das Ziel schießt jedenfalls seine Deduktion, man werde dann auch eine Beischlafsremuneration in Betracht ziehen müssen221 ; denn Maßstab auch objektiver Beurteilungskriterien müssen die guten Sitten bleiben. Unrichtig ist es ferner, wenn Ramm voraussagt, die Objektivierung würde künftig zur richterlichen Konstruktion von Testamenten führen, wenn der Erblasser die Geliebte zugunsten der Ehefrau im Stich lasse222 ; denn § 138 Abs.1 BGB führt stets nur zur Vernichtung erbrechtlicher Verfügungen, nie aber zu ihrer Neubegründung. Schließlich überzeugt die Ansicht Ramms nicht, die Objektivierung würde wegen der berechtigten Interessen einer Geliebten im Ergebnis sogar zu einer Benachteiligung der Ehefrau anstatt ihrer Sicherung führen. Vielmehr wird in der Mehrzahl der Fälle sicherlich das Interesse der Ehefrau überwiegen und die Geliebte ihre Vorteile dem Erblasserwillen verdanken. Jedoch sind dies Spekulationen, die ebenso unsicher sind wie die objektiven Beurteilungskriterien. Beizupflichten ist allein der Feststellung, daß die objektiven Beurteilungskriterien jedenfalls höchst vage sind. Hinzukommt, daß sie nicht die guten Sitten ersetzen dürfen, sondern sich aus ihnen ergeben müssen. Aus all dem geht hervor, daß in der Verbannung des Motivs jedenfalls kein Fortschritt zu erblicken wäre. Stellt das Motiv auch kein Allheilmittel gegen die genannten Schwierigkeiten dar- es ist ja immer auf dem Hintergrund der "Umstände" und der Auswirkung zu bewerten - , so erweist es sich doch als nützliches oder sogar unentbehrliches Instrument zur Selektion angesichts der Vielfalt der Umstände, die eine Verfügung von Todes wegen begleiten. Man denke sich etwa den Fall, daß ein Erblasser seine Tochter enterbt, die mit einem Afrikaner verheiratet ist. Diese Enterbung verstößt möglicherweise gegen die Befugnis zur freien Wahl des Ehepartners (Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes) und gegen den Gleichheitssatz des JZ 1970, 131. Vgl. Speckmann, JZ 1970, 402. m Vgl. Speckmann ebd.

22o 221

10 Thielmann

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Art. 3 des Grundgesetzes223• Mit dem objektiven Umstand der Ehe ist für eine Beurteilung nichts anzufangen. Allein deswegen ist die Tochter nicht gegen Enterbung gefeit. Es wäre sonst möglich, allein durch Eingehen der Ehe mit dem Angehörigen einer ethnischen, religiösen oder sonstwie bestimmten Menschengruppe dem Erblasser die Möglichkeit der Enterbung zu nehmen. Irgendeiner solchen Gruppe gehört schließlich jeder an, und das würde zu dem absurden Ergebnis führen, daß überhaupt keine Enterbungen mehr möglich wären. Anders, wenn man das Motiv des Erblassers berücksichtigt. Es kann in einer Abneigung gegen die Angehörigen afrikanischer Rassen oder Ehen von Weißen mit ihnen liegen. Hier liegt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 oder Art. 3 des Grundgesetzes durchaus nahe. Anders, wenn der Erblasser gar keine rassischen Vorurteile hatte und die Enterbung etwa dadurch motiviert war, daß die Tochter dem Erblasser in einer schwierigen Lebenslage nicht geholfen hatte oder der Erblasser glaubte, einem anderen wirtschaftlich schlecht stehenden Abkömmling im Gegensatz zu der durch ihre Ehe "gutsituierten" Tochter helfen zu sollen224• Erst die Berücksichtigung des Motivs gestattet hier eine sinnvolle Beschränkung der Bewertungsgrundlage. Natürlich liegen die Dinge nicht immer so kraß. Vor allem beim sogenannten Geliebten-Testament fächert sich das Motiv des Erblassers oft so weit auf, daß eine Kongruenz von Motiv und tatsächlichen Umständen einschließlich der Auswirkungen der Verfügung naherückt. Der Erblasser bedenkt die Gesamtsituation und trifft dann entsprechend seinen Zu- und Abneigungen die Anordnung. Die Schwierigkeit besteht hier nicht in der Selektion einzelner Beziehungen zwischen Motiven und Fakten, sondern in der Entwirrung des Motivbündels225 • Auch wenn das Motiv in solchen Fällen stärker konzentriert in Erscheinung tritt, der Erblasser etwa nur die "Belohnung" der Geliebten "im Kopf hatte" und an seine eheliche Familie gar keine Gedanken verschwendete, verlangt die Rückwirkung des Motivs auf das Schicksal der Angehörigen dessen Beachtung. Anders als im Falle der mit dem Afrikaner verheirateten Tochter besteht hier nämlich ein vom Bewertungsmaßstab gute Sitten hergestellter innerer Zusammenhang zwischen Motiv und außerhalb seiner liegenden "Umständen". Auch hier kann aber die "Motiverforschung" zu einer Eingrenzung führen, wenn sich etwa feststellen läßt, daß der Erblasser die "Geliebte" bestimmt nicht wegen der geschlechtlichen Hingabe, sondern wegen der treusorgenden Pflege sowie der persönlichen und finanziellen Opfer bedacht hat. 223 Näheres unten S. 254 ff., 314 f. Auf die selektive Funktion des Motivs stellt auch ab (ohne diese Wendung zu gebrauchen) BAG NJW 1973, 77 (78). 2u Natürlich können auch mehrere Motive "gebündelt" vorliegen. Darüber sogleich im nächsten Abschnitt (S. 148 ff.). 2211 Darüber sogleich S. 148 ff.

IV. Das Motiv

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Allerdings ist wenigstens theoretisch auch das Gegenteil nicht ausgeschlossen. Die Pflege und die Opfer ließen ihn kalt. Nur die sexuelle Seite schien ihm der Belohnung wert. Das führt zur Nichtigkeit der Verfügung. Ein sicherlich hart erscheinendes Ergebnis. Es ist indessen nicht Aufgabe des Richters, Belohnungen zu konstruieren, die der Testator unterlassen hat. Das Resultat wäre nicht weniger hart, hätte nicht einmal die sexuelle Komponente den Erblasser zu einer Zuwendung veranlaßt. Das Unterbleiben einer als gerecht empfundenen Belohnung ist nicht der "Motiverforschung" anzulasten, sondern dem hartherzigen Erblasser- allenfalls noch dem Gesetz, daß nur die Vernichtung, nicht aber die Errichtung von erbrechtliehen Verfügungenaufgrund der guten Sitten kennt2" . Ohne den Willen des Erblassers gelangen nur gesetzliche Erben in den Genuß von Vorteilen aus dem Nachlaß227• Wie nützlich das Abstellen aruf das Motiv auch beim "GeliebtenTestament" sein kann, zeigt der Fall, daß der Erblasser die Geliebte als Testamentsvollstreckerio "über" seine Ehefrau setzt228 • Dies kann geschehen, um die Ehefrau zu erniedrigen, aber ausnahmsweise auch, um ihr bei der schwierigen Verwaltung des Nachlasses eine fachkundige Hilfe zu gewähren. Nach alledem bietet die "Motiverforschung" zwar nicht immer, aber doch oft Vorteile bei der Selektion der Beurteilungsgrundlage. Schädlich ist sie nicht. Sie führt nicht zur Ausuferung, sondern zur Eingrenzung der maßgebenden Fakten, ohne dabei sachgerechte Umstände auszuschließen. Sie ist gewiß keine Patentlösung aller Schwierigkeiten, aber der Ansatz der Untersuchung am Motiv stellt ein "heuristisches Prinzip" dar, dem die Theorie der Objektivierung nichts Gleichwertiges entgegensetzt. Daß daneben auch objektive Gesichtspunkte unentbehrlich sind, soll deswegen nicht in Abrede gestellt werden.

d) Teilweise Sittenwidrigkeit Aus der Wechselbeziehung zwischen Motiv und "Hinter·g rund", auf dem es sich auswirkt, ergibt sich auch, daß eine Verfügung wegen ihres 226 Anders war es während der Geltung der ErbregelungsVO vom 4. 10. 1944 (RGBl. I, 242, mit DurchführungsVO vom gleichen Tage). Abgedruckt bei Gernhuber, FamRZ 1960, 327 Fußn. 6. Dazu Gernhuber a.a.O.; Thilo Ramm, JZ 1970, 130 Fußn. 34. Aufgehoben durch das KontrollratsG Nr. 37 vom 30. 10. 1946. Nach der ErbregelungsVO konnte die gesetzliche Erbfolge naher Angehöriger in Anlehnung an den (irrealen) Willen des Erblassers unter Berücksichtigung des "gesunden Volksempfindens" vom Richter korrigiert werden. Frühere nationalsozialistische Vorschläge, dem Richter positive erbrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen: Lange, ZAkDR 1935, 358; Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 92ff. 227 Vgl. Thilo Ramm, JZ 1970, 131. 228 BGH LM Nr. 2 zu § 138 (Cd) = FamRZ 1954, 195 (198); von Lübtow, Erbrecht I, 311; vgl. unten S. 243 f.

10°

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konkreten Ausmaßes bei dem gegebenen Motiv gegen die guten Sitten verstoßen kann. Sie ist dann so, wie sie realiter vorliegt, sittenwidrig. Es stellt sich aber die Frage, ob die Rechtsfolge totaler Nichtigkeit229 dahin zu beschränken ist, daß der Teil gültig bleibt, der mit den guten Sitten nicht in Widerspruch steht. Es handelt sich dabei also um die Reduzierung der Höhe einer Zuwendung, Enterbung oder auch eines Testamentswiderrufs, sei es nach Erbquoten oder - bei Vermächtnissen und Auflagen - wertmäßiger Höhe. Hierbei geht es natürlich darum, ob die guten Sitten nicht nur über das "Ob", sondern auch das "Wieviel" einer erbrechtliehen Verfügung zu entscheiden in der Lage sind, und es braucht nicht die Gefahr betont zu werden, daß an die Stelle der guten Sitten des § 138 Abs. 1 BGB nur allzuleicht eine ad hoc als billig empfundene Dezision tritt; denn die "guten Sitten" sind ihrer Eigenart nach nun einmal nicht kasuistisch abgefaßte Normen, sondern generelle Wertvorstellungen, die Einzelumstände zumal in ihrer Auswirkung auf das Ausmaß eines Rechtsgeschäfts selten präzise erfassen können. Immerhin sind Fälle, in denen eine solche präzise Erfassung möglich ist, nicht ausgeschlossen, so wenn eine Zuwendung etwa teils zu Lasten naher Angehöriger geht und deren Würde verletzt, teils zu Lasten entfernter Verwandter, deren Würde durch die Verfügung nicht beeinträchtigt wird230• Einzelheiten dieses Problems hängen indessen so eng mit der Frage der Teilnichtigkeit zusammen, daß es geraten erscheint, sich hier mit diesen Andeutungen zu begnügen und die Erörterung dem Abschnitt über die Rechtsfolgen231 der Sittenwidrigkeit (die als solche bei "Übermaßverfügungen" jedenfalls bejaht werden muß) vorzubehalten. Eine Umdeutung der wegen ihres Motivs nichtigen Verfügung in der Weise, daß das verwerfliche Motiv gegen ein billigenswertes "ausgewechselt" wird, ist theoretisch nicht ausgeschlossen, wird aber praktisch selten zum Erfolg führen; denn eine säuberlich aufgebaute Kette realer und irrealer "Eventualmotive" dürfte kaum jemals zu ermitteln sein232. 3. Kumulation von Motiven Noch häufiger als bei zweckgerichteten Verfügungen von Todes wegen wird man bei den nur wegen ihrer Motivierung möglicherweise sitten~ Die guten Sitten dienen hier also als Maßstab für die objektive Beschränkung der Rechtsfolgen, nicht als Korrektur des Motivs. Dieses kann nur im Sonderfall der "Motivbündelung" durch ein auf die achtbaren Teilmotive beschränktes "reduziert" (genauer: ersetzt) werden. Vgl. dazu den folgenden Abschnitt (S. 148 ff.) sowie unten S. 186 ff. z:~o Vgl. etwa BGHZ 53, 369 ff. Im einzelnen dazu unten S . 173 ff. und s. 232, 268 ff. 231 Unten S. 173 ff. 2112 Vgl. S . 188 f .

IV. Das Motiv

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widrigen mehrere Faktoren zu berücksichtigen haben, oder wie man es auszudrücken pflegt, ein "Bündel" von Motiven2311• Die einzelnen Motive können in ihrem sittlichen Gehalt ebenso verschieden sein wie in ihrem Gewicht für die Entscheidung des Erblassers. Lange234 bringt dafür das instruktive Beispiel des Testators, der seine Haushälterin unter Zurücksetzung naher Angehöriger wegen ihrer geschlechtlichen Hingabe, aber auch für die treue Haushaltsführung und ihr seelisches Verständnis gegenüber dem Erblasser belohnt sowie seine Angehörigen für ihre Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit bestraft. Lange231 schlägt vor, i.n solchen Fällen entweder eine Motivenbilanz zu ziehen und bei Überschuß der billigenswerten Beweggründe die Verfügung voll aufrechtzuerhalten oder unter Abwägung der achtenswerten und der verwerflichen Motive zu einer teilweisen Gültigkeit der Verfügung zu gelangen. Er entscheidet nicht, welcher Weg richtig ist. Müller-Freienfels234 verlangt, aus dem Motivbündel Schwerpunkte herauszuarbeiten, die dann maßgeblich sein, also offenbar die Verfügung in ihrem vollen Umfang tragen oder vernichten sollen2117 • Die Schwierigkeit, im Einzelfall gewissen Motiv-"Fäden" des Bündels ausschlaggebende Bedeutung beizulegen, führt in der Rechtsprechung allerdings meistens zu dem "salomonischen" Ausweg der Teilung der Verfügung238 • Demgegenüber hat Gernhuber239 im Anschluß an Bendix240 233 Gernhuber, FamRZ 1960, 330; Lange, Erbrecht, § 34 V 2 b, S . 376; im gleichen Sinne Müller- Freienfels, JZ 1968, 446; von Lübtow, Erbrecht I, s. 309 f. 234 a.a.O.; ebenso von Lübtow, Erbrecht I, 309 f. :23$ s. 376 f. 236 JZ 1968, 446. :237 Für Entscheidung nach dem "überwiegenden" Beweggrund auch Bartholomeyczik, ErbrechtS, 1968, § 23 I 2 f, S. 117, bei "nicht zerlegbaren" Motivbündeln (bei "zerlegbaren" für Teilung) (in der 9. Aufl. 1971 - vgl. S. 122 f. - gekürzt). Für Aufrechterhaltung mit Rücksicht auf die "Gesamtmotivation", ohne auf die Frage der Teilung einzugehen, auch A. Blomeyer, Beweislast und Beweiswürdigung im Zivil- und Verwaltungsprozeß, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band I (Gutachten), 1966, 37. 238 So bei "Gleichwertigkeit" achtbarer und verwerflicher Motive RG SeuffArch. 95, 17 (19). Für Teilung auch RG Gruch. 70, 548 ff. = RG Warn. 1934 Nr. 169 (verkürzt in JZ 1929, 33 f.); OGHZ 1, 249 (252 f.); BGHZ 23, 76 (78 f.) und die Vorinstanz OLG Oldenburg VersR 1955, 513 (Lebensversicherung); BGH FamRZ 154, 195 ff. = LM Nr. 2 zu § 138 (Cd); OLG Düsseldorf FamRZ 1970, 105 (106, 107). Für völlige Nichtigkeit bei "gleichwertigen" Umständen hingegen RGZ 166, 395 (397, 399). In der Literatur für Teilung Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 45; Mikat, Festschrüt Nipperdey I, 1965, 602 f. mit Fußn. 72; Bartholomeyczik, Erbrechte, 1971, § 23 I 2 f, S. 123, bei "zerlegbaren" Motivbündeln (ohne näher zu sagen, wann sie "zerlegbar" sind); von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 309 f. Es taucht dann zuweilen die Formel auf, der überwiegende Beweggrund entscheide darüber, ob die Verfügung überhaupt aufrechterhalten bleibe, die anderen über das Maß der Teilung (RG Gruch. a.a.O.; Schmitz a.a.O.; in

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

betont, eine Zerlegung der Erblassermotive sei in der Regel nicht möglich; "sein%41 Schöpfer durchdringt mit seinen Absichten in der Regel a.lle Teile in ungeschiedener Verbindung". Auch das KG hat eine!42 Differenzierung bezüglich der Intensität einzelner Motive bei "einheitlich motivierter Handlung" für fragwürdig erklärt und der BGH24' ist ihm darin gefolgt. Eine "teilweise" Sittenwidrigkeit setzt natürlich stets voraus, daß sich die Verfügung rein quantitativ244 reduzieren läßt und durch die Absonderung eines Teils nicht ihre Qualität verändert, wie dies etwa bei einer Bedingung der Fall wäre2411. Bei erbrechtliehen Verfügungen ist eine solche Teilbarkeit meistens zu bejahen246, so bei der Erbeinsetzung, der Enterbung, bei der Zuwendung einzelner teilbarer Gegenstände!47. diesem Sinne auch OLG DUsseldorf a.a.O.). Genauer in diesem Punkt OGHZ 1, 249 (252 f.). Das Gericht berücksichtigt für die Aufrechterhaltung der Verfügung überhaupt zutreffend zunächst den irrealen Erblasserwillen (Prüfung, ob die Zuwendung als Belohnung für geleistete Dienste erfolgt wäre). Auch BGHZ 53, 369 (376 f.) geht davon aus, daß eine auf dem sexuellen und dem übrigen, nicht anstößigen Bereich der Beziehungen beruhende Erbeinsetzung der Geliebten des Erblassers nicht schlechthin sittenwidrig ist. Das Gericht gelangt sodann zur Teilaufrechterhaltung nicht über eine Abwägung der Teilmotive, sondern im Hinblick auf die verschiedenen Personen, auf die sich die Erbeinsetzung auswirkt (Ehefrau des Erblassers einerseits, Geschwister andererseits). Einer solchen Teilung der Verfügung nach objektiven Gesichtspunkten ist im Prinzip (wenn auch nicht im konkreten Fall) zuzustimmen; vgl. unten S. 178 f. Vgl. zu der ganzen Problematik die übersieht bei Gemhuber, FamRZ 1960, 330. Er gelangt zur Möglichkeit der Teilung schließlich über die von ihm vertretene Objektivierung des Tatbestandes des § 138 Abs. 1 BGB und die damit verbundene Eliminierung der Motive als beachtlicher Tatbestandsmerkmale (a.a.O., S. 334). Zu seiner Objektivierungstheorie oben S. 141 ff. Zur Teilaufrechterhaltung im übrigen unten S. 173 ff. 239 FamRZ 1960, 339. Im gleichen Sinne Husmann, NJW 1971, 408; Weiser, Jur. Blätter 1973, 10. Wenn Husmann jedoch meint, § 48 Abs. 2 TestG habe eine Zerlegung des Erblasserwillens gestattet, so geht dies fehl. Unmögliches kann kein Gesetzgeber anordnen. § 48 Abs. 2 TestG betrifft deshalb nur die Aufteilung der Rechtsfolgen. Dazu unten S. 174. 240 JW 1929, 33. 241 Nämlich des Testaments. 24: Bei BGH NJW 1970, 1273 (in BGHZ 53, 369 ff. nicht abgedruckt) . 243 BGHZ 53, 369 (380 f.). 244 Hier, bei der teilweisen Sittenwidrigkeit, gilt entsprechend, was später (S. 177 f.) noch für die Teilnichtigkeit auszuführen sein wird. Vgl. deshalb die Angaben in Fußn. 32 auf 8.177 f. 245 Vgl. Larenz, Allgemeiner Teil!, 1972, § 23 II b, 8. 384; im übrigen unten 8. 191. 246 Gernhuber, FamRZ 1960, 330: Sie gehört zum Kreis "möglicher Rechtsfolgen"; 8peckmann, JZ 1970, 402. Vgl. im übrigen unten Fußn. 33 auf 8.178. 247 Wegen analoger Anwendung des § 753 BGB bei unteilbaren Gegenständen siehe Fußn. 33 auf 8 . 178 a. E.

IV. Das Motiv

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Unter der Herrschaft des § 48 Abs. 2 TestGJ!48 war eine solche Teilung aufgrund richterlicher Dezision248a statthaftz49 ; denn es hieß dort ausdrücklich, eine Verfügung ist nichtig, "soweit sie ... verstößt" 1150• Nach geltendem Recht, also§ 138 Abs.1 BGB, ist eine Aufteilung der Sittenwidrigkeit nicht schlechthin ausgeschlossen. Sie setzt indessen voraus, daß sich realiter einzelnen Motivsträngen korrespondierende Anteile der Verfügung zuordnen lassen!51, also etwa eruiert werden kann, daß von dem der Haushälterin zugewendeten Vermächtnis in Höhe von insgesamt 20 000,- DM 5000,- DM Belohnung für die geschlechtliche Hingabe und 15 000,- DM für die Haushaltsführung und den seelischen Zuspruch sind. Die Absurdität dieses Beispiels zeigt schon, wie selten solche Fälle möglicher realer Motivseparation sein müssen. Praktisch ganz überwiegend wird sich der ehrliche Beurteiler eines Motivbündels damit abfinden müssen, daß die Stränge, was die Wirklichkeit anlangt, unentwirrbar sind, zumal sich der Erblasser meistens nicht der Mühe unterzogen haben wird, seine Motivation gleichsam selbstkritisch auf ihre Bestandteile hin zu analysieren. Hier würde jeder Versuch, einzelne "Fäden" aus dem Motivknäuel herauszuziehen, eine Veränderung der Realitäten bedeuten. In der Wirklichkeit beruht die Verfügung, wie sie nun einmal vorliegt, auf einem oder mehreren sittenwidrigen Motiven. Sie muß deshalb als sittenwidrig angesehen werdenuz. Eine "Rettung" mit Hilfe ihrer achtbaren Motivelemente wird dadurch nicht ausgeschlossen. Sie findet jedoch im Bereich des Irrealen statt. Der Ansatz dafür ist die Rechtsfigur der Umdeutung. Es ist zu fragen, in welchem Umfang der Erblasser ohne den verwerflichen Motivanteil verfügt hätte (denn realiter hat er es nun einmal nicht getan). Anders als in den Fällen der Teilnichtigkeit bei einheitlichem Motiv oder einheitlich zu bewertendem Motivbündel wird hier also nicht erst nach den Rechtsfolgen des Tatbestandes gefragt, sondern bereits der Tatbestand - durch Umdeutung - korrigiert253• Dieses hier mögliche 248 Zu der Vorschrift oben S. 42 f. 248a Als richterliche "Gestaltung"

bezeichnet die Teilung bei verschiedenen Motiven Weiser, Jur. Blätter 1973, 10. %49 Gernhuber, FamRZ 1960, 330 Fußn. 33. Vgl. dazu auch unten bei der Erörterung der Frage der Teilnichtigkeit S. 173 f. 250 Nach § 48 Abs. 2 TestG ergangen ist die Entscheidung RGZ 168, 177 (183). 2:51 Für Teilung in solchen Fällen zu Recht Bartholomeyczik, Erbrechts, 1971, § 23 I 2 f, S. 122 f. w Für Gültigkeit beim "Oberschießen" achtbarer Motivanteile Bartholomeyczik, Erbrechte, 1971, § 23 I 2 f, S. 122. 253 Hier geht es zunächst darum, die Sittenwidrigkeit bei Motivbündeln festzustellen und den Weg zur Eliminierung der sittenwidrigen Bestandteile aufzuzeigen. Einzelheiten zur Umdeutung unten bei der Erörterung der Rechtsfolgen sittenwidriger Verfügungen von Todes wegen (S.186 ff.).

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Ansetzen schon am Tatbestand und nicht erst an den Rechtsfolgen rechtfertigt sich daraus, daß der Wille2114 des Erblassers das primär gestaltende Prinzip der erbrechtliehen Verfügungen darstellt. Die guten Sitten sind nur sekundär zu beachtende Schranke für seine Gestaltungsfreiheit und daher erst heranzuziehen, nachdem jeweils die vom Willen abhängigen Möglichkeiten der Rechtsfolgen erschöpft sind. Natürlich muß der irreale Wille jeweils wieder am Maßstab der guten Sitten gemessen werden. Sie müssen also die Verfügung wenigstens teilweise gestatten. Verdient die anhand des irrealen Willens ermittelte Verfügung den Vorwurf der Sittenwidrigkeit nur wegen ihrer hinsichtlich verschiedener Teile unterschiedlichen Auswirkungen, so ist nunmehr auf den Gesichtspunkt der teilweisen Sittenwidrigkeit zurückzugreifen, d. h. es kommt eine Teilnichtigkeit in Betrach1;251l. Das ist dann aber keine Frage der Motivbündelung mehr, sondern der teilweisen Nichtigkeit bei einheitlichem Motiv oder einheitlich zu bewertendem MotivbündeL Hingegen darf man beim Fehlschlagen der Ermittlung eines irrealen Willens nun nicht etwa die Grundsätze der teilweisen Sittenwidrigkeit und Nichtigkeit auf die von dem teilweise sittenwidrigen Motivbündel getragene Verfügung anwenden256 ; denn die Eliminierung des sittenwidrigen Elements ist bei Unmöglichkeit der Ermittlung eines irrealen, achtbaren Motivs oder Motivbündels nun einmal fehlgeschlagen. Die realiter untrennbar mit den anderen "verwobenen" verwerflichen Motivanteile belasten die Verfügung weiter mit dem Makel der Sittenwidrigkeit. Festzuhalten ist jedenfalls, daß die auf den ersten Blick vielleicht sehr hart erscheinende völlige Nichtigkeit bei teilweise sittenwidrigen Motivbündeln durch die Umdeutungsmöglichkeit gemildert wird. Dieses Ergebnis nähert sich der Auffassung, die eine Teilung der Verfügung nach objektiven Maßstäben befürwortet. Gebilligt werden kann diese Auffassung allerdings nicht; denn sie vermag der Gesamtverfügung nicht den Makel der sie in allen Teilen durchdringenden Nichtigkeit zu nehmen. Solange man am Motiv als dem primären, den Vorwurf der Sittenwidrigkeit auslösenden Faktor festhält257 , geht eine Teilung anhand des Maßstabes der guten Sitten nicht an. Eine weitere Milderung der zunächst mit Rücksicht auf einen verwerflichen "Motivstrang" eintretenden Nichtigkeit ergibt sich in der Praxis aus der Verteilung der Beweislast. Für die Nichtigkeit als Ausnahmetatbestandist derjenige beweispflichtig, der sich auf sie beruft:58, 254 Reale oder, wo dieser versagt, der irreale. Vgl. von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 68; Erbrecht I, 1971, 304. 2ö5 Dazu oben S. 150 und unten S. 178 f. 256 Vgl. Gernhuber, FamRZ 1960, 330. 2ö7 Anders Gernhuber, FamRZ 1960, 326 ff. 258 Vgl. unten S. 168 f.

IV. Das Motiv

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also der Gegner des Bedachten259• Er muß mithin das Vorhandensein des verwerflichen Motivs dartun und beweisen. Davon können ihn tatsächliche Vermutungen entlasten. Grade für einen besonders bedeutsamen Teilletztwilliger Verfügungen, nämlich die sogenannten Geliebten-Testamente, hat die neueste Rechtsprechung des BGif!60 aber nunmehr zutreffend die entscheidende Wende gegen die tatsächliche Vermutung der Sittenwidrigkeit und damit zugunsten der Bedachten vollzogen. 4. Kumulation von Zwe•en und Motiven

So wie mehrere Zwecke und mehrere Motive für sich kombiniert werden können, ist es auch denkbar, daß eine Verfügung von Zwecken und Motiven gemeinsam bestimmt wird. Solche kumulierten Zwecke und Motive können nebeneinanderstehen, so wenn der Erblasser etwa seine Geliebte für ihre treue Pflege, aber auch für ihre geschlechtliche Hingabe belohnen möchte, außerdem aber durch eine entsprechende Bedingung die Freizügigkeit der Bedachten beschränkt!61 • Hier kann ausnahmsweise wieder eine Zerlegung der Verfügung in sittenwidrige und einwandfreie Teile möglich sein. In aller Regel durchzieht das sittenwidrige Element (oder durchziehen die sittenwidrigen Elemente) aber auch in solchen Fällen die gesamte Verfügung, so daß eine Separation ausscheidet und das Geschäft in seiner Gesamtheit sittenwidrig ist.

Eine Teilung scheidet auch dort aus, wo Zwecke und Motive nicht nebeneinander existieren, sondern einander nachgeordnet sind, nämlich dergestalt, daß hinter dem verfolgten Zweck ein Motiv steht, das sich in der Zweckerreichung nicht erschöpft. So wollte der Erblasser in der Entscheidung KG OLG 13, 317 (318) die Bedachte durch die Beschränkung der Freizügigkeit vor den Gefahren der Großstadt bewahren262. In allen Fällen der Kombination von Zwecken und Motiven kann der Zweck- durch eine entsprechende Bedingung- zum Inhalt der Verfügung gemacht werden. Notwendig ist das aber nicht. Die Beurteilung der Sittenwidrigkeit der ganzen Verfügung hängt davon nicht ab. Wie bei den Zweck- und Motivbündeln macht bei - regelmäßig fehlender Zerlegbarkeit der Verfügung auch bei den aus Zwecken und Motiven Bei angeblich sittenwidriger bloßer Enterbung der Enterbte. BGHZ 53, 369 ff., nachdem BGH NJW 1968, 932 ff. den kraß entgegengesetzten Standpunkt vertreten hatte, der dann schon in BGHZ 52, 17 ff. gemildert wurde. Neben der Stellungnahme in der Beweisfrage ist die in diesen Entscheidungen bedeutsame Wandlung in der Frage der Bewertung der seelischen Verbundenheit der Partner eines ehebrecherischen "Verhältnisses" hervorzuheben. Im einzelnen dazu unten S. 227 ff. 261 Wie in KG OLG 13, 317 (318). 262 Vgl. oben S. 128. 259 260

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

bestehenden "Bündeln" ein sittenwidriger Faktor die gesamte Verfügung sittenwidrig. Ihre "Aufrechterhaltung" (genauer: Ersetzung) mit Hilfe der Umdeutung ist auch hier wieder der Ausweg.

V. Der für die Beurteilung maßgebende Zeitpunkt Zwischen der Errichtung einer Verfügung und ihrem Wirksamwerden mit dem Erbfall verstreicht meistens eine mehr oder weniger lange Zeitspanne. Sie kann sich sogar noch verlängern, wenn es um den Eintritt einer Bedingung geht, unter welche die Verfügung gestellt war, oder um die Beurteilung eines vom Bedachten angeblich begangenen Verstoßes gegen eine mit der Zuwendung verknüpfte Auflage oder sonstige Verpflichtung. In diesem Zeitraum können sich sowohl die tatsächlichen Verhältnisse ändern als auch die Moralanschauungen. 1. Änderun1 der tatsädilldlen Verhältnisse

Was zunächst die tatsächlichen Verhältnisse anlangt, so können sie vor allem zur Änderung des Beweggrundes der Verfügung führen, und zwar zur Auswechselung eines sittenwidrigen Motivs gegen ein einwandfreies oder auch umgekehrt. Beispiele%f3 : Der Erblasser setzt seine Geliebte zur Belohnung für die geschlechtliche Hingabe im Rahmen eines erbrechtliehen Verhältnisses zur Erbin ein. Nach dem Tode seiner Ehefrau heiratet er sie. Oder: Der Erblasser setzt ein Vermächtnis zur Förderung einer jugendlichen Sängerin aus. Später beginnt der Erblasser mit ihr ein ehebrecherisches Verhältnis, ·u nd das Motiv der Zuwendung ändert sich; nicht mehr das künstlerische Talent findet der Erblasser jetzt noch förderungswürdig, wohl aber die geschlechtliche Beziehung. Das Problem, ob für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines Testaments der Zeitpunkt seiner Errichtung oder der des Erbfalls entscheiden soll, ist in Literatur und Rechtsprechung ausgiebig behandelt worden264• Die jetzt herrschende Ansicht2165 hält den Zeitpunkt der l!63

312 f.

Nach Lange, Erbrecht, § 34 V 5, S. 379; von Lübtow, Erbrecht I, 1971,

!64 Vgl. vor allem die Darstellungen Langes und von Lübtows a.a.O. sowie Bartholomeyczik, ErbrechtS, 1971, § 23 I 2 e, 8.120 ff.; Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, § 18, 6, S. 378 f. 2&5 So bereits Motive V, 154 (für Vermächtnisse); jetzt vor allem BGHZ 20, 71 (73 ff.); BGH LM Nr.ll zu § 138 (Cd); BGH FarnRZ 1969, 323 (325) (= BGHZ 52, 17 ff., dort aber insoweit nicht abgedruckt); außerdem OLG Celle NJW 1956, 265; KG FamRZ 1967, 226 (227); OLG Köln OLGZ 1968, 489 (490); Rechenmacher, NJW 1956, 866; Schumacher, FarnRZ 1956, 262; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil IIlli, 1960, § 191 III 1, 8.1170; Hefermehl in Soergel- Siebertlo, 1967, Randnr. 28 zu § 138; Erman- Hense', Vorbem. 4 c vor § 2064; Palandt- Keidelst, Anm. A 1 b aa zu § 2077; 2 a zu § 2171; Birk,

V. Der maßgebende Zeitpunkt

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Errichtung für maßgebend. Für den Fall der späteren Änderung der Verhältnisse von der Sittenwidrigkeit zur Unbedenklichkeit hilft dem Erblasser nach dieser Rechtsansicht die Möglichkeit der Neuerrichtung eines Testaments mit gleichem Inhaltl!66. Zu hoffen bleibt nur, daß der Erblasser rechtzeitig diesbezüglichen Rechtsrat einholt; denn ein juristischer Laie dürfte in der Regel der Meinung sein, mit den Verhältnissen sei auch sein Testament "in Ordnung gebracht". Entwickeln sich die Verhältnisse wie im Fall der Sängerin umgekehrt vom Guten zum Bösen, so korrigiert die herrschende Lehre das Ergebnis mit dem Einwand unzulässiger Rechtsausübunge&T. Schon deswegen trifft das angeblich für diese Ansicht sprechende Argument der klaren Festlegung des Zeitpunktes der Würdigung288 nur halb zu. Im übrigen ist der Erbfall kein weniger klarer Zeitpunkt als die Testamentserrichtung. Im Gegenteil werden sich die länger zurückliegenden Ereignisse oft schlechter aufklären lassen als die jüngeren, beim Erbfall obwaltenden Verhältnisse. Für die Beurteilung anband der zur Zeit des Erbfalls herrschenden Umstände spricht die vergleichende Heranziehung des § 2171 BGB269 , wonach es beim Vermächtnis einer verbotenen oder unmöglichen Leistung auf den Zeitpunkt des Erbfalls ankommt!7°. Natürlich konnte dieser Hinweis von den Anhängern der Gegenmeinung mit dem Bemerken abgetan werden, § 2171 BGB sei als Ausnahmeregel keiner analogen Anwendung fähig271 • Die Vorschrift ergibt auch nicht mehr, FamRZ 1964, 120; Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 593 Fußn. 46; Steffen, DRiZ 1970, 349; Jeder, Eheähnliche Verhältnisse und die Stellung der "Geliebten" im Spiegel der deutschen Rechtsprechung, Diss. Kiel 1971, 140 ff. (144). 268 So BGHZ 20, 71 (75); OLG Celle NJW 1956, 265; Schumacher, FamRZ 1956, 262; Hefermehl in Soergel- Siebertlo, Randnr. 28 zu § 138; vgl. Lange, Flume, von Lübtow a.a.O.; als sinnlos bezeichnet das Verlangen der Wiederholung Gernhuber, FamRZ 1960, 335. 267 BGHZ 20, 71 (75); Rechenmacher ebd.; Schumacher ebd.; Hefermehl in Soergel- Siebert ebd. (a. E.); Erman- Hense ebd.; Palandt- Keidel ebd.; vgl. Lange ebd.; von Lübtow, Erbrecht I, 313. 1!68 Vgl. Lange ebd.; Gernhuber, FamRZ 1960, 334 f. 269 Bartholomeyczik, Erbrecht9, § 23 I 2 e, S. 122; Gernhuber, FamRZ 1960, 335; von Lübtow, Erbrecht I, 312. !70 Dies entgegen der römischen ,regula Catoniana', wonach es anders als in § 2171 BGB auf die Umstände bei Testamentserrichtung ankam (Celsus D. 34. 7, 1 pr. [lib. 34 dig.]: Catoniana regula sie definit, quod, si testamenti factl tempore decessit testator, inutile foret, id legatum quandocumque decesserit, non valere); vgl. dazu Kaser, Röm. Privatrecht 12, 1971, 754 f. Die Motive haben sich ausdrücklich gegen die Regel ausgesprochen (Mot. V, 154 ff.). Der Digestentitel ,De regula Catoniana' (D. 34, 7) handelt vor allem davon, daß die regula meistens nicht stimmt (Seidl, Römische Rechtsgeschichte und römisches Zivilprozeßrecht3, 1971, Randnr. 128). · 211 · Rechenmacher, NJW 1956, 866, wendet sich mit diesem Argument gegen eine "ausdehnende Interpretation". Daß eine Auslegung des § 2171 nicht weiter hilft, dürfte angesichts des Wortlauts der Vorschrift nicht zu bezweifeln sein. Es geht nur um eine Analogie!

156

Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

als daß jedenfalls keine logisch zwingenden Gründe dafür bestehen, gerade auf den Zeitpunkt der Testamentserrichtung abzustellen272• Die Frage Analogie oder Gegenschluß kann indessen nicht mit Hilfe dieser formalen Kategorien allein entschieden werden, vielmehr muß eine wertende Abwägung hinzutreten. Das äußerliche Kriterium einer angeblich besseren Möglichkeit der Ermittlung der zur Zeit der Testamentserrichtung herrschenden Verhältnisse scheidet - wie schon ausgeführt - in Wahrheit aus. Um der Lösung näher zu kommen, muß man sich zunächst über die Funktionen der Zeitpunkte Errichtung und Erbfall für den Tatbestand der Verfügungen von Todes wegen klar werden. Zu unterscheiden sind der rechtsgeschäftliche Tatbestand der Verfügungen von Todes wegen und der Erbfall273 . Der rechtsgeschäftliche Tatbestand wird wie bei Geschäften unter Lebenden noch unter Lebenden hergestellt274 • Er ist gültig vollendet, wenn die Errichtung unter Beachtung der dafür maßgebenden Regeln vorgenommen wurde!75 • Dazu gehört die Einhaltung der Formvorschriften und der Bestimmungen über die Testierfähigkeit sowie die Abwesenheit von gesetzlich erheblichen Willensmängeln276. Diese Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit überhaupt von einem vollkommenen rechtsgeschäftliehen Tatbestand gesprochen werden kann. Er allein äußert jedoch noch nicht die rechtliche Wirkung. Abgesehen von der Sanktion durch die Rechtsordnung muß zur Entfaltung der Hauptwirkung, d. h. dem Wirksamwerden der Zuwendungen, Enterbungen usw., noch der Erbfall277 hinzutreten. Er ist eine weitere, nicht mit dem rechtsgeschäftliehen Tatbestand zu vermengende Wirksamkeitsvoraussetzung278, die vor allem für den Zeitpunkt des Eintritts der genannten Hauptwirkungen entscheidend ist. Beim gewöhnlichen Testament278 gibt es überhaupt nur Wirkungen von diesem Zeitpunkt ab; vorher fehlen sie gänzlich. Man muß sich daher fragen, ob die Nichtigkeit wegen Sittenverstoßes das Zustandekommen bereits des rechtsgeschäftliehen Tatbestandes hindert oder aber erst den Eintritt der Wirkungen. Das RG28° hat sich diese 272 von Lübtow, Erbrecht I, 312 f., sieht sie als logisches Resultat des Umstandes an, daß letztwillige Verfügungen erst mit dem Erbfall wirksam werden. 273 Tod des Erblassers (§§ 1922, 2176 BGB) sowie Überleben des Bedachten (§§ 1923, 2160): von Lübtow, Erbrecht I, 99 f. (mit weiteren Nachweisen),

235f.

von Lübtow ebd. von Lübtow ebd. 276 Vgl. von Lübtow, Erbrecht I, 305 ff. 277 Also der Tod des Erblassers (§§ 1922, 2176 BGB) und das Überleben des Bedachten (§§ 1923, 2160 BGB): von Lübtow, Erbrecht I, 99 f. 278 von Lübtow ebd. mit Nachweisen. 279 Zum Erbvertrag und zum gemeinschaftlichen Testament sogleich. 280 DR 1943, 91 (92 f.). 274

211

V. Der maßgebende Zeitpunkt

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Frage offenbar zunächst nicht gestellt, wollte aber trotzdem den Erbfall als den für die Beurteilung maßgebenden Zeitpunkt anerkennen. Im Anschluß an Guggumos281 hat es daher den rechtsgeschäftliehen Errichtungsakt als einen Dauertatbestand konstruiert, der erst mit dem Erbfall abgeschlossen wird. Es liegt auf der Hand, daß diese Konstruktion einer Testamentserrichtung in Permanenz nicht nur gekünstelt ist, sondern einfach unwahr282• Mit dem Errichtungsakt hat der Erblasser alles seinerseits Erforderliche getan, und er braucht danach nur noch passiv den Erbfall abzuwarten. Der Wirkungseintritt ist nichts, was noch von seinem Willen oder seinen Handlungen abhängt%83 • Die Vorstellung von einem bis zu seinem Tode ständig Tag und Nacht dem Geschäft des Testierens obliegenden Erblasser ist einfach verfehlt. Der Vorwurf des Sittenverstoßes trifft natürlich nicht nur die Auswirkung eines sittenwidriges Testaments, sondern auch den Errichtungsakt. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß die Rechtsordnung ihre Sanktion auf den Errichtungsakt erstreckt. Vom rein logischen Standpunkt aus könnte sie dies, womit allerdings nichts über die rechtspolitische Zweckmäßigkeit einer solchen Sanktion ausgesagt wäre. Die Reaktion des Rechts wäre dann zwar keine "Gesinnungsstrafe"%84, wohl aber Strafe für eine Handlung ohne Rücksicht auf ihren Erfolg. Man muß bezweifeln, ob das Recht und insbesondere das Privatrecht zu einer solchen "Bestrafung" überhaupt dienstbar gemacht werden sollte. Die gerade in der Nichtigkeit bestehende Sanktion ist indessen so sehr an der Wirkung des Geschäfts orientiert, daß sie als "Strafe" für das Handeln als solches ausscheidet285• Anders als im Wege der "Strafe" DFG 1943, 61. Zu Recht gegen diese Konstruktion BGHZ 20, 71 (74); Rechenmacher, NJW 1956, 866; Bartholomeyczik, Erbrechts, § 23 I 2 e, S.l16 (in die 9. Aufl. nicht übernommen). 283 Der frivole Gedanke an einen Selbstmord des Erblassers muß hier außer Betracht bleiben. 284 Denn das Bewußtsein der Sittenwidrigkeit ist nach hier vertretener Ansicht (unten S. 167) für die Nichtigkeit keine Voraussetzung. Deshalb stimmt es nur annähernd, wenn Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 7, S. 379 meint, es würde dann ein Urteil über das sittliche Handeln und die Person des rechtsgeschäftlich Handelnden gefällt. 285 Vgl. Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 2, S. 368 und § 18, 3, S. 373, der betont, daß es auf die Sittenwidrigkeit der durch das Rechtsgeschäft getroffenen Regelung ankommt und nicht auf die des rechtsgeschäftliehen Handelns. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch RG SeuffArch. 49, 1894, Nr. 238 (S. 403). Danach genügt die verwerfliche Gesinnung allein nicht, um die Unwirksamkeit wegen Sittenverstoßes zu begründen. Das gilt entsprechend für das Handeln. Erst recht darf die Nichtigkeit nicht als "Strafe" für den Lebenswandel des Erblassers mißbraucht werden. So betont BGHZ 53, 369 (376) zutreffend, nicht die Beziehungen des Erblassers zu seiner Geliebten seien vom Gericht zu beurteilen, sondern die Verteilung seines Vermögens durch die letztwillige Verfügung. Bedenklich daher jedenfalls in der Begründung OGHZ 3, 158 (163 f.), wo das Gericht vor allem an dem "polygamen Lebenswandel" des Erblassers Anstoß nimmt, um seine Ver281 282

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

könnte wegen eines Sittenverstoßes an den unabhängig von seinen Wirkungen betrachteten rechtsgeschäftliehen Tatbestand nicht angeknüpft werden; denntrotzdes Verstoßes ist der rechtsgeschäftliche Akt ja nicht unvollkommen; es kommt im Gegenteil ein Umstand hinzu, der trotz Vollständigkeit des rechtsgeschäftliehen Tatbestandes den Eintritt der Wirkungen verhindern soll. Es ist nicht so, daß die Sittlichkeit eines Geschäfts Wirksamkeitsvoraussetzung wäre, sondern im Gegenteil hindert der Sittenverstoß die Gültigkeit. Das wertneutrale Geschäft ist wirksam! Die "wirkungsspezifische" Struktur der Nichtigkeit wegen Sittenverstoßes führt also zu der Erkenntnis, daß es sich insoweit um einen Faktor handelt, der sich nicht auf den rechtsgeschäftliehen Tatbestand als solchen, sondern nur auf die Wirkungen des Geschäfts bezieht. Dabei spielt es keine Rolle, ob man beim Tatbestand der sittenwidrigen Verfügung auf die Gesinnung abstellt, oder ihn- wie Gernhubez-288 willrein "objektiviert"287• Auch die Gesinnung des Erblassers ist unbeachtlich, solange sie sich nicht in Rechtswirkungen manifestiert; denn nicht sein Verhalten, sondern das Rechtsgeschäft ist es, das den Vorwurf des Sittenverstoßes verdienen muß288. Es ist deshalb der Ansicht den Vorzug zu geben, wonach es für die Beurteilung des Testaments in Ansehung der Sittenwidrigkeit auf die Umstände im Zeitpunkt des Erbfalls ankommt289 • fügung für unwirksam zu erklären. - Gegen erbrechtliche "Bestrafung" auch Weiser, Jur. Blätter 1973, 8. 286 FamRZ 1960, 334 f. 287 Gernhuber a.a.O. hält diesen Unterschied für ausschlaggebend. 288 BGHZ 53, 369 (375 f.). 289 SoRG DR 1943, 91 (92 f.); 1944, 491 (495); Vogels- Seybold', 1949, Anm. 5 zu § 48 TestG; Greiser, DFG 1939, 54; Böhme, DNotZ 1940, 103; von BremenKühne, NJW 1956, 265 f.; Staudinger- Seybold, Randnr. 6 zu §§ 2074-2076; Lange, IherJahrb. 82, 1932, 19; Allgemeiner Teilt3, 1970, §53 I 3 c, S. 330; Erbrecht, § 34 V 5 b, S. 379; Krüger- Nieland im RGKRtt, 1959, Anm. 4 zu § 138; Bartholomeyczik, Festschrift zum 150jährigen Bestehen des OLG Zweibrücken, 1969, 26 ff.; 67 f.; Erbrecht•, § 23 I 2 e, S.120 ff.; Gaul, FamRZ 1961, 502; Keuk, Der Erblasserwille post testamentum, 1965, 21 ff.; Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 6, S. 379; Breithaupt, NJW 1968, 933; von Lübtow, Erbrecht I, 312 f. - In der älteren Literatur ebenso bereits Strohal, Das deutsche Erbrecht IS, 1903, § 30 II, S. 214 f.; Demburg- Engelmann, Deutsches Erbrecht', 1911, § 75 V, S. 217 (beide für Vermächtnisse). Hier zeigt sich, daß das Neuere nicht immer das Bessere sein muß und frühere Zeiten manchmal "liberaler" dachten, als dies heute üblich ist. - Wie hier im Ergebnis auch Gemhuber, FamRZ 1960, 326, 334 f., aufgrund seiner These, wonach es für die Sittenwidrigkeit nicht auf die Gesinnung des Erblassers ankommt (dazu näher oben S. 141 ff.). Im gleichen Sinne Simshäuser, Zur Sittenwidrigkeit der Geliebten-Testamente, 1971, 36 ff. Es überzeugt jedoch nicht, wenn Gernhuber und Simshäuser gerade darauf abstellen; denn die Gesinnung des Erblassers braucht die Rechtsordnung nicht zu interessieren, solange sie sich nicht in Rechtsfolgen auswirkt.

V. Der maßgebende Zeitpunkt

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Auch beim Erbvertrag will das RG29° auf den Erbfall als den entscheidenden Zeitpunkt abstellen. Dieses Ergebnis würde mit der - verfehlten - Konstruktion des in Permanenz bis zum Erbfall fortdauernden Errichtungsakts harmonieren. Wenn man- zutreffend- auf den Wirkungseintritt abstellt, so ist allerdings zu beachten, daß der Erbvertrag den Erblasser schon vor dem Erbfall bindet, nämlich dergestalt, daß er sich nur beim Vorliegen der Voraussetzungen der§§ 2281-2283 BGB (Anfechtung), 2293-2295 BGB (Rücktritt) oder durch Aufhebung gemäß §§ 2290-2292 BGB von ihm lösen kann. Entgegenstehende spätere Verfügungen von Todes wegen sind nach Maßgabe des § 2289 BGB unwirksam. Es ist nicht zu bezweifeln, daß ein nach den Verhältnissen der Zeit seiner Errichtung sittenwidriger Erbvertrag eine solche Bindung nicht hervorrufen kann2D1 • Alle Wirkungen des Erbvertrages einschließlich der Bindung des Erblassers werden aber erst beim Erbfall akut. Erst in diesem Zeitpunkt realisiert sich die Rechtsfolge des § 2289 BGB. Auch beim Erbvertrag ist deshalb auf den Erbfall abzustellen1 n . Beim gemeinschaftlichen Testament sind, abgesehen von den üblichen Wirkungen der darin enthaltenen Erbeinsetzungen, Vermächtnisse, Auflagen usw., zwei zusätzliche, dieser Art der Verfügung von Todes wegen spezifische Wirkungen zu beachten. Einmal entfalten korrespektive Verfügungen die eigentümliche Wirkung des § 2271 Abs. 1 BGB (Abhängigkeit des Bestandes der einen von der anderen Verfügung), zum anderen tritt bei ihnen gemäß § 2271 Abs. 2 BGB mit dem Tode des erstversterbenden Ehegatten eine Bindung hinsichtlich der Verfügungen von Todes wegen des überlebenden ein. Die Wirkung gemäß § 2171 Abs.1 entfaltet sich beim ersten Erbfall, das heißt beim Tode des erstversterbenden Ehegatten, die Wirkung gemäß § 2171 Abs. 2 beim zweiten Erbfall. Man muß daher verlangen, daß das korrespektive gemeinzoo DR 1944, 494 (495). Zustimmend Vogels- Seybold4, Anm. 5 zu § 48 TestG; Flume, Allgemeiner Teil II, 1965, 379; Bartholomeyczik, Festschrift zum 150jährigen Bestehen des OLG Zweibrücken, 1969, 63, 68; Erbrecht9, 1971, § 23 I 2 e, S. 121; unentschieden noch in ErbrechtS, 1968, § 23 I 2 e, S. 116. 291 Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 6, S. 379. 2s2 von Lübtow, Erbrecht I, 443 Fußn. 1. Folgt man dieser Deduktion nicht, so muß man den nach den Verhältnissen bei seiner Errichtung sittenwidrigen Erbvertrag zunächst für gänzlich nichtig halten. Es geht nicht an, die Bindungswirkung wegen der Sittenwidrigkeit vom Gesamtgeschäft abzuspalten. Eine solche Teilnichtigkeit wegen einzelner Wirkungen eines Rechtsgeschäfts kennt das Gesetz nicht. Es kommt jedoch eine Umdeutung der in dem Erbvertrag enthaltenen Erklärungen des Erblassers gemäß § 140 BGB in Betracht. Es ist nämlich anzunehmen, daß er in den meisten Fällen bei Kenntnis der Nichtigkeit des Erbvertrages wenigstens ein Testament entsprechenden Inhalts gewollt hätte. Dieses Testament ist dann nach den Verhältnissen zu beurteilen, die beim Erbfall herrschten, und erlangt dadurch die Chance, anders als der Erbvertrag dem Urteil der Sittenwidrigkeit zu entgehen. So würde man also im Ergebnis doch zu einer "Abspaltung" der Bindungswirkung gelangen, was dann eine Bewertung nach den beim Tode des Erblassers vorliegenden Umständen gestattet.

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

schaftliehe Testament sowohl im Hinblick auf die Verhältnisse beim ersten Erbfall als auch auf die beim zweiten mit den guten Sitten vereinbar ist. Es kann vorkommen, daß, für sich betrachtet, nur eine der beiden korrespektiven Verfügungen gegen die guten Sitten verstößt. § 2271 Abs. 1 BGB führt dann jedoch zur Nichtigkeit auch der anderen. Die Möglichkeit der Umdeutung dieser anderen Verfügung in eine nicht wechselbezügliche ist theoretisch zwar gegeben. Meistens werden die Ehegatten aber auf die Korrespektivität entscheidenden Wert legen, so daß die Konstruktion zweier voneinander unabhängiger Verfügungen mit dem Inhalt der wechselbezüglichen!93 in der Regel ausscheidetz!'4 • Beim gegenseitigen Testament ohne korrespektive (wenn auch mit wechselseitigen)295 Verfügungen tritt die vorstehend geschilderte besondere Problematik nicht auf. Dort ist die Sittenwidrigkeit einer jeden Verfügung nach den Umständen zur Zeit des Erbfalls zu beurteilen, für den sie getroffen wurde. Beim gemeinschaftlichen Erbvertrag wird nach § 2298 Abs. 1 und 2 BGB die Korrespektivität vermutet296• Es tritt also im Zweifel die gleiche Situation wie beim korrespektiven gemeinschaftlichen Testament auf. Auch hier kommt es dann also darauf an, daß die Verfügungen sowohl beim Tode des ersten Vertragsschließenden als auch bei dem des zweiten den guten Sitten nicht widersprechen. Beim nicht-korrespektiven, "bloßen" gemeinschaftlichen (wenn auch "wechselseitigen")297 Erbvertrag (§ 2298 Abs. 3 BGB) ist die Sittenwidrigkeit einer jeden Verfügung wieder nach den Umständen zur Zeit des Erbfalls zu beurteilen, für den sie getroffen wurde. Ein Hinausschieben der Beurteilung auf einen jenseits des Erbfalls liegenden Zeitpunkt muß auch erfolgen, wenn sich die Auswirkung einer Bedingung298 erst später feststellen läßt. So ist beispielsweise der 293 Gegen Umdeutung eines von Nichtehegatten errichteten gemeinschaftlichen Testaments schlechthin RGZ 87, 33 (35); KG Seufffil. 73, 195 (197 f.); KG JFG 14, 160 (162); KG DR 1942, 1745. - Diese Ansicht überzeugt nicht. Genügen die Erklärungen beider Ehegatten oder die eines von ihnen den Formerfordernissen eines Einzeltestaments (aber natürlich nur dann!), so muß eine Umdeutung bei entsprechendem irrealen Willen des Erklärenden zugelassen werden; denn alle Voraussetzungen des § 140 BGB sind erfüllt. Der Hinweis in RGZ 87, 35 auf das angebliche Verbot des § 2265 BGB ist nicht stichhaltig, da Testamente nicht wie etwa der Schiedsvertrag (§ 1027 Abs. 1 S. 1, 2. Halbsatz ZPO) in besonderer Urkunde errichtet zu werden brauchen. Näheres zur Umdeutung bei von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 482 ff. 294 Abgesehen natürlich gerade von der Frage der Korresspektivität. 295 Dazu von Lübtow, Erbrecht I, 481 f. 296 Diese Vermutung gilt nicht nur unter besonderen Voraussetzungen (wie dies aber beim gemeinschaftlichen Testament der Fall ist). Vgl. von Lübtow, Erbrecht I, 469. 297 Zu den Unterschieden zwischen den einzelnen Arten gemeinschaftlicher Erbverträge von Lübtow, Erbrecht I, 468 f. 298 Entsprechendes gilt für die gemäß § 2078 Abs. 2 "sanktionierte" Erwartung, die Auflage und eine gemäß § 139 BGB mit der Zuwendung ver-

V. Der maßgebende Zeitpunkt

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Bedachte zur Zeit des Erbfalls erst 12 Jahre alt. Die Zuwendung steht unter der Bedingung, daß er eine gewisse weibliche PersonA heiratet; denn der Erblasser möchte, daß "Geld zu Geld kommt". Hier kann sich die Bedingung erst auswirken, wenn der Bedachte ehemündig geworden ist (§ 1 EheG). Erst dann stellt sich heraus, ob die Bedingung einen sittenwidrigen Druck auf den Bedachten ausübt; denn es ist ja durchaus denkbar, daß er die A ohnehin heiraten möchte (und sie ihn). Hier ist nicht nur der Eintritt der Bedingung in der Schwebe, sondern auch die Sittenwidrigkeit der Verfügung. Ihre Gültigkeit hängt von zwei Kriterien ab, die aber wieder untereinander zusammenhängen. Für die Wirksamkeit ist nicht nur nötig, daß der Bedachte die A heiratet, sondern auch, daß er es unabhängig von dem aus der Zuwendung resultierenden Druck tut. Das ist also nicht genau der Tatbestand des§ 2105 Abs. 1 BGB. Trotzdem bestehen keine Bedenken, die Bestimmung - analog - zur Regelung des Schwebezustandes heranzuziehen. Zusammenfassend ist also zu sagen, daß für die Beurteilung des Sittenverstoßes prinzipiell die Verhältnisse beim Erbfall entscheidend sind. Wenn sich eine Bedingung oder sonstige Zwecksanktion erst nach dem Erbfall auswirkt, ist dieser noch spätere Zeitpunkt entscheidend. 2. Änderung der slttUdlen Anschauungen

Von den faktischen Umständen, aus denen sich- meistens im Zusammenwirken mit den Gedanken des Erblassers - die Sittenwidrigkeit ergibt, hat man die ethischen Maßstäbe zu unterscheiden, die zur Beurteilung der Verfügung heranzuziehen sind. Es handelt sich dabei einmal um die einschlägigen Werte des Grundrechtskataloges, zum anderen um die "herrschenden", nach § 138 Abs.1 BGB maßgebenden Moralan:schauungen. Ebenso wie bei den tatsächlichen Verhältnissen kann sich im Laufe der Zeit, von der Errichtung der Verfügung über den Erbfall bis zu einer notwendig werdenden gerichtlichen Entscheidung, ein Wandel vollziehen. Die Grundrechtswerte sind zwar im Gesetz positiviert. Dennoch ist eine Entwicklung in der Interpretation der Grundrechtsartikel nicht auszuschließen, die in verschiedenen Zeitpunkten zu unterschiedlichen Resultaten führt. Bei den "herrschenden" Anschauungen über die guten Sitten liegt die Möglichkeit der Wandlung auf der Hand299. bundene Verpflichtung.- Für bedingte Verfügungen galt auch im römischen Recht die ,regula Catoniana' (s. oben Fußn. 270); nicht: Papinian D. 35, 7, 3 (lib. 15 quaest.); Ulpian D. 35, 7, 4 (lib. 10 ad Sab.) und D. 30, 41, 2 (lib. 21 ad Sab.). 299 Beispiel Langes, IherJahrb. 82, 1932, 19, und Erbrecht, § 34 V 5 b, Fußn. 9 auf S. 379: "Das 1910 ausgesetzte Vermächtnis, 1000 RM dem, der als erster auf dem Berliner Schloß die Fahne der Republik hißt, ist 1920 gültig." - Die 11 Thielmann

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Die Rechtsprechung des RG300 vertrat ebenso, wie dies heute die überwiegende Meinung der Literatur8°1 tut, die Auffassung, es komme auf den Zeitpunkt der richterlichen Entscheidung an. Lange302 begründet dies mit der Selbstachtung der Gerichte. W estermann303 wendet sich gegen die herrschende Ansicht mit der Begründung, die in der Erklärung eines Geschäfts als sittenwidrig liegende moralische Verurteilung könne nicht rückwirkend auf eine geänderte Anschauung begründet werden, "Praktischen Bedürfnissen" möchte er mit dem Einwand unzulässiger Rechtsausübung (§ 242 BGB) begegnen3oc, ein Weg, der ihm wegen der möglichen Flexibilität gegenüber der starren Nichtigkeitsfolge des § 138 BGB auch vorteilhafter erscheint. Die Selbstachtung der Gerichte ist kein stichhaltiges Argument. Entscheidend ist vielmehr, daß die Gerichte dem Gesetz unterworfen sind. Die Praktikabilität eines Resultates mag zwar bei Zweifeln den Ausschlag in eine bestimmte Richtung zu geben, reicht aber selbstverständlich als Begründung allein nicht aus, zumal mit ihrer Zitierung nichts darüber gesagt ist, woran sich der Begriff der Praktikabilität zu orientieren hat. Er stellt in Wahrheit eine Leerformel dar. Daß eine "moralische Verurteilung" nicht "rückwirkend" auf eine spätere Änderung der Anschauungen gestützt werden darf, ist für sich genommen richtig. Das Argument verkennt jedoch, daß es sich bei der Nichtigkeit von Rechtsgeschäften im allgemeinen und der Verfügungen von Todes wegen im besonderen nicht um die moralische Verurteilung, um die "Bestrafung" von Personen handelt, sondern um die Verhinderung der Auswirkung sittenwidrigen Handelns. Zur Lösung der Frage ist zunächst zwischen der Realisierung der Grundrechtswerte und derjenigen der "herrschenden" Moralanschauungen zu differenzieren. Bei jenen handelt es sich - ganz abgesehen Motive V, 21, hatten die Beantwortung der Frage, nach welchem Zeitpunkt das Erfordernis der Erlaubtheit des Inhalts bei bedingten Rechtsgeschäften zu beurteilen sei, ausdrücklich der Rechtswissenschaft überlassen. soo RG Warn. 1934 Nr. 91 (S. 195); RGZ 150, 1 (4). Dagegen ist dieses Prinzip in RGZ 153, 294 ff. und 161, 153 (157) nur mit Einschränkungen verwirklicht: Ist ein Geschäft einmal wirksam zustande gekommen, so dürfe an seine Vernichtung nur mit "Vorsicht und Zurückhaltung" herangegangen werden. 301 Krüger- Nieland im RGRK11, 1959, Anm. 3 zu § 138; Johannsen, Anm. zu BGH LM Nr. 6 zu § 138 (Cd); Lange, Allgemeiner TeillS, 1970, §53 I 3 c, S. 330; Erbrecht, § 34 V 5 b, S. 379; Bartholomeyczik, ErbrechtS, 1971, § 23 I 2 e, S.120; von Lübtow, Erbrecht I, 313. - Ebenso wohl auch Gernhuber, FamRZ 1960, 335 aufgrund seiner These von der Objektivierung des Tatbestandes des § 138 Abs. 1. 302 Erbrecht ebd. 303 Erman- Westermann', 1967, Anm. 8 zu § 138; zustimmend Rechenmacher, NJW 1956, 866. - Im gleichen Sinne Palandt- Heinrichs3t, 1972, Anm. 1 c zu § 138. 304 Unter Berufung auf KG DJ 1943, 375 (betraf eine im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr für tragbar gehaltene Wertsicherungsklausel).

V. Der maßgebende Zeitpunkt

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von einem möglichen oder auch zu leugnenden überpositiven naturrechtlichen Ursprung dieser Rechte - um positivierte Rechtswerte. Ihre Interpretation kann zwar in der Gerichtspraxis schwanken, nicht aber ihr Gehalt an sich. Die Werte selbst bleiben stets absolut, nur ihre Realisierung in der juristischen Praxis ist wegen der Unzulänglichkeit menschlichen Erkenntnisvermögens Schwankungen unterworfen. Durch ein frühere höchstrichterliche Rechtsprechung oder in der Literatur vertretene Ansicht wird kein Gericht gehindert, zu einer - wirklich oder vermeintlich- besseren Erkenntnis zu gelangen. Das gilt auch für "unbestimmte" Rechtsbegriffe, wie sie sich in den allgemein, oft generalklauselartig gefaßten Grundrechtsartikeln finden. Das bedeutet, daß die Gerichte über den konkreten Inhalt der Grundrechtswerte in der Tat nach der im Zeitpunkt der Entscheidung von ihnen erreichten Auffassung urteilen. Damit ist jedoch noch nicht das endgültige Urteil über den Bestand der jeweiligen Verfügung von Todes wegen gesprochen. Es kann nämlich sein, daß dem Erblasser etwa aufgrund einer zur Zeit der Errichtung üblichen Rechtsprechung das Bewußtsein der Sittenwidrigkeit fehlte oder aber er in dem Bewußtsein einer strengen Rechtsprechung testierte in der Hoffnung, diese werde sich bis zu dem Zeitpunkt, wo sich seine Hinterbliebenen um den Nachlaß streiten, "liberalisieren". Es geht also um die Rolle des Bewußtseins der Sittenwidrigkeit beim Erblasser. Sie gehört zum Komplex des subjektiven Tatbestandes der sittenwidrigen Verfügung von Todes wegen, dessen Besonderheiten einem späteren Abschnitt vorbehalten bleiben müssen305• Nur soviel sei hier vorweggenommen: Der "Versuch" eines sittenwidrigen Geschäfts ist unschädlich. Es tangiert die Wirksamkeit der Verfügung deshalb nicht, wenn der Erblasser sie für sittenwidrig hielt, sie es aber in Wahrheit, d. h. nach jetziger Auffassung des Gerichts, nicht ist. Im umgekehrten Fall, wo der Erblasser die vom Gericht für sittenwidrig erachtete Verfügung nicht für sittenwidrig hielt, ist sie jedoch unwirksam; denn nach der hier vertretenen Ansicht kommt es nur auf die Verhinderung der sittenwidrigen Auswirkung eines Geschäfts an, nicht aber auf die "Bestrafung" der verwerflichen Gesinnung von Erblassern. Das Bewußtsein der Sittenwidrigkeit beim Erblasser ist also keine Voraussetzung für die Nichtigkeit der Verfügung306. Nach alledem bestätigt sich, soweit es um die Grundrechtswerte geht, das Ergebnis der herrschenden Meinung. Bei einem Wandel der Anschauungen ist die Auffassung des Gerichts im Zeitpunkt der Entscheidung maßgebend. 305

sos 11'

Unten S. 167. Näheres unten S. 167.

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Teil li. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Diese Erwägungen kann man indessen nicht unbesehen auf die außerhalb der Grundrechtswerte zu berücksichtigenden Fälle von Sittenverstößen übertragen. Es geht hier nicht um idealerweise unwandelbare Rechtswerte, die nicht selbst, sondern nur in der jeweils praktisch möglichen Interpretation Schwankungen wegen der Unvollkommenheit allen menschlichen Erkenntnisvermögens unterliegen. Hier wird der Richter vielmehr auf außerhalb des Rechts liegende, nicht spezifisch rechtlichen Stabilisierungsmomenten unterworfene Wertvorstellungen verwiesen und damit auch auf den ihr eigentümlichen Wandel. Der Richter bestimmt nicht selbst, was sittenwidrig ist, sondern hat seiner Entscheidung die "herrschenden" Wertvorstellungen zugrundezulegen307• Deshalb spielt hier die von Lange308 herbeizitierte "Selbstachtung" des Gerichts schon gar keine Rolle. Die "herrschenden" Wertvorstellungen sind Fakten309 und deshalb nicht anders zu beurteilen wie die sonstigen objektiven und subjektiven Merkmale, die über die Sittenwidrigkeit einer Verfügung von Todes wegen entscheiden. Es geht also auch hier wieder darum, ob die Verfügung eine sittenwidrige Wirkung entfaltet. Das gewöhnliche Testament hat Rechtswirkung erst mit dem Erbfall. Stellt sich diese Wirkung im Zeitpunkt ihres Eintritts als sittenwidrig dar, so ist das Testament nichtig. Eine nachträgliche Wiederbelebung, wenn sich eine laxere Auffassung durchsetzt, scheidet aus; denn es kann nicht aus der Welt geschafft werden, daß das Testament einmal eine sittenwidrige Wirkung entfaltet hatte. Es führt also kein Weg von der Nichtigkeit zur Wirksamkeit310• Demgegenüber kann ein zunächst einwandfreies Testament sittenwidrig und damit unwirksam werden311 , wenn seine fortdauernden Wirkungen mit einer neu aufkommenden Wertvorstellung kollidieren. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Verfügung, wenn sie jetzt erst in Kraft träte, sittenwidrig wäre, sondern darauf, ob der Fortbestand etwa einer Zuwendung trotz der früheren abweichenden Anschauung jetzt von de.n so1 Vgl. dazu oben S. 22 ff.

Erbrecht, § 34 V 5 b, S. 379. Vgl. oben S. 33 ff. 310 Natürlich könnte der Gesetzgeber oder ein sonstiger "Rechtsetzer", z. B. eine monistisch herrschende Partei, durch einen Machtspruch auch eine solche Rechtswirkung anordnen. § 138 Abs. 1 BGB in seiner jetzigen bürgerlich-pluralistischen Umwelt führt sie aber nicht herbei. su Daß Rechtsgeschäfte überhaupt wegen Sittenwidrigkeit nachträglich unwirksam werden können, ist von der Rechtsprechung anerkannt: RGZ 153, 294 (303 f.); 161, 153 (157); BGHZ 7, 111 (114); anders RG HRR 1932 Nr.1575. In der Literatur für die Möglichkeit nachträglichen Nichtigwerdens Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil Ill&, 1960, § 191 I 3, S. 1165 Fußn.13; Gernhuber, FamRZ 1960, 335 (aufgrund seiner These der Objektivierung des Tatbestandes des § 138 Abs. 1). Gegen die Beachtlichkeit nach dem Erbfall eintretender Änderungen hingegen Greiser, DFG 1939, 54, ohne nähere Begründung. 308

soe

VI. Weitere subjektive Tatbestandsmerkmale

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"neuen Sitten" mißbilligt wird. Es darf also nicht der Erbfall fiktiverweise in die Gegenwart transponiert, sondern es muß gefragt werden, ob die gegenwärtigen Anschauungen die Verfügung im Hinblick darauf tolerieren, daß sie früher nicht für sittenwidrig gehalten wurde.

VI. Weitere subjektive Tatbestandsmerkmale Angesichts der längeren Behandlung des Einflusses von Zweck und Motiv auf die Sittenwidrigkeit der Verfügungen von Todes wegen312 mag es befremden, wenn jetzt noch ein besonderer Abschnitt dem subjektiven Tatbestand gewidmet wird. Es sind jedoch neben Zweck und Motiv, die selbstverständlich auch subjektive Tatbestandsmerkmale sind, weitere "innere" Umstände zu berücksichtigen. Bei diesen zusätzlichen subjektiven Tatbestandsmerkmalen handelt es sich einmal um die Kenntnis des Erblassers von den die Sittenwidrigkeit ergebenden Umständen oder um das Verschulden ihrer Unkenntnis, zum anderen um das Bewußtsein der Sittenwidrigkeit. 1. Kenntnis der Umstände, aus denen sidl die Sittenwidrigkelt ergibt

Was zunächst die Umstände angeht, welche die Sittenwidrigkeit ergeben, so ist ihre Kenntnis bei den wegen ihres Zwecks oder Motivs sittenwidrigen Verfügung impliziert313• Natürlich kennt der Erblasser seine eigenen Motive und Zwecksetzungen. Unkenntnis kommt hier nur hinsichtlich der den Motiven und Zwecksetzungen zugrundeliegenden Tatsachen in Frage. Beispiele dafür müssen schon weit hergeholt werden. So hat etwa ein Erblasser die Geliebte seines Sohnes zur Belohnung bedacht, weil sie sich seinem, des Erblassers, Sohn im Rahmen eines ehebrecherischen Verhältnisses geschlechtlich hingegeben habe. Es besteht kein Zweifel, daß diese Verfügung, lag das ehebrecherische Verhältnis wirklich vor, wegen Sittenwidrigkeit des Motivs nichtig wäre. Wie nun aber, wenn das Verhältnis in Wahrheit rein "platonisch" und gar nicht ehewidrig war? Der bloße "Versuch" eines sittenwidrigen Geschäfts hat keine sittenwidrigen Auswirkungen. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit würde dann eine bloße Gesinnungsstrafe bedeuten. Die Vgl. dazu oben S. 95 ff., 131 ff. Larenz, Juristen-Jahrbuch 7, 1966/67, 120; Allgemeiner Teilll, § 221II c, S. 373: Wo es wesentlich auf Zweck oder Motiv ankommt, da kommt es wesentlich auch auf "subjektive" Momente an (denn - so muß man ergänzen- Zweck und Motiv sind eben "subjektive" Momente); Hefermehl in Soergel- Siebertto, Randnr. 26 zu § 138. - In diesem Sinne ist wohl auch RGZ 90, 27 (30) zu verstehen. 312 313

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

Verfügung ist daher zunächst wirksam314 • Sie beruht aber auf einem Motivirrtum und ist deshalb nach § 2078 Abs. 2 BGB anfechtbar. Eine solche Anfechtung wäre nicht sittenwidrig; denn es besteht kein sittliches Gebot, z. B. jemanden zu bedenken, der statt eines ehebrecherischen Verhältnisses nur eine harmlose Beziehung unterhielt. Die Anfechtung hilft auch im umgekehrten Fall, wenn der Erblasser aus edlen Motiven zuwendet, die Wirklichkeit aber böse ist, er etwa seine Ehefrau ob ihrer vermeintlichen Treue in einer schweren Zeit belohnen will, diese ihn aber seinerzeit ausgiebig betrogen hatte. Im übrigen kann man die Frage nach der Kenntnis von den die Sittenwidrigkeit ergebenden Umständen bei inhaltlich sittenwidrigen Verfügungen stellen, die aber wegen des in aller Regel wertneutralen Inhalts erbrechtlicher Zuwendungen315 kaum praktisch sind. Beispiel316 : Der Erblasser setzt einen Testamentsvollstrecker mit der Aufgabe ein, den zum Nachlaß gehörenden - wie der Erblasser glaubt - Hotelbetrieb fortzuführen. In Wahrheit handelt es sich um ein Bordell. Schon die Absurdität dieses Beispiels zeigt, wie geringe praktische Bedeutung dem Problem zukommt. Ob man hier Gültigkeit oder Nichtigkeit annimmt, hängt wieder davon ab, ob man § 138 BGB die Funktion der Gesinnungsbestrafung beilegt oder ob man meint, er habe sittenwidrige Auswirkungen von Rechtsgeschäften zu verhindern. Dementsprechend fallen auch die Ansichten in Literatur und Rechtsprechung verschieden aus in der Frage, ob bei sittenwidrigem Inhalt eines Geschäfts seine Nichtigkeit von der Kenntnis der Umstände abhängt317. Nach der hier für 314 Staudinger- Coingu, 1957, Randnr. 12 a zu § 138; Flume, Allgemeiner Teil Il, § 18, 3, S. 373; Palandt- Heinrichs31, Anm.1 b zu § 138; OLG Kiel SchlesHAnz. 1947, 89 (90). 315 Vgl. oben S. 90 ff. 316 Vgl. oben S. 92. 317 Für Nichtigkeit ohne Rücksicht auf die Kenntnis Mot. I, 211; Staudinger- Coingu, Randnr. 12 a, 13 zu § 138; Hefermehl in Soergel- Siebert1o, 1967, Randnr. 25 zu § 138; Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 3, S. 373 f.; LehmarmHübner, Allgemeiner Tei118, § 29 IV 2 c, S. 200; Larenz, Juristen-Jahrbuch 7, 1966/67, 119 f.; speziell bei letztwilL Verfügung OLG München JFG 14, 428 (434 f.); Mayer- Maly, Das Bewußtsein der Sittenwidrigkeit, 1971, 27; Gemhuber, FamRZ 1960, 334, von seinem Standpunkt aus, der eine völlige Objektivierung der sittenwidrigen Tatbestände unter Eliminierung des Motivs als maßgebenden Faktors erstrebt; dazu oben S. 141 ff. Dagegen stellen auf die Kenntnis ab RGZ 97, 253 (255); 100, 247 (249); 120, 144 (148); 136, 236 (240); 150, 1 (3); 161, 229 (233); RG JW 1935, 2882; 1936, 2532; 3308 (3309); RG HRR 1939, Nr.1089; Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil II15, § 191 II 2 a, S. 1167; Krüger- Nieland im RGRKU, 1959, Anm. 6 zu § 138; Model, Testamentsrecht2, 1964, Randnr. 61; Erman- Westermann4, 1967, Anm. 7 zu § 138; Palandt- Heinrichs31, 1972, Anm. 1 b zu § 138. Verlangt man Kenntnis, so ergibt sich die weitere Frage, ob nicht auch fahrlässige Unkenntnis genügt. RG HRR 1936, Nr.191 (mit weiteren Nachweisen); RGH NJW 1951, 97; 1957, 297 (299); BGHZ 10, 228 (233); EnneccerusNipperdey a.a.O.; § 191 II 2 b, S.1168; Palandt- Heinrichs a.a.O. lassen grobe Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit genügen. Vgl. dazu auch Staudinger-

VI. Weitere subjektive Tatbestandsmerkmale

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richtig gehaltenen Auffassung sind die guten Sitten nicht im Sinne von individuellen Gewissensgeboten zu verstehen, sondern als Anforderung an das äußere Verhalten. Daher ist Kenntnis nicht erforderlich, ja nicht einmal fahrlässige Unkenntnis. Es kommt nur auf die sittenwidrigen Wirkungen des Geschäfts an, und die sind in dem gegebenen Beispiel - wie immer bei inhaltlich sittenwidrigen Geschäften - ohne weiteres zu bejahen. 2. Bewußtsein der Sittenwidrigkeit Nach dem gleichen Prinzip ist die Frage zu beantworten, ob sich der Erblasser bei der Errichtung der sittenwidrigen Verfügung deren sittenwidrigen Charakters bewußt gewesen sein muß. Auch hier differieren Lehre und Rechtsprechung318. Da es um die Verhinderung einer sittenwidrigen Auswirkung der Verfügung geht, ist ein solches Bewußtsein nicht als Voraussetzung der Nichtigkeit zu verlangen. Die Auswirkungen aber sind nicht vom Erblasser, sondern von der Rechtsgemeinschaft zu beurteilenst9. Coingu Randnr. 12 a zu § 138 und Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 3, S. 374, die jedoch bei Sittenwidrigkeit aufgrund des objektiven Inhalts keinen subjektiven Tatbestand verlangen. sts Bewußtsein der Sittenwidrigkeit fordert bei Geschäften, bei denen sich diese erst aus der Zusammenfassung von Inhalt, Motiv, Zweck und besonderen Umständen des Einzelfalls ergibt, Nipperdey (Enneccerus Nipperdey, Allgemeiner Teil IIUI, § 191 II 2 b, S. 1167). Im gleichen Sinne wohl RGZ 90, 27 (30); 150, 1 ff.; BGH NJW 1951, 397, indem sie auf die "Gesinnung" abstellen. Es wird allerdings nicht ganz klar, was unter diesem Terminus genau zu verstehen ist. Bei den bereits wegen ihres objektiven Inhalts sittenwidrigen Geschäften verzichtet Nipperdey auf dieses Kriterium (§ 191 II 2 a, S. 1167; ebenso RGZ 90, 27 [30]). Warum gerade bei dem sich erst aus subjektiven Momenten (Zweck, Motiv) ergebenden Sittenverstoß auch noch das Bewußtsein der Sittenwidrigkeit (oder wenigstens sein verschuldetes Fehlen) hinzutreten muß, begründet Nipperdey nicht. Wenn man schon wie Nipperdey (§ 191 II 2 b, S. 1167) bei objektiv inhaltlich sittenwidrigen Geschäften einen inneren Tatbestand in Gestalt der Kenntnis (oder fahrlässigen Unkenntnis) der tatsächlichen, die Sittenwidrigkeit begründenden Umstände verlangt, wäre es nur folgerichtig, in diesen Fällen auch auf das Bewußtsein des Sittenverstoßes (oder diesbezügliche Fahrlässigkeit) abzustellen. Gegen das Erfordernis des Bewußtseins der Sittenwidrigkeit (oder diesbezüglicher Fahrlässigkeit) Staucj.inger-Coingu, Randnr.12 zu §138; Flume, Allgemeiner Teil II, § 18, 3, S. 373; Larenz, Allgemeiner Teil!,§ 22 III c, S. 373; Juristen-Jahrbuch 7, 1966/67, 121; Erman- Westermann4, Anm. 7 zu § 138; Palandt- Heinrichs31, Anm. 1 b zu § 138; Hefermehl in SoergelSiebertto, Randnr. 26 zu § 138; Lange, Allgemeiner Tei113, 1970, §53 I 3 b, S. 329; Mayer- Maly, Das Bewußtsein der Sittenwidrigkeit, 1971, 25 ff. (aber S. 36: Bewußtsein der Sittenwidrigkeit unter Umständen ein Indiz für den Sittenverstoß); Spieß, Unsittliche Bedingungen bei letztwilligen Verfügungen, Diss. Köln 1938, 49; RGZ 72, 175 (176); 79, 17 (23); 97, 253 (255); 100, 247 (249); 120, 144 (148); 136, 236 (239 f.); 161, 229 (233); RG Gruch. 65, 213 (216); RG HRR 1939 Nr.1089; BGH LM Nr.1 zu § 138 (Ca). - Speziell bei einer letztwilligen Verfügung: OLG München JFG 14, 428 (434 f.). stt Vgl. Staudinger- Coingu, Randnr. 12 zu § 138: "Die Feststellung eines Sittenverstoßes bedeutet, daß ein Werturteil der Rechtsgemeinschaft, nicht der Handelnden ausgesprochen wird."

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Teil II. A. Die sittenwidrigen Faktoren

VII. Die Beweislast Die Beweislast für die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts trägt nach herrschender Ansicht in Rechtsprechung und Lehreno derjenige, der sich auf sie als für ihn von Vorteil beruft. Demgegenüber nahm Franz Leonhard3!1 nur eine Pflicht desjenigen zur "Anregung und Aufklärung" an, der die Sittenwidrigkeit geltend macht. Leonhards Ansicht beruht auf seiner Leugnung der Existenz sogenannter rechtshindernder (genauer: rechtsentstehungshindernder) Nonnen, zu denen § 138 Abs. 1 BGB zu zählen ist. Danach hätte der Kläger alle Voraussetzungen des Entstehungstatbestandes zu beweisen und damit auch die Abwesenheit "rechtshindernder" Umstände322. Leonhards Ansicht verträgt sich ebensowenig mit den Verhältnissen des praktischen Lebens wie mit dem Aufbau des Gesetzes. Rechtsgeschäfte sind normalerweise frei von Mängeln und verstoßen im Normalfall erst recht nicht gegen die guten Sitten. Mangelhafte, vor allem sittenwidrige, Geschäfte stellen also schon die "numerische" Ausnahme dar. Die Frage ist indessen nicht eine der bloßen Zahl sittenwidriger Geschäfte einerseits und sittlich gerechtfertigter oder sittlich neutraler andererseits. Wenn das Gesetz im § 138 Abs. 1 BGB anordnet, gegen die guten Sitten verstoßende Geschäfte seien nichtig, so bedeutet dies, daß besondere Umstände zu dem Geschäft hinZ"Utreten müssen, um die Nichtigkeitsfolge auszulösen. Bei einem non liquet müßte das Gericht das Geschäft sonst für unwirksam halten, eine Konsequenz, welche die von Leonhard befürwortete Pflicht des Gegners zur "Anregung und Aufklärung" nur mangelhaft verdeckt; denn wenn trotzErfüllungdieser Pflicht eine Unsicherheit bleibt, wäre das Geschäft nach Leonhard unwirksam. Danach müßte § 138 Abs. 1 BGB in dem Sinne gelesen werden, daß alle Geschäfte unwirksam sind, es sei denn, ihre sittliche Neutralität oder ihr sittlicher Wert werde erwiesen. Dies ist aber, wie gesagt, nicht der Sinn des § 138 Abs.1, der die Sittenwidrigkeit systematisch-wertungsmäßig als Ausnahme erscheinen läßt. Franz Leonhard323 führt für seine Ansicht allerdings auch praktische Gesichtspunkte ins Feld, nämlich die Erscheinung, daß manchmal von gewissen Umständen, die selbst noch keine Sittenwidrigkeit ergeben, no RGZ 148, 4 (6); RG Recht 1913 Nr. 2378; RG Warn.1928 Nr. 34; 1929 Nr.120; RG DR 1942, 1341; OGHZ 1, 249 (252); BGHZ 53, 369 (379); Rosenberg, Die Beweislast5, 1965, 260; A. Blomeyer, Beweislast und Beweiswürdigung im Zivil- und Vel'Waltungsprozeß, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Band I (Gutachten), 1966, 37; von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 312; BGHZ 53, 269 (279). Ebenso für gesetzliche Verbote RGZ 96, 330 (332); RG Warn. 1919 Nr. 44. 321 Die Beweistlast2, 1926, 282 f. 3!! Gegen diese Lehre Leonhards Rosenberg, Die Beweislastll, 132 ff. 3!3 a.a.O.

VII. Die Beweislast

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nach der Lebenserfahrung auf andere, die Sittenwidrigkeit indizierende Tatsachen geschlossen werden müsse. Solchen Bedenken kann indessen auch im Rahmen der herrschenden Lehre Rechnung getragen werden, nämlich durch die Anerkennung tatsächlicher Vermutungen aufgrundder Lebenserfahrungn'. Für den wohl praktisch wichtigsten Fall, in dem die Sittenwidrigkeit einer Verfügung von Todes wegen in Betracht kommt, hat die Rechtsprechung bis zu der Entscheidung BGHZ 53, 369 (380 f.) einen solchen Erfahrungssatz angenommen, und zwar des Inhalts, daß Zuwendungen an eine Geliebte aufgrund eines ehebrecherischen Verhältnisses in der Regel "sexuell" motiviert seien325 • Es handelte sich hierbei nicht um eine Umkehrung der Beweislast, sondern um eine Beweiserleichterung326. Derjenige, der sich auf die Sittenwidrigkeit beruft, hatte nach der früheren Rechtsprechung nur das Bestehen des "Verhältnisses" zu beweisen, aus dem der Richter dann aufgrund der Lebenserfahrung auf das sexuelle und mithin verwerfliche Motiv des Erblassers schließen durfte327• Der von der Verfügung Begünstigte hatte nicht das Gegenteil zu beweisen, d. h. nicht die Nichtexistenz des ehebrecherischen Verhältnisses, sondern er hatte nur den Gegenbeweis zu erbringen, nämlich die auf der Lebenserfahrung beruhende Überzeugung des Richters darüber zu erschüttern, daß hier wie üblich von dem Verhältnis auf die- verwerfliche- Motivation geschlossen werden könne328 • Diese Ausführungen gelten primär für das Erkenntnisverfahren vor dem Prozeßgericht, entsprechend aber auch für das FGG-Erbscheinsverfahren329 •

Was die rechtliche Qualifikation dieser Beweiserleichterung anlangt, so sprach der OGH330 vom "prima-facie-Beweis", während der BGH331 "erhebliche Bedenken" hatte, die Regeln vom Anscheinsbeweis anzuwenden. Es handelt sich darum, daß von tatbestandsfremden Tatsachen 324 Dazu Baumbach- Lauterbachso, 1970, Anh. 3 zu § 282 ZPO; ausführlich A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 31 ff. Vgl.

auch BGHZ 53, 369 (379). 825 Dazu A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 37 ff.; Näheres unten S. 224 Fußn. 118. Gegen diese Vermutung unten S. 224 ff. 326 Vgl. A. Blomeyer, Verhandlungtodes 46. Deutschen Juristentages I, 37. 327 BGH NJW 1964, 764 (765) = LM Nr. 14 zu § 138 Cd; vgl. A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 13 ff. (17 ff.). 328 Zu dem Unterschied von Gegenbeweis und Gegenteilsbeweis allgemein A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 18 f., speziell auf dem hier in Rede stehenden Gebiet A. Blomeyer, 38 f. 329 Zur Geltung der "Erfahrungsgrundsätze" auch im Rahmen der Untersuchungsmaxime A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 17 f. sso OGHZ 1, 249 (252). 331 BGH NJW 1964, 764 (765) = LM Nr.14 zu § 138 (Cd); vgl. A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 38. Demgegenüber heißt es in BGHZ 53, 379: "Dabei können, wie auch sonst, tatsächliche Vermutungen und Erfahrungssätze und damit auch die Grundsätze des sogenannten Anscheinsbeweises ... Bedeutung gewinnen."

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Teil li. A. Die sittenwidrigen Faktoren

aufgrund der Lebenserfahrung auf das Tatbestandsmerkmal geschlossen wird, das bewiesen werden soll332• Darin liegt, wie soeben gesagt, keine Beweislastumkehr, sondern eine Beweiserleichterung. Die Erschütterung der Überzeugung des Richters, daß die Dinge hier ebenfalls wie nach der Lebenserfahrung regelmäßig miteinander verknüpft sind, ist auch das Ziel des sogenannten Anscheinsbeweises333. Es handelt sich dort um den gleichen Gedankengang im Hinblick auf typische Geschehensabläufe, nämlich bei Fahrlässigkeit und dem Kausalzusammenhang334. Der Anscheinsbeweis hat mithin seinen Platz nicht bei der Beweislastverteilung, sondern bei der Beweiswürdigung336. Nach alledem bestehen keine Bedenken, auch hier vom Anscheinsbeweis zu sprechen33&. Auf jeden Fall ist der Anscheinsbeweis eine Art des Anzeichen-(Indizien-)Beweises337, für den hinsichtlich des Gegenbeweises Entsprechendes wie beim Anscheinbeweis gilt;338, Die soeben erörterte Problematik hat ihre Bedeutung verloren, soweit es sich um den Schluß von dem Bestehen eines "Verhältnisses" auf die sexuelle Motivation des Erblassers handelt. Sie ist jedoch nicht obsolet, sondern behält ihre Bedeutung dort, wo andere Umstände einen Schluß auf verwerfliche Bewegründe des Erblassers nahelegensag.

3S! Vgl. Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 602 Fußn. 70; A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 16 f. 333 A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 18 f.; 37 ff.; Schumann- Leipold bei Stein- Jonas1e, 1968, Anm. 7 a aa zu § 282 ZPO. 334 Zu diesen Fällen A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, 1963, § 72 III 2, S. 364 f.; Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 31 ff., 34 ff.; Schumann- Leipold bei Stein- Jonas19, 1968, Anm. IV 7 a bb zu § 282 ZPO; Rosenberg- Schwab, Zivilprozeßrechtlo, 1969, § 114, 2, S. 567. 335 A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, § 72 mit III, S. 360, 363; Schumann- Leipold bei Stein- Jonasle, Anm. IV 7 a aa zu § 282 ZPO; Rosenberg- Schwab, Zivilprozeßrechtlo, § 114, 3 a, S. 568. 33& Wie A. Blomeyer, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages I, 37 ff. 337 A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, § 72 III 1, S. 363. 338 Vgl. A. Blomeyer, Zivilprozeßrecht, Erkenntnisverfahren, § 72 III 2, S.362. 339 Dazu unten S. 226.

B. Die rechtliche Auswirkung des sittenwidrigen Faktors auf die Verfügung von Todes wegen I. Die Problematik Es sind bei der bisherigen Erörterung der Tatbestände sittenwidriger Verfügungen von Todes wegen die Rechtsfolgen der Sittenwidrigkeit jeweils nur andeutungsweise berührt worden. Die Regelung des § 138 Abs. 1 BGB, die von der Rechtsfolge der Nichtigkeit spricht, gestattet ihrem bloßen Wortlaut nach keine Entscheidung darüber, wann eine Verfügung ganz oder teilweise nichtig oder einer Umdeutung fähig ist. Hier kommen verschiedene Lösungen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten in Betracht, je nachdem, ob ein Motiv, eine nicht zum Inhalt gewordene Zwecksetzung, eine Bedingung, eine Auflage oder sonstige zum Inhalt gewordene oder mit der Verfügung verbundene Sanktion die Sittenwidrigkeit indiziert. Besondere Schwierigkeiten machen die aus "guten" und "bösen" Motiven oder solchen nicht zum Inhalt gewordenen Zwecken zusammengesetzten subjektiven Tatbestandteile {"Motivbündel"). Folgt man der hier abgelehnten Lehre von der "unmittelbaren" Drittwirkung der Grundrechte1, so entsteht insofern eine zusätzliche Schwierigkeit, als eine Vorschrift fehlt, die wie § 138 Abs. 1 BGB ausdrücklich die Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen Grundrechtsartikel anordnet. Man steht deshalb dann vor der Alternative, entweder anhand der Grundrechtswerte selbst nach den individuellen Bedürfnissen des Einzelfalls die Folgen eines Grundrechtsverstoßes zu bestimmen oder aber wie bei § 138 Abs. 1 BGB mit der vertrauten Figur der (totalen oder teilweisen) Nichtigkeit zu operieren. Der zweite Weg gestattet, wie noch zu zeigen sein wird, eine Modifizierung der starren Nichtigkeitsfolge vor allem durch die Umdeutung, also die Berücksichtigung des (irrealen) Willens des Erblassers, wenn man einmal davon absieht, daß bereits bei der Ermittlung des Sittenverstoßes die Situation des Bedachten eine Rolle spielt2 • Vom Schema der BOB-Regelung gelöst, könnte man die Interessen des Bedachten auch sonst oder sogar die Dritter flexibel berücksichtigen. Dieses Be1 2

Vgl. oben S. 51 ff. Vgl. oben S. 119 ff.

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Teil II. B. Rechtliche Auswirkung des sittenwidrigen Faktors

dürfnis wird indessen selten bestehen. Bei Testamenten gibt es ohnehin keinen Vertrauensschutz für den Bedachten, da es an einem Erklärungsempfänger fehlt. Auch kein Dritter darf darauf vertrauen, daß der Erblasser ein Testament überhaupt oder mit bestimmtem Inhalt errichtet3. Beim Erbvertrag kann man dem Partner notfalls über § 157 BGB mit einer Auslegung helfen, welche die Verfügung mit dem von Treu und Glauben geforderten Inhalt bestehen läßt'. Außerdem kommt eine Vertragsergänzung auf der Grundlage von § 242 BGB in Betracht5 • Schließlich gilt das Prinzip von Treu und Glauben, das § 242 BGB nur für einen Teilbereich positiviert, für das gesamte Recht6 • Es ist demnach selbst bei Annahme "unmittelbarer Drittwirkung" kein Grund ersichtlich, von dem BGB-System der Nichtigkeit und ihrer Folgen abzugehen. Es gestattet eine angemessene Berücksichtigung aller besonderen Umstände. Die Parallelität der ethischen Mißbilligung anhand der Grundrechtsartikel nach dieser Lehre und der "guten Sitten" des§ 138 BGB spricht dafür, auf das vom BGB zur Verfügung gestellte Instrumentarium zurückzugreüen. Dabei ergibt sich die Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen die Grundrechtsartikel aus der analogen Anwendung des§ 138 Abs.1 BGB. Die übrigen einschlägigen Vorschrüten wie die §§ 139 und 140, 2084 und 2085, 2195 BGB können hingegen direkt angewendet werden, soweit dies auch bei der aus dem unmittelbar herangezogenen § 138 Abs. 1 BGB resultierenden Nichtigkeit zu geschehen hätte. Im übrigen gelten sie auch wie dort analog, oder es ist auf den Gesichtspunkt einer Rechtsanalogie7 abzustellen.

3 von Lübtow, Probleme des Erbrechts, 1967, 48; 64 mit Literatur in Fußn. 267; Erbrecht I, 297 mit Fußn. 23. 4 Die Vorschrift gilt beim Erbvertrag, aber mangels des Erfordernisses des Vertrauensschutzes nicht beim gewöhnlichen Testament: von Lübtow, Probleme, 1964, Fußn. 267 mit Nachweisen; Erbrecht I, 417 mit Fußn. 2. Anders Dietz, Erbrecht, 1949, 85. Brox, Die Einschränkung der Irrtumsanfechtung, 1960, 160 ff.; Erbrecht2, 1972, Randnr. 219, will unentgeltliche Erbverträge den Testamenten gleichstellen, § 157 bei ihnen also nicht gelten lassen. Dagegen spricht die Vertragsnatur der Verfügung. Der Umstand der Unentgeltlichkeit kann höchstens bei der Konkretisierung des § 157 im Einzelfall eine Rolle spielen. Zur Geltung der Vorschrift beim gemeinschaftlichen Testament Lange, Erbrecht, § 33 III 6 b, S. 360 f. li Dazu näher von Lübtow, Probleme, 59 ff. mit Literatur und Rechtsprechung. e RGZ 113, 19 (24); von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts li 1, 1914, § 64 II, S. 545; Staudinger- Weberu, 1961, Randnr. 27 zu § 242; Erman- Sirp4, 1967, Anm. I 1 zu § 242; Palandt- Heinrichsat, Anm. 3 a und b zu § 242; Art. 2 Schweiz. ZGB. 7 So bei der Umdeutung einer wegen sittenwidriger Bedingung nichtigen Verfügung von Todes wegen: unten S.186 ff.

li. Nichtigkeit und Umdeutung bei sittenwidrigen Motiven

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ß. Nichtigkeit und Umdeutung bei sittenwidrigen Motiven und nicht zum Inhalt der Verfügung gewordenen Zwecken 1. Vollständige Nichtigkeit und das Problem ihrer Abmilderung

Wo sich die Sittenwidrigkeit einer Verfügung von Todes wegen aus dem Motiv ergibt, ist keine Zerlegung des Tatbestandes in eine besondere, die Sittenwidrigkeit ergebende Klausel und einen neutralen Rest möglich. Gleiches gilt, wo der Zweck nicht in einer speziellen Klausel zum Inhalt erhoben oder mit der Verfügung verbunden worden ist wie bei Bedingungen, Auflagen usw. Dennoch befriedigt die Lösung solcher Fälle im Sinne vollständiger und endgültiger Nichtigkeit nicht immer. Einmal ist daran zu denken, daß die guten Sitten bei dem gegebenen Motiv oder Zweck, etwa der "Belohnung" der Geliebten eines verheirateten Erblassers, nicht die völlige Nichtigkeit der Verfügung fordern, sondern eine teilweise Aufrechterhaltung gestatten8 • Ferner kommen Fälle in Betracht, in denen der Erblasser die wegen ihres Motivs oder Zwecks sittenwidrige Verfügung bei Kenntnis ihrer Nichtigkeit ganz oder teilweise auch aus achtbaren Beweggründen getroffen hätte. Schließlich gehören in diesen Zusammenhang die sogenannten Motivbündel9 , die sich aus achtbaren und verwerflichen Teilen zusammensetzen. Dabei sind zwei Gesichtspunkte zu beachten. Der eine betrifft die Beschränkung der Rechtsfolgen eines Sittenverstoßes auf die Teilnichtigkeit, der andere die "Auswechslung" des Motivs oder die Reduzierung der Motive auf den Kreis der erlaubten bei einem Motiv- und Zweckbündel, also eine Korrektur nicht erst bei den Rechtsfolgen, sondern schon beim Tatbestand. Beide Fragenkreise berühren sich insofern, als auch die Auswechslung oder Reduzierung der Motive den Umfang der Verfügung beeinträchtigen kann, wenn dies auch nicht notwendigerweise dazu führen muß. Der Übersichtlichkeit der Darstellung halber ist im folgenden nur von Motiven und Motivbündeln und nicht mehr von Zwecken, die nicht zum Inhalt der Verfügung geworden sind, und nicht von Bündeln solcher Zwecke die Rede. Beide Gruppen von Tatbestandsmerkmalen sind jedoch in der folgenden Untersuchung gleich zu bewerten. Was von Motiven und Motivbündeln gesagt ist, gilt also auch für die genannten Zweckbündel sowie für Bündel aus Motiven und solchen Zwecken. 2. Tellnichtigkeit

Die Regelung des § 138 Abs.1 BGB, die ihrem Wortlaut nach nur die völlige Nichtigkeit als Rechtsfolge des Sittenverstoßes kennt, ist schon s Vgl. oben S. 147 f. 9 Entsprechendes gilt für Bündel nicht zum Inhalt gewordener Zwecke sowie Bündeln aus Motiven und solchen Zwecken.

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Teil II. B. Rechtliche Auswirkung des sittenwidrigen Faktors

bald nach ihrem Inkrafttreten kritisiert worden. Man meinte, eine Vernichtbarkeit oder Anfechtbarkeit trage den Interessen der Beteiligten besser Reclmung10• Eine solche in das Belieben der Anfechtungsberechtigten (§§ 2080, 2281 BGB) gestellte Vernichtbarkeit würde allerdings bei Verfügungen von Todes wegen kaum weiterhelfen, da sie wiederum nur das "Alles oder Nichts" kennt. Eine Möglichkeit, die Nichtigkeit aus außerhalb des realen oder irrealen Erblasserwillens liegenden Gesichtspunkten zu beschränken, eröffnete die Formulierung des § 48 Abs; 2 TestG vom 31.7.193811 , wo es hieß: "Eine Verfügung von Todes wegen ist nichtig, soweit sie .. . verstößt." Das RGlll hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, um eine nicht einwandfreie letztwillige Anordnung zum Teil aufrechtzuerhalten. Es hob dabei hervor, daß dies nicht den Rückgriff auf Erwägungen erfordere, wie sie den §§ 139, 2085 BGB zugrundelägen. Mit dem Außerkrafttreten des § 48 Abs. 2 TestG ist der Weg objektiver Reduzierung der Nichtigkeitsfolgen über diese Vorschrift wieder versperrt1 3 • Auch für den Geltungsbereich des§ 138 BGB, um den es jetzt wieder im Erbrecht geht, hat es nicht an Versuchen gefehlt, die starre Regelung des Gesetzes im Hinblick auf die Bedürfnisse der Billigkeit im Einzelfall "aufzuweichen". So sei vor allem an die Rechtsprechung des RG über die Rückgewähr des Kapitals beim nach § 138 Abs. 2 BGB nichtigen Wucherdarlehen erinnert. Hier wirkte sich der Ausschluß des Rückgewähranspruchs gemäß § 817 Abs. 2 BGB nach der Rechtsprechung zunächst dahin aus, daß der Wucherer weder Kapital noch Zinsen herausverlangen konnte14 • Erst die Erwägung des RG, "gewährt" sei ja vom Wucherer nicht das Kapital schlechthin, sondern nur seine zeitweilige Nutzung, eröffnete einen Rückzahlungsanspruch auf das Kapital (wenn auch keinen Anspruch auf die Wucherzinsen)15. Hier wurde also 1o Vgl. von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II 2, 1918, § 70 IV, S. 43 (für wucherische Geschäfte); Staudinger- Coingu, Randnr. 21 a zu§ 138. 11 Vgl. Thilo Ramm, JZ 1970, 130: Mit der Anerkennung der Teilnichtigkeit einer Erbeinsetzung (nämlich in BGHZ 52, 17 ff.) übernimmt der BGH die Position, die dem Richter durch § 48 Abs. 2 TestG zugewiesen war; Jeder, Eheähnliche Verhältnisse und die Stellung der "Geliebten" im Spiegel der deutschen Rechtsprechung, Diss. Kiel 1971, 139. Zu der Vorschrift oben S. 42 f. 1! RG Warn.1941 Nr. 25 (S. 54); RG DR 1942, 847 (848) (zustimmend Hopp ebd., 848 f.); RGZ 168, 177 (183); für Teilung auch KG DNotZ 1942, 227 (228). Abgelehnt hatte eine Teilung RGZ 166, 395 (397, 399), offenbar aber nur für den konkreten Fall, ohne eine Teilungsmöglichkeit prinzipiell auszuschließen. 13 Die Aufhebung des § 48 Abs. 2 hat also wieder den alten Rechtszustand, der vor Inkrafttreten dieser Vorschrift galt, hergestellt. Mehr daraus zu schließen, nämlich ein besonderes Verbot richterlicher Teilaufrechterhaltung (dafür aber Husmann, NJW 1971, 404), geht zu weit: Speckmann NJW 1971, 925. 14 Vgl. die Angaben in RGZ 151, 70 (72); 161, 52 ff., sowie bei StaudingerCoingll, Randnr. 38 zu § 138. 111 Vgl. die vorstehende Fußn.

II. Nichtigkeit und Umdeutung bei sittenwidrigen Motiven

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durch "Manipulierung" des Rückgewähranspruchs aus ungerechtfertigter Bereicherung ein billiges Ergebnis angestrebt. Dieser Weg ist bei sittenwidrigen Verfügungen von Todes wegen verschlossen, weil dort nichts zurückgewährt werden kann. In der Literatur ist dafür plädiert worden, trotz § 138 BGB in gewissen Fällen statt der totalen eine teilweise Nichtigkeit anzunehmen; so bei Wucher- und Wettbewerbsverträgen111• Was Testamente anlangt, so ist die Rechtsprechung auch dort zur Teilnichtigkeit gelangt, wo§ 138 Abs.1 BGB anzuwenden war17• 1& von Tuhr, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II 2, 1918,

§ 70 II 3, S. 39 mit älterer Lit. in Fußn. 100 a; Herzog, Quantitative Teil-

nichtigkeit, Diss. Göttingen 1926, passim, insbes. 152 ff.; Lange, Allgemeiner Teil13 , 1970, § 49 IV 3 b ß, S. 315; § 49 V 4 d, S. 317; Lehmann- Hübner, Allgemeiner Teil16, 1966, § 29 IV 4, S. 203 f.; für wucherische Geschäfte Dahmen, Teilweise nichtige Rechtsgeschäfte, Diss. Göttingen 1949, passim; zur Teilnichtigkeit bei Knebelungsverträgen Norbert Reich, Die Sicherungsübereignung, 1970, 134 f. - Schon Eckstein, ArchBürgR 38, 1913, 195 U . (206 ff.); 41, 1915, 221 f., hat versucht, die Beschränkung der Verpflichtungsmöglichkeit statt aus § 138 BGB aus dem unveräußerlichen Rechtsgut der persönlichen Freiheit herzuleiten. Vgl. dazu Lehmann- Hübner16, 204. Es handelt sich also um eine Vorahnung der "unmittelbaren Drittwirkung" der Grundrechte. Danach sind Freiheitsbeschränkungen, die gegen die Grundrechte, besonders Art. 2 Abs. 1 GG verstoßen, Nichtigkeitsgründe, ohne daß es der Heranziehung des § 138 BGB bedarf. Das ändert aber nichts an den Nichtigkeitsfolgen, so wie sie das BGB sie kennt. Dazu oben S. 171 f. Gegen eine teilweise Aufrechterhaltung aufgrunddes § 138 RGZ 72, 218; 76, 80; BGH NJW 1958, 1772; Husmann, NJW 1971, 410, sowie - jedenfalls de lege lata Staudinger - Coing, Randnr. 21 a zu § 138. De lege ferenda hält Coing die Auffassungen, die für eine Teilnichtigkeit eintreten, für "erwägenswert". -Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil nu, § 191 l i 3 b, S. 1172, befürwortet bei konkurrenzbeschränkenden Verträgen eine Begrenzung der Bindung "auf das zulässige Maß", ... "es sei denn, daß (der Vertrag) in diesem Umfang nicht geschlossen worden wäre". Also Berücksichtigung des irrealen Willens! Dieser Gesichtspunkt leitet zu § 139 BGB über, der jedoch nichts zur Möglichkeit der teilweisen Nichtigkeit sagt, sondern nur über den "gültigen" Rest entscheidet, wenn man zuvor die Teilnichtigkeit bejaht hat. 11 BGH FamRZ 1954, 195 (198) = LM Nr. 2 zu § 138 (Cd); BGH FamRZ 1963, 287 (289 f.); BGHZ 52, 17 (23 f.); 53, 369 (381 ff.); OLG Düsseldorf, FamRZ 1970, 105 (107); vor dem BGH ebenso schon RG Gruch. 70, 548 (551) = Warn. 1934 Nr.169 (verkürzt in JW 1934, 33 f.); RG SeuffArch. 95, 17 (19); OGHZ 1, 249 (252 f.). - Der OGH berücksichtigte allerdings zunächst (S. 252) zutreffend den irrealen Willen des Erblassers, um die Verfügung überhaupt aufrechterhalten zu können (keine Nichtigkeit, wenn die Zuwendung auch ohne die geschlechtliche Hingabe der Bedachten erfolgt wäre!); die Lösung kommt also dem hier vertretenen Weg über die Umdeutung (unten S. 186 ff.) nahe. In der Literatur für eine Teilung Schmitz, Das Problem der Beschränkung der Testierfreiheit, 1936, 45; Lange, Erbrecht, 1962, § 34 V 4, S. 378 (allerdings zurückhaltend: "sollte" und unentschieden im Falle der "Motivbündelung": § 34 V 2 b, S. 376 f.; darüber sogleich); Mikat, Festschrift Nipperdey I, 1965, 602 f. mit Fußn. 72 für den Fall der Motivbündelung; Brox, Erbrecht!, 1972, Randnrn. 258, 259; dem BGH zustimmend Speckmann, JZ 1969, 735; 1970, 402; NJW 1970, 1840; NJW 1971, 924 f.; Steffen, DRiZ 1970, 349.- Eine Teilaufrechterhaltung bei mehreren, teils sittenwidrigen, teils achtbaren Motiven zieht Lange a.a.O., S. 376 f., in Betracht, ohne sich zu entscheiden. - Entschieden

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Teil II. B. Rechtliche Auswirkung des sittenwidrigen Faktors

Scharfe Kritik hat die diesbezügliche Rechtsprechung des BGH von Reinicke18, Thilo Ramm19 und Husmann20 erfahren. Sie lehnen die Möglichkeit der Teilung ab. Ihre Argumentation stützt sich allerdings vornehmlich auf die Besonderheiten des sogenannten Geliebten-Testaments. So knüpft Reinicke an die Entscheidung BGHZ 52, 17 ff. an, wo der Erblasser seine Geliebte zu Lasten der Ehefrau als Alleinerbin eingesetzt hatte. Obwohl der Ehefrau der Pflichtteil in Höhe des halben Nachlaßwertes ohnehin zugute gekommen wäre, glaubte der BGH, ihr mit Rücksicht auf die guten Sitten die Stellung einer Erbin zu 1/2 einräumen zu müssen. Reinicke legt dar, daß alle Gesichtspunkte, die den BGH zur Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB bewogen, vom Gesetzgeber bereits bei der Schaffung des Pflichtteilsrechts berücksichtigt wurden und die bloße "Aufbesserung" von der Position einer Pflichtteilsberechtigten zu der einer Erbin deswegen nicht rechtens sei. Die Frage, ob nicht auch einmal eine Erhöhung der wertmäßigen Beteiligung der Ehefrau am Nachlaß über das vom Pflichtteilsrecht gebotene Maß hinaus notwendig sein kann, ohne die Einsetzung der Geliebten gänzlich zu beseitigen, wird damit nicht gelöst. Ramm21 führt aus, daß weder § 138 BGB noch das Grundgesetz verlangen, der Ehefrau mehr als den Pflichtteil zukommen zu lassen. Diese Darlegungen sprechen speziell gegen eine Teilaufrechterhaltung beim Geliebten-Testament, nicht aber gegen eine Teilaufrechterhaltung schlechthin. Ihre Nachprüfung muß deshalb dem 3. Teil22 vorbehalten bleiben. An allgemein gültigen Argumenten gegen die Teilaufrechterhaltung führen Reinicke23 und Ramm.ll4 die Gefahr der Manipulation des Erblasserwillens durch die Gerichte und damit der Rechtsunsicherheit an, Ramm25 außerdem die Freiheit des Bürgers; denn die Härte des dafür von Lübtow, Erbrecht I, 1971, 309 f. Die Fälle der Sittenwidrigkeit bei "Motivbündelung" sind nach hier vertretener Auffassung über die Rechtsfigur der Umdeutung zu lösen. Dazu oben S. 151 f. und unten S. 186 ff. - Gernhuber, FamRZ 1960, 334, gelangt zur Teilnichtigkeit in Fällen der Motivbündelung, nachdem er unter Objektivierung des Tatbestands des § 138 Abs. 1 das Motiv und damit auch die Motivbündel als erhebliches Tatbestandselement überhaupt eliminiert. - Zu Gernhubers Objektivierungsthese oben S.141 ff. Bedenken gegen die teilweise Gültigkeit äußert KippCoingu, .1965, § 16 III 1, S. 78, Fußn. 16. 18 NJW 1969, 1343 ff. 19 JZ 1970, 129 ff. I!O NJW 1971, 409 f. Gegen Teilnichtigkeit außerdem Jeder, Eheähnliche Verhältnisse und die Stellung der "Geliebten" im Spiegel der deutschen Rechtsprechung, Diss. Kiel 1971, 138 f. Als Ablehnung der Teilnichtigkeit dürften auch die Ausführungen von Simshäuser, Zur Sittenwidrigkeit der Geliebten-Testamente, 1971, 58 f. I, zu werten sein. Z1 JZ 1970, 131 f. 22 Unten S. 214 ff. !3 NJW 1969, 1345. 1!4 JZ 1970, 130. 25 a.a.O.

li. Nichtigkeit und Umdeutung bei sittenwidrigen Motiven

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Entweder-Oder zwinge den Richter zur Zurückhaltung bei der Annahme der Nichtigkeit. Speckmann26 hält demgegenüber die Möglichkeit flexibler Entscheidungen für interessengerechter und wirft Ramm vor, in der Herabsetzung einer Zuwendung sei noch keine eigene richterliche, in Wahrheit dem Erblasser vorbehaltene Rechtsgestaltung zu erblicken. Husmann27 meint, der Wille des Erblassers mag "gebeugt, gebrochen oder zurechtgestutzt" werden können, aber "teilbar, aufspaltbar in einen teils guten und teils verwerflichen Willen" sei er nicht. Außerdem sei die Erbeinsetzung einer Person nicht teilbar%~!, § 139 BGB könne daher nicht zur Teilaufrechterhaltung führen. Diese für und gegen eine Teilaufrechterhaltung allgemein sprechenden Gesichtspunkte sind so vage, daß man versuchen muß, die Frage genauer zu analysieren. Bei der Lösung des Problems sind zwei Schritte der Untersuchung auseinanderzuhalten, nämlich einmal die teilweise Sittenwidrigkeit und damit Nichtigkeit der Verfügung, zum anderen das Schicksal des Restes, d. h. Teilwirksamkeit oder gänzliche Nichtigkeit der Verfügung. Was den ersten Schritt anlangt, so sind wiederum zwei Teilaspekte zu beachten. Zunächst ist zu fragen, ob die Verfügung überhaupt teilbar ist29 ; sodann, ob der Komplex der guten Sitten einen Maßstab für eine konkret bestimmte Teilung abgibt. Die erste Frage bietet unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit keine Besonderheiten. Es handelt sich um ein allgemeines Problem, das in der einschlägigen Literatur im Hinblick auf § 139 BGB abgehandelt zu werden pflegt. Von einer Teilbarkeit kann man immer sprechen, wo nach Ablösung des nichtigen Teils noch ein Rest übrigbleibt, der selbständig zu existieren vermag10 und durch die Ablösung, wie es aber etwa bei einer Bedingung der Fall wäre, nicht seine Qualität verändert31 . Die Aufspaltung muß also rein quantitativ möglich sein32• Diese Voraussetzung ist bei der Erbeinset26

JZ 1970, 402 f.; NJW 1971, 924f.

27 NJW 1971, 409. 2s a.a.O., 409 f.

Speckmann, JZ 1970, 402. 30 Staudinger- Coingu, Randnr. 5 zu § 139; Larenz Allgemeiner Tei12, 1972, § 23 li b, S. 384; Palandt- Heinrichs31, Anm. 2 zu § 139; Erman- Westermann4, Anm. 7 zu§ 139; Krüger- Nieland im RGRK10, Anm. 5 zu§ 139; Hefermehl in Soergel- Siebertu, Randnr. 13 zu 139; Lehmann- Hübner, Allgemeiner Tei11&, § 27 li 1 d r cx.cx. 2, S.170; Flume, Allgemeiner Teil li, § 32, 2 c, S. 573; RGZ 93, 334 (338); 146, 234 (236); RG JW 1936, 2532; BGH NJW 1962, 912 (913); BGH LM Nr. 24 zu § 139; BGH BB 1957, 164. a1 Vgl. Larenz a.a.O. 32 So für Leistungsverpflichtungen (bei gegenseitigen Verträgen verhältnismäßige Aufteilung von Leistung und Gegenleistung), bei Dauerschuldverhältnissen auch hinsichtlich zeitlicher Aufteilung, Larenz a.a.O., S. 385. - Im gleichen Sinne Enneccerus- Nipperdey, Allgemeiner Teil II15, § 202 IV 1 b, S. 1217 f.; Erman- Westermann4, Anm. 7 zu § 139; Hefermehl in Soergel- Siebertlo, Randnr. 14 zu § 139; RGZ 82, 124 (125); 114, 35 (39). 29

12 Thielmann

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Teil li. B. Rechtliche Auswirkung des sittenwidrigen Faktors

zung, bei der Enterbung, aber auch bei der Zuwendung einzelner teilbarer Gegenstände erfüllt33• Behutsam muß man bei der Beantwortung der Frage vorgehen, ob die guten Sitten eine- nach den aufgezeigten Kriterien an sich mögliche - Teilung der Nichtigkeit verlangen. Eine solche Aufspaltung hat in den - praktisch wohl höchst seltenen34 - Fällen "zerlegbarer" Motivbündel zu erfolgen35 , wo also achtbare und verwerfliche Teilmotive eindeutig bestimmten Teilen der Verfügung zuzuordnen sind; z. B. sind von dem Vermächtnis zugunsten der Geliebten des Erblassers in Höhe von 20 000,- DM 5000,- DM Belohnung für die geschlechtliche Hingabe und 15 000,- DM für die Haushaltsführung und den seelischen Zuspruch. Verhältnismäßig einfach ist die Antwort auch noch dort zu finden, wo sich verschiedene Teile einer Verfügung unterschiedlich auswirken. Daran muß man zunächst denken, wenn sie verschiedene Personenkreise benachteiligt. Einen solchen Fall hatte BGHZ 53, 369 (377 f.) zum Gegenstand38• Die Erbeinsetzung der Geliebten des Erblassers ging Gegen Teilbarkeit eines Geschäfts bei sittenwidrig überhöhtem Entgelt und bei Ausnutzung einer Monopolstellung BGH NJW 1958, 1772 (im übrigen - wie BGH LM Nr. 8 zu § 139 BGB - in der Frage unentschieden). 33 Gernhuber, FamRZ 1960, 330; Speckmann, JZ 1970, 402; anders zu Unrecht Husmann, NJW 1971, 410, da er fälschlich auf den Willen (der ja ohnehin nicht der reale ist, sondern "konstruiert" wird!) statt auf die Rechtsfolgen abstellt. Untrennbarkeit hatte RG DR 1940, 1000 Nr. 10, entgegen der Vorinstanz angenommen, als ein Testator seine Geliebte zur Erbin eingesetzt und die Ehefrau auf den Pflichtteil beschränkt hatte. Das mag in dem entschiedenen konkreten Fall zu einem gerechten Ergebnis geführt haben (Kipp- Coing, Erbrecht12, 1965, § 21 IV, S. 106; Thilo Ramm, JZ 1970, 129). Gegen die prinzipielle Unmöglichkeit, die Enterbung der Ehefrau allein aufrechtzuerhalten und die Erbeinsetzung der Geliebten für nichtig zu erklären, zu Recht Kipp - Coing a.a.O. - Bei besonderer Anordnung der Enterbung der Ehefrau (außer der Erbeinsetzung eines anderen) glaubte denn auch OLG Karlsruhe FamRZ 1967, 691 (693), sie für sich allein aufrechterhalten zu können (die Ehefrau hatte sich nicht um den kranken Erblasser gekümmert). Bei der Zuwendung unteilbarer Gegenstände durch Vermächtnis oder Auflage kommt eine analoge Anwendung des § 753 BGB in Betracht, wenn dies dem wirklichen oder irrealen Willen des Erblassers entspricht; denn darauf stellt § 139 BGB ab (darüber sogleich). :w Vgl. oben S. 151. 35 Bartholomeyczik, Erbrechte, 1971, § 23 I 2 f, S.122 f. Im gleichen Sinne für Verträge inter vivos Pierer von Esch, Teilnichtige Rechtsgeschäfte, 1968, 60 ff.: Teilaufrechterhaltung ist jedenfalls dann möglich, wenn der Makel nicht dem ganzen Vertrag anhaftet, sondern nur einzelnen Klauseln. se Auch BGH FamRZ 1954, 195 ff. = LM Nr. 2 zu § 138 (Cd) zielte in diese Richtung, wenn der BGH darauf abstellte, die Geliebte dürfe zwar den Kindern des Erblassers gleichgestellt, nicht aber der Ehefrau vorgezogen werden. Ein Vorschlag der gesetzlichen Teilnichtigkeit der Einsetzung eines nichtehelichen Kindes des Erblassers zu Lasten der ehelichen Familie stammt von Bosch, 44. Deutscher Juristentag, Gutachten, Bd. I, Teil1, Heft B, 1962, 108. Dagegen Zweigert, 44. Deutscher Juristentag, Bd. li, Sitzungsberichte, 1964, C 37. Vgl. Thilo Ramm, JZ 1970, 130, Fußn. 21.

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teils zu Lasten seiner Ehefrau, teils seiner Geschwister. Es ist hier nicht der Ort darzulegen, ob die Umstände die Enterbung der Ehefrau gerade in diesem konkreten Fall als Sittenverstoß erscheinen lassen37• Nur soviel sei hier bemerkt, daß die Entscheidung des BGH besondere Umstände vermissen läßt, die über die bloße vermögensmäßige Benachteiligung der Ehefrau hinaus ihre Persönlichkeit tangieren und damit das Verdikt des Sittenverstoßes rechtfertigen. Im Prinzip kann aber eine solche Differenzierung nach verschiedenen, etwa dem Erblasser unterschiedlich nahen Personenkreisen geboten sein, nämlich wenn sich "besondere Umstände" bei ihnen unterschiedlich auswirken. So kann zum Beispiel das vom Erblasser gewollte Zusammenleben mehrerer Erben auf dem Nachlaßgrundstück38 für diese teils tragbar sein, teils nicht. Für die Ehefrau mag das Zusammenwohnen mit der Geliebten unwürdig erscheinen, nicht aber für Verwandte, die möglicherweise mit der "illegalen" Frau des Erblassers ohnehin engeren Kontakt hatten als mit der "gesetzlichen" Ehefrau, mit der sich der Erblasser auseinandergelebt hatte. Ebenso ist die Teilung geboten, wenn nur ein Teil der Zuwendung zu einer sittenwidrigen Situation führt, so - wenn der Erblasser seiner Geliebten unter anderem seine Zahnarztpraxis anteilig vermacht, in der Ehefrau und Geliebte zusammenarbeiten müßten39• Bei Erbeinsetzungen müßte in solchen Fällen nötigenfalls durch Testamentsergänzung über Teilungsanordnungen geholfen werden. Eine Aufspaltung kommt schließlich in Fällen der Verletzung des Gleichheitssatzes in Betracht, wenn die Rechtsfolgen der Verfügung nur zum Teil den von Art. 3 ·d es Grundgesetzes geschützten Kernbereich des Betroffenen beeinträchtigen40 • Schwieriger wird das Problem, wenn die Umstände keine solche Zäsur in der Verfügung gestatten, sondern die guten Sitten schlechthin als Maß für eine Teilaufrechterhaltung dienen sollen. In erster Linie geben die "herrschenden" Wertvorstellungen nur Anhaltspunkte dafür ab, welche Zwecke man durch Gewährung geldwerter Vorteile überhaupt verfolgen, welche Verhaltensweisen man mit "Geld" belohnen oder bestrafen darf.

37

Zum sogenannten Geliebten-Testament insoweit im einzelnen unten

S. 231 ff.: Danach ist die Entscheidung des BGH im Ergebnis nicht zu billigen.

Die Beeinträchtigung vermögensrechtlicher Interessen wird vom Pflichtteilsrecht und von § 1371 BGB erfaßt. Daneben ist für § 138 Abs.1 BGB nur Raum, wenn besondere Umstände die Würde der Angehörigen beeinträchtigen (z. B. Zwang zum persönlichen Kontakt: RG Gruch. 70, 548 [551]; BGHZ 20, 71 [76]). as Darum ging es im BGHZ 20, 71 (76). 39 Vgl. RG Gruch. 70, 548 (551). 40 Dazu unten S. 306.

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Teil II. B. Rechtliche Auswirkung des sittenwidrigen Faktors

Die "guten Sitten" stellen als generelle Richtlinien notwendigerweise nur allgemeine Beurteilungsmaßstäbe dar. Sie sind zu weitmaschig, als daß man durch Subsumtion gleichsam ziffernmäßig exakte Ergebnisse in konkreten Fällen liefern könnte41 • Rein theoretisch-logisch ist es natürlich nicht auszuschließen, daß ein Satz einer "herrschenden" Wertvorstellung eruiert wird, wonach unter ganz bestimmten Umständen eine wertmäßig genaue Unterteilung des Nachlasses geboten wird. Es gilt jedoch, der Gefahr :zru begegnen, die faktischen Wertvorstellungen als Etikett für einen ganz anderen Inhalt, nämlich die richterliche Dezision, zu mißbrauchen42 • Art. 48 Abs. 2 TestG konnte man nicht anders auffassen als eine Aufforderung zu solcher Dezision43 ; denn anders wäre die Vorschrift mit ihrer Formulierung "soweit ... verstößt" selten praktikabel geworden, was sicherlich nicht im Sinne des nationalsozialistischen Gesetzgebers gewesen wäre. Dessen Vorliebe für richterliche Rechtsgestaltung auf dem Gebiet des Erbrechts äußerte sich deutlich in der ErbregelungsVO vom 4.10.194444 • Danach konnte die gesetzliche Erbfolge naher Angehöriger durch den Richter korrigiert werden. Zwar sollte dies in Anlehnung an den irrealen Erblasserwillen geschehen, jedoch war das "gesunde Volksempfinden" als Richtlinie vorgeschrieben, was praktisch zur richterlichen Dezision führte45. Teilungen, wie sie die Rechtsprechung46 befürwortet hat, sind stets Erzeugnisse richterlicher Gestaltung47• Es handelt sich um sogenannte Geliebten-Testamente. Nicht nur in Anbetracht der von Müller- Freienfels48 und Breithaupt1t geschilderten Wandlung der moralischen Beurteilung außerehelicher "Verhältnisse" in neuerer Zeit, sondern vor allem wegen der abschließenden Regelung der vermögensmäßigen Interessen der gesetzlichen Erben50 im Pflichtteilsrecht und im Recht des Zuge41 In diesem Sinne für Verträge inter vivos Pierer von Esch, Teilnichtige Rechtsgeschäfte, 1968, 61 f. 42 Vgl. für Verträge unter Lebenden Pierer von Esch ebd. 43 Husmann, NJW 1971, 404. 44 RGBl. I, 242; vgl. oben Fußn. 226 auf S. 147. 45 Gemhuber, FamRZ 1960, 327; Thilo Ramm, JZ 1970, 130, Fußn. 6: "Klare Überordnung der richterlichen Nachlaßverteilung vor der gesetzlichen Erbregelung." 46 RG Gruch. 70, 548 (551); RGZ 168, 177 (183); RG SeuffArch. 95, 17 (19); OGHZ 1, 249 (252 f.); OLG Oldenburg VersR 1955, 513; FamRZ 1954, 195 ff. = BGH LM Nr. 2 zu § 138 (Cd); BGH FamRZ 1963, 287 (289 f.); BGHZ 52, 17 (22 ff.); 53, 369 (381 ff.); OLG Köln OLGZ 1968, 489 (493). 47 Daher ihre Unberechenbarkeit, die Husmann, NJW 1971, 410, als unerträglich für die notarielle Beratungspraxis anprangert. Dagegen Speckmann, NJW 1971, 924 f., der darauf abstellt, daß die starre Regelung des Alles oder Nichts für den Notar noch gefährlicher ist, da sie ihn möglicherweise höheren Regreßansprüchen aussetzt. 48 JZ 1968, 441 f. 49 NJW 1968, 932 f. Siehe auch Thilo Ramm, JZ 1970, 131 f. 50 Vgl. unten S. 213 ff., 232 ff.

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winnausgleichs (§ 1371 BGB) erscheint eine Bevorzugung der Angehörigen des Erblassers gegenüber der Geliebten in einem über diese Bestimmungen hinausgehenden Umfange nur unter besonderen Umständen zulässig und geboten1H. Gleiches gilt für die von Speckmann52 vorgeschlagene Faustregel, wonach der Ehefrau im "Normalfall" das arithmetische Mittel zwischen Erbteil und Pflichtteil verbleiben soll. Auch sie ist ein Ergebnis- hier literarischer- "Dezision". Das Problem stellt sich dahin, ob solche der Teilaufrechterhaltung dienenden Dezisionen von§ 138 Abs.1 BGB gedeckt sind. Die Entscheidung nach dem Maßstab der "guten Sitten" bedeutet keine schematische Subsumtion des betreffenden Sachverhalts unter die Wertvorstellungen der Allgemeinheit53• Die Wertvorstellungen bilden vielmehr nur das "Rohmaterial", aus denen der Richter seine Entscheidung zu gestalten hat. Das ist nicht ohne Entscheidungsspielraum möglich. Nun kann es vorkommen, daß die maßgebenden Wertvorstellungen durchaus für eine Teilaufrechterhaltung der Verfügung von Todes wegen sprechen, indem sie zum Beispiel nahelegen, die Ehefrau nicht leer ausgehen zu lassen, aber auch erlauben, der Geliebten, die den Erblasser aufopfernd gepflegt hat, etwas zuzuwenden. Dafür, daß die Ehefrau nicht leer ausgeht, sorgen indessen bereits das Pflichtteilsrecht und der Ausgleichsanspruch des § 1371 BGB. Die faktischen Wertvorstellungen geben keinen feineren Verteilungsmaßstab her. Aus ihnen mehr herzuleiten, als daß der Ehefrau überhaupt "etwas" verbleiben und der Geliebten "etwas" zukommen darf, etwa im Sinne einer wertmäßigen Verteilung des Nachlasses von 1/a : 2/ 3 oder 1/4 : 3/4, hieße sie überstrapazieren. Abgesehen vom Gesetz(§§ 2303, 1371 BGB) kommt als Verteilungsmaßstab nur der irreale Wille des Erblassers in Betracht, der über den Weg der Umdeutung zu verwirklichen ist. Nur dieser Maßstab kann möglicherweise eine feinere Verteilung rechtfertigen als das Gesetz. Über die Umdeutung wird noch im einzelnen zu handeln sein54 . Zu grob sind die von den faktischen Wertvorstellungen gesetzten Richtlinien auch dort, wo es nicht um die wertmäßige Höhe der Beteiligung am Nachlaß geht, sondern um die nähere rechtliche Ausgestaltung der Beteiligung, deren Höhe nicht in Frage steht. So dürfte es entschieden zu weit gehen, wenn der BGH55 meint, bei unveränderter wertmäßiger Berechtigung der enterbten Ehefrau zur Hälfte verlangten die Unten S. 237 ff., 268 ff. NJW 1970, 1840. Vgl. oben S. 30 ff. 54 Unten S. 186 ff. 55 BGHZ 52, 17 (22 f.); kritisch dazu Reinicke, NJW 1969, 1344 f.; s. a. Welser, Jur. Blätter 1973, 8. st

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guten Sitten, daß sich diese Berechtigung als Erbrecht und nicht nur als Pflichtteilsrecht konkretisieren müßte. Dem Laien wird der Unterschied zwischen beiden Arten der Berechtigung ohnehin selten klar sein. Selbst der Jurist muß zugeben, daß die Stellung des Pflichtteilsberechtigten gegenüber der eines Erben zu wertmäßig entsprechender Quote nicht nur Nachteile hat, weil der Pflichtteilsberechtigte den Nachlaß nicht zu verwalten braucht, Verminderungen des Nachlasses nach dem Erbfall zunächst den Erben treffen und dieser die Pflichtteilsschuld begleichen muß, auch wenn für ihn selbst nichts mehr übrig bleibt56• An solche den Fachleuten geläufige Unterschiede kann man nicht mit dem groben, an laienhaften Vorstellungen orientierten Maßstab der guten Sitten herangehen. Für das Urteil der Sittenwidrigkeit hätte der BGH deshalb nur auf den Wert, nicht aber die juristische Ausgestaltung der Berechtigung abstellen dürfen, d. h. der Pflichtteil genügte, und das Testament war daher nicht sittenwidrig. Abzusehen von einer Aufspaltung der Verfügung anhand des objektiven Maßstabes der guten Sitten ist auch bei sogenannten Motivbündeln, die sich - realiter unentwirrbar - aus "guten" und "schlechten" Teilmotiven zusammensetzen. Zwar ist auch hier eine Teilung der Rechtsfolgen nach objektiven Gesichtspunkten denkbar (Belohnung für die geschlechtliche Hingabe einerseits, für die treue Haushaltsführung andererseits). Wie die faktischen Wertvorstellungen den Maßstab für eine solche Teilung abgeben sollen, ist allerdings unerfindlich. In diesen Fällen kann nur durch Korrektur des Tatbestandes, nämlich Eliminierung der verwerflichen Motivanteile im Wege der Umdeutung57 mit Hilfe des irrealen Willens des Erblassers geholfen werden. Führt die Umdeutung nicht weiter, weil ein irrealer Wille des Erblassers nicht zu ermitteln ist, so muß die Eliminierung des verwerflichen Tatbestandsanteils als gescheitert betrachtet werden. Die Verfügung bleibt sittenwidrig und vollständig nichtig58. Sie ist nicht nur wegen ihres Ausmaßes sittenwidrig, sondern der sittenwidrige Motivanteil durchzieht sie untrennbar in ihrer Gesamtheit59• Der Gesichtspunkt der Teilnichtigkeit, der sich nur auf das Übermaß bezieht, versagt hier'0 • Nach alledem ist die Möglichkeit der Zerlegung erbrechtlicher Verfügungen in einen sittenwidrigen und einen einwandfreien Teil nicht Reinicke, NJW 1969, 1344. Dazu im einzelnen unten S . 186 ff. 58 Für Gültigkeit beim "Oberschießen" achtbarer Motive Bartholomeyczik, Erbrecht&, 1971, § 23 I 2 f, S. 122. 59 Gemhuber, FamRZ 1960, 330: "Nur sprechen die für sie (d. h. die Teilungsmöglichkeit) zeugenden Tatbestände nicht von anerkennenswerten oder verpönten Motiven des Erblassers, sondern von wirksamen und unwirksamen Teilen eines Rechtsgeschäfts." &o Vgl. oben S. 152. 56

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II. Nichtigkeit und Umdeutung bei sittenwidrigen Motiven

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ausgeschlossen. Zu kritisieren ist nur, daß die Rechtsprechung diese Aufteilung nicht anhand der faktischen Wertvorstellungen, sondern aufgrund subjektiver Dezision vornimmt. Diunit ergibt sich aueh die Stellungnahme zu der Kritik Reinickes61 , Ramms62 und Husmanns63 an der allgemeinen Möglichkeit einer Teilaufrechterhaltung. Bloße richterliche Dezision wird von § 138 Abs. 1 BGB nicht gedeckt. Sie rechtfertigt also keine flexiblen Entscheidungen64 auf Kosten irgendeines Interesses, also auch nicht desjenigen der Rechtssicherheit, der Achtung des Erblasserwillens oder der Freiheit des Bürgers. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob die Positionen Flexibilität einerseits, Rechtssicherheit, Freiheit usw. andererseits wirklich Antinomien bilden, was Speckmann65 für die Freiheit nicht ohne Berechtigung energisch in Abrede stellt. Im Ergebnis wirkt sich die hier vertretene Ansicht natürlich eher im Sinne Reinickes, Ramms und Husmanns als in dem des BGH und Speckmanns aus. Wenn richterliche Dezision eine Teilung nicht rechtfertigt, wird diese nur selten möglich sein, nämlich nur da, wo sich ein entsprechender empirisch zu ermittelnder Satz der Sittenordnung auffinden und notfalls beweisen läßt. Nur wo dennoch Teilnichtigkeit Platz greüt, taucht die Frage auf, was mit dem an sich "gültigen" Teil der Verfügung zu geschehen hat. In Betracht zu ziehen sind die§§ 139 und 2085 BGB66 • Verfehlt wäre es, sie für die Möglichkeit der Teilaufrechterhaltung überhaupt heranzuziehen; denn sie setzen eine Teilnichtigkeit voraus und regeln das Schicksal des von der Nichtigkeit an sich nicht betroffenen Restes. Wörtlich paßt § 139 BGB. Schon die im Konditional abgefaßte Formulierung der Vorschrift verrät, daß es sich hier um die Ermittlung eines irrealen Willens des Erklärenden handelt. § 139 BGB wird in der Literatur trotzdem des öfteren als Auslegungsregel bezeichne~7, also 61 NJW 1969, 1345. JZ 1970, 130. es NJW 1971, 404 ff. 6( Dafür aber Speckmann, JZ 1970, 402; NJW 1971, 924 f. 65 a.a.O. Zu Recht weist er auch darauf hin, daß es mit der Berechenbarkeit der Entscheidungen im Zivilprozeß ohnehin nicht weit her ist (S. 402 f.). 66 Sie können also nicht schon herangezogen werden, um die Möglichkeit einer Teilnichtigkeit zu begründen, sondern knüpfen an deren Vorliegen an. 67 Enneccerus - Nipperdey, Allgemeiner Teil Il15, § 202 IV 2, S. 1219; Hefermehl in Soergel- Siebertlo, Randnr.1 zu§ 139; Erman- Westermann•, Anm.1 zu § 139; Lange, Allgemeiner Tei113, 1970, § 49 IV 1, S. 314; StaudingerCoingu, Randnr. 13 zu § 139, und Lebmann- Hübner, Allgemeiner Tei116, § 27 II d y