In naher Zukunft werden bedeutende Vermögenswerte vererbt. Dabei steht nicht nur der Vermögenstransfer zwischen den Gene
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German Pages 952 Year 2004
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 288
Testierfreiheit und Ehegattenschutz Zum Schutz der Vermögensinteressen und der Persönlichkeitsrechte des überlebenden Ehegatten vor und durch Verfügungen von Todes wegen
Von Joachim Goebel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
JOACHIM GOEBEL
Testierfreiheit und Ehegattenschutz
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 288
Testierfreiheit und Ehegattenschutz Zum Schutz der Vermögensinteressen und der Persönlichkeitsrechte des überlebenden Ehegatten vor und durch Verfügungen von Todes wegen
Von Joachim Goebel
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn.
Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Teil einer Habilitationsschrift angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-11216-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort In Gegenwart und naher Zukunft steht die Vererbung bedeutender Vermögenswerte an. Der Schutz des überlebenden Ehegatten des Verstorbenen rückt damit mehr und mehr mit in den Mittelpunkt der rechtsdogmatischen und rechtspraktischen Aufmerksamkeit. Die vorliegende Untersuchung möchte einen Beitrag zur Frage leisten, wie das geltende Recht die Vermögensinteressen und die Persönlichkeitsrechte des überlebenden Ehegatten sowohl vor als auch durch Verfügungen von Todes wegen des verstorbenen Ehepartners schützt. Die Arbeit stellt den Hauptteil einer umfangreicheren Untersuchung zum Thema dar, die im Sommersemester 2001 von der Juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Habilitationsschrift angenommen worden ist. Sie wird flankiert durch die beiden Studien zum Thema „Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht“ sowie zum Thema „Der Nießbrauch an Personengesellschaftsanteilen“, welche zeitgleich mit dieser Arbeit im Hause Duncker & Humblot erscheinen. Mein aufrichtiger Dank gilt zuallererst meinem verehrten akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Peter Gottwald. In bewundernswerter Umsicht und Geduld betreute er das Forschungsprojekt und zeigte sich für alle Diskussionen offen. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Dieter Schwab für die Übernahme des Zweitgutachtens und für die wertvollen Anregungen. Dem Geschäftsführer des Verlages, Herrn Prof. Dr. Norbert Simon, sowie Herrn Dr. Florian R. Simon (LL. M.) sei an dieser Stelle herzlich für das verlegerische Engagement gedankt. Mein Dank gilt auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mit der Gewährung eines Habilitationsstipendiums und einer Druckkostenbeihilfe zu dem Gelingen des Werks beigetragen hat. Köln, im März 2003
Joachim Goebel
Inhaltsübersicht Grundlegung
37
§1
Rechtliche Dogmatik als geltungstheoretisch ausgerichtete Dogmatik. . . . . 38
§2
Die Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Erster Teil Der Schutz des überlebenden Ehegatten im Privatbereich
47
Kapitel 1 Vorüberlegungen zur Thematik §3
49
Im Focus: Schutz personaler Rechte und der Vermögensinteressen . . . . . . . 49
Abschnitt 1 Die Sicherung der Testierfreiheit des überlebenden Gatten
51
Kapitel 2 Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
51
§4
Kritik bisheriger Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
§5
Vorüberlegungen: Reziprozität und Ehegattentestament . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
§6
Testamentarische Bindung und gemeinschaftliche Todesverarbeitung . . . . 104 Kapitel 3 Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
154
§7
Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung . . . . . . . . . . . . . 154
§8
Entbindung qua Willen beider Gatten oder des Erstverstorbenen . . . . . . . . 170
§9
Entbindung aus Gründen des Schutzes des Überlebenden: Die Hauptfälle 195
§ 10 Entbindung qua Schutz des Überlebenden: Seltener einschlägige Fälle . . . 222
8
Inhaltsübersicht Kapitel 4 Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
246
§ 11 Entbindung im Fall der Wiederverheiratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 § 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln . . . 283 Kapitel 5 Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
324
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung . . . . . . . . . . . . 324
Abschnitt 2 Der Schutz sonstiger personaler Rechte des überlebenden Ehegatten
339
Kapitel 6 Personaler Ehegattenschutz und personfunktionales Erbrecht
339
§ 14 Sittenwidrigkeit und personfunktionales Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 § 15 Der Schutz personaler Rechte des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
Abschnitt 3 Die Versorgung des überlebenden Ehegatten im Privatbereich 387 Kapitel 7 Verpfründung und Veranlassung
388
§ 16 Die Bewältigung von Leistungsstörungen im Erbvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . 388 § 17 Leistungsstörungen und condictio ob rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 § 18 Einzelfragen zur condictio ob rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 § 19 Ergebnis zu Leistungsstörungen beim entgeltlichen Erbvertrag . . . . . . . . . . . 484 Kapitel 8 Versorgung – Pflichtteilsrecht – Unterhaltsrecht
498
§ 20 Die herkömmliche Versorgung des zurückgesetzten Ehegatten . . . . . . . . . . 498 § 21 Die Versorgung des zurückgesetzten Ehegatten über das Unterhaltsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531
Inhaltsübersicht
9
Kapitel 9 Zusammenfassung zum ersten Teil
566
§ 22 Zusammenfassung zum Schutz des Überlebenden im Privatbereich . . . . . . 566
Zweiter Teil Der Schutz des überlebenden Ehegatten im Unternehmensbereich
569
Kapitel 10 Einleitung zum zweiten Teil
571
§ 23 Die Versorgung des Überlebenden im Unternehmensbereich . . . . . . . . . . . . 571
Abschnitt 4 Die Ehegattenversorgung beim einzelkaufmännischen und beim freiberuflichen Unternehmen
589
Kapitel 11 Risikoaverse Versorgungsmodi
589
§ 24 Risikoaverse Mittel zur Versorgung des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Kapitel 12 Die Versorgung des unternehmerisch nicht oder gut befähigten Überlebenden
598
§ 25 Die Versorgung des unternehmerisch nicht befähigten Ehegatten . . . . . . . . 598 § 26 Die Versorgung des unternehmerisch starken Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . 601 Kapitel 13 Die Versorgung des unternehmerisch gering befähigten Gatten
609
§ 27 Vorüberlegungen zum Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 § 28 Die Versorgung über den Ertragsunternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . 626 § 29 Die Rechtsfolgen des Unternehmensertragsnießbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . 662
10
Inhaltsübersicht Kapitel 14 Die Versorgung des mittelmäßig befähigten Überlebenden
679
§ 30 Versorgung und Testamentsvollstreckung: Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . 679 § 31 Die Testamentsvollstreckung über den Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . 682 § 32 Treuhänderische Testamentsvollstreckung und Unternehmensnießbrauch . . 694 § 33 Die echte Testamentsvollstreckung und Unternehmensnießbrauch . . . . . . . 728 § 34 Die Versorgungstauglichkeit der Testamentsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . 741 Kapitel 15 Nochmals: Die Zulässigkeit des Ertragsnießbrauchs
779
§ 35 Die Zulässigkeit des Ertragsnießbrauchs an einem Unternehmen . . . . . . . . 779 § 36 Nießbrauch an einem Gegenstand „Unternehmen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801
Abschnitt 5 Die Ehegattenversorgung im Falle der Mitgliedschaft des Erblassers in einer Personenhandelsgesellschaft
817
Kapitel 16 Ehegattenversorgung und Personenhandelsgesellschaft
817
§ 37 Einführung – Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 § 38 Der Nießbrauch an einem OHG-Anteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 821
Abschnitt 6 Die Schwierigkeiten bei einem frühzeitigen Ableben des Unternehmers
825
Kapitel 17 Die Drittbestimmung des künftigen Unternehmers
827
§ 39 Materielle Höchstpersönlichkeit und Drittbestimmung des Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
Inhaltsübersicht
11
Kapitel 18 Die Testamentsvollstreckung im Unternehmensrecht
832
§ 40 Einzelkaufmännisches Unternehmen und Testamentsvollstreckung . . . . . . . 832 § 41 Personengesellschaft und Testamentsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878
Schlußteil
898
§ 42 Statt einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948
Inhaltsverzeichnis Grundlegung
37
§1
Rechtliche Dogmatik als geltungstheoretisch ausgerichtete Dogmatik . 38 I. Rechtssystem und Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 II. Geltungstheoretische versus konstitutionstheoretische Deutung des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
§2
Die Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vermögen – Tod – Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erbrecht als Vermögensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erbrecht und Todesverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erbrecht als funktionales Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begrifflichkeiten: Gewillkürtes Erbrecht – Personfunktionalität . . . .
. . . . . .
41 41 41 42 44 45
Erster Teil Der Schutz des überlebenden Ehegatten im Privatbereich
47
Kapitel 1 Vorüberlegungen zur Thematik §3
49
Im Focus: Schutz personaler Rechte und der Vermögensinteressen . . . 49 I. Schutz personaler Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Schutz der Vermögensinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Abschnitt 1 Die Sicherung der Testierfreiheit des überlebenden Gatten
51
Kapitel 2
§4
Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
51
Kritik bisheriger Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung und Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bisherige Deutungen der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bindung kraft Vertragsähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51 51 53 53
14
Inhaltsverzeichnis 2. Bindung kraft Äquivalenz und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das gemeinschaftliche Testament als Ausdruck fortgesetzten Familienrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bindung kraft Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertrauen als Blankettbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Normativierung des Vertrauens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Bezugspunkt von Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Vertrauen, Kenntnis und Umfang des relevanten Vertrauenstatbestands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vertrauen und Selbstverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Ausgewogenheit der von beiden Gatten geleisteten Investition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Selbstverantwortlichkeit der Ehegatten als Limitierung eines Vertrauensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bindung kraft Selbstbindung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formen der Selbstbindung im Ehegattentestament . . . . . . . . . . . b) Dogmatische Tragfähigkeit des Selbstbindungskonzepts . . . . . . III. Ergebnis der Diskussion bisheriger Deutungen testamentarischer Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§5
§6
Vorüberlegungen: Reziprozität und Ehegattentestament . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Bezugsraster testamentarischer Bindung: Die Theorie des sozialen Austauschs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konkretisierung: Sozialer Austausch – Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ausgang: Selbstbindung und soziale Interaktion . . . . . . . . . . . . 2. Reziprozität als stabilisierendes Moment der Bindung . . . . . . . . . . . III. Nochmals: Kritik am Vertrauensgedanken als Grundlage testamenarischer Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bindung durch Selbstdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bindungsstabilisierung durch Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erbrechtliche Reziprozität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nochmals: Die mangelnde Erklärungskraft des vertrauenstheoretischen Bindungskonzepts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Testamentarische Bindung und gemeinschaftliche Todesverarbeitung . I. Testamentarische Bindung und Todesverarbeitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der funktionale Gehalt des Testierens und das Verstehen einer Todesverarbeitung durch Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Todesverarbeitung und testamentarische Bindung . . . . . . . . . . . . . . .
56 56 57 61 61 62 62 63 66 68 69 69 70 75 76 76 80 83 84 84 84 85 87 87 92 96 96 99 99 100 104 104 104 107
Inhaltsverzeichnis
15
3. Testamentarische Bindung und Gattenbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Codierung von Intimität in der ehelichen Verbindung. . . . . b) Der Grund für die Einschränkung der Bindungswirkung auf das gemeinschaftliche Testament von Ehegatten und Lebenspartnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einzelheiten testamentarischer Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einseitige Abhängigkeit und testamentarische Bindung . . . . . . . . . . 2. Die formale Bindung zu Lebzeiten beider Gatten: § 2271 I BGB . a) Die Begründung des lebzeitigen Widerrufsrechts . . . . . . . . . . . . b) Die rechte Form des Widerrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die partikularen Interaktionsgepflogenheiten der Ehegatten im Lichte gesetzlicher Typisierung: Die Begründung der gesetzlichen Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typisierte Auslegungsregeln: Die Ehe als normativer Realtypus . . a) Der Prozeß der Interaktionsrekonstruktion: Allgemeines . . . . . . b) Äquivalenz und Solidarität in der Ehe als Auslegungsmittel. . . c) Typen ehelicher Interaktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beispiele für verselbständigte Vernunftserwägungen. . . . . . . . . . e) Die Wiederverheiratung Geschiedener als Beispiel . . . . . . . . . . . 2. Der mutmaßliche Wille der Ehegatten: Beispiele für Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beispiel I: Die Besserstellung des Ehegatten bei Schlechterstellung des Endbedachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beispiel II: Der Kreis des von der Bindungswirkung erfaßten Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Beispiel III: Beschwerung kraft sittlicher Pflicht oder aus Anstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die gesetzliche Auslegungsregel des § 2270 II BGB . . . . . . . . . . . . a) Typisierende Einschränkungen der Typisierung des § 2270 II BGB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Begriff der Verwandten und des Nahestehens i. S. § 2270 II BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Entscheidung in Zweifelslagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gemeinschaftliches Testament und Erbvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der relevante Verständnishorizont bei der Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Zentralgedanke der testamentarischen Bindung: Die Gabe der besseren Todesverarbeitung als psychische Gratifikation . . . . . 2. Der Reziprozitätsmechanismus der §§ 2270 f. BGB. . . . . . . . . . . . .
111 111
114 116 116 119 119 120
122 122 123 124 124 126 127 131 131 133 135 137 137 140 143 144 148 150 150 151
16
Inhaltsverzeichnis Kapitel 3
§7
§8
§9
Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
154
Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung . . . . . . . . . I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Konfliktpotential testamentarischer Bindung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Hauptgründe zur Loslösung von der Bindungswirkung . . . . . . II. Typische Fallgestaltungen und Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typische Fallgestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die beteiligten Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Interessen des Erstverstorbenen und des Überlebenden . . . b) Die Interessen des neuen Gatten und der Kinder aus der zweiten Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Interessen des Endbedachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Lösung von der testamentarischen Bindung als Folge einer auf die Todesverarbeitung bezogenen Erwartungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . IV. Weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 154 155 156 160 160 161 161
Entbindung qua Willen beider Gatten oder des Erstverstorbenen . . . . I. Freistellung und Ehegattenwillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ermittlung einer Freistellungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Freistellungsklausel als Instrument zur Bewältigung von Erwartungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Freistellung und Anfechtung: Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freistellung und ergänzende Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Schicksal der korrespektiven Verfügung des Erstverstorbenen . . . 1. Der Fall der ausdrücklichen Freistellungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Fall der im Wege ergänzender Auslegung ermittelten Freistellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freistellung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage? . . . . . . . . . . . . . IV. Beispielhafte Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die fehlgeschlagene Versorgung des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . 2. Die vorrangige Prüfung der Wechselbezüglichkeit . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Beispiel des unvorhersehbaren Vermögenszuwachses beim überlebenden Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Freistellungsklausel bei der Einheits- und bei der Trennungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
170 170 170 172
Entbindung aus Gründen des Schutzes des Überlebenden: Die Hauptfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Loslösung von der Bindung kraft Ausschlagung: Der Fall des § 2271 II 1 HS 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ausschlagungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163 164 166 168
174 175 178 184 184 187 187 190 190 190 191 193 195 195 196 197
Inhaltsverzeichnis
17
b) Eigene Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Person des Ausschlagenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die ausschließliche Bedenkung eines Dritten . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Bedenkung des überlebenden Gatten und eines Dritten . . . aa) Diskussionslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rechtslage bei der Trennungslösung. . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Rechtslage bei der Einheitslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis zur Ausschlagung bei Bedenkung des Überlebenden und eines Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Wegfall des Endbedachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Wegfall der Bindung aufgrund Wegfalls des Endbedachten . . 2. Die Wechselbezüglichkeit der Verfügung hinsichtlich des Ersatzerben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Lösung von der Bindung qua Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Selbstanfechtung durch den überlebenden Teil . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Form- und Fristfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anfechtung durch Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203 206 206 207 207 209 212
§ 10 Entbindung qua Schutz des Überlebenden: Seltener einschlägige Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Loslösung von der Bindung kraft Kondiktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die condictio ob rem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Probleme des Leistungsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die allgemeine Abschöpfungskondiktion des § 812 I 1 Alt. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Zuweisungsgehalt der Testierfreiheit in Anlehnung an die Rechtslage bei den klassischen absoluten Rechten . . . . . . . . . . . c) Präzisierung: Zuweisungsgehalt und Legalerwerb . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis zur Kondiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Lösung von der Bindung aufgrund des Willens des Überlebenden . 1. Fälle: Anschauungswandel und irrtumsrechtlich irrelevante Umstandsänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Selbstverständliche Vorstellungen“ – Anfechtung – ergänzende Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Wertungsparallelität zur Sittenwidrigkeit einer letztwilligen Verfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Ausgang: Gewichtung der Interessen beider Gatten . . . . . . b) Der Wertungsabgleich mit § 138 I BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Einsatzpunkte einer Lösung von der Bindung in Anlehnung an § 138 I BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Schicksal der Verfügungen des Erstverstorbenen . . . . . . . . . . .
214 215 215 216 217 217 217 220 221 222 222 222 223 225 228 228 230 231 232 233 233 233 235 238 238 238 242 244
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Inhaltsverzeichnis Kapitel 4 Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
§ 11 Entbindung im Fall der Wiederverheiratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Interessenlage und Grundfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Position des neuen Ehegatten hinsichtlich der Vererbung seines Vermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem der Beeinträchtigung der Endbedachten aus erster Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fall 1: Einheitslösung im gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fall 2: Trennungslösung im gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Position des wiederverheirateten Längstlebenden I: Allgemeines . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das von der Bindungswirkung erfaßte Vermögen des überlebenden Teils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die zur Vererbung anstehenden Vermögensmassen beim Überlebenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Testierfreiheit und das Eigenvermögen des Überlebenden . aa) Die Limitierung des Erwartungsschutzes im Falle der Wiederverheiratung: Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Reziprozität und Wiederverheiratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Das Maß der Loslösung von der testamentarischen Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Lösung von der Bindung und § 2270 I BGB . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Zustimmung der erstehelichen Abkömmlinge zur beeinträchtigenden Verfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Position des wiederverheirateten Längstlebenden II: Die Anfechtung gem. § 2079 BGB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Selbstanfechtung durch den Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Anfechtungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Form und die Frist der Anfechtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Selbstanfechtung und Freistellungsklausel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Anfechtung durch die Pflichtteilsberechtigten . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Ausschluß der Anfechtung gem. § 2079 S. 2 BGB. . . . . . . . . . 4. Die Wirkung der Anfechtung nach § 2079 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . a) Die Wirkung hinsichtlich des Testaments des Überlebenden. . . b) Die Wirkungen hinsichtlich der korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
246 246 246 247 247 249 249 253 253 253 254 254 256 256 257 262 264 266 267 269 269 269 272 276 277 278 279 279 282
Inhaltsverzeichnis § 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kautelarjurisprudentielles Regelungsangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dogmatische Problemstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Situation vor der Wiederverheiratung bei der Einheitslösung: Die Konkurrenz zwischen der lebzeitigen Rechtmacht des Überlebenden und dem Schutz der Nacherben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die dogmatische Konstruktion hinter einer Wiederverheiratungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Testierfreiheit und Nacherbenschutz im Kontext der erbrechtlichen Typenordnung: Formalbegründungen aus dem Bedingungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Konkurrenz zwischen Ehegattenschutz und Nachlaßinteressen a) Der Ausgangspunkt: Die Widersprüchlichkeit im gesetzlichen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nacherbenschutz und Erblasserwille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die beiden relevanten Kriterien zur Entscheidung des Konkurrenzproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fallgruppenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Nacherbenschutz für den Fall einer klaren Bevorzugung des Überlebenden vor den Nacherben: Der Bezug auf ähnliche gesetzliche Wertungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Ansatzpunkt: Lebzeitiges Eigeninteresse des Vorerben . . . b) Dogmatisch-konstruktive Bewältigung: Zustimmungspflicht des Nacherben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Flexibilisierung des Nacherbenschutzes und erbrechtlicher Typenzwang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Testierfreiheit und Nacherbenschutz: Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Rechtslage nach Wiederverheiratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Testamentarische Bindung und Wiederverheiratungsklausel . . . . . . a) Entwicklung einer typisierenden Auslegungsregel . . . . . . . . . . . b) Die Diskussion der Auslegungsregel des Kammergerichts. . . . . 3. Wiederverheiratungsklausel und der Fortfall der Verfügung des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Im Zweifel: Fortfall der Verfügung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfügungsfortfall und Ehegatteninteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfügungsfortfall und Schutz der erstehelichen Kinder . . . . . . d) Verfügungsfortfall und Ehegattensolidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis zu Wiederverheiratungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
283 283 283 285
287 287
290 292 292 294 295 296
299 299 302 305 306 308 308 310 310 311 317 317 318 319 320 322
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Inhaltsverzeichnis Kapitel 5 Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung . . . . . . . . . I. Zusammenfassung der tragenden Entbindungsmöglichkeiten . . . . . . . . 1. Die drei tragenden Wertungen einer Lösung von der testamentarischen Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Testamentarische Entbindung und Erwartungsstörung . . . . . . . . . . . a) Entbindung und tatsächlich gehegte Erwartungen . . . . . . . . . . . . b) Normative Begrenzungen der Erwartungen des Erstverstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das wirtschaftliche Äquivalent zur Entbindung: Vermögensübertragung durch lebzeitige Rechtsgeschäfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. § 2287 BGB und unbenannte Zuwendungen unter Ehegatten . . . . . 3. Die Beeinträchtigungsabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein zehnstufiges Untersuchungsschema. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entbindung als Persönlichkeitsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
324 324 324 324 325 325 327 328 328 329 330 332 332 338
Abschnitt 2 Der Schutz sonstiger personaler Rechte des überlebenden Ehegatten Kapitel 6 Personaler Ehegattenschutz und personfunktionales Erbrecht
339
§ 14 Sittenwidrigkeit und personfunktionales Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 I. Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 II. Gute Sitten und Testierfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 § 15 Der Schutz personaler Rechte des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundrechte Dritter und Sittenwidrigkeit: Allgemeines . . . . . . . . . . . . . 1. Das Konstruktionsproblem: Die Art der Einwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problemstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Schwierigkeiten eines grundrechtlichen Wertedenkens . . . . c) Der wiederaufgelebte Streit um die Grundrechtswirkung im Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Kollisionsproblem: Der Umfang der Einwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Möglichkeiten der Präzisierung des § 138 I BGB . . . . . . . . . . . . b) Sittenwidrigkeitsprüfung und Kernbereich der Grundrechte . . .
342 343 343 343 344 348 351 351 354
Inhaltsverzeichnis
21
c) Unerträglichkeit des Eingriffs in Rechte Dritter? . . . . . . . . . . . . II. Die beiden Hauptfälle des sittenwidrigkeitsrechtlichen Bedachtenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Sittenwidrigkeit erbrechtlicher Potestativbedingungen . . . . . . . a) Das Denken in Anerkennungsverhältnissen und grundrechtliche Drittwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Streitstand zur Sittenwidrigkeit erbrechtlicher Potestativbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kritik der bisherigen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Schwenk in der Perspektive: Anerkennungsverhältnisse im Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Präzisierung: Sittenwidrigkeit trotz eines bloßen Angebots an den Bedachten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Leitlinien der Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Testierfreiheit und Familienordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsatz: Vorrang der Testierfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahme: Schutz des Gefühlszustands des Überlebenden in unerträglichen Fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Zeitpunkt der Beurteilung der Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . b) Ein subjektiver Tatbestand bei § 138 I BGB? . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Rechtsfolgenseite der Guten-Sitten-Klausel. . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355 358 358 359 359 359 361 361 364 364 371 374 375 375 377 380 380 381 382 385
Abschnitt 3 Die Versorgung des überlebenden Ehegatten im Privatbereich 387 Kapitel 7 Verpfründung und Veranlassung § 16 Die Bewältigung von Leistungsstörungen im Erbvertrag . . . . . . . . . . . . . I. Fälle: Verpfründung und Veranlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Testamentarische Verpfründung und Veranlassung . . . . . . . . . . . . . . 2. Erbvertragliche Verpfründung und Veranlassung: Hauptfälle . . . . . 3. Die Hauptprobleme bei einer gestörten Versorgung des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problem 1: Die erbvertragliche Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Problem 2: Ansprüche gegen den Überlebenden . . . . . . . . . . . . . II. Lösungsvorschläge bei einer gestörten Versorgung des Überlebenden 1. Übersicht über bisherige Lösungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
388 388 388 388 390 391 391 392 392 393
22
Inhaltsverzeichnis a) Der Fall der anfänglichen Nichtigkeit der Versorgungszusage b) Der Fall der Schlechterfüllung, des Verzugs oder der Nichterfüllung der Versorgungszusage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Streitstand: Leistungsstörungen des Versorgungsvertrages und Testierfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Synallagma-Lösungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Anfechtungslösung: Anfechtung wegen Motivirrtums. . . . . c) Die Stufenlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Kondiktionslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Synallagmatische Verknüpfung zwischen Erbvertrag und Versorgungszusage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 17 Leistungsstörungen und condictio ob rem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines zum Bereicherungsanspruch des Überlebenden . . . . . . . . 1. Das Zuwendungssubstrat: Die stabilisierte Erberwartung als Kondiktionsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Erberwartung als Vermögensgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Gegenstandsorientierung des Bereicherungsrechts . . . . . . . 2. Die causa des Erbvertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Diskussionslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Bezugsfeld der causa-Lehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Erbvertrag als grundsätzlich kausales Rechtsgeschäft . . . . . d) Die Art der causa erbrechtlicher Zuwendungsgeschäfte jenseits der Dichotomie von Verpflichtung und Verfügung . . . . . . . 3. Einwände gegen eine causa-Fähigkeit der Verfügung von Todes wegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weiteres Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die drei Hauptprobleme des Bereicherungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . 1. Mögliche Kondiktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Condictio indebiti. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Condictio ob rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Zulässigkeit einer gewillkürten Abstraktheit von erbrechtlichen Verfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problementfaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die dogmatische Unfruchtbarkeit einer Parallele zu schuldrechtlichen Zweckverfehlungsfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewillkürte Abstraktheit und die Rechtssicherheit einer perpetuierten Antizipation der dinglichen Zuständigkeitsänderung . . d) Zusammenfassung zur Zulässigkeit einer gewillkürten Abstraktheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Exkurs zur bereicherungsrechtlichen Zweckvereinbarung . . . . . . . . a) Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
393 394 394 394 395 396 398 398 399 403 404 404 404 404 408 410 410 412 417 417 421 425 426 426 426 428 430 430 432 436 437 437 437
Inhaltsverzeichnis b) Vermögensrechtlicher Exkurs: Die Zweiseitigkeit der Zweckvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Zweckvereinbarung im allgemeinen Vermögensrecht bb) Die causa der datio ob rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Schutz des endbedachten Dritten über die Zweckvereinbarung im Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gestaltung 1: Der endbedachte Dritte lehnt die Zweckvereinbarung ab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gestaltung 2: Der endbedachte Dritte stimmt ausdrücklich der Zweckvereinbarung zu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gestaltung 3: Der Dritte kennt die Veranlassungsmotivation des Erblassers nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gestaltung 4: Der Dritte kennt die Veranlassungsmotivation des Erblassers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis zum Schutz des Dritten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18 Einzelfragen zur condictio ob rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einzelfragen zur Zweckvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Form der Zweckvereinbarung als erbrechtliches Problem . . . . 2. Die Ermittlung der Zweckvereinbarung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Situation im allgemeinen Vermögensrecht. . . . . . . . . . . . . . . b) Die Situation beim Erbvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Erfordernis der Gegenleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das kondiktionsrechtliche Sonderproblem: Die nachträgliche Zweckvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ein originärer Einsatzpunkt der Kondiktion neben der Anfechtung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Zulässigkeit einer nachträglichen Zweckvereinbarung . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Weitere Einzelfragen zum Tatbestand der Kondiktion . . . . . . . . . . . . . . 1. Die bereicherungsrechtlich relevante Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Wegfall der causa bei der condictio ob rem des § 812 I 2 Alt. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problemskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fall 1: Versorgung qua Versorgungszusage . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fall 2: Versorgung aufgrund Veranlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fragen der Rechtsfolgen der condictio ob rem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was wird vom endbedachten Dritten verlangt? . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einführung in die Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Art und Weise der Zustimmung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Form der Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Kosten der notariellen Beurkundung der Zustimmungserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Form- und Fristfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Form, in der die Kondiktion geltend zu machen ist . . . . . .
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438 438 442 443 443 444 445 448 450 451 451 451 453 453 456 458 460 460 461 462 463 463 465 465 466 468 469 469 469 471 473 475 476 476
24
Inhaltsverzeichnis b) Die Frist, in der die Kondiktion geltend zu machen ist . . . . . . . aa) Analoge Anwendung des § 2283 I, II 1 BGB auf die Kondiktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Relevanz von Stundung und Kondiktionsanerkenntnis 3. Die Folgen für die korrespektive Verfügung des Erstversterbenden bei einem korrespektiven zweiseitigen Erbvertrag . . . . . . . . . . IV. Überleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
478
§ 19 Ergebnis zu Leistungsstörungen beim entgeltlichen Erbvertrag . . . . . . . I. Zusammenfassende Bemerkungen zur condictio ob rem . . . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis von Kondiktion, Änderungs- und Rücktrittsvorbehalt und Selbstanfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Änderungs- und Rücktrittsvorbehalt und der Tatbestand der Kondiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Selbstanfechtung und der Tatbestand der Kondiktion . . . . . . . . III. Der Sonderfall der nachträglichen Zweckvereinbarung . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis: Die Bewältigung von Leistungsstörungen beim entgeltlichen Erbvertrag und der Sinn der Kondiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Anwendungsbereich und die praktische Bedeutung der Kondiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Normalfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Sonderfall: Nachträgliche Zweckvereinbarung . . . . . . . . . . . 2. Der Rücktritt vom Erbvertrag gem. § 2295 BGB . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
484 484
478 480 482 484
487 487 489 491 492 493 493 493 495 495 497
Kapitel 8 Versorgung – Pflichtteilsrecht – Unterhaltsrecht § 20 Die herkömmliche Versorgung des zurückgesetzten Ehegatten. . . . . . . . I. Der Ansatz der Rechtsprechung: Sozialmoral-gesteuerter Ehe- und Familienschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Motivierung, Inhalt und Zweck als Agens einer Gesamtwürdigung des letztwillig Verfügten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Objektivierungstendenzen im Kontext von Ehe und Familie? . . . . . II. Kompensation einer grob unbilligen Nichtversorgung des überlebenden Ehegatten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unterhaltsrechtliche versus erbrechtliche Korrektur der Bedürftigkeit des überlebenden Ehegatten post mortem: Thesen zu zwei Lösungswegen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Problemmodellierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Beziehung von Unterhalt und Pflichtteil: strenge Äquivalenz, weiche Äquivalenz und Neutralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Sperre des § 1615 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
498 498 499 499 501 503
503 505 506 507
Inhaltsverzeichnis III. Äquivalenzformen von Unterhalt und Pflichtteil in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktionen des Pflichtteilsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers: Der Wert der Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der historische Kontext des Pflichtteilsrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis der historischen Skizze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Äquivalenzformen von Unterhalt und Pflichtteil in systematischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Familienideologische Einkleidung der Testierfreiheit und strenge Äquivalenzthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die technische Ausgestaltung des Pflichtteilsrechts . . . . . . . . . . . . . 3. Familienerbrecht und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einwirkungen sozialer Sicherungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Funktionswandel der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verfassungsrechtliche Aspekte strenger Äquivalenz . . . . . . . . . . . . . a) Pflichtteilsübersteigende Versorgung und Diskriminierung . . . . b) Erbrechtsgleichheit und Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleiche Vermögensteilhabe und personale Verbundenheit . . . . . 5. Vergleich mit dem Güterrecht: Durchbrechungen des Prinzips der Ausschließlichkeit des Zugewinnausgleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Ergebnis: Die strenge Äquivalenzthese als Arcanum des Pflichtteilsrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Sperre des § 1615 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vergleich mit Geschiedenenunterhalt, Versorgungsausgleich und den Gesetzesmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 21 Die Versorgung des zurückgesetzten Ehegatten über das Unterhaltsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Lückenfeststellung: Postmortale Nachwirkungen der Ehe . . . . . . . . . . . 1. Das Problem: Der normative Ordnungsrahmen einer pflichtteilsübersteigenden Nachlaßpartizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Differenzierungen: Tod – Scheidungsantrag – Scheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formale Ausdrucksformen ehelicher Zerrüttung . . . . . . . . . . . . . b) Der immanente Telos des Scheidungsunterhalts. . . . . . . . . . . . . . c) Konkretisierung: Scheidungsunterhalt, Solidarität und Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der normative Ordnungsrahmen des nachehelichen Versorgungsvertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertrauendürfen und der Wertungsabgleich zur Sittenwidrigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fortwirkendes Vertrauen als typisiertes empirisches Faktum . .
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507 507 508 510 513 514 515 516 518 518 519 520 520 521 522 524 525 526 526 527 529 531 532 532 533 534 536 538 543 543 544
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Inhaltsverzeichnis c) Der dogmatische Ausgangspunkt des normativen Ordnungsrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Argumente gegen eine Entwertung des Versorgungsvertrauens des Überlebenden qua Scheidungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Argumente für eine Entwertung des Versorgungsvertrauens des Überlebenden qua Scheidungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis: Der normative Ordnungsrahmen überquotaler Nachlaßpartizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lückenfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konkretion der Lückenfüllung: Das Maß des konkret geschützten Vertrauens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konstruktion der Lückenfüllung: Gesetzliche Erbfolge – Erblasserschuld – Kapitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konstruktive Wege zur Ehegattenversorgung: Schuldrechtliche oder dingliche Nachlaßpartizipation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Friktionen einer dinglichen Nachlaßbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . c) Vorzüge der schuldrechtlichen Nachlaßbeteiligung . . . . . . . . . . . d) Sonderfragen: Interessenbezug, Ehebedingtheit, Einsatzzeitpunkt, wertmäßige Anspruchslimitierung, Vermögenseinsatz . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zusammenfassende Bemerkungen zum bisherigen Gedankengang 2. Zusammenfassende Bemerkungen zum Schutz des Versorgungsinteresses des überlebenden Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
545 546 548 551 552 553 556 556 557 560 561 563 563 564
Kapitel 9 Zusammenfassung zum ersten Teil § 22 Zusammenfassung zum Schutz des Überlebenden im Privatbereich . . . I. Der Schutz des todesbezogenen Persönlichkeitsrechts des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schutz sonstiger personaler Rechte des Überlebenden . . . . . . . . . . III. Der Schutz der Versorgung des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
566 566 566 567 568
Zweiter Teil Der Schutz des überlebenden Ehegatten im Unternehmensbereich
569
Kapitel 10 Einleitung zum zweiten Teil
571
§ 23 Die Versorgung des Überlebenden im Unternehmensbereich . . . . . . . . . 571 I. Die beiden Hauptprobleme des letztwillig verfügenden Unternehmers 571 1. Der Kreis der erfaßten Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571
Inhaltsverzeichnis
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2. Hauptproblem I: Die Versorgung des überlebenden Teils. . . . . . . . . 3. Hauptproblem II: Der frühzeitige Tod des Unternehmers . . . . . . . . II. Ein analytisches Schema der Versorgung des Überlebenden . . . . . . . . . 1. Risikoaverse Versorgung versus risikopartizipative Versorgung . . . a) Risikoaverse Versorgungsinstrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Risikopartizipative Versorgungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Risikopartizipative Versorgung insbesondere beim einzelkaufmännischen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die unternehmerische Befähigung des Ehegatten als Richtschnur der Gattenversorgung: Ein analytisches Schema . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Versorgungsinteressen des Überlebenden: Ein weiteres analytisches Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Haftung des überlebenden Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unternehmensführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Relevanz ökonomischer Rationalität in einem personfunktionalen Erbrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gewichtungen in den weiteren Gedankengängen . . . . . . . . . . . . . . . III. Zivilrechtliche Gestaltung und steuerrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . .
572 574 575 575 576 577 578 579 582 582 582 584 586 587 588
Abschnitt 4 Die Ehegattenversorgung beim einzelkaufmännischen und beim freiberuflichen Unternehmen
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Kapitel 11 Risikoaverse Versorgungsmodi § 24 Risikoaverse Mittel zur Versorgung des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . I. Risikoaverse Versorgung des Ehegatten auf der Grundlage einer obligatorischen Leibrentenverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Risikoaverse Versorgung des Ehegatten auf der Grundlage dinglicher Sicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herkömmliche dingliche Sicherungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insbesondere die Reallast . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
589 589 589 591 591 593
Kapitel 12 Die Versorgung des unternehmerisch nicht oder gut befähigten Überlebenden
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§ 25 Die Versorgung des unternehmerisch nicht befähigten Ehegatten . . . . 598 I. Gründung einer GmbH, einer KG oder einer Stillen Gesellschaft . . . . 598 II. Die Gewährleistung des Interesses an einer versorgungsgerechten Unternehmenspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599
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Inhaltsverzeichnis
§ 26 Die Versorgung des unternehmerisch starken Ehegatten . . . . . . . . . . . . . I. Bestellung eines Unternehmensnießbrauchs mit anschließender Unternehmensverpachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorteile der Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bestellung eines Unternehmensnießbrauchs mit anschließender Ausübungsüberlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorteile der Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der sog. „stille Nießbrauch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 13 609
Die Versorgung des unternehmerisch gering befähigten Gatten § 27 Vorüberlegungen zum Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bestellung des Unternehmensnießbrauchs: Nießbrauch „am Unternehmen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorteile der herrschenden Meinung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die praktischen Hauptprobleme eines Nießbrauchs „am Unternehmen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das erste Problem: Die Nießbrauchsbelastung des Neuerwerbs von Gegenständen des Anlagevermögens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Konstruktion: Nießbrauchsbelastung des Neuerwerbs ex lege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Wertung: Der Grund für den Direkterwerb . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Folgerungen für das Problem „Nießbrauchsbelastung des Neuerwerbs“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das zweite Problem: Die Tauglichkeit der Nießbrauchskonstruktion für ein jedes einzelkaufmännisches Unternehmen . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ausgestaltung des Unternehmensnießbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigentumsverhältnisse und Belastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anlagevermögen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umlaufvermögen: Eigentumsübergang an den Nießbraucher . . 2. Forderungszuständigkeit – Haftungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auskehrfähiger Gewinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 28 Die Versorgung über den Ertragsunternehmensnießbrauch . . . . . . . . . I. Gestaltung und Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Ausgestaltung des Ertragsnießbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Dinglichkeit des Ertragsnießbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dinglichkeit als Schutz gegenüber Geschäftsgläubigern? . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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a) Die Haftung des Ertragsnießbrauchers für Geschäftsschulden . b) Die negatorischen Rechte des Ertragsnießbrauchers und die Stellung der Geschäftsgläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Dinglichkeit des Ertragsnießbrauchs und die Verfügungsbefugnis des Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Übersicht zu den beiden Hauptproblemen des Ertragsnießbrauchs 4. Die Zulässigkeit einer Partizipation des Ehegatten am unternehmerischen Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Dingliche Leistungspflicht im Nießbrauchsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . a) Sachenrechtliche Einwände gegen eine dingliche Leistungspflicht im Nießbrauchsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ertragszuweisung und Unternehmerpersönlichkeit . . . . . . . . . . . aa) Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bewirtschaftungspflicht und Insolvenznähe . . . . . . . . . . . . . cc) Einschränkungen in der sachlichen Dimension . . . . . . . . . . dd) Einschränkungen in der zeitlichen Dimension . . . . . . . . . . . III. Der erste Bestandteil des Handlungsrahmens des Unternehmers: Die wirtschaftliche Bestimmung des Betriebsvermögens. . . . . . . . . . . . . . . . 1. Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nießbrauchsrechtliche Widmung als objektive Gegebenheit? . . . . . 3. Nießbrauchsrechtliche Nutzungsoptimierung und erbrechtliche Personfunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Schranken einer ausschließlich versorgungsgerechten Unternehmenswidmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Causa und dingliches Nutzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der zweite Bestandteil des Handlungsrahmens des Unternehmers: Die wirtschaftliche Ordnungsgemäßheit des unternehmerischen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bestimmung der Regeln ordnungsgemäßer Wirtschaft bei nach dem Tode des Ehegatten mutmaßlich erst ertragswirksam werdenden Investitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Ausgleichsanspruch des Ertragsnießbrauchers bei „untermäßiger“ Bewirtschaftung des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Inhalt des Ausgleichsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Versorgungsgerechtigtkeit des Ausgleichsanspruchs . . . . . . V. Nochmals: Die Versorgungsgerechtigkeit einer Gestaltung und die Bedürfnisse wirtschaftlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 29 Die Rechtsfolgen des Unternehmensertragsnießbrauchs . . . . . . . . . . . . . . I. Die Rechtsfolgen eines nicht versorgungsgerechten unternehmerischen Handelns beim Unternehmensertragsnießbrauch. . . . . . . . . . . . . . II. Besitzfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Berechnung des auszukehrenden Ertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ertragsberechnung während des Nutzungsrechts . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 2. „Aufwendungen“ auf das Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Vergleich mit den Regelungen des Sachnießbrauchsrechts b) Konsequenzen für den Ertragsnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nutzungen zwischen Vermächtnisanfall und Bestellung des dinglichen Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Informations- und Kontrollrechte des Ertragsnießbrauchers . . . . . . 5. Unternehmensveräußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 14 Die Versorgung des mittelmäßig befähigten Überlebenden
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§ 30 Versorgung und Testamentsvollstreckung: Vorüberlegungen . . . . . . . . . . 679 I. Erkenntnisinteresse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 II. Die typische Fallgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 § 31 Die Testamentsvollstreckung über den Unternehmensnießbrauch . . . . . I. Die Schwierigkeiten einer Testamentsvollstreckung über den Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Zulässigkeit einer Testamentsvollstreckung über den Unternehmensnießbrauch mit dem Erben als Vollstrecker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Unternehmensnießbrauch als tauglicher Vollstreckungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Eignung des Alleinerben zum Vollstreckeramt . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtliche Eignung des Alleinerben zum Vollstreckeramt . . . . b) Die faktische Eignung des Alleinerben zum Vollstreckeramt . . III. Die Lösungswege bei der Testamentsvollstreckung über ein einzelkaufmännisches Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 32 Treuhänderische Testamentsvollstreckung und Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bestellung – Vermögenszuordnung – Firma – Registerfragen . . . . . . . II. Die Haftung des Erben-Testamentsvollstreckers bei der Testamentsvollstreckung über den Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Haftung für Alt-Verbindlichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Haftung für Alt-Verbindlichkeiten als Erbe: Das erbrechtliche Haftungsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Haftung für Alt-Verbindlichkeiten als Testamentsvollstrecker: Das handelsrechtliche Haftungsregime . . . . . . . . . . . . . 2. Haftung für Neu-Verbindlichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Haftung des Nießbrauchers-Vermächtnisnehmers . . . . . . . . . . . . . . 1. Haftung für Alt-Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Haftung im Außenverhältnis zu den Geschäftsgläubigern . . . . . b) Das Innenverhältnis zwischen Ehegatten und Erben-Testamentsvollstrecker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis aa) Die Haftung des Ehegatten für Alt-Schulden als Vermächtnisnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Haftung des Ehegatten für Alt-Schulden als Unternehmensnießbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Haftung für Neu-Schulden und dingliche Zuordnung des Neuerwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dingliche Zuordnung des Neuerwerbs bei der Testamentsvollstreckung über den Unternehmensnießbrauch an einem einzelkaufmännischen Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Modifikationen der allgemeinen Regeln der Treuhandlösung durch die Vollstreckung in den Unternehmensnießbrauch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Zulässigkeit dinglicher Surrogation: Offenkundigkeit versus Bestimmbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Schutz des Ehegatten-Nießbrauchers bei der Surrogation des Neuerwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Haftung des Unternehmensnießbrauchers für geschäftliche Neuschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschränkung auf den Vermächtnisgegenstand? . . . . . . . . . cc) Sonderproblem I: Nachlaßinsolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sonderproblem II: Die Eigeninsolvenz des Treuhänders . . IV. Das Haftungsregime der Treuhandlösung: Zusammenfassung . . . . . . . V. Die Pflicht des Treuhänder-Testamentsvollstreckers zur versorgungsgerechten Bewirtschaftung des Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 33 Die echte Testamentsvollstreckung und Unternehmensnießbrauch . . . . I. Bestellung – Vermögensmassen – Registerfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Haftungsordnung im einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Alt-Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neu-Schulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugriff auf den Nachlaß neben dem Zugriff auf den Vermächtnisgegenstand? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung zur Haftungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 34 Die Versorgungstauglichkeit der Testamentsvollstreckung . . . . . . . . . . . . I. Das Interesse des Ehegatten an einer versorgungsgerechten Unternehmenspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die versorgungsgerechte Ausrichtung der Unternehmenspolitik . . . 3. Präzisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Informationsrechte des Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zwei Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Langfristig erst ertragswirksam werdende investive und bilanzpolitische Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis aa) Fallgestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Mehrstufige Interessenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Raum zur Kompatibilisierung der Binnenrationalitäten von Wirtschaft und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sonstige Fälle unternehmerischen Entscheidens . . . . . . . . . . . . . 4. Die Stärkung des Versorgungsinteresses durch § 2214 BGB. . . . . . 5. Unternehmensstillegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis zwischen den Geschäftsgläubigern und der Ertragsbeteiligung des Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Zugriff auf die Unternehmenserträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rücklagenbildung und Neuinvestitionen zu Lasten des Ehegatten – Vollstreckervergütung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Teilhabe am Ertrag im Fall der Nachlaßinsolvenz . . . . . . . . . . 3. Nochmals: Gewinnauskehr an den Ehegatten und Nachlaßinsolvenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Problemlösung: Ausnahmsweise keine Gewinnsurrogation in den Nachlaß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die besondere Versorgungstauglichkeit des testamentsvollstreckungsbelasteten Unternehmensnießbrauchs. . . . . . . . . . . . . . IV. Die sonstigen Aspekte der Versorgungsgerechtigkeit der Testamentsvollstreckung über den Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Versorgungsschutz in der Unternehmernachfolge . . . . . . . . . . . 2. Nochmals: Haftungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorzeitige Beendigung der Testamentsvollstreckung? . . . . . . . . . . . . 4. Der wehrbereite Ehegatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Kontrolle des Testamentsvollstreckers durch das Prozeßgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Testamentsvollstreckung im Vergleich zu den sonstigen Modi der Ehegattenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Vergleich mit der Vorerbschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 15 Nochmals: Die Zulässigkeit des Ertragsnießbrauchs § 35 Die Zulässigkeit des Ertragsnießbrauchs an einem Unternehmen . . . . I. Der Unternehmensertragsnießbrauch als Produkt einer Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Ertragsnießbrauch und die Typizität und der numerus clausus dinglicher Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Ertragsnießbrauch und die Systematik des Sachenrechts . . . . . 2. Die Vorgaben sachenrechtlicher Typizität und numerischer Beschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Ertragsnießbrauch und Publizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Verhältnis von Nutzziehung und Lastentragung . . . . . . . . . . . . III. Die Versorgungsgerechtigkeit der bisher diskutierten Sicherungsinstitute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vergleichende Übersicht – zugleich Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das konkurrierende Modell: Die Testamentsvollstreckung am Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsfortbildungssperre aufgrund Nutzungsgemeinschaftsrechts?. 4. Das unabweisbare Bedürfnis für einen Ertragsnießbrauch . . . . . . . 5. Auswirkungen in der Rechtsfolge des Ertragsnießbrauchs: Gewinnabführungspflicht des Unternehmers? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 36 Nießbrauch an einem Gegenstand „Unternehmen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Nießbrauch am Unternehmen als konstruktives Phänomen . . . . . . II. Ausgangspunkt der herrschenden Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der verfehlte Zuschnitt in der Dogmatik des Unternehmensnießbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Einwand gegen den Unternehmensnießbrauch aufgrund der Nießbrauchsbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einwände aufgrund des Vergleichs mit anderen Sachgesamtheiten 3. Das Unternehmen als Nießbrauchsgegenstand: Zirkuläres Denken? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Umkehrung des Problemzuschnitts: Vom Nießbrauchsgegenstand zu den leitenden rechtlichen Wertungsvorgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der sachgerechte Unternehmensbegriff beim Unternehmensnießbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Gesamtergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
790 791 794 796 798 800 801 801 802 805 805 807 808 810 814 816
Abschnitt 5 Die Ehegattenversorgung im Falle der Mitgliedschaft des Erblassers in einer Personenhandelsgesellschaft
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Kapitel 16 Ehegattenversorgung und Personenhandelsgesellschaft § 37 Einführung – Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Risikopartizipative Versorgung durch einen Nießbrauch an der Mitgliedschaft des Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Motivlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anlage der weiteren Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
§ 38 Der Nießbrauch an einem OHG-Anteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die allgemeinen Grundlagen des Anteilsnießbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . II. Versorgungsgerechte Gestaltung über die Zuordnung des Stimmrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Versorgungsgerechte Gestaltung über die versorgungsgerechte Widmung des belasteten Anteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Versorgungsgerechtigkeit und Haftungsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Exkurs: Der Anteilsnießbrauch bei der GmbH & Co. KG . . . . . . . . . .
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Abschnitt 6 Die Schwierigkeiten bei einem frühzeitigen Ableben des Unternehmers
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Kapitel 17 Die Drittbestimmung des künftigen Unternehmers § 39 Materielle Höchstpersönlichkeit und Drittbestimmung des Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Streitstand und die Regelungsangebote der Kautelarjurisprudenz II. Der Ausweg: Besinnung auf die symbolischen Gehalte der Erbenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die bisherigen Begründungen des Prinzips materieller Höchstpersönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Materielle Höchstpersönlichkeit und personfunktionales Erbrecht
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Kapitel 18 Die Testamentsvollstreckung im Unternehmensrecht § 40 Einzelkaufmännisches Unternehmen und Testamentsvollstreckung. . . . I. Streitstand zur Testamentsvollstreckung über ein einzelkaufmännisches Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bewertung der gegen die echte Testamentsvollstreckung vorgetragenen Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einheit von Herrschaft und Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die implizite Option der herrschenden Meinung für handelsrechtliche Wertungen: Ungereimtheiten in der Auflösung einer Prinzipienkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die der Annahme einer zwingend unbeschränkten Haftung vorgelagerte Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Auflösung der Prinzipienkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erbrechtliche Grenzen einer Testamentsvollstreckung über ein Einzelhandelsgeschäft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 1. Das Problem: Die Abstimmung der §§ 1978 ff. BGB zu den §§ 2197 ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die vermeintliche Schutzlücke des § 2219 BGB . . . . . . . . . . . . b) Bisherige Versuche zur Bewältigung der vermeintlichen Schutzlücke des § 2219 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rückgewähr der ausgekehrten Gewinne im Falle der Nachlaßinsolvenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Einwände gegen die Rückgewährpflicht des Erben. . . . . . . bb) Gewinnabschöpfung bei der Unternehmensfortführung durch den Erben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nochmals: Gewinnabschöpfung bei der Testamentsvollstreckung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis: Unzulässigkeit der echten Testamentsvollstreckung wegen eines ansonsten unzureichenden Schutzes der Nachlaßaltgläubiger? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lösungsvorschlag: Rückbesinnung auf das ausgeblendete Dritte: den Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Vergleich mit der Unternehmensfortführung durch den Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Problem: Der insolvenzrechtliche Nachrang der Nachlaßaltgläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Lösungsvorschläge zum Schutz der Nachlaßaltgläubiger . b) Die Todesvergessenheit bisheriger Dogmatik als Schlüssel zum Problem der Unternehmensvererbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Verlust systematischer Kohärenz im bisherigen Erbrechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der Rückgriff auf die symbolische Struktur des Erbrechts: die Todesbewältigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Wertungsabgleich zwischen der Unternehmensfortführung durch den Erben und durch den Testamentsvollstrecker . . . . . . . 3. Nochmals: Gewinnsurrogation in den Nachlaß? . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis zur Zulässigkeit der Verwaltungsvollstreckung über ein Einzelhandelsgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verbot der Testamentsvollstreckung über ein Unternehmen als Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Teleologische Reduktion des gewohnheitsrechtlichen Verbots. . . . . § 41 Personengesellschaft und Testamentsvollstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangslage und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Nachlaßzugehörigkeit der Mitgliedschaft: Die Abspaltungsthese. 1. Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kritik der Abspaltungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Testamentsvollstreckung und die personale Verbindung der Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Streitstand zu vollhaftenden Anteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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844 844 846 848 848 850 853
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Inhaltsverzeichnis 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Testamentsvollstreckung und die unbeschränkte gesellschaftsrechtliche Haftung des Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Streitstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Haftungslage bei unterstellter Zulässigkeit der Testamentsvollstreckung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Nicht überzeugende Haftungskonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das überzeugende Haftungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die sachgerechte Bewältigung der Prinzipienkollision zwischen Erb- und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Testamentsvollstreckung als eine besondere Weise legaler Haftungsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Auflösung einer Prinzipienkollision zwischen Erbund Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis zur Zulässigkeit der echten Testamentsvollstreckung über einen OHG-Anteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Sonderproblem der Haftungsbeschränkung des minderjährigen Erben des Unternehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schlußteil § 42 Statt einer Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rückblick: Erbrecht als funktionales Persönlichkeitsrecht . . . . . . . . . II. Bemerkungen zu einem familiarfunktionalen Erbrechtsdenken . . . . . III. Einsatzpunkte eines personfunktionalen Erbrechtsdenkens . . . . . . . . . 1. Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948
Grundlegung Es ist mittlerweile zum Gemeinplatz geworden, daß in Gegenwart und naher Zukunft die Vererbung bedeutender Vermögenswerte ansteht. Die damit verbundenen Herausforderungen für die Privatrechtsdogmatik sind groß, stehen doch bei einem universalsukzessiven Vermögenstransfer von Todes wegen nicht nur Vermögenswerte auf dem Spiel, sondern auch ganze Lebensperspektiven der vom Ableben des Erblassers besonders betroffenen Personen in Rede. Ein rechtsdogmatischer Blick auf den Schutz derjenigen Personen, die von dem Tod eines Menschen typischerweise am meisten betroffen sind, liegt daher nahe. Typischerweise ist derjenige Mensch am meisten vom Todes eines anderen betroffen, der sich ihm in Intimität und Solidarität zugewandt hatte und durch emotionale Verbundenheit auch über den Tod hinaus zusammengehörig weiß – eben der überlebende Ehegatte. Dessen Schutz kann zum einen dem Erblasser selbst am Herzen liegen. Will er nach seinem Tode seinen Gatten angemessen abgesichert sehen, muß er zu sinnvollen Instrumentarien greifen können, mit deren Hilfe er den Schutz des anderen Teils ins Werk setzen kann. Zum anderen kann aber auch der Umstand eintreten, daß der überlebende Gatte seinerseits um Schutz vor einer letztwilligen Verfügung des Erstversterbenden ersucht – ein in der Lebenswirklichkeit durchaus nicht seltener Fall. Es gilt also, den Schutz des Überlebenden sowohl durch als auch vor dem Erblasser zu diskutieren. Dieser Schutz wird im Rahmen dieser Studie in zwei Ausrichtungen untersucht. Einmal geht es um den Schutz des Überlebenden im Privatbereich. Hier gilt es, personale Rechte des überlebenden Gatten auf der einen und dessen Vermögensinteressen auf der anderen Seite zu schützen. Dies wird im ersten Teil dieser Studie in Angriff genommen werden. Sodann muß der Schutz des Ehegatten thematisiert werden, wenn der Verstorbene als Unternehmer Verantwortung getragen hat. Die hier zu vergegenwärtigenden Probleme und lebenstypischen Schwierigkeiten sind derart vielschichtig, daß eine Eingrenzung der Thematik auf die Versorgung des überlebenden Teils erforderlich wurde. Dies wird Gegenstand des zweiten Teils dieser Arbeit sein. Bevor der Schutz des Überlebenden diskutiert wird, muß vorab ein kurzer Blick auf die rechtstheoretische Grundlegung der Untersuchung geworfen werden. In einer rechtsdogmatischen Arbeit ist es normalerweise unüblich, sich vorweg in einem kurzen Exkurs den theoretischen Grundlagen der dogmatischen Arbeit mit dem Recht zu vergewissern. Dennoch ist dies hier vonnöten. Denn es wird sich zeigen lassen, daß zahlreiche rechtsdogmatische Streitigkeiten um den Ehegattenschutz von Todes wegen sich im Kern
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Grundlegung
auf sehr unterschiedliche Ansichten über den rechten Umgang mit dem Recht zuspitzen lassen. Dabei geht es nicht um die Frage nach der rechten Methodik des Rechts. Vielmehr steht in Rede, sich einen Ausgangspunkt für die den Methodenfragen vorausliegende Thematik zu erarbeiten, wie es um das Rechtliche im Recht bestellt ist. Erst wenn dies geleistet ist, bleibt die Erörterung zahlreicher Einzelfragen nicht in einer eigentümlichen Schwebe (dazu im folgenden § 1). Nun ist der Schutz des überlebenden Teils nicht schon als solcher eine Kategorie des Rechts, sondern zuerst einmal nur ein gemeinhin in der sozialen Realität als erstrebenswert ausgezeichnetes Ziel. Anders ist dies bei der Testierfreiheit. Sie stellt von vornherein eine rechtliche Kategorie dar, die rechtlich begriffen werden will. Das Verhältnis zwischen einem gehörigen Ehegattenschutz nach dem Vorversterben eines der Gatten und der Testierfreiheit kann daher nicht näher diskutiert werden, wenn nicht zuvor der dogmatische Rahmen näher ausgelotet worden ist, in den das Recht die Testierfreiheit einspannt. Steht mithin der Schutz des überlebenden Ehegatten durch und vor Verfügungen von Todes wegen in Rede, ist es unausweichlich, sich vorab des rechtlichen Stellenwerts derjenigen Freiheit zu versichern, auf der letztwillige Verfügungen ruhen, nämlich der Testierfreiheit (dazu im folgenden § 2).
§ 1 Rechtliche Dogmatik als geltungstheoretisch ausgerichtete Dogmatik I. Rechtssystem und Republik Es ist ein Gemeinplatz, daß der rechte Umgang mit dem Recht ein theoretisch vermintes Terrain darstellt. Der überbordende Reichtum der Theorie findet in der auf ihre Entscheidungszwänge verweisenden Praxis und Dogmatik des Rechts keinen ausdrücklichen Anschluß. Das leitende Interpretationsideal der Praxis besteht vielmehr zumeist darin, das Recht auf eine Entscheidung des Gesetzgebers zurückzuführen. Das Gesetz wird mithin aus einer (bei formellen Gesetzen etwa aus einer legislativen) Entscheidung entwickelt und diese wiederum mit der Existenz einer überlegenen Macht – in der Diktion Hobbes: mit auctoritas – verknüpft. Die Konkretisierung des positiven Rechts wird innerhalb dieses positivistischen Modells im wesentlichen geleistet durch eine Beschreibung des positiven Rechts, welches rechtliche Dogmatik dann als Manifestation demokratischer Kompromisse transparent zu machen sucht1. Diese Weise der Gesetzesinterpretation ist 1 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 1 II 1; ders., ARSP 2003, 372 (372 f.).
§ 1 Rechtliche Dogmatik als geltungstheoretisch ausgerichtete Dogmatik
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nicht die einzige Manier, mit Gesetzen umzugehen. Der Rechtsanwender kann auch versuchen, das Gesetz nicht bloß auf die legislative auctoritas zurückzuführen. In diesem Fall muß notwendigerweise die Gesetzesinterpretation mit einer Theorie der Gerechtigkeit verknüpft werden. Im Rahmen dieser Untersuchung wird nun versucht, die rechte Interpretation des Gesetzes zumindest ansatzweise mit der kantischen Idee der Republik und damit mit einer prozeduralen Gerechtigkeitstheorie des modernen demokratischen Verfassungsstaates zu verknüpfen. Damit ist viel gewonnen. Denn mit der Anbindung der Gesetzesinterpretation an die Idee der Republik kann es nicht mehr auf die Konkretisierung des Rechts im Sinne einer Beschreibung seiner selbst als Frucht der legislativen auctoritas ankommen. Vielmehr steht die Rekonstruktion des Rechts als ein kohärentes System von Grundsätzen in Rede. Bei einem solchen System kann zumindest die Hoffnung gehegt werden, daß in ihm der vernünftige Gemeinwille der republikanischen Rechtsgemeinschaft selbst aufscheint und daß deshalb der Bürger sich selbst als Autor des Rechts verstehen darf. Im Gedanken einer kohärenten Gesetzesinterpretation sind somit demokratietheoretische Prämissen mit der Methode des Rechts intern miteinander verschränkt2. Das Gesetz muß also – wenn es nicht in der Hobbesschen auctoritas aufgehen soll – als ein kohärentes System von Grundsätzen rekonstruiert werden. Kann es in dieser Weise rekonstruiert werden, wird im folgenden davon die Rede sein, daß das Gesetz statt auf bloße auctoritas auf das Recht zurückgeführt wird3. II. Geltungstheoretische versus konstitutionstheoretische Deutung des Rechts Rechtsdogmatik bleibt demnach um der Allgemeinheit des Rechts willen dazu aufgerufen, die hinter dem Zeichengeflecht des Gesetzes verborgenen Wertungen kohärent zu erklären. Einem kohärenten Rechtssystem ist eine hinreichend komplexe symbolische Struktur inhärent4. Zu einer derartigen symbolischen Struktur zählen auf mittlerem theoretischem Abstraktionsniveau etwa normative Hintergrundtheorien, wie sie beispielsweise von Wie2
Ähnlich spricht Ingeborg Maus davon, daß konzeptionell sich der Stufenbau der Rechtssetzung zwischen Kelsen und Kant dadurch unterscheidet, daß bei Kelsen die Spitze dieses Stufenbaus durch eine logische, bei Kant hingegen durch eine demokratische Prämisse besetzt ist, Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 285 Fn. 116. 3 Die Einzelheiten können hier nicht näher dargelegt werden, pauschal sei hier deshalb verwiesen auf Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 1 II 3, III 1; ders., ARSP 2003, 372 (373 ff., 384 f.). 4 Dies sieht auch die herrschende Wertungsjurisprudenz so, siehe Larenz/Canaris, Methodenlehre, 302 ff.
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Grundlegung
acker als „Sozialmodell“ herausgearbeitet worden sind. Kohärenz bedeutet mithin nichts anderes, als daß über die Vermeidung von Widersprüchen (Konsistenzgebot) hinaus ein konstruktiver, „positiver Zusammenhang“ der Elemente des inneren Systems des Rechts insofern gewahrt sein muß, daß diese als Ganzes sinnvoll und einer rationalen Rechtfertigung im Sinne einer gegenseitigen Stützung und Ergänzung zugänglich gemacht werden können5. Das Material der Kohärenzprüfung sind dabei die anerkannten Vorentscheidungen der Rechtsordnung. Eine derartige kohärente Deutung rechtlicher Vorentscheidungen wird im folgenden als eine „geltungstheoretische“ Erklärung des geltenden Rechts bezeichnet werden. Geltungstheoretisch ausgerichtet mit Recht zu arbeiten bedeutet mithin nichts anderes, als strikt auf Kohärenz und Konsistenz im Recht zu pochen. Gegenüber einem derartigen geltungstheoretischen Ansatz wird die Rückführung des Gesetzes auf die Entscheidung des Gesetzgebers (mithin auf reine auctoritas) eine „konstitutionstheoretische“ Erklärung genannt werden. Mit dieser Begrifflichkeit soll deutlich gemacht werden, daß bei einer konstitutionstheoretischen Deutung des Rechts nicht mehr dessen inneres System primär in Rede steht. Vielmehr wird das Gesetz primär begriffen als Kompromißformular von legislativen Entscheidungsakten. Mit der Präferenz für eine geltungstheoretisch ausgerichtete Rechtsdogmatik soll nicht die Erfahrung verabschiedet werden, daß historische Einsichten wichtig sind, um aus dem Material des Gesetzes ein kohärentes System rechtlicher Wertung zu formen, damit das Gesetz dadurch als Recht ausgewiesen werden kann6. Das Verständnis des Rechts als ein historisch gewordener Normbestand – die Geschichtlichkeit des Rechts – ist oftmals für seine kohärente Deutung unverzichtbar, da sich in dem in der historischen Gemeinschaft tradierten normativen Vokabular häufig etablierte Argumentationsmuster und Deutungsschemata wiederfinden lassen, die die Kohärenz im inneren System des Rechts strukturell fördern können – freilich umgekehrt aufgrund der widerborstigen Kraft der Tradition auch hindern können. Die Zeitlichkeit des Rechts spielt insofern selbstverständlich im Rahmen der Kohärenzprüfung eine genuine Rolle. Eine dem heutigen Tableau normativer Kontexte angemessene Kohärenz in der rechtlichen Wertung wird daher weder die Geschichtlichkeit des Rechts vergessen, noch das Erfahrungspotential missen mögen, welches in historischen Lebenswelten und sprachlichen Lebensformen widerscheint. Freilich gilt dies nur für das historische Umfeld, in dem Gesetze entstanden sind (rechtsgeschichtlicher Aspekt) und in dem sie situieren (rechtsso5 Siehe im weiteren zu einzelnen Theorie einer normativen Kohärenz Goebel, ARSP 2003, 372 (378 f.). 6 Allg. zum Problem siehe aus der Fülle statt vieler nur Lüderssen, Genesis und Geltung, 73 ff., 110 ff. und passim; Dilcher, AcP 184 (1984), 247 ff.
§ 2 Die Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht
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ziologischer Aspekt). In den Gesetzgebungsmaterialien findet sich hingegen geradezu komprimiert ein konstitutionstheoretisches Datum, nämlich legislative auctoritas. Läßt sich mittels des Rekurs auf den Willen des historischen Gesetzgebers das Gesetz daher geltungstheoretisch nicht als Recht erweisen, müssen die Gesetzesmaterialien bei der weiteren Argumentation zwangsläufig außer Acht bleiben. Denn gelingt die geltungstheoretische Deutung des Gesetzes anhand seiner Materialien nicht, wird notgedrungen das Systematische des Rechts und damit dessen Bezug zur Gerechtigkeit verabschiedet. Gesetzesmaterialien haben daher allenfalls eine die kohärente Deutung des Gesetzes unterstützende Funktion. Mit ihrer Hilfe kann jedoch kein Argument gegen eine dogmatische Theorie gewonnen werden, die sich ansonsten als kohärente Erklärung des Gesetzes erweist7.
§ 2 Die Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht I. Vermögen – Tod – Persönlichkeit 1. Erbrecht als Vermögensrecht
Das objektive Erbrecht wird im allgemeinen als funktionales Vermögensrecht, stellenweise auch als funktionales Familienrecht verortet8. Es sei der „letzte Abschnitt des Vermögensrechts, die Fortsetzung der Eigentums-, der Verpflichtungs- und Verfügungsfreiheit des einzelnen über seinen Tod hinaus“9 und beschränke sich in seinen Wirkungen auf den Bereich des privaten Vermögensrechts10. Dieser Standortbestimmung des objektiven Erbrechts entsprechend wird die Testierfreiheit durchweg als eine dem einzelnen gewährte Möglichkeit konzipiert, „für die Zeit nach seinem Tode über sein Vermögen rechtswirksame Bestimmungen treffen zu können“11, und in einen Sachzusammenhang mit der schuldrechtlichen Vertragsfreiheit (§ 305 BGB) und der Freiheit des Eigentums (§ 903 BGB) eingestellt12. Das objektive Erbrecht gilt also weithin als fortgesetztes Eigentum; die Testierfreiheit als fortgesetzte Eigentümerfreiheit. Eine derartige vermögensrechtliche 7 Dazu auch Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 1 III 2, 3; ders., ARSP 2003, 372 (385 f.). 8 Siehe etwa Palandt-Edenhofer, Einl § 1922 Rn. 1; Staud-Otte, Einl §§ 1922 ff. Rn. 1; Soergel-Stein, Einl. zum Erbrecht Rn. 1; MünchKomm-Leipold, Einl. zum Erbrecht Rn. 1; ders., Erbrecht, Rn. 1; Brox, Erbrecht, Rn. 1 f.; Edenhofer, Erbrecht, Rn. 9; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 1 I 1; v. Lübtow, Erbrecht, 1; Schlüter, Erbrecht, Rn. 1; Windel, Modi, 205. 9 Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 1 III. 10 So etwa bei Leipold, Erbrecht, Rn. 1; Brox, Erbrecht, Rn. 1 f. 11 Kipp/Coing, Erbrecht, § 16 I vor 1. 12 Etwa bei Wieacker, Sozialmodell, 9.
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Grundlegung
Deutung des Erbrechts scheidet nicht schlechthin aus; hiergegen sperrt sich schon die historische Genese des Erbrechts selbst13. Gleichwohl wird diese Deutung im Rahmen dieser Untersuchung weitgehend verlassen werden. Denn andernorts konnte gezeigt werden, daß eine vermögensrechtliche oder familiaristische Deutung des Erbrechts dieses geltungstheoretisch nicht als Recht ausweisen kann14. 2. Erbrecht und Todesverarbeitung
Eine geltungstheoretisch einsichtige Deutung des erbrechtlichen Normbestandes gelingt erst, wenn die Testierfreiheit als ein rechtliches Instrument begriffen wird, welches dem einzelnen die Verarbeitung des ihn unausweislich treffenden Todes erleichtern soll. Dies klingt reichlich kryptisch, ja geradezu abenteuerlich. Was mit dieser Verschwisterung des Erbrechts mit dem individuellen Prozeß der Todesverarbeitung gemeint ist, erhellt erst ein kurzer Blick auf den bisherigen Diskurs um das Sterben und den Tod15. Die Verarbeitung des je eigenen Todes wird in der entwickelten Moderne als ein Moment reiner Innerlichkeit und als Ausdruck höchstpersönlicher Entfaltung begriffen. Zum Tode sich verhalten drückt allgemein gesagt mithin nichts anderes aus, als sich zugleich zu sich selbst zu verhalten; „(v)om Tode sprechen bedeutet also immer auch: von sich selbst sprechen“16. Besonders prägnant wird diese Einsicht entfaltet in der Philosophie Heideggers, der in seinem Konzept des „Seins zum Tode“ die Todeserfahrung als Möglichkeit einer Entfaltung des Individuums hin zu einem authentischen Lebensentwurf begriffen hat17. Tod und Authentizität, Todesverarbeitung und personaler Lebensentwurf gehören also je zusammen. Dieser Befund findet in der Art und Weise seine Entsprechung, in der in modernen Gesellschaft mit dem Tod umgegangen wird18. In vormodernen Gesellschaften wurde der Tod durch das durch Religion bereitgestellte Wissen intersubjektiv verstehbar und akzeptierbar gemacht; die Sicht zum Tod wurde ehedem durch ein die ganze Fülle der Erlebnisverarbeitung umspannendes Wissen aufgefangen, die heute in ihrer Totalität kaum mehr nachzuvollziehen ist. In der intersubjektiven Sinnkonstruktion der entwickelten Moderne fehlt hingegen eine plausible gesellschaftsweite symbolische Sinngebung des Todes. Dieser Verlust des gesellschaftlichen symbolischen Orts 13
Dazu näher Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 5 I. Dazu ausführlich Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 3 bis § 8. 15 Dazu und zum folgenden ausführlich Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9. 16 Theunissen, in: ders., Negative Theologie der Zeit, 197 (201). 17 Dazu ausführlich Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 II 3. 18 Dazu ausführlich Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 III. 14
§ 2 Die Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht
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des Todes ist Folge der Entwicklung der Gesellschaft hin zur in Subsysteme ausdifferenzierten modernen Gesellschaft. Eine gesellschaftsweite Thematisierung und Verarbeitung der für den einzelnen so überaus problematischen Grundtatsache des Todes würde die ungestörte Reproduktion der Systemimperative empfindlich stören, da eine intersubjektive Sinngebung des Todes durch den Verlust der totalitär-sinngebenden Kraft der Religion ja weggebrochen ist19. Die moderne gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit konstruiert deshalb quasi eine gesellschaftliche Unwirklichkeit des Todes und weist die Aufgabe der Todesverarbeitung den einzelnen Individuen zu, die sie als Moment je personaler Sinngebung erfahren. Darüberhinaus gründet die gesellschaftliche Verabseitigung des Todes in der Moderne auch auf den Prozeß der Modernisierung selbst20. Die Frage nach dem Sinn des Todes wird mehr und mehr als Ausdruck extremer Irrationalität konstruiert. Der Tod und seine Verarbeitung wird damit von vornherein aus dem Horizont des intersubjektiv Kommunizierbaren (und dies ist in der durchrationalisierten Moderne vor allem das Rationale) entfernt und auf diese Weise privatisiert. Die Individualisierung der Todesverarbeitung wurde auch deshalb notwendig, weil ansonsten durch eine zu starke affektive Auseinandersetzung mit dem Tod die gesellschaftlichen Verflechtungsbeziehungen gestört würden; der Tod wurde deshalb mit einem Zivilisationstabu belegt und seine Verarbeitung als Moment reiner Innerlichkeit ausgegeben. All dies ist an anderer Stelle ausführlich dargelegt worden21. Wenn diese Einsichten in die Sprache der Rechtsdogmatik übersetzt wird, bedeutet dies nichts anderes, als daß die Todesverarbeitung als genuine Formung personaler Identität und die Sicht zum Tod selbst als genuiner Ausdruck personaler Identität verstanden werden kann22. Todesverarbeitung hat also etwas mit Persönlichkeitsentfaltung zu tun. In der bisherigen Erbrechtsdogmatik wird der Tod und das Sterben hingegen ausgesperrt. Der Tod wird in dem herkömmlichen dogmatischen Aussagengeflecht als ein rein technischer Einsatzpunkt im Rahmen des intergenerationalen Vermögenstransfers begriffen und damit seiner anthropologischen Bedeutung weitgehend entkleidet. Dieser rechtsdogmatische Befund findet seine Entsprechung in der geschilderten gesellschaftlichen Verdrängung der Todesverarbeitung. Diese einseitige Todesbetrachtung anhand einer Überwindung, Verdrängung und Technisierung des Todes ist mit hohen dogmatischen Kosten verbunden. Denn erst wenn der Tod und das Sterben als ein Phänomen mit nicht bloß anthropologischer Relevanz, sondern mit einem dogmatischen Eigenwert begriffen werden kann, gelingt die Deutung des Normbe19 20 21 22
Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 III 2 a. Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 III 2 b. Siehe Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9. Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 III 4, § 9 IV.
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Grundlegung
stands des gewillkürten Erbrechts als kohärentes System rechtlicher Wertung23. Damit wird zugleich deutlich, daß es hier nicht darum geht, irgendwelche Philosopheme dem Recht gleichsam von außen überzustülpen – ein Vorhaben, welches einer geltungstheoretisch ausgerichteten Dogmatik ein Unding ist. Denn es ist gerade umgekehrt: Gelingt erst anhand einer Verschwisterung des Todesdiskurs mit dem Erbrechtsdiskurs die kohärente Deutung des erbrechtlichen Normbestands, ist diese Verschwisterung als Grundlage des geltenden Rechts ausgewiesen. 3. Erbrecht als funktionales Persönlichkeitsrecht
Im weiteren wird das Erbrecht nicht mehr primär als ein besonderes Vermögensrecht erfaßt, welches sich der vermögensrechtlichen Probleme annimmt, die beim Tode eines Menschen auftreten. Vielmehr wird das Erbrecht als ein genuines Recht des Todes begriffen und die Testierfreiheit als ein funktionales Persönlichkeitsrecht verortet24; der einzelne kann gleichsam mit rechtsgeschäftlichen Mitteln (der Verfügung von Todes wegen) seinen Tod verarbeiten. An anderer Stelle konnte nachgewiesen werden, daß mit dieser Weichenstellung dem Rechtssubjekt um der Sicherung seiner persönlichen Freiheit willen Instrumente an die Hand gegeben werden, den Prozeß der eigenen Todesverarbeitung auch gegen die Übermacht systemischer Imperative durchsetzen zu können25. Die Interpretation der Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht fußt auf einer genuin geltungstheoretischen Lesart des Erb- und des Personenrechts. Das Erbrecht kann geltungstheoretisch nur dann als Recht und nicht nur als Manifestation einer bloßen auctoritas erwiesen werden, wenn es als funktionales Persönlichkeitsrecht aufgefaßt wird. Dies kann anhand des Rechts der Auslegung letztwilliger Verfügungen und des Rechts ihrer Anfechtung, anhand der Prinzipien formeller und materieller Höchstpersönlichkeit, anhand des Verbots einer obligatorischer Verpflichtung zu einer Verfügung von Todes wegen, anhand eines Wertungsabgleichs mit dem Nachfolgerecht der juristischen Person, mittels einer geltungstheoretisch einsichtigen Einordnung des Instituts der Testamentsvollstreckung sowie schließlich anhand der erforderlichen Schutzkautelen der von Todes wegen Bedachten einschließlich einer Erörterung fideikommißähnlicher Vermögensbindungen gezeigt werden26. Die personrechtlich orientierte Lesart der Testierfreiheit ist beileibe nicht praktisch folgenlos. Es wird sich zeigen, daß im geltenden Recht zahlreiche 23
Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10, § 11. Zur Begrifflichkeit „funktionales Persönlichkeitsrecht“ siehe Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 2 II. 25 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 IV. 26 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11. 24
§ 2 Die Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht
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„Einsatzpunkte“ eines erbrechtlichen Personalismus entdeckt werden können, die die quasi subversive Kraft eines persönlichkeitsrechtlich orientierten Verständnisses der Testierfreiheit belegen – und zwar bis in die harten Bestände des Wirtschaftsrechts, in denen persönlichkeitsrechtliche Wertungen eher selten vermutet werden. Nun scheint gegen die hiesige Vorstellung, die Ausübung der Testierfreiheit sei orientiert am Prozeß der Todesverarbeitung und der damit verbundenen „Ich-Findung“, freilich sprechen, daß es doch als eine sehr idealistische Konzeption anmuten dürfte, etwa einem Unternehmer, der über das Schicksal seines Unternehmens von Todes wegen verfügt, zu unterstellen, dieser verarbeite damit auch sein „Sein zum Tode“27. In der Tat prägen das reale Testierverhalten durchaus ökonomische Notwendigkeiten; es wäre ja absurd anderes zu behaupten. Fraglich ist aber, was aus diesem empirischen Befund für die Dogmatik des geltenden Erbrechts gezogen werden kann. Denn taugt der Zusammenhang von Erbrecht und Eigentum gerade nicht dazu, kohärent und konsistent die anerkannten Wertentscheidungen des gewillkürten Erbrechts zu erklären, kann das eben diesen Zusammenhang widerspiegelnde typische Testierverhalten gerade nicht als Basis für eine sachgerechte rechtsdogmatische Konzeption der Testierfreiheit dienen; dies gelingt nur bei einer Verklammerung von Testierfreiheit und Persönlichkeitsrecht. Zudem ist die gängige Testierpraxis mit dem hiesigen Konzept ohne weiteres verträglich, da niemand dazu gezwungen werden kann, seinen Tod mit rechtsgeschäftlichen Mitteln zu verarbeiten – nur wenn er dies wünscht, stellt das Recht ihm hierzu ein probates Mittel bereit, nämlich die Verfügung von Todes wegen. Nach all dem bleibt es also dabei: Erst wenn die Testierfreiheit als ein Persönlichkeitsrecht begriffen wird, gelingt eine kohärente Deutung des geltenden Rechts. II. Begrifflichkeiten: Gewillkürtes Erbrecht – Personfunktionalität Im weiteren wird des öfteren vom „gewillkürten Erbrecht“ und dessen „Personfunktionalität“ die Rede sein28. Unter der Kategorie „gewillkürtes Erbrecht“ wird der gesamte Komplex derjenigen erbrechtlichen Wertungen verstanden, die sich nicht mit dem gesetzlichen Erbrecht beschäftigen. Der Begriff steht mithin für eine Vielzahl von Normen. Hingegen darf unter „gewillkürtem Erbrecht“ im hiesigen Sinne nicht die Fähigkeit verstanden werden, vererben zu können (statt Rückfall an den Staat oder Herrenlosig27
Dazu auch Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 13 II. Zur Begrifflichkeit siehe auch Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 2 II. 28
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Grundlegung
keit der Güter mit dem Tode des Rechtsinhabers), ebenso nicht die Freiheit, testieren zu dürfen und schließlich auch nicht als Fähigkeit, erben zu können. In der Begrifflichkeit der „Personfunktionalität“ schließlich soll sich die Einsicht wiederfinden, daß das Erbrecht funktional als ein Persönlichkeitsrecht begriffen werden muß.
Erster Teil: Der Schutz des überlebenden Ehegatten im Privatbereich
Kapitel 1
Vorüberlegungen zur Thematik § 3 Im Focus: Schutz personaler Rechte und der Vermögensinteressen Der Schutz des überlebenden Gatten ist ein weites Gebiet. Es wird im Rahmen dieser Studie aus der Perspektive des gewillkürten Erbrechts her focussiert. Anhand des Ehegattenschutzes soll im folgenden dem ganzen Spektrum jener Wertungen nachgegangen werden, die sich dem Recht entbergen lassen, wenn Individualität, Freiheit, Tod und Recht in einem personfunktional verstandenen gewillkürten Erbrecht miteinander verknüpft werden. I. Schutz personaler Rechte Wie schon eingangs ausgeführt, wird der Schutz des überlebenden Ehegatten in zwei Ausrichtungen untersucht. Einmal steht der Schutz der personalen Rechte des überlebenden Teils zur Rede. Hier ist aus personfunktionalem Blickwinkel zum einen wichtig, wie es um die Entfaltung des „Seins zum Tode“ des Überlebenden – also dessen rechtsgeschäftlich geleisteten Todesverarbeitung – bestellt ist. Die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments steht einer erneuten Todesverarbeitung des Überlebenden nach dem ersten Todesfall im Wege. Diesbezüglich ist es demnach hochinteressant, inwiefern diese Bindungswirkung geltungstheoretisch als Recht ausgewiesen werden kann. Ist dies geleistet, ist eine Plattform geschaffen, auf der die Instrumentarien entwickelt werden können, um dem Ehegatten eine Lösung von der testamentarischen Bindung zu ermöglichen. Zum anderen muß ausgelotet werden, wie der Schutz der sonstigen personalen Güter des Überlebenden rechtlich inszeniert wird. Hier wird die Sittenwidrigkeit letztwilliger Verfügungen in den Mittelpunkt der Betrachtungen rücken. Es gilt zu prüfen, wie über die Sittenwidrigkeit dem Überlebenden geholfen werden kann, ohne zugleich die im Grundlegungsteil dieser Untersuchung gewonnene Einsicht zu hintertreiben, daß die Testierfreiheit erbrechtlich als eine ungebundene, mit expressiven Momenten durchschossene Freiheit konstituiert werden muß.
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Kap. 1: Vorüberlegungen zur Thematik
II. Schutz der Vermögensinteressen Nachdem all dies ins Werk gesetzt worden ist, kann die Untersuchung auf den Weg einschwenken, ob und inwiefern das Recht die Vermögensinteressen des Überlebenden schützt. Vornehmlich geht es hier um dessen Versorgung. Wenn der erstverstorbenen Gatte ein einzelkaufmännischer Unternehmer oder ein vollhaftendes Mitglied einer Personengesellschaft war, steht etwaig an, wie der Überlebende an den Erträgnissen der Unternehmung auch nach dem Tode des Unternehmers partizipieren kann, ohne mit den Mühen belastet zu werden, selbst für die Prosperität des Unternehmens Sorge tragen zu müssen. Darüberhinaus steht das Problem in Rede, wie bei einem frühzeitigen Tode des Unternehmers die Unternehmensführung weitergegeben werden kann, wenn nachfolgefähige und -willige Abkömmlinge noch nicht in Sicht sind. Hier muß geprüft werden, inwieweit eine Drittbestimmung des künftigen Unternehmers statthaft ist und wie es um die Zulässigkeit der echten Testamentsvollstreckung über ein einzelkaufmännisches Unternehmen oder über eine vollhaftende Personengesellschaftsbeteiligung bestellt ist. Die Schwierigkeiten, welche hier vor allem gesellschaftsund sachenrechtlich zu vergegenwärtigen sind, sind groß. Bevor diese Schwierigkeiten angegangen werden, muß noch zuvor untersucht werden, wie es um die Versorgung des Überlebenden bestellt ist, wenn der Erblasser nicht unternehmerisch engagiert war. Das Augenmerk wird hier vornehmlich darauf gelenkt werden, ob dem von Todes wegen zurückgesetzten Ehegatten Instrumente zur Hand stehen, mit denen er sich gegen seine Zurücksetzung wehren kann, auch ohne daß er die Sittenwidrigkeit der Verfügung reklamieren muß. Schließlich soll nochmals daran erinnert werden, daß mit den folgenden Überlegungen nicht das Ziel verfolgt wird, eine handbuchartige Darstellung der rechtlichen Einzelprobleme zur Hand zu reichen, die dem Ehegatten nach dem Tode des Vorversterbenden ins Haus stehen. Das Erkenntnisinteresse ist vielmehr ein anderes: Es soll anhand von Einzelproblemen des Ehegattenschutzes versucht werden, das hiesige Konzept eines personfunktionalen Erbrechts zu erproben.
Abschnitt 1
Die Sicherung der Testierfreiheit des überlebenden Gatten Kapitel 2
Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments § 4 Kritik bisheriger Ansätze I. Einführung und Aufgabe Die Normalgestaltungen von gemeinschaftlichen Ehegattenverfügungen sind durchweg wie folgt gelagert: – erster Fall – gegenseitige Einsetzung der Ehegatten als Vorerben und eines Dritten (meist die gemeinsamen Abkömmlinge oder nahestehende Personen) als Nach- und Ersatzerben, – zweiter Fall – gegenseitige Einsetzung der Gatten als Vollerben und eines Dritten als Ersatzerben und – dritter Fall – Vermächtnis eines Erbschaftsnießbrauchs an den überlebenden Teil mit Vollerbschaft des Dritten1. Bei derartigen Verfügungen tritt für den Überlebenden nach § 2271 II BGB grundsätzlich nach dem ersten Todesfall eine Bindung seiner Testierfreiheit ein: Spätere Verfügungen sind in der Weise unwirksam, daß diese keine Rechtswirkungen hervorrufen, solange die die Bindungswirkung erzeugende Verfügung Bestand hat. Nun konnte eingangs notiert werden, daß das gewillkürte Erbrecht als Ausdruck des Persönlichkeitsrechts des von Todes wegen Verfügenden begriffen werden muß2. Der Grund hierfür wurde in der Einsicht gefunden, daß ansonsten der Normbestand des geltenden Rechts nicht erklärt werden kann – mit durchschlagenden Folgen: Das Gesetz könnte dann nur als Ausdruck einer bloßen auctoritas des Gesetzgebers, nicht jedoch geltungstheoretisch als Recht erscheinen. Vor dem Hintergrund eines derartig personfunktional verstandenen Erbrechts stellt die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments prima vista eine zentrale Herausforderung dar. Denn die Ehegatten werden ja in zwei Hinsichten gehindert, einfach so und ohne größere Anstrengungen neu zu 1 Siehe zu diesen gängigen Fallgestaltungen nur MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 2 ff. 2 Oben § 2 I.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
testieren: Zu Lebzeiten beider Gatten muß der erneut testierwillige Teil die Mühen eines notariell beurkundeten Widerrufs auf sich nehmen, ansonsten ist seine Zweitverfügung nicht wirksam, § 2271 I BGB. Man kann dies als formelle testamentarische Bindungswirkung bezeichnen. Nach dem Tode des Erstversterbenden ist der überlebende Gatte hingegen an die wechselbezüglichen Verfügungen des gemeinschaftlichen Testaments gebunden, § 2271 II 1 HS 1 BGB. Anders ist dies nach h. M. nur, wenn er das ihm Zugewendete ausschlägt, § 2271 II 1 HS 2 BGB, wenn ihm ein Aufhebungsgrund nach § 2271 II 2 BGB zur Seite steht, wenn an die Stelle des durch Tod weggefallenen (§§ 1923 I, 2160 BGB) korrespektiv Bedachten niemand gem. §§ 2069, 2096, 2190 BGB tritt und auch keine Anwachsung gem. §§ 2094, 2158 BGB erfolgt3. Die durch § 2271 II BGB ins Werk gesetzte Bindung kann man als materielle Bindungswirkung wechselseitiger Verfügungen bezeichnen. Mit Rücksicht auf die mit der materiellen Bindungswirkung verbundenen Einschränkung der Testierfreiheit des überlebenden Teils wird die materielle Bindung im Vordergrund der folgenden Überlegungen stehen. Entsprechend der geltungstheoretischen Grundausrichtung dieser Studie4 geht es im weiteren darum, die materielle testamentarische Bindung – die im folgenden auch durchweg abgekürzt als „Bindung“ bezeichnet oder mit der Diktion „Bindungswirkung“ bedacht wird – kohärent zu deuten, um sie als Recht und nicht als Ausdruck bloßer Macht begreifen zu können. Das gesetzliche Konzept, welches die materielle Bindungswirkung nach § 2271 II BGB ins Werk setzt, wird stellenweise als wenig trittsicher beschrieben5. Und in der Tat wird sich zeigen lassen, daß die bisher zur Deutung der Bindungswirkung vorgelegten Konzepte nicht recht überzeugen. Diese Konzepte versuchen, das Zentralproblem einer jeden Theorie in den Griff zu bekommen, die sich die Erklärung einer Bindung des rechtsgeschäftlichen Willens zum Ziel gesetzt hat. Dieses Zentralproblem besteht darin, in einer Situation, wo eine solide Legitimation einer Willensbindung über die Willensfreiheit des handelnden Subjekts nicht – wie bei der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments – verfügbar zu sein scheint, substitutive Zurechnungsgründe zu finden, die eine dennoch eintretende Willensbindung erklären. Die bisher in Literatur und Rechtsprechung angeführten Zurechnungsgründe reichen von einem Denken in Kategorien des synallagmatischen Vertrages, über äquivalenz- und solidaritätsgeprägte Vorstellungen bis hin zur Erklärung der Bindungswirkung aufgrund in Anspruch genommenen Vertrauens6. Wenn die bisher rechtsdogmatisch in 3 4 5 6
Siehe zu diesen Fällen nur MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 20. Dazu oben § 1 II. So Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1267). Nachweise zu den jeweiligen Ansätzen siehe sogleich unter II.
§ 4 Kritik bisheriger Ansätze
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Literatur und Rechtsprechung noch nicht thematisierte Bindungserklärung mittels einer autonomen sozialen Selbstbindung des wechselbezüglich verfügenden Teils hinzugenommen wird, erhält man auf einer Skala von reiner Autonomie (Selbstbindung) bis reiner Heteronomie (Vertrauen)7 ein ganzes Bündel heterogener Erklärungsversuche, die dennoch – wie noch gezeigt werden wird8 – nicht zur Erklärung des Bindungsphänomens hinreichen. Für das in dieser Untersuchung avisierte Konzept liegt die weitere Aufgabe auf der Hand: Es gilt, die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments geltungstheoretisch dadurch als Recht zu erweisen, daß der geltende Normbestand des gemeinschaftlichen Testaments systematisch-kohärent interpretiert wird9. Dies bedingt notwendigerweise einen Blick auf die bisher vorgelegten Bindungsdeutungen. Dieser Blick und die aus ihm folgenden weiteren Überlegungen werden trotz des geltungstheoretischen Erfordernisses, das Gesetz zum Recht gelingen zu lassen, mancherorts dennoch wohl als zu weitgehend empfunden werden. Überlegungen zum Grund testamentarischer Bindung haben aber nicht „bloß“ einen geltungstheoretischen Hintergrund, sondern besitzen auch einen eminent praktischen Stellenwert. Denn falls der rechtfertigende Grund einer Willensbindung nicht gekannt wird, „kann man über die Voraussetzungen ihrer Auflösung nur rätseln“10. Dies wird vor allem in der Diskussion über die Gründe deutlich werden, die es dem überlebenden Teil ermöglichen, sich von der Bindung zu lösen11. II. Bisherige Deutungen der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments 1. Bindung kraft Vertragsähnlichkeit
Im Grundsatz ist man sich gegenwärtig einig, daß Korrespektivität nicht in Parallelen zu einem synallagmatischen Austauschvertrag erklärt und das gemeinschaftliche Testament daher nicht an den Gedanken eines nutzenegoistischen do ut des angelehnt werden kann. Ein derartiges Denken in Kategorien des synallagmatischen Vertrages wird heute12 zumeist13 – abgesehen 7 Das Begriffspaar Autonomie und Heteronomie wird hier analytisch verwendet. Zur Schwierigkeit, auch heute noch von Autonomie zu sprechen, siehe Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 IV 2, 3 b, V 3. 8 Sogleich unter § 4 II. 9 Siehe zum geltungstheoretischen Ausgangspunkt rechtsdogmatischer Überlegungen, das Gesetz kohärent zu deuten, um es damit als Frucht der gemeinsamen Autorenschaft der Bürger in der kantisch verstandenen Republik begreifen zu können, oben § 1 II. 10 Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1278). 11 Dazu unten §§ 7 ff.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
von einigen Anklängen in der Rechtsprechung14 – abgelehnt15. Der Grund hierfür wird in dem normativen Leitbild gesehen, welches dem Vertrag zugeschrieben wird: Die Kategorie des Vertrags soll für die rechtsgeschäftliche Verbindung zweier Parteien reserviert bleiben, die ihren je wohl definierten Eigennutz am Markt verfolgen. Eine derartige Eigennützigkeit sei dem gemeinschaftlichen Testament mit seinen subtileren, weil in der personalen Gemeinschaftlichkeit der Beteiligten gründenden Zielsetzungen nicht angemessen, da regelmäßig die Parteien nicht durch einen durch Verhandlungen erzielten und im Wege des do ut des verwirklichten Interessenausgleich zu ihren letztwilligen Verfügungen motiviert würden16. Letztlich schimmert bei der rigorosen Ablehnung eines vertragsrechtlichen Denkens im Recht des gemeinschaftlichen Testaments demnach nichts anderes durch als die tradierte Dichotomie von Markt und Familie17. Überzeugt diese rigorose Ablehnung? Nun eignet sich in der Tat das Leitmotiv und das Rollenverständnis eines homo oeconomicus der vermögensrechtlichen Vertragslehren nicht dafür, die durch das gemeinschaftliche Ehegattentestament hindurchschimmernden Aspekte der Gattensolida12
Zu den Anklängen an Vertragselemente im gemeinschaftlichen Testament im Rahmen der Beratungen des Erbrechts vgl. Protokolle, Mugdan V, 725 f. 13 Deutliche Näherung an Vorstellungen des synallagmatischen Vertrages aber bei Jakobs, Festschrift für Bosch, 447 (455 f.); in Anklängen auch bei Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 14 aE; sowie bei Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 16 V 2 b Fn. 89. Vgl. auch Kress, AllgSchuldR, 58 Fn. 55. 14 Auf Gegenseitigkeitsvorstellungen rekurriert bsp. RGZ 116, 148 (150); BGH RPfl 1981, 282; BayObLG RPfl 1985, 240; KG JFG 22, 106 (111). Der Gedanke des do ut des schimmert auch dann durch, wenn die Vermögenslosigkeit des anderen Teils zum Anlaß genommen wird, die Wechselbezüglichkeit eingehend zu prüfen, so vgl. nur RG DR 1940, 723 (724); BayOlG FamRZ 1984, 1154 (1155); FamRZ 1986, 393 (394); Rpfl 1981, 282; OLG Saarbrücken, NJW 1990, 1285 (1286); OLG Köln, Fa, RZ 1993, 1371 (1372). Ein derartiger Nexus ist jedoch nicht immer zu finden, vgl. nur KGJ 42, 119 (122 f.); OLG Kiel, HEZ 2, 329 (331). Ein Denken in vertragsrechtlichen Kategorien zeichnet sich bei der Rechtsprechung bsp. auch bei der Frage ab, unter welchen Voraussetzungen der überlebende Ehegatte neu testieren kann, wenn er sich wiederverheiratet und eine Wiederverheiratungsklausel nach der Einheitslösung vorgelegen hatte, vgl. dazu Buchholz, Wiederverheiratungsklausel, 69, 81, 86 ff.; und OLG Hamm. JR 1987, 376 (377); FamRZ 1995, 250 (251), wo explizit von einem Gegenseitigkeitsverhältnis der Erbeinsetzung die Rede ist. 15 Vgl. nur Battes, Vermögensordnung, 112 f., 225 f.; Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1267); Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1264); vgl. auch Fr. v. Hippel, Formalismus und Rechtsdogmatik, 136. 16 Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1267). 17 Dem Studium dieser und anderer Dichotomien haben sich vor allem die Protagonisten des Critical Legal Studies Movement gewidmet. Siehe hinsichtlich des Paars Markt/Familie nur Frances E. Olsen, Harvard Law Review 96 (1983), 1497 ff.
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rität18 sowie der personal-affektiven Verbundenheit innerhalb sozialer Primärgruppen hinreichend abzubilden. Ganz gleich, ob Ehe rechtlich als Institution, als interindividuell sich austarierendes Gemeinschaftsverhältnis, als Organisation oder als soziale Verhaltensform19 verstanden wird, ein ökonomisch ausgerichtetes Eheverständnis, bei dem personale Komponenten in das Austausch- und Reservemedium Geld übersetzt werden müssen, ist der bürgerlich-rechtlichen Ehe nicht angemessen. Hierüber dürfte rechtlich (soziologisch mag dies anders sein20) weitgehend Übereinstimmung bestehen. Es fragt sich nur, ob die Metaphorik gerade des Ökonomischen unabweislich angelegt werden muß, wenn es gilt, die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments anhand Vorstellungen von „Gegenseitigkeit“ zu erklären. Die ökonomistische Vertragsdeutung abstrahiert zwar von personalen Konnotationen und verbirgt ein Menschenbild, in welchem sämtliche affektiv-emotionalen Momente des sozialen Handelns als irrelevant (als bloße Affektionsinteressen) abgewiesen werden und welches Gegenseitigkeitserwartungen nur innerhalb eines Entgeltnexus stehend akzeptiert21. Das Bild ändert sich jedoch grundlegend, wenn die Perspektive umgestellt und nicht mehr der marktförmige Austausch von in Geld bezifferbaren Leistungen focussiert wird: Nichts spricht dagegen, die herkömmlichen Vertragskategorien zu verlassen und einen neuartigen Entwurf eines gegenseitigen Austauschverhältnisses zu ersinnen, der dem personalen Leitbild der Ehe gerecht wird. Um letzteres zu bewerkstelligen, darf dieser neue Entwurf den normativen Reduktionismus nicht mitmachen, der in den ökonomischen Vertragslehren versteckt ist. Es muß also die Perspektive umgestellt werden: Nicht mehr eine Auffassung über das gemeinschaftliche Testieren im Sinne eines marktförmigen Gegenseitigkeitsverständnisses, welches am generalisierten Austauschmedium Geld orientiert ist und damit von den Bedingungen der Lebenswelt abstrahiert22, steht zur Rede, sondern eine Gegenseitigkeit im Sinne eines zwischen den Ehegatten erfolgenden Austauschs von personalen Faktoren und wirtschaftlichen Leistungen. Wenn 18
Dazu Battes, Vermögensordnung, 226 ff. Vgl. dazu nur Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 3. 20 Selbstverständlich hat der Ökonomismus auch in der Deutung familiaristischer Erscheinungen zumindest in soziologischer Hinsicht Eingang gefunden, siehe nur jüngst Gary Becker, Familie, Gesellschaft und Politik – die ökonomische Perspektive, 1996; sowie allg. Hill/Kopp, Familiensoziologie, 103 ff. 21 Vgl. zu den theoretischen Grundlagen eines ökonomischen Rechtsverständnisses allg. Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts, passim; Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 29 ff.; Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 309 ff. 22 Vgl. zur Entgegensetzung des am Austauschmedium Geld orientierten Wirtschaftssystems und der Lebenswelt nur Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, 229 ff., 275 ff., 521 ff. Zur Kritik dieser Entgegensetzung ist hier kein Raum. 19
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
derartige Konstrukte möglich sind, mit deren Hilfe der geltende Normbestand kohärent gedeutet werden kann – und daß sie möglich sind, wird gezeigt werden23 –, ist in der Anlehnung an die Vertragskategorie ein für das Recht des gemeinschaftlichen Testaments durchaus heuristisches Potential verborgen. Es bleibt festzuhalten, daß die generelle Ablehnung eines vertragsrechtlichen Denkens im Recht des gemeinschaftlichen Testaments durchaus nicht überzeugt. 2. Bindung kraft Äquivalenz und Solidarität
a) Das gemeinschaftliche Testament als Ausdruck fortgesetzten Familienrechts Vor allem Battes hat sich eindringlich gegen eine Parallelisierung zwischen vertraglichem Synallagma und testamentarischer Bindung ausgesprochen. Eine derartige Parallelisierung ginge allein deshalb schon fehl, weil trotz eines deutlichen Zusammenhangs zwischen Bindung und Vermögensvorteil24 eine Bindung auch ohne Vermögenserwerb des Überlebenden vorliegen könne25. Nach Battes müssen weitere Topoi wie Vermögensgemeinschaft, Verwandtschaft und die gemeinsame Errichtung (Form) hinzukommen, die zusammen auf Bindungsgründe hinweisen, die nur im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen der Beteiligten verständlich sind; die Bindung an die letztwillige Verfügung diene letztlich dem Familieninteresse26. Das gemeinschaftliche Testament dürfe danach weder einseitig als eine Art Austauschverhältnis noch als ein reiner Liberalitätsakt betrachtet, sondern müsse als Ausprägung familiärer Solidarität und als Gestaltungsmittel für die Vermögensordnung der Familie verstanden werden. Dieses Nebeneinander vertragsähnlicher Elemente einerseits und außervertraglicher Bindungsgründe andererseits hat Battes dann mit dem Wechselspiel zweier Prinzipien, des Äquivalenz- und des Solidaritätsprinzips27, er23 Es wird gezeigt werden, daß in Anlehnung an die Theorie des sozialen Austauschs von George C. Homans, Peter M. Blau, Alvin Gouldner und Marcel Mauss das Vertragsmodell durchaus für die Erklärung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments fruchtbar gemacht werden kann, wie dies schon Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981, für die Vertragsdogmatik ins Werk gesetzt hat. 24 Battes, Vermögensordnung, 111 ff. 25 Battes, Vermögensordnung, 114 ff. Dieser Einwand ist freilich schon deshalb nicht ganz gereimt, weil beim Vertrag zugunsten Dritter der Vertragspartner ebenfalls keinen eigenen Vermögensvorteil erwerben muß und gleichwohl vertragliche Bindung vorliegt, worauf gesprächsweise Peter Gottwald hingewiesen hat. 26 Battes, Vermögensordnung, 111 ff., 133 ff., 149 ff., 158 ff., 173 ff., 216 ff. 27 Dazu vgl. auch Müller-Freienfels, Ehe und Recht, 40; Rauscher, Reformfragen, 219 f., 245 ff.
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klärt und in ihrer Konkurrenz das eigentliche Regelungs- und Wertungsproblem des gemeinschaftlichen Testaments gesehen28. Die testamentarische Bindung wird somit durch die Notwendigkeit einer Sicherung der Vermögensordnung der Familie im Generationenwechsel erklärt. Battes sagt dies zwar nicht ausdrücklich. Die von Battes bereitgestellten Topoi können jedoch auch als ein objektiv orientiertes, familiaristisches Erklärungsmodell dafür gelesen werden, wie Bindung vom Gesetz generiert wird. b) Kritik Ein derartiges Modell reicht jedoch zur Erklärung der Bindungswirkung nicht hin. Einmal kann Solidarität durchaus als ein Topos verstanden werden, der in eine Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung eingestellt werden kann. Es geht dann auch hier wieder um solidaritätsorientierte, nichtvermögensmäßige Austauschsvorgänge losgelöst von monetären Sinngehalten. Bei Lichte betrachtet ist dies freilich ein eher schwacher Einwand, da er durch geringe Umstellungen in der Battesschen Theorieanlage aufgefangen werden könnte. Gegen die von Battes favorisierte Erklärung der Bindungswirkung mittels der topoi von Äquivalenz und familiarer Solidarität spricht auch nicht der Vorhalt, das Erbrecht würde dann primär nicht als Vermögensrecht, sondern als fortgesetztes Familienrecht begriffen. In dieser Rigidität verfängt der Einwand schon deshalb nicht, weil Battes induktiv sich des Rechtsprechungsmaterials annimmt und hierauf aufbauend seine Theorie entwirft. Battes könnte dann allenfalls entgegengehalten werden, er orientiere sich in seinem induktiven Vorgehen zu sehr an dem lebenden Recht (Eugen Ehrlich) und vernachlässige den kritizistischen Gehalt dogmatischer Systembildung. Könnte mithin anhand Äquivalenz und familiarer Solidarität auch losgelöst von dem induktiven Vorgehen von Battes die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments erklärt werden, liefe der Vorhalt, hier würde das Erbrecht mit dem Familienrecht zu stark verschwistert, ins Leere. Gegen Battes spricht auch nicht, daß er die familienrechtlichen und die vermögensrechtlichen Wertungen nicht ins rechte Verhältnis setzt, wie dies von Rauscher29 angenommen wird. Rauscher versteht seine Kritik vor dem Hintergrund einer von ihm untersuchten Erbrechtsreform und wirft Battes nur vor, Äquivalenz könne de lege ferenda für das gesetzliche Ehegattenerbrecht kein Zurechnungskriterium der Vermögensverteilung post mortem darstellen30. Zur Darstellung der lex lata verhält Rauscher sich jedoch nicht. 28 29 30
Battes, Vermögensordnung, 25, 220 ff., 225 ff. und passim. Rauscher, Reformfragen, 245 ff. Rauscher, Reformfragen, 248.
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Gewichtiger ist denn auch folgende Überlegung. Bei beispielsweise kinderlosen Ehegatten, welche nicht sich je gegenseitig, sondern nichtverwandte Dritte von Todes wegen gemeinschaftlich in der Weise bedenken, daß die Verfügung des einen nicht ohne die des anderen getroffen wäre31, tritt gem. § 2271 II 1 BGB nach dem Tode des Erstversterbenden die Bindung des überlebenden Teils ein. Diese Bindungswirkung muß Battes unerfindlich bleiben. Damit gelingt es ihm aber nicht, den Gesamtbestand der geltenden rechtlichen Wertungen geltungstheoretisch als Recht zu erweisen, was die Überzeugungskraft eines familiaristischen Erbrechtsdenkens notwendig mindert: Indem Battes nur solche Fallgestaltungen der Kohärenzprüfung zugrundelegt, die von vornherein ein familiares Gepräge aufweisen – mag die Fallauswahl auch vom bisher vorliegenden Fallmaterial der Rechtsprechung geleitet sein –, wird eine familiaristische Deutung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments durch die Fallauswahl praktisch vorweggenommen. Zwar liegt der Einwand nahe, das soeben gewählte Beispiel verfehle den Sinn einer Theorie, die sich die Erklärung der Bindungswirkung nach § 2271 II BGB zum Ziele setze, weil es sich auf einen randständigen Extremfall kapriziere. Die für den Zuschnitt der Bindungstheorie relevanten Normalfälle lägen nun einmal – erster Fall – in der gegenseitigen Einsetzung der Ehegatten als Vorerben und eines Dritten (meist die gemeinsamen Abkömmlinge) als Nach- und Ersatzerben, in der – zweiter Fall – gegenseitigen Einsetzung der Gatten als Vollerben und eines Dritten als Ersatzerben oder – dritter Fall – in dem Vermächtnis eines Erbschaftsnießbrauchs an den überlebenden Teil mit Vollerbschaft des Dritten32. Überzeugend ist dieser Einwand freilich nicht. Denn der überaus starke Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Erblassers, welcher in dem Verlust einer weiteren Möglichkeit gegeben ist, sein „Sein zum Tode“33 nach dem Tod des Erstversterbenden in einem erneuten Prozeß der Todesverarbeitung zu entfalten, muß auch für diejenigen Fallgestaltungen erklärt werden können, die abseits des gängigen und tatsächlich in breiter Linie geübten Verfügungsverhaltens liegen. Sicherlich wird dem überlebenden Teil nicht verwehrt, überhaupt seinen eigenen Tod zu verarbeiten. Ihm wird aber von Rechts wegen (§ 2271 II BGB) vorenthalten, seinen Tod so zu verarbeiten, daß er für die Sozietät wirkmächtig relevant ist – denn wirkmächtig relevant ist die Todesverarbeitung, wenn ihr Ergebnis der Sozietät mit der Kraft des Rechts als Testament entgegengehalten werden kann34. Nun 31
Dieses Beispiel verdanke ich einem Hinweis von Peter Gottwald. Siehe zu diesen gängigen Fallgestaltungen nur MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 2 ff. 33 Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 II 3. 32
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dürfte die üblicherweise an den Tag gelegte Todesverarbeitung der Gatten (also etwa die Fallgestaltungen, denen sich Battes induktiv angenommen hat: gegenseitige Bedenkung der Gatten und endbedachter gemeinsamer Abkömmlinge)35 durchaus funktional auf die Perpetuierung der Institution Familie gerichtet sein. Die landläufigen Ehegattenverfügungen unterstützen damit durchaus einen der zentralen Orte der Sozialisation und des Prozesses der Vergesellschaftung des Menschen und gewähren damit der gesellschaftlichen Reproduktion einen rundweg hilfreichen Beitrag36. Wenn dem aber so ist und falls mithin die Theorie der Bindungswirkung gemeinschaftlicher Testamente sich allein auf das gebräuchliche Verfügungsverhalten gemeinschaftlich verfügender Ehegatten stützt und ein abweichendes Verfügungsverhalten als für die Erklärungsreichweite erbrechtlicher Dogmatik irrelevant abweist, ordnet sich die Bindungstheorie in genau jene, oben37 schon beschriebene Phalanx ein, die die je individuelle Todesverarbeitung gesellschaftlich verdrängt und möglichst so ablaufen sehen möchte, daß die gesellschaftliche Reproduktion sich störungsfrei (etwa: familienfreundlich) entfalten kann. Mit anderen, durchaus etwas pointierten und überzogenen Worten: Die Auffassung von Battes würde dazu führen, daß der mit der 34
Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9
IV 2. 35 Siehe zu den gewöhnlich in gemeinschaftlichen Testamenten getroffenen Verfügungen die rechtstatsächlichen Überlegungen bei Guericke, Rechtstatsächliche Untersuchungen, 1994. 36 Der funktionale Beitrag der Familie für die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion wird in der soziologischen Theorie durchaus zwiespältig beurteilt. Gerade aus systemtheoretischer Sicht wird bestritten, daß das Sozialsystem „Familie“ noch irgendeinen funktionalen Beitrag für die Gesellschaft leistet außer den, einen Ort bereitzustellen, an dem die gesamte Person thematisiert werden kann, siehe Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, 196 (198 f.). Demgegenüber anerkennt die struktur-funktionale Systemtheorie in der Tradition Talcott Parsons (dazu den Überblick bei Hill/Kopp, Familiensoziologie, 67 ff.) weiterhin wichtige funktionale Leistungen der Familie für die Reproduktion der Gesellschaft (sexuelle Gratifikation, Reproduktion, Sozialisation und arbeitsteilige ökonomische Kooperation, emotionaler Spannungsausgleich). In dieser Traditionslinie soziologischer Theorie gewinnt dann auch das Diktum der Familie als der „Keimzelle“ einer jeden Gesellschaft überhaupt erst Sinn. Die funktionale Bedeutung der Familie für die gesellschaftliche Reproduktion mag dabei mehr und mehr geschwächt sein (dazu nur Hill/Kopp, ebda., 75 f.), ganz entfallen sein dürfte sie nicht (dazu nur Hill/Kopp, ebda., 44 ff., 233 ff., 243 ff.). Die Rede von der Familie als „Keimzelle“ der Gesellschaft muß aber um so genauer erklären, was damit eigentlich gemeint ist, als das Erklärungsparadigma der struktur-funktionalen Systemtheorie mittlerweile an Überzeugungskraft eingebüßt hat. Siehe ansonsten zur Kritik an Luhmann nur jüngst Hill, in: Busch/Nauck/Nave-Herz (Hrsg.), Aktuelle Forschungsfelder der Familienwissenschaft, 33 ff.; empirische Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Ehe heute bei Klein, in: Busch/Nauck/Nave-Herz (Hrsg.), ebda., 103 ff. 37 Oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 III.
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Todesverarbeitung verbundene befreiende Schlag gegen die gesellschaftliche Überwältigung der Rechtsperson durch eben diese nicht geführt werden kann – und dies gerade in der Situation, in der der Überlebende seinen Gatten verloren hat und ihm damit die spürbare Übermacht des je eigenen Todes drastisch im Spiegel des Todes des je anderen vor Augen geführt worden ist38. Gerade in dieser Situation würde die Rechtsperson an einer erneuten Todesverarbeitung nach dem Tode des Erstversterbenden gesetzlich gehindert, ohne daß dem eine kohärente Deutung des Rechts zugrundeläge; Battes kann die Bindung solcher Ehegatten ja nicht erklären, welche in der Form des gemeinschaftlichen Testaments familienneutral oder familienfeindlich (aber durchaus ehegattenfreundlich) korrespektiv testieren. Wäre freilich eine derartige kohärente Deutung ins Werk gesetzt, wäre die Verweigerung einer erneuten Todesverarbeitung nicht auf die Übermacht systemischer Imperative, sondern auf die gemeinsame Autorenschaft der Bürger und mithin auf das Recht zurückgeführt. Die Theorie testamentarischer Bindung muß sich mithin gerade in den Fallgestaltungen bewähren, die abseits vom „Mainstream“ des tatsächlichen Verfügungsverhaltens liegen. Doch selbst wenn der soeben vorgestellte, an dem Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen und der je individuellen Todesverarbeitung ausgerichtete Einwand gegen Battes nicht überzeugt, reicht seine Theorie dennoch zur Erklärung der Bindungswirkung nicht hin. Denn falls die Theorie testamentarischer Bindung nur an den üblichen und standardisierten Fallgestaltungen des gemeinschaftlichen Verfügens von Ehegatten interessiert ist, richtet sie notwendigerweise ihr Erklärungsprogramm auch nur an üblichen und standardisierten Formen der Todesverarbeitung aus. Die Todesverarbeitung qua Testament ist aber Signum der persönlichkeitsrechtlich geschützten personalen Entfaltung des Testierenden39. Wird aber die Todesverarbeitung nur standardisiert erfaßt, wird auch die Handhabung des Persönlichkeitsrechts durch den Testierenden gleichfalls nur vereinheitlicht der dogmatischen Theorie zugrundegelegt. Damit wird aber der Sinn des Persönlichkeitsrechts von vornherein verfehlt, gerade auch einer ungezügelten Expressivität, der in der Todesverarbeitung widerscheinenden Ästhetisierung des eigenen Lebensentwurfs, eigenwilligen Inszenierungen des Selbst und nicht zuletzt Formen unverständlicher „Spinnerei“ einen rechtlich genuin geschützten Ort zu geben40. In anderen Worten: Der Erklärungsgehalt der Battesschen Deutung testamentarischer Bindung würde um so geringer, je stärker der Testierende seine Persönlichkeit rechtsgeschäftlich im Testieren aus38 Siehe zur möglichen Umformung der Realitätssicht nach dem Tode des Lebenspartners Shamgar-Handelman, in: Nave-Herz/Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 1, 423 (429 f.). 39 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 VII. 40 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 V 3.
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prägen würde. Aus Sicht eines personfunktionalen Erbrechtsdenkens wäre mithin der Einwand erkennbar zirkulär, die Theorie testamentarischer Bindung dürfe sich nicht an Extremfällen, sondern müsse sich an dem herkömmlichen Verfügungsverhalten orientieren. Es ist ja gerade Sinn des Persönlichkeitsrechts, dem Dogmatiker die Instrumente aus der Hand zu schlagen, die es ermöglichen, von vornherein ein Verhalten als „Extremverhalten“ bewerten zu können. Gerade durch die Einordnung dessen, was als Extrem- und was als Normalfall im gemeinschaftlichen Verfügen angesehen wird, würde mithin schon vorentschieden, welche Richtung die Theorie testamentarischer Bindung – nämlich die eines familiaristisch verstandenen Erbrechts – einschlagen wird. Nach alldem kann der Ansatz von Battes nicht sämtliche Fallgestaltungen erklären, in denen der Überlebenden in seinem Testierverhalten von Rechts wegen gem. § 2271 II BGB gebunden ist. Geltungstheoretisch müssen mithin andere Erklärungen gesucht werden. 3. Bindung kraft Vertrauen
a) Ausgangsproblematik Sehr häufig41 wird der Sinn der §§ 2270 f. BGB im Schutz des Vertrauens des Erstversterbenden in die Beständigkeit des gemeinsam letztwillig Verfügten gesehen: Der Überlebende soll nicht die Vorteile aus der letztwilligen Verfügung ziehen, ohne zu Lebzeiten beider Gatten das gemeinschaftlich Verfügte zu widerrufen. Denn widerruft er zu Lebzeiten, habe er ja die Vorstellungen des anderen Teils hinsichtlich der sachgerechten Vermögensordnung post mortem entwertet und soll dann auch die Nachteile dieser Entwertung (nämlich Streit in und möglicherweise Abbruch der Beziehung) tragen. Anders als bei einfachen einseitigen Verfügungen von Todes wegen, denen abgesprochen wird, einen Vertrauenstatbestand beim Bedachten zu begründen42, soll ein korrespektives Verfügen mithin ein schutzwürdiges Vertrauen begründen, welches ein funktionales Äquivalent zur Bindung kraft gemeinsamen Geschäftswillen im Vertrag43 darstellen würde; zugleich würde ein Beitrag geleistet, die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments mit der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre in Bezie41 Vgl. schon KG JFG 10, 67 (70); KG JFG 17, 44 (47); KG JW 1938, 179 (180); BGHZ 9, 233 (236); BGHZ 30, 261 (265); sowie nur Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 7; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 1; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 1; von Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 497; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 III; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 V 1; Lüderitz, Auslegung, 102; Kegel, FS Jahrreiß, 143 (153); Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1267); Ritter, Konflikt, 79; Buchholz, Erbfolge, 88; ders., RPfleger 1990, 45 (49); Bühler, DNotZ 1962, 359 (362 f.); Dilcher, JuS 1961, 20 (22). 42 Vgl. v. Craushaar, Einfluß des Vertrauens, 37, 50.
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hung zu setzen44. Nun ist es durchaus einleuchtend, daß gerade enge Sozialbeziehungen auf ein starkes Vertrauendürfen angewiesen sind45 und daß dieses anhand der §§ 2270 f. BGB auch normativ gegen Enttäuschungen gesichert sein soll. Dennoch ist die vertrauensgestützte Erklärung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments letztlich in der Pauschalität unbefriedigend, in der mit dem topoi „Vertrauen“ gearbeitet wird. Zwar liegt dies nicht daran, daß auf den Vertrauensschutz-Topos scheinbar nur aufgrund eines vermeintlichen Zwangs gebaut worden ist, den Befund einer testamentarischen Bindung gem. § 2271 BGB mit dem römisch-rechtlichen Dogma von der absoluten Widerruflichkeit des Testaments in Einklang zu bringen46. Derartige konstitutionstheoretisch47 ausgerichtete Einsichten in die Genese dogmatischer Erklärungsansätze sind geltungstheoretisch unbeachtlich, solange mit der jeweiligen dogmatischen Erklärung der Bestand geltender Normen nicht kohärent gedeutet werden kann. Vielmehr muß der „Vertrauens-Ansatz“ deshalb kritisiert werden, weil er die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments nur sehr ungenau erklären kann. Vertrauenstheoretische Bindungsdeutungen sind mithin – dies wird im weiteren nachgewiesen – zu unklar, als daß sie den geltenden Normbestand kohärent erklären können. b) Vertrauen als Blankettbegriff aa) Allgemeines Vertrauen wird von den Vertretern der vertrauenstheoretischen Bindungsbegründung unspezifisch gefaßt. Vertrauen allein als Alltagsbegriff mit vagem Zeichenwert, dessen Bedeutung zwar jeder „irgendwie“ zu verstehen 43
Vgl. zur Bindung kraft autonomer Selbstbestimmung und heteronomen Vertrauens nur Singer, Widersprüchliches Verhalten, 79 f., auf der Basis eines willenstheoretischen Rechtsgeschäftsansatzes. 44 Teilweise wird innerhalb der vertragstheoretischen Rechtsgeschäftslehren die Bindung an die Obligation ja auf Vertrauen, bzw. auf Verkehrsschutz i. S. der allgemeinen Ordnungsaufgabe des Rechts überhaupt zurückgeführt, vgl. nur Bydlinski, Privatautonomie, 67 ff., 136; Radbruch, Rechtsphilosophie, 245; Larenz, Methode, 485; Bassenge, Versprechen; Comes, Rechtsfreie Raum, 47 f.; v. Craushaar, Vertrauen, 36 ff., 51 ff., 58 ff., 62 ff. Vgl. dazu auch Jürgen Schmidt, Vertragsfreiheit, 88 f.; Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, 169 ff. 45 Vgl. allg. nur v. Craushaar, Vertrauen, 16, 18. 46 So aber die Kritik von Battes, Vermögensordnung, 258 f., an einer Gründung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments allein auf dem topos „Vertrauen“. 47 Zur Unterscheidung zwischen konstitutionstheoretisch und geltungstheoretisch orientierter Dogmatik siehe oben § 1 II, sowie Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 1 III.
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meint, aber letztendlich doch nicht zu definieren vermag48, eignet sich jedoch ohne nähere Präzisierung nicht als Baustein einer dogmatischen Theorie, die sich die Erklärung eines so ungewöhnlichen Phänomens, wie die einer Bindung qua gemeinschaftlichen Testierens, zum Ziel gesetzt hat. Vertrauen bedarf daher als ubiquitäres psychologisches, soziales und juristisches Phänomen in rechtsdogmatischen Zusammenhängen ersichtlich der rechtstechnischen Präzisierung, wie sie etwa im Bereich des Vermögensrechts durch Kriterien wie Vertrauensinvestition, Schutzwürdigkeit des Vertrauens und Zurechenbarkeit mehr oder weniger49 geleistet wird. Nun bezweckt Vertrauen allgemein nicht, daß jemand ein bestimmtes Verhalten an den Tag legt, sondern ist darauf gerichtet, normative Erwartungen hinsichtlich des Eintritts oder des Nichteintritts eines Umstands zu stabilisieren50. Die Vertreter der vertrauenstheoretischen Bindungslehre beziehen das geschützte Vertrauen zumeist auf die Erwartung, daß nach dem ersten Erbfall der Überlebende aufgrund der wechselbezüglichen Verfügungen nicht ohne zwingenden Grund neu testiert51. Vertraut wird wegen des Vertrauenstatbestands der wechselbezüglichen Testierung somit auf die Verhaltenskonsistenz des anderen Gatten zum Schutz der Perpetuierung der Ordnungsvorstellungen des Erstversterbenden. Ob dieses Vertrauen auch schutzwürdig ist, wird jedoch herkömmlich durchweg nicht überzeugend erläutert, was an mehreren Beispielen verdeutlicht werden kann. bb) Normativierung des Vertrauens? So wird nicht deutlich, ob Vertrauen empirisch oder auch normativiert verstanden werden muß. Wenn Vertrauen empirisch verstanden werden müßte, müßte das konkret vorhandene Vertrauen rechtliche Bindung limitieren. Es wäre dann vor allem nicht verständlich, wieso ein förmlicher Widerruf gem. § 2271 I 1 BGB notwendig ist, wenn in concreto der eine Ehegatte von dem anderen Ehegatten weiß, daß dieser neu testieren will. Wieso sollte er bei dieser kognitiven Lage weiter vertrauen dürfen? Der Verweis auf den Telos der gesetzlichen Form des § 2271 I 1 BGB allein reicht auf jeden Fall hier nicht hin. Sicherlich kann das Verhältnis von Rechtsgeschäft und gesetzlicher Form heute nicht mehr unreflektiert als Einheit eines Formalgeschäfts verstanden werden kann52, und so werden denn auch selbst48
Allg. Köndgen, Selbstbindung, 193. Vertrauen bleibt jedoch selbst bei Vorlage derartiger Kriterien nur wenig greifbar, siehe nur Köndgen, Selbstbindung, 98, 106 ff.; Fikentscher, Schuldrecht, § 103 IV 1. 50 Luhmann, Vertrauen, 35 ff.; ders., Ausdifferenzierung, 111; ders., Rechtssoziologie, 114; ders., Das Recht der Gesellschaft, 131 ff. 51 Vgl. nur KG JFG 17, 47. 49
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verständlich die Zwecke der notariellen Beurkundung des Widerrufs im Übereilungsschutz, in der rechtlichen Beratung sowie in der Beweisfunktion gesehen53. Doch soweit der eine Ehegatte mit Sicherheit beurteilen kann, daß der andere Ehegatte an dem gemeinsam Verfügten nicht mehr festhalten will54, ist für Vertrauen empirisch kein Raum mehr. Der Ehegatte darf wegen der gesetzlich angeordneten Widerrufsform freilich rechtlich noch vertrauen. Dieses Vertrauendürfen verweist dann aber auf eine Normativierung des Vertrauensbegriffs, eben auf ein „Dürfen“. Normativierungen müssen jedoch offengedeckt werden, da man ansonsten mit ihnen nicht arbeiten kann. Genau dies geschieht aber zumeist innerhalb der Dogmatik des § 2271 BGB nicht. Die Notwendigkeit, genaue Zurechnungskriterien für ein normativiert verstandenes Vertrauen zu entwickeln, zeigt ein weiteres Beispiel: Ein bloßer Verweis auf Vertrauen läßt offen, wieso gerade das Vertrauen des erstversterbenden Ehegatten geschützt werden soll und nicht umgekehrt das mögliche Vertrauen des anderen, wechselbezüglich testierenden Ehegatten in den Schutz vor einer Bindung post mortem, von deren Entstehung er möglicherweise nichts ahnt und auch nichts ahnen muß. Mit anderen Worten stellt sich immer die einfache Frage, was es rechtfertigt, das Vertrauen des einen (also das Vertrauen des Erstversterbenden auf die Bindung des anderen Teils) zu schützen und das des anderen (also das Vertrauen des Überlebenden auf einen Schutz vor seiner Bindung) erst einmal zu enttäuschen. Und diese Frage stellt sich auch dann, wenn – wie nach überwiegender Ansicht – dem anderen Ehegatten ein Anfechtungsrecht wegen Inhaltsirrtums gem. § 2078 BGB gegeben wird, wenn er über die Bindungswirkung des Ehegattentestaments geirrt hatte55. Denn bei erfolgter Anfechtung würde ja die korrrespektive Verfügung des Erstversterbenden gem. § 2270 I BGB nichtig, obwohl ein derartiger anfechtungsbedingter Verlust der Bedenkung gemeinhin nur bei einem relevanten Irrtum gerade des letztwillig 52
Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. kurz Häsemeyer, Form, 21 ff. Vgl. nur Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 8. 54 Man solle hier nicht einwenden, eine derartige Sicherheit sei nur vorhanden, wenn eine beglaubigte Abschrift der notariellen Beurkundung zugeht. Denn Kontinuität im Erwarten kann faktisch auch durch andere Formen der Interaktion hergestellt werden: Es kommt darauf an, wann Kontinuitätserwartungen vom Kognitiven ins Normative umschlagen, wann der Erwartende also enttäuschungsfest erwartet, vgl. nur Luhmann, Rechtssoziologie, 40 ff. Mit Vertrauensschutz allein kann schließlich in keinem Fall erklärt werden, wieso die Zustellung einer beglaubigten Abschrift von den Gerichten (vgl. nur BGH 31,5 (7); 36, 201 (204); 48, 374 (378), OLG Hamm, NJW-RR 1991, 1480) und einem Teil der Literatur (vgl. nur MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 8) nicht für ausreichend betrachtet wird, vgl. Battes, Vermögensordnung, 121 f. 55 Vgl. nur OLG Hamm, FamRZ 1967, 697, zum Erbvertrag; zudem MünchKomm-Musielak, § 2281 Rn. 9; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 12. 53
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Verfügenden eintritt; nicht dieser, sondern der überlebende Teil hat sich aber in dem skizzierten Beispiel über die Bindungswirkung geirrt. Anders gesagt: Das Vertrauen des Erstversterbenden wird gewöhnlich über das Irrtumsrecht geschützt56. Wer auch der ungewollten oder „fahrlässigen“ Veranlassung von Vertrauen durch den anderen Ehegatten eine Bindungswirkung entnehmen möchte, müßte die Bindungsintensität danach abstufen, wie leicht dem wechselbezüglich Testierenden die Verhinderung des Vertrauens des einen Ehegatten möglich und zumutbar war57. Es würde folglich unvermeidlich, konkrete Zurechnungskriterien aufzuweisen: Es müßte geklärt werden, ob Vertrauen immer schutzwürdig und damit ohne Rücksicht auf konkurrierende Interessen geschützt ist oder ob das durch § 2271 II BGB geschützte Vertrauen abwägungsoffen sich mit anderen Interessen auseinandersetzen muß. Auch ein weiteres Beispiel weckt Zweifel an einer unspezifisch gefaßten vertrauenstheoretischen Grundlegung des § 2271 II BGB. So bleibt der Überlebende auch dann an das gemeinschaftliche Testament gebunden, wenn der Erstversterbende ohne förmlichen Widerruf iS § 2271 I 1 HS 1 BGB zu Lebzeiten beider Gatten für den anderen erkennbar neu testiert hatte58 und dadurch zu erkennen gibt, daß die gemeinsam ersonnene Vermögensordnung post mortem für ihn nunmehr ohne Wert ist. Ein Schutz des Vertrauens in die Beständigkeit dieser von dem Erstversterbenden nicht mehr konsentierten Vermögensordnung ist hier nicht mehr einsichtig. Gegen diese Überlegung könnte freilich eingewandt werden, daß hier der Erstversterbende sich in einen unter Vertrauensaspekten relevanten Widerspruch zu seinen eigenen Absichten begebe59, wenn er a) die gemeinsame Verfügung nicht förmlich widerrufe und b) die darin ausgeführte Vermögensordnung dennoch ablehne. Nun ist anerkannt, daß bloßes widersprüchliches Verhalten für sich allein nicht genügt, um irgendwelche Folgen auszulösen60. Die 56
Zum Telos des erbrechtlichen Anfechtungsrechts siehe oben § 11 II 2. Vgl. zum ähnlichen Problem im Vertragsrecht nur Bydlinski, Privatautonomie, 110, 124. 58 Die Fälle nachträglich einseitiger Korrespektivität (dazu Buchholz, Rpfleger 1990, 45 (46 ff.)) können hier ohne Schaden ausgeklammert werden. 59 Hauptgrund und theoretische Legitimation des Verbots des venire contra factum proprium ist nach h. M. in Rechtsprechung und Literatur der Vertrauensschutz. Vgl. nur BGHZ 32, 273 (279); 44, 367 (371); 47, 184 (189); 84, 280 (284); vgl. aber auch BGHZ 50, 191 (196); aus der Literatur vgl. nur Wieacker, Präzisierung, 28; Canaris, Vertrauenshaftung, 270 f., 287 ff., 372 ff.; Dette, venire, 45 ff.; Köhler, Unmöglichkeit, 146; Singer, Widersprüchliches Verhalten, 77 ff.; Soergel-Teichmann, § 242 Rn. 313 ff.; MünchKomm-Roth, § 242 Rn. 289 ff.; Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 55 f. Musielak, FS Kegel, 433 (444), gründet den Vertrauensschutz gem. § 2271 II BGB auf den venire-Gedanken. 60 Vgl. nur Singer, Widersprüchliches Verhalten, 14, 18 f.; Dette, Venire, 38 ff., 45 ff., 95 ff. 57
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Frage kann deshalb hier nur sein, ob gerade aufgrund der Verbindung von Verhaltensänderung (Neutestierung) und Formmangel (formloser Widerruf der gemeinsamen Verfügung) eine andere Bewertung angezeigt ist. Die Erschwerung des Widerrufs dient jedoch nicht dem gleichen Zweck wie die Bindung des Überlebenden: der Widerrufende soll die Risiken auf sich nehmen, die aufgrund des Widerrufs für seine eheliche Lebensgemeinschaft zu Lebzeiten entstehen; zudem soll der andere Ehegatte die Möglichkeit erhalten, hinsichtlich seiner eigenen Verfügungen neue Entschlüsse zu fassen61. Aus teleologischen Erwägungen spricht daher aufgrund der je verschiedenen Schutzrichtung des § 2271 II 1 HS 1 und 2 BGB nichts für eine weitere Relevanz unspezifizierten Vertrauens. Zudem braucht der formmangelhaft Widerrufende nicht unbedingt die Formbedürftigkeit des Widerrufs zu kennen; bei einer derartigen Unkenntnis ist ein beachtlicher Widerspruch im Verhalten des Widerrufenden schlechterdings nicht erkennbar. Der Formmangel ändert damit nichts an der mangelnden Schutzwürdigkeit des Vertrauens und kann nicht normativ einen Vertrauenstatbestand perpetuieren. Es bleibt also dabei: Wo sind die normativen Zurechnungsgründe für Vertrauen? Bleiben diese unerklärlich, wird § 2271 II BGB allein auf legislative auctoritas zurückgeführt und kann sich geltungstheoretisch nicht als Recht erweisen. cc) Der Bezugspunkt von Vertrauen Schließlich muß der Bezugspunkt von Vertrauen und damit die Rechtsbeziehung geklärt sein, deren hinreichende Anscheinswirkung nach allgemeiner Anerkennung durch einen Vertrauenstatbestand repräsentiert wird62. Zu enträtseln wäre somit, ob sich Vertrauen objektbezogen auf die Perpetuierung der familiären Vermögensordnung post mortem oder – wie zumeist angenommen wird – handlungsbezogen auf die Bindung der Testierfreiheit des Überlebenden, mithin also auf die Entscheidungsstabilität des anderen Ehegatten bezieht. Anhand eines Beispiels kann diese Frage erläutert werden: Es ist strittig, ob es für § 2271 II 1 HS 2 BGB ausreicht, wenn nicht dem Ehegatten, sondern einem Dritten etwas zugewendet worden ist, und dieser ausschlägt63. Dies wird einmal mit der Begründung verneint, der 61
Vgl. nur Battes, Vermögensordnung, 122, 261; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24
VI 1. 62
Dazu nur Hübner, Allgemeiner Teil, Rn. 587. Verneinend Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 40; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 26; Erman-M. Schmidt, § 2271 Rn. 12; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 23; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 506 f.; bejahend Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 III 3 b; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 20; Hellwig, Verträge auf Leistung an Dritte, 648 f.; bei Verwandten oder Nahestehende als bedachte Dritte Battes, Vermögensordnung, 139; Brox, Erbrecht, Rn. 192. 63
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Überlebende bringe kein eigenes Vermögensopfer, was jedoch für einen durchgreifenden Vertrauensschutz hinsichtlich der Beständigkeit der Verfügungen des Überlebenden erforderlich sei. Zudem solle der Überlebende durch § 2271 II 1 HS 2 BGB an dem widersprüchlichen Verhalten64 gehindert werden, die gemeinsame Nachlaßregelung durch Aufhebung seiner eigenen Verfügung unwirksam zu machen, obwohl er durch die Annahme der Erbschaft zu erkennen gegeben hat, daß die gemeinsame Nachlaßregelung für ihn Bestand haben soll; bei der Ausschlagung durch einen Dritten sei ein derartig widersprüchliches Verhalten nicht gegeben, so daß dessen Ausschlagung der durch den Ehegatten nicht gleichwertig sei65. Dem kann unter Vertrauensgesichtspunkten nur bedingt zugestimmt werden: Vertrauen wird dann handlungsbezogen – auf die Ausübung der Testierfreiheit – und nicht objektbezogen auf die Sicherung der gemeinsamen Nachlaßregelung verstanden. Einsichtig ist dies nicht ohne weiteres, da eine Beschränkung der Testierfreiheit nur dann sinnvoll ist, wenn ohne derartige Bindungen die Vorstellung des je Erstversterbenden hinsichtlich der postmortalen Vermögensordnung durchkreuzt wird. Ansonsten ist schlechterdings kein rechtfertigender Grund für die Schutzwürdigkeit eines solchen Vertrauens ersichtlich, das nur auf Freiheitseinschränkung ohne nennenswerte Vorteile, wie bsp. der Entwertung einer Vertrauensdisposition, zielt66. Wenn für den Fall der Ausschlagung durch den Dritten die Ehegatten Vorsorge durch Einsetzung eines Ersatzerben getroffen haben, wird die gemeinsame Nachlaßregelung durch die Ausschlagung des Dritten nicht obsolet; Vertrauen gibt hier daher noch Sinn. Hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des Vertrauens müßte somit danach differenziert werden, ob die postmortale Vermögensordnung auch nach Ausschlagung durch den Dritten noch von den Ehegatten im voraus – bsp. durch Einsetzung eines Ersatzerben – geregelt worden ist. Ansonsten könnte Vertrauen nicht schutzwürdig sein und der Überlebende könnte seiner Bindung analog67 § 2271 II 1 HS 2 BGB entledigt werden. Derartige Feinheiten deuten darauf hin, daß der Vertrauenstopos, so wie er bisher der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments als Erklärung unterlegt worden ist, zu undifferenziert ist, um die Teleologie des § 2271 II BGB sachgerecht entschlüsseln zu können.
64 Auf die Verbindung zwischen dem Verbot widersprüchlichen Verhaltens und Vertrauensschutz ist oben schon hingewiesen worden. 65 Musielak, FS Kegel,433 (444 f.); MünchKomm-ders., § 2271 Rn. 23; RGRKJohannsen, § 2271 Rn. 26; Erman-M. Schmidt, § 2271 Rn. 12. 66 Auf diese Konstellation spielt ersichtlich Battes, Vermögensvorteil, 139, an. 67 Vgl. dazu nur Battes, Vermögensordnung, 139.
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dd) Vertrauen, Kenntnis und Umfang des relevanten Vertrauenstatbestands Schließlich setzt Vertrauen auf die Beständigkeit der gemeinsam vorgesehenen Vermögensordnung post mortem, wie jedes geschützte Vertrauen68, Kenntnis des Vertrauenstatbestands voraus, wobei hier noch offen bleiben kann, ob faktische Kenntnis oder Kenntnis bezogen auf einen verständigen Erblasser und damit normativierte, zugerechnete Kenntnis gemeint ist. Der Vertrauenstatbestand ist nun die gemeinschaftliche Errichtung eines Testaments, mit dem zugleich eine bestimmte Vermögensordnung nach dem ersten Todesfall avisiert ist. Die Erblasser müssen demnach die zu perpetuierende Vermögensordnung in ihrer inhaltlichen Ausformung zumindest kennen. Dies ist jedoch nicht ohne weiteres selbstverständlich der Fall. Denn bei der Auslegung gemeinschaftlicher Testamente soll es auf den gemeinsamen Willen beider Ehegatten ankommen, so daß stets zu prüfen ist, ob ein nach dem Verhalten des einen Erblassers mögliche Auslegungsergebnis auch dem Willen des anderen Teils entsprochen hat69. Bei wechselbezüglichen Verfügungen soll es zudem expressis verbis wegen der Verkehrsgerichtetheit der Erklärung und der Schutzbedürftigkeit des einen Ehegatten im Hinblick auf die Erklärung des anderen auf den erkannten und hilfsweise nach den erkennbaren Erklärungssinn analog § 157 BGB ankommen70, während bei nichtwechselbezüglichen Verfügungen nach überwiegender Ansicht71 das reine Willensdogma ohne Analogie zu § 157 BGB durchgeführt werden soll72. Nichtwechselbezügliche Verfügungen des einen 68 Vgl. nur zur Vertrauenshaftung im Vermögensbereich Canaris, Vertrauenshaftung, 507 ff., der als Sonderfall von der Voraussetzung der Kenntnis des Vertrauenstatbestands nur die Sonderfälle des Registerschutzes ausnimmt. 69 BGH NJW 1951, 959 (960); BGHZ 112, 229 (233); BGH NJW 1993, 256; BayObLGZ 1981, 710; BayObLG 1996, 1037; OLG Oldenburg, FamRZ 1998, 1390; FamRZ 1993, 854. 70 Vgl. BGH NJW 1993, 256 (ohne direkten Bezug zur Wechselbezüglichkeit); RGRK-Johannsen, § 2084, Rn. 10; Palandt-Edenhofer, § 2084 Rn. 1 und vor §§ 2265 ff. Rn. 12; Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51; MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 24, § 2269 Rn. 15; Brox, Erbrecht, Rn. 223; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 413; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 33 III 7 b.; danach differenzierend, ob der Verfügung eine Leistung gegenüber steht Brox, Irrtumsanfechtung, 160 f. Zum § 157 vgl. auch Wolf/Gangel, JuS 1983, 663 (664). Richtigerweise wird dabei allerdings nicht auf einen verständigen Erblasser Bezug genommen, sondern auf das Verständnis des anderen Teils in der konkreten Situation bei Abfassung des gemeinschaftlichen Testaments, siehe Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51. Das BayObLG kleidet dies in die Sentenz, daß eine nach dem Verhalten des einen Gatten mögliche Auslegung auch immer dem Willen des anderen Ehegatten gerecht werden muß, BayObLG, FamRZ 1987, 208 (209). 71 Vgl. nur Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51; MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 24; Brox, Erbrecht, Rn. 224; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 413.
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Gatten braucht der andere Ehegatte nach überwiegender Ansicht somit nicht in ihrem Inhalt voll erkannt zu haben, obwohl diese auf die Vermögensordnung post mortem durchaus einen bedeutenden Einfluß haben können. Wieso wird dennoch Vertrauen geschützt, obwohl die Voraussetzungen für das kognitive Erfassen des Vertrauenstatbestands nicht voll gegeben sein müssen? Zudem ist Vertrauen beschränkt auf Erbeinsetzungen, Vermächtnisse und Auflagen, § 2270 III BGB, obwohl die anderen möglichen Verfügungen, namentlich die Anordnung der Testamentsvollstreckung durch eine bestimmte Person, die gemeinschaftlich vorgestellte Vermögensordnung empfindlich beeinflussen können. Vertrauenschutz ist daher nicht hinsichtlich der Perpetuierung der Vermögensordnung in ihrer je konkreten Gestalt gegeben, sondern wird auf Erbeinsetzung, Vermächtnis und Auflagen limitiert. Doch warum ist dies so? Es käme mithin gerade darauf an, zu wissen, warum Vertrauen gegenständlich auf Erbeinsetzung, Vermächtnis und Auflage gesetzlich limitiert wird: Was ist das Spezifische dieser zu anderen Gestaltungsfaktoren der postmortalen Vermögensordnung? Auch hier bleibt die bisherige vertrauensttheoretische Gründung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments im unklaren. c) Vertrauen und Selbstverantwortung Ein Schutz des Vertrauens des Erstversterbenden scheint nun schon allein deshalb erforderlich zu sein, weil dieser wegen seines Todes nicht erneut, der Überlebende aber sehr wohl weiterhin testierfähig ist. Das Problem, warum das Gesetz testamentarische Bindung anordnet, spitzt sich also auf die Erwägung zu, ansonsten würden irreversible Folgen für den vertrauenden erstversterbenden Teil eintreten73. aa) Die Ausgewogenheit der von beiden Gatten geleisteten Investition Ein derartiger Gedanke eines irreversiblen Verlusts beim Erstverstorbenen reicht zur Legitimation der Bindung des Überlebenden jedoch nicht hin. 72 Dazu siehe auch Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 II 1. Auch bei einseitigen Verfügungen, die nicht ohne jede Bedeutung für den anderen Ehegatten sind, soll § 157 BGB zur Anwendung kommen nach Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 34 III 7 b; RGRK-Johannsen, § 2084, Rn. 10. 73 Die Irreversibilität der eingetretenen Verhältnisse in Form eines Dispositionsschutzes stellt auch nach den Vertretern eines eng umgrenzten Verbots widersprüchlichen Verhaltens einen hinreichenden Rechtfertigungsgrund für eine Schutzwürdigkeit bloßer Kontinuitätserwartungen dar, vgl. nur Singer, Widersprüchlicher Verhalten, 46, 313 f.; Canaris, Vertrauenshaftung, 510 ff.
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Aus ihm ergibt sich nicht die Schutzwürdigkeit eines auf die Bindung bezogenen Vertrauens. Auch der Überlebende ist ja erst einmal gebunden und kann sich nur ausnahmsweise von der Bindung befreien und damit seine Testierfreiheit wiedererlangen. Das Gesetz sieht demnach auch seine, im gemeinschaftlichen Testament niedergelegte Disposition nach dem ersten Todesfall für irreversibel an. Und kann sich der überlebende Teil von der Bindung lösen, kann er dies grundsätzlich nur um des Preises der Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen, § 2270 I BGB. Der Erstversterbende kann zudem für den Fall, daß seine im gemeinschaftlichen Testament enthaltene Verfügung gem. § 2270 I BGB unwirksam wird, durch eine auf diesen Fall bedingte weitere (nunmehr einseitige) letztwillige Verfügung Vorsorge treffen. Im großen und ganzen ist demnach die Irreversibilität der vertrauensbegründenden Investititionsbeiträge bei beiden Gatten regelmäßig parallel geschaltet: Kann sich der Überlebende nicht von seiner testamentarischen Bindung lösen, haben beide Gatten irreversibel investiert; kann sich der Überlebende hingegen lösen, entfällt bei beiden Gatten wegen des § 2270 I BGB die Vertrauensinvestition. Eine Begründung des Vertrauensschutzes anhand der Irreversibilität der Vertrauensdisposition beim erstversterbenden Ehegatten geht folglich fehl. Die zumutbaren Investitionsbeiträge beider Teile sind vielmehr gleich, so daß unter dem Gesichtspunkt des Schutzes erbrachter Investitionen nichts für eine Bindung des Überlebenden gem. § 2271 II BGB spricht. Die sachgerechte Norm, welche die Investition des Erstverstorbenen schütz, ist vielmehr § 2270 I BGB. Die Regelung des § 2270 I BGB, nicht aber § 2271 II BGB ist also Dreh- und Angelpunkt des Dispositionsschutzes des Erstversterbenden. Anders gesagt: Eine Bindung des Überlebenden wäre mit Blick auf die Teleologie des Vertrauensschutzes überschießend (sprich unverhältnismäßig) und kann die Bindung daher geltungstheoretisch nicht überzeugend erklären.
bb) Selbstverantwortlichkeit der Ehegatten als Limitierung eines Vertrauensschutzes Ein gewichtiger Vorhalt, welcher gegen die Argumentation, der Vertrauensschutzgedanke rechtfertige geltungstheoretisch allenfalls § 2270 I BGB, nicht aber § 2271 II BGB, eingewendet werden kann, blieb bisher noch außen vor. Es ist dies der Einwand, bei Lichte betrachtet seien die Dispositionsbeiträge des Erstverstorbenen und des Überlebenden doch nicht ausgewogen, da dieser als Verstorbener ja nicht mehr testieren könne, jener aber sehr wohl; dem Erstverstorbenen wäre mithin die Möglichkeit genommen, sein „Sein zum Tode“ mit Blick auf die neue Situation des Testierens des Überlebenden auszuprägen. Dies scheint ein durchaus berechtigter, ja ge-
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radezu schlagender Einwand zu sein, dem mit größter Sorgfalt begegnet werden muß. Es dürfte nicht verwundern, daß hier nachzuweisen versucht wird, daß der Einwand letztlich fehl geht. Denn mit ihm wird etwas Wichtiges übersehen. Anhand eines Gedankenexperiments kann dies erläutert werden. In diesem Experiment sei einmal ceteris paribus davon ausgegangen, daß die Regelung des § 2271 II BGB bzgl. der Bindung nach dem ersten Todesfall nicht, die des § 2270 I BGB aber sehr wohl bestünde. Es soll also ein Blick auf die Situation des Erstversterbenden geworfen werden, wenn eine testamentarische Bindung des Überlebenden nach dem ersten Todesfall nicht stattfindet. Wie wäre hier die Situation hinsichtlich des Schutzes des erstversterbenden Teils? Diese Situation kann an einem Beispiel plastisch gemacht werden: Die Ehegatten haben ein gemeinschaftliches Testament mit korrespektiven Verfügungen verfaßt. Nach dem Tode des Erstversterbenden testiert der Überlebende neu (ceteris paribus ist dieser ja im Beispiel nicht gebunden); die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen ist dann unwirksam, § 2270 I BGB. Für diesen Fall hätten beide Gatten zu Lebzeiten Vorkehrungen in der Art treffen können, daß eine auf den Fall der Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügungen bedingte weitere (nunmehr einseitige) letztwillige Verfügung erklärt wird. Damit wären sämtliche im gemeinschaftlichen Testament gewährten Vertrauensdipositionen, welche das Schicksal des Vermögens post mortem betreffen, auf jeden Fall aufgefangen. Die Frage, ob der erstversterbende Teil in seinem Vertrauen geschützt werden muß, spitzt sich mithin auf die Problematik zu, ob ihm angetragen werden kann und darf, er möge in der beschriebenen Weise für den Fall der Zweitverfügung seines verwitweten Gatten tunlichst Vorsorge treffen; treffe er sie nicht, müsse er auch die Folgen (Entwertung einstmals im gemeinschaftlichen Testament gewährten Vertrauens) eigenverantwortlich tragen. Anders gesagt: Muß die Verantwortung, anhand der o. g. bedingten einseitigen Verfügung sein Vertrauen vor einer Entwertung zu schützen, dem erstversterbenden Ehegatten zugewiesen werden oder kann und muß sie sogar auf den überlebenden Teil abgewälzt werden? Kann die Notwendigkeit einer derartigen „Verantwortungsüberwälzung“ begründet werden, ist § 2271 II BGB anhand des Vertrauensgedankens geltungstheoretisch erklärt; kann sie es nicht, schlägt eine vertrauenstheoretisch ausgerichtete Gründung des § 2271 II BGB geltungstheoretisch fehl. Für eine Überwälzung der „Vorsorgeverantwortlichkeit“ an den Überlebenden scheint auf den ersten Blick zu sprechen, daß der Erstverstorbene ja im Zeitpunkt, in der er für den Fall der Zweitverfügung bedingt einseitig testiert, den Inhalt der Zweitverfügung des anderen Teils nicht kennen kann (im Beispiel verfügt der Überlebende nach dem Tode des Erstversterben-
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den), so daß er sich aber auf diese auch nicht mehr einstellen kann. Dies schadet freilich nicht. Schließlich hätte ja auch zu Lebzeiten beider der andere Teil bei einem wirksamen Widerruf des gemeinschaftlich Verfügten wirksam neu verfügen können, ohne daß der Widerrufsempfänger vom Inhalt der Neuverfügung Kenntnis erhalten müßte. Wenn er neu testieren will, müßte er somit ohne Kenntnis der Neuverfügung des anderen testieren. Gleiches gilt umgekehrt für den Überlebenden. Dieser braucht im Zeitpunkt der Zweitverfügung die bedingt auf diesen Fall (im Beispielsfall ja) erklärte einseitige Verfügung seines erstverstorbenen Gatten nicht zu kennen und muß damit das Risiko eingehen, nicht seinen Interessen gerecht neu zu testieren. Das kognitive Risikopotential ist mithin beim Erstversterbenden und beim Überlebenden gleich. Für eine Überwälzung der Verantwortlichkeit kann auch nicht der Gedanke angefährt werden, diese sei durch die unter Ehegatten geschuldete Solidarität bedingt. Dem Erstverstorbenen ist es zu Lebzeiten doch ein Leichtes, in der beschriebenen Weise bedingt zu testieren; er ist mithin nach hergebrachten Solidaritätskategorien nicht hilfsbedürftig und damit auch nicht schutzwürdig. Schutzwürdigkeit dürfte aber für den Einsatz von Solidarität eine notwendige Bedingung sein. Zudem ist der Solidargedanke viel zu unklar, als daß er eine Verantwortungsüberwälzung legitimieren könnte. Denn warum sollte nicht umgekehrt vom Erstverstorbenen erwartet werden dürfen, er solle um der Solidarität mit seinem Partner willen diesen von einer testamentarischen Bindung durch eigene Vorsorge (nämlich bedingte einseitige Verfügung) entlasten, damit vermeidbarer Schaden (nämlich testamentarische Bindung) von ihm gewendet wird? Auch der vor allem von Battes74 in die Diskussion eingebrachte Gedanke, das gemeinschaftliche Testament müsse als Vermögensordnung der Familie begriffen werden, trägt keine Verantwortungsüberwälzung auf den überlebenden Teil. Denn hat der Erstverstorbene keine Vorsorge für den Fall der Zweitverfügung des Überlebenden getroffen, ist seine korrespektive Verfügung gem. § 2270 I BGB unwirksam. Es tritt dann – eine weitere Verfügung des Erstverstorbenen liegt in diesem Beispiel ja nicht vor – gesetzliche Erbfolge ein. Diese wiederum verstehen die familiaristischen Erbrechtslehren durchweg als Ausdruck des Familiengedankens. Ist dem so, verschlägt es aber aus Sicht des Familienschutzes nicht, daß gesetzliche Erbfolge eintritt. Darüberhinaus wäre ein Verweis auf den Schutz der Familie auch doppelsinnig. Denn oftmals will der Überlebende neu testieren, weil er eine neue Familie gegründet hat. Aus Sicht des erbrechtlichen Familiarismus käme es dann zu einem „familiaristischen Patt“, da der Familien-
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Battes, Vermögensordnung, passim. Zu Battes siehe schon oben § 4 II 2.
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gedanke nicht mehr die Entscheidung leiten kann, ob nun die alte oder die neue Familie schützenswerter ist. Zudem könnte – so ein möglicher Einwand – die Obliegenheit des Erstversterbenden, für seine eigenen Interessen durch ein bedingtes einseitige Testament Sorge zu tragen, den hergebrachten Testiergewohnheiten widerstreiten, nach denen so eben nicht testiert wird. Überzeugend ist dies nicht. Denn es müßte ja dargelegt werden, wieso beim gemeinschaftlichen Testament Handlungsgewohnheiten zu einer Risikoüberwälzung im Bereich der personal gegen sich selbst anzulegenden Verantwortung führen können und dürfen. Auch sonst entlasten Gewohnheiten in der Regel nicht davon, Eigenverantwortung zu tragen. Es bestünde allenfalls ein hinreichender Grund, die Gewohnheit zu ändern. Für eine Verantwortungsüberwälzung könnte schließlich noch ins Feld geführt werden, in einer funktionierenden Ehe würde der Erstversterbende ja schon deshalb in der großen Mehrzahl der Fälle nicht in der beschriebenen Weise bedingt einseitig verfügen, weil dies ein eklatantes Mißtrauen voraussetzen würde, welches aber nicht ernstlich den Ehegatten angesonnen werden kann. Also: Entspricht § 2271 II BGB nicht dem gängigen Ehebild? Bei diesem Einwand wird übersehen, daß die Zweitverfügung des Überlebenden nach dem ersten Todesfall erklärt wird, folglich in der Zeit nach der todesbedingten Auflösung der Ehe. Ein Mißtrauen, welches auf ein Verhalten während der Ehe bezogen ist, ist aber etwas anderes als ein Mißtrauen, welches während der Ehe die Zeit nach der Auflösung der Ehe avisiert – ein Verweis darauf, von dem Erstverstorbenen könne kein Mißtrauen gegen den Ehegatten erwartet werden, verlängert also quasi die Ehe in die Zeit nach ihrer Auflösung und kann mithin durchaus als ein metaphysisches Äquivalent zu den prominent durch v. Savigny75 und Puchta76 zum gemeinen Recht vertretenen, erbrechtlichen Persönlichkeitsfortsetzungstheorien gedeutet werden, nach denen die Persönlichkeit des Erblassers zeitweise oder gar dauerhaft fortlebt, indem sie auf den Erben übergehe oder von ihm fortgesetzt werde77. Nun weiß man, wie einschneidend der Tod des Erstversterbenden für den Überlebenden sein kann. Es kann zu einer Umformung der Realitätswahrnehmung und -bewertung kommen, von einer Änderung der Umstände, in die der Überlebende sich gestellt sieht, ganz zu schweigen78. Und diese Veränderungen machen die Ehegatten eben nicht mehr gemeinsam durch. Wieso sollte der erstversterbende Teil hier nicht Mißtrauen quasi zeigen müssen? Anders gesagt: Warum soll sich der Erstversterbende 75 76 77
v. Savigny, System, Bd. 1, 381 f. Puchta, Institutionen, Bd. 3, 215 f. Zu derartigen Theorien siehe Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht,
§ 4. 78
Dazu unten § 7 I 1.
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so hartherzig gegenüber dem Überlebenden zeigen, daß er diesen gem. § 2271 II BGB gebunden sehen will, obwohl es ihm doch ein Leichtes wäre, diesen anhand einer auf die Zweitverfügung des Überlebenden bedingten einseitigen Verfügung von der Notwendigkeit einer derartigen Bindung zu verschonen? Wäre die Verweigerung einer Übernahme der Verantwortung für sich selbst durch den Erstverstorbenen nicht eine Verweigerung gelebter Solidarität? Zudem zeigt das Eherecht, daß es durchaus Mißtrauen zwischen den Ehegatten anerkennt. Wie sonst sollte das Institut des Ehevertrags erklärlich sein? Eine vertragliche Bindung ist schließlich ein besonders prominentes Beispiel für einen Erwartungsschutz. Wären die gegenseitigen Erwartungen der Gatten hinreichend, käme es wohl kaum je zu Eheverträgen. Aus all dem kann nur gefolgert werden, daß der Gedanke einer Vermeidung vermeintlich unzumutbaren Mißtrauens eine Verantwortungsüberwälzung vom Erstversterbenden an den Überlebenden nicht trägt. Gegen eine Verantwortungsüberwälzung wiederum sprechen gewichtige klassische Risikoverteilungskriterien79. So ist die Verantwortungstragung dem Erstversterbenden zumutbar, da er testierfähig ist. Damit gilt er rechtlich zu einer bedingten einseitigen Verfügung befähigt. Das Risiko, keine Eigenverantwortung an den Tag zu legen, ist darüberhinaus leicht beherrschbar, da der Erstversterbende zu Lebzeiten sich nur über sein eigenes Tun Rechenschaft ablegen und ihn betreffende Handlungen Dritter nicht prognostizieren muß. Darüberhinaus hat das Risiko, Verantwortung zeigen zu müssen, der Erstversterbende selbst (zwar nicht alleine aber doch immerhin auch) veranlaßt; er mußte nun einmal nicht gemeinschaftlich testieren. Schießlich kann der Erstversterbende sich ja für den Hauptfall des Neutestierens des Überlebenden, dessen Wiederverheiratung, Wiederverheiratungsklauseln ausbedingen, die ja auch nicht gerade ungebräuchlich sind80. Dem Erstversterbenden steht mithin ein profundes Kautelarinstrument zur Hand, das er zur Risikovorsorge einsetzen kann. Nach all dem sprechen keine Argumente für eine Verantwortungsüberwälzung an den überlebenden Teil: Sowohl der Solidargedanke, der Verweis auf den erbrechtlichen Familiarismus, auf Äquivalenz und Testiergewohnheiten als auch die Idee eines Mißtrauensschutzes untermauern eine Verantwortungsüberwälzung nicht. Darüberhinaus tragen gängige Risikoverteilungskriterien dazu bei, eine derartige Überwälzung zu verwerfen: Die Veranlassung des Risikos, sich selbst die geschuldete Verantwortung nicht zuzugestehen, die Zumutbarkeit der Risikotragung, die Beherrschbarkeit des Risikos und dessen Vorsorgemöglichkeit hindern eine Verantwortungsüberwälzung. In dieser Situation 79 80
Dazu allg. Koller, Risikozurechnung, Kap. 2, S. 77 ff. Siehe unten § 12 I.
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kann der Erstversterbende entsprechend dem privatrechtlichen Bild der Rechtsperson, sich selbst nur in Verantwortung vor sich selbst zu entfalten, nur darauf verwiesen werden, er möge sich im Umfeld des gemeinschaftlichen Testierens als Rechtsperson erweisen und Selbstverantwortung übernehmen. Ist dem so, könnte auch für den Fall, daß die Regelung des § 2271 II BGB nicht gelten würde, so daß der Überlebende nicht gebunden wäre, dem Erstversterbenden angetragen werden, bedingt auf eine neue Verfügung des Überlebenden einseitig zu Lebzeiten zu testieren. Er hätte dann auch den letzten Gleichklang in den Investitionen gefunden, der ihn noch von der Investition des Überlebenden unterschieden hatte. Ist das Maß des Investitionsverlusts aber bei beiden Gatten nach dem ersten Todesfall identisch, entfällt das Argument, das Vertrauen des Erstversterbenden müsse geschützt werden, weil dieser nach seinem Tode eine unwiederbringlich verloren gegangene Investition erbracht habe: Dies hat der Überlebende eben auch. Der Gedanke des Vertrauensschutzes rechtfertigt nach all dem nur die Regelung des § 2270 I BGB, nicht aber § 2271 II BGB.
d) Ergebnis Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß sich die Bindungswirkung korrespektiver Verfügung so einfach mit dem Gedanken des Vertrauensschutzes nicht rechtfertigen läßt. Bei Lichte betrachtet rechtfertigt dieser Gedanke bei selbstverantwortungsbewußten Ehegatten allenfalls die Regelung des § 2270 I BGB, nicht aber die testamentarische Bindung nach § 2271 II BGB. Nach all dem kann es nicht verwundern, daß bei der Diskussion gewichtiger Einzelfragen hinsichtlich der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments der vertrauensbezogene Telos des § 2271 II BGB eher in den Hintergrund tritt und die jeweiligen Erörterungen kaum leitet. Dies wiederum zeigt, daß entweder ein unspezifisch gefaßter Vertrauenstopos für eine teleologische Entfaltung des § 2271 II BGB nicht hinreicht (mangelnde dogmatische Heuristik) oder daß die teleologische Anbindung des § 2271 II BGB an Vertrauen nicht sämtliche dogmatische Vorentscheidungen im Bindungskontext angemessen kohärent erklären kann (mangelnde geltungstheoretische Erklärungskraft). Insgesamt gesehen scheint die vertrauenstheoretische Bindungsbegründung ihre im bisherigen rechtsdogmatischen Diskurs so überaus hohe Überzeugungskraft gerade daraus zu schöpfen, daß sie so unpräzise ausformuliert, was sie eigentlich meint. Mit anderen Worten: Erst die Undifferenziertheit und die Ungenauigkeit des Vertrauensansatzes führen dazu, im Vertrauensschutz den Sinn und Zweck des § 2271 II BGB erblicken zu können. Sehr deutlich wird dieses Manko bei einer rein vertrauenstheoretischen Begründung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments, wie sie Buchholz vorge-
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legt hat81. Buchholz weist die gebräuchliche Formel eines „Zusammenhangs im Motiv“82 im Rahmen seiner Konzeption der Wechselbezüglichkeit zurück, da sie zu sehr an quasivertragliche Konzeptionen korrespektiver Verfügungen erinnere, und rekurriert allein auf das Vertrauen der Ehegatten hinsichtlich der Verfügung des je anderen im gemeinschaftlichen Testament. Nur werden dann sämtliche Kriterien, welches Vertrauen denn warum schützenswert ist, aus der dogmatischen Theorie gelöst83 – ein Verfahren, welches auf die praktische Stringenz der Theorie durchschlagen muß. Es bleibt mithin aufgegeben, zu klären, warum Vertrauen schützenswert sein soll. Und diese Aufgabe ist umso wichtiger, je mehr die Einsicht anerkannt wird, daß das Erbrecht nicht als fortgesetztes Eigentum begriffen werden kann, falls die Wertungen des geltenden Rechts kohärent gedeutet werden sollen. Denn ist dem so – und daß dem so ist, wurde eingangs skizziert und andernorts ausführlich nachgewiesen84 –, hat der Erblasser-Eigentümer ja post mortem als Eigentümer kein schützenswertes Interesse am Schicksal seines Vermögens. Wieso sollte dann aber sein Vertrauen hinsichtlich dieses Schicksals schutzwürdig sein? Insgesamt gesehen hat die bisherige Diskussion gezeigt, daß der Vertrauenstopos noch genauer untersucht werden muß: Es muß gründlicher geklärt werden, wovon die Rede ist, wenn von Vertrauen gesprochen wird, da ansonsten jedes Kriterium, welches Vertrauen denn nun durch die §§ 2270 f. BGB geschützt wird, verloren geht85. Und es muß intensiver analysiert werden, ob „Vertrauen“ überhaupt geeignet ist, die Bindungswirkung des Ehegattentestaments kohärent zu erklären. Bevor der mühselige Weg beschritten wird, dies alles zu prüfen, soll zuvor untersucht werden, ob nicht noch ein anderer Gedanke den Bindungseffekt korrespektiver Verfügungen eines gemeinschaftlichen Testaments erklären kann. 4. Bindung kraft Selbstbindung?
a) Formen der Selbstbindung im Ehegattentestament Bisher war nur von heteronomen Momenten (Solidarität und Äquivalenz auf der einen sowie Vertrauen auf der anderen Seite) die Rede, die testamentarische Bindung generieren. Bindung qua Autonomie blieb bisher außen vor. Der Versuch, die Bindungswirkung wechselbezüglicher Verfügun81
Buchholz, Rpfleger 1990, 45 (49 ff.). Prot., Mugdan V. 723. 83 Kritisch gegenüber Buchholz deshalb auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1275 Fn. 114). 84 Oben § 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 8 I et passim. 85 So auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1275 Fn. 114). 82
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gen von Todes wegen auf eine Selbstbindung der Testierenden zurückzuführen, ist bisher noch nicht rechtsdogmatisch näher untersucht worden. Dieser Versuch würde die Momente autonomer Bindung in das theoretische Blickfeld rücken, die mit dem Verweis auf rein heteronom begründetes Vertrauen oder auf Äquivalenz und Solidarität verloren zu gehen schienen. Der dogmatische Aufwand für eine derartige Erklärung wäre freilich recht hoch: Mit „Selbstbindung“ wird auf den ersten Blick gemeinhin eine Bindung verbunden, die auf einen rechtsgeschäftlichen, final auf Rechtsgestaltung gerichteten Willens zurückgeführt wird, wie er von der herkömmlichen Rechtsgeschäftslehre vorgestellt wird86. Mit dem topos „Selbstbindung“ scheint mithin eine willenstheoretisch fundierte Abgrenzung von Bindung und Unverbindlichkeit avisiert zu sein87. Demgegenüber müßte beim Ehegattentestament zuerst einmal geklärt werden, in welchem Sinn es überhaupt angebracht ist, über Selbstbindung zu sprechen, wenn das hinter dem Rechtsbegriff der Willenserklärung verborgene Rechtsprinzip (die autonome Selbstbestimmung) bei der Herstellung der Korrespektivität zwar eine maßgebliche Rolle spielt, gleichwohl aber in der Herstellung testamentarischer Bindung selbst augenscheinlich nicht, da Bindung auch dann – qua Gesetz, § 2271 II BGB – eintritt, wenn sie nicht bedacht und nicht explizit gewollt wurde; es hilft dann nach überwiegender Ansicht bei einer nicht gewollten Bindung nur das Anfechtungsrecht wegen Inhaltsirrtums gem. § 2078 BGB88. Das Problem einer jeden Erklärung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments mit dem Aspekt der Selbstbindung muß sich daher dem Problem stellen, wie der rechtsgeschäftliche Wille eine Bindung überhaupt generiert, wenn der Wille selbst im konkreten Fall eine Bindung gar nicht bedacht hat: Kann mithin eine Bindung (zwar nicht gegen, wohl aber ohne Willen des Erklärenden) normativ zugerechnet werden und gleichwohl noch von autonomer Selbstbindung die Rede sein? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es im Vertragsrecht ein breites Arsenal an rechtlichen Wertungsvorbildern. Der Bogen reicht von der dort diskutierten Frage, ob zur vertraglichen Bindung bei einer Willenserklärung das Bewußtsein erforderlich ist, sich rechtlich zu binden, wie dies verschie86 Vgl. nur Flume, Rechtsgeschäft, § 10, 1, § 4, 5; Soergel-Hefermehl, vor § 116 Rn. 16. 87 Vor allem die Rechtsprechung grenzt die vertragliche Bindung und die Unverbindlichkeit in Gefälligkeitsverhältnissen nach dem Willen der Beteiligten ab, siehe nur die grundlegende Entscheidung BGHZ 21, 102. Auch die ganz herrschende Ansicht bleibt bei der Abgrenzung Rechtsgeschäft – Gefälligkeit dem Willensdogma verhaftet, vgl. nur statt vieler MünchKomm-Kramer, vor § 116 Rn. 14 und vor § 145 Rn. 20; Soergel-Hefermehl, vor § 116 Rn. 27. 88 Vgl. nur OLG Hamm, FamRZ 1967, 697, zum Erbvertrag; zudem MünchKomm-Musielak, § 2281 Rn. 9; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 12; sowie schon oben § 4 II 3 b bb.
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dentlich in Annäherung an die Erklärungstheorie der Pandektistik verneint wird89, über die einer gängigen höchstrichterlichen Praxis90 entsprechende, verkehrssichernde Zurechnung eines Verhaltens als Willenserklärung über die Frage, wie es generell um die Bedeutung des Rechtsbindungswillens bestellt ist91 und bis schließlich zu dem Extremverständnis von Selbstbindung, bei dem der Bindungsgrund der Obligation vom Willen der Parteien abgelöst und in den berechtigten Erwartungen des Gegners verortet wird92. Vor diesem Hintergrund erscheint der Gedanke einer „Selbstbindung ohne Willen zur Bindung“ nicht mehr so abwegig, wie er auf den ersten Blick daherkam, da innerhalb der Rechtsgeschäftslehre auch dort noch von autonomer Selbstbindung die Rede ist, in der andere nur von heteronomer Vertrauenshaftung sprechen wollen. Daß die Frage nach der rechtsgeschäftlich ins Werk gesetzten Bindung qua gemeinschaftlichen Testament nicht so abwegig ist, zeigt zudem ein Blick auf Ehevereinbarungen. Hier wird bei zahlreichen Fallgestaltungen dem Zusammenwirken der Ehegatten herrschender Meinung nach ein rechtsgeschäftlicher Charakter abgesprochen93. Dies blieb insbesondere durch Hepting94 nicht unwidersprochen. Er will die allgemeine Rechtsgeschäftslehre weiterentwickeln und votiert gerade im Bereich enger Sozialbeziehungen für Formen rechtsgeschäftlichen Handelns, bei denen in ihrer theoretischen Begründung nicht mehr am Dualismus95 zwischen willensund vertrauenstheoretischer Grundlegung des Rechtsgeschäft angeknüpft wird. Vielmehr plädiert Hepting für einen dritten Weg, welcher Erklärungsformen, die bisher zumeist unter der Kategorie Vertrauen abgelegt wurden, in die Rechtsgeschäftslehre einbindet. Das Zusammenwirken von Willensund Vertrauenselementen im Rechtsgeschäft soll anhand eines zweifach gestuften hermeneutischen Prozesses ermittelt werden: Einmal wird bei einer Äußerung der natürliche Regelungswille des Äußernden, sodann dessen 89 So bsp. bei MünchKomm-Kramer, § 119 Rn. 83 ff.; ders., Grundfragen der vertraglichen Einigung, 169 ff.; Bydlinski, Privatautonomie, 162 ff. 90 Vgl. nur BGHZ 91, 324 (330 mit zahlr. weiteren Nachw.). 91 Verwiesen sei hier nur auf die Grundfolgentheorie (vertreten insbesondere durch Lenel, Bechmann, Ehrlich und Danz, vgl. die Nachw. bei Flume, Rechtsgeschäft, § 4, 5), die für die Verbindlichkeit einer Erklärung es genügen ließ, daß der Erklärende einen wirtschaftlichen Erfolg wolle, vgl. nur Bydlinski, Privatautonomie, 6 ff. 92 So bei Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981. 93 Vgl. dazu nur den Überblick bei Hepting, Ehevereinbarungen, 120 ff., 175 ff. 94 Hepting, Ehevereinbarungen, 1984; auf der Basis der rechtsgeschäftlichen und rechtstheoretischen Ansätze von Willoweit, Abgrenzung und rechtliche Relevanz nicht rechtsgeschäftlicher Vereinbarungen, 1969; und Comes, Der rechtsfreie Raum, 1976. Zu Comes und Willoweit vgl. Hepting, ebda., 191 ff., 256 ff., 265 f. 95 Es liegt auf der Hand, daß hier eine sehr grobe Vereinfachung skizziert wird.
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Verbindlichkeit wertend-typologisch anhand der Rechtsordnung ermittelt96. Das Verbindlichkeitskriterium „Rechtsbindungswille“ wird somit durch eine normative Bewertung des geäußerten, objektiv-normativ festzustellenden „natürlichen Willens“ anhand eines „Spruchs der Rechtsordnung“ ersetzt, so daß das Bewußtsein der rechtlichen Relevanz der Äußerung beim Äußernden nicht mehr zur Annahme einer Willenerklärung erforderlich ist97. In der Diktion personaler Autonomie gesagt, werden die normalerweise mit einem Vertrauensschutz herbeigeführten Effekte nunmehr der Person als autonome Entscheidung zugerechnet. Ausgangspunkt ist der hermeneutisch zu ermittelnde Aktsinn der Äußerung98; und bei gemeinschaftlichen Testamenten könnte dieser darin begründet sein, nicht mehr abweichend zu testieren99. Autonome Gestaltung der postmortalen Vermögensordnung würde hier dann in Formen erfolgen, in denen ein Rechtsbindungswille für die Fallgestaltungen zugerechnet wird, wo der Verweis auf die Notwendigkeit eines rechtsgeschäftlichen Bindungswillens zur Fiktion geraten würde100. Ein Zurechnungsmodus könnte dann das in § 2270 I BGB beschriebene Testierverhalten sein: dann läge aufgrund einer sozialen Typizität im Testierverhalten ein Selbstbindungswille in Form eines Versprechens zukünftiger Enthaltsamkeit im Testieren vor101. Freilich dürften die theoretischen Kosten eines derartigen Ansatzes recht hoch und seine Überzeugungskraft für die meisten Rechtsgeschäftler recht niedrig sein, rührt doch die These, daß der rechtsgeschäftliche Wille nicht finaler Rechtsbindungswille sein müsse, an die Grundfesten der Privatautonomie Savignyscher Prägung102.
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Vgl. zu diesem zweistufigen Prozeß nur Hepting, Ehevereinbarungen, 294 f. Hepting, Ehevereinbarungen, 268. 98 Hepting, Ehevereinbarungen, 241 ff., 252, 253 f., 256 ff. 99 Es liegt zwar keine empfangsbedürftige Erklärung vor, so daß an einem sozialen Aktsinn des Testierverhaltens gezweifelt werden könnte. Dennoch wären Folgerungen daraus rein begrifflicher Natur. Denn das gemeinschaftliche Testament ist auf den je anderen Ehegatten hin orientiert, so daß im Rahmen dieses Drittbezugs durchaus sinnvoll von einem sozialen Aktsinn eines Versprechens gesprochen werden kann. 100 Der rechtsgeschäftliche Wille könnte zudem von einer Partei nicht verneint werden, wenn sie einen Rechtsfolgen inhärierenden Zweck anstrebt, vgl. Willoweit, Abgrenzung, 106. 101 Es ergeben sich dann zahlreiche Anschlußfragen, bsp. dahingehend, ob der gebundene Ehegatte dieses Versprechen von demjenigen, dem es zum Vorteil gereicht, also den durch die bindende Verfügung des Überlebenden Bedachten, nicht kondizieren kann, wenn die der Motivlage zugrundeliegenden Verhältnisse sich geändert haben. Vgl. zu den bereicherungsrechtlichen Problemen im Kontext von Ehevereinbarungen Hepting, Ehevereinbarungen, 343 ff. 102 Vgl. Hepting, Ehevereinbarungen, 262. 97
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
b) Dogmatische Tragfähigkeit des Selbstbindungskonzepts So tragfähig das Konzept autonomer Selbstbindung auf den ersten Blick auch sein mag, so ist letztlich seine Erklärungskraft doch merklich geschwächt. Nun liegt dies nicht daran, daß § 2302 BGB einer Verpflichtung entgegensteht, eine letztwillige Verfügung nicht zu errichten, da hier ja eine derartige Verpflichtung nicht zur Rede steht und selbst wenn dies der Fall wäre, § 2302 BGB durch § 2271 II BGB als Spezialnorm eingeschränkt würde. Eher könnte man daran denken, daß das Selbstbindungskonzept deshalb zur Erklärung des Gesetzes nicht hinreicht, weil § 2270 BGB die Bindung dem ersten Anschein nach an nicht-autonome Momente knüpft: Das in § 2270 I BGB beschriebene Verfügungsverhalten löst Bindung von einem Bindungswillen ab und rekurriert – nach tradierter Diktion – auf einen Zusammenhang im Motiv. Und ein solcher Zusammenhang im Motiv – und damit eine Bindung – ist möglich, auch wenn eine Bindung des überlebenden Ehegatten psychologisch nicht gewollt ist103 – etwa weil das Bewußtsein fehlt, sich rechtsgeschäftlich relevant zu binden104. Damit scheint das Selbstbindungskonzept in sich zusammen zu brechen105. Es läge dann eine Bindung kraft Gesetzes und damit eine heteronome Bindungszurechnung vor. Der Schein trügt indes, da hier wiederum nur verschiedene Willenskonzepte gegeneinander ausgespielt würden: Denn eine rechtsgeschäftlich qua erklärter Selbstbindung herbeigeführte Bindung wäre vornehmlich dann absurd, wenn ein Willenserklärungskonzept entsprechend der tradierten Rechtsgeschäftslehre in ihrer willenstheoretischen Ausprägung angelegt würde. Diese willenstheoretische Richtung versteht den rechtsgeschäftlichen Willen zwar objektiv-normativ nach der Erklärungsbedeutung (und damit mit heteronomen Elementen angereichert) und nicht als psychologisch-subjektives Wollen im Sinne der Willenstheorie der Pandektistik. Heteronome Zurechnungsmomente werden aber gleichwohl soweit wie möglich aus dem theoretischen Verweisungszusammenhang entfernt; es wird weiterhin ein reales Bewußtsein gefordert, durch sein Verhalten eine rechtsgeschäftliche 103
Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1272). Bei einem Testieren wäre zwar ein Fehlen des Bewußtseins, sich überhaupt rechtlich relevant zu verhalten, kaum vorstellbar. Dies wäre ein sehr abseitiger, kaum je eintretender Fall, da der Testierende zumeist weiß, daß er sich rechtlich relevant verhält. Ein Fehlen des Bewußtseins, sich durch den Akt des gemeinschaftlichen Testierens selbst zu binden (und nicht nur erbrechtlich zu verfügen), dürfte jedoch häufiger auftreten. 105 Freilich bestünde für die testierenden Gatten immer noch die faktische Möglichkeit, durch Willensäußerungen Einfluß auf das Entstehen der Bindung zu nehmen. Zumindest die notwendige Voraussetzung, die nach dem sehr weit gefaßten Konzept von Privatautonomie von Bydlinski für eine privatautonome Selbstbestimmung anzusetzen ist – nämlich eben die genannte faktische Möglichkeit (vgl. Bydlinski, Privatautonomie, 126 ff., 155) –, läge damit wenigstens vor. 104
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Mitteilung irgendwelchen Inhalts zu machen106. Doch ist dies ja nur einer, wenn auch ein weitverbreiteter Ansatz in der Dogmatik der Willenserklärungen. Es gibt neuere Entwicklungen in der Rechtsprechung107, bei denen die Notwendigkeit eines rechtsgeschäftlichen Erklärungsbewußtsein unter Verantwortungs- und Zurechnungsgesichtspunkten differenziert betrachtet wird. Zudem wird bei der oben angerissenen Position von Hepting der Bindungswille normativiert und mit heteronomen Kategorien angereichert108. Bindung kann bei diesem Ansatz selbst dann normativ gewollt sein, wenn davon empirisch nicht die Rede sein kann. Es bleibt also dabei: Testamentarische Bindung wäre beim gemeinschaftlichen Testament qua rechtsgeschäftlicher Selbstbindung möglich, wenn ein hierzu passendes Rechtsgeschäftsverständnis angelegt wird (und angelegt werden darf – was genau untersucht werden müßte109). Das Selbstbindungskonzept versagt auch nicht bei der Erklärung nachträglich herbeigeführter einseitiger Abhängigkeit. Korrespektiven Verfügungen kann nachträglich der Charakter der Wechselbezüglichkeit genommen werden. Dies ist der Fall, wenn der eine Ehegatte nach Abfassung des gemeinschaftlichen Testaments letztwillig deutlich macht, daß seine Verfügung auch dann gelten solle, wenn der andere Ehegatte anders testiert110. Der eine Ehegatte kann dann zwar zu Lebzeiten nicht neu testieren, solange er nicht widerruft, § 2271 I 2 BGB, und nach dem Tode des anderen Gatten bleibt er sowieso gebunden, § 2271 II BGB. Für den anderen tritt jedoch eine Bindung gem. § 2271 II BGB bei einer von dem einen Gatten nachträglich herbeigeführten einseitigen Abhängigkeit nach dem Tode des einen Gatten nicht mehr ein. Vor diesem Hintergrund könnte nun folgendes gegen das Selbstbindungskonzept angeführt werden: Es läge eine durch den 106 Vgl. zum Erfordernis eines Erklärungsbewußtseins nur Hübner, AllgT, § 24 IV 1 b, § 34 III 1 b; Canaris, Vertrauenshaftung, 427; Sonnenberger, Verkehrssitten, 138 ff.; H.Hübner, Festschrift Nipperdey, 373 ff.; Fabricius, JuS 1966, 7; Thiele, JZ 1969, 407; Staud-Coing, 11. Aufl., vor § 116 Rn. 1; Staud-Dilcher, vor § 116 Rn. 20; Ennecerus/Nipperdey, AllgT, § 145 II A 4. 107 Siehe nur BGHZ 91, 324 (328 ff.); 109, 171 (177); BGH, NJW 1995, 953. 108 Der innere Wille wird auch bei den Vertretern der vertrauenstheoretischen Grundlegung der Willenserklärung aus dem Tatbestand der Willenserklärung entfernt, vgl. nur Köhler, AllgT, § 36 I 2 c; Soergel-Hefermehl, vor § 116 Rn. 13; Palandt-Heinrichs, vor § 116 Rn. 17; Bydlinski, Privatautonomie, 162 ff.; ders., JZ 1975, 1 ff.; Kramer, Grundfragen, 144, 152, 169 ff.; Gudian, AcP 169, 232 ff.; Kellmann, JuS 1971, 609 ff.; Säcker, JurA 1971, 509 ff. Vgl. zu den Unterschieden zwischen dem Ansatz Heptings und den vertrauenstheoretischen Lehren Hepting, Ehevereinbarungen, 292 ff. 109 Das angelegte Rechtsgeschäftskonzept müßte mithin auch generell überzeugend sein. 110 Vgl. nur KG JFG 17, 44 ff.; Palandt-Edenhofer, § 2270 Rn. 3; RGRKJohannsen, § 2270 Rn. 12; allg. Buchholz, RPfleger 1990, 45 (46).
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Willen des einen Gatten ins Werk gesetzte und deshalb heteronome Freistellung des anderen Ehegatten von seiner Bindung vor. Diese sei mit dem Konzept einer autonomen Selbstbindung schlechthin unverträglich, da die autonome Selbstbindung des anderen Ehegatten zeitlich limitiert wird durch den Willen des einen, den anderen Gatten freistellenden Ehegatten. Autonome Bindung und heteronome Freistellung paßten deshalb nicht zusammen, so daß die Erklärungskraft des Selbstbindungskonzepts letztlich scheitern müßte. Gleichwohl kann diese Argumentation den Rekurs auf Selbstbindung nicht erschüttern. Denn die Freistellung des anderen Gatten wird mit dessen mutmaßlichen Willen begründet111 – und damit im Rahmen des dogmatischen Konzepts autonomer Willensbildung und -bindung. Gegen das Selbstbindungskonzept spricht jedoch die Überlegung, daß mit ihm nicht sämtliche anerkannte Wertungen aus dem Recht testamentarischer Bindung qua gemeinschaftlichen Testaments erklärt werden können, so daß seine geltungstheoretische Reichweite notwendigerweise defizitär wird. So kann mittels des Selbstbindungstopos nicht erklärt werden, wie es möglich ist, von der Bindung des § 2271 II BGB per Änderungsvorbehalt zu befreien und gleichzeitig von einer Wechselbezüglichkeit der Verfügung gem. § 2270 im übrigen auszugehen112; Bindung i. S. § 2271 II BGB und Abhängigkeit i. S. § 2270 BGB müssen ja nicht immer gleichzeitig gegeben sein. Der Selbstbindungsgedanke führt dann zu der Notwendigkeit, Wechselbezüglichkeit und Bindung je verschieden zu erklären. Letztendlich versagt das Selbstbindungskonzept – und dies ist der ausschlaggebende Kritikpunkt – in der Erklärung der zeitlichen Dimension der Bindung. Mittels Selbstbindung läßt sich nicht erklären, wieso gerade das Versterben des anderen, also ein äußeres Ereignis, zur Bindung führt, obwohl es keinen sinnvollen Bezug zwischen Selbstbindung und Tod gibt. Eine geradlinig durchgeführte Selbstbindung müßte auch die Entscheidung über den Bindungszeitpunkt konsequenterweise mit umfassen. Die gesetzliche Entscheidung für Bindung ab Versterben des anderen Teils ist dann aus der Perspektive des sich autonom Bindenden willkürlich gewählt, was auf die Erklärungskraft der Theorie durchschlagen muß: Es ist nicht mehr erklärbar, wieso zu Lebzeiten beider Ehegatten diese sich nur in der Form des Erbvertrags binden können.
111 Vgl. BGHZ 30, 261 (266); KG, DR 1939, 1443 (1444) mit Verweis auf LG, JFG 15, 229 (230); KG, DNotZ 1943, 276 (277); KG, OGLZ 1966, 503 (504 f.). 112 Vgl. zu dieser Konstellation etwa BGH NJW 1964, 2065; KG JR 1925, 1180; OLG Stuttgart, MDR 1986, 674; BayObLG FamRZ 1991, 1488; 1999, 814 (816); OLG Köln, FamRZ 1993, 242; Huber, RPfleger 1981, 41 (42); Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1272); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 31; RGRK-Johannsen, § 2270 Rn. 8; Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 10 f., § 2271 Rn. 23.
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Der Gedanke autonomer Selbstbindung kann nach all die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments nicht hinreichend erklären. Damit ist das Selbstbindungskonzept aber nicht in Gänze abzulehnen. Es wird gezeigt werden113, daß Selbstbindungsphänomene durchaus im Rahmen der kohärent angelegten Deutung testamentarischer Bindung eine gewichtige Rolle spielen. Nur wird es weniger eine Form (in tradierter Diktion) „autonomer“ Selbstbindung, sondern eine kraft sozialer Mechanismen hergestellte Form sozialer Selbstbindung sein, eine Selbstbindung, die rechtlich erst aufgrund eines normativen Gesichtspunkts zur testamentarischen Bindung führt, nämlich des Gesichtspunkts des schutzwürdigen Persönlichkeitsrechts des Erstversterbenden, eben der Personfunktionalität des gewillkürten Erbrechts. III. Ergebnis der Diskussion bisheriger Deutungen testamentarischer Bindung Die Durchsicht bisheriger Bindungsdeutungen hat gezeigt, daß die Bindungswirkung gemeinschaftlicher Testamente bisher nicht überzeugend erklärt worden ist. Die überkommenen Erklärungen betonen einseitig heteronom-objektive Momente (Zurechnung der Bindung über Äquivalenz und Solidarität im Kontext eines erbrechtlichen Familiarismus) oder heteronomsubjektive Faktoren (Vertrauen), deren Erklärungskraft entweder gering oder zu undifferenziert ist. Zudem wird der Gedanke der Vertragsähnlichkeit schon im Vorfeld auf ein rein ökonomisch-vermögensmäßiges Raster beschnitten; der Theorie des gemeinschaftlichen Testaments gehen so etwaige analytische Stärken von Vertragsähnlichkeit – ihre mögliche Funktion als theoretischer Bezugsrahmen – notwendig verlustig. Die Deutung der Bindungswirkung gemeinschaftlicher Testamente über das Konzept autonomer Selbstbindung schließlich konnte nicht überzeugen, da es nicht nur eine Korrespektivität ohne Bindung (nämlich bei einem testamentarischen Änderungsvorbehalt), sondern auch den Zeitpunkt des Bindungseintritts (den Tod des Erstversterbenden) und damit gerade die Verbindung zwischen Tod und testamentarischer Bindung nicht erklären konnte. Die geltungstheoretisch angelegte Erklärung des § 2271 II BGB bleibt mithin weiterhin aufgegeben.
113
Im folgenden unten § 5, § 6.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
§ 5 Vorüberlegungen: Reziprozität und Ehegattentestament I. Ausgangsproblematik Wie gezeigt werden konnte, kann die Bindungskraft gemeinschaftlicher Testamente mittels des Gedankens der Vertragsähnlichkeit, der Prinzipien von Äquivalenz und Solidarität, eines unspezifizierten Vertrauensschutztopos und der Vorstellung einer autonomen Selbstbindung nicht hinreichend erklärt werden. Eine geltungstheoretisch ausgerichtete Dogmatik kann sich in dieser Situation nicht damit zufrieden geben, bloß auf die Regelung des § 2271 II BGB zu verweisen, sondern muß weiter nach Möglichkeiten suchen, die bindende Kraft des Ehegattentestaments zu erklären. 1. These
Herkömmlich erscheint das Ehegattentestament zur Zeit seiner Errichtung idealiter als Ausdruck eines gemeinsamen und auf prinzipiell gleiche Ziele gerichteten Wollens114. Bei der Bindungswirkung des Ehegattentestaments geht es in dieser Sicht mithin letztlich um den Schutz der Motivierung des rechtsgeschäftlichen Testierwillens115. Die leitende These der folgenden Überlegungen ist nun, daß der Grund der heteronom durch § 2271 II BGB ins Werk gesetzten Bindung der Schutz der gemeinschaftlich in einer Intimbeziehung geleisteten Todesverarbeitung ist. Die Bindung des überlebenden Teils ist somit Ausdruck eines Schutzes desjenigen Persönlichkeitsrechts des Erstversterbenden, welches dieser als „Sein zum Tode“ innig verbunden mit dem anderen Gatten in der letztwilligen Verfügung entfaltet hat – also Ausdruck eines persönlichkeitsrechtlichen Schutzes der zu Lebzeiten beider Gatten geleisteten und post mortem unwiederbringlich abgeschlossenen Todesverarbeitung116. Mit Blick auf diese These bleibt im folgenden zu klären: Wieso führt eine gemeinsame Todesverarbeitung überhaupt zur Bindung? Wieso führt nur eine durch Ehegatten geleistete gemeinsame Todesverarbeitung zur Bindung? Und wieso ist die eingetretene Bindung auf den ersten Anschein so überaus rigide, oder anders gesagt: Gibt es Flexibilisierungen in der Bindungsreichweite, die eine Lösung von einer eingetretenen Bindung möglich machen? Diese Fragen soll im weiteren anhand eines spezifischen Bezugsrasters zu beantworten versucht werden: Anhand austauschtheoretischer Vorstellungen wird geklärt werden, wie Bindungen im sozia114
BGH, NJW 1983, 256; Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1267). So auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1267). 116 Siehe zu diesem Ansatz allgemein oben § 2 I sowie Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 et passim. 115
§ 5 Vorüberlegungen: Reziprozität und Ehegattentestament
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len Handeln überhaupt entstehen, und mittels der Figur „Reziprozität“ wird erläutert werden, wie Bindungen in der Zeit Bestand haben. Hier wird sich erneut zeigen lassen, daß ein vertrauenstheoretischer Bindungsansatz sämtliche Fallgestaltungen testamentarischer Bindung nicht hinreichend erklären kann. Die personfunktionalen Gehalte des gewillkürten Erbrechts117 schließlich legen die normativen Gründe bereit, die zeigen, warum das Gesetz zur Figur testamentarischer Bindung greift: Die im gemeinschaftlichen Testament verkörperte Verklammerung der Todesverarbeitung beider Gatten bedingt einen Schutz des Persönlichkeitsrechts derjenigen letztwillig verfügenden Rechtsperson, die ihren Tod spezifisch verarbeitet hat, weil der andere Teil seinen Tod mit ihr innig verbunden spezifisch verarbeitet hat. Anhand der austauschtheoretischen Erörterungen wird schließlich auch gezeigt werden können, daß „Vertrauen“ nicht in sämtlichen Fällen testamentarischer Bindung für den Eintritt der Bindungswirkung vom Gesetz vorausgesetzt wird. Anders gesagt: Hinreichend präzise gefaßt kann der VertrauensTopos das Gesetz nicht in all seinen Fallgestaltungen geltungstheoretisch kohärent erklären. Dies wiederum ist erneut ein schlagendes Argument gegen ein vertrauenstheoretisches Bindungskonzept – ein Argument, welches freilich erst vor dem Hintergrund der noch folgenden Überlegungen einsichtig werden wird. Es sollte deshalb vorerst nicht abschrecken, daß alles reichlich kryptisch klingt. In einem ersten Zugriff auf die hiesig zur Erklärung der Bindungswirkung vorgeschlagenen Lösung soll näher geklärt werden, was es mit „austauschtheoretischen Vorstellungen“ und „Reziprozität“ nun genau auf sich hat. 2. Das Bezugsraster testamentarischer Bindung: Die Theorie des sozialen Austauschs
Bei einer unbefangenen Betrachtung des § 2271 BGB wird deutlich, daß beim gemeinschaftlichen Testament ein deutlicher Zusammenhang zwischen Bindung und Vermögensvorteil besteht118. Die Auslegungsregel des § 2270 II BGB veranschaulicht dies durch die Bezugnahme auf gegenseitige Zuwendungen. Auch das wechselbezügliche Testierverhalten gem. § 2270 I BGB deutet greifbar auf Gegenseitigkeitsvorstellungen hin. Derartige Gegenseitigkeitsvorstellungen können die testamentarische Bindung nicht hinreichend erklären, wenn das korrespektive Testierverhalten einer marktförmig an dem Medium Geld orientierten Lesart unterworfen wird, wie gezeigt wurde119. Bisher wurde aber – auch dies zeigten die bisherigen 117
Dazu oben § 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 2, § 11
VII. 118 119
Battes, Gemeinschaftliches Testament, 111. Oben § 4 II 1.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Überlegungen – in der erbrechtsdogmatischen Diskussion noch nicht der Gedanke aufgegriffen, Leistung und Gegenleistung nicht in einem marktförmigen, sondern in einem anderen, die ganze Person thematisierenden Sinn zu interpretieren, der Aspekte der Bedürftigkeit und der Solidarität mitumfaßt120. In dieser unpräzisierten Form wäre der Leistungsbegriff jedoch in seiner Heuristik stark beschränkt, da nicht deutlich würde, wie genau beispielsweise gelebte Solidarität testamentarische Bindung generiert. In dieser Situation ist es ratsam, zunächst einmal genau zu beschreiben, wie überhaupt in personal gegründeten Verhältnissen durch Austauschprozesse eine Bindung des sozialen Handelns bewirkt wird, um dann zu prüfen, ob mittels normativer Erwägungen eine präzisere Vorstellung von testamentarischer Bindung gewonnen werden kann. Geklärt werden muß mithin, wie eigentlich soziale Bindung entsteht und über die Zeit hinweg Bestand hat. Eine derjenigen Ansätze, die sich explizit der Frage annehmen, wie in einer sozialen Interaktion soziale Bindung entstehen kann, ist die Theorie des sozialen Austauschs im Gefolge George C. Homans, Peter M. Blau, Alvin Gouldner und Marcel Mauss, die schon von Köndgen121 für die Dogmatik schuldrechtlicher Rechtsverhältnisse fruchtbar gemacht, bisher aber für die Deutung der Bindungskraft gemeinschaftlicher Testamente noch nicht näher thematisiert worden ist. Köndgen versucht, rechtliche Bindung in einem Modell quasi-obligatorischer Obligation zu erklären, ohne auf vertrags- und vertrauenstheoretische Vorstellungen zurückgreifen zu müssen. Ausgangspunkt ist für ihn ein latentes Spannungsverhältnis zwischen der Selbstbestimmung des autonomen Subjekts und der sozialen Selbstbindung des in der Gesellschaft lebenden und handelnden Menschen, welches es aufzulösen gelte. Vor diesem Hintergrund versteht Köndgen seinen Ansatz nicht nur als rechtssoziologisches Unterfangen, sich der sozialer Bindung so, wie sie ist, zu vergewissern, sondern auch als einen normativ orientierten Versuch, rechtsgeschäftlich begründete Ansprüche nicht durch den Willen der Parteien, sondern durch den berechtigten Grad der Erwartungen des jeweiligen Interaktionspartners zu rechtfertigen. Damit löst er den Geltungsgrund der Obligation von dem Gedanken der Privatautonomie ab und verortet ihn nicht mehr in der Person des Versprechenden, sondern in der des Versprechensempfängers. Köndgen distanziert sich damit deutlich sowohl von den willens- und den vertrauenstheoretischen Rechtsgeschäftslehren als auch von der Lehre von der Vertrauenshaftung122. Dies braucht an dieser Stelle freilich nicht weiter zu interessieren, weil im Kontext des gemeinschaftlichen Testaments Bindung ex lege angeordnet wird und es somit hier nur um die Erklärung dieser Bindungsanordnung geht. Anders gesagt, wird 120 121 122
Angedeutet bei Brox, Erbrecht, Rn. 223. Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1981. Vgl. nur Köndgen, Selbstbindung, 1 ff., 97 ff., 118 ff., 185 ff.
§ 5 Vorüberlegungen: Reziprozität und Ehegattentestament
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das Modell Köndgens nunmehr nicht als eine bestimmte Rechtsgeschäftslehre in der Ablösung des Vertrags zum Quasi-Vertrag gelesen123, sondern als Vorbild für ein methodisches Instrument gedeutet, wie in der sozialen Interaktion testamentarische Bindung generiert wird. Das durch Köndgen bereitgestellte dogmatische Gerüst von Selbstbindung (Entstehungsgründe von Bindungen) und Reziprozität (Bestandsfähigkeit von Bindungen) kann daher durchaus auch für das Testamentsrecht fruchtbar gemacht werden. II. Konkretisierung: Sozialer Austausch – Reziprozität Köndgen rückt als Schlüsselkonzept für die bindende Wirkung der Obligation – die er allein im Auge hat – nicht Wille und Konsens, sondern Selbstbindung als das in sozialen Interaktionen empirisch beobachtbare Verpflichtungsverhalten in den Vordergrund seines soziologisch unterfütterten Ansatzes124. 1. Der Ausgang: Selbstbindung und soziale Interaktion
Köndgen ersetzt den Begriff des Vertrauens durch den der legitimen125 Erwartung126; die Bezüge zur vertrauenstheoretischen Erklärung der Bindungskraft gemeinschaftlicher Testamente liegt auf der Hand. Das eingangs geschilderte empirisch beobachtbare Verpflichtungsverhalten hängt mit der Verfestigung derartiger Verhaltenserwartungen zusammen. Eine solche Verfestigung erfolgt im Rahmen sozialer Interaktionen, da es gesicherte soziologische Erkenntnis ist, daß jede soziale Selbstdarstellung zur – freilich graduell sehr verschieden starken – Selbstbindung führt127: Jede Interaktion, 123 Die Kritik aus rechtsgeschäftstheoretischer Perspektive kann daher hier auf sich gestellt bleiben; vgl. kritisch zu Köndgen nur Brüggemeier, AG 1982, 268 ff.; Canaris, FS Larenz zum 80. Geb., 27 (84, 93 f., 106); Singer, Selbstbestimmung, 89 ff.; Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 214 ff.; Enderlein, Rechtspaternalismus, 118 f.; bezogen auf den Einbezug rollentheoretischer Erkenntnisse Paschke, RTh 1988, 523 (534 ff.); Breidenbach, Informationspflichten, 38 ff. 124 Köndgen, Selbstbindung, 156 ff. Zur Abgrenzung von einseitigen Festlegungen und isolierten Selbstbindungen ohne einen Sozialbezug im Verhalten siehe Köndgen, Selbstbindung, 161 ff. 125 Köndgen übernimmt hier systemtheoretisches Gedankengut: Legitim wird hier nicht in einem normativen Sinn gebraucht. Es geht nicht um eine normative Sinnbeziehung, wie sie beispielsweise mit dem Begriff der Rechtfertigung verbunden ist, sondern um ein wirkliches Geschehen durch Umstrukturierung von Erwartungen. Diese materielle Transformation von Begriffen führt unausweichlich zu Schwierigkeiten in der Rekonzeptualisierung des Köndgenschen Ansatzes, wenn „legitim“ hier mit normativen Konnotationen bedacht wird. Vgl. zur begrifflichen Problematik des Legitimations-Topos auch Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 3, 173. 126 Köndgen, Selbstbindung, 116.
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mit der man sich seinem Interaktionspartner präsentiert, Handlungssituationen definitorisch abklärt und seinen Erwartungshorizont bezüglich der Person des anderen strukturiert, erzeugt bei dem Partner legitime Erwartungen, deren Mißachtung jedenfalls gesellschaftlich sanktioniert wird. Diese Sanktionen besitzen eine sehr abgestufte Kraft. Rein äußerliches Verhalten von minderer Stärke und Intensität kann ohne stärkere soziale Sanktionen verändert werden128. Bei Selbstdarstellungsakten, die nicht bewußt dem Informationstransfer dienen129 (sog. „nicht-intensionale“ Akte), ist dies schon anders. Derartige nicht-intensionale Selbstdarstellungen erzeugen intensivere Bindungen, wenn sie – so der soziologische Sprachgebrauch Köndgens – „habitualisiert“, also über einen längeren Zeitraum wiederholt werden, ohne daß ihre symbolische Implikation vom Handelnden selbst in Frage gestellt wird. Das Spezifische an derartigen Habitualisierungen ist, daß durch ständiges Wiederholen oder Zeitablauf Kontinuitätserwartungen irgendwann vom Kognitiven ins Normative umschlagen130. Ist ein derartiger Umschlag erfolgt, werden die Erwartungen auch dann aufrechterhalten, wenn sie im Einzelfall enttäuscht werden131. Dieses Umschlagen, für das Köndgen den Begriff der „Normemergenz“ aufgreift, geschieht um so leichter, je mehr die einzelnen Identitäten in der sozialen Interaktion fixiert und in der Zeit institutionalisiert werden132. Normemergenz findet vor allem in langfristigen und auf ein Gleichgewicht im gegenseitigen Nehmen und Geben angelegten Sozialbeziehungen statt – prototypisch in der ehelichen Lebensgemeinschaft. Hier schließen die beiderseitigen Rollen Rechte wie Pflichten ein, normative Erwartungen werden in einem andauernden Prozeß informell ausgehandelt und kurzfristige Ungleichgewichtszustände können sich langfristig zumindest idealiter 127 Köndgen, Selbstbindung, 165, 167, im Anschluß an Luhmann, Rechtssoziologie, 74 f.; ders. Vertrauen, 69. Der tiefere Grund darin liegt in der auf George H. Mead zurückgehenden Einsicht, daß sich personale Identität nur im Rahmen sozialer Interaktion herstellt. Zusammen mit der universalen Vermutung für Kontinuität und Konsistenz im Verhalten eines Individuums wird dann deutlich, daß jede Selbstdarstellung über die Komplementarität des beiderseitigen Erwartens auch Bestandteil der Identität des anderen wird. Die Selbstdarstellung ist dann nicht mehr ohne Gefahr der Desavouierung des anderen veränderbar. Hierzu vgl. allg. nur Morel u. a., Soziologische Theorie, 51 ff. 128 Köndgen, Selbstbindung, 167. 129 Köndgen, Selbstbindung, 174. 130 Köndgen, Selbstbindung, 167 f. 131 Eine Erwartung, anhand derer zukünftiges Verhalten und Handlungen des Erwartenden oder des Erwartungsadressaten bewertet wird (so die Definition bei Köndgen, Selbstbindung, 116, in Anschluß an Galtung) ist kognitiv, wenn sie im Enttäuschungsfall neu definiert wird; sie ist normativ, wenn auch eine enttäuschte Erwartung weiter beibehalten wird. 132 Köndgen, Selbstbindung, 168.
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ausbalancieren133. Bürgerlich-rechtlich sind normemergente Selbstbindungen nur sehr eingeschränkt institutionalisiert134. Die hier dann interessierende und im weiteren aufzugreifende Frage ist, ob eine Institutionalisierung der Selbstbindung aufgrund des Testierverhaltens gem. §§ 2270 f. BGB gelingt. Die stärkste Form der Selbstbindung wird schließlich durch intensionale Selbstdarstellungen erreicht, also bei solchen, bei denen die Interaktion von den Interaktionspartnern bewußt als Träger von Informationen eingesetzt wird135. Die Stabilität der Erwartung des einen Partners gründet hier darauf, daß er das Verhalten des anderen als freies, damit als bewußtes und vermutlich auch als vernünftiges Handeln ansieht136. Normative Verhaltenserwartungen werden jedoch nicht nur an Selbstdarstellungen, sondern auch an generalisierten Normen und Werten sowie an Rollen festgemacht137. Inhaltlich unterscheiden sich die jeweiligen normativen Verhaltenserwartungen je nachdem, ob man dem Interaktionspartner als Person gegenübertritt, ob man als Rollenträger gehandelt hat oder ob im jeweiligen Interaktionsfall das Erwarten von Normen oder von Werten abhängig ist138. Wird beispielsweise in der Interaktion eine Rolle übernommen, können die Beteiligten auf Rollenmuster und damit auf ein ganzes Konglomerat von Pflichten zurückgreifen139. Es werden dann automatisch diverse, mit der Rolle verbundenen Erwartungshaltungen bei dem Interaktionspartner ausgelöst. Die Stabilisierung von Verhaltenserwartungen wird damit erleichtert. Besonders augenfällig ist dies im Bereich des Wirtschaftslebens, bei dem nahezu ausschließlich nicht als Person, sondern in Rollen gehandelt wird. 133
Köndgen, Selbstbindung, 169. Köndgen nimmt auf Verwirkung, das Einvernehmen gem. § 1356 I BGB und die Hofübergabefälle Bezug, vgl. ders., Selbstbindung, 169 ff. 135 Köndgen, Selbstbindung, 174 ff. 136 Die Skala intensionaler Selbstdarstellungen reicht von der nicht verbalisierten Imagepflege bis zum Versprechen als Erklärung mit ganz spezifizierten Verpflichtungssinn (Köndgen, Selbstbindung, 175). Rechtlich sind Selbstbindungen aufgrund intentionaler Selbstbindung bsp. durch den börsenrechtlichen Anlegerschutz und durch das Vertragsrecht institutionalisiert. 137 Köndgen, Selbstbindung, 198, mit Bezug auf Luhmann, Rechtssoziologie, 85 ff. 138 Vgl. zu diesem vierstufigen Schema der Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen Luhmann, Rechtssoziologie, 85 ff. 139 Zur weiteren Klärung von Bindungsphänomenen mittels des soziologischen Rollenkonzepts siehe Köndgen, Selbstbindung, 192 ff. Von der Integrierung von Erwartungszusammenhängen mittels Personvertrauens durch personale Selbstdarstellung unterscheidet sich Rollenvertrauen dadurch, daß einem Rollenträger ohne näheres Ansehen seiner individuellen Person Rollenverhalten zugerechnet wird. Das jeweilige Handeln führt daher mit der Rollenübernahme zwanglos zu einem ganzen Konglomerat von Pflichten, Köndgen, Selbstbindung, 200. 134
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Nun gründet Köndgen Bindungsphänomene kraft Rollenvertrauens auf einen positionalen Rollenbegriff, der übertragbare, standardisierte Verhaltensmuster bezeichnet und daher gerade für Zurechnungsprobleme des Schuldund Wirtschaftsrechts mit eng thematisierten, segmentären Interaktionen unter Fremden fruchtbar ist140. Für eine Analyse rollenbehafteten Bindungsverhaltens innerhalb affektiv-emotional angelegter Primärbeziehungen von längerer Dauer und normativ abgesicherter Existenz – wie der Ehe – ist ein derartiger Begriff in seiner analytischen Kraft freilich unbrauchbar141. Köndgens Modell bedarf hier ersichlich der Modifizierung. Im Rahmen der heutigen pluraldifferenzierten und sozialstaatlich ausdifferenzierten Gesellschaft mit ihrer fortschreitenden Individualisierung und dem daraus folgenden ausgesprochen individualistischen Ehe-Ideal142 wird der einzelne aus standardisierten Lebensformen weitgehender als früher freigesetzt. Die noch von Max Weber beobachtete Kontinuität sozialmoralischer Milieus in der Industriegesellschaft ist auseinandergebrochen und die Rollenteilung in der Kleinfamilie weitgehend aufgeweicht143. Dies manifestiert sich vor allem darin, daß die früher zu beobachtende „Einbindung der Frauen in ihr industriell erzeugtes ,Ständeschicksal‘ von Hausarbeitszuweisung und Eheversorgung“144 heute mehr und mehr durchlöchert ist145. Die Rollenanalyse kann hier daher allenfalls dazu dienen, mittels des interpretativen Rollenbegriffs der interaktionistischen Soziologie146 die auf Selbstdarstellung beruhenden Selbstbindungsphänomene zu untermauern147. Interpretativ heißt 140 Köndgen, Selbstbindung, 195. Zum rollengemäßen Handeln vgl. auch Miebach, Soziologische Handlungstheorie, 29 ff., 45 ff. Allg. zur Entwicklung der Rollentheorie vgl. Winnubst/TerHeine, Sociology 19 (1985), 598 ff. 141 Dies sieht auch Köndgen, Selbstbindung, 195, 205. 142 Dazu König, Familie, 51. 143 Vgl. zu dieser Entwicklung einer ständig fortschreitenden Individualisierung des einzelnen Beck, Risikogesellschaft, 134 ff. Gemäßigtere Modelle versuchen Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft beispielsweise anhand von Konzepten der „sozialen Lagen“, „sozialen Milieus“ oder von Lebenslagen und typischen Lebensstilen aufzuarbeiten, vgl. dazu nur Hradil, Sozialstrukturanalyse, insbes. 139 ff.; allg. auch die Beiträge in Berger/Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, 1990 und darin die Einführung von Berger/Hradil, ebda., 3 (insbes. 10 ff.). Allg. vgl. auch Vaskovics, SozWelt Sonderheft 3 (1994), 4 (10 ff.); Clason, SozWelt Sonderheft 3 (1994), 69 ff. 144 Beck, Risikogesellschaft, 174. 145 Gleichwohl bleibt das tradierte Modell der innerfamiliaren Arbeitsteilung mit seiner geschlechtsspezifisch unausgewogenen Arbeitsteilung und der häuslichen Zeitstruktur vorherrschend, vgl. nur Keddi/Seidenspinner, in: Bertram (Hrsg.), Familie, 159 (163 ff., 166 ff., 172 ff.). 146 Dazu vgl. nur Wiswede, Rollentheorie, 17 f.; Miebach, Soziologische Handlungstheorie, 49 ff., 76 ff.; Joas, Rollentheorie, 38 ff., 42 ff. 147 Die Kritik von Paschke, RTh 1988, 523 (536 ff.), die personunabhängige Konstitution des Rollenkonzepts durch Köndgen, aufgrund dessen Rollenverhalten
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hier, daß Rollen keine von den konkreten Interaktionspartner losgelöst verfestigte Verhaltensmerkmale aufweisen, sondern daß sich rollenhafte Verhaltensschemata erst im Laufe der gemeinsamen Interaktionsgeschichte einspielen148. Rollen sind damit nicht klar konturiert und müssen immer wieder neu definiert und modifiziert werden – was auf den rollenbezogenen Bindungseffekt zwischen den Interaktionspartner zurückschlägt; die Bindung wird hier geringer. Im Laufe des Ehelebens können die Ehegatten mithin interpretative Rollenmuster ausprägen, die ein Verhalten dann mit sozialer Bindung verknüpfen. Schließlich können auch interaktionistische Rollenphänomene ihre leitende Kraft verlieren, wenn die Eheleute sich in ihrem Testierverhalten derartig individuell verhalten, daß jegliche Rollenkonzepte an ihre Grenzen stoßen. Der Schwerpunkt der Erwartungsbildung liegt hier nicht mehr auf der Ebene rollenhafter, sondern auf der Ebene personaler Normidentifikation149 – es liegt auf der Hand, daß dies vor dem Hintergrund eines personfunktionalen Erbrechtsverständnisses, welches die je individuelle Todesverarbeitung normativ focussiert, eminent wichtig sein wird. Auch mit Blick auf das interpretative Rollenkonzept werden mithin die je konkret an den Tag gelegten Interaktionsgepflogenheiten der Ehegatten im Vordergrund stehen müssen. Insgesamt gesehen werden normative Verhaltenserwartungen somit durch einfache Selbstdarstellungsformen, durch habitualisiertes nicht-intentionales oder intentionales Verhalten oder durch Rollenübernahme implementiert. Offen blieb bisher noch, wie Verhaltenserwartungen zeitlich stabilisiert werden. Köndgen erläutert dies mit seinem Konzept der Reziprozität auf der Basis der soziologischen Theorie des sozialen Austauschs150. nicht einem individuellen Handlungsträger zugerechnet werden kann, sei als heteronome Setzung mit den Rechtsprinzipien der subjektiven Zurechenbarkeit der Vertrauens- oder Rollenerwartungen an den Vertrauensgeber bzw. Rollenträger unvereinbar, greift bei einem derartigen interpretativen Rollenbegriff ersichtlich nicht. 148 Dazu Luhmann, Vertrauen, 40 ff. 149 Vgl. dazu Luhmann, Rechtssoziologie, 85 f. 150 Köndgen knüpft an die insbes. von George C. Homans und Peter M. Blau begründete social exchange theory an, die von Grundannahmen des Utilitarismus und des Behaviorismus Skinnerscher Prägung ausgehend soziales Verhalten als Austausch von positiven und negativen Reizen, von Belohnungen und Strafen interpretiert. Die Parallelen zu wirtschaftswissenschaftlichen Gedankengängen sind offensichtlich; Köndgen selbst apostrophiert den Grundgedanken der Austauschtheorie als „Ökonomik des Tauschs“ (Selbstbindung, 241 Fn. 46) bei dem nur die Tauschgüter des Marktes durch Mittel des emotionalen und sozialen Tauschwerts, durch materielle wie immaterielle Güter ersetzt werden. Vgl. zu dieser engen Austauschtheorie nur Treibel, Soziologische Theorien, 92 ff.; Morel u.a., Soziologische Theorie, 31 ff.; Mikl-Horke, Soziologie, 228 ff.; Röhl, Rechtssoziologie, 133 ff. Köndgen entnimmt der Austauschtheorie einige Basisannahmen und reichert sie ansonsten mit
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments 2. Reziprozität als stabilisierendes Moment der Bindung
Reziprozität bedeutet nun nichts anderes als Gegenseitigkeit im weitesten Sinne. Sie geht über Entgeltlichkeit und über die im Rahmen synallagmatischer Verträge gemeinte Gegenseitigkeit weit hinaus: Das Konzept der Reziprozität nimmt sich nicht nur vermögensmäßiger, sondern auch emotionaler und sozialer Tauschwerte an151. Derartige Tauschwerte spielen im Entstehungszusammenhang und in der zeitlichen Stabilität von Austauschbeziehungen eine dominierende Rolle. Denn Reziprozität stellt nach der Theorie des sozialen Austauschs und nach den Erkenntnissen der Ethnologie eine ubiquitär feststellbare Bedingung für die Existenz von sozialen Beziehungen dar, die nur zustandekommen oder stabil bleiben, wenn beide Parteien sich Profit davon erwarten können152. Sie sei eines jener Essentialia sozialer Interaktionen, die geradezu universell gesellschaftlich präsent sind153. Reziprozität integriert soziale Beziehungen nicht nur – wie dies bei der Komplementarität subjektiver Rechte geschieht154 – auf der Ebene diffizileren Konzepten des sozialen Austauschs, namentlich von Gouldner und Mauss, an, die sich subtileren, sich nicht im unmittelbaren do-ut-des vollziehenden Austauschprozessen annehmen und die soziologische Theorie mit Gedanken einer universalen Ethik des sozialen Austauschs anreichern. Siehe ansonsten zum Prinzip der Reziprozität als Handlungsform schon Schelsky, JRR 1 (1970), 37 (70 ff.) mit Bezügen zu den Ethnologen Thurnwald, Malinowski und Radcliffe-Brown; darüberhinaus Walter Schmidt, Zur sozialen Wirklichkeit des Vertrages, 84 ff.; sowie die Skizze bei Thomas Raiser, Das lebende Recht, 224 f. 151 Vgl. dazu und zum Folgendem Köndgen, Selbstbindung, 240 ff. 152 Die Theorie des sozialen Austauschs findet ihr Menschenbild in der Vorstellung eines „social man“, der nicht nur nach wirtschaftlichen, sondern auch nach sozialen und emotionalen Gratifikationen strebt und in diesem Nexus Selbstverwirklichung auf allen Ebenen sucht, vgl. Köndgen, Selbstbindung, 246 mwNachw. 153 Siehe Gouldner, American Sociological Review 25 (1960), 161 (170). 154 Komplementarität ist ein Kennzeichen des subjektiven Rechts in komplexer werdenden Gesellschaften: Ego erwartet von Alter eine bestimmte Leistung. Wenn nun Alter seinerseits die eigene Leistung erwartet, mithin die Erwartung Egos annimmt und entsprechend handelt, liegt Komplementarität vor. Das subjektive Recht ermöglicht zwar Reziprozität in der Figur des synallagmatischen Vertrages, setzt sie aber nicht mehr voraus. Die in gering-komplexen Gesellschaften anzutreffenden lokalen Reziprozitäten lassen sich in komplexer werdenden Gesellschaften – zumindest nicht als ausschließliches Kennzeichen von Rechten – nicht durchhalten; der Bedarf für längere Ketten asymmetrischer Leistungszusammenhängen einerseits und für frei gewählte Reziprozität andererseits wird dann durch Komplementarität gedeckt. Vgl. allg. zu Komplexität, Reziprozität und Komplementarität nur Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 362 ff.; ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, 68 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, 460 ff., 481 ff.; Fezer, Teilhabe und Verantwortung, 61 ff. Der Gedanke der Reziprozität wurde im übrigen schon von Durkheim dazu verwendet, die magisch-religiöse Bindungskraft früher Verträge im Rahmen seiner Untersuchungen zur Evolution des Vertragsrechts zu durchleuchten, dazu nur Gebhardt, Gesellschaftstheorie und Recht, 408 ff.
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der Erwartungen, sondern auch auf der Ebene der Leistung. Anders gesagt: Wer etwas gibt, erzeugt beim Nehmer das unterschwellige Bedürfnis, wiederzugeben. Die Interagierenden finden damit in der Abfolge ihrer Begegnungen zu einer Art von Symmetrie im Austauschvorgang, zu einer Art Ausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung. Sie eignet mithin insbesondere Beziehungen zwischen Personen, die in einem Gleichordnungsverhältnis stehen155. Ausbeute im austauschtheoretischen Sinne bedingt eine hohe Variabilität der getauschten Objekte156: transferiert werden vermögenswerte Leistungen wie Sachgeschenke oder instrumentelle Dienste, aber auch schwer faßbare psychische und soziale Gratifikationen und schließlich auch namentlich in Intimbeziehungen „innere Belohnungen“, die den Partnern nicht aus instrumentellen Handlungen des anderen (wie Geschenke, Hilfeleistungen oder soziale Anerkennung) zufließen, sondern als emotionale Bereicherung unmittelbar aus dem Vollzug der Interaktion, „aus dem Erlebnis der Sozialität selbst“157 geschöpft werden. Eine derartige Reziprozität ist im sozialen Austausch nur als spontan sich einstellende, unmittelbar erlebte Reziprozität möglich. Nun fehlt bei persongebundenen und hochgradig symbolischfunktionalen Leistungen das Reservemedium Geld, in das real verweigerte Reziprozität bei Markttransaktionen „übersetzt“ werden kann. Dieses Fehlen muß überbrückt werden. Hier kommen rechtliche Regeln zum Zuge. Rechtliche Mechanismen bewerkstelligen eine mittelbare Anerkennung der nichtvermögenswerten Erwiderungspflicht, indem das Recht „bei gescheiterter Reziprozität für die Rückgewähr erhaltener Vorleistungen sorgt, bei gelungener Reziprozität die Erwiderung als Grund für das Behaltendürfen der Vorleistung respektiert“158. Reziprozität verlangt in einem hohen Maße Vertrauen auf Rückvergütung gewährter Leistungen159. Bei langfristigen Beziehungen wird dieses Vertrauen durch längerfristige und situationsflexible Gegenseitigkeitserwartungen gesichert. Reziprozität wirkt im Rahmen derartiger solidarischer Dauerbeziehungen vor allem als Hintergrunderwartung, als eine Art generalisierter Gegenleistungserwartung160, bei der Reziprozitätserwartungen nicht erst 155
Siehe zur austauschtheoretischen Analyse der Ehe nur Hill/Kopp, Familiensoziologie, 92 ff. 156 Köndgen, Selbstbindung, 245 f. 157 Köndgen, Selbstbindung, 246. 158 Köndgen, Selbstbindung, 257, mit Verweis auf die §§ 527, 530 BGB. 159 Köndgen, Selbstbindung, 270. 160 Dazu und zum Folgendem Köndgen, Selbstbindung, 246 f. Siehe auch Reichold, in: Rechtsfortbildung jenseits klassischer Methodik, 63 (85). Die dabei drohende Reduktion eines gerechtigkeitstheoretischen Denkens auf den bloßen Verweis auf eher utilitaristisch angelegte Reziprozitäts-Vorstellungen (dazu Joas, Die
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durch Situationsdefinitionen geschaffen werden müssen. Reziprozität wirkt hier gleichsam gegenüber den eingespielten Status- und Rollenpflichten hintergründig als subsidiäre Erwartungshaltung mit relativ inhaltlicher Unbestimmtheit161, da konkrete Reziprozitäten zwischen Personen in einem längeren Prozeß zu einem System von Handlungs- und Erwartungsperspektiven zusammengefaßt werden, die für die Angehörigen der Gruppe, in der die Austauschvorgänge erfolgten, komplementäre Geltung beanspruchen162. Eine Äquivalenz der Leistungen läßt sich hier allenfalls langfristig und näherungsweise sowie idealtypisch anstreben. Unter welchen Voraussetzungen im übrigen eine stabile und rechtlich sanktionierte Bindung eintritt, hängt von dem jeweiligen sozialen Kontext ab, also von den größeren sozialen Handlungszusammenhängen, in welche soziale Interaktionen eingebettet sind. Innerhalb des Handlungszusammenhangs „Markt“ gelten deshalb andere Regeln als innerhalb des Sozialsystems „Familie“163. Reziprozität findet schließlich am intensivsten in personal angelegten Interaktionen von längerer Dauer statt, wie beispielsweise der Ehe164, die denn auch soziologisch oftmals in den Sinnhorizont der „Gabe“165 gestellt und als „Basisinstitution der Entstehung von Formen menschlicher Gegenseitigkeit“166 angesehen worden ist. Übertragen auf das Testamentsrecht: Der Rekurs auf Reziprozität trägt – zumindest bei langjährigen Ehen – der sozialen Wirklichkeit des Vererbens Rechnung: Nur auf dem ersten Blick erscheint die Erbschaft als eine einseitige Übertragung von Gütern in Form einer asymmetrischen, nicht-reziproken Tauschbeziehung. Realistischer ist es anzunehmen, daß die Erbschaft als eine Gabe in ein Netz von Austauschbeziehungen integriert ist, die über den gesamten Lebenslauf getätigt wurden167. In einem personfunktionalen Blickwinkel kommt dies auch darin zum Ausdruck, daß der letztwillig Verfügende sein „Sein zum Tode“168 im Moment des Testierens entfaltet, und
Entstehung der Werte, 293; Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 68, 92 f., ) müsste freilich noch aufgearbeitet werden. 161 Köndgen verweist hierbei u. a. auf Ehegattenmitarbeit und ähnliche Problemfälle quasi-vertraglicher Reziprozität, siehe Selbstbindung, 260. 162 Dazu Gouldner, Reziprozität und Autonomie, 93. 163 Köndgen, Selbstbindung, 281, 271 ff. 164 Köndgen, Selbstbindung, 248. 165 Siehe nur Allert, Die Familie, 215 f. Die Gabe ist ein aus der Soziologie von Marcel Mauss stammender Begriff, mit dem die Leistung im Reziprozitätsverhältnis anschaulich verdeutlicht werden kann. 166 Allert, Die Familie, 280. 167 Marbach, in: Bien (Hrsg.), Eigeninteresse und Solidarität, 163 ff.; Lauterbach/Lüscher, KZfSoz-Sozpsy 1996, 66 (72). 168 Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 II 3.
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dies heißt nichts anderes, als daß er mit Blick auf die Lebensbezüge, in denen er steht und stand, sich Rechenschaft darüber ablegt, welche Verfügungen er treffen soll169. Das überkommene gesetzliche Leitbild des Testaments sieht in der Entfaltung des reinen Willensdogmas den letztwillig Verfügenden als von jeglichen sozialen Kontexten gelöstes Rechtssubjekt und spiegelt dies rechtstechnisch in der Ausformung des Testaments als einseitige, nichtempfangsbedürftige Willenserklärung wider170. Beim gemeinschaftlichen Testament werden die Sphären des A-Sozialen auch für die tradierte Sicht aufgelöst, indem die gemeinschaftlichen Verfügungen zwar als rechtlich unabhängige, aber dennoch als aufeinander bezogene Verfügungen begriffen werden171. Rechtstechnisch kommt dies darin zum Ausdruck, daß herrschender Ansicht nach die Erklärung des einen Gatten wegen der Verkehrsgerichtetheit der Erklärung und wegen der Schutzbedürftigkeit des anderen Ehegatten nach dem erkannten und hilfweise nach dem erkennbaren Erklärungssinn analog § 157 BGB auszulegen ist172. Gerade beim gemeinschaftlichen Testament geht daher auch das Gesetz von Selbstdarstellungsakten der Ehegatten aus, die es dann unter bestimmten Umständen mit Bindung versieht. Im soziologischen Duktus gesprochen: Bei einem aufgrund Habitualisierung des ehelichen Gebarens und der hieraus resultierenden Normemergenz auf der einen oder aufgrund intentionaler Selbstdarstellung oder Rollenübernahme auf der anderen Seite als selbstbindend wirkenden Testierverhalten (§ 2270 I BGB) wird bei gescheiterter Reziprozität 169 Dazu nochmals oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 IV 2. 170 Freilich ist dies nur das überkommene Leitbild. Zur Einsicht, daß auch das Testieren ein Vorgang ist, der nur mit Blick auf die Bedachten rechtlich verstehbar gemacht werden kann, siehe Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 VI. 171 Stets sei zu prüfen, ob ein nach dem Verhalten des einen Erblassers mögliche Auslegungsergebebnis auch dem Willen des anderen Teils entsprochen habe, vgl. BGH, NJW 1951, 959 (960); BGHZ 112, 229 (233); NJW 1993, 256; Dittmann/ Reimann/Bengel-Bengel, vor § 2265 Rn. 20 und § 2069 Rn. 14. 172 Vgl. BGH, NJW 1993, 256 (ohne direkten Bezug zur Wechselbezüglichkeit); BGH LM § 242 (A) Nr. 7; BayObLGZ 1962, 137 (142); BayObLG, FamRZ 1976, 549; RGRK-Johannsen, § 2084 Rn. 10; Staud-Kanzleiter, vor § 2265 Rn. 45; Palandt-Edenhofer, § 2084 Rn. 1 und vor § 2265 Rn. 12; Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51; MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 24; Brox, Erbrecht, Rn. 223; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 413; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 33 III 7 b; Stumpf, Auslegung, 197. Danach differenzierend, ob der Verfügung eine Leistung gegenüber steht Brox, Irrtumsanfechtung, 160 f. Zum § 157 BGB vgl. auch Wolf/Gangel, JuS 1983, 663 (664). Bei einseitigen Verfügungen innerhalb gemeinschaftlicher Testamente wollen bei Verfügungen, die nicht ohne jede Bedeutung für den anderen Ehegatten sind, § 157 BGB anwenden Lange/Kuchinke, ebda., § 34 III 7 b; RGRK-Johannsen, § 2084 Rn. 10. Anders (keine Anwendung des § 157 BGB) Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51; MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 24; Brox, Erbrecht, Rn. 224; Ebenroth, ebda., 413.
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der Widerruf des gemeinschaftlichen Testaments eröffnet (§ 2271 I BGB) und bei gelungener Reziprozität die reziproke Leistung des einen Ehegatten (die Verfügung) als Grund für die Bindung des anderen Ehegatten an die eigene Verfügung respektiert (§ 2271 II BGB). Rechtlich bleibt dann freilich noch zu fragen: Warum wird diese soziale Bindung auch rechtlich respektiert und rechtlich institutionalisiert? Nun wurde in der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung die Kategorie des subjektiven Rechts nicht mehr als etwas angesehen, was nur in einem reziprok strukturierten Rechte- und Pflichtenzusammenhang eingeordnet werden kann, vielmehr wurde das subjektive Recht als formale Komplementarität verortet173. Dies wiederum bedeutet, daß in der Entwicklung des Rechtsverständnisses man sich von der Vorstellung löst, daß jedem Recht ein Gegenrecht gegenüber stehen müsse, wie dies bei einem rein reziprok organisierten Recht der Fall ist. Wenn nun beim gemeinschaftlichen Testament dessen Reziprozität betont wird, wird diese Loslösung für das gemeinschaftliche Testament wieder zurückgenommen und die Inhalte wechselseitiger Verfügungen werden einander konkret zugeordnet – mit all den Folgen, die daraus resultieren, insbesondere wird die Analyse der Inhaltszuordnung, also der Feststellung der reziproken Abhängigkeit, zum Problem. Mit den bisherigen Überlegungen zum Grund sozialer Bindung (soziale Selbstdarstellung) und der Stabilisierung eingetretener sozialer Bindung in der Zeit (Reziprozität) ist der Boden dafür bereitet, den vertrauenstheoretischen Bindungsansatz nochmals einer genaueren Analyse zu unterziehen. Hier wird sich dann noch klarer als bisher zeigen, daß Vertrauensschutz – so wie er bisher verstanden wurde – als Telos des § 2271 II BGB untauglich ist. III. Nochmals: Kritik am Vertrauensgedanken als Grundlage testamenarischer Bindung 1. Bindung durch Selbstdarstellung
Bindung durch Selbstdarstellung verweist auf ein interaktives soziales Geschehen, auf Kommunikation zwischen den testierenden Ehegatten. Dies kann ersichtlich nur bei einer gemeinsamen Planung der künftigen Vermögensordnung post mortem im weitesten Sinne der Fall sein – womit es maßgeblich auf den Willen zur gemeinsamen Errichtung ankommt. Selbstdarstellung allein aufgrund dessen, daß sich die Ehegatten der Form des § 2265 bedienen, ohne indessen einen Willen zum gemeinsamen Testieren aufzuweisen174, dürfte ein eher unwahrscheinliches Phänomen sein. 173 Dazu nur Frey, Vom Subjekt zur Selbstreferenz, 14 ff., und schon oben § 5 II 2 Fn. 154.
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Erbrechtlich wird aus der Fülle möglichen Testierverhaltens heute fast einhellig175 ein spezifischer Kontext gemeinschaftlicher Verfügung herausgeschnitten, der sich vor allem durch subjektive Momente von ähnlichen Erscheinungsweisen abgrenzt: Es kommt auf den Willen der Erblasser an, gemeinschaftlich zu testieren176. Diese Gemeinschaftlichkeit des Testierens verkörpert in der Regel allenthalben ein Sozialverhalten, das Selbstdarstellung impliziert und daher zwangslos Selbstbindungsphänomene involviert, wenn die Ehegatten die Handlungssituation des gemeinsamen Testierens definitorisch abklären und die jeweiligen Erwartungshorizonte hinsichtlich der zukünftigen Vermögensordnung post mortem strukturieren177. In rechtsdogmatischen Kategorien wird dies zumeist dadurch ausgedrückt, daß für eine Wechselbezüglichkeit neben der Motivabhängigkeit zumindest die Billigung178 der jeweiligen Verfügung des einen durch den anderen Ehegatten erfolgen muß179. Das relevante Sozialverhalten muß nun 174 Hierin sieht bekanntlich RGZ 72, 204 (206), das Wesen des gemeinschaftlichen Testaments in einem rein objektiven, den Vorstellungen der gemeinrechtlichen Tradition folgenden (Coing, JZ 1952, 611 (613)) Verständnis gegründet. 175 Neben Jakobs, FS Bosch, 447 (451 ff.), der für die Auslegung des § 2265 BGB zu objektiven und für die Auslegung der §§ 2270 f. BGB zu subjektiven Kriterien greift, nähert sich MünchKomm-Musielak, vor § 2265 Rn. 9 ff.; ders., GedSchrift Riederer, 181 (183 ff.), objektiven Vorstellungen dadurch an, daß in der Erkennbarkeit des äußeren Errichtungszusammenhangs, also in der Gemeinschaftlichkeit der von den Testierenden abgegebenen Erklärung, das maßgebliche Kriterium für ein gemeinschaftliches Testament begriffen wird. Vorausgesetzt wird als Minimalforderung, daß jeder der Ehegatten die Verfügung des je anderen zumindest kennt. Dies allein genügt jedoch noch nicht für eine Interaktion mit Selbstdarstellungscharakter. 176 Vgl. zur subjektiven Theorie in der vermittelnden Ausprägung, nach der der gemeinschaftliche Testierwille aus den beiderseitigen Urkunden selbst erkennbar sein muß, BGHZ 9, 113 (115); BGH FamRZ 1977, 390 (392); BayObLG FamRZ 1994, 191 (194); 1993, 240; 1991, 1485 (1486); BayObLGZ 1959, 199; OLG Köln OLGZ 1968, 321; OLG Frankfurt OLGZ 1978, 267; OLG Hamm, OLGZ 1979, 262; OLG Celle, OLGZ 1969, 84 (87); Soergel-Manfred Wolf, vor § 2265 Rn. 7 f.; RGRK-Johannsen, § 2265 Rn. 7; Erman-Schmidt, vor § 2265 Rn. 1; Palandt-Edenhofer, vor § 2265 Rn. 2; Jauernig-Stürner, §§ 2266, 2267, Rn. 21. Vgl. zur strengen subjektiven Theorie, nach der die Maßgeblichkeit des Willens nicht im Testament angedeutet sein muß, OGHBrZ OGHZ 1, 333 (337); BayObLGZ 1959, 199 (208); OLG Frankfurt a. M. OLGZ 1978, 267; Staud-Kanzleiter, vor § 2265 Rn. 18; Lange/ Kuchinke, Erbrecht, § 24 III 2 b; Brox, Erbrecht, Rn. 174; Battes, Vermögensordnung, 175 ff., 284 ff.; Lutter, FamRZ 1959, 273 (274). Im übrigen vgl. zu den verschiedenen Ausprägungen der subjektiven Theorie nur Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1269 f.). 177 Die Parallelen zum sozialen Aktsinn i. S. der von Hepting (dazu oben § 4 II 4 a) bemühten, in einen hermeneutisch ausgerichteten Theorienkontext eingebetteten Theorie der normativen Verbindlichkeit liegen auf der Hand. Hier wird nur die Versprechenskomponente ihrer explizit-expressiven Form entkleidet und in schmiegsame soziale Handlungszusammenhänge verwoben.
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nicht in einem dichten, zeitlich fest umrissenen Prozeß des Aushandelns mit seinen klaren intentionalen Bindungsphänomen bestehen. Nicht selten wird ein Ehegatte seine Verfügung erst allein niederlegen und dem anderen zeitlich verzögert180 einen Anschluß ermöglichen. Und wenn die Ehegatten ad hoc gemeinsam testieren, wird die soziale Selbstbindung aufgrund eines etwaigen partikularen Akts intentionaler Selbstdarstellung zwar recht gering, aber doch vorhanden sein. Stellenweise wird durch die Ehegatten auch im Vorfeld des eigentlichen Verfügungsverhaltens eher implizit und tentativ die künftige Vermögensordnung entworfen; in einem derartigen Handlungsfeld, in dem nicht-intentionale und intentionale Selbstdarstellungsakte unlösbar miteinander verwoben sind, werden Selbstbindungen „schleichend“ aufgebaut, die Beteiligten verstricken sich in ein implizites Rollenspiel, in eine „Dramaturgie“ des sozialen Handelns (Goffman), das die symbolischen Implikationen des anstehenden Testierverhaltens mehr und mehr aufgrund normemergenter Prozesse und der Fremdwahrnehmung des Handelns des anderen Ehegatten als freies, vernünftiges Handeln aufeinander abstimmt181. Wenn die jeweiligen Kontinuitätserwartungen dann vom Kognitiven ins Normative umgeschlagen sind und damit bei Enttäuschungen dennoch aufrechterhalten werden, kann sich der andere Ehegatte nur noch auf Kosten einer Irritation der Sozialbeziehung aus der Selbstdarstellung lösen – einer Irritation, die schlimmstenfalls zum Zerbrechen der Beziehung führen kann182. Selbstbindungen werden daneben auch durch die im Laufe der ehelichen Lebensgemeinschaft ausgehandelten Rollen erweckt; dadurch wird das Vertrauen des Ehegatten dahingehend geschützt, sein Partner würde sich entsprechend den bisher gehegten
178 Billigung natürlich nicht in dem Sinne, daß der eine Ehegatte nur testieren kann, wenn ihm der andere dies zubilligt. Billigung bedeutet hier vielmehr Billigung der Verfügung des anderen Gatten, soweit diese für die eigene Verfügung Bedeutung haben, also: Billigung als für sich selbst relevant, siehe Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 III 2 b. 179 Vgl. nur KG KGJ 29 A, 57; 25 A, 100; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 I 7 b, § 24 III 2 b. 180 Der Zeitraum muß freilich so beschaffen sein, daß ein Einverständnis des Ersttestierenden noch erwartet werden kann, vgl. Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 III 2 b und ebda. Fn. 83. 181 Oder auch nicht. Bekanntlich können nicht die jeweiligen Testamente, sondern nur Verfügungen in dem Verhältnis der Wechselbezüglichkeit stehen, so daß je nach Verfügung eine Habitualisierung mit möglichen normemergenten Prozessen des Umschlagens der kognitiven Verhaltenserwartungen in Normative gelingt oder nicht. 182 Unter statusgleichen Partnern wird der Versuch, aus selbstsüchtigen Motiven Leistungen zu erreichen, ohne dieselben zu erwidern, äußerstenfalls zum Beziehungsabbruch führen, vgl. Gouldner, For Sociology, 281; Homans, Elementarformen sozialen Verhaltens, 66 f.; Köndgen, Selbstbindung, 265.
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Sozialerwartungen sozialadäquat und der bisherigen Lebensgemeinschaft entsprechend konsistent und ohne inneren Bruch verhalten183. Derartige normemergente Prozesse verlangen freilich eine hohe Elastizität des Erwartens; die Destabilisierung der Norm ist erleichtert184. Das Erbrecht verweist hier die Interaktion der Ehegatten ganz auf soziale Prozesse, da es die rechtliche Stabilisierung normemergenter Prozesse im Vorfeld des eigentlichen Verfügungsverhaltens ausdrücklich negiert, § 2302 BGB, und die Beteiligten die Bindung zwar einschränken, nicht aber auf Tatbestände ausdehnen können, die im Gesetz nicht vorgesehen sind185. Eine rechtliche Stabilisierung dieser fragilen sozialen Selbstbindung wird erst durch Reziprozitätsmechanismen herbeigeführt, die durch die §§ 2270 f. BGB explizit rechtlich legitimiert werden. Die Frage, welcher normativer Grund für diese rechtliche Legitimationswirkung gegeben ist, ist freilich immer noch nicht beantwortet. 2. Bindungsstabilisierung durch Reziprozität
a) Erbrechtliche Reziprozität Reziprozitätsmechanismen stabilisieren die jeweiligen Erwartungen der Ehegatten durch vermögenswerte, soziale, psychische und namentlich in Intimbeziehungen durch „innere“ Gratifikationen. Für die Bindungswirkung korrespektiver Verfügungen eines gemeinschaftlichen Testaments reichen freilich nicht irgendwelche Gratifikationen für eine Bindung hin. Vielmehr muß ein näherer Bezug zum Testierverhalten des je anderen vorhanden sein. § 2270 I BGB verlangt ausdrücklich eine auf das gegenseitige Testieren bezogene Reziprozität; ob der eine Gatte nicht ohne eine Gratifikation durch den anderen verfügt, ist rechtlich unbeachtlich, solange kein Nexus zur Verfügung des anderen vorhanden ist. Dies ist ja auch einsichtig, da bei einem personfunktional verstandenen Erbrecht das Vermögen als derjenige Transmissionsriemen fungiert, welcher schlagkräftig gegen die überwältigende Kraft systemischer Imperative ins Feld geführt zu werden vermag186. 183 Hier zeigen sich Parallelen zum eherechtlichen Schriftum. Pawlowski und Streck, die beide zu den „interindividuellen“ Ehelehren (zu den Ehelehren vgl. nur die Übersicht bei Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 3; Hepting, Ehevereinbarungen, §§ 3–5) gerechnet werden können, nehmen vertrauenstheoretische pflichtenneutrale „Obliegenheiten“ der Ehegatten innerhalb der Ehe auf eine NichtEnttäuschung von berechtigten Sozialerwartungen oder auf ein Weiterleben der verwirklichten Lebensgemeinschaft entsprechend an, vgl. Pawlowski, Studium, 315, 323 ff.; Streck, Generalklausel, 70 ff. 184 Köndgen, Selbstbindung, 172. 185 KG FamRZ 1977, 485; Battes, Vermögensordnung, 302. 186 Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 IV.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Reziprozität mittels vermögensmäßiger, sozialer, psychischer oder innerer Belohnung gewinnt daher nicht schon dann rechtliche Bindungsrelevanz, wenn gerade die jeweilige spezifische Verfügung des einen Ehegatten beim anderen Ehegatten soziale, psychische oder innere, nicht aber vermögensbezogene Momente der Belohnung auslöst; Testamenta reciproca und Testamenta correspectiva wären ansonsten nicht mehr zu unterscheiden. Der Umschlag sozialer in rechtliche Bindung erfolgt erst, wenn die Interaktion und die damit verbundenen Selbstdarstellungen auf das von Todes wegen weiterzugebende Vermögen bezogen sind. Der Extremfall ist erreicht, wenn sich im vermögensbezogenen Austausch herkömmliche Gegenseitigkeitsvorstellungen marktförmigen Handelns realisieren. Dies wäre etwa der Fall, wenn die Ehegatten mit Rücksicht auf den wirtschaftlichen Wert des je anderen Vermögens verfügen und auf das Risiko spekulieren, selbst als Überlebender Nutznießer der Vermögensverteilung zu sein187 – das gemeinschaftliche Testament wäre dann ein Risikogeschäft mit dem Spekulationselement des Vorversterbens des anderen Teils. Solch ein Testierverhalten ist in einer expliziten Form wohl durchweg die Ausnahme; Überbleibsel eines derartigen vertragsähnlichen Denkens findet sich in der Rechtsprechung dann, wenn die Vermögenslosigkeit des eines Ehegatten zumindest als Anlaß genommen wird, die Korrespektivität der jeweiligen Verfügungen eingehend zu untersuchen188. Möglicherweise schwingen hier unterschwellig Vorstellungen der Art mit, daß bei einem „entgeltlichen“ Vorgang Rechtsbindung quasi selbstverständlich erscheint189 und Entgeltlichkeit sich automatisch in einer Wirtschafts- und Marktorientierung erschöpft. b) Nochmals: Die mangelnde Erklärungskraft des vertrauenstheoretischen Bindungskonzepts Soweit, so gut. Kann mit diesen austauschtheoretischen Präzisierungen des Vertrauens190 der Vertrauenstopos gerettet werden? Dies wiederum ist nur der Fall, wenn mit dem bisher gezeichneten schönen Bild der Theorie 187
Auf ein derartiges Testierverhalten spielt Jakobs, Festschrift für Bosch, 447 (456), an. 188 Vgl. nur RGZ 116, 148 (150); RG DR 1940, 723 (724 f.); BayObLG FamRZ 1984, 1154 (1155); 1986, 393 (394); 1995, 251 (253); 1995, 1022; RPfleger 1981, 282; OLG Brandenburg, FamRZ 1999, 1541 (1543); OLG Hamm, FamRZ 1995, 1022; OLG Köln, FamRZ 1993, 1371 (1372); OLG Saarbrücken, NJW 1990, 1285 (1286). 189 Die Entgeltlichkeitscausa in entgeltlichen Verpflichtungsverträgen beispielsweise wirkt als „Seriositätsindiz“ für eine Rechtsbindung, vgl. zu Seriositätsprinzipien bei der Abgrenzung von rechtsverbindlichen Geschäften und unverbindlichen Gefälligkeiten nur Zweigert, JZ 1964, 349; Hepting, Ehevereinbarungen, 411 ff.; MünchKomm-Kramer, Einl. vor § 241 Rn. 30.
§ 5 Vorüberlegungen: Reziprozität und Ehegattentestament
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der Eintritt testamentarischer Bindung für sämtliche Fallgestaltungen des praktischen Lebens erklärt werden kann, die § 2271 II BGB avisiert. Hieran bestehen durchschlagende Zweifel. Dies liegt an folgender Erwägung: Vertrauen stellt sich – dies war eines der Ergebnisse der vorangegangenen Überlegungen191 – erst ein, wenn gehegte Erwartungen auch dann aufrechterhalten werden, wenn sie im Einzelfall enttäuscht wurden. Hierfür wurde oben der Begriff der „Normemergenz“ aufgegriffen. Und es war ebenfalls schon die Rede davon, daß Normemergenz vor allem in langfristigen und auf Reziprozität angelegten Sozialbeziehungen stattfindet, in denen normative Erwartungen in einem andauernden Prozeß informell ausgehandelt werden. Ansonsten werden normative Verhaltenserwartungen an generalisierten Normen und Werten sowie an Rollen festgemacht. Gerade im Bereich des Wirtschaftslebens wird Erwarten erleichtert, weil die Beteiligten sich hier auf standardisierte Rollenmuster und damit auf ein ganzes Konglomerat von Pflichten sowie auf übertragbare, ent-persönlichte Verhaltensmuster stützen können. Derartige standardisierte Verhaltensmuster sind im Bereich ehelicher Interaktionen freilich – wie schon ausgeführt – für deren Deutung wenig brauchbar. Es wurde deshalb oben auf den interpretativen Rollenbegriff der interaktionistischen Soziologie zurückgegriffen, um Normemergenz in der Ehe faßbar zu machen. Nun wird bei einem derartigen Rollenbegriff davon ausgegangen, daß sich rollenhafte Verhaltensschemata erst im Laufe der gemeinsamen Interaktionsgeschichte einspielen. Normemergenz ist mithin erst dann möglich, wenn die Interaktionspartner schon eine gewisse Zeit miteinander interagieren. Auch soweit die Erwartung nicht auf ausgehandelte Rollen, sondern gerade auf der konkreten Person beruht, mit der interagiert wird, ist dies nicht anders. Die jeweilige individuelle Person kann zwar als Garant eines Zusammenhangs von Erwartungen dienen. Ein zuverlässiges und sicheres Erwarten ist jedoch erst dann möglich, wenn man die individuelle Person „persönlich“ kennt, was wiederum eine Geschichte gemeinsamer Interaktion voraussetzt, in deren Verlauf der andere sich dargestellt hat und die Chance bestand, den anderen näher kennenzulernen192. Wie man es auch dreht und wendet, Normemergenz – und damit Vertrauen – stellt sich erst ein, wenn die Interaktion sich an Normen oder Werte orientiert, hochgradig (wie im Wirtschaftsleben) standardisiert ist oder auf langfristigem Kontakt beruht. Der Einwand, der der vertrauenstheoretischen Bindungserklärung mithin adressiert werden kann, liegt nunmehr geradezu auf der Hand: Mit dem Re190 Vertrauen wurde in den bisherigen Überlegungen ja in die Form des Erwartens übersetzt und im Rahmen der Theorie des sozialen Austauschs näher untersucht. 191 Oben § 5 II 1. 192 Luhmann, Rechtssoziologie, 85 f.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
kurs auf Vertrauen kann nicht erklärt werden, wieso bei korrespektiven Verfügungen der Überlebende auch dann nach dem Tode des Erstverstorbenen gem. § 2271 II BGB gebunden ist, wenn die Ehe selbst nur von kurzer Dauer war (erster Fall) oder die Ehegatten schon sehr früh gemeinschaftlich testiert haben (zweiter Fall), also beidesmal zu einem Zeitpunkt, in der sich noch keine gemeinsame Interaktionsgeschichte hat herausbilden können, vor deren Hintergrund das eheliche Erwarten strukturiert werden kann. Mit anderen Worten: Wie soll denn überhaupt in diesen beiden Fallgestaltungen ein Vertrauen entstehen können, welches sodann § 2271 II BGB schützt? Wieso sollen die Ehegatten enttäuschungsfest überhaupt erwarten (also: vertrauen) dürfen, wenn schon die sozialen Vorgänge, nach denen Erwartungen gebildet werden, keine Enttäuschungsfestigkeit des Erwartens erlauben? Der Einwand gegen einen derartigen Vorhalt liegt freilich auf der Hand: Gemeinhin kennen sich die Ehegatten mehr oder weniger schon längere Zeit, ehe sie die Ehe schließen, so daß sich damit durchweg Erwartungsstrukturen auch bei einer kurzen Ehe sozial herausgebildet haben dürften. Nur ist dies bei Lichte betrachtet kein relevanter Einwand. Denn mit ihm wird die Erklärung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments von einer sozialen Erscheinung vor der Ehe (nämlich dem Ausbilden gegenseitiger Erwartungszusammenhänge) abhängig gemacht. Dies ist aus mehreren Gründen unglücklich. Einmal ist die rechtlich für das gegenseitige Ausprägung eherelevanter Erwartungen vorgesehene, wenn auch sozial mehr und mehr weniger wichtige Form sozialer Interaktion das Verlöbnis. Es müßte mithin zumindest ein Wort darüber verloren werden, warum in der Bindungswirkung bei kurzen Ehen nicht zwischen Ehen mit und ohne vorausgegangenem Verlöbnis unterschieden werden soll. Dies wiederum erscheint geradezu abwegig. Darüberhinaus – und dies ist ungleich wichtiger – würde die Deutung testamentarischer Bindung von den Zufälligkeiten einer vorehelichen Interaktion abhängig gemacht. Die Bindungswirkung müßte dann um so weniger legitimiert, je kürzer die voreheliche Erwartungsbildung hat verlaufen können. Auch dies wiederum erscheint schlichtweg abwegig. Dies alles deutet darauf hin, daß für die Erklärung der Art und Weise, in der eheliche Erwartungen ausgeprägt werden, welche auf die Person des Interaktionspartners bezogen sind, es nicht auf das tatsächliche Interaktionsgeschehen ankommen darf, sondern auf das normative Bild, welches das Recht von dem Interaktionsgeschehen entwirft. Zu diesem Bild wiederum findet sich bei dem vertrauenstheoretischen Bindungsansatz kein Wort. Es bleibt mithin dabei, daß es mit dem Rekurs auf Vertrauen zumindest bei kurzen Ehen und bei frühzeitigem wechselseitigen Testieren nicht gelingt, Bindung zu erklären. Ein Einwand gegen dieses Verdikt bleibt dennoch: Es kann doch nicht bestritten werden, daß auch die eheliche Interaktion faktisch durch Normen,
§ 5 Vorüberlegungen: Reziprozität und Ehegattentestament
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Werte oder auch standardisierte Rollenmuster geleitet sein kann. Ist dem so, kann sich aber auch in einer kurzen Ehe oder zu einem frühen Zeitpunkt in der Ehe Normemergenz einstellen. Die Frage ist nur: Ist dies relevant? Hier hilft ein Blick auf das zentrale Ergebnis des Grundlegungs-Teils dieser Untersuchung weiter. Dort war die Rede davon, daß das normative Leitbild des Testierens darin besteht, daß der letztwillig Verfügende in der Verfügung sein „Sein zum Tode“ entfaltet, mithin seinen je individuellen Tod individuell verarbeitet193, mag auch die soziale Wirklichkeit anders aussehen und die von Todes wegen Verfügenden mit einer Todesverarbeitung nichts zu schaffen haben194 – wie gesagt, das Recht geht von einem normativen, nicht von einem empirisch abgesicherten Leitbild der Todesverarbeitung im Testieren aus195. Einem derartigen Leitbild widerspräche es aber, die mit dem Testament geleistete Todesverarbeitung mit irgendwelchen Standardisierungen zu verbinden. Genau solche Standardisierungen würden aber rechtliche Relevanz gewinnen, wenn es rechtlich beachtlich wäre, daß auch in der Ehe standardisierte Interaktionsvokabulare die Konsistenz des Erwartens sichern, ohne daß individuell ausgehandelte Handlungsroutinen die Festigkeit des Erlebens abfedern. Anders gesagt: Für die Frage, ob im Testieren vertraut wird, spielt es keine Rolle, daß in der Ehe auch einmal standardisierte Verhaltensmuster herrschen können. Ist dem so, schlägt die Erklärung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments für die oben genannten zwei Fallgruppen fehl: Mittels Vertrauens kann weder in kurzen Ehen, noch bei einem gemeinschaftlich frühen Testieren erklärt werden, wieso Bindung eintritt. Die geltungstheoretische Reichweite der Vertrauenskategorie ist mithin merklich geschwächt. Wenn mit Blick auf diese Schwierigkeiten das vertrauenstheoretische Bindungskonzept mit der Erwägung gerettet werden soll, die Ehegatten dürften eben erwarten, steht sofort die Frage auf dem Plan, wieso sie das denn dürfen, wieso also der Übergang von einem empirisch angelegten auf ein rein normativiertes Vertrauenskonzept stattfinden darf. Ersichtlich wird in diesem „Dürfen“ dem geltungstheoretischen Erklärungsproblem nur ausgewichen. Warum versieht das Gesetz denn nun eigentlich auf den Tod gerichtete vermögensbezogene Selbstdarstellungsakte mit Bindung, andere hingegen nicht, und errichtet so einen normativen Markierungspunkt? Wo ist also der normative Grund, soziale Selbstbindung rechtlich zu unterstützen? Dabei soll hier kein Zweifel daran gelassen werden, daß die Ehegatten bei korre193
Oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 VII. Oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 IV 1, 2, § 11 VII, § 13 I. 195 Ebenso geht das Recht davon aus, daß jeder Mensch eine Person ist. Ob die im Personbegriff eingeschlossenen Eigenschaften auch jeder Mensch tatsächlich besitzt, spielt für die Zubilligung der Rechtspersonalität schlichtweg keine Rolle. 194
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
spektiven Verfügungen durchaus erwarten dürfen, daß der überlebende Teil nicht mehr abweichend testiert, mag auch für eine derartige Erwartung faktisch keine Grundlage bestehen. Nur ist für dieses Dürfen nun eine geltungstheoretische Legitimation erforderlich. Und diese Legitimation besteht – dies sollte bei der Gesamtanlage dieser Untersuchung nicht weiter verwundern – in der Funktion des gewillkürten Erbrechts, in der testamentsgestützten Todesverarbeitung sein „Sein zum Tode“ in einer Interaktion mit innig verbundenen Dritten zu entfalten, was nunmehr nachgewiesen werden soll.
Man kann in Liebe nur so handeln, daß man mit genau diesen Erleben des anderen weiterleben kann. Handlungen müssen in die Erlebniswelt des anderen eingefügt und aus ihr heraus reproduziert werden; und sie dürfen doch ihre Freiheit, ihre Selbstgewähltheit, ihren Ausdruckswert für Dauerdispositionen dessen, der handelt, damit nicht verlieren. Sie dürfen gerade nicht als Unterwerfung (. . .) erscheinen. Mit einem „na meinetwegen“ ist keine Liebe zufrieden. Sie fordert, daß nur der, der liebt, so handeln kann. Niklas Luhmann196
§ 6 Testamentarische Bindung und gemeinschaftliche Todesverarbeitung I. Testamentarische Bindung und Todesverarbeitung 1. Der funktionale Gehalt des Testierens und das Verstehen einer Todesverarbeitung durch Dritte
Der tragende Legitimationsgrund der Testierfreiheit liegt in deren Funktion für den Testierenden, in der je individuellen Todesverarbeitung wirkmächtig seine Personalität entfalten zu können. Die Todesverarbeitung ist mithin der genuin rechtliche Ausdruck des Personalen. Im Testieren finden sich also persönlichkeitsrechtliche Wertungen wieder, die seinen normativen Rang verdeutlichen197. Nun ist der Prozeß der Verarbeitung des je eigenen Todes nach dem rechtlichen Leitbild des Testierens ein Prozeß, der von äußerster Individualität geprägt ist198. Ein Testieren des einen Gatten, weil gerade der andere Gatte so und nicht anders testiert, ist mithin in der recht196
Luhmann, Liebe als Passion, 219 f. Dazu nur oben § 2 I 3 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 VII. 197
§ 6 Testamentarische Bindung und gemeinschaftliche Todesverarbeitung
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lichen Wertung – faktisch mag dies wiederum anders sein, doch wie gesagt, das rechtliche Leitbild des Testierens wertet anders, eben kontrafaktisch – nur angängig, wenn die beiden Todesverarbeitungen so miteinander „verschmelzen“ und intern verknüpft sind, daß überhaupt sinnvoll die Rede davon sein kann, es bestünde ein Motivationsnexus im Sinne eines „weil“. Die Todesverarbeitungen beider Gatten müssen gewissermaßen verschmelzen und im Blick auf den Tod in ein Netzwerk gemeinschaftlichen Selbstverständnisses einfließen. Da die Todesverarbeitung für das Recht etwas überaus Individuelles ist, ist dies wiederum etwas, was nur von denjenigen geleistet werden kann, die die je individuelle Sprache des je letztwillig Verfügenden bis in die kleinsten Verästelungen zu lesen befähigt sind. Diese Einsichtnahme in das Höchstpersönliche wiederum ist gemeinhin Intimbeziehungen vorbehalten, mithin solchen Beziehungen, in denen prinzipiell und tendenziell alle Eigenschaften einer je individuellen Person bedeutsam werden und man für alles am anderen aufgeschlossen zu sein hat199. In derartigen Beziehungen findet sich jene starke Gefühlsbindung zwischen Menschen, die wechselseitig die Chance eröffnet, „sich so situationsvergessen und entspannt auf sich selber zu beziehen, wie es dem Säugling möglich ist, wenn er sich auf die emotionale Zuwendung der Mutter verlassen kann“200. Zwischen intim sich zugewandten Personen situieren deshalb symbolische Codes, mit deren Hilfe man sich darüber informieren kann, wie man gerade in dem Fall, in dem eine erfolgreiche Kommunikation eher unwahrscheinlich ist – und zwar unwahrscheinlich, weil der Kommunikationspartner seine ganze Persönlichkeit (wie beim Testieren) in die Kommunikation einbringt –, dennoch erfolgreich kommunizieren201 und den je anderen auch in seiner Affektnatur anerkennen kann202. Eines der besten Beispiele derartiger Codes ist Liebe203. 198
Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 II 3, § 9 IV 2. 199 So die Definition der Intimbeziehung bei Luhmann, Liebe als Passion, 14. 200 Honneth, Kampf um Anerkennung, 169. 201 Luhmann, Liebe als Passion, 21 ff. Siehe zur Funktion der Familie, die Interaktionsteilnehmer als ganze Person zu behandeln, deren sämtliche Handlungen und Erfahrungen (also auch solche außerhalb der Familie) kommunikativ relevant werden können, ders., in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, 196 ff. 202 Allgemein ist es sinnvoll, drei Formen der Anerkennung zu unterscheiden, wie dies besonders plastisch durch Honneth herausgearbeitet worden ist: „Im affektiven Anerkennungsverhältnis der Familie wird das menschliche Individuum als konkretes Bedürfniswesen, im kognitiv-formellen Anerkennungsverhältnis des Rechts wird es als abstrakte Rechtsperson und im emotional aufgeklärten Anerkennungsverhältnis des Staates wird es schließlich als konkret Allgemeines, nämlich als in seiner Einzigartigkeit vergesellschaftetes Subjekt anerkannt“, Honneth, Kampf um Anerkennung, 45 (Zitat), 151. Hier liegt mithin das affektive Anerkennungsverhältnis der Familie und Ehe vor.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Vor allem in Intimbeziehungen wird daher ein Verständnis der je individuellen Todesverarbeitung des anderen Gatten durch den einen Gatten und umgekehrt möglich sein. Intimbeziehung sind demnach in einer sehr spezifischen Weise codiert: In ihr wird die Möglichkeit maximal entfaltet, daß die Gatten die individuellen Unterschiedlichkeiten, die jeder von ihnen besitzt, unterstreichen und gleichzeitig das Ansinnen hervorheben können, eine Gemeinsamkeit zwischen den ehelich verbundenen Personen zu stiften204: Jeder Gatte kann gewissermaßen zugleich ganz er selbst und ganz mit dem anderen verbunden sein. Der eine Ehegatte findet dann gewissermaßen in der Todesverarbeitung des anderen Gatten seine eigene Suche nach seinem „Sein zum Tode“ gespiegelt und bedient sich quasi des anderen, um gleichsam hermeneutisch-zirkulär in der gemeinsamen Suche sein personales Selbst mit Blick auf den Tod zu entfalten. Nur in Intimbeziehungen lokalisieren jene Kommunikationschancen, die eine derartige zirkuläre gegenseitige Verschleifung personaler Entfaltung möglich machen; nur in ihnen ist die Aussicht angelegt, daß dem einen Gatten die Personalität des anderen in seiner ganzen Individualität erfahrbar werden kann und umgekehrt. Der im Spiegel des Todes des je anderen Gatten fruchtbar werdende Blick auf den eigenen Tod erhält zudem in Intimbeziehungen eine das „Sein zum Tode“ geradezu zuspitzende Brisanz. Denn Intimbeziehungen sind ja mit dem Gedanken schlichtweg unverträglich, daß sie zeitlich irgendwann beendet sind – und sei es durch den Tod205. Sie sind deshalb durchweg auf eine (im Erleben implizit unterstellte) Unendlichkeit einer immer offenen Zukunft angelegt, in der das „Sein zum Tod“ deshalb nicht nur als solches, sondern auch im Hinblick auf den Wegfall des subjektiv als nichtersetzbar konstruierten Partners verarbeitet werden muß. Gerade in dieser Vorwegnahme der Endlichkeit des anderen Teils kommen „jene existentiellen Gemeinsamkeiten zu Bewußtsein, auf deren Basis sich beide (Gatten) reziprok als verletzbare und bedrohte Wesen zu betrachten“206 und damit auch den hohen Stellenwert der Todesverarbeitung des je anderen zu schätzen lernen. 203
Dazu Luhmann, Liebe als Passion, passim. Allert, Die Familie, 223. Der Vorzug der Familiensoziologie Allerts liegt in dem von ihm gewählten individualistischen Ansatz, der damit auch gerade die Eigenarten hoch-individualistischer Kommunikationen erfassen kann. Bei einer der einflußreichsten Hauptrichtungen innerhalb der Familiensoziologie, dem StrukturFunktionalismus, war dies eher nicht möglich, da dieser die in der Familie handelnden Akteure als eher fest umrissene Rollenträger analysiert und damit die individuellen Handlungsspielräume und variabel gestalteten Interaktionsmuster vernachlässigt. 205 Allert, Die Familie, 227. 206 Honneth, Kampf um Anerkennung, 81. Honneth bezieht diese Sentenz freilich nicht auf den je anderen Teil innerhalb der Gattenbeziehung, sondern auf den „Anderen“ als das jeweilige Gegenüber im zwischenmenschlichen Kontakt. 204
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Nun könnte gegen die Einsicht, mit Blick auf die eigene Todesverarbeitung könne ein vollständiges Verständnis der Todesverarbeitung Dritter grundsätzlich nur im Rahmen einer affektiv-intim gegründeten Sozialbeziehung stattfinden, eingewendet werden, dies widerspreche der gesetzlichen Anordnung, die Auslegung des letztwillig Verfügten auch dem Verständnis von Dritten anheimzustellen, die nicht intim mit dem Verfügenden verbunden sind, wie etwa dem auslegenden Richter. Bei Lichte betrachtet verschlägt dieser Einwand jedoch nicht. Einmal wird der Richter bei strittigem Parteivortrag über den Willen des Erblassers Beweisaufnahme anordnen; das Gesetz geht hierbei aus, daß die hiermit verbundenen verfahrensrechtlichen Sicherungen funktional die Codierung des Verstehens qua Intimität ersetzen. Zudem – und das ist ausschlaggebend – steht der Richter ja nicht vor der Situation, die Todesverarbeitung des anderen zu verstehen, um dieses Verständnis in seine eigene Todesverarbeitung einfließen zu lassen. Der Richter sieht sich mithin gerade nicht der Zumutung ausgesetzt, etwas Höchstpersönliches mit seiner eigenen Höchstpersönlichkeit zu verschwistern, vielmehr kann er sich selbst personal neutral geben – was sich in seiner richterlichen Unparteilichkeit widerspiegelt – und braucht nur dasjenige hermeneutische Wohlwollen an den Tag zu legen, welches ihm § 133 BGB auferlegt. 2. Todesverarbeitung und testamentarische Bindung
Es war eines der Ergebnisse der Diskussion der vertrauenstheoretischen Bindungserklärung, daß sich die Bindungswirkung korrespektiver Verfügungen mit dem Gedanken des Vertrauensschutzes nicht rechtfertigen läßt, solange die Ehegatten als selbstverantwortliche Rechtspersonen ernstgenommen werden. Der Vertrauensgedanke rechtfertigt allenfalls die Regelung des § 2270 I BGB, nicht aber die testamentarische Bindung nach § 2271 II BGB207. Die testamentarische Bindung blieb mithin ein Rätsel. Dies ändert sich, wenn der Gedanke in den Blick kommt, daß mit dem gemeinschaftlichen Testieren ein Einbau der durch den einen Ehegatten geleisteten Todesverarbeitung in die eigene Todesverarbeitung des anderen Gatten verbunden ist. Mit Blick auf diesen Einbau wird deutlich, warum das Gesetz Bindung bei korrespektiven Verfügungen anordnet: Korrespektivität führt dazu, daß der eine Ehegatte vom anderen Gatten quasi dessen Todesverarbeitung für die eigene Todesverarbeitung „geschenkt“ bekommt. Der eine Gatte wird nicht nur seine Vorstellungen hinsichtlich der gerechten Vermögensordnung post mortem an der Verfügung des anderen Teils orientieren. Vielmehr sieht er aufgrund der in der Intimbeziehung aufscheinenden Verschmelzung der Erlebnis- und Verstehenshorizonte der Gatten 207
Oben § 4 II 3 c und d.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
auch seinen eigenen Tod in der Thematisierung des Todes des anderen gespiegelt und kann sich damit um so besser der Verarbeitung des je eigenen Todes stellen. Freilich liegt hier der Einwand nahe, daß kaum einsichtig sei, wo der eine Gatte, der seine Verfügung schon errichtet hat, von dem anderen Gatten noch gratifiziert werden könnte. Diese Vorstellung wäre jedoch nicht prozeßhaft genug gedacht und zudem zu sehr auf das Schicksal des zu vererbenden Vermögens und nicht auf den Austausch psychischer und emotionaler Gratifikationen bezogen. Die Todesverarbeitung anhand der Errichtung eines gemeinschaftlichen Testaments ist ein verschlungener und manchmal sehr langwieriger Prozeß, an dessem Ende als quasi kulminierender rechtsgeschäftlicher Akt das Testament steht. In diesem Prozeß des gegenseitigen Gebens und Nehmens in der Verarbeitung der eigenen Sterblichkeit kommt dem rechtsgeschäftlich Akt der eigentlichen Festlegung der Vermögensordnung post mortem eine eher untergeordnete Bedeutung zu. Würde das vom Erstverstorbenen dem anderen Teil geleistete „Geschenk“ – die psychische und emotionale Gratifikation im Erleben der Gattenbeziehung während des Prozesses der gemeinsamen Todesverarbeitung – nach dem Tode des vorversterbenden „Schenkers“ durch eine Zweitverfügung des überlebenden Teils (die ja die Erstverfügung im Widersprechensfalle aufhebt, § 2258 I BGB) entwertet, wäre auch die Persönlichkeitsentfaltung, die in dem Testament des Erstversterbenden zum Ausdruck kommt, zunichte gemacht. Denn anders als der überlebende Teil kann der Erstversterbende ja die per gemeinschaftlichen Testament inszenierte208 Entfaltung seiner Persönlichkeit nach seinem Tode nicht mehr ändern – und zwar auch nicht durch eine weitere Verfügung für den Fall des Neutestierens des Überlebenden. Denn bei der Fertigung dieser weiteren Verfügung würde der Erstverstorbene seinem Tod ja nicht in intim codierter Verschwisterung mit der Todesverarbeitung des anderen Teils gegenüber treten. Vielmehr testiert er ja gerade nicht gemeinschaftlich. Im wechselbezüglichen Testieren aber hat der Erstverstorbene dem Überlebenden eine Leistung erbracht, die durch ein isoliertes Testieren nicht ersetzbar ist: Er hat ihm die Möglichkeit eröffnet, anhand einer (des Erstverstorbenen) testamentarischen Verfügung seinen eigenen Tod im Spiegel der Todesverarbeitung des erstversterbenden Gatten zu bewältigen und als sicher eintretendes Ereignis auszuhalten. Die Gabe des Erstverstorbenen an den Hinterbliebenen ist mithin nicht nur die Verfügung selbst, sondern auch die Chance, im Blick auf den Tod des intim Verbundenen den eigenen Tod besser ertragen zu lernen – ein Lerneffekt, der seine volle Wir208 Die Begrifflichkeit des Inszenierens weist hier mit Bedacht darauf hin, daß das gemeinschaftliche Testieren oftmals nur der Endpunkt eines Prozesses der Persönlichkeitsentfaltung miteinander darstellt, der durchaus etwas Szenisches an sich hat.
§ 6 Testamentarische Bindung und gemeinschaftliche Todesverarbeitung
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kung nur bei Primärbeziehungen wie der Ehe entfalten dürfte. In der Diktion der Theorie des sozialen Austauschs sind mithin psychische Gratifikationen ausgetauscht worden. Vermögensmäßige und psychische Gratifikationen, die vom Erstverstorbenen an den Überlebenden fließen, sind also untrennbar miteinander verschmolzen. Und es liegt auf der Hand, daß diese psychischen Gratifikationen durch keine letztwillige Verfügung wiedergeholt werden können, die für den Fall des Neutestierens des Überlebenden bedingt vom Erstverstorbenen getroffen werden (ceteris paribus für den Fall, daß das Erbrecht eine Bindung gem. § 2271 II BGB nicht kennen würde). Dessen Gabe wäre mithin unwiederbringlich entwertet, wenn nach dem ersten Todesfall keine Bindung eintreten würde. Das Gesetz hat hierauf reagiert und in § 2271 II BGB Bindung vorgesehen. Um es nochmals zu sagen: Allein das Vertrauen auf die Konstanz der durch das gemeinschaftliche Testament projektierten Vermögensordnung reicht nicht hin, die testamentarische Bindung zu begründen; hier würde schon die Regelung des § 2270 I BGB zum Vertrauensschutz ausreichen. Es muß deshalb ein Weiteres hinzukommen, damit § 2271 II BGB geltungstheoretisch als Recht erklärt werden kann. Und dieses Weitere ist der Aspekt der gemeinsamen Todesverarbeitung in intim codierter Kommunikation und der darin eingeschlossene Austausch von psychischen Gratifikationen. Diese Einsicht zeigt ein weiteres Mal die Fruchtbarkeit des hiesigen Ansatzes: Nachdem der Gedanke des Vertrauens und der erbrechtliche Familiarismus bei der Erklärung der Bindungswirkung korrespektiver Verfügungen weitgehend gescheitert sind, zeigt erst der Verweis auf die personalen Gehalte der Todesverarbeitung und die dort lokalisierten psychischen Phänomene, gekoppelt und präzisiert mit der Theorie des sozialen Austauschs und der hieraus anschaulich werdenden Bindungskraft psychischer Gratifikationen, warum das Gesetz die testamentarische Bindung des überlebenden Teils implementiert hat. Der Erstverstorbene hat in der Diktion der Vertrauenslehren gesprochen folglich eine unwiederbringliche Investition erbracht. Die Bindung des überlebenden Teils ist demnach Ausdruck des Schutzes der Persönlichkeit des Erstversterbenden in der besonderen Situation der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung mit ihren vermögensmäßigen und psychischen Gratifikationen. Wie schon öfters gesagt: Gegen eine derartige personfunktionale Bindungsbegründung verschlägt kein Einwand, zumeist würden die Ehegatten schon nicht im Hinblick auf die eigene Todesverarbeitung testieren, um so weniger würden sie diese mit Blick auf die des anderen Gatten ins Werk setzen. Ein derartiger Einwand greift das tatsächliche Verfügungsverhalten auf und kann aus diesem Grunde nichts gegen das normative Leitbild des gewillkürten Erbrechts erinnern, welches anders wertet, um der Rechtsperson nicht ein zugkräftiges Mittel aus der Hand zu schlagen, sein personales
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Selbst im Widerstreit mit den funktionalen Imperativen der gesellschaftlichen Subsysteme eigenständig auszubilden und zu behaupten209. Es gilt also: Der Erstversterbende darf – in der Diktion vertrauenstheoretischer Bindungslehren gesagt – vertrauen, weil nur so seine Persönlichkeit in der Situation der todesverarbeitenden Interaktion mit innig verbundenen Dritten hinreichend geschützt wird210. Unerheblich ist hierbei, ob auch tatsächlich aufgrund der gegebenen Erwartungsstrukturen für die mit einem Vertrauen verbundenen Erwartungen kein Raum ist, weil für die eheliche Beziehung noch keine Zeit bestand, sich eine eigene Geschichte ehelicher Erwartungsstrukturen zu schreiben. Zudem dürfte auch klar geworden sein, warum der Erstversterbende nur dann geschützt wird, wenn der andere Gatte ihm eine auf das Vermögen bezogene Verfügung „schenkt“: Eine dauerhafte Bindung des Überlebenden wird nur durch eine zugleich neben der psychischen Gratifikation erfolgende vermögensbezogene Gratifikation implementiert, weil ja nur das Vermögen dasjenige ist, welches das personfunktionale Erbrecht als Mittel der Todesverarbeitung begreift211. Für eine testamentarische Bindung muß also beides zusammenkommen: Eine psychische und eine vermögensbezogene Gratifikation. Zugleich dürfte klar geworden sein, warum das Gesetz die testamentarische Bindung auf Erbeinsetzungen, Vermächtnisse und Auflagen beschränkt, § 2270 III BGB: Gerade in diesen Verfügungen lokalisiert ja hauptsächlich die Macht gegenüber den systemischen Imperativen der gesellschaftlichen Subsysteme, die in einer per Testament geleisteten Todesverarbeitung verborgen ist212. Wird mithin die Bindung des überlebenden Teils auf diese Verfügungen beschränkt, wird das Vertrauen des Erstversterbenden gerade soweit geschützt, wie es zum schlagkräftigen Schutz seiner Todesverarbeitung erforderlich ist, ohne zugleich die nach dem Tode des Erstversterbenden eventuell neu per Testament einsetzende Todesverarbeitung des Überlebenden all zu sehr einzuschränken. § 2270 III BGB implementiert mithin einen Vertrauensschutz auf einen die Persönlichkeitsrechte beider Gatten berücksichtigenden funktional angemessenen Niveau. Wendet im übrigen der vorversterbende Ehegatte dem anderen Gatten andere als vermögensmäßige, aber gleichwohl auf die Verarbeitung seines eigenen Todes bezogene Gratifikationen 209 Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 III 3, § 9 IV 2. 210 Im Schutz der Persönlichkeitsrechte des Erstversterbenden lokalisieren demnach genau die Zwecke eines Vertrauensschutzes, die von der Rechtsgeschäftslehre (etwa bei Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 216) eingefordert werden, um berechtigtes von unberechtigtem Vertrauen scheiden zu können. 211 Siehe oben § 2 I 2, § 5 III 2 a und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 IV, § 10 V 4 b dd. 212 Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 II 3, § 9 IV 2.
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zu, tritt keine Bindung des Überlebenden ein, weil eine derartige Bindung außerhalb der personfunktionalen Gründung des Erbrechts liegt. 3. Testamentarische Bindung und Gattenbeziehung
Insgesamt gesehen verwundert es auch nicht, daß das Gesetz eine Bindung nur bei einer Ehegattenbeziehung vorsieht. Es setzt dabei voraus, daß gerade in einer Ehe jene Codierung von Intimität gelingt, welche oben als tragendes Merkmal eines gelingenden korrespektiven Verfügungsverhaltens herausgearbeitet worden ist. a) Die Codierung von Intimität in der ehelichen Verbindung Eine derartige gelungene Codierung setzt zweierlei voraus: Erstens darf das Eherecht einer expressiv-individuellen Codierung der Interaktion der Gatten nicht entgegenstehen; zweitens müssen Chancen vorhanden sein, eine derartige Codierung im sozialen Leben wirkmächtig implementiert zu sehen. Soweit es um den ersten Punkt geht, trägt das rechtliche Leitbild der Ehe einer ehelichen Intimität durchaus Rechnung. Zwar könnten dagegen institutionalistische Ehelehren sprechen, die traditionell vorgeprägte Eheinhalte den Ehegatten als lebbar vorgeben und damit den rechtlichen Zuschnitt der Ehe von den konkreten Konturen der je individuell ausgestalteten Eheinhalte ablösen wollen. Die in derartigen institutionellen Ehelehren verborgenen metaphysischen Vorgaben bezüglich des rechten „Wesens der Ehe“ und ihren vermeintlich „sittlichen Gehalten“ (das Savignysche Verständnis der Ehe als „sittliches Verhältnis“213) im Sinne einer „von dem Willen der Ehegatten unabhängigen sittlichen und rechtlichen Ordnung“214 stehen aber heute zumindest rechtlich wegen der erheblichen gesetzlichen Neuformungen des Eherechts seit der Kodifikation nicht mehr ernstlich zur Debatte215. Die Ehe wird mehr und mehr als offener Rahmen verortet216, der von den Ehegatten nach ihrer Überzeugung ausgestaltet wird217, als formale, inhaltsoffene Organisation218 oder schließlich (freilich ohne jede An213
Dazu v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 345 ff. Mot. IV, 562. 215 Siehe zur Entwicklung des bürgerlichen Familienmodells nur Dörner, Industrialisierung und Familienrecht, 67 ff. Zur soziologischen, in der Parsonsschen Tradition stehenden Verortung der Familie als empirische Institution siehe nur F. X. Kaufmann, in: Lüscher u. a. (Hrsg.), Die postmoderne Familie, 391 (392); Tyrell, in: Lüscher u. a. (Hrsg.), ebda., 145 ff.; Hill/Kopp, Familiensoziologie, 67 ff. 216 Allg. zu den verschiedenen Ehelehren vgl. nur Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 3; Hepting, Ehevereinbarungen, §§ 3–5. 217 So Pawlowski, Studium, 326, als Vertreter der sog. interindividuellen Ehelehre. 214
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lehnung an metaphysisch-sittliche Substanzvorstellungen) als „rechtlich geregelte soziale Verhaltensform“, „die dem Anspruch des einzelnen auf soziale Verhaltensmuster . . . Genüge tun soll“219. Hinsichtlich des zweiten Punkts (der vollzogenen Implementation von Intimität in der ehelichen Interaktion) wäre es nun nicht verwunderlich, wenn hier eingewendet würde, nicht bei sämtlichen Ehen gelänge eine intime Zuwendung der Gatten zueinander. Dies wiederum hätte zur Folge, daß die Erklärungskraft des hiesigen Ansatzes ebenso sinken müßte, wie dies dem vertrauenstheoretischen Bindungskonzept beschieden ist220. Nun sollte in der Tat nicht in die Vorstellungswelten des 19. Jahrhunderts zurückgefallen werden, nach der die Ehe jene überindividuelle Instanz verkörpert, der die persönlichen Glücksverheißungen und damit auch das in der erfüllten Beziehung aufscheinende Glück ohne Wenn und Aber subsumiert werden kann221. Es ist jedoch zu fragen, ob sich der rechtsdogmatische Diskurs mit der Frage, ob tatsächlich auch heute noch die Ehe ein Ort codierter Intimität darstellt, überhaupt auseinandersetzen muß. Denn die Frage nach der empirischen Implementation von Intimität in der Ehe berücksichtigt ja die rechtlich gerade interessante Problematik nicht, daß rechtlich auch eine normative Implementation von Intimität als gewissermaßen regulative Idee hinreichend sein könnte, vor deren Hintergrund das Recht sich testamentarischer Bindungen annimmt und rechtlich anordnet. Die Ehe verbindet zwei Menschen nach der Vorstellung des Rechts zu einer Lebensgemeinschaft (§ 1353 I 2 BGB)222, von der Gernhuber und Coester-Waltjen zwar zu Recht sagen, daß sie als totale Gemeinschaft wohl stets mehr Idealvorstellung denn Realität war – eine Idealvorstellung, welche in der individualegoistischen Gegenwart mit ihrem Zug zur Individualisierung sowieso vollends verlorengegangen zu sein scheint223. Aber immerhin bleibt doch eine Idealvorstellung einer intim codierten Ehe auch dann bestehen, wenn der eheliche Alltag anders aussieht. Wo sonst, wenn nicht in der ehelichen Lebensgemeinschaft, sollte das Gesetz davon ausgehen dürfen, die soziale Interaktion innerhalb der Gemeinschaft würde auch solche Kommunikationen erfolgreich machen (sprich: zum gegenseitigen Verstehen führen), die außerhalb der Gemeinschaft unwahrscheinlich wären? Wo sonst, wenn nicht 218 So Pawlowski, Die „bürgerliche Ehe“ als Organisation, 1983; ders., JZ 1998, 1032 (insbes. 1034 ff.), der seine interindividuelle Ehelehre damit ein konturenschäferes Gesicht verleiht. Siehe auch ders., Methodenlehre, Rn. 882 ff. 219 So Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 3, 6. 220 Dazu oben § 4 II 3 c. 221 Dazu nur Ernst, Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, 136 ff. 222 In den verfassungsrechtlichen Ehebegriff übernommen in ständiger Rechtsprechung seit BVerfGE 10, 59 (66). 223 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 3, 1. und 9.
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in der Ehe, gewährt das Recht zwei Personen einen rechtlich geschützten Freiraum, in dem prinzipiell alle Eigenschaften beider Personen thematisiert werden können, in dem also die mit dem Ideal der „romantischen Liebe“ verbundene Idee affektiver Exklusivität und unbegrenzter Solidarität wirksam werden können? Die Regeln und Prinzipien des Familienrechts gründen doch vor allem auf der besonderen Rationalität des Privatlebens und seiner spontanen Normbildung: auf der „Vorstellung einer auf Liebesheirat gegründeten und trotzdem haltbaren, persönlich-intim verbundenen Lebensgemeinschaft, in der das Individuum für seine konkrete Eigenart Verständnis und Unterstützung finden kann“224. Seit der Kodifikation und zumal seit dem 1. EheRG nähert sich das Ehebild des Bürgerlichen Rechts mehr und mehr dem Bild der romantischen Ehe225. Das Gesetz geht demnach zu Recht von der Erwartung aus, die Ehe sei ein Ideal intim codierter Kommunikation, in der die Subjekthaftigkeit der Partner als zentrale Zurechnungsinstanz des gegenseitigen Austauschs bemüht wird. Freilich ist mit dieser Erwartung kein rechtlicher Zwang verbunden, sich ehelich personal-intim kommunikativ zuzuwenden226. Denn wie gesagt: Institutionelle Ehelehren entsprechen nicht mehr dem heutigen Recht und einer Vorstellung der Ehe als offener Rahmen, als inhaltsoffene Organisation oder als rechtlich geregelte soziale Verhaltensform widerspricht ein derartiger Zwang sowieso. Zudem ist der Einwand, eine intim codierte Interaktion sei in Ehen heute nicht mehr so selbstverständlich, durchaus mit empirischen Befunden angreifbar. Die Ehe wird durchweg zur Befriedigung emotionaler Bedürfnislagen eingegangen, was sich auch in der Ausgestaltung der Ehegattenbeziehung zeigt, die sich immer stärker an emotionalen Kriterien orientiert227. Gegenüber dieser stärkeren Orientierung der Gattenbeziehung an Liebe und Passion treten ökonomische Motive des Zusammenlebens eher zurück. Gerade die zunehmende Scheidungsquote belegt dies, da bei fehlgeschlagenen inneren Bindungen die Scheidungsziffern steigen, wenn diese innere Bindungen zur faktischen Grundlage der Ehe werden und damit der institutionelle Verpflichtungs- und Verbindlichkeitscharakter der Ehe tendenziell abnimmt228. Nun gedeihen Liebe und Passion nur in einem kommunikativen Klima, in dem jene Kommunikation gelingen wird, deren Erfolg außerhalb 224 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 980 (dort das Zitat); Teubner, ZfRSoz 1998, 8 (27). Siehe ansonsten zum personalen Eheverständnis in auch rechtshistorischer Perspektive Dieter Schwab, FamRZ 1981, 1151 (1154 ff.). 225 Dieter Schwab, FamRZ 1981, 1151 (1155). 226 Geschlechtlich mag dies zumindest für die Rechtsprechung anders sein, siehe BGH, NJW 1967, 1079. 227 Schumacher/Vollmer, in: Hondrich (Hrsg.), Soziale Differenzierung, 210 (263); Wagenitz/Barth, FamRZ 1996, 577 (578). 228 Dies zeigt sich schon seit längerer Zeit, siehe nur Nave-Herz, in: dies. (Hrsg.), Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, 61 (85).
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der affektiv verbundenen Beziehung wenig wahrscheinlich ist. Zumindest in der sozialen Typik bleibt die Ehe also auch heute noch ein Ort, in der durch den ehelichen Kommunikationsprozeß eine gemeinsame Wirklichkeit produziert wird, die zwar nie restlos gemeinsam ist, dennoch aber das Selbst- und das Weltbild der einzelnen Gatten in einem hohen Maße bestimmt229. Die Bindung qua Ehegattentestament basiert nach all dem für das Recht auf dem gesetzlichen Ehe-Ideal, in der Ehe gelänge eine intim codierte, auf den je individuellen Tod der Gatten bezogene Kommunikation. Soweit hier nochmals eingewendet wird, ein derartiges Ideal sei hoffnungslos realitätsfremd, kann darauf verwiesen werden, daß derartige Diskrepanzen zwischen Ideal und Realität schließlich auch sonst nichts außergewöhnliches sind – wie sonst, wenn nicht als realitätsfernes Idealbild, sollte etwa das rechtliche Konzept von Persönlichkeit weiterhin verteidigt werden können, wenn die durch den Strukturalismus entwickelte Einsicht als empirisch überzeugend begriffen wird, strukturale Verknüpfungen seien vor jeder subjektiven Aktion empirisch relevant230. Und wie sollte weiterhin einsichtig die Rede davon sein, der einzelne entfalte sich mit Blick auf seine Identität selbst, wenn die seit Freud tradierten Abgründe personaler Identität, vor deren Hintergrund die Person als Kunstprodukt a-personaler Prozesse widerscheint231, ernst genommen werden. Empirisch mögen derartige Erkenntnisse einleuchtend sein – normativen Folgerungen werden aber daraus nicht gleichsam präjudiziert, wenn wir uns von dem Kunstprodukt „Person“ eine Sicherung unserer Freiheit erhoffen. b) Der Grund für die Einschränkung der Bindungswirkung auf das gemeinschaftliche Testament von Ehegatten und Lebenspartnern Die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments beruht nach den bisherigen Überlegungen also nicht auf dem Schutz der Familienordnung und dem besonderen Gehalt der ehelichen Verbindung, wie dies etwa von Battes232 angenommen worden ist, sondern auf der gemeinschaftlichen 229 Siehe dazu nur die berühmte Studie im Kontext des Symbolischen Interaktionismus von Peter L. Berger und Hansfried Keller in: Dreitzel (Hrsg.), Recent Sociology No. 2, Patterns of Communicative Behavior, 49 ff.; sowie Morlok, Selbstverständnis, 99 f., der ebenfalls auf Berger/Keller Bezug nimmt. Siehe ansonsten nur Hill/Kopp, Familiensoziologie, 89 f., dort auch zu Berger/Keller. 230 Allg. zur Problematik Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie, etwa 14 ff., 30, 36 ff. und passim; sowie den vorzüglichen Überblick bei Wenzel, Berliner Journal für Soziologie 1 (1995), 113 ff. 231 Dazu siehe Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 IV 3 b.
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Todesverarbeitung zweier Menschen, die sich in intim codierter, auf den je individuellen Tod beider Teile bezogener Kommunikation ihrem „Sein zum Tode“ widmen. Damit steht sofort die Gegenfrage im Raum, warum das Gesetz eine auf den Tod bezogene, intim codierte Kommunikation und deren Niederschlag in einem gemeinschaftlichen Testament nur dann einer Bindungswirkung aussetzt, wenn die Kommunizierenden ehelich verbunden sind; schließlich ist Intimität nicht auf die Form der Ehe beschränkt, sondern auch in anderen Partnerschaften anzutreffen. Die Antwort auf diese berechtigte Frage kann allein in dem Aspekt der Rechtssicherheit gefunden werden: Ob eine Beziehung tatsächlich eine Intimbeziehung ist, bleibt notwendigerweise Dritten verschlossen und kann nur durch die intim Verbundenen selbst der Öffentlichkeit offenbart werden. Ganz ähnlich führt Dieter Schwab vor dem Hintergrund des schon angesprochenen233 Zugs der Zeit zu einem mehr und mehr romantischen Eheverständnis aus, daß diese Idee von der Ehe eigentlich erwarten lassen sollte, daß auch die Form der Zivilehe relativiert worden wäre – „warum soll (. . .) nicht auch eine wahre Ehe existieren können, ohne je die Gestalt ehelicher Legalität angenommen zu haben?“234 Der Grund für den Formzwang im Eheschluß verortet Schwab dann in dem „üppingen Normengeflecht, das auch und gerade in unserer Zeit den Tatbestand ,Ehe‘ zum Bezugspunkt nimmt“235. Ähnlich ist es auch bei der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung intim einander zugewandter Personen. Auch dies ist ein Teil jenes Normgeflechts, welches um der Rechtssicherheit willen notwendig an einen klaren Fixpunkt anknüpft. Denn bei der Vielfalt intimer Codierung ist es ja schwer, ein normatives Leitbild auszubilden, welches von ähnlich sicherer Prägekraft ist wie jenes der Ehe. Damit liegen aber die rechtspolitischen Folgerungen gleichfalls auf der Hand: Falls der Gesetzgeber anderen Lebensgemeinschaften als der Ehe eine ebenfalls rechtssichere Plattform (etwa ein Register) zur Verfügung stellt, anhand derer sie der Gesellschaft mitteilen können, sie würden in ihrer Kommunikation die ganze Persönlichkeit des je anderen zum Thema machen (anders gesagt: sie seien eine Intimbeziehung), steht nichts entgegen, die durch das Ehegattentestament ins Werk gesetzte Bindungswirkung auf diese Partnerschaften auszudehen. Wieso sollte nur mit der Lebensform „Ehe“ eine testamentarische Bindungswirkung verbunden sein, wenn diese Bindung nicht in der „Form“ dieser Lebensform, sondern in ihrem angenommenen Eigensinn wurzelt, Abbild intimer Verbundenheit zu sein? Oder negativ formuliert: Wieso wird das Institut des Ehegattentestaments nicht aufgegeben, wenn intim verbundene 232 233 234 235
Dazu oben § 4 II 2. Oben § 6 I 3 a. Dieter Schwab, FamRZ 1981, 1151 (1155). Dieter Schwab, FamRZ 1981, 1151 (1156).
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Personen dem beiderseitigen Wunsch nach einer gegenseitigen Verflechtung ihrer Suche nach dem angemessenen individuellen „Sein zum Tode“ nicht auch durch die rechtssichere Form des Erbvertrags nachkommen können? Folgerichtig versperrt sich das Gesetz jeglichen Idealisierungen, die mit der Beschränkung der Bindungswirkung auf die Lebensform „Ehe“ verbunden wäre, und ordnet in § 10 IV 2 LPartG an, daß die §§ 2266–2273 BGB auf die eingetragene Lebenspartnerschaft anzuwenden sind. Dies ist ein Hinweis mehr, daß das gemeinschaftliche Testament mit der Lebensform „Ehe“ als solcher nichts zu tun hat, sondern mit den in intim codierten Partnerschaften lokalisierten Kommunikationschancen. Der mögliche Vorhalt, hier würde entgegen des Schutzgebots aus Art. 6 I GG das Institut der Ehe untergraben236, geht hier deshalb fehl, weil die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments nicht den Schutz der Ehe, sondern den Schutz des Persönlichkeitsrechts des Erstverstorbenen bezweckt, der in der intim codierten Kommunikation mit einer anderen Person sein „Sein zum Tode“ entfaltet hat. Wenn eine Regelung aber einen Eheschutz gar nicht avisiert, kann ihre Umgestaltung das Rechtsinstitut der Ehe auch nicht relevant tangieren. Zudem folgt nach der Rechtsprechung des BVerfG aus dem Fördergebot des Art. 6 I GG zu Recht kein Benachteiligungsgebot gegenüber anderen als ehelichen Lebensformen237. II. Einzelheiten testamentarischer Bindung 1. Einseitige Abhängigkeit und testamentarische Bindung
Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen ist die Frage leicht zu beantworten, wie es um einseitige Abhängigkeit bestellt ist, wenn also nur die Verfügung des einen Ehegatten von der des anderen abhängt, nicht aber umgekehrt238. Entgegen einigen Stimmen in Literatur239 und Rechtsprechung240 berechtigt die Enttäuschung des einseitig gebliebenen Motivs nicht nur zur Anfechtung gem. § 2078 BGB, sondern führt zwingend zur direkten241 oder analogen242 Anwendung der §§ 2270 f. BGB. Zwar scheint 236 Allg. zu derartigen Vorhalten siehe nur Rauscher, Reformfragen, 48 ff. siehe im übrigen ablehnend zum Abstandsgebot jüngst BVerfG, NJW 2002, 2543 (2548 f.). 237 BVerfG, NJW 2002, 2543 (2548). 238 Dazu eingehend Buchholz, RPfleger 1990, 45 ff., auf der Basis eines rein vertrauenstheoretischen Bindungsansatzes. 239 V. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 491; Strohal, Bd. 1, 326 A.28, 331 A.9; Leonhard, § 2270 Anm. A.IV. 240 KG, KGJ 42, A 119 (122). 241 So etwa Buchholz, RPfleger 1990, 34 ff.; Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1273 ff.); Erman-Hense/Schmidt, § 2270 Rn. 1.
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dagegen aus erster Sicht der Wille des historischen Gesetzgebers zu sprechen, da die zweite Kommission ausdrücklich zur Voraussetzung erhob, daß „jede der beiden Verfügungen mit Rücksicht auf die andere getroffen sei“243. Ist schon zweifelhaft, ob hierin wirklich eine Grundabsicht des Gesetzgebers zu erblicken ist244, so kann diese Äußerung der Kommission die Interpretation der §§ 2270 f. BGB schon deshalb nicht leiten, weil die Kommission das Recht des Testaments hier ersichtlich noch in den – damalig noch nicht, heute aber sehr wohl überwundenen245 – Kontext des Erbvertrags stellt und damit die testamentarische Bindung synallagmatisch begreift246. Demgegenüber ist die Struktur einseitiger und wechselseitiger Abhängigkeit durchaus ähnlich: Wenn der eine Teil testiert und der andere Gatte, gerade weil der eine so und nicht anders verfügt hat, auf diese Verfügung reagiert und spezifisch von Todes wegen verfügt, ist dem einen Gatten durch den anderen diese, des anderen Verfügung gratifiziert worden. Was diese Todesverarbeitung des anderen Gatten von der in wechselseitiger Korrespektivität gefundenen Verarbeitung unterscheidet, ist die Tatsache, daß es bei der einseitigen Abhängigkeit zu keinem Austausch psychischer Gratifikationen kommen muß. Denn der eine Teil hat die psychischen Gratifikationen des anderen Teils, die in dessen Verfügung verborgen sind, ja gerade nicht wahrgenommen und seiner eigenen Todesverarbeitung zugrundegelegt, da er nun einmal nur einseitig, also unabhängig vom anderen Teil verfügt hat. Ist der Austausch psychischer Gratifikationen aber der tiefere Grund der testamentarischen Bindung247, ist zweifelhaft, wieso es überhaupt zur einseitigen Abhängigkeit kommen kann; beide Teile haben sich ja gerade nicht jene Chancen für die eigene Todesverarbeitung zu nutze gemacht, die in der Verschmelzung der Verarbeitungshorizonte und der Spiegelung der jeweiligen Todesverarbeitung verborgen sind. Wieso sollte der Erstverstorbene also geschützt werden, wenn er dem überlebenden Teil nichts Relevantes geleistet und somit keine Vertrauensdispositionen erbracht hat und wenn sein Vertrauen auf den Bestand der Verfügung des Überlebenden schon durch § 2270 I BGB und durch ein für diesen Fall verfügtes 242 So etwa MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 3; Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 5; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 I 2, II 2. 243 Prot. V, 450. 244 Auch die Vertreter subjektivistischer Auslegungslehren müssen zugeben, daß allenfalls die grundlegenden Absichten des historischen Gesetzgebers, nicht jedoch dessen konkrete Normvorstellung methodisch relevant sein können, vgl. nur Larenz/ Canaris, Methodenlehre, 150. Ansonsten siehe zur Bedeutung der historischen Gesetzgebungsmaterialien nur oben § 1 II sowie Goebel, ARSP 2003, 372 (384 f.); ders., Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 1 III. 245 Dazu oben § 4 II 1. 246 Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1274). Vgl. zur historischen Entwicklung nur Battes, Vermögensordnung, 48 ff. 247 Siehe oben § 4 II 3 c, § 5 III 2 b, § 6 I.
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zweites Testament geschützt werden kann?248 Nun wäre die durch diese Frage hindurchschimmernde Sicht hinsichtlich der geleisteten psychischen Gratifikationen denn doch etwas zu eng. Denn der Erstverstorbene leistet ja auch dann dem anderen Teil im Wege der psychischen Gratifizierung etwas, wenn er ihm die Chance anbietet, in intim codierter Kommunikation die eigene Todesverarbeitung im Spiegel der des anderen zu entfalten. In der Darbietung dieser Chance liegt mithin die erforderliche psychische Gratifikation. Bei bloß einseitiger Korrespektivität hat der andere Teil diese Chance nicht aufgegriffen, sondern zwar gemeinschaftlich, aber doch einseitig testiert. Es verwundert, daß der andere Teil gleichwohl gebunden sein soll, obwohl an sich eine „aufgedrängte“ Gratifikation vorliegt und derartige aufgedrängte Vorteile gemeinhin nicht zu irgendwelchen Nachteilen (wie eine testamentarische Bindung) führen. Der Grund, daß schon die Darbietung dieser Chance zur testamentarischen Bindung führt, kann wiederum nur in dem besonderen Verhältnis der Ehegatten untereinander gefunden werden. In intim codierten Primärbeziehungen darf jeder der Beteiligten erwarten, daß der andere Teil sich schon durch die Gewährung von Hilfsangeboten, nicht erst durch die Hilfe selbst gratifiziert sieht. Das Angebot zur Hilfe wird in das Geflecht ehelicher Austauschvorgänge von psychischen, emotionalen, sozialen und vermögensmäßigen Gratifikationen eingestellt, welches die soziale Primärbeziehung über die Zeit hinweg stabilisiert und ihr Zerbrechen hindert. Dieses Netz wird typischerweise als Moment des Rückblicks auf den gemeinsam verbrachten Lebensabschnitt auch den Tode des Erstversterbenden überdauern; im Affekt personaler Trauer kristalliert sich dies in besonders prägnanter Weise. Die testamentarische Bindung rechtfertigt sich mithin aus dem Einfließen des Unterstützungsangebots in dieses Austauschgeflecht. Hieraus folgt freilich zugleich, daß keine Veranlassung besteht, den Erstversterbenden zu schützen, solange für den Überlebenden die Darbietung der Chance, gemeinschaftlich den Tod zu verarbeiten, nicht hinreichend deutlich geworden ist. Ansonsten hat der Erstverstorbene ja wiederum keinerlei Anlaß, erwarten zu dürfen, daß der andere Teil nicht mehr neu testiert. Unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung einseitiger Abhängigkeit ist nicht nur, daß der Erstverstorbene spezifisch verfügt hat, weil der Überlebende so und nicht anders verfügt hat, sondern auch, daß der Überlebende tatsächlich erkannt hat, daß dies der Fall ist. Nur dann kann der Erstverstorbene im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens erwarten, daß der andere Teil ihm signalisiert, er solle nicht darauf bauen, daß er nach dem ersten Todesfall nicht abweichend verfüge. Fahrlässige Unkennt248
Siehe zum Schutz des Erstverstorbenen durch § 2270 I BGB oben § 4 II 3 c.
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nis des Überlebenden von der Gratifikationsabsicht des Erstverstorbenen reicht nicht aus, da nichts ersichtlich ist, wie die Pflicht begründet werden soll, die den Fahrlässigkeitsvorwurf trägt. Insgesamt gesehen wird mit diesem Konzept auch der Baustein geliefert, welcher denjenigen Lehren fehlt, die in den §§ 2270 f. BGB einen gesetzlich geregelten Fall der Maßgeblichkeit einer bestimmten subjektiven Geschäftsgrundlage für die Weitergeltung eines Rechtsgeschäfts erblicken wollen249. Nach dieser Lehre ist die einseitige Korrespektivität eine Auswirkung des Umstands, daß ein Motiv schon dann zur Geschäftsgrundlage werden kann, wenn es zwar einseitig ist, aber der anderen Seite erkennbar und von ihr nicht beanstandet wird250. Doch woher sollte die Obliegenheit kommen, das Motiv zu beanstanden? Und warum sollte Erkennbarkeit des Motivs schon hinreichend sein? Der Geschäftsgrundlagenansatz ist hier genauso wenig aussagekräftig wie die vertrauenstheoretischen Bindungslehren251. Erst der Blick auf die Darbietung psychischer Gratifikationen und das eheliche Austauschgeflecht hilft hier weiter. Ein beachtlicher Wertungsunterschied ist nach all dem zwischen einseitig und wechselseitig abhängigen Verfügungen im Lichte reziproker Formen der Todesverarbeitung zumindest dann nicht zu erkennen, wenn – erste Voraussetzung – einer der Gatten mit Rücksicht auf die Verfügung des anderen verfügt, der andere Gatte – zweite Voraussetzung – hiervon Kenntnis hat und – dritte Voraussetzung – nicht zu erkennen gibt, daß er trotz der Verfügungsmotivation des einen Gatten sich den Weg nicht verschließen will, künftig abweichend zu testieren. 2. Die formale Bindung zu Lebzeiten beider Gatten: § 2271 I BGB
a) Die Begründung des lebzeitigen Widerrufsrechts Bisher war nur von der rechtlichen Bindung des Überlebenden nach dem Tode des Erstversterbenden die Rede. Das Gesetz bindet die korrespektiven Verfügenden zu Lebzeiten beider jedoch auch an gewisse Formen einer formellen Lösung von einer drohenden Bindung des überlebenden Teils, indem es für den Widerruf einer korrespektiven Verfügung die Form des Rücktritts vom Erbvertrag anordnet, § 2271 I 1 BGB. Diese Widerrufsmöglichkeit zu Lebzeiten beider Gatten scheint merkwürdig zu sein, da ja ge249 So Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1268); vorsichtige Andeutungen hinsichtlich eines Vergleichs mit der Geschäftsgrundlage bei Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 15; Kuchinke, FS v. Lübtow, 283 (287). 250 So Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1275). 251 Zu diesen siehe oben § 4 II 3.
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meinhin unter Lebenden bei einem reziproken (also bei einem dem do-utdes entsprechendem) Geschäft die Zulässigkeit eines Widerrufs oder eines Rücktritts an Vertretenmüssen oder an gewichtige materielle Gründe geknüpft ist. Ein Wertungswiderspruch kann hierin freilich nicht gesehen werden. Bei einem personfunktional orientierten Verständnis des gewillkürten Erbrechts wird sofort einsichtig, warum eine lebzeitige Widerrufsmöglichkeit gesetzlich vorgesehen ist: Bei einem Widerruf des einen Ehegatten kann der andere Gatte die nunmehr entwertete Reziprozität dadurch auffangen, indem er, der andere Gatte, selbst wieder neu testiert. Sein Persönlichkeitsrecht wird durch einen Widerruf mithin nicht relevant verletzt. Durch die besondere Form des Widerrufs wird dem anderen Teil zudem die Ernsthaftigkeit der Aufkündigung der ehemals gemeinsam geleisteten Todesverarbeitung signalisiert und eindringlich vor Augen geführt, daß die einstmals gefundene Reziprozität entgültig zerbrochen ist. Es ist daher nur folgerichtig, daß jedem Teil qua Widerrufsrecht die Chance eingeräumt ist, sein eigenes „Sein zum Tode“ dort neu zu entfalten, wo Persönlichkeitsrechte anderer nicht relevant tangiert werden. Das Gesetz stellt damit ein flexibles Instrumentarium bereit, nicht nur die aus der neuesten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu ziehenden Erwägungen zu überdenken252, sondern auch der Fortentwicklung der Person im Laufe ihres Lebens Rechnung zu tragen. Die Kombination von formaler (Widerruf) und materieller Bindung stabilisiert daher die testamentarische Bindung auf dem für den Schutz der Todesverarbeitung funktional angemessensten Niveau. b) Die rechte Form des Widerrufs Der Widerruf nach § 2271 I 1 BGB ist gegenüber dem anderen Ehegatten zu erklären, §§ 2271 I 1 i.V. m. § 2296 II 1 BGB, und bedarf der notariellen Beurkundung, §§ 2271 I 1 i.V. m. § 2296 II 2 BGB. Die Rechtsprechung verlangt zur Formwahrung den Zugang der Urschrift oder einer notariellen Ausfertigung und läßt eine beglaubigte Abschrift mit der Begründung nicht genügen, diese beweise im Rechtsverkehr nur die Übereinstimmung der Abschrift mit der Urkunde, stelle aber selbst nicht die Erklärung dar, die deshalb bei einem Zugang nur der beglaubigten Abschrift auch nicht zugehen könne253. Mit dieser formalistischen Argumentation wird freilich der Formzweck auch unter dem Aspekt des Schutzes der Persönlichkeit des Testierenden in einem nicht mehr gerechtfertigten Ausmaß überzogen254 und damit der Schutz reziprok erwiesener Gratifikation und in 252 Auf diese Bereiche beschränkt Battes, Vermögensordnung, 246 f., den Sinn des Widerrufs. 253 Vgl. nur BGHZ 31, 5 (7); 26, 201 (204); 48, 374 (378); OLG Hamm, FamRZ 1991, 1486.
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der Folge der Schutz der sich im „Sein zum Tode“ entfaltenden Persönlichkeit des Testierenden auf einem dysfunktionalen Niveau stabilisiert. Das Verhältnis von Rechtsgeschäft und gesetzlicher Form kann heute nicht mehr als Einheit eines Formalgeschäfts verstanden werden255. Dementsprechend werden heute selbstverständlich die Zwecke der notariellen Beurkundung des Widerrufs im Übereilungsschutz, in der rechtlichen Beratung sowie in der Beweisfunktion gesehen256. Diese wiederum werden auch bei dem Zugang einer bloß beglaubigten Abschrift gewahrt. Die harrschen Formerfordernisse der Rechtsprechung sind mit Blick hierauf demnach nicht einsichtig. Es kann auch keine Rede davon sein, eine angemessene Sicherung des vertrauenden Teils sei nur vorhanden, wenn die Urschrift oder eine Ausfertigung des Widerrufs zuginge. Denn eine Kontinuität im Erwarten kann faktisch auch durch andere Formen der Interaktion abgebrochen werden. Die Hauptsache ist ja, daß enttäuschungsfest stabilisierte Erwartungen überhaupt ihre Enttäuschungsfestigkeit verlieren, was wiederum gegeben ist, wenn dem Erwartenden klar und deutlich signalisiert wird, er möge seine Erwartungen ändern. Genau dies leistet aber auch der Zugang einer beglaubigten Abschrift des Widerrufs. Allerdings begründet die Rechtsprechung ihre Ansicht, der Zugang einer beglaubigten Abschrift der Erklärung reiche zur Formwahrung nicht hin, mit der Erwägung, normalerweise werde eine beglaubigte Abschrift im Rechtsverkehr nicht als Verkörperung der Erklärung selbst angesehen; ginge nur die beglaubigte Abschrift zu, sei die Erklärung selbst nicht zugegangen. Diese Erwägung ist gegenüber den gerade skizzierten materiellen Vertrauensgesichtspunkten eher sekundär. Denn es müßte ja zuerst einmal geklärt werden, welcher Personenkreis unter den Begriff „Rechtsverkehr“ zu verstehen ist: Ist „Rechtsverkehr“ die „Sozietät insgesamt“? Ist es nur die Gesamtheit oder auch nur ein Teil der „rechtlich relevant Handelnden“? Oder wenn es nur ein Teil ist, nach welchen Kriterien setzt er sich zusammen? Richtigerweise kann es nicht darauf ankommen, worin die genannten Personenkreise die Verkörperung der Widerrufserklärung sehen. Vielmehr muß der Begriff „Rechtsverkehr“ einen einsichtigen Bezug zur Teleologie des § 2271 II 1 BGB aufweisen. Denn gesetzt den Fall, es würde der Ansicht desjenigen Kreises gefolgt, der gemeinhin mit „Rechtsverkehr“ bezeichnet wird und nach dem eine beglaubigte Abschrift zur Formwahrung nicht hinreicht. Der mittels Zugangs einer beglaubigten Abschrift versuchte Wiederruf würde dann fehlschlagen. In diesem Falle hätte also Auffassungen Dritter einen Vertrauensschutz auch dort implementiert, wo empirisch von 254 Vgl. auch Battes, Vermögensordnung, 121. Form degeneriert hier zum Selbstzweck, so auch Dilcher, Anm. zu BGHZ 48, 474, JZ 1968, 188 (189). 255 Dazu schon oben § 4 II 3 b bb. 256 Nachweise siehe oben § 4 II 3 b bb.
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einem Vertrauen keine Rede sein kann. Für eine derartige Normativierung des Vertrauensschutzes braucht man allerdings wertende Zurechnungsgesichtspunkte. Diese sind aber nirgendwo ersichtlich. Denn für den in § 2271 II BGB niedergelegten Persönlichkeitsschutz dürfte es hinlänglich gleichgültig sein, in welcher Art und Weise die Erklärung dem Erklärungsgegner offenbart wird. Wird mithin der „Rechtsverkehr“ auf die Beziehung zwischen den beiden Gatten zugeschnitten, ist offensichtlich, daß der Zugang einer beglaubigten Abschrift für die Formvorschrift der §§ 2271 II 1 i.V. m. 2296 II 2 BGB hinreichend ist. III. Die partikularen Interaktionsgepflogenheiten der Ehegatten im Lichte gesetzlicher Typisierung: Die Begründung der gesetzlichen Auslegungsregeln Sowohl die sozialen Mechanismen der Selbstdarstellung als auch die Phänomene reziproker Gratifikation und die hiermit verbundene Verflechtung der jeweiligen Todesverarbeitungen werden durch konkrete Interaktionen der Ehegatten gesteuert. Diese Erkenntnis ist durchaus nicht banal, da nicht jegliche soziale Interaktionen zu der „Gemeinsamkeit im Motiv“ führt, die herkömmlich die Wechselbezüglichkeit gem. § 2270 I BGB zur Folge haben soll; bei der Gemeinsamkeit im Motiv steht ja gerade nicht eine symbolisch vermittelte Kommunikation innerhalb eines sozialen Kontexts257, sondern allein der Abgleich höchstpersönlicher Willensäußerungen in Rede. 1. Typisierte Auslegungsregeln: Die Ehe als normativer Realtypus
Konkrete Interaktionen verweisen auf die konkrete Ausgestaltung der partnerschaftlichen, auf Exklusivität, Intimität und affektive Verbundenheit gründenden Beziehung zwischen den Ehegatten, auf deren konkreten Interaktionsgepflogenheiten. In der Ermittlung dieser Gepflogenheiten treten freilich gerade bei Testamenten immer wieder Schwierigkeiten auf, auf die das Gesetz mit einer materiellrechtlich eingekleideten Absenkung der Substantiierungslast und des Beweismaßes reagiert, da Reziprozität nur „anzunehmen“ zu sein braucht258. Das Auslegungsziel liegt dann darin, mittels einer wertenden Feststellung die Relevanz der Verfügung des einen Gatten 257 Vgl. dazu beispielsweise nur Miebach, Soziologische Handlungstheorie, 56 ff. Die Rechtsgeschäftslehre würde bei symbolisch vermittelten Kommunikationen innerhalb eines sozialen Kontexts (etwa: im Markt) auf die Grundsätze zur Auslegung empfangsbedürftiger konkludenter Willenserklärungen verweisen, vgl. nur Lüderitz, Auslegung, 309 ff., 321 ff.; Hepting, Ehevereinbarungen, 241 ff. 258 Vgl. auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1268).
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für die Verfügungsmotivation des anderen Teils zu ermitteln: Es kommt darauf an, ob die Verfügung des einen für die Verfügung des anderen zumindest wesentlich mitbestimmend und nicht nur eine angenehme Begleiterscheinung des ansonsten schon feststehenden Testierwillens war259, so daß letztlich die Verfügung mit der anderen zusammen „stehen und fallen“260 soll. a) Der Prozeß der Interaktionsrekonstruktion: Allgemeines Nun geht es sowohl bei der erläuternden als auch bei der ergänzenden Auslegung immer nur um die Ermittlung eines hypothetischen Willens, da im hermeneutischen Prozeß der Sinnermittlung immer – auch bei der erläuternden Auslegung – notwendig hypothetische Willensannahmen untersucht werden, anhand derer das Verfügte zu einem Sinnganzen generiert werden soll261. Willensfiktion, erläuternde und ergänzende Auslegung unerscheiden sich folglich nur nach dem Maß der Wahrscheinlichkeit dieses hypothetischen Willens, der als Auslegungshypothese belegt werden soll. Soll eine Willensfiktion vermieden werden, muß sich die Auslegung im Rahmen der wahrscheinlichen und nachvollziehbaren Planung der Erblasser halten262, insbesondere dürfen sich Redlichkeits- und Vernunftserwägungen nicht verselbständigen. Vor allem darf die richterliche Rekonstruktion des ehelichen Interaktionsprozesses nicht zu früh abbrechen, weil der Richter von einem allzu typisierten Ehebild ausgeht. Dies würde dem oben dargelegten rechtlichen Leitbild der Ehe widersprechen, sich gerade keine metaphysischen Wesensannahmen über das rechte eheliche Verhalten zu eigen zu machen, wie dies bei den institutionalistischen Ehelehren der Fall ist. Die Rechtsprechung folgt dem mit ihren Auslegungsgrundsätzen freilich mehr oder weniger schon lange. So stellte schon das Reichsgericht263 auf Auslegungsindizien wie das gute Verhältnis der Ehegatten untereinander, ihre konkrete Auffassung von dem „sittlichen Wert der Ehe“ und ihr konkretes Verhalten und damit genuin auf die partikulare Interaktion der Ehegatten ab264, und 259
Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1272), mit Verweis auf OLG Hamm, FamRZ 1992, 478 (zu dem vergleichbaren Fall des § 2268 II BGB). 260 So – im Anschluß an die Materialien (Prot. V, 451) – die ständige Formel der Rechtsprechung, vgl. nur RGZ 116, 148 (149); BayObLG, FamRZ 1987, 638 (639); FamRZ 1985, 1287 (1288). 261 Dies wurde eingehend von Hepting, Ehevereinbarungen, 241 ff., beschrieben, ansonsten siehe nur Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 II 1 c dd. 262 Vgl. nur Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 34 III 4. 263 DR 1940, 723 (724). 264 Vgl. auch BayObLG 21 A, 90 (93 f.); BayObLG, RPfleger 1982, 285 (286); FamRZ 1992, 1102 (1103); KG, JFG 14, 288 (290); OLG Dresden, HRR 1940, Nr. 541.
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betonte damit nichts anderes als die je individuell zwischen den Gatten gepflegte Interaktion. b) Äquivalenz und Solidarität in der Ehe als Auslegungsmittel Bei der Ausbildung der normativen Realtypen ehelicher Interaktionsgepflogenheiten haben dann auch die von Battes265 in die Diskussion eingebrachten Prinzipien von Äquivalenz und Solidarität ihren genuinen Platz. Äquivalenz meint hierbei, „daß jeder Leistung eine Gegenleistung oder doch wenigstens eine gleiche Leistung des anderen entsprechen und gemeinsam angesammeltes Vermögen auch gemäß dem Beitrag des einzelnen geteilt werden soll“, während Solidarität im Verhältnis enger Familienangehöriger die Momente von Bedürftigkeit, wechselseitiger Anteilnahme und gegenseitiger, als legitim erfahrener Hilfe in Anschlag bringt, bei denen „Leistungen geschuldet werden, für die der Leistende keinen oder wenigstens keinen wirtschaftlich faßbaren Gegenwert erwarten kann“266. Äquivalenz und Solidarität dienen hier als sehr grobe, fast schon „freihändig“ im Prozeß der Testamentsauslegung verwendbare Topoi, die den Rechtsanwender wegen ihrer Inhaltsleere ein erhöhtes Maß an Verantwortung aufbürden. Mit Rücksicht auf den personfunktionalen Gehalt des Testierens kann deshalb insgesamt gesehen nicht genug betont werden, daß von derartig typisierenden Vorstellungen ein überaus zurückhaltender Gebrauch gemacht werden darf und daß sie nur in der Situation in Betracht kommen, in der andere Auslegungsmöglichkeiten versagt haben. Denn ansonsten bestünde die Gefahr, daß die im Testament zum Ausdruck kommende individuelle Entfaltung der Person unter der Hand auf das Durchschnittsmaß typisierter Kohorten zurechtgestutzt wird. c) Typen ehelicher Interaktion? Freilich folgt aus dem bisher Gesagten nicht, daß es keine allgemeinen Regeln gäbe, die Schlüsse auf eine bestimmte Willensrichtung oder Interessenlagen der Testierenden zuließen267. Denn anders als durch einen Rekurs auf Erfahrungsregeln, welche von der konkreten Ausgestaltung der jeweili265 Battes, Vermögensordnung, 25, 220 ff., 225 ff., und passim. Dies muß hier auf sich beruht bleiben. 266 Battes, Vermögensordnung, 25, dort beide Zitate. Kurt Bayertz, in: ders. (Hrsg.), Solidarität, 11 (12 f.), macht darauf aufmerksam, daß Solidarität anders als andere „Großbegriffe“ wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Gleichheit, nur selten zum Gegenstand vielfältiger Theoriebildung gemacht worden ist. 267 Dazu Palandt-Edenhofer, § 2270 Rn. 5 f.; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 6 ff.; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 II 2.
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gen Ehe abstrahieren (wie etwa der Verweis auf die Lebenserfahrung268), kann ja im gerichtlichen Verfahren gar nicht weitergearbeitet werden, wenn sich die partikularen Interaktionsgepflogenheiten der Eheleute nun beim besten Willen nicht mehr genau ermitteln lassen. In dieser Situation darf durchaus angenommen werden, die Gattenbeziehung wäre im Rahmen von Typen einer ehelichen Gemeinschaft verlaufen – und zwar von Typen, die als normativer Realtypus269 aus dem Fundus der sozialen Wirklichkeit abstrahierend ermittelt werden270. Hier käme es dann durchaus auch auf die Vorstellung bestimmter Bevölkerungsgruppen an. So wird zumeist mangels entgegenstehendem Anhaltspunkt im Testament angenommen, bei einer gegenseitigen Erbeinsetzung der Eheleute mit Einsetzung der gemeinsamen Kinder als Erben des je Überlebenden bestünde keine Wechselbezüglichkeit zwischen der Verfügung des einen Gatten zugunsten der Kinder und der Verfügung des anderen Gatten zugunsten der Kinder, da angenommen werden müsse, daß jeder Ehegatte auf jeden Fall und unabhängig von den Verfügungen des anderen die Kinder um ihrer selbst willen zum Erben einsetze271. Hier wird sehr deutlich, daß von der abstrahierend gebildeten Idealtypik einer Elternliebe ausgegangen wird, die im konkreten Fall jedoch durchaus auch fehlen kann. Ähnliches gilt für die Bewertung, bei einer ständigen Mitarbeit des unvermögenden Ehegatten im Betrieb des anderen sei davon auszugehen, daß die Ehegatten nach jahrzehntelanger Ehe der formalen Zuordnung des Vermögens zum Eigentum eines Ehegatten geringere Bedeutung zumessen als der gemeinsamen Erarbeitung des Vermögens, so daß die Vermögenslosigkeit des einen Gatten die Wechselbezüglichkeit der Verfügung nicht hindert272. Schließlich kann die 268 So bsp. KG, OLGZ 1993, 338 (401); FamRZ 1987, 638 (639); 1986, 392 (393); 1985, 1287 (1289); 1984, 211 (212). 269 Diese Denkfigur, mittels derer einzelne Sachverhaltselemente im Hinblick auf einen normativen Leitgedanken zusammengefaßt werden können, kann hier – trotz aller Kritik am typologischen Denken (dazu nur Kuhlen, Typuskonzeptionen, 1977; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 73 ff., 209 f.) – anschaulich den Denkvorgang der Typusbildung auch begrifflich transparent machen. Zur Denkfigur des Typus siehe im übrigen nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, 290 ff. 270 Auch die interindividuellen Ehelehren greifen innerhalb ihres theoretischen Verweisungszusammenhangs auf berechtigte Sozialerwartungen im Sinne konventioneller Meinungen und Zukunftserwartungen des durchschnittlichen Bürgers zurück, deren Enttäuschung Rechtsfolgen nach sich ziehen könne (so Pawlowski, Studium, 299 ff., 315, 341), oder rekurrieren auf sozialadäquates Verhalten im Kontext einer „Sozialmoral“ (so Streck, Generalklausel, 70 ff., 74 ff.), wenn die konkreten Interaktionsgepflogenheiten nicht sichbar werden oder nicht gebildet worden sind. 271 BayObLG, FamRZ 1996, 1041 (1042); Erman-Schmidt, § 2270 Rn. 2; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 12; Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 28; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2270 Rn. 19; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 II 1; siehe auch Ritter, Konflikt, 98 f. 272 Vgl. OLG Hamm, FamRZ 1995, 1022.
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testamentarische Verfügung, in der die Ehegatten „im Falle eines gemeinsamen Ablebens“ eine Bekannte als alleinige Erbin einsetzen, durchaus erläuternd so verstanden werden, daß auch eine Erbeneinsetzung nach dem Tode des den Erstversterbenden dann allein beerbenden Längerlebenden verfügt worden ist273. Diese Willensrekonstruktion ist zwar hypothetisch, liegt aber nach den je konkreten Umständen des Falles oft nicht außerhalb des Wahrscheinlichen. d) Beispiele für verselbständigte Vernunftserwägungen Es gibt aber auch Beispiele, bei denen sich Vernunftserwägungen eher verselbständigen. So spricht bei einem gemeinschaftlichen Testament, bei dem sich die Gatten gegenseitig zu befreiten Vorerben und die gemeinsamen Kinder zu gleichen Teilen als Nacherben einsetzen, so ohne weiteres erst einmal nichts für die Annahme, in einer „intakten“ Familie dürfte die Vorstellung herrschen, daß das erwirtschaftete Vermögen vom längstlebenden Ehepartner auf die gemeinsamen Kinder übertragen werden soll, wenn gleichzeitig in der Entscheidung kein Wort über die tatsächliche familiare Situation – die „Intaktheit“ der „intakten“ Familie – verloren wird274. Eine verselbständigte Vernunfterwägung läßt auch dann die Testamentsauslegung fehl gehen, wenn schon im Rahmen der erläuternden Auslegung einer Klausel eines gemeinschaftlichen Testaments die erbrechtliche Auslegungsregel des § 2102 II BGB herangezogen wird275, obwohl diese doch erst dann zum Tragen kommt, wenn der Prozeß der erläuternden Auslegung nicht mehr weiter kommt und deshalb Zweifel verbleiben276. Es kommt eben oft zu Willensfiktionen, wenn die erbrechtlichen Auslegungsregeln als Ausdruck des mutmaßlichen Erblasserwillens gedeutet werden277. So ist es auch hier, wenn schon die Verfügung anhand von Auslegungsregel erläuternd zu einem Zeitpunkt ausgelegt wird, an dem Auslegungsregeln eigentlich noch gar nicht angewendet werden können, weil das gesamte Spektrum der Möglichkeiten, den tatsächlichen Erblasserwillen zu ermittlen, noch nicht ausgeschöpft sind. Diskrepanzen sind auch zu beobachten, wenn eine letztwillige Verfügung mit Rücksicht auf ein „gesetzliches Leitbild“ der Erbfolge nach Stämmen ausgelegt wird. Dieses Leitbild nimmt dann in der Art eines – pointiert ge273 LG München I; FamRZ 1999, 61 (62). Siehe auch BayObLGZ 1979, 427 (432); 1982, 332 (337); 1986, 426 (429); BayObLG, FamRZ 1990, 563 (564); KG, FamRZ 1968, 217; 1970, 148 f.; OLG Frankfurt, FamRZ 1998, 1393 (1393 f.). 274 So bei OLG Oldenburg, FamRZ 1999, 1537 (1538). 275 So bei BayObLG, FamRZ 1998, 324 (325). 276 MünchKomm-Grunsky, § 2102 Rn. 5. 277 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 II 1 c dd.
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sagt – „erbrechtlichen Auslegungsfamiliarismus“ schon auf die Auslegung eines gemeinschaftlichen Testaments selbst und nicht nur über die Auslegungsregel des § 2069 BGB278 Einfluß279; die Figur des gesetzlichen Leitbilds überlagert hier ohne Not die konkrete Testamentsauslegung erheblich. Mehr in die Richtung einer fiktiven, unwahrscheinlichen Willensrekonstruktion tendiert auch die Auslegung einer in einem gemeinschaftlichen Testament aufgenommenen Klausel folgenden Inhalts: „Dem überlebenden Teil soll es möglich sein, diejenige Person, die den Ehegatten im Alter die notwendige Hilfe angedeihen ließ, vorab leistungsgerecht ohne Rücksicht auf ein bestehendes Erbrecht abzufinden“. Wenn hier aus dem Zusatz „ohne Rücksicht auf ein bestehendes Erbrecht“ im Umkehrschluß vom Gericht gefolgert wird, ansonsten seien eben wegen des Zusatzes andere Verfügungen wechselseitig280, wird gerade die für einen Umkehrschluß erforderliche zusätzliche Argumentations-Prämisse281 verschwiegen und Bindung quasi zum im Zweifel anzunehmenden Regelfall erhoben. e) Die Wiederverheiratung Geschiedener als Beispiel Wenig einsichtig ist unter dem Gesichtspunkt, ob der im Prozeß der Auslegung gefundene Wille wahrscheinlich ist, auch die Behandlung des Falles, daß die Gatten ein gemeinschaftliches Testament errichten, sich sodann scheiden lassen, danach erneut heiraten und der überlebende Teil nach dem Tode des Erstversterbenden seinen neuen Lebenspartner als Alleinerben einsetzt. Die Lösung dieses Falles ist streitig. Stellenweise wird vertreten, eine Verfügung geschiedener Eheleute bliebe auch im Falle der Wiederverheiratung nichtig282. Demgegenüber wird teilweise davon ausgegangen, das gemeinschaftliche Testament sei schon deshalb nicht unwirksam, weil § 2077 I, II BGB für den Fall der Wiederverheiratung Geschiedener seinem Sinn und Zweck nach im Wege teleologischer Reduktion nicht anzuwenden sei283. Schließlich wird die Wirksamkeitsfrage als ein Problem der Auslegung des an sich qua Scheidung (§§ 2268 I, 2077 I BGB) unwirksamen gemeinschaftlichen Testaments i. S. § 2068 II BGB verstanden284. Bei dieser Auslegung wertet die Rechtsprechung den während der Zweitheirat geäußerten Willen der Ehegatten, das ersteheliche Testament solle weiterhin wirksam sein, als Indiz für den entsprechenden hypothetischen Willen zum 278 279 280 281 282 283 284
Dazu BayObLG, FamRZ 1995, 251; OLG Frankfurt, FamRZ 1998, 772 (773). So anscheinend bei BayObLG, FamRZ 1998, 388. So bei BayObLG, FamRZ 1997, 251 (253). Dazu nur Koch/Rüßmann, Begründungslehre, 260 f. So KG, FamRZ 1968, 217 (218). So MünchKomm-Leipold, § 2077 Rn. 18; Soergel-Loritz, § 2077 Rn. 17. So BayObLG, FamRZ 1996, 123 (124).
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Zeitpunkt der Testamentserrichtung285; die beiden Ehen seien „letztlich als Einheit“286 zu begreifen. Die Literatur ist hier stellenweise großzügiger und geht grundsätzlich davon aus, daß der mutmaßliche Erblasserwille zur Zeit der Errichtung der Verfügung davon ausginge, daß die Scheidung der Ehe bedeutungslos sein soll, wenn es zu einer Wiederverheiratung der Geschiedenen komme287. Bei der Problemlösung ist einmal die Anwendbarkeit des § 2077 BGB zu thematisieren, sodann das Feld der hypothetischen Auslegung aufzurollen und schließlich die Frage der Wechselbezüglichkeit zu entscheiden, wenn sich im Einzelfall zeigt, daß das gemeinschaftliche Testament nicht unwirksam sein sollte. Für die Ansicht, § 2077 BGB sei im Fall der Wiederverheiratung Geschiedener nicht anwendbar, werden als Argumente Bedürfnisse der Praxis und der Sinn und Zweck des § 2077 BGB vorgetragen288. Nach diesem Zweck sei eine Unwirksamkeit der Verfügung nicht statthaft, da mit der Zweitehe „eine der Art nach gleiche, wenn auch nicht formal identische familienrechtliche Bindung“289 wie bei der Erstehe gegeben sei. Beiden Argumenten kann nicht beigepflichtet werden. Das im gemeinschaftlichen Testament gewährte Vertrauen wurde bei der Scheidung enttäuscht, die einstmals gewährte Reziprozität weitgehend entwertet. Da eine Scheidung nur bei einer zerrütteten Ehe zulässig ist, § 1565 I BGB, wurden die in der erstehelichen Interaktionsgeschichte aufgebauten Erwartungsstrukturen zerstört. Es ist mithin gerade nicht so, daß „eine der Art nach gleiche, wenn auch nicht formal identische familienrechtliche Bindung“290 gegeben ist. Es wird mithin bei der Zweitheirat nicht die alte Ehe wiederhergestellt, sondern eine neue geschlossen291 – und diese Einsicht ist keineswegs formal, sondern den geänderten ehelichen Interaktionsroutinen mit ihren notwendig dann anders ausgeprägten Erwartungsstrukturen geschuldet. Soweit gegen diese Unterscheidung „alt gegen neu“ vorgetragen wird, sie übergehe die Bedürfnisse der Praxis292, überzeugt dies schon deshalb nicht, weil Bedürfnisse der Praxis ja nicht die erbrechtlich für letztwillige Verfügungen vorgesehenen Formvorschriften aushebeln können. Genau dies würde aber geschehen, wenn die Zweitehe mit der Erstehe als material einheitlich angese285
So BayObLG, FamRZ 1996, 123 (124 f.). Zu derartigen auf spätere Umstände gestützte Rückschlüsse auf den hypothetischen Erblasserwillen zur Zeit der Testamentserrichtung siehe BGH, FamRZ 1960, 28 (29); 1961, 364; BayObLG, FamRZ 1996, 760 (762). 286 BayObLG, FamRZ 1996, 123 (125). 287 So Staud-Otte, § 2077 Rn. 22. 288 MünchKomm-Leipold, § 2077 Rn. 18. 289 MünchKomm-Leipold, § 2077 Rn. 18. Ebenso Soergel-Loritz, § 2077 Rn. 17. 290 MünchKomm-Leipold, § 2077 Rn. 18. 291 So auch BayObLG, FamRZ 1996, 123; KG, FamRZ 1968, 217. 292 So MünchKomm-Leipold, § 2077 Rn. 18.
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hen werden dürfte293. Denn ein Wille, seine Persönlichkeit mit Blick auf den Tod zu entfalten, wird gemeinhin nur dann rechtlich relevant, wenn er in der gehörigen Form, nämlich testamentarisch oder erbvertraglich, geäußert worden ist. Es kommt deshalb nicht auf den hypothetischen Willen zum Todeszeitpunkt294, sondern auf den zur Zeit der Errichtung der gemeinschaftlichen Verfügung an295. Zudem ist der Rekurs auf die Bedürfnisse der Praxis auch doppelbödig. Denn wieso sollen derartige Bedürfnisse darüber entscheiden dürfen, ob die Eheleute ihr „Sein zum Tode“, welches sie gemeinschaftlich in einem Prozeß erstehelich intim codierter Interaktion nach denjenigen Erwartungshaltungen ausgeprägt haben, die in der Erstehe herrschten, auch nach einer Wiederverheiratung vor dem Hintergrund einer durchlebten Scheidung weiterhin so entfalten wollen, wie sie dies einstmals an den Tag gelegt haben? Dies ist eine Frage des rechten Persönlichkeitsschutzes und keine, die nach Bedürfnissen der Praxis verhandelt werden kann. Zudem richtet sich die Berücksichtigungsfähigkeit der Bedürfnisse der Praxis danach, ob diese schutzwürdig sind. Dies wiederum ist eine Frage, die nach der Teleologie der testamentarischen Bindungswirkung abzuklären ist. Für die vertrauenstheoretischen Bindungslehren muß demnach gefragt werden, ob die Ehepartner eigentlich zu Recht erwarten dürfen, die in der Erstehe plazierten Selbstdarstellungsakte seien für die Zweitehe weiterhin relevant. Dies wiederum dürfte bei Lichte betrachtet weder zu bejahen noch zu verneinen sein, da ein Votum der wiederverheirateten, ehedem geschiedenen Gatten für einen Vorrang der in der Erstehe gemeinsam konstruierten Interaktionsgeschichte genauso wahrscheinlich ist, wie ein Votum für den Vorrang der nach der Zweitheirat aufgebauten neuen Erwartungsstrukturen, dem sie dann durch eine erneute gemeinschaftliche Verfügung gerecht werden müßten. Auch das hiesige Konzept, die testamentarische Bindung auf den Persönlichkeitsschutz des Erstversterbenden zu gründen, gibt keinen Fingerzeig. Es müßte gefragt werden, ob der durch die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments geleistete Persönlichkeitsschutz des Erstversterbenden auch nach der Scheidung bestehen bleiben soll. Hierfür wiederum spricht genauso viel dafür wie dagegen. Denn die Ehegatten haben ihre 293 So auch BayObLG, FamRZ 1996, 123; KG, FamRZ 1968, 217 (218); Kuchinke, DNotZ 1996, 306 (306 f.). 294 So aber v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 293; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 34 III 6 a; Keuk, Der Erblasserwille post testamentum, 53 Fn. 1. Siehe auch Kuchinke, DNotZ 1996, 306 (312). 295 Ebenso BGH, FamRZ 1960, 28 (29); 1961, 364 (366); BayObLG, FamRZ 1983, 839; FamRZ 1995, 1088; FamRZ 1996, 760 (762); Staud-Otte, § 2077 Rn. 22; Soergel-Loritz, § 2077 Rn. 17; MünchKomm-Leipold, § 2077 Rn. 17.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Persönlichkeit ja im gemeinschaftlichen Testament mit Blick auf die intakte Ehe entfaltet. Es kann sein, daß diese Persönlichkeitsentfaltung auch nach der Erfahrung der Zerrüttung weiterhin aufrechterhalten wird. Es kann jedoch auch genauso gut anders sein. Es geht nicht an, derartige Fragen personaler Entfaltung nach den Bedürfnissen der Praxis zu entscheiden. Nach all dem scheidet mithin eine teleologische Reduktion des § 2077 I, II BGB aus. Sedes materiae des Problems, was es mit dem Problem der Wiederverheiratung Geschiedener auf sich hat, ist mithin die Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments, § 2268 II BGB. Schon hier gilt es, das Spektrum der Ereignisse, welche darauf befragt werden müssen, ob diese dafür sprechen, daß der Erblasser die Verfügung trotz der Scheidung aufrechterhalten hätte, genau zu umreißen und die Frage zu stellen, „welcher Zeitpunkt im Fluß der Ereignisse darüber entscheidet, eine zu tage getretene bestimmte Willensrichtung als Anhaltspunkt für den hypothetischen Willen bei Testamentserrichtung gelten zu lassen“296. Sicherlich besteht dieses Spektrum nicht allein aus solchen Umständen, die bereits im Zeitpunkt der Testamentserrichtung hervorgetreten sind. Und sinnvollerweise kann dieses Spektrum auch nicht einfach mit dem Ereignis der Wiederverheiratung der Geschiedenen abbrechen. Vielmehr sind sämtliche Ereignisse bis zum Zeitpunkt des Erbfalls als Auslegungsgrundlage relevant, da zum einen jede Auswahl willkürlich erscheint und zum anderen hierfür das in einem personfunktional verstandenen Erbrecht hochrangige Prinzip der Letztwilligkeit spricht297. Eine Unwirksamkeit des während der Erstehe errichteten gemeinschaftlichen Testaments dürfte mithin dann nicht in Frage kommen, wenn die Ehegatten nach der Wiederverheiratung erkennbar davon ausgegangen sind, ihr „Sein zum Tode“ und die einstmals gemeinschaftlich geäußerte personale Entfaltung habe sich trotz der Scheidung nicht geändert298. Eine allgemeine Auslegungsregel, das gemeinschaftliche Testament sei grundsätzlich bei einer erneuten Heirat wirksam, ist hingegen nicht angängig, da für die Frage, ob die ehedem entfaltete Persönlichkeit auch weiterhin so entfaltet werden soll, keine überwiegenden Wahrscheinlichkeiten für die bejahende oder die verneinende Antwort gefunden werden können, solange nicht Fingerzeige dafür erkennbar sind, daß die Ehegatten davon ausgegangen sind, die frühere Entfaltung sei auch die jetzige. Es gilt also: Erst wenn Fingerzeige der gerade beschriebenen Art vorliegt, ist das gemeinschaftliche Testament der ersten Ehe bei Wiederheirat der Geschiedenen nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam. 296 297 298
Kuchinke, DNotZ 1996, 306 (307 f.), Hervorhebung getilgt. Kuchinke, DNotZ 1996, 306 (308). Im Ergebnis ebenso BayObLG, FamRZ 1996, 123 (124 f.).
§ 6 Testamentarische Bindung und gemeinschaftliche Todesverarbeitung
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Wenn nach diesen Maßgaben im Einzelfall die gemeinschaftlich getroffenen Verfügungen trotz Scheidung weiterhin wirksam sind, ist mit dieser Feststellung aber noch nichts zur Frage gesagt, ob die Gattenverfügungen auch noch weiterhin im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zueinander stehen. Kuchinke299 und Muscheler300 haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die besondere Wirksamkeitsverknüpfung gemeinschaftlicher Testamente und die korrespektiven Verfügungen inne wohnende testamentarische Bindungswirkung nicht Gegenstand der Regelung des § 2268 II BGB sind. Das Gesetz sieht lediglich davon ab, für den Fall der Wiederverheiratung Geschiedener das Testament neu zu errichten, wenn dies dem hypothetischen Willen entspricht. Da allein Ehegatten die Korrespektivität als besondere Verknüpfungsform letztwilliger Verfügungen offensteht, ist es ihnen auch nicht gestattet, für die Zeit nach der Auflösung der Ehe über ihren hypothetischen Willen Verfügungen in das Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zu setzen301. Aus der Unterstellung, die Verfügung würde von den Ehegatten trotz Scheidung aufrechterhalten, läßt sich daher nicht auch die Aufrechterhaltung der Wechselbezüglichkeit ableiten302. Es gilt mithin, daß die aufgrund eines hypothetischen Aufrechterhaltungswillens gem. § 2268 II BGB weiter geltenden Verfügungen von den Ehegatten jederzeit widerrufen werden können. 2. Der mutmaßliche Wille der Ehegatten: Beispiele für Auslegungsregeln
a) Beispiel I: Die Besserstellung des Ehegatten bei Schlechterstellung des Endbedachten Nach durchaus herrschender Meinung sind neue Verfügungen ohne förmlichen Widerruf insbesondere dann zulässig, wenn sie den überlebenden Ehegatten rechtlich besser stellen303, als er nach dem gemeinschaftlichen 299
Kuchinke, DNotZ 1996, 306 (310). Muscheler, DNotZ 1994, 733 (741 ff.). 301 Muscheler, DNotZ 1994, 733 (741 ff.); Kuchinke, DNotZ 1996, 306 (310). 302 Kuchinke, DNotZ 1996, 306 (311). 303 BGH NJW 1959, 1730; BayObLZ 1966, 242 (245); KG JW 1938, 680 (681); DR 1943, 697; DNotZ 1943, 276; OLG Braunschweig, DNotZ 1951, 374; StaudKanzleiter, § 2270 Rn. 5, 16 f.; § 2271, Rn. 21, 36; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 3; § 2271 Rn. 12, 19; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 28; Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 16; Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 15 f.; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35, 2; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 4 a; Schlüter, Erbrecht, Rn. 370. Der Streit, ob bei § 2289 I 2 BGB nur eine rein rechtlich zu beurteilende oder auch eine wirtschaftliche Schlechterstellung das Beieinträchtigungsmerkmal erfüllt (dazu nur Siebert, FS Hedemann, 237 (250, 256 ff.); MünchKomm-Musielak, § 2289 Rn. 10, für die rechtliche Betrachtungsweise und Soergel-Manfred Wolf, § 2289 Rn. 3, für die wirtschaftliche Betrachtungsweise), ist hier ohne Belang. 300
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
Testament stehen würde, mögen auch im Endeffekt die Endbedachten schlechtergestellt werden304. Begründet wird dies zumeist305 mit dem mutmaßlichen306, auf eine Analyse der Interessenlage zurückgeführten Willen der Ehegatten307; für Vertrauen ist dann nur hinsichtlich der Verhinderung einer Schlechterstellung Raum. So plausibel das auf den ersten Blick klingt, dennoch ist bei derartigen Ausführungen durchaus Vorsicht angebracht. Denn die Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit der gemeinschaftlich geplanten erbrechtlichen Gesamtregelung bricht ja bei einer nachträglich einseitigen Besserstellung des anderen Gatten durch den einen Gatten weg308. Wenn sich bsp. die Gratifikation des Ehegatten gerade darauf bezieht, daß die Endbedachten mit Sicherheit die auch im Wert ungeschmälerte Erbenstellung erlangen, würde deren Schlechterstellung bei gleichzeitiger Besserstellung des überlebenden Teils Reziprozität entwerten. Es muß mithin immer genau geprüft werden, ob die Ehegatten nicht die gemeinschaftlich avisierte Vermögensordnung post mortem auf jeden Fall implementiert sehen wollten. Es gilt deshalb folgende Auslegungsregel: Auslegungsregel 6.1: Neue Verfügungen sind im Zweifel auch ohne förmlichen Widerruf zulässig, wenn sie den überlebenden Ehegatten rechtlich besser stellen, mögen auch die Endbedachten schlechter gestellt sein, es sei denn, den Ehegatten war gerade daran gelegen, die geplante Vermögensordnung post mortem als Ganzes Wirklichkeit werden zu lassen.
304
BGHZ 30, 261; KG, JW 1938, 680; KG, KGJ 42, 123; KG, OLGZ 1966, 503; OLG München, HRR 1942, Nr. 839; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 21, 36; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 17; Palandt-Heinrichs, § 2271 Rn. 15. 305 Das KG begründet dies in JFG 17, 44 (47), mit dem Sinn und Zweck des § 2271 BGB. 306 Der Vorwurf, hier würde ein Wille bloß unterstellt (so Bärmann, NJW 1960, 142 (143)) geht nur dann nicht ins Leere, wenn der hypothetische Wille, der dem mutmaßlichen Willen zugrundeliegt, vollkommen irreal ist, dazu siehe oben § 6 III 1 a. 307 Vgl. bsp. BGHZ 30, 261 (266); KG DNotZ 1943, 276. 308 Vgl. auch Kuchinke, FS v. Lübtow, 283 (286). Insoweit erscheint die Entscheidung des BayObLG (BayObLGZ 1966, 242 (245)), in der von einem mutmaßlichen Willen nicht mehr die Rede ist, sondern der Rekurs auf die Auslegungsregel nur noch anhand des in den Entscheidungsgründen zitierten Entscheidungsmaterials erkennbar ist, in einem durchaus zwiespältigem Licht.
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b) Beispiel II: Der Kreis des von der Bindungswirkung erfaßten Vermögens Auch anhand eines weiteren Beispiels können die Gefahren, die in einem zu harrschen Rekurs auf einen „mutmaßlichen Willen“ verborgen sind, skizziert werden. So soll sich nach weitaus herrschender Ansicht die Bindungswirkung auch auf die Vermögenswerte erstrecken, die der Überlebende erst nach dem Tod des anderen Teils unter Lebenden oder sogar von Todes wegen erwirbt309. Hauptbeispiele sind größere Schenkungen an den überlebenden Teil oder dessen Vermögenserwerb durch Erbschaft. Hier bezieht die opinio iuris Erwartung nicht auf eine präsumierte familiare Vermögensordnung, die beide Gatten im Projekt ihrer Todesverarbeitung als deren Ergebnis avisiert haben, sondern ganz unspezifisch auf das Schicksal des gesamten Vermögens des überlebenden Teils. Der beispielhaft genannte schenk- oder erbschaftsweise Erwerb würde für die herrschende Meinung also schon deshalb von der Bindungswirkung des § 2271 II BGB erfaßt, weil der Erwerb zum Vermögen des Überlebenden im Zeitpunkt seines Todes zählen würde (wenn er noch vorhanden ist). Dies ist aus zwei Gründen erstaunlich. Denn – erster Grund – die vermögensmäßige Solidarität der Ehegatten, die unter anderem in der Zugewinngemeinschaft ihren rechtlichen Ausdruck findet, zerbricht mit dem Tode eines der Ehegatten. Im Intestaterbrecht kommt es zum pauschalierten Ausgleich des solidarisch vermehrten Vermögens durch den Zugewinnausgleich im Todesfall gem. §§ 1371 I, 1931 III BGB. Nun könnte man daran denken, daß bei einem gemeinschaftlichen Testament die Ehegatten zumeist zugleich zu verstehen geben, daß sie den Zugewinn ihrer Ehe nach ihren spezifischen Vorstellungen zu verteilen gedenken. Dies kann sich sinnvollerweise nur auf den Bestand des zu Lebzeiten beider vorhandenen Vermögens beschränken, da der zukünftige Vermögenserwerb post mortem von ehelichen Wirkungen prima facie nicht mehr erfaßt werden kann. Nach den Wertungen des ehelichen Güterrechts wäre die Bilanz in der Vermögensabwicklung beider Ehegatten demnach ausgeglichen. Wieso darf also der Erstversterbende davon ausgehen, daß sich seine Erwartungen nicht nur auf das Vermögen des Überlebenden zum Zeitpunkt seines, des Erstversterbenden Todes richten dürfen? An der h. M. bestehen also zumindest Zweifel. Ausschlaggebend ist jedoch ein anderes Argument. Die gemeinschaftlich ihren Tod verarbeitenden Ehegatten können notwendigerweise ihr „Sein 309
So schon RG JW 1915, 1121; KG DR 1939, 1443 (1444); v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 503; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 30; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 15; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 29. Anders – jedoch mit nicht tragfähiger Begründung – soweit ersichtlich nur Helfrich, Grenzen der Bindungswirkung, 9.
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zum Tode“ nur vor dem Hintergrund ihres gegenwärtigen Erlebens ausprägen. Dieses Erleben wird durchweg gekennzeichnet sein von dem Stand des Vermögens, welches die Ehegatten während ihrer Ehe besitzen, da ein relevanter Vermögenszuwachs nach dem Tode des Erstversterbenden dessen Todesverarbeitung und das Maß der jeweils gewährten psychischen Gratifikation regelmäßig unberührt lassen wird, solange der Zuwachs nicht zu seinen Lebzeiten als sicher erwartet wurde. Ein Zuwachs des ererbten oder des dem überlebenden Teil im Zeitpunkt des ersten Todesfalls gehörenden Vermögens (etwa durch Kapital- oder Mietertrag) wird durchweg im Grundsatz erwartet werden310. Wurde der Zuwachs hingegen nicht erwartet (etwa bei schenkweisen Zuwendungen an den überlebenden Teil) oder konnte er nicht erwartet werden (etwa bei einem durch Erbschaft nach dem Tode des Erstversterbenden erlangten Vermögenszuwachs des Überlebenden), kann er für die Todesverarbeitung des Erstversterbenden auch nicht relevant geworden sein. Ist dem so, besteht aber auch kein Grund, den überlebenden Teil hinsichtlich der Verfügung über das post mortem Erworbene gem. § 2271 II BGB zu binden. Er wird daher in diesem Fall zumindest ein Vermächtnis in Höhe des Vermögenszuwachses zugunsten bisher nicht bedachter Dritter aussetzen dürfen, mag auch der Erwerb der gemeinschaftlich Endbedachten – wenn der Umfang dieses Erwerbs auf das Gesamtvermögen im Zeitpunkt des Todes des überlebenden Teils bezogen wird – im Endeffekt damit geschmälert werden311. Etwas anderes gilt ausnahmsweise allenfalls für den eher seltenen Fall, daß der Erstversterbende sein Erwarten ganz allgemein auf das Vermögen zum Zeitpunkt des Todes des überlebenden Teils bezogen hat. Nach all dem hat die angemessene Auslegungsregel demnach grundsätzlich zum Inhalt, daß sich die Bindung des überlebenden Teils in der Regel nur auf diejenigen Vermögenszuwächse erstreckt, deren Erwerb der Erstverstorbene erwartet hat. Bestehen hinsichtlich der Erwartungsstrukturen des Erstversterbenen Zweifel, kann davon ausgegangen werden, daß er nicht erwartet hat, da wahrscheinlicher ist, daß jemand seinen Tod anhand seines gegenwärtigen Lebens verarbeitet, als daß er mit Blick auf die Zeit nach seinem Tode sich genau diesem widmet. Es gilt deshalb folgende Auslegungsregel: Auslegungsregel 6.2: Haben die Ehegatten im gemeinschaftlichen Testament keine ausdrücklichen Anordnungen dahingehend getroffen, daß ein Vermögenszuwachs des überlebenden 310 Werden die Erwartungen aufgrund nicht vorhersehbarer grundlegender Umstände enttäuscht, kommt eine im Wege ergänzender Testamentsauslegung ermittelte Freistellungsklausel in Betracht, siehe unten § 8 I 1. 311 Siehe zu den hierbei auftretenden Schwierigkeiten hinsichtlich einer Vermeidung einer beeinträchtigenden Wirkung bei den korrespektiv Endbedachten unten § 9 III 1.
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Teils, welcher nicht mit den Mitteln des vom Erstversterbenden Ererbten oder des dem überlebenden Teil im Zeitpunkt des Erstversterbens gehörenden Vermögens erworben wurde, das erbrechtliche Schicksal des ererbten Vermögens teilen soll, fällt der Vermögenszuwachs im Zweifel nicht unter die Bindung des § 2271 II BGB.
c) Beispiel III: Beschwerung kraft sittlicher Pflicht oder aus Anstand Die Notwendigkeit, den typisierten Ehegattenwillen immer wieder neu zu prüfen, kann zudem an der umstrittenen Frage verdeutlicht werden, ob der überlebende Ehegatte auch ohne ausdrückliche Bestimmung im gemeinschaftlichen Testament befugt ist, den durch eine wechselbezügliche Verfügung Endbedachten durch eine letztwillige Verfügung zu beschweren, mit der einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprochen wird312. Wenn der BGH dies mit der Begründung verneint, anders als bsp. in den §§ 1425 II, 1641 S.2, 1804 S.2 und 2113 II 2 BGB mache § 2271 BGB keine diesbezügliche Ausnahme und zudem sei ansonsten die Rechtssicherheit bedroht313, so ist dies nicht überzeugend. Falls das Gesetz die testamentarische Bindung an dem Schutz von Erwartungen ausrichtet – und daß es dies tut, dürfte mittlerweile einsichtig sein –, anerkennt es, daß Erwartungen durchaus flexibel sind. Rechtssicherheits-Erwägungen sind demnach von vornherein limitiert durch die flexible Natur menschlichen Erwartens. Die Anknüpfung an die §§ 1425 II, 1641 S.2, 1804 S.2 und 2113 II 2 BGB verschleiert dieses Problem, da es dort nicht um Erwarten, sondern um ganz andere Zusammenhänge geht. Allein der Hinweis auf die Rechtssicherheit würde demnach die Entscheidung des BGH tragen. Doch werden keine Kriterien angegeben, die die unterschiedliche Behandlung zwischen den §§ 1425 II, 1641 S.2, 1804 S.2 und 2113 II 2 BGB auf der einen und § 2271 II BGB auf der anderen Seite rechtfertigen. Beides mal geht es letztlich um die rechtliche Zuordnung von Gütern, und Aspekte der Rechtssicherheit spielen hier gleichermaßen eine Rolle. Der BGH wählt mithin für seine Auslegungsregeln einen verqueren Ausgangspunkt: Er müßte eigentlich fragen, ob die Ehegatten in eine Beschwerung aus sittlicher Pflicht oder Rücksichtnahme mutmaßlich eingewilligt haben oder nicht. Für diese Frage spielt eine systematisch-vergleichende Betrachtung diverser Normen des geltenden Rechts ersichtlich keine Rolle. 312 Vgl. verneinend BGH NJW 1978, 423; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 33; mit Rücksicht auf eine stillschweigende Ermächtigung bejahend OLG Köln, LZ 1928, 1710; KG OLGZ 1977, 457 (463); v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 501; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 25; einschränkend MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 18. 313 BGH NJW 1978, 423.
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Letztlich hängt die Entscheidung, ob der überlebende Ehegatte auch ohne ausdrückliche Bestimmung im gemeinschaftlichen Testament den Endbedachten mit Rücksicht auf eine sittliche Pflicht oder auf „Anstand“ letztwillig beschweren kann, wiederum von der Frage ab, wie es um den Bezug derartiger sittlicher Pflichten und von Anstand auf die Todesverarbeitung beider Gatten bestellt ist. Wäre der überlebende Teil hier gebunden, hieße dies nichts anderes, als daß er der Sozietät signalisieren muß, er entfalte seine Personalität in der Weise, daß er nicht gewillt sei, einer sittlichen Verpflichtung oder dem sozial erwarteten Anstand nachzukommen. Hinzunehmen ist dies nur, falls beide Gatten zum Zeitpunkt der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung (also im Zeitpunkt des Testierens) sich Rechenschaft über ihre sittlichen Pflichten und über die sozialen Zwänge des Anstands ablegt haben. Haben sie im gemeinschaftlichen Testieren den sittlichen Pflichten und dem geforderten Anstand nicht entsprochen, obwohl beides schon im Zeitpunkt des Testierens bewußt möglich gewesen wäre, bleibt der überlebende Ehegatte gebunden. Kommen auf den überlebenden Teil hingegen sittliche Pflichten zu, die im Zeitpunkt des Testierens noch gar nicht überblickbar waren (weil sich bsp. die sozialen Verhältnisse mittlerweile geändert haben), wird hingegen im Zweifel davon auszugehen sein, daß der Überlebende der sittlichen Pflicht und dem Anstand gemäß verfügen und damit sich im Gegensatz zum gemeinschaftlichen Testament stellen darf. Denn ansonsten würde der Sozietät durch die letztwillige Verfügung signalisiert, daß im Zweifel der Überlebende sein personales Selbst entgegen sittlicher Pflichten und entgegen den Gepflogenheiten des sozialen Anstands ausbilden will. Er darf dies sicherlich. Nur dürfte ein derartiges abweichendes Verhalten ein Ausdruck expressiver und ungezügelter Individualität darstellen, deren Häufigkeit schon aufgrund der den einzelnen abrichtenden Kraft der sozialen Genese des Selbst im Prozeß der Sozialisation durchweg geringer sein wird, als die Erfüllung sittlicher Pflichten. Ist dem so, wäre die umgekehrte Zweifelsregelung (also im Zweifel Bindung trotz sittlicher Pflicht) hart am Rande einer irrealen Willensfiktion und kommt deshalb als Ausdruck eines hypothetischen Willens nicht in Betracht. Derartige irreale Willensfiktionen müssen vermieden werden. Dies gilt auch für die Frage, ob die Gatten im Zeitpunkt des Testierens ihre damaligen sittlichen Pflichten tatsächlich überblickt haben. Nur falls für die Ehegatten konkrete Anhaltspunkte hinsichtlich der sittlichen Pflicht bestanden haben und sie ihr gleichwohl nicht nachgekommen sind, tritt Bindung auch hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht ein. Insgesamt gesehen sollte also davon ausgegangen werden, daß konkrete Anhaltspunkte (in oder außerhalb der Verfügung) gefunden werden müssen, die Ehegatten möchten sich auch für den Fall gebunden sehen, daß der überlebende Teil sich einer sittlichen Pflicht oder durch Gepflogenheiten des Anstands in Anspruch genommen sieht.
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Es gilt deshalb folgende Auslegungsregel: Auslegungsregel 6.3: Haben die Ehegatten im gemeinschaftlichen Testament keine ausdrückliche Bestimmung darüber getroffen, ob der überlebenden Teil befugt ist, nach dem ersten Todesfall den durch eine wechselbezügliche Verfügung Bedachten durch eine letztwillige Verfügung zu beschweren, mit der einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht entsprochen wird, ist er im Zweifel hierzu befugt. Umgekehrtes gilt, wenn sich die Inanspruchnahme des Überlebenden durch Gepflogenheiten sittlicher Pflichten oder des Anstands schon im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens für die Gatten konkret abgezeichnet hat. 3. Die gesetzliche Auslegungsregel des § 2270 II BGB
a) Typisierende Einschränkungen der Typisierung des § 2270 II BGB? Die Rekonstruktion der ehelichen Interaktion wird schließlich durch die gesetzliche Auslegungsvorschrift des § 2270 II BGB überlagert. § 2270 II BGB folgert aus einem gegenseitigen Bedenken der Gatten (erster Fall) oder aus dem Umstand, daß der eine Gatte den anderen bedenkt und dieser andere wiederum letztwillig zugunsten Dritter verfügt, die mit dem einen Gatten verwandt sind oder diesem nahestehen (zweiter Fall) bestimmte Motivlagen und deren Verknüpfungen (nämlich Korrespektivität). Diese Typizität reicht jedoch nicht immer zur Annahme einer bindungsbewirkenden Reziprozität und damit zur Wechselbezüglichkeit hin; § 2270 II BGB zeichnet dies nach, indem diese Vorschrift Korrespektivität nicht fingiert, sondern nur als typische Auslegung annimmt314 oder vermutet315. Die in § 2270 II BGB niedergelegte Typik kann mithin durch die in einzelnen Lebensbereichen herrschende Typizität unterlaufen werden. Sehr deutlich zeigt dies der häufige Fall, daß die Ehegatten M und F einander zu Alleinerben und das gemeinsame Kind als Schlußerben des Überlebenden berufen (Einheitslösung) oder sich gegenseitig als Vorerben und das Kind als Nacherbe des Erstversterbenden und als Ersatzerben des Längstlebenden einsetzen (Trennungslösung). Nach ganz h. M.316 liegt bei der Trennungslösung Wechselbezüglichkeit zwischen den Vorerbeneinsetzungen durch die Ehegatten, zwischen der Einsetzung des M als Vorerbe der F und der Einsetzung des K als Nacherbe des M und schließlich zwischen der Einsetzung der F als Vor314
Siehe nur Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 7. Die Rechtsnatur des § 2270 II BGB ist streitig. Als Vermutung sieht MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 9, die Vorschrift an. 316 BayObLGZ 1964, 94; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2270 Rn. 19; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 12; Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 28; SoergelManfred Wolf, § 2270 Rn. 9; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 II 1. Vgl. zu dem Fall auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1274 f.). 315
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erbin des M und der Einsetzung des K als Nacherbe der F und umgekehrt. Da nun nicht anzunehmen sei, daß ein Ehegatte das gemeinsame Kind nur deshalb bedenke, weil der andere ebenso verfüge317, läge hingegen keine Wechselbezüglichkeit zwischen der Einsetzung des K als Nacherbe des M und der korrespondierenden Einsetzung als Nacherbe der F. Bei der Einheitslösung läge Wechselbezüglichkeit zwischen der Einsetzung des M durch die F und der des F durch die M, zwischen der Einsetzung des M durch die F und der des K durch den M sowie schließlich zwischen der Einsetzung der F durch den M und der des K durch die F, nicht hingegen zwischen der Berufung des K durch den M und der des K durch die F vor318. Anders gesagt: Mit Ausnahme der Verfügungen, durch die jeder Elternteil die gemeinschaftlichen Abkömmlinge zu Erben einsetzt, sind herrschender Ansicht nach sämtliche Verfügungen sowohl bei der Einheits- als auch bei der Trennungslösung wechselbezüglich. Es fragt sich nur, ob dieser Zuschnitt der Wechselbezüglichkeit dem normativen Realtypus ehelicher und familiarer Verbundenheit in jeder Beziehung entspricht. Die h. M. überdehnt die Sozialtypik, soweit sie davon ausgeht, daß die F ihr Kind K in der Regel deshalb zum Schluß- oder Nacherben einsetzt, weil M die F als Voll- bzw. Vorerbin eingesetzt habe und umgekehrt. Denn es kann auch durchaus in der Regel in einigen Fallgestaltungen anders sein. Typischerweise sind familiare Ausgleichsbeziehungen über Generationen zwar in ein Netz von über den gesamten Lebenslauf getätigten Austauschbeziehungen integriert319. In der konkreten Verknüpfung der Verfügungen zugunsten des gemeinsamen Kindes und der eigenen Einsetzung durch den anderen Gatten ist ein Austauschverhältnis jedoch eher lebensfremd. Die h. M. ist hier noch zu sehr von zweiseitigen Abhängigkeitsverhältnissen geprägt320: Die Einsetzung des K durch M wird zwar für die F Anlaß sein, dem M zu ihrem Vorerben einzusetzen; hier liegt mithin Wechselbezüglichkeit vor. Entgegen der h. M. setzt M sein Kind aber nicht deshalb ein, weil er von seiten der F als deren Vorerbe eingesetzt worden ist, sondern wird es auf jeden Fall eingesetzt haben wollen. Die Wechselbezüglichkeit liegt mithin nicht umgekehrt vor321. § 2270 II Alt. 2 BGB greift demnach zwar seinen Voraussetzungen nach, dennoch kommt die grobe Ty317 BayObLG, RPfleger 1985, 445; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2270 Rn. 19; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 12; Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 28; Erman-M. Schmidt, § 2270 Rn. 2; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 II 1; Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1274 f.). 318 Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 28; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 12; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 II 1. 319 Marbach, in: Bien (Hrsg,), Eigeninteresse und Solidarität, 163 ff.; Lauterbach/Lüscher, KZfSozSoz-psy 25 (1996), 66 (72). Dazu schon oben § 5 II 2. 320 So auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1275). 321 So auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1275).
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pik des § 2270 II BGB aufgrund der vorrangigen Typizität des familiaren Nahbereichs nicht zum Tragen. Es bestehen mithin richtigerweise bei der Trennungslösung folgende Abhängigkeitsverhältnisse: Die Einsetzung
hängt ab von der Einsetzung
des M als Vorerbe der F
der F als Vorerbe des M
des M als Vorerbe der F
des K als Nacherbe der F und Ersatzerbe des M
der F als Vorerbin des M
des M als Vorerbe der F
der F als Vorerbin des M
des K als Nacherbe des M und Ersatzerbe der F
Die Einsetzung
hängt nicht ab von der Einsetzung
des K als Nach- und Ersatzerbe des M
des M als Vorerbe der F
des K als Nach- und Ersatzerbe der F
der F als Vorerbe des M
Bei der Einheitslösung gilt gleiches: Die Einsetzung
hängt ab von der Einsetzung
des M als Alleinerbe der F
der F als Alleinerbe des M
des M als Alleinerbe der F
des K als Schlußerbe des M
der F als Alleinerbin des M
des M als Alleinerbe der F
der F als Alleinerbin des M
der K als Schlußerbe der F
Die Einsetzung
hängt nicht ab von der Einsetzung
des K als Schlußerbe des M
des M als Alleinerbe der F
des K als Schlußerbe der F
der F als Alleinerbin des M
Der eine Gatte wird die Einsetzung des gemeinsamen Kindes als Nacherben durch den anderen Teil typischerweise nicht als Folge der durch ihn erfolgten Bedenkung des anderen Gatten als Vorerben ansehen und sieht sich damit insoweit auch keinen Erwartungen des anderen ausgesetzt. Die Wirkungen sind durchaus praktisch relevant. Gesetzt den Fall von den Kindern K1 und K2 sei K1 von F über seinen gesetzlichen Erbteil hinaus bedacht worden, etwa in der Erbquote gegenüber K2 begünstigt oder sogar als Alleinerbe unter bewußter Beschränkung des K2 auf den Pflichteil. Wenn nun M die Einsetzung der F zu seiner Vorerbin zu Lebzeiten wirksam widerruft, wäre nach den Prämissen der h. M. die Einsetzung des K1
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
als Nach- und Ersatzerbe der F unwirksam. K1 wäre demnach nicht quotal gegenüber K2 bevorzugter, testamentarischer Ersatzerbe oder Ersatz-Alleinerbe der F und wäre auf die gesetzliche Erbfolge verwiesen. Dies wiederum entspricht ersichtlich nicht dem Willen der F, wenn K1 – wie hier – über das gesetzliche Erbteil hinaus eingesetzt war und F nicht mehr neu testiert322. Zwar ist allein die Tatsache, daß nicht neu testiert worden ist, weil sich F dieser Notwendigkeit nicht bewußt war, noch kein Grund, die F zu schützen323. Es kann ja erwartet werden, daß F als selbstverantwortliche Rechtsperson sich über etwaige Testiernotwendigkeiten ihrerseits Rechenschaft ablegt324. Der Grund für die bloß einseitige Abhängigkeit der Einsetzung als Vorerbe von der des Kindes als Nach- und Ersatzerbe liegt vielmehr darin, daß typischerweise jeder Elternteil unabhängig von seiner eigenen Bedenkung durch den je anderen Teil gerade mit Blick auf seinen eigenen Tod seinen Abkömmling bedacht sehen will. Die Lehren, welche aus diesem Beispiel gezogen werden können, lauten demnach, daß § 2270 II BGB zwar in die eheliche Interaktion die beschriebenen typischen Routinen einziehen will, diese Routinen können jedoch durch gleichfalls durch den Rechtsanwender in der sozialen Wirklichkeit aufgefundene Typizitäten gleichsam ihrer prägenden Kraft so entkleidet werden, daß § 2270 II BGB im jeweiligen Fall nicht angewendet werden kann. § 2270 II BGB steht demnach nicht nur unter dem Vorbehalt einer anderen Regelung im konkreten Fall, sondern auch unter dem Vorbehalt, daß sich keine typisierend gefundenen Interaktionsmuster finden lassen, die der Vermutungsregelung widerstreiten. Der normative Grund für diese Überlagerung des § 2270 II BGB durch eheliche Interaktionstypen besteht in dem Schutz der Todesverarbeitung der Gatten. Dürfte die sehr grobe Typik des § 2270 II BGB nicht durch sonstig gefundene feinmaschigere Interaktionstypen unterlaufen werden, wäre die ja als äußerst individuelle Leistung vom Gesetz avisierte Todesverarbeitung in einem sehr starken Maße ent-individualisierten Handlungsmustern unterworfen. Dies widerspräche aber der personfunktionalen Gründung des gewillkürten Erbrechts. b) Der Begriff der Verwandten und des Nahestehens i. S. § 2270 II BGB Die herrschende Meinung versteht unter „verwandten Personen“ i. S. § 2270 II BGB sämtliche Verwandte gem. § 1589 BGB, ohne eine Nähebeziehung des Verwandten zum Erblasser vorauszusetzen325. Überzeugend ist dies nicht. Gesetzt den Fall, eine Bedenkung eines Verwandten 322 323 324
Vgl. auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1275). Anders wohl Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1275). Siehe dazu oben § 4 II 3 c.
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führt nach der h. M. zu einer Bindung des Testierenden nach § 2271 II BGB i.V. m. § 2270 I, II BGB. Wo liegt der rechtfertigende Grund für eine derartige Einschränkung personaler Entfaltung? Gemeinhin braucht die Rechtsperson nur mit Verpflichtungen (etwa aufgrund eingetretener Unterhaltspflichten) zu rechnen, wenn es um die nähere Verwandtschaft geht. Zudem sind erbrechtlich Verwandtschaftsinteressen nur über das Pflichtteilsrecht geschützt, das als einziges Signum erbrechtlicher Familiarität 326 familiare Beziehungen im Erbrecht schützt. Außerhalb derartiger Regelungen ist Verwandtschaft zuerst einmal nichts als ein bloß genetisches Band zwischen Personen. Ausschlaggebend gegen den Einbezug des in § 1589 BGB aufgeführten Personenkreises in § 2270 II BGB spricht jedoch, daß dieser Personenkreis keinen inneren Bezug zum Sinn und Zweck der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments aufweist. Dieser Sinn liegt im Schutz des Persönlichkeitsrechts des Erstversterbenden. Es bleibt unerfindlich, wieso dieser typischerweise Wert darauf legen soll, daß der überlebende Teil nicht neu testiert, nur weil dieser einen Verwandten des Erstverstorbenen letztwillig bedacht hat, mit dem den Erstverstorbenen abgesehen vom genetischen Band nichts verbindet. Dem Erstverstorbenen wäre die Bindung des Überlebenden doch typischerweise allenfalls dann wichtig, wenn der Verwandte ihm, dem Erstverstorbenen, nahe gestanden hätte. Genau dies ist für die h. M. jedoch irrelevant. Nach all dem kann es mithin nur darauf ankommen, ob der von dem einen Gatten bedachte Verwandte dem anderen Teil nahesteht. Der Gesetzeswortlaut spricht nicht gegen diese Auslegung. Der Begriff „sonst“ kann nicht nur beiordnend, sondern auch über-unterordnend verstanden werden, so daß der Fall der Verwandtschaft einen Unterfall des Nahestehens bildet327. Es bleibt freilich zu erklären, warum das Gesetz dann überhaupt noch Verwandtschaft und Nahestehen unterscheidet. Dies wiederum dürfte mit Nachweisproblemen zu erklären sein. Typischerweise werden als Verwandte ja nicht irgendwelche sehr entfernt verwandte Personen bedacht, sondern etwa Nichten oder Neffen des Erstversterbenden328. Eine Nähebeziehung dürfte hier zumeist anzunehmen sein. Die Differenzierung des Gesetzes zwischen Verwandten und Nahestehenden ergibt vor diesem Hintergrund dann Sinn, wenn diese Differenzierung eine Zweifelsrege325
BayObLG, DNotZ 1977, 40 (42); KG, RPfleger 1983, 26; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 13; Erman-Schmidt, § 2270 Rn. 5; Palandt-Edenhofer, § 2270 Rn. 8; Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 7; RGRK-Johannsen, § 2270 Rn. 18. 326 Dazu unten § 42 II. 327 So auch Ritter, Konflikt, 104 f. 328 Dieses Beispiel ist deshalb gewählt, weil § 2270 II BGB richtigerweise für gemeinsame Kinder ja nicht greift, siehe oben § 6 III 3 a.
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lung in der Art beinhaltet, daß im Sinne von § 2270 II BGB bedachte Verwandte dem Erblasser im Zweifel auch nahestehen. Der überlebenden Teil wird mithin darauf verwiesen, bei einer Bedenkung von Verwandten den Gegenbeweis des Nicht-Nahestehens zu führen, um seine Testierfreiheit wieder zu erlangen. Es bleibt der Begriff der „nahestehenden Person“. Hierzu müssen nach der h. M. unter Anlegung eines strengen Maßstabs329 solche engen persönlichen Beziehungen bestehen, die mindestens dem üblichen Verhältnis zwischen Verwandten entsprechen330. Nun bleibt unklar, welches dieses „übliche Verhältnis“ denn nun genau ist. Unter Verwandten können sowohl sehr enge als auch gar keine Beziehungen bestehen, da das empirische Faktum eines genetischen Bandes ja keine Aussagen zum Grad personaler Verbundenheit trifft – zu einer Verbundenheit zudem, hinsichtlich der sich Üblichkeiten in einer ausdifferenzierten und individualisierten Gesellschaft sowieso wenig ausmachen lassen, wenn nicht das Leitbild einer bürgerlichen Familie allen Familien als Leitbild anempfohlen werden soll. Die richtige Richtung weist auch hier wieder der Bezug zwischen „Nahestehen“, dem Persönlichkeitsschutz des Erstversterbenden und dem Persönlichkeitsschutz des überlebenden Teils, welcher eventuell nochmals sein „Sein zum Tode“ letztwillig zu entfalten wünscht. Eine zu weite Handhabe des Begriffs „nahestehende Person“ würde zu einer weitgehenden Aushöhlung der Testierfreiheit des Überlebenden führen. Der Begriff muß deshalb zu Recht eng ausgelegt werden. Was im weiteren dann unter Nahestehen begriffen werden muß, zeigt wiederum ein Blick auf den Sinn und Zweck der testamentarischen Bindung. Eine Person steht dem Erstversterbenden nach Sinn und Zweck der testamentarischen Bindung nahe, wenn sie für dessen Todesverarbeitung eine ausschlaggebende Bedeutung hat. Es kommt also nicht primär auf „besonders gute persönliche Beziehungen und innere Bindungen“ an, „die über das normale Maß des verträglichen Miteinanderauskommens hinausgehen“331, sondern auf das Gewicht des jeweilig Drittbedachten zur Todesverarbeitung des Erstversterbenden. Für diese können auch juristische Personen äußerst wichtig sein, so daß nicht nur natürliche Personen die Auslegungsregel des § 2270 II BGB erfüllen können332. Pointiert gesagt, 329 BayObLG, DNotZ 1977, 42; FamRZ 1984, 1154 (1155); 1985, 1287 (1289); 1991, 1232 (1234); 1994, 191 (193); 1999, 1541 (1543); KG, FamRZ 1993, 1251; MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 13; Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 31; SoergelManfred Wolf, § 2270 Rn. 7. 330 BayObLG, RPfleger 1983, 155; 1985, 240; FamRZ 1986, 604 (606); KG, FamRZ 1993, 1251 (1253); MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 13; Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 31; Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 7; Bengel, DNotZ 1977, 5 (8). 331 Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 7, dort beide Zitate. 332 So aber Staud-Kanzleiter, § 2270 Rn. 31.
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kann im Ruhrgebiet die durch den einen Gatten vorgenommene Bedenkung eines Taubenzüchtervereins für die Todesverarbeitung des anderen Teils genauso ausschlaggebend sein, wie die Bedenkung der Carl-Zeiss-Stiftung durch Ehegatten, die in Jena leben. Das „Nahestehen“ braucht demnach kein Nahestehen i. S. einer personalen Verbundenheit oder einer inneren Bindung zwischen Menschen sein. Entscheidend ist allein der Bezug des Drittbedachten zur Todesverarbeitung des Erstversterbenden. Es kann deshalb auch sein, daß zwischen einander entfremdeten Eltern und Kindern genau jenes Maß an „Nahestehen“ nicht vorhanden sein kann, welches die Vermutungsregel des § 2270 II BGB trägt. 4. Die Entscheidung in Zweifelslagen
Soweit die Auslegungsregel des § 2270 II BGB nicht greift, entscheidet das Gericht nach seiner freien Überzeugung über das Vorliegen der Wechselbezüglichkeit, § 286 ZPO. Nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen trifft die Beweislast denjenigen, der aus der Wechselbezüglichkeit Rechte herleiten will333. Doch auch materiell-rechtlich ist es einsichtig, im Zweifel von einer fehlenden Wechselbezüglichkeit auszugehen. Denn alles andere würde dazu führen, daß im Zweifel eine im Persönlichkeitsschutz gegründete Erwartung geschützt ist, obwohl damit ohne Zweifel ein Eingriff in Persönlichkeitsrechte Dritter (nämlich in die Testierfreiheit des Überlebenden) verbunden ist. Dritte müssen Eingriffe in ihre Rechte jedoch nur hinnehmen, wenn der Eingriffstatbestand in vollem Umfang gegeben ist; Zweifel reichen hier regelmäßig nicht hin. Daran ändert auch die Einsicht nichts, daß das gemeinschaftliche Testament bei Lichte betrachtet unter Persönlichkeitsrechtsgesichtpunkten eine Art „Risikogeschäft“ darstellt, da zumindest bei wechselseitiger Wechselbezüglichkeit der Erstverstorbene praktisch „gewonnen“ hat, nämlich einen postmortalen Schutz seiner Persönlichkeit. Dieser Einwurf ist nicht relevant. Das übernommene Risiko steht ja immer unter dem Vorbehalt, daß es auch tatsächlich übernommen worden ist. Das Gesetz hat im übrigen die Nachweisschwierigkeiten hinsichtlich der Wechselbezüglichkeit gesehen und auf sie – wie schon ausgeführt – mit einer materiellrechtlich eingekleideten Absenkung der Substantiierungslast und des Beweismaßes reagiert, da Reziprozität nur „anzunehmen“ zu sein braucht334. Es bleibt also dabei: Bei Zweifeln ist eine Verfügung nicht wechselbezüglich.
333 BayObLG, FamRZ 1980, 505; 1985, 1287 (1289); 1986, 392 (395); 1991, 1232 (1234); Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 8; siehe auch MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 9. 334 Siehe oben § 6 III 1.
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments 5. Gemeinschaftliches Testament und Erbvertrag
Beim Erbvertrag fühlen sich die Ehegatten typischerweise durch die Willenserklärung des je anderen belohnt. Erbvertragliche Verfügungen müssen zwar nicht wechselbezüglich sein; der Erbvertrag ist gleichwohl in seiner Struktur natürlich reziprok angelegt, da im Vertragsschluß Willenserklärungen gewissermaßen „ausgetauscht“ werden. Nur tritt die bindende Wirkung des Erbvertrags aufgrund der rechtlichen Bindungswillen ein335. Der Unterschied des gemeinschaftlichen Testament mit korrespektiven Verfügungen zum Erbvertrag liegt somit gerade nicht in der vermeintlich nur beim wechselbezüglichen Ehegattentestament bestehenden Notwendigkeit einer Gratifikation (beim Erbvertrag gratifiziert ja schon die jeweilige vertragliche Willenserklärung des einen den anderen), sondern allenfalls im Formprivileg, in dem schon mit Vertragsschluß336 eintretenden Schenkungs- und Beeinträchtigungsschutz der §§ 2287 f. BGB und schließlich in der ex lege statuierten Widerrufsmöglichkeit des gemeinschaftlich Verfügten zu Lebzeiten, während erbvertraglich derselbe Erfolg nur bei einem vereinbarten Rücktrittsvorbehalt eintreten kann. Nun kommt es bei wechselbezüglich Verfügtem strenggenommen zu einer Bindung, die – in vertragsrechtliche Kategorien übersetzt – auf eine positive Erfüllungshaftung hinauslaufen würde337, obwohl beim Vertrauensschutz zumeist nur ein auf das negative Interesse gerichteter Schutz für angemessen erachtet wird338. Zwar könnte man eine positive „Erfüllungshaftung“ des überlebenden Teils noch mit der Irreversibilität der Vertrauensdisposition post mortem339 (nämlich mit der Entwertung der geleisteten psychischen Gratifikation) oder des Verzichts des Vertrauenden auf Vorteile unwägbarer Art340 begründen, doch dies entlastet nicht von der Aufgabe, daß durchschlagende normative Gründe für einen Übergang des Willens335 Hier bestätigt sich die eingangs § 4 II 3 a getroffene Vermutung, das gemeinschaftliche Ehegattentestament könnte hinsichtlich der Erklärung seiner Bindungswirkung in die Begründungsstrukturen der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre eingeordnet werden. Denn hierzu bestehen dann gute Chancen, wenn die Bindung an die Obligation letztlich auf Vertrauen gegründet (vgl. dazu die Nachweise oben § 4 II 3 a) und Vertrauen in Erwartung rückübersetzt wird. 336 Siehe Nieder, Handbuch der Testamentsgestaltung, Rn. 585. 337 Wie sie im Bereich der vermögensrechtlichen Vertrauenshaftung bsp. von Kramer, Grundfragen, 204 ff.; v. Craushaar, Vertrauen, 45 f.; Meier-Hayoz, Vertrauensprinzip, 87 f., 112, 122 ff.; Drexelius, Irrtum, 7 ff.; Soergel-Hefermehl, § 119 Rn. 2, befürwortet wird. 338 Vgl. nur Singer, Selbstbestimmung, 91 ff. 339 Wie dies auch im Bereich der vermögensrechtlichen Vertrauenshaftung von denjenigen vorgeschlagen wird, die ansonsten einen negativen Schutz vorziehen, vgl. nur Canaris, Vertrauenshaftung, 295 f., 299 f., 531; Singer, Selbstbestimmung, 112 ff.
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auf das Vertrauensprinzip gefunden werden müssen; gilt doch die letztwillige Verfügung für die Vertreter eines Erbrechtsverständnisses, die das Erbrecht als fortgesetztes Eigentum verorten, als ein genuiner Ausdruck einer privatautonomen Selbstbestimmung jenseits aller vertrauenstheoretischer Zurechnung. Wie läßt sich also erklären, daß dieselben Rechtsfolgen, für die sonst ein Akt schöpferischen Parteiwillens erforderlich ist, nun auf Grund einer Norm eintreten, die ein bestimmtes Verhalten für rechtlich relevant erklärt und dies mit Bindung sanktioniert – und dies vor dem Hintergrund, daß der Gesetzgeber nicht willkürlich von der rechtlich anerkannten autonomen Bindung kraft Testierfreiheit (paradigmatisch: Erbvertrag) zur heteronomen Bindung kraft Erwartungsschutz (paradigmatisch: wechselbezügliches Ehegattentestament) greifen darf341? Anders gesagt: Wie ist es um das Verhältnis zwischen Errichtungszusammenhang und Form und damit um das Verhältnis von Bindung kraft gemeinschaftlichen autonomen Willen (Erbvertrag) und kraft heteronomen Vertrauen (Ehegattentestament) bestellt? Nun ist es schwierig zu erklären, wieso ein vor dem Notar errichtetes gemeinschaftliches Testament mit korrespektiven Verfügungen nur einen Erwartungsschutz und diesen auch nur nach dem Ableben des Erstversterbenden (abgesehen von dem durch die Formvorschrift des § 2271 I BGB begründeten formalen Schutz) begründet, während der in ebenfalls notarieller Form geschlossene Erbvertrag auch ohne konkret gewährtes Vertrauen schon kraft privatautonomen Willens bindet342; allein die bloße Bezeichnung des Geschäftstyps dürfte bei gleichem Errichtungszusammenhang ja kaum ausreichen, wenn die Verfügungen inhaltlich identisch sind343. Die Unterscheidung zwischen den beiden Verfügungsarten könnte prima facie zuallererst nach dem Willen der Ehegatten erfolgen: wenn Bindung gewollt ist, läge ein Erbvertrag vor, wenn ein Zusammenhang im Motiv, ein ge340 Mit diesem Topoi begründet Stoll, FS Flume I, 741 (757), daß die Vergütung des materiellen Vertrauensschadens oftmals unzureichend sei. 341 Die parallele Frage stellt Bydlinski, Privatautonomie, 61 f., für den Bereich des Vertragsrechts. 342 Die Akzente würden freilich dann anders gesetzt, wenn der Grund der vertraglichen Bindung primär im Vertrauen angesiedelt wird, dazu Bydlinski, Privatautonomie, 67 ff., 136; Radbruch, Rechtsphilosophie, 245; Larenz, Methode, 485; Bassenge, Versprechen; Comes, Rechtsfreie Raum, 47 f.; v. Craushaar, Vertrauen, 36 ff., 51 ff., 58 ff., 62 ff. Vgl. dazu auch Jürgen Schmidt, Vertragsfreiheit, 88 f.; Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, 169 ff. 343 So auch Battes, Vermögensordnung, 259; vgl. auch Bosch, FamRZ 1977, 275. Hier kommt es nur auf die Frage nach dem Bindungsgrund an. Die Unterschiede, welche zwischen gemeinschaftlichem Testament und Erbvertrag hinsichtlich der jeweiligen Vor- und Nachteilen der Gestaltung verbunden sind (dazu nur Nieder, Handbuch der Testamentsgestaltung, Rn. 583 f., 585 f.), spielen für diese Frage nach dem Grund rechtlicher Bindung keine Rolle.
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meinschaftliches Testament. Doch ist eine solche Differenzierung angesichts der Errichtung vor einem beratenden Notar ganz unpraktisch. Zudem würde bei dieser Differenzierung gerade von der impliziten Prämisse ausgegangen, ein Bindungswille könne nicht auch im Kontext des gemeinschaftlichen Testaments auftreten, ohne zu verhindern, daß eben ein solches vorläge; genau dies geht aber nicht an, da ein gemeinsamer Bindungswille durchweg indizieren wird, jeder der Gatten habe verfügt, weil der andere so und nicht anders verfügt habe. Als Grund käme weiter die verschiedene Bindungswirkung zwischen gemeinschaftlichem Testament und Ehegattenerbvertrag zu Lebzeiten in Frage. Doch auch hier führt ein mangelnder Bindungswille zu Lebzeiten nicht automatisch zur Annahme eines gemeinschaftlichen Testaments, da auch ein erbvertraglicher Rücktrittsvorbehalt vereinbart sein könnte. Der Unterschied zwischen Erbvertrag und gemeinschaftlichem Testament schrumpft hier hinsichtlich der Bindungswirkung zu Lebzeiten auf die Unzulässigkeit eines Totalvorbehalts beim Erbvertrag344. Es bleibt mithin immer die Frage offen, warum vom Willens- auf das Vertrauensprinzip übergegangen werden darf. Richtigerweise sollte bei der Beantwortung dieser Frage wie folgt differenziert werden: In beiden Verfügungsformen steht zwar ein reziprok strukturierter Austausch von sozialen Leistungen in Rede, und zwar beim Erbvertrag die jeweils „ausgetauschten“ Willlenserklärung und beim wechselbezüglichen Ehegattentestament nicht nur die symbolischen Implikationen des gemeinschaftlichen Verfügens, sondern auch die wechselseitige Beeinflussung der jeweiligen Todesverarbeitung. Dem Erbvertrag kommt damit zwar immer ein reziproker Charakter zu, er muß aber nicht immer auch wechselbezügliche Verfügungen enthalten. Enthält er derartige Verfügungen aber nicht – wie beim einseitigen Erbvertrag –, läßt der nicht letztwillig verfügende Vertragspartner auch nicht die Todesverarbeitung des erbvertraglich verfügenden Erblassers in seine eigene Todesverarbeitung als grundlegendes Moment der Ausprägung seines personalen Selbsts einfließen, da er ja gerade nicht letztwillig verfügt und damit seinen eigenen Tod erbvertraglich nicht verarbeitet. Will der Erblasser gleichwohl gebunden sein, leistet dies nur das vertragliche Willensprinzip. Schwierig wird es demnach nur, wenn sowohl der Ehegattenerbvertrag als auch das notarielle gemeinschaftliche Testament wechselbezügliche Ver344 So zumindest die herrschende Meinung, vgl. BGHZ 26, 204 (208); BGH, MDR 1958, 223; BGH, WM 1970, 482; BGH, NJW 1982, 441 (442 f.); MünchKomm-Musielak, § 2278 Rn. 16; Staud-Kanzleiter, § 2278 Rn. 12; Soergel-Manfred Wolf, § 2278 Rn. 7. Für Zulässigkeit eines Totalvorbehalts hingegen v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 427; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 25 VI 4. Zum Streitstand siehe jüngst Ritter, Konflikt, 179 ff.
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fügungen enthalten. Nur hier stellt sich mithin die Frage, wieso ein Übergang vom Willens- zum Vertrauensprinzip statthaft sein soll, obwohl sich die Geschäfte bei Lichte betrachtet nur in der Bezeichnung und in der Unzulässigkeit eines erbvertraglichen Totalvorbehalts unterscheiden. Nun hat bereits der historische Gesetzgeber herausgestellt, daß zwischen einem gemeinschaftlichen Testament und einem unter Rücktrittsvorbehalt abgeschlossenen Erbvertrag kein wesentlicher Unterschied bestünde345. Der Grund für die gesetzlich vorgesehene „Verdopplung der Rechtsform“ wurde im Psychologischen gefunden: Ehegatten würden erbvertraglich kaum einen Rücktrittsvorbehalt erklären, so daß ihnen mit dem gemeinschaftlichen Testament ein quasi-Vertragstypus bereitgestellt werden müsse, der zu Lebzeiten beider Gatten einen Rücktritt nicht ex lege verschließt346. Und in der Tat läßt sich mit dieser Erwägung ein Übergang vom Willens- zum Vertrauensprinzip rechtfertigen. Denn soweit die Ehegatten sich durch tradierte Handlungsroutinen des gemeinhin gepflegten ehelichen Sozialverhaltens typischerweise gehindert sehen, selbst für einen lebzeitigen Schutz der Ausprägung ihres „Seins zum Tode“ per Erbvertrag Sorge zu tragen347, ist es nur folgerichtig, daß das Gesetz das Willensprinzip durch das mit Blick auf die Bindungswirkung funktional äquivalente Vertrauensprinzip dort ersetzt, wo der Rekurs auf den Willen faktisch versagt. Ansonsten bestünde die Gefahr, daß die Todesverarbeitung intim zugewandter Personen schlechter geschützt wäre als die jener, welche sich in einem geringeren Maße affektiv verbunden fühlen und deshalb von vornherein auf den Erbvertrag ausweichen348. Die rechtliche Sorge um den faktisch wirksamen Schutz personaler Rechte hat hier das Gesetz geleitet. Der Übergang vom Willenszum Vertrauensprinzip gründet mithin im Persönlichkeitsschutz des Erstversterbenden.
345
Vgl. Prot., Mugdan V., 724. Prot., Mugdan V., 726. 347 Zur Einsicht, daß bei tiefen sozialen Beziehung der Rekurs auf Recht oftmals zur Irritation der Beziehung, wenn nicht sogar zum Beziehungsabbruch führen kann, siehe nur Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 133 ff. (bezogen auf das gerichtliche Verfahren). Ein ähnlicher Bezug auf das Recht liegt vor, wenn ein Ehegatte auf einen erbvertraglichen Rücktrittsvorbehalt insistiert und damit mangelndes Vertrauen dem anderen Teil gegenüber signalisiert. 348 Deshalb liegt auch kein Widerspruch in der obigen Argumentation vor, nach der eine vertrauenstheoretische Gründung der testamentarischen Bindung u. a. auch mit Erwägungen zum Testierverhalten kritisiert worden ist. Dort ging es um die Begründung der Bindung, hier um die Begründung der Loslösung von der Bindung – und hier können Testiergewohnheiten relevant sein, da ein Rechtseingriff (wie bei der Bindung) nicht in Rede steht (sondern nur eine Entwertung von Erwartungen). 346
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IV. Der relevante Verständnishorizont bei der Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments Bei der Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments weicht die herrschende Meinung von dem für Testamente gemeinhin geltenden Willensdogma des § 133 BGB ab. Es soll vielmehr auf den gemeinsamen Willen beider Ehegatten ankommen, so daß stets zu prüfen sei, ob ein nach dem Verhalten des einen Erblassers mögliches Auslegungsergebnis auch dem Willen des anderen Teils entsprochen habe349. Bei wechselbezüglichen Verfügungen wird zudem expressis verbis wegen der Verkehrsgerichtetheit der Erklärung und der Schutzbedürftigkeit des einen Ehegatten im Hinblick auf die Erklärung des anderen auf den erkannten und hilfsweise auf den erkennbaren Erklärungssinn die Regelung des § 157 BGB analog angewendet350. Demgegenüber soll bei nichtwechselbezüglichen Verfügungen nach überwiegender Ansicht351 das reine Willensdogma ohne Analogie zu § 157 BGB durchgeführt werden352. Der Verweis auf § 157 BGB ist freilich mißverständlich. Im Rahmen der Auslegung wechselbezüglicher Ehegattenverfügungen kann es nicht auf den normativen Maßstab eines verständigen Erklärungsempfängers mit einem spezifisch zugeschnittenen Verständnishorizont ankommen, wie er im Vertragsrecht die Auslegung von Willenserklärungen leitet353. Die Rechtsperson besitzt ja gerade nicht die Pflicht, ihre eigene Persönlichkeit so zu entfalten, daß Dritte diese verstehen. Es ist ja gerade rechtlich geschütztes Signum personaler Entfaltung, sich expressiv-unverständlicher Ausdrucksformen zu bedienen, sich höchst eigenwilligen Inszenierungen des Selbst hinzugeben und nicht zuletzt auch vor „Spinnerei“ nicht zurückzuschrekken354, deren Verständnis nicht jedermanns, erst recht nicht eines verständi349
BGH NJW 1951, 959 (960); BGHZ 112, 229 (233); NJW 1993, 256; Dittmann-Reimann-Bengel, vor § 2265 Rn. 20 und § 2069 Rn. 14. 350 Vgl. BGH NJW 1993, 256 (ohne direkten Bezug zur Wechselbezüglichkeit); RGRK-Johannsen, § 2084, Rn. 10; Palandt-Edenhofer, § 2084 Rn. 1 und vor §§ 2265 ff. Rn. 12; Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51; MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 24, § 2269 Rn. 15; Brox, Erbrecht, Rn. 223; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 413; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 33 III 7 b.; danach differenzierend, ob der Verfügung eine Leistung gegenüber steht Brox, Irrtumsanfechtung, 160 f. Zum § 157 BGB vgl. auch Wolf/Gangel, JuS 1983, 663 (664). 351 Vgl. nur Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51; MünchKomm-Leipold, § 2084, Rn. 24, § 2269 Rn. 15; Brox, Erbrecht, Rn. 224; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 413. 352 Dazu siehe schon oben § 4 II 3 b dd; sowie Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 3 IV, § 11 II 1. Auch bei einseitigen Verfügungen, die nicht ohne jede Bedeutung für den anderen Ehegatten sind, soll § 157 BGB zur Anwendung kommen nach Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 34 III 7 b; RGRK-Johannsen, § 2084, Rn. 10. 353 Dazu nur Larenz/Manfred Wolf, AllgT, § 28 Rn. 23 ff.
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gen Dritten Sache sein müssen. Verarbeiten mithin zwei sich intim verbundene Personen ihren Tod gemeinsam, können beide zwar erwarten, daß sich jeder auf den anderen einstellt. Es kann jedoch gerade wegen der Intimität der Verbindung ebenso erwartet werden, daß die von dem einen Teil gepflegte Expressivität im rechtsgeschäftlichen Ausdruck von dem anderen Teil soweit verstanden wird, wie dies im zwischenmenschlichen Bereich überhaupt angängig ist. Es darf jeder demnach erwarten, daß der andere Teil seinen Verständnishorizont auf sein Gegenüber einstellt. Gelingt dies jedoch nicht, kann der andere Teil mit Blick auf den angemessenen Persönlichkeitsschutz nicht erwarten, daß nunmehr sein Horizont für das Verständnis der Persönlichkeitsentfaltung des einen Gatten relevant ist. Denn dies wäre ja bei einer Entfaltung des individuellen personalen Selbst ein Widerspruch in sich. Es muß also „ein ,gemeinsamer‘ (d.h. inhaltlich gleicher) Wille“355 gebildet werden, für dessen Verständnis die konkrete Situation bei der Abfassung des gemeinschaftlichen Testaments356 und nicht irgendwelche Redlichkeitserwägungen eines abstrakt zugeschnittenen Verkehrsteilnehmers relevant ist. Schlägt die Bildung eines derartig inhaltlich gleichen Willens fehl, bleibt es bei der Auslegung der Willenserklärungen nach § 133 BGB – mit durchschlagenden Folgen: Meistenteils wird dann zugleich nicht mehr angenommen werden können, die Verfügungen stünden im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit. Denn falls der eine Teil die Verfügung des anderen nicht hat verstehen können, hat er grundsätzlich sein eigenes „Sein zum Tode“ nicht mit Blick auf diese Verfügungen, sondern mit Blick auf dasjenige entfaltet, von dem er annahm, sein Gatte habe es so und nicht anders verfügt. Warum soll dann aber der Überlebende gebunden sein, wenn nicht seine Verfügung, sondern das vom erstverstorbenen Teil angenomme Abbild seiner Verfügung tatsächlich letzteren motiviert hat? Das Risiko, das die Essenz dessen, wie man sich personal entfaltet hat, auch beim Interaktionspartner zur Geltung kommt, trägt nun einmal jeder der Gatten selbst. Beiden kommt demnach die Obliegenheit zu, die Todesverarbeitung des je anderen Teils genau zu ermitteln, damit die interne „Verschmelzung“ der Todesverarbeitung Beider gelingt. Eine Ausnahme kann allenfalls für den Fall gemacht werden, daß es dem einen Teil eigentlich nicht so genau darauf ankam, was der andere denn nun genau verfügt – doch warum sollten dann die Gatten überhaupt noch motiviert sein, gemeinschaftlich und dann auch noch wechselbezüglich zu verfügen? Im Grundsatz bleibt es mithin dabei, daß bei einem „fehlgeschlagenen“ Verständnis der Verfügung des je anderen die Wechselbezüglichkeit entfallen ist. Darüber hinaus ist die (nun354 355 356
Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 V 3 a. MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 15, kursive Hervorhebung nicht i.O. Soergel-Loritz, § 2084 Rn. 51.
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mehr bloß noch einseitige) Verfügung auch anfechtbar, wenn der Ehegatte bei Kenntnis seines Irrtums seine Verfügung so nicht getroffen hätte. V. Ergebnis 1. Der Zentralgedanke der testamentarischen Bindung: Die Gabe der besseren Todesverarbeitung als psychische Gratifikation
Zusammenfassend kann nunmehr notiert werden: Die Überlegungen haben gezeigt, daß sich die Bindungswirkung korrespektiver Verfügung mit dem Gedanken des Vertrauensschutzes nicht rechtfertigen läßt, solange die Ehegatten als selbstverantwortliche Rechtspersonen ernstgenommen werden. Das Vertrauen des Erstversterbenden, der überlebende Teil würde die ihm gewährten vermögensmäßigen Gratifikationen (seine letztwillige Bedenkung und möglicherweise die des Endbedachten) nicht durch eine erneute Verfügung nach dem ersten Todesfall entwerten, wird nicht durch § 2271 II BGB, sondern durch § 2270 I BGB geschützt357. Das vermögensbezogene Vertrauen könnte der Erstverstorbene auch durch eine auf den Fall der Zweitverfügung des Überlebenden nach dem ersten Todesfall bedingte einseitige Verfügung schützen; dies kann ihm selbstverantwortlich auferlegt werden. Der Grund für die testamentarische Bindung kommt erst dann in den Blick, wenn das gemeinschaftliche Testieren als ein Mittel begriffen wird, mit dem der eine Ehegatten seine Todesverarbeitung mit der des anderen Gatten verbinden kann; beide Todesverarbeitungen werden quasi in die je andere gleichsam „eingebaut“: Jeder der Gatten sieht aufgrund der in der Intimbeziehung aufscheinenden Verschmelzung der Erlebnis- und Verstehenshorizonte der Gatten auch seinen eigenen Tod in der Thematisierung des Todes des anderen gespiegelt und kann sich damit um so besser der Verarbeitung des je eigenen Todes stellen. Falls dieses „Geschenk“ nach dem Tode des vorversterbenden „Schenkers“ durch eine Zweitverfügung des überlebenden Teils entwertet würde, wäre auch die Persönlichkeitsentfaltung, die in dem Testament des Erstversterbenden zum Ausdruck kommt, zunichte gemacht, da ja der Erstverstorbene seine im gemeinschaftlichen Testament inszenierte Entfaltung seiner Persönlichkeit nach seinem Tode nicht mehr ändern kann. Selbst eine weitere Verfügung für den Fall des Neutestierens des Überlebenden hilft hier nicht; eine derartige Verfügung wäre ja nur einseitig möglich. Indem der Erstverstorbene dem Überlebenden die Möglichkeit eröffnet hat, anhand einer (des Erstverstorbenen) testamentarischen Verfügung seinen eigenen Tod im Spiegel der Todesverarbei357
Oben § 4 II 3 c und d.
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tung des erstversterbenden Gatten zu bewältigen und als sicher eintretendes Ereignis auszuhalten, erbringt er dem Überlebenden eine Gabe – und zwar die Gabe, daß dieser im Blick auf den Tod des intim Verbundenen den eigenen Tod besser zu ertragen lernt. Er gibt dem Überlebenden mithin psychische Gratifikationen hin. Im gemeinschaftlichen Testament sind somit vermögensmäßige und psychische Gratifikationen, die vom Erstverstorbenen an den Überlebenden fließen, untrennbar miteinander verschmolzen. Es gilt also, daß für eine testamentarische Bindung beides zusammenkommen muß, eine psychische und eine vermögensbezogene Gratifikation.
2. Der Reziprozitätsmechanismus der §§ 2270 f. BGB
Vor diesem Hintergrund ist der in den §§ 2270 f. BGB implementierte Reziprozitätsmechanismus rechtlich klar auskonturiert. § 2270 I BGB spielt auf mögliche Erwartungsenttäuschungen im Falle fehlgeschlagener Reziprozität an, da bei einer nichtigen oder widerrufenen Verfügung des einen Gatten die mit der Verfügung verbundene vermögensmäßige, soziale, psychische oder innere Gratifikation des anderen Gatten entfällt und damit die Elastizität des Erwartens wiederhergestellt werden muß. Allein in dieser Vorschrift – und nicht, wie dies die vertrauenstheoretischen Bindungslehren erklären, in § 2271 II BGB – ist der Schutz jenes Vertrauens verankert, das sich einstellt, wenn der eine Gatte verfügt, weil der andere verfügt. § 2270 II BGB nimmt sich der häufig vorkommenden Fallgestaltung rein vermögenswerter (§ 2270 II Alt. 1 BGB) und gemischt vermögenswert-sozialer Gratifikation (§ 2270 II Alt. 2 BGB) als typisches Reziprozitätsphänomen im wechselbezüglichen Testierverhalten an. Zu Lebzeiten beider Gatten wird eine Erwartungsenttäuschung durch den Widerruf des gemeinschaftlich Verfügten gem. § 2271 I BGB eröffnet, um auf geänderte Aspekte im Leben oder auch auf eine neue Einschätzung der Ausgeglichenheit des Reziprozitätssaldos zu reagieren. § 2271 II 1 HS 1 BGB führt zu einer enttäuschungsfesten Konsolidierung der testamentarischen Verhaltenserwartung, da ansonsten die dem Überlebenden durch den Erstverstorbenen gewährte psychische Gratifikation entwertet würde. Diese psychische Gratifikation besteht in der Leistung, die in der Verschmelzung der Todesverarbeitungen zweier Menschen in intim codierter Kommunikation für die Todesverarbeitung des je anderen Teils verborgen ist. Unzweifelhaft tritt die testamentarische Bindung grundsätzlich heteronom ex lege ein, da Bindung auch dann zustandekommt, wenn der eine Ehegatte zwar die Gratifikationen des anderen anzunehmen gewillt ist, sich jedoch über die Bindungsfolgen als solche keine Gedanken macht. Eine heteronom angelegte Bindung ist unzweifelhaft schon deshalb notwendig, weil der soziale Mechanismus der Reziprozität alleine Selbstbindungen schon bei-
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Kap. 2: Die Bindungswirkung des Ehegattentestaments
spielsweise aufgrund etwaiger Machtungleichgewichte der Ehegatten nicht dauerhaft stabilisieren kann. Denn die Reziprozitätsbilanz kann auch schon mal unausgeglichen sein; nur idealiter ist die ausgehandelte Ordnung von wirklicher Reziprozität der Leistungen geprägt. Auch in der ehelichen Beziehung kann Reziprozität durch Machtungleichgewichte innerhalb der dann unsymmetrischen Beziehung überlagert und damit sozial destabilisiert werden358. § 2271 II 2 BGB endlich führt zum Bindungsverlust, weil in diesen Fällen der Reziprozitätsmechanismus empfindlich gestört ist, weil bei einer personal verstandenen Partnerschaft, wie sie die Ehe darstellt, Reziprozität typischerweise entfällt, wenn die Reziprozitätsbilanz aufgrund des Verhaltens des Bedachten vom Positiven ins Negative umschlägt. Gleiches gilt schließlich und endlich auch bei einer zerbrochenen Ehe, § 2268 I BGB. Sieht die gemeinschaftlich geleistete Todesverarbeitung die gewährte Reziprozität auch für den Zerbrechensfall gleichwohl nicht entwertet, schlägt die soziale Bindungskraft eines reziproken Austauschs nicht fehl, was das Gesetz folgerichtig mit dem Fortbestehen der Bindung des überlebenden Teils honoriert, § 2268 II BGB. Der normative Grund schließlich, warum das Erbrecht überhaupt sozial durch Reziprozität stabilisierte Verhaltenserwartungen auch rechtlich schützt, liegt in der Einsicht, daß in der internen Verklammerung der Todesverarbeitung beider Gatten, die im wechselbezüglichen gemeinschaftlichen Testament verkörpert ist und welche durch die expressiv-individuelle Codierung der Interaktion der intim verbundenen Gatten geleistet wird, jenes Moment durchschimmert, um dessen willen das gewillkürte Erbrecht so ungemein auf die Kraft des Testierwillens Wert legt: Indem die zu Lebzeiten mit Blick auf den Tod gehegten Erwartungen des Erstversterbenden post mortem enttäuschungsfest geschützt werden, werden zugleich diejenigen personalen Gehalte des Rechts aktiviert, die dem gewillkürten Erbrecht seinen personfunktionalen Charakter verleihen. Es geht auch beim gemeinschaftlichen Ehegattentestament deshalb um nichts anderes als um den Schutz des Persönlichkeitsrechts des erstversterbenden Testierenden. Das gemeinschaftliche Ehegattentestament steht deshalb beispielhaft für dasjenige Instrumentarium eines rechtlichen Persönlichkeitsschutzes, welches Personen zu teil wird, die sich entschließen, ihren Tod gemeinschaftlich per Testament zu verarbeiten. Mit der gerade skizzierten Anlage des Gesetzes wird zugleich der Kreis des Schutzes derjenigen Personen geschlossen, welche von der testamentarischen Todesverarbeitung des Erblassers betroffen sein können: Der Schutz der von Todes wegen Bedachten wird über die Sittenwidrigkeitsprüfung der letztwilligen Verfügung nach § 138 I BGB geleistet359. Die Todesverarbei358
Köndgen, Selbstbindung, 172, 265.
§ 6 Testamentarische Bindung und gemeinschaftliche Todesverarbeitung
153
tung dieser Bedachten wiederum wird über die Dreißigjahresfristen der §§ 2109, 2162 und 2210 BGB geschützt360. Und falls zwei Personen gemeinschaftlich ihr „Sein zum Tode“ entfalten wollen, greift für den Erstversterbenden der Schutzmechanismus der §§ 2270 f. BGB. Es bleibt der Schutz des überlebenden Teils, der nach dem Tode des Erstversterbenden erneut sein „Sein zum Tode“ suchen und damit einen weiteren Schritt im Prozeß seiner Todesverarbeitung zurücklegen will. Die hiermit angesprochene Frage nach der Lösung aus einer testamentarischen Bindung wird noch zu behandeln sein. In typisierenden Auslegungsregeln konnte schließlich der Aspekt der Ehegattensolidarität verkörpert werden, der gerade bei der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung zwischen Ehegatten oftmals die Testiermotivation bestimmen wird. Der Topos „Solidarität“ bringt hierbei diejenigen Momente von Bedürftigkeit, wechselseitiger Anteilnahme und gegenseitiger, als legitim erfahrener Hilfe in Anschlag, die der eine Gatte dem anderen (und umgekehrt) erbringt, ohne hierfür einen wirtschaftlich faßbaren Gegenwert zu erwarten. In Reziprozitätskategorien übersetzt bedeutet Solidarität mithin eine Gratifikation der Bemühungen des einen Gatten durch emotionale und psychische Zuwendungen des anderen Teils. Die unter Ehegatten zirkulierenden Solidaritätsroutinen haben sich bei der Erklärung der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments als die einzigen Einsatzpunkte eines erbrechtlichen Familiarismus gezeigt. Eine Verfügungsmotivation aufgrund solidarischer Verbundenheit mit dem Schicksal der Ehegatten läßt sich jedoch ohne weiteres in den Erklärungszusammenhang eines personfunktional verstandenen Erbrechts einordnen, da ja vieles dafür spricht, daß persönlich-intim sich zugewandte Personen ihren Tod je mit Rücksicht auf das Schicksal des je anderen verarbeiten werden. Es spricht mithin nichts dafür, das gemeinschaftliche Testament als Signum eines erbrechtlichen Familiarismus zu begreifen. Es wird noch gezeigt werden361, daß bei Lichte betrachtet ein Verständnis des Erbrechts als fortgesetztes Familienrecht sich sowieso nur im Pflichtteilsrecht niederschlägt. Mit Blick hierauf bleibt es dabei, daß sich die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Ehegattentestaments nach § 2271 II BGB als Ausdruck eines Persönlichkeitsschutzes des Erstversterbenden erweist, der als Frucht einer gemeinschaftlich geleisteten Todesverarbeitung zweier sich persönlich-intim zugewandter Personen vom Gesetz implementiert worden ist, um das Personale im Recht ein weiteres Mal zu sichern. 359 Siehe zu den rechtstechnisch in § 138 I BGB niedergelegten Wertungen der Anerkennung Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 VI, § 11 V 1 sowie unten § 15 II 2. 360 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 V 2 c. 361 Unten § 42 II.
Kapitel 3
Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung § 7 Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung Bei wechselbezüglichen Verfügungen in einem gemeinschaftlichen Ehegattentestament muß der testamentarisch gebundene Gatte, welcher erneut testieren will, zu Lebzeiten beider Teile seine korrespektive Verfügung notariell beurkundet widerrufen. Ansonsten ist seine Zweitverfügung nicht wirksam, § 2271 I BGB. Von dieser hier sog. formellen Bindungswirkung1 ist die Einschränkung der Testierfreiheit zu unterscheiden, die den Überlebenden nach dem Tode des Erstversterbenden gem. § 2271 II 1 HS 1 BGB trifft und die hier als sog. materielle Bindung2 bezeichnet worden ist. Dieser zufolge ist der überlebende Gatte nach dem ersten Todesfall an die wechselbezügliche Verfügung des gemeinschaftlichen Testaments gebunden. Der Grund für diese materielle Bindung liegt im Schutz des Persönlichkeitsrechts des erstversterbenden Gatten, der sein „Sein zum Tode“ spezifisch mit Rücksicht auf die Verfügung des anderen Teils ausgebildet hat. Würde das Gesetz keine Bindung anordnen, wäre der reziproke Zusammenhang zwischen den wechselbezüglichen Verfügungen und damit die einstmals in intim codierter Interaktion gemeinschaftlich geleistete Todesverarbeitung beider Teile entwertet. Dies war das Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen zur materiellen Bindungswirkung des Ehegattentestaments3. I. Einführung Nach Eintritt der formellen Bindung kann der Ehegatte zwar mittels Formalia erschwert, aber doch immerhin wirksam neu testieren. Beim Eintritt materieller Bindung ist dem überlebenden Teil auch dies versagt. Diese Bindung wiederum bedeutet nichts anderes, als daß er seinen Tod nicht 1 2 3
Zu dieser Begriffsprägung siehe oben § 4 I. Oben § 4 I. Oben § 4 bis § 6.
§ 7 Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung
155
mehr abermals mit den Mitteln des Rechts (hier: Testament, Erbvertrag) verarbeiten kann. 1. Das Konfliktpotential testamentarischer Bindung
Der überlebende Teil sieht sich mithin aufgrund der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments an der weiteren Inanspruchnahme seiner Persönlichkeitsrechte gestört. Diese Störung ist durchweg konfliktträchtig. Es muß nicht einmal zu größeren Veränderungen oder wandelnden Umständen während der Verwitwung kommen, vielmehr kann allein schon das Vorversterben des einen Ehegatten für den überlebenden Teil eine zu Lebzeiten beider Gatten nicht bedachte Neuorientierung in der Lebensgestaltung, in der Lebensperspektive und in der Weltsicht nach sich ziehen4, die häufig Anlaß zu einer Neubewertung der dem ursprünglichen Testament zugrundeliegenden Motive gibt. Die Bindungswirkung gem. §§ 2270, 2271 BGB wird hier oft als Einengung empfunden. Insofern war das gemeinschaftliche Testament schon immer ein Rechtsgeschäft mit einem hohem Streitrisiko, wenn der Überlebende nach dem Tode des Erstversterbenden zu Lasten der gemeinschaftlich Endbedachten erneut testiert, da diese die neue Verfügung oft nicht hinnehmen5. Die gegenläufigen Interessen der Ehegatten (hier das Interesse an einer fortbestehenden Bindung, dort jenes an einer Wiedergewinnung der Testierfreiheit) haben schon die Gesetzesverfasser gesehen6. Nach der gesetzlichen Regelung ist der überlebende Teil nicht mehr gebunden, wenn er – erster Fall – das ihm Zugewendete ausschlägt (§ 2271 II 1 HS 2 BGB), wenn er – zweiter Fall – seine korrespektive Verfügung wegen Irrtums, Drohung oder Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten analog den erbrechtlichen Anfechtungsvorschriften der §§ 2281 ff. BGB i.V. m. §§ 2078, 2079 BGB angefochten hat, wenn – dritter Fall – der Endbedachte der Verschwendung 4
Shamgar-Handelman, in: Nave-Herz/Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familienund Jugendforschung, Bd. 1, 423 (429 f.), hat die im Rahmen von Vorstellungen einer sozialen Konstruktion der Wirklichkeit angesiedelten These aufgestellt, daß für den überlebenden Teil nach dem Prozeß der unmittelbaren Trauerverarbeitung kaum eine Rückkehr auf den alten Stand der emotionalen Weltverarbeitung und der sozialen Weltkonstruktion möglich ist. Vielmehr befände er sich in einer absolut neuen sozialen Realität im Vergleich zu der, die der Überlebende vor der Verwitwung konstruierte; die jeweiligen Wertprioritäten, Maßstäbe und Selbsteinschätzungen differierten stark. Ob diese These in dieser Allgemeinheit überzeugend ist, soll hier dahingestellt bleiben. 5 Vgl. nur Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266; Musielak, FS Kegel, 433 (434 f.). 6 Siehe zur eingehenden Erörterung des Interessenkonflikts in den Protokollen: Mugdan V, 718 f., 721 ff. Zur damaligen Diskussionslage vor und während der Kodifikation siehe Battes, Vermögensordnung, 51 ff.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
oder der Überschuldung anheimgefallen ist (§ 2271 III BGB i.V. m. § 2289 II BGB), wenn – vierter Fall – sich der Endbedachte einer Verfehlung schuldig gemacht hat, die dem Erblasser zur Entziehung des Pflichtteils berechtigt oder berechtigen würde, wenn der Bedachte ein Pflichtteilsberechtiger wäre (§ 2271 II 2 BGB i.V. m. § 2294 BGB), wenn – fünfter Fall – die Verfügung gegenstandslos wird, die zu derjenigen Verfügung, die geändert werden soll, im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit steht, oder wenn schließlich – sechster Fall – die korrespektiv verfügenden Ehegatten für die Zeit nach dem Tode des Erstversterbenden eine Freistellungsklausel hinsichtlich der einseitig vom Überlebenden ins Werk gesetzten Aufhebung oder Abänderung seiner, des Überlebenden wechselbezüglichen Verfügungen vorgesehen haben. Daneben könnte es sein – siebter Fall –, daß sich der überlebende Gatte auch in weiteren Fällen aus der Bindung befreien kann. Schießlich und endlich wird die vom gemeinschaftlichen Testament implementierte Vermögensordnung auch durch die analoge Anwendung der erbvertragsrechtlichen Bereicherungsvorschriften der §§ 2287 f. BGB geschützt. Dieser Schutz betrifft zwar nicht die Einschränkung der Testierfreiheit des überlebenden Teils und kann damit nicht in die Reihe der soeben angesprochenen sieben Fällen gestellt werden, in denen eine Lösung von der testamentarischen Bindung zulässig ist. Er trägt jedoch Funktionen wie die testamentarische Bindung: Schutz der Erwartungen des Erstversterbenden und damit Schutz von dessen Persönlichkeitsrecht. 2. Die Hauptgründe zur Loslösung von der Bindungswirkung
Wenn die soeben aufgezeigten Fälle, in denen eine Lösungsmöglichkeit von der materiellen Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments eintritt (Fälle 1 bis 6) oder noch diskutiert werden muß (Fall 7), einmal kreuztabellarisch erfaßt werden, ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen den Wertungen, die eine Lösung von der Bindung auf den ersten Blick rechtfertigen, und den soeben skizzierten sieben Lösungsfällen erkennbar7:
7 Der Terminus „Vermögensordnung post mortem“ bezeichnet die von den gemeinschaftlich testierenden Gatten für die Zeit nach dem Tode des Erstversterbenden und nach dem Tode Beider vorgesehene Vermögensordnung.
§ 7 Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung
Vermögensverlust beim Überlebenden?
Fall 1: § 2271 II 1 HS 2 BGB
„Versagen“ bei den Endbedachten?
157
Wertausgleich Rechtfertigung zum Erhalt der Lösung der Vermögens- von der testaordnung post mentarischen mortem? Bindung
(+)
(–)
(–)
Fehlschlag der Vermögensordnung aus Sicht beider Gatten
(+)
(–)
(–)
dto.
Fall 3: § 2271 III BGB
(–)
(+)
(–)
dto.
Fall 4: § 2271 II 2 BGB
(–)
(+)
(–)
dto.
Fall 5: Wegfall der Verfügung
(–)
(–)
(–)
dto.
Fall 6: Freistellungsklausel
(–)
(–)
(–)
Wille beider Gatten
(–)
Fehlschlag aus Sicht nur des Überlebenden: noch offenes Problem
Fall 2: §§ 2281 ff. BGB analog
Fall 7: Lösung kraft Willens des Überlebenden?
(–)
(–)
Anhand dieser sieben Fälle läßt sich leicht erkennen, daß auf den ersten Blick eine Lösung von der testamentarischen Bindung scheinbar nur bei zwei Gestaltungen in Frage kommt. Einmal – erste Gestaltung – kommt es zur Lösung, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Loslösung von der testamentarischen Bindung und eines Fehlschlags hinsichtlich der Implementation der gemeinschaftlich erdachten Vermögensordnung besteht, die nach dem Tode des Erstversterbenden und des überlebenden Teils errichtet werden sollte. Der Fehlschlag selbst beruht jeweils auf einem Verlust der im gemeinschaftlichen Testament ins Werk gesetzten „Austauschordnung“ zwischen den korrespektiven Verfügungen8, mithin auf fehlge8
Siehe zum Austauschcharakter des gemeinschaftlichen Testaments oben § 5.
158
Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
schlagener Reziprozität. Diese Austauschordnung kann in zwei Weisen zusammengebrochen sein: Einmal – erster Fall – kann es zum Wegfall einiger Beteiligter kommen (Fall 5). Zudem können korrespektive Verfügungen kraft Anfechtung der Verfügung des Überlebenden unwirksam werden, sei es, daß nur die angefochtene Verfügung unwirksam wird, sei es, daß auch die wechselbezügliche Verfügung des Erstversterbenden durch die Anfechtung der Verfügung des Überlebenden nach §§ 2281 ff. BGB analog in Folge des § 2270 I BGB entfällt (Fall 2). Hinzukommt eine Entwertung der postmortalen Vermögensordnung durch untragbare Vermögensrisiken (Fall 3) oder gewichtige personale Gründe (Fall 4), welche in der Person des Endbedachten jeweils eintreten. Da diese beiden Fälle 3 und 4 in der Praxis durchweg weniger relevant sind, werden sie im weiteren nicht mehr näher angesprochen. Sodann kann – zweiter Fall – die Austauschordnung durch ein Vermögensopfer entwertet sein. Dieses Vermögensopfer erbringt der überlebende Ehegatte oder – richtiger Ansicht nach – ein bedachter Dritter im Fall der Ausschlagung (Fall 1). Im Fall der Entwertung der Vermögensordnung post mortem scheint ein Schutz des Persönlichkeitsrecht des Erstverstorbenen schon deshalb nicht mehr erforderlich zu sein, weil zum einen das mit diesem Schutz Gewollte wegen des Zusammenbruchs der Vermögensordnung nicht mehr erreicht werden kann und zum anderen wegen des Verlusts einstmals gemeinschaftlich gewährter Reziprozität auch der „gute Name“ des Erstverstorbenen nicht mehr vom Überlebenden entwürdigt werden kann, der sich in der ehedem avisierten Vermögensordnung niedergeschlagen hatte und der den sozialen Achtungsanspruch betrifft, welcher der Erstverstorbene aufgrund seiner letztwilligen Verfügungen in der Sozietät zu perpetuieren oder zu implementieren erhofft hat. Darüberhinaus ist für eine Lösung von der Bindung – zweite Gestaltung – erforderlich, daß die Möglichkeit, sich von der testamentarischen Bindung zu lösen, dem Willen beider Gatten entspringt, wie dies im Fall 6 gegeben ist. Zu prüfen bleibt noch, ob nicht auch ausnahmsweise der Überlebende seine Testierfreiheit wiedergewinnt, wenn er dies beim Vorliegen bestimmter Umstände so will (Fall 7). Alles in allem scheint eine Loslösung von der testamentarischen Bindung mithin vorauszusetzen, daß (1) die gemeinschaftlich avisierte Vermögensordnung wegen fehlgeschlagener Reziprozität entwertet ist oder daß (2) die Lösungsmöglichkeit auf dem Willen beider Teile beruht. Die interessierende Frage ist dann: Sind dies sämtliche Fälle? Oder gibt es noch die weitere, im Fall 7 angesprochene Möglichkeit, sich der testamentarischen Bindung zu entziehen? Und vor allem: Spiegeln sich in dieser auf den ersten Blick so einsichtigen Unterteilung tatsächlich die Wertungen wider, die eine Entbindung des Überlebenden erlauben? Sind die inneren Gründe der Entbindung wirklich nur die Entwertung der Vermögensordnung post mortem und der Wille beider Gatten?
§ 7 Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung
159
Es wird sich zeigen, daß eine sinnvollere Untergliederung möglich ist, welche gleichsam ein Abbild der die Lösung von der Bindung tatsächlich tragenden Wertungen darstellt. Die testamentarische Bindung ist Folge einer Verausgabung psychischer Gratifikationen auf Seiten des Erstverstorbenen, die in den Reziprozitätskonnex eingewoben werden, der die testamentarische Bindung generiert9. Zur letztendlich eintretenden Bindung muß neben diesen psychischen Gratifikationen noch eine vermögensbezogene Gratifikation hinzutreten, da in einem personfunktional verstandenen Erbrecht das Vermögen dasjenige Mittel darstellt, von dem sich die Rechtsordnung den besten Schutz der personalen Entfaltung auf den Tod hin verspricht10. Nur der Zusammenklang von psychischer und vermögensbezogener Bindung erzeugt also eine testamentarische Bindung. Es darf daher erwartet werden, daß das Gesetz den Überlebenden aus seiner Bindung entläßt, wenn einer der beiden Gratifikationskomponenten entwertet ist. Eine weitere Bindung dürfte das Persönlichkeitsrecht des Überlebenden über Gebühr ohne jeden Grund einschränken. Die Entbindungstatbestände sind in dieser Sicht mithin Tatbestände zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des überlebenden Teils. Eine Entbindung müßte daher stattfinden, wenn die vom Erstverstorbenen dem Überlebenden für dessen eigene Todesverarbeitung gewährten psychischen Gratifikationen ohne jeden Wert mehr sind. Es gibt nur einen Fall, in dem dies beobachtet werden kann: der Fall der Wiederverheiratung des Längstlebenden (dazu unten § 11) Dieser Fall wird im weiteren unter dem Stichwort „entwertete Reziprozität“ diskutiert. Dies ist das eine. Der Überlebende dürfte daneben auch dann seine Testierfreiheit wieder zurückgewinnen, wenn die vermögensbezogene Gratifikation des Erstverstorbenen wertlos geworden ist. Dies wiederum dürfte dann eintreten, wenn die gemeinschaftlich ersonnene Vermögensordnung post mortem zerbrochen ist – was in sämtlichen der oben tabellarisch skizzierten Fälle außer dem Fall der Freistellungsklausel und der Wiederverheiratung gegeben ist. Da die testamentarische Bindung auf einer gesetzlichen Bewertung der Interessen des Erstverstorbenen beruht, dürfte für diesen Fall erwartet werden, daß diese Interessen in Situationen zurückstehen müssen, in denen ein gehöriger Interessenschutz nicht mehr einsichtig erscheint – und genau dies ist bei einer zerbrochenen Vermögensordnung der Fall. Hier müssen die Interessen des Überlebenden gegenüber denen des Erstverstorbenen an einer erneuten Ausübung seines Persönlichkeitsrechts vorrangig gewichtet werden. Das Gesetz hat diese Notwendigkeit, die gegenstrebenden Interessen beider Gatten (hier Interesse an Bindung, dort an Entbindung) auszubalancieren, gese9 Dazu ausführlich oben § 5, § 6 zur Bindungskraft psychischer Gratifikationen insbes. oben § 5 III 2, § 6 I. 10 Dazu siehe oben § 2 I, § 5 III 2 a, § 6 I 2.; und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 IV, § 10 V 4 b dd.
160
Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
hen und eine Lösung von der testamentarischen Bindung dort angeordnet, wo die Interessen des Überlebenden an einer Wiedergewinnung seiner Testierfreiheit stärker zu bewerten sind als die des Erstverstorbenen an der Bindung11. Es ist möglich, daß sich eine Entbindungsmöglichkeit sowohl unter dem Gesichtspunkt des Überlebendenschutzes als auch unter der Perspektive entwerteter Reziprozität betrachten läßt. Dies ist etwa bei dem Lösungsinstrument der Anfechtung der Fall. Mit der Anfechtung wird einerseits die Testierfreiheit des Überlebenden geschützt12. Falls andererseits der Überlebende seinen Testierwillen irrtumsbedingt gebildet hat, könnte durchaus gesagt werden, für den Überlebenden sei die ihm vom Erstverstorbenen durch den Akt des gemeinschaftlichen Testierens gewährte psychische Gratifikation von vornherein nicht verausgabt gewesen, da sie ja auf sein Testierverhalten wegen des Irrtums nicht relevant eingewirkt hätte. Da in einem personfunktionalen Blickwinkel der Schutz der Testierfreiheit im Vordergrund steht, wird der Anfechtungsfall im weiteren unter dem Stichwort „Überlebendenschutz“ und nicht unter dem der entwerteten Reziprozität verbucht. Schließlich und endlich darf erwartet werden, daß eine Lösung von der Bindung dort möglich ist, wo diese Lösung dem Willen beider Gatten oder zumindest dem Willen des Erstverstorbenen entspricht. Das Gesetz hat auch dies gesehen und der Kautelarjurisprudenz die Gelegenheit eröffnet, anhand Freistellungsklauseln dem Überlebenden in den durch die Klausel erfaßten Fällen seine Testierfreiheit wieder zu verschaffen13. Es dürfte nach all dem zu erwarten sein, daß der Überlebende in drei Fallgestaltungen seine Testierfreiheit wieder zurückgewinnt: im Fall entwerteter psychischer Gratifikation, im Fall einer entwerteten Vermögensordnung post mortem und schließlich im Fall, wo die Entbindung auf dem Willen beider Gatten oder zumindest dem Willen des Erstverstorbenen beruht. Bevor all dies der Gegenstand der weiteren Überlegungen sein wird, soll noch ein kurzer Blick auf die typischen Fallgestaltungen und auf die Interessenlage geworfen werden, die der Diskussion zugrundegelegt werden kann. II. Typische Fallgestaltungen und Interessenlage 1. Typische Fallgestaltungen
Im gemeinschaftlichen Testament sind drei Fallgestaltungen weit verbreitet, die schon näher besprochen worden sind14: Die Ehegatten setzen sich 11
Dazu unten § 9. Zum telos der erbrechtlichen Anfechtungsvorschriften Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 II 2. 13 Dazu unten § 8. 12
§ 7 Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung
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bei der Trennungslösung gegenseitig als Vorerben und einen Dritten (meist die gemeinsamen Abkömmlinge) als Nach- und Ersatzerben ein. Sie bedenken sich bei der Einheitslösung gegenseitig als Vollerben und einen Dritten als Ersatzerben. Oder sie setzen bei der Vermächtnislösung das Vermächtnis eines Erbschaftsnießbrauchs an den überlebenden Teil aus und bedenken einen Dritten mit der Vollerbschaft. Nach dem Tode des Erstversterbenden kann dem verwitweten Teil schon allein deshalb an einer Wiedergewinnung seiner Testierfreiheit gelegen sein, weil er die Situation, in der er lebt, neu einschätzt und bewertet oder auch in seinem Erleben neu konstruiert. Oftmals wird dem Wunsch, neu zu testieren, aber eine Wiederverheiratung des Überlebenden zugrundeliegen, der ein Interesse daran hat, seinen zweiten Gatten und die möglicherweise gezeugten Kinder aus zweiter Ehe nicht enterbt zu sehen. Der verwitwete und nunmehr neu verheiratete Teil wird in diesem Zusammenhang auch das Verhältnis zu den durch das ersteheliche gemeinschaftliche Testament endbedachten Dritten (meist die Abkömmlinge aus erster Ehe) überdenken und hier eventuell Korrekturen anbringen wollen. Von der Frage, ob sich der überlebende Teil von der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments wieder befreien kann, sind also vier Interessen betroffen: die Interessen des Erstversterbenden, die Interessen des Überlebenden, die Interessen des neuen Ehegatten und der neuen Kinder und schließlich die Interessen der gemeinschaftlich Endbedachten. 2. Die beteiligten Interessen
a) Die Interessen des Erstverstorbenen und des Überlebenden Die Interessen des Erstverstorbenen liegen auf der Hand: Ihm geht es darum, seine gemeinschaftlich mit seinem Ehegatten geleistete Todesverarbeitung gewahrt zu sehen, was nichts anderes bedeutet, daß er seine Persönlichkeit zu schützen gedenkt. Dieses Interesse ist durch § 2271 II 1 BGB im Grundsatz rechtlich geschützt. Inwieweit von diesem Grundsatz Ausnahmen anzuerkennen sind, ist Gegenstand der weiteren Überlegungen. Dem Überlebenden steht einmal das Versorgungsinteresse gegenüber seinem neuen Gatten und etwaiger neuer gemeinschaftlicher Abkömmlinge zur Seite. Dieses Versorgungsinteresse ist schon deshalb rechtlich schützenswert, weil das Unterhaltsrecht (§ 1360 BGB, §§ 1601 ff. BGB) Solidarität im vermögensrechtlichen Bereich anordnet und weil das gesetzliche Erbrecht des Ehegatten (§§ 1371, 1931 BGB) und der Abkömmlinge (§ 1924 BGB) die Versorgung der Überlebenden rechtlich prämiert. Ob das Versorgungsinteresse tatsächlich im konkreten Fall geschützt ist, ist Gegenstand rechtlicher Wertung und wird daher im weiteren noch diskutiert werden 14
Siehe zu diesen gängigen Fallgestaltungen schon oben § 4 I.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
müssen; die Frage nach dem tatsächlichen Interessenschutz kann und darf im Rahmen der Analyse der Interessenlage ja nicht vorentschieden werden. Neben dem Versorgungsinteresse hat der überlebende Teil auch ein Testierinteresse. Dieses Testierinteresse kann – im Fall der Wiederverheiratung – durch das Versorgungsinteresse motiviert sein, muß es aber nicht, da der Überlebende ja auch allein schon durch das Erlebnis des Versterbens seines ehelichen Partners eine Neudefinition seiner Lebenssituation an den Tag legen kann, die ihm eine neue Verfügung von Todes wegen ratsam werden läßt15. Auch dieses Interesse ist rechtlich durchaus schützenswert – ob es tatsächlich geschützt ist, ist wiederum nicht Gegenstand der Interessenanalyse. Nun könnte gegen die Schutzwürdigkeit des Testierinteresses eingewendet werden, diese sei zumindest dann nicht gegeben, wenn erstens der überlebende Teil gewußt hat oder gewußt haben müßte, daß er sich qua korrespektiven Verfügens rechtlich bindet und wenn zweitens der Wille zum Neutestieren nicht durch den Wunsch nach einer Versorgung des neuen Gatten oder der Abkömmlinge aus der Zweitehe, sondern durch versorgungsfremde „Affektionsinteressen“ motiviert sei – eben durch solche Interessen, die allein einer Neudefinition der Lebenssituation während der Zeit der Verwitwung erwachsen sind. Bei derartigen Affektionsinteressen sei eine Befreiung von einer bewußt oder fahrlässig unbewußt eingegangenen testamentarischen Bindung nicht berechtigt, weil dieser Befreiung der Wille des Überlebenden (volitives Moment) oder sein Wissen um die Bindung (kognitives Moment) oder seine Verantwortung zur Prävention vor einer möglichen Bindung (Moment der Selbstverantwortung) entgegenstünde. Diesem Einwand gegen die Schutzwürdigkeit des Testierinteresses kann freilich nicht gefolgt werden. Der Verweis auf kognititve, volitive oder verantwortungstheoretische Momente bemühen Zurechnungstopoi aus dem Gebiet des Vertrags- und Vermögensrechts. Dort bindet in der Tat der Wille und kann Wissen zu Nachteilen führen; ebenso wird der Gedanke der Selbstverantwortung als genuines Zuweisungskriterium für diverse Risiken begriffen. Derartige vertragstheoretische Anleihen stellen aber in einem Recht wie dem gewillkürten Erbrecht, welches sich dem Schutz der Persönlichkeit verpflichtet weiß, einen Fremdkörper dar. Unter Lebenden kann sich die Rechtsperson nur in den Formen des Erbvertrags rechtlich in ihrer Testierfreiheit binden. Verpflichtungsgeschäfte auf Verfügungen von Todes wegen sind gesetzlich untersagt, § 2302 BGB. Und die durch das gemeinschaftliche Ehegattentestament herbeigeführte Bindung tritt nicht etwa ein, weil sie gewollt ist oder gewußt wird, sondern um des Schutzes des Persönlichkeitsrechts des Erstversterbenden willen16. Würde mithin das Testierinteresse in den Fällen reiner Affektion für nicht schutzwürdig erachtet, 15 16
Siehe dazu oben § 7 I 1. Siehe oben § 6 I.
§ 7 Einführung zur Lösung von der testamentarischen Bindung
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würde man im Endeffekt der Rechtsperson das Interesse, die einstmals (nämlich im gemeinschaftlichen Testament) entfaltete Persönlichkeit fortzuentwickeln und weiter zu entfalten (nämlich durch eine neue Verfügung von Todes wegen), nur deshalb absprechen, weil die Bindung gewußt oder fahrlässig nicht gewußt wurde. Dies ist aber persönlichkeitsrechtlich ein Unding, da der Rechtsperson gemeinhin auch dann eine veränderte Entfaltung ihrer selbst zugebilligt wird, wenn sie den Wunsch nach einer künftigen geänderten Entfaltung zu einem früheren Zeitpunkt nicht bedacht hat, obwohl sie ihn hätte bedenken können. Mithin bleibt es dabei, daß das Testierinteresse des überlebenden Teils auf jeden Fall schützenswert ist – inwieweit es tatsächlich geschützt wird, wird sich erst in der weiteren Diskussion erweisen. b) Die Interessen des neuen Gatten und der Kinder aus der zweiten Ehe Dem neuen Gatten sowie den Kindern aus der Zweitehe steht – spiegelbildlich zum überlebenden Teil – wiederum ein Versorgungsinteresse zur Seite. Dieses Interesse geht dahin, nach dem Tode des Überlebenden-Zweitgatten-Elternteils wirtschaftlich durch den Erwerb von Vermögenswerten aus dessen Nachlaß gehörig abgesichert zu sein. Mit Blick auf die Wertungen des Unterhaltsrechts ist ein Versorgungsinteresse schützenswert – ob es tatsächlich geschützt wird, ist wiederum eine andere Frage. Daneben steht für den neuen Gatten das besondere Testierinteresse zur Rede, gemeinschaftlich mit dem anderen Teil (dem Überlebenden) in intim codierter Kommunikation das jeweilige „Sein zum Tode“17 zu entfalten. Dieses Interesse ist als besondere Art und Weise, seine Persönlichkeit zu entfalten, schützenswert. Ob es bloß unbeachtliche Affektion oder rechtlich geschützte Rechtsausübung ist, wird noch zu klären sein. Schließlich kann der neue Gatte ein Partizipationsinteresse am Nachlaß des überlebenden Teils artikulieren. Dieses Interesse ist auf eine Teilhabe an dem nachgelassenen Vermögen auch für den Fall gerichtet, daß es gar nicht um Versorgung, sondern um reine Wertpartizipation geht. Eine Partizipation an einem Vermögen allein um der Partizipation willen ist rechtlich durchweg nicht schutzwürdig. Grundsätzlich müssen Zurechnungsgründe hinzukommen, die ein Interesse an der Partizipation an einem fremden Vermögen nicht als bloß unbeachtlichen Affekt auszeichnen, wie etwa vertragliche Beziehungen oder eine Anspruchsberechtigung18. Derartige Zurechnungsgründe stützen 17
Dazu oben § 2 I 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 II 3. Warum soll etwa das Interesse der Person A an einer Partizipation am Vermögen der Person B rechtlich schützenswert sein, ohne daß A und B irgendetwas verbindet? 18
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
mithin und begrenzen zugleich die Schutzwürdigkeit des Partizipationsinteresses. Derartige Zurechnungsgründe können hier allein familiaristischer Natur sein; den neuen Gatten verbindet mit dem überlebenden Teil ja das Band der Ehe. Solange es um eine Partizipation am Nachlaß trotz (hier ja kraft gemeinschaftlichen Testaments der ersten Ehe erst einmal vorliegender) Enterbung geht, kommt dieses Band erbrechtlich allein im Pflichtteilsrecht zum Ausdruck19. Demzufolge ist die Schutzwürdigkeit des Partizipationsinteresses durch das Pflichtteilsrecht des Ehegatten begrenzt. c) Die Interessen des Endbedachten Soweit schließlich die Interessen der vom gemeinschaftlichen Testament Endbedachten in Rede stehen, darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments ausschließlich im Interesse des erstverstorbenen Ehegatten, nicht aber im Interesse der durch korrespektive Verfügungen betroffenen Endbedachten angeordnet ist. Dies zeigt eine Analyse der erbrechtlichen Stellung der Endbedachten. Diese ist verschieden, je nachdem, ob die Ehegatten sich gegenseitig – wie bei der Einheitslösung – als Vollerben und den Dritten als Ersatzerben eingesetzt haben, oder ob sie – wie bei der Trennungslösung – gegenseitige Vorerbschaft und Nacherbschaft des Dritten sowie für den Fall, daß der andere Gatte zuerst versterben sollte, des Dritten Ersatzerbschaft verfügt haben20. Bei der Trennungslösung ist anerkannt, daß der Dritte bereits mit dem ersten Erbfall als Nacherbe ein Anwartschaftsrecht erwirbt. Dieses Anwartschaftsrecht bezieht sich nur auf das Vermögen des erstverstorbenen Gatten, da der Nacherbe ja nicht der Erbe des Vorerben, sondern ohne weiteres der des Erblassers – also des erstversterbenden Gatten – ist, § 2139 BGB21. Tritt der Nacherbfall mit dem Tode des Vorerben ein (§ 2106 I BGB) und hat der Vorerbe über den für ihn als Vorerben angefallenen Nachlaß von Todes wegen verfügt, wird die Verfügung hinsichtlich des Nachlasses gegenstandslos, der dem Nacherben als Erbschaft vom Erblasser nach § 2136 BGB anfällt22. Wenn aufgrund einer Loslösung von der testamentarischen Bindung der überlebende Gatte-Vorerbe bei der Trennungslösung neu testiert, kann mithin das nacherbschaftliche Anwartschaftsrecht nicht betroffen sein. Anders wäre dies nur, wenn die Lösung von der Bindung irgend19 20
Dazu unten § 42 II. Siehe zu den Hauptfallgestaltungen im Ehegattentestament oben § 4 I, § 7
II 1. 21 Der Vonselbsterwerb des Nacherben ist heute einhellige Ansicht, siehe BGHZ 44, 152 (153); MünchKomm-Grunsky, § 2139 Rn. 1; Soergel-Harder, § 2139 Rn. 1. 22 OLG Hamm, FamRZ 1986, 612 (613); Soergel-Harder, § 2100 Rn. 9.
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eine Auswirkung auf das Nacherbenrecht hat. Wenn die Bindungswirkung aufgrund Anfechtung der korrespektiven Verfügungen des Überlebenden entfällt, kann gleichzeitig die entsprechende Verfügung des Erstverstorbenen unwirksam geworden sein, § 2270 I BGB. Da diese Verfügung aber dem Endbedachten die Nacherbenstellung verschaffte, hat damit dieser nie ein nacherbschaftliches Anwartschaftsrecht erworben, womit zugleich ein schutzwürdiges Interesse des Endbedachten entfällt. Im Falle der Wiedergewinnung einer ungebundenen Testierfreiheit durch Ausschlagung des ihm Zugewendeten durch den Überlebenden tritt im Zweifel keine gesetzliche Erbfolge ein, vielmehr wird der Nacherbe gem. § 2102 I BGB Ersatzerbe i. S. § 2096 BGB; dessen Interesse ist mithin hinreichend geschützt. Verfügt der Längstlebende dann neu, tritt in der Regel die Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügung des Erstversterbenden ein, § 2270 I BGB – womit wiederum die Nacherbenstellung des Dritten und damit irgendein schutzwürdiges Interesse des Dritten von Anfang an entfällt. Falls etwas anderes als Ersatzerbschaft des Drittbedachten bestimmt sein sollte, zeigt dies, daß dessen Erwerbsinteresse sowieso nie schützenswert waren. Für die Lösung von der testamentarischen Bindung kraft § 2271 II 2 BGB oder § 2271 III BGB ist ein schutzwürdiges Interesse des Endbedachten nicht ersichtlich, da er die Lösung selbst veranlaßt hat. Bei der Freistellungsklausel ist die Nacherbenstellung richtiger Ansicht nach bedingt durch den Umstand, daß der Überlebende nicht anderweitig verfügt23. Auch hier steht dem endbedachten Dritten also kein schutzwürdiges Interesse zur Seite. Es bleibt somit einzig die oben als Fall 724 geschilderte Gestaltung übrig, daß sich der Überlebende aus sonstigen Gründen der Bindung entledigen will. Die Frage nach der Schutzwürdigkeit etwaiger Nachlaßerwerbsinteressen des Endbedachten kann erst beantwortet werden, wenn die genaueren Umstände einer Lösung von der Bindung in diesem Fall näher aufgeklärt sind; hierauf sei an dieser Stelle verwiesen25. Soweit die Einheitslösung von den Ehegatten gewählt worden ist, kommt den Endbedachten vor dem zweiten Erbfall, also dem Tode des überlebenden Teils, keine gesicherte Rechtsposition am Nachlaß sowohl des Erstversterbenden als auch des Zweitversterbenden zu. Zwei Gründe sprechen hierfür. Einmal ist der Überlebende als Vollerbe selbst bei Beeinträchtigungsabsicht nicht gehindert, unter Lebenden über den Nachlaß des Verstorbenen und über Gegenstände seines Vermögens zu verfügen; der Endbedachte kann allenfalls nach dem Tode des überlebenden Gatten einen Ausgleichsanspruch gegen den Beschenkten geltend machen, §§ 2287 f. BGB analog. Die formelle Erbenstellung wird mithin durch lebzeitige Verfügungen des 23 24 25
Dazu siehe ausführlich unten § 8 V. Oben § 7 I 2. Unten § 10 II.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
Erblassers keineswegs beeinträchtigt, da der universalsukzessive Vermögenstransfer unberührt vom wirtschaftlichen Wert des Vermögens vor sich geht26. Dies wurde schon früh zum Erbvertrag so gesehen27. Gleiches gilt für den in bindender Weise per gemeinschaftlichem Testament bedachten Dritten28; die hier und dort anzutreffende Kennzeichnung der Rechtsstellung des Endbedachten als „Anwartschaft“29 ist deshalb allein terminologischen, nicht jedoch sachlichen Gründen geschuldet. Die Vorteile, die die Bindungswirkung des gemeinschaftlichenen Testaments dem bindend bedachten Schlußerben verschafft, ist mithin bloßer Reflex des Interesses, das der überlebende Ehegatte an der Zuwendung des Erstverstorbenen nimmt30. Schließlich hat als zweiter Grund für eine fehlende gesicherte Rechtsstellung des Dritten – soweit es um das Vermögen des Überlebenden geht – dieser schon deshalb allenfalls eine Erwerbschance, weil er nicht sicher sein kann, den Ehegatten zu überleben. Aus all dem folgt, daß ein schutzwürdiges Interesse des Endbedachten bei der Einheitslösung nicht ersichtlich ist. Dessen Interessen werden allenfalls über den Bereicherungsausgleich nach § 2287 BGB geschützt. Da die etwaige familiare Verbundenheit des Endbedachten zum überlebenden Teil und zum Erstverstorbenen über das Pflichtteilsrecht eingefangen wird, bleiben sie mithin ansonsten ungeschützt. Insgesamt gesehen sind die Interessen des Endbedachten demnach sowohl bei der Einheits- als auch bei der Trennungslösung regelmäßig nicht schutzwürdig. III. Die Lösung von der testamentarischen Bindung als Folge einer auf die Todesverarbeitung bezogenen Erwartungsstörung Hauptsächlich geht es bei der Frage, ob sich der überlebende Teil von der Bindungswirkung korrespektiver Verfügungen lösen kann, um die Bewältigung von Störungen in den Erwartungen der Gatten, welche einstmals 26 So verweisen bsp. Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 25 V 11 a aE, darauf, daß sich die Rechtsstellung des Endbedachten nach Aufgabe der Rechtsprechung zur Aushöhlungsnichtigkeit noch stärker zu einer bloßen Aussicht auf das reduziert hat, was im Zeitpunkt des Erbfalls noch vorhanden ist; ähnlich bsp. MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 32, § 2286 Rn. 3. Vgl. auch Häsemeyer, Abhängigkeit, 110 ff. 27 Dazu unten § 17 I 1. 28 BGHZ 37, 319 (322); MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 32; Schlüter, Erbrecht, Rn. 372; Eckebrecht, Rechtsstellung, 144 f.; vgl. schon Oertmann, Entgeltliche Geschäfte, 115. 29 OLG Düsseldorf, NJW 1957, 266; ZEV 1996, 310 (312 f.); v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 2, 624 f.; Soergel-Manfred Wolf, § 2269 Rn. 23; RGRK-Johannsen, § 2269 Rn. 23; Jauernig-Stürner, § 2269 Anm. 5; Raiser, Dingliche Anwartschaften, 8. 30 Lange/Kuchinke, § 24 VI 6 a; Häsemeyer, Abhängigkeit, 196.
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im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens gemeinschaftlich gehegt worden sind. Es ist deshalb durchaus berechtigt, von einem „Recht der auf die Todesverarbeitung bezogenen Erwartungsstörung“ zu sprechen. Zwei Fälle gilt es bei einem derartigen Recht der Erwartungsstörung zu unterscheiden. Im ersten Fall entwickeln sich die Umstände nicht so, wie von beiden oder von einem Gatten im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens angenommen wurde. Im zweiten Fall hat sich nach dem Tode des Erstverstorbenen beim Überlebenden die Einschätzung der sich objektiv wie erwartet entwickelnden Umstände unvorhergesehen gewandelt. Damit hat sich auch die Erwartung verändert, die Einschätzung bleibe nach dem ersten Todesfall gleich. Beides mal steht die Bewältigung von einem Fehlschlag der gehegten Erwartungen im Raum. Die Rechtsordnung reagiert – wie noch gezeigt werden wird – auf diese beiden Fällen mit einer Lösung des Überlebenden von seiner testamentarischen Bindung, wenn die einstmals gemeinschaftlich avisierte Reziprozität entwertet ist, wenn nach dem Willen beider Gatten der Überlebende für den Fall der Erwartungsstörung von seiner testamentarischen Bindung freigestellt worden ist oder wenn schließlich eine Lösung wegen der Erwartungsstörung aus Gründen des Schutzes des überlebenden Teils erforderlich ist. Die Schwierigkeit, vor der sich jedes erbrechtliche Programm einer Störungsbewältigung gestellt sieht, liegen auf der Hand: Jede Erwartung verkörpert einen mehr oder weniger treffenden Vorgriff auf eine immer ungewisse Zukunft und ist damit notwendigerweise nicht nur mit der Hypothek belastet, fehl zu gehen; ihr Fehlgehen ist ihr quasi um so eher immanent, desto präziser die Erwartung gehegt wird. Im Leistungsstörungsrecht liegen die Dinge einfacher. Dort steht zumindest die Leistung im großen und ganzen fest. Das Störungsprogramm beschränkt sich hier bei feststehender Leistung „nur“ auf die Bewältigung von Abweichungen im Leistungsaustausch. Im Recht der erbrechtlichen Erwartungsstörung (also: die eingangs geschilderten sieben Fälle der Lösung von der testamentarischen Bindung) kann jedoch schon das rechte Maß des berechtigterweise Erwarteten selbst zum Problem werden. Erwartungen werden ja nur dann in die Zukunft hinein stabilisiert, wenn sie enttäuschungsfest werden, mithin auch bei Enttäuschungen beibehalten werden, welche bei einer anders als angenommen sich entwickelnden Zukunft auftreten. Ansonsten werden sie bei einer Erwartungsstörung eben fallengelassen. Die Störung wird dann dadurch bewältigt, daß fürderhin anders erwartet wird. Beim gemeinschaftlichen Testament wird die Frage, ob Erwartungen enttäuschungsfest stabilisiert sind, im Rahmen der Untersuchung der Wechselbezüglichkeit wichtig: Liegt letztere vor, ist die Erwartung für die Zukunft stabilisiert. Mit dieser Feststellung ist freilich nicht präjudiziert, daß die Erwartung gleichwohl bei Enttäuschungen stabilisiert bleibt; dies zeigt schon
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
ein Blick auf die Möglichkeit, im Wege ergänzender Testamentsauslegung Freistellungsklauseln verfügt zu sehen, die auch helfen können, einen grundlegenden Wandel in den erwarteten Umstände durch Destabilisierung der Erwartung selbst aufzufangen, indem der Überlebenden von der testamentarischen Bindung befreit wird31. Es wird dann rechtstechnisch ergänzend quasi in die Erwartung ein destabilisierendes Moment eingebaut, welches die Unsicherheit der Erwartung abfängt, indem bei Erwartungsenttäuschungen zur Freistellung von der Erwartung gegriffen wird. Beim Leistungsstörungsrecht wird im Falle der Leistungsstörung die Leistung selbst aber durchweg nicht verändert – sie mag allenfalls unmöglich geworden sein, doch ist dies der Auslöser der Leistungsstörung, nicht Mittel ihrer Bewältigung. Die eingangs32 vorgetragene, eher tentativ als systematisch angelegte kurze Skizze zum Recht der Erwartungsstörung beim gemeinschaftlichen Testament zeigt, daß eine sachgerechte Bewältigung der Erwartungsstörung ein durchaus schwieriges Unterfangen ist. Denn die einleitend33 aufgeführten sieben Fallgestaltungen einer Lösung von der testamentarischen Bindung müssen ja in ein kohärentes System rechtlicher Wertung eingebracht werden, damit sich die Lösungsmöglichkeiten von der Bindung nicht nur als Frucht reiner auctoritas, sondern als geltungstheoretisches Signum des Rechts erweisen, vor deren Folie die Bürger sich als gemeinsame Autoren desselben begreifen dürfen34. Nur dann kann von einer „sachgerechten“ Bewältigung von Erwartungsstörungen die Rede sein. Ein kohärentes System rechtlicher Wertung setzt voraus, daß die Wertungen in ein Bezugsfeld eingespannt werden können, welches ihre (bestehende oder mangelnde) Kohärenz und ihre (bestehende oder mangelnde) Konsistenz einsichtig werden läßt. Es wird sich zeigen lassen, daß sich Einsatzstellen eines Erwartungsstörungsprogramm lokalisieren lassen, die die Kohärenz und Konsistenz in der Wertung gewährleisten. IV. Weiteres Vorgehen Im weiteren werden die drei Hauptfallgestaltungen diskutiert, in denen eine Lösung von der testamentarischen Bindung in Betracht kommen. Es ist dies einmal der Fall entwerteter Reziprozität. Dieser tritt einzig im Falle der Wiederverheiratung auf. Hier geht es zum einen um dessen Möglichkeiten, sich von der testamentarischen Bindung zu befreien (dazu § 11), und 31
Dazu unten § 8 II. Oben § 7 I. 33 Oben § 7 I 2. 34 Dazu oben § 1 II, sowie Goebel, ARSP 2003, 372 (384 f.); ders., Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 1 III 1. 32
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zum anderen um das kautelarjurisprudentielle Regelwerk der Wiederverheiratungsklauseln, mit dem versucht wird, spezifische Risiken der Wiederverheiratung für den Erstverstorbenen beherrschbar zu gestalten (dazu § 12). Bei dem zweiten Hauptfall einer Lösung von der testamentarischen Bindung – der Schutz des überlebenden Teils im Falle einer entwerteten Vermögensordnung post mortem – lassen sich eher häufigere (dazu § 9) und eher seltenere (dazu § 10) Entbindungsfälle unterscheiden. Der Schutz des Überlebenden steht im Vordergrund, wenn die Ausschlagung des erbrechtlichen Erwerbs (dazu § 9 I) und die Entbindung wegen des Wegfalls des Endbedachten (dazu § 9 II) diskutiert werden. Darüberhinaus steht die Befreiung von der Bindung in Rede, wenn der testamentarische Wille, der der Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments zugrundelag, irrtumsbehaftet gewesen ist (dazu § 9 III). Eher seltener wird die Möglichkeiten in Betracht kommen, daß sich der Überlebende aufgrund eines bereicherungsrechtlichen Anspruchs der Bindung entledigt (dazu § 10 I). Schließlich wird als letzter Punkt des Überlebendenschutzes erörtert, ob und bei welchen Gestaltungen der Überlebende seine Testierfreiheit aus dem Grunde wiedergewinnen kann, weil er aufgrund einer Umstandsänderung neu testieren will, die weder zur Anfechtung berechtigt, noch über die ergänzende Auslegung beachtlich werden kann (dazu § 10 II). Bevor all dies thematisiert wird, wird als dritte Lösungsmöglichkeit von der testamentarischen Bindung die Entbindung kraft des gemeinsamen Willens beider Gatten oder zumindest des Willens des Erstverstorbenen aufgegriffen. Sedes materiae dieser Entbindungsmöglichkeit sind die testamentarischen Freistellungsklauseln (dazu § 8). Beschlosssen wird die Diskussion der Lösungsmöglichkeiten von der testamentarischen Bindung mit einer kurzen systematischen Gesamtschau der bisherigen Überlegungen (dazu § 13), anhand dessen das innere System der Entbindung skizziert und auch ein kurzer Blick auf das wirtschaftlich mehr oder weniger funktionale Äquivalent zur Entbindung, nämlich auf den Vermögenstransfer unter Lebenden (dazu § 13 II), geworfen werden soll. Mit Rücksicht auf diese abschließende Gesamtschau sind den einzelnen Paragraphen keine Einzelzusammenfassungen eigens beigegeben.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
§ 8 Entbindung qua Willen beider Gatten oder des Erstverstorbenen I. Freistellung und Ehegattenwillen 1. Allgemeines
Die durch das gemeinschaftliche Ehegattentestament herbeigeführte testamentarische Bindung korrespektiver Verfügungen beruht auf dem Schutz der Persönlichkeit des Erstverstorbenen und wird auch ohne den (freilich nicht gegen den) Willen und erst recht mit dem Willen der Gatten ins Werk gesetzt35. Wenn die Ehegatten mithin frei entscheiden können, ob ihre Verfügungen im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit stehen sollen oder nicht, können sie einander oder der eine Gatte zugunsten des anderen allgemeiner Meinung nach36 sich durch eine sog. Freistellungsklausel auch das Recht einräumen, eigene korrespektive Verfügungen nach dem ersten Erbfall aufzuheben oder abzuändern. Die Freistellung ist unbeschränkt möglich, kann aber auch mit beliebigen Beschränkungen verbunden werden. Sie kann sich etwa auf Rechtsgeschäfte von Todes wegen, aber auch nur auf Geschäfte unter Lebenden beziehen37, kann gegenständlich beschränkt sein, etwa nur auf Vermächtnisse oder nur auf die Vermächtnishöhe zu Gunsten einer ansonsten fest gelegten Person38, und kann schließlich auch von einer bestimmten Bedingung abhängig gemacht werden39. Eine Freistellungsmöglichkeit kann nur durch Verfügung von Todes wegen zugestanden werden40, da sie die durch eben solche Verfügungen qua Korrespektivität implementierte testamentarische Bindungswirkung betrifft. Die Freistellungsklausel schließt die Wechselbezüglichkeit der Verfügungen nicht schlichtweg aus, da ja immer noch die Notwendigkeit gewollt sein kann, in der Form des § 2271 I BGB zu Lebzeiten beider Gatten korrespektive Verfügungen widerrufen zu müssen; zudem kann die Wirksamkeitsabhängigkeit der Verfü35
Dazu siehe ausführlich oben § 6 I, § 6 II 1. BGHZ 2, 35 (37); 30, 261 (265); BGH, DNotZ 1987, 430 (432); BayObLG, FamRZ 1987, 638 (639); OLG Zweibrücken, NJW-RR 1992, 587 (589); OLG Hamm, FamRZ 1995, 146 (148); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 31; RGRKJohannsen, § 2271 Rn. 29; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 22; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 56; Jauernig-Stürner, § 2271 Anm. 2 b bb; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 III 4 d; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 504; Schlüter, Erbrecht, Rn. 369; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 226; Leipold, Erbrecht, Rn. 353; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 4 c. 37 Dazu BayObLG, FamRZ 1985, 209 (210); KG, JW 1936, 3264 (3265); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 32; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 24. 38 Dazu RG, Recht 1914, Nr. 945; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 32; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 62. 39 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 33; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 56. 40 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 31. 36
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gungen nach § 2270 I BGB weiterhin gewollt sein41. Die Grenze zu nichtwechselbezüglichen Verfügungen ist dort erreicht, wo die einseitige Aufhebung der Verfügung durch Änderungstestament schon zu Lebzeiten des anderen Teils in das Belieben des Gatten gestellt ist42. Ist eine Freistellungsklausel erklärt und will der überlebende Teil die Verfügung aufheben, braucht er hierzu nicht die Form der notariellen Beurkundung des § 2271 I 1 BGB wählen. Wie er stattdessen vorzugehen hat, ist indes umstritten. Teilweise wird die Form des Widerrufstestaments analog § 2297 BGB verlangt43, während andere die Widerrufsform des § 2255 BGB für hinreichend erachten44. Richtigerweise ist wie folgt zu differenzieren: Entfällt bei der Ausübung des Freistellungsvorbehalts auch die Unwirksamkeit der entsprechenden Verfügungen des Erstverstorbenen nach § 2270 I BGB – wovon im Zweifel auszugehen ist45 –, liegt allenfalls eine Wechselseitigkeit der Verfügung vor, deren Sinn darin besteht, zu Lebzeiten beider Gatten ein neues Testament erst bei formgerecht erklärtem Widerruf nach § 2271 I 1 BGB zu ermöglichen; nach dem ersten Todesfall soll eine Bindung ja gerade nicht eintreten. Ist dem so, ist kein Grund mehr ersichtlich, der die Analogie zu § 2297 BGB trägt, so daß ein Widerruf nach § 2255 BGB ausreicht. Wird jedoch die Verfügung des Erstverstorbenen bei einer Ausübung der Freistellungsklausel gem. § 2270 I BGB unwirksam, muß es bei dem Widerrufstestament bleiben. Ansonsten wäre der Wertungsgleichklang mit dem Recht des Erbvertrags nicht hergestellt. Die Änderungsbefugnis kann dem anderen Teil auch in der Art eingeräumt werden, daß der Erstverstorbene nachträglich einseitig letztwillig verfügt, seine Verfügungen seien nunmehr von der des anderen Gatten nicht mehr abhängig46. Eine derartige Aufhebung der Wechselbezüglichkeit kann schon darin liegen, daß der Erstverstorbene in einem einseitigen Testament seine in dem gemeinschaftlichen Testament getroffenen Verfügungen wiederholt und dabei zum Ausdruck bringt, eine Abhängigkeit seiner Verfügungen von der des anderen Gatten sei nicht mehr gegeben47. Damit ent41
Leipold, Erbrecht, Rn. 353; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 4 c. Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 56. 43 OLG Stuttgart, NJW-RR 1986, 632; OLG Hamm, NJW-RR 1996, 1095 f.; Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 23; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 32. 44 Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 63; Erman-Schmidt, § 2271 Rn. 9 (anders ders., ebda., § 2255 Rn. 10: Widerrufstestament analog § 2297 BGB); v. Lübtow, Erbrecht, Bd., 1, 505; Radke, Berliner Testament, 133 f. 45 Dazu unten § 8 II 2. 46 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 31; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 30; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 505. 47 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 31 mit § 2270 Rn. 5. Zur Frage, ob eine durch den Erstverstorbenen einseitig testierte nachträgliche Besserstellung des Überlebenden diesen von der Bindung befreit siehe schon oben § 6 III 2 a. 42
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fällt notwendigerweise die Notwendigkeit, dem erstversterbenden Teil einen Persönlichkeitsschutz gewähren zu müssen, da er hinsichtlich des anderen Teils keine Erwartungen mehr hegt, sehr wohl aber der andere gegenüber dem einen. Entfällt aber der Persönlichkeitsschutz des einen Gatten, gewinnt der überlebende andere Gatte seine Testierfreiheit zurück, nicht aber der eine Gatte, der den anderen Gatten nachträglich freigestellt hat, wenn der andere vorverstirbt. 2. Die Ermittlung einer Freistellungsklausel
Eine Freistellungsklausel muß nicht ausdrücklich niedergelegt sein, sondern kann auch stillschweigend vereinbart oder im Wege ergänzender Auslegung dem Testament entnommen werden48. Gleiches gilt für die Reichweite der Freistellung. Die Rechtsprechung hat auch bei der Freistellungsklausel zu Auslegungsregeln gefunden. So soll etwa die Tatsache, daß Ehegatten im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens verhältnismäßig jung sind, für sich allein genommen kein Anzeichen für eine Freistellungsklausel sein49 – zu Recht, da beide Teile ja zu Lebzeiten immer noch in der gehörigen Form (§ 2271 I BGB) widerrufen und damit die Möglichkeit zurückgewinnen können, ihr „Sein zum Tode“ zu entfalten. Zudem bewahrt ein jugendliches Alter – selbstredend, wenn auch nicht immer bewußt – nicht vor einem frühen Tod50, so daß ein Persönlichkeitsschutz beider Teile auch in jungen Jahren Sinn macht. Freilich überzeugt nicht jede der von der Rechtsprechung statuierte Auslegungsanweisung. Es kommt durchweg zu so etwas wie einem impliziten Nachrang der Freistellung, wenn die typischen Anzeichen für eine korrespektive Verfügung ansonsten vorliegen. Anders gesagt: Liegt ein typischer Fall von Korrespektivität vor, hat es eine im Testament unklar zum Ausdruck gebrachte Freistellungsklausel schwer, sich gegen die Annahme einer unbeschränkten Wechselbezüglichkeit durchzusetzen. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen. In einem gemeinschaftlichen Testament findet sich zumindest in den kautelarjurisprudentiellen Formelwerken für Freistellungsklauseln die häufige51 Sentenz, „Änderungen bleiben den Eltern (Ehegatten) vorbehalten“. Ist mit diesem Hinweis ein Änderungsvorbehalt zugunsten des Überlebenden nach dem ersten Todesfall implementiert – und zwar mit der Begründung, dann könne der Klausel wenigstens ein genuiner Sinn ab48 KG, OLGZ 1966, 504 f.; 1977, 457 (462); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 31; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 24 f.; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 226; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 501. 49 So BayObLG, FamRZ 1995, 251 (253); Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 57. 50 Dazu überaus prägnant Heidegger, Sein und Zeit, 258. 51 Radke, Berliner Testament, 127 f.
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gewonnen werden, da ein Verweis auf die Befugnis zur jederzeitigen Änderung des Testaments durch beide Gatten eigentlich überflüssig ist? Die Rechtsprechung folgt dem mit der Begründung nicht, bei juristischen Laien könne nicht ausgeschlossen werden, sie wüßten nicht, daß eine Änderung des Testaments im gegenseitigen Einvernehmen immer möglich sei52. Sie liegt damit auf der verbreiteten auslegungsrechtlichen Linie, daß bei der Ermittlung einer (insbesondere einer stillschweigenden) Freistellungsklausel zurückhaltend vorzugehen sei53. Bei derartigen Aussagen werden die Akzente nicht überzeugend gesetzt. Es kann genauso gut behauptet werden, die Freistellung sei für die jeweilige Verfügung, auf die sich die Freistellung bezieht, das Primäre und die Wechselbezüglichkeit hierzu das Sekundäre, so daß bei Anhaltspunkten für eine Freistellung im Ehegattentestament gerade umgekehrt von der Annahme einer Wechselbezüglichkeit zurückhaltenden Gebrauch zu machen sei und im Zweifel eine Freistellung vorläge. Wie sich Freistellung und Wechselbezüglichkeit zueinander verhalten, ist zuerst einmal eine Frage nach der rechten Perspektive. Diese darf grundsätzlich nicht faktisch mit der auslegungsrechtlichen Annahme eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses für die Wechselbezüglichkeit vorentschieden werden, solange hierfür keine Gründe vorgetragen werden. Diese Gründe wiederum können nur der rechten Gewichtung der im gemeinschaftlichen Testament verkörperten Persönlichkeitsbeiträge beider Gatten entnommen werden. Es müssen mithin – wie auch sonst bei der Prüfung der Wechselbezüglichkeit – genau die jeweiligen Reziprozitäten54 ermittelt werden, nach denen sich das Erwarten der Ehegatten bemißt. Haben diese nur erwartet, daß zu Lebzeiten beider Teile der Widerruf des gemeinschaftlich Verfügten in der Form des § 2271 I 1 BGB erfolgt oder daß eine Wirksamkeitsabhängigkeit nach § 2270 I BGB stattfinden soll, liegt Wechselbezüglichkeit bei gleichzeitiger Freistellungsklausel vor. Bestehen im gemeinschaftlichen Testament Anhaltspunkte für eine Freistellungsklausel, ohne daß das Erwarten der Gatten in der soeben geschilderten Weise begrenzt ist, ist – wie auch sonst – zu prüfen, ob die Verfügung des einen nicht ohne die des anderen getroffen sein würde (§ 2270 I BGB). Anzeichen für eine Freistellung sind hier wie sonst als Auslegungsmaterial zu werten. Eine unterschwellige Zurückhaltung ist hier fehl am Platz. Alles andere würde ja die allgemeine Regel55 zumindest inzident unterlaufen, daß ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Überlebenden nur gerechtfertigt ist, wenn die Wechselbezüglichkeit tatsächlich feststeht. 52 53 54 55
So BayObLG, NJW-RR 1989, 587 (588). So BayObLG, FamRZ 1991, 1488; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 31. Dazu oben § 5 II. Dazu oben § 6 III 4.
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Anders ist dies nur, wenn die Wechselbezüglichkeit aufgrund der Anwendung der Auslegungsregel des § 2270 II BGB angenommen wird, da in diesem Falle derjenige, der sich auf das Fehlen der Wechselbezüglichkeit beruft, die Beweislast hierfür trägt56. Ist dem so, ist nach der Wertung des Gesetzes auch die Freistellungsklausel als Ausnahme von der Wechselbezüglichkeit zu werten; der Aufruf, im Zweifel interpretatorische Zurückhaltung hinsichtlich der Klauselvereinbarung zu üben, ist dann folgerichtig. Für die o. g. Klausel „Änderungen bleiben den Eltern (Ehegatten) vorbehalten“ folgt hieraus, daß aus ihr allein sicherlich nicht automatisch gefolgert werden kann, es läge eine Freistellung des überlebenden Teils vor. Die Änderungsklausel kann sich dann beispielsweise auch nur auf Rechtsgeschäfte unter Lebenden beziehen57. Lassen sich aber keine Anhaltspunkte dafür finden, die Ehegatten hätte die Klausel ausschließlich im irrigem Glauben verfügt, sie könnten ansonsten nicht mehr gemeinsam das Testament ändern, und bleiben auch ansonsten Zweifel zurück, ob nicht tatsächlich eine Freistellung gemeint war, ist für eine Freistellung zu votieren. Es gilt mithin folgende Auslegungsregel: Auslegungsregel 8.1: Bleiben bei einer Klausel, nach der sich die Ehegatten Änderungen des gemeinschaftlichen Testaments vorbehalten, Zweifel zurück, ob die Ehegatten wechselbezüglich verfügt haben, ist von einer Freistellung des überlebenden Teils auszugehen, es sei denn, die Wechselbezüglichkeit ist nach der Auslegungsregel des § 2270 II BGB ermittelt worden.
II. Die Freistellungsklausel als Instrument zur Bewältigung von Erwartungsstörungen Im typischen Fall der ausdrücklich verfügten Freistellungsklausel bemühen sich die Ehegatten durchweg, auf die Entwicklung der Umstände nach dem ersten Todesfall schon im Vorfeld zu reagieren, welche im Zeitpunkt des Testierens nach der Einschätzung beider Seiten oder eines der beiden Gatten zwar erwartet, aber doch nicht als so sicher erwartbar eingeschätzt werden, daß eine Freistellung guten Mutes unterbleiben kann. Mit der Freistellungsklausel wird es daher möglich, wie mit der Anfechtung auf mögliche Abweichungen zwischen der Testiermotivation und der Entwicklung der Umstände zu reagieren, auf denen die Motivation beruht. Beide Instrumentarien sind mithin willensbezogene Modi zur Bewältigung von Erwartungsstörungen im gemeinschaftlichen Testament. Es gilt mithin zu klären, in welchem Verhältnis beide Instrumente zueinander stehen. 56 57
Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 10. Siehe BayObLG, FamRZ 1985, 209 (210); KG, JW 1936, 3264 (3265).
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1. Freistellung und Anfechtung: Allgemeines
Im praktischen Ergebnis unterscheiden sich Freistellung und Anfechtung typischerweise nicht. Ein Beispiel mag dies erläutern: Beide Gatten haben sich wechselbezüglich als Alleinerben und einen Dritten als Schlußerben unter der Erwartung bedacht, dieser würde ein bestimtes Verhalten an den Tag legen. Zugleich haben sie für den Fall, daß die Erwartung enttäuscht wird, eine Freistellung des überlebenden Teils verfügt. In der Abwandlung des Grundfalls haben die Ehegatten keine Freistellungsklausel in das Testament implementiert. Die Erwartung wird enttäuscht. Im Grundfall kann der Überlebende zwar nicht anfechten, da er aufgrund der Freistellung nicht testamentarisch gebunden und somit die Voraussetzungen für eine Analogie zu den §§ 2281 ff. BGB nicht gegeben sind58. Er testiert mithin einfach neu und bringt damit die Altverfügung nach § 2258 I BGB zu Fall. In der Abwandlung könnte der überlebende Teil gem. § 2281 I BGB analog i.V. m. § 2078 II BGB mit der Nichtigkeitsfolge des § 142 I BGB anfechten und sodann neu testieren; die korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen werden damit grundsätzlich ebenfalls unwirksam, § 2270 I BGB. Testiert im Grundfall hingegen der Überlebende – gedeckt von der Freistellungsklausel – widersprechend dem gemeinschaftlichen Testament neu, werden die früheren korrespektiven Verfügungen des Überlebenden in der Reichweite des Widerspruchs aufgehoben, § 2258 I BGB. In diesem Falle wird hinsichtlich der wechselbezüglichen Verfügungen des vorverstorbenen Teils zumeist angenommen, diese seien gem. § 2270 I BGB ebenfalls unwirksam59. Anfechtung und das Gebrauchmachen von der Freistellung können hier also zu dem gleichen Ergebnis führen: Vernichtung der korrespektiven Verfügungen beider Gatten, soweit die Anfechtung reicht und soweit von der Freistellung Gebrauch gemacht wird. Hat der Überlebende zu Lebzeiten von der Freistellung bewußt keinen Gebrauch gemacht, ist nach dessem Tode eine Anfechtung nach § 2078 II BGB grundsätzlich nicht zulässig. Dies liegt zwar nicht daran, daß aus dem unterlassenen Änderungstestament zurückgeschlossen werden kann, die Erheblichkeit der Erwartung des Umstandseintritts für die Erblassermotivation habe nicht vorgelegen. Denn die Verfügung einer Freistellungsklausel zeigt ja gerade, daß die enttäuschte Erwartung erheblich gewesen ist. Und die Entscheidung des Erblassers, an der Verfügung trotz Erwartungsenttäuschung festzuhalten, entkräftet die Erheblichkeit ja dann nicht, wenn diese Entscheidung auf geänderten Wertungen des Erblassers beruht, da die Erheblichkeit des Irrtums richtigerweise60 aufgrund der Vorstellungen des 58 59 60
Zu diesen Voraussetzungen unten § 9 III 1 a. Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 28; Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 23. Ganz h. M., siehe nur MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 32, 47.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
Erblassers zur Zeit der Testamentserrichtung zu beurteilen ist61. Der Ausschluß der Anfechtung beruht vielmehr auf der Untätigkeit des überlebenden Erblassers, der zu Lebzeiten von seiner Freistellung trotz Kenntnis vom Freistellungsgrund keinen Gebrauch hat. Damit liegt im Zweifel eine formlos mögliche (§ 144 II BGB) Bestätigung nach § 144 I BGB vor, § 2283 BGB analog62. Zwar reicht ein bloßes Untätigwerden trotz Kenntnis von der Erwartungsenttäuschung für eine Bestätigung regelmäßig nicht hin63. Im Falle der Freistellungsklausel ist der fragliche Umstand, hinsichtlich dessen ein Eintritt oder Nichteintritt erwartet wurde, aber so prominent aus dem Kreis des die letztwillige Verfügung tragenden Motivbündels hervorgehoben, daß aus dem Unterlassen des Erblassers zumindest dann im Zweifel der Wille hervorgehen wird, die Verfügung solle trotz Erwartungsenttäuschung gelten, wenn der Überlebende wußte, daß der Freistellungsfall eingetreten ist. Anfechtung und Freistellung müssen sich in den Wirkungen hinsichtlich der korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen nicht immer decken. Denn die Auslegung des Freistellungsvorbehalts kann auch ergeben, daß bei einer Neutestierung kraft Freistellung die Folge des § 2270 I BGB für die Verfügungen des Erstverstorbenen nicht eintreten soll. Im eingangs genannten Beispielsfall würde danach die durch widersprechende Zweitverfügung bewerkstelligte Unwirksamkeit der Einsetzung des Dritten als Erben des Längstlebenden nicht dazu führen, daß dessen Einsetzung als Alleinerbe des Erstverstorbenen gem § 2270 I BGB unwirksam ist. Wenn dies so ist, folgt aus der Freistellungsklausel mithin, daß die Einsetzung des Schlußerben zumindest nach dem ersten Todesfall nicht wechselbezüglich sein soll64; der Freistellungsvorbehalt wäre nur ein besonderes Mittel, dies auszudrücken. Anfechtung und Freistellung müßen sich nicht nur in ihren Wirkungen nicht immer decken, sie müssen dies auch nicht in ihren Voraussetzungen. Einmal können Unterschiede in Form- und Fristfragen beobachtet werden. Bei der Freistellung wird man nicht davon ausgehen können, daß für sie die Formen und Fristen der Testamentsanfechtung gelten, bei der die 61 Andere Ansicht Keuk, Der Erblasserwille post testamentum, 108 ff.; Lange, JherJb 82 (1932), 1 (32). 62 Zur Anwendbarbeit des § 2283 BGB siehe nur Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 V 2. Auf den Streit, ob dem Erblasser das Recht zur Bestätigung einer anfechtbaren Verfügung nach § 144 BGB zusteht oder nicht (dazu verneinend nur BayObLGZ 1971, 147 (159); Kipp/Coing, Erbrecht, § 24 VII 1; Schlüter, Erbrecht, Rn. 246; und bejahend nur MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 47; Staud-Otte, § 2080 Rn. 22; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 V 2), kommt es daher hier nicht an. 63 MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 47. 64 Dazu BayObLGZ 1987, 23.
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§§ 2282 f. BGB analog greifen65. Dies ist auch sinnvoll. Für die Form der Anfechtung liegt dies auf der Hand. Diese wird bei einem Gebrauchmachen von der Freistellungsklausel funktional durch die Form der Testamentserrichtung ersetzt. Und die Anwendung der Anfechtungsfrist wäre bei einer Freistellung dysfunktional für die Ausprägung des Persönlichkeitsrechts des Überlebenden, da sie dessen Überlegungsfrist beschneiden würde, obwohl die Ehegatten die Freistellung vorgesehen und damit zu erkennen gegeben haben, daß der überlebende Teil in Ruhe und mit der Muße und Verantwortung, die der Verarbeitung des eigenen Todes notwendig inhärent ist, sich Rechenschaft ablegt, ob er von der Freistellung Gebrauch machen will66. Neben diesen Form- und Fristfragen müssen sich die Fälle, in denen die Freistellungsklausel greift, auch nicht mit den Gestaltungen decken, in denen die Anfechtung nach § 2078 II BGB statthaft ist. Oftmals wird der Freistellungsvorbehalt eingeräumt werden, damit der Überlebende einer im Zeitpunkt des Testierens noch nicht absehbaren Veränderung seiner Lebenssituation oder eines Wandels der Einschätzung dieser Situation hinreichend Rechnung tragen kann. Die Freistellungsklausel ist hier durchweg Ausdruck der Tatsache, daß die Ehegatten das gemeinschaftliche Testament vor dem Hintergrund erheblicher Zweifel über die künftige Entwicklung errichtet haben. In derartigen Fällen wird zu Recht gemeinhin die Anfechtung wegen Motivirrtums ausgeschlossen, da die Inkaufnahme des Risikos durch den Erblasser in dem gleichen Maße zu respektieren sei, wie seine sonstige Willensbildung67. Die Freistellungsklausel erhält hier mithin ein durchaus eigenes Gewicht. Nach all dem bleibt festzuhalten: Anfechtung und Freistellung können sich in ihren Anwendungsbereichen decken, soweit es um die Enttäuschung hinsichtlich des Eintritts oder des Nichteintritts eines Umstands geht. Soweit sie sich decken, unterscheiden sich beide Instrumente hinsichtlich ihrer Folgen für die korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen zumeist nicht; bei der Freistellung kann jedoch öfters eine Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments in Frage kommen, bei der eine Unwirksamkeit nach § 2270 I BGB nicht stattfindet. Der Anwendungsbereich der Freistellung ist darüberhinaus weiter als der der Anfechtung, da die Freistellung auch dort eine Lösung von der Bindung erlaubt, wo eine Anfechtung wegen der bewußten Übernahme des den fraglichen Umstand betreffenden Risikos ausgeschlossen ist. Für die Freistellung gelten schließlich nicht die anfechtungsrechtlichen Form- und Fristregelungen.
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Dazu unten § 9 III 1 a. Dazu ausführlich unten § 8 II 2. 67 MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 22; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 13; StaudOtte, § 2078 Rn. 17. 66
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung 2. Freistellung und ergänzende Auslegung
Die bisherigen Fallgestaltungen waren ersichtlich an einer ausdrücklich verfügten Freistellungsklausel und an positiven Vorstellungen von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Umstands orientiert, welche den letztwilligen Verfügungen als Motiv zugrundelag. Schwieriger wird es, wenn es um die Bewältigung von Entwicklungen von Umständen geht, über die sich die Ehegatten keine Gedanken gemacht haben, die aber gleichwohl auf die Testiermotivation Einfluß gehabt hätten, wenn sie bedacht worden wären. Die Rechtsprechung gibt ein Anfechtungsrecht, wenn es um Umstände geht, deren Vorhandensein oder Fehlen die Ehegatten zumindest implizit anstandslos vorausgesetzt haben, die also so selbstverständlich sind, daß sie jederzeit abrufbar und in das Bewußtsein zu holen wären68. Die Literatur läßt ganz überwiegend bei dem Fehlgehen einer derartigen selbstverständlichen Erwartung69 ebenfalls die Anfechtung aus § 2078 II BGB zu70, wenngleich klarer die Rede davon ist, daß es nicht um „selbstverständliche Vorstellungen“, sondern um das Nichtbedenken vergangener, gegenwärtiger oder künftiger Umstände71 oder um das Fehlgehen einer konstruierten, hypothetischen Vorstellung72 geht73. Die Anfechtung wegen Motivirrtums ist also sehr weit eröffnet. Die Anfechtung ist freilich nicht die einzige Möglichkeit, den Eintritt oder den Nichteintritt des fraglichen Umstands rechtlich zu verarbeiten. In Frage – und vorrangig74 – kommt daneben noch die ergänzende Auslegung in Betracht. 68
Siehe nur aus der Fülle BGH, NJW-RR 1987, 1412 (1412 f.). Früher sprach die Rechtsprechung von „unbewußten Vorstellungen“ (etwa BGH, LM BGB § 2078 Nr. 4, 8; BayObLG, FamRZ 1984, 1270 (1271); OLG Hamm, FamRZ 1994, 849) – eine Begriffskreation, deren implizite Perplexität auf der Hand liegt. 70 Demgegenüber will Keymer, Anfechtung, 45 ff., 167 ff., 176 ff., anstelle der Anfechtung wegen „selbstverständlichen Vorstellungen“ auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage rekurrieren. Sachgerecht ist dies wegen der verschiedenen Zielsetzungen der involvierten Rechtsgebiete (gerechter Ausgleich bei angemessener Risikoverteilung im Vermögensrecht versus Willensherrschaft im Testamentsrecht) nicht. Kritisch zum Konzept der selbstverständlichen Vorstellungen zumindest bei der Anfechtung von Erbverträgen mit Rücksicht auf die §§ 2293 ff. BGB, die dann gegenstandslos würden, auch Stürzebecher, Rücktritt, 64 ff. 71 So MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 29. 72 So Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 III 2 c. 73 Vgl. MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 28 f. m.w.Nachw. in Fn. 51; SoergelLoritz, § 2078 Rn. 19; RGRK-Johannsen, § 2078 Rn. 49; Staud-Otte, § 2078 Rn. 23; Kipp/Coing, Erbrecht, § 24 II 2 b; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 III 3 c; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 321. 74 Siehe nur BGH, LM BGB § 2100 Nr. 1; NJW 1978, 264 (266); BayObLGZ 1966, 390 (394); BayObLG, FamRZ 1991, 982; MünchKomm-Leipold, § 2078 69
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Bei einer Änderung von „selbstverständlichen Umständen“ ist mithin zu fragen: (1) Kann für die Bewertung der Umstandsänderung, um deren Erheblichkeit es geht, eine Regelung des gemeinschaftlichen Testaments im Wege der ergänzenden Auslegung formuliert werden? Läßt sich per ergänzender Auslegung eine testamentarische Vorschrift entnehmen, die selbst die Umstandsänderung regelt? Ist dem so, ist die Umstandsänderung testamentsrechtlich bewältigt. Ist dem nicht so, ist zu fragen, ob (2) nicht wenigstens eine Freistellungsklausel im Wege ergänzender Auslegung in das Testament eingefügt werden kann, die die Bewältigung der Umstandsänderung zwar nicht selbst regelt, wohl aber der Regelung des Überlebenden im Wege einer neuen Verfügung von Todes wegen anvertraut. Scheidet auch dies aus, ist zu untersuchen, ob (3) beim Eintritt oder Nichteintritt des Umstands die Anfechtung nach § 2078 II BGB gegeben werden kann. Die ersten beiden Wege verwirklichen beide eine Anpassung der von beiden Gatten ersonnenen Vermögensordnung post mortem an die veränderten Umstände. Sie unterscheiden sich graduell nach dem Maß der Flexibilität, mit der auf die Umstandsveränderung reagiert werden kann: Mit dem ersten Weg wäre eine relativ konkrete Anpassung des gemeinschaftlichen Testaments an den fraglichen Umstand anhand der per ergänzender Auslegung gefundenen testamentarischen Regelung gewonnen, während eine Freistellungsklausel eine Anpassung in denkbar weitester Form ermöglicht, da sie die Anpassung dem freien Willen des überlebenden Teils anvertraut. Die Anfechtung vernichtet demgegenüber die Verfügung des Überlebenden und wegen § 2270 I BGB regelmäßig als Folge auch die des Erstverstorbenen. Ihr kommt mithin eine vornehmlich „negative“ Anpassungsfunktion zu, da die gemeinschaftliche Vermögensordnung im Regelfall zerstört wird. Wann also liegt welche dieser drei Möglichkeiten vor? Die Abgrenzung zwischen Anfechtung und ergänzender Auslegung wird im Fall des Fehlgehens selbstverständlicher Erwartungen richtigerweise in der Weise getroffen, daß gefragt wird, ob der Erblasser seine Verfügung auch bei Kenntnis der wirklichen Lage oder bei Vorausschau der Entwicklung der Umstände so getroffen hätte75. Bei der Ermittlung dieses hypothetischen Willens muß eine reine Willensfiktion vermieden werden, wie sie sich einstellt, wenn sich Redlichkeits- und Vernunftserwägungen verselbständigen76. Die Auslegung muß sich also im Rahmen der wahrscheinlichen und nachvollziehbaren Planung der Erblasser halten77. Kann dem TestaRn. 9; Palandt-Edenhofer, § 2078 Rn. 1; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 3; Staud-Otte, § 2078 Rn. 6; RGRK-Johannsen, § 2078 Rn. 27 f.; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 III 2 c; Kipp/Coing, Erbrecht, § 24 III 4 b; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 267. 75 Dazu näher unten § 10 II 1 b. 76 Dazu oben § 6 III 1 a sowie Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 II 1 c dd.
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ment in diesem Rahmen für die Regelung des fraglichen Umstands keine konkrete lückenergänzende Klausel entnommen werden, kommt notwendigerweise nur noch eine Freistellungsklausel oder die Anfechtung in Betracht. Welches dieser beiden Instrumentarium wiederum zur Umstandsanpassung vom Testamentsausleger wählbar ist, wird vornehmlich von den Rechtsfolgen abhängen, anhand derer sich Freistellung und Anfechtung unterscheiden. Es war schon die Rede davon, daß relevante Unterschiede in der Regel nur in der Anwendbarkeit der anfechtungsrechtlichen Form- und Fristregelungen der §§ 2282 f. BGB analog gefunden werden können, die bei der Freistellung nicht zum Tragen kommen78. Denn hinsichtlich des Schicksal der korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen ist ein relevanter Unterschied durchweg nicht ausmachen: Bleibt trotz Anfechtung dessen Verfügung entgegen § 2270 I BGB ausnahmsweise wirksam, weil die Ehegatten dies so wollten (so daß eigentlich schon die Korrespektivität insoweit nicht gegeben ist), wird gleiches auch für den Fall der Freistellung gelten und umgekehrt. Mit Blick hierauf wird es grundsätzlich nicht zu verselbständigten Redlichkeits- und Vernunftserwägungen kommen, wenn sich die Annahme im Rahmen der wahrscheinlichen und nachvollziehbaren Planung der Erblasser hält, die Ehegatten hätten sich gegenseitig oder der Erstverstorbene den Überlebenden von der Beachtung der anfechtungsrechtlichen Form- und Fristregelungen suspendieren wollen. Ist dem so, wird im Wege ergänzender Auslegung dem gemeinschaftlichen Testament eine Freistellungsklausel entnommen werden können; die Klausel ist dann nur rechtstechnischer Ausdruck der wahrscheinlichen Planung der Gatten. Im Ergebnis kommt eine Selbstanfechtung durch den überlebenden Teil – die sonstigen Voraussetzungen der Anfechtung unterstellt – also nur in Betracht, wenn die Befreiung von der Form und der Frist der Anfechtung von der wahrscheinlichen Planung der Ehegatten oder der Planung des Erstverstorbenen nicht gedeckt ist, während umgekehrt die Freistellungsklausel zum tragen kommt, wenn die Suspendierung von der anfechtungsrechtlichen Form und Frist von der Planung gedeckt ist. Wann ist nun in der Regel was der Fall? Hinsichtlich der Form der Anfechtung (notarielle Beurkundung der Erklärung nach § 2282 III BGB) dürfte in den wenigsten Fällen die genannte Suspendierung nicht gewollt sein. Problematisch ist mithin allein die Anfechtungsfrist des § 2283 BGB. Es ist für den Regelfall nichts ersichtlich, daß die Ehegatten sich dazu motiviert sehen könnten, die Entschließungsfreiheit des überlebenden Teils in die Zwänge irgendeiner Frist einzubinden. Im Gegenteil entspricht es dem Leitbild einer intakten Ehe, daß jeder Gatte vom anderen Teil erwarten darf, jeder trage für den anderen Verantwortung, übe Beistand und Rücksicht und übernehme die gebo77 78
Vgl. nur Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 34 III 4. Oben § 8 II 1.
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tene Fürsorge – eine Typizität im Verhalten, welche § 1353 I HS 2 BGB aufgegriffen und als normatives Leitbild der Ehe ausdrücklich niedergelegt hat79. Wieso sollte daher nicht jeder der Gatten dem je anderen Teil die bestmögliche Chance verschaffen wollen, sein „Sein zum Tode“ anhand einer zweiten letztwilligen Verfügung auszuprägen, wenn der andere gerade mit diesen Verfügungen seine Persönlichkeit entfaltet? Die sonstigen Erwartungsstrukturen des Erstverstorbenen stehen dem ja nicht entgegen, da er sowohl im Falle der Freistellung als auch in dem der Anfechtung den Zusammenbruch der gemeinschaftlich erdachten Vermögensordnung nicht wird verhindern können und er für diesen Fall über § 2270 I BGB geschützt sein wird. Hinzukommt, daß richtigerweise der Lauf der Anfechtungsfrist erst beginnt, wenn der Erblasser seine Anfechtungsberechtigung positiv kennt80. Mit Blick hierauf ergibt es noch weniger Sinn anzunehmen, solidarisch und in Fürsorge einander zugetane Ehegatten seien davon ausgegangen, der Überlebende solle nur die Möglichkeit besitzen, innerhalb eines Jahres ab Kenntnis von der anfechtungsweisen Vernichtungsmöglichkeit seiner korrespektiven Verfügung sein „Sein zum Tode“ erneut zu entfalten. Insgesamt gesehen wird man daher für den Regelfall davon ausgehen können, daß sich die Suspension von den Mühen der Anfechtungsfrist und -form im Rahmen der wahrscheinlichen Planung der Gatten bewegt. Dies wiederum heißt nichts anderes, als daß im Regelfall eine Freistellungsklausel dem gemeinschaftlichen Testament im Wege der ergänzenden Auslegung wird entnommen werden können81. Hiergegen könnte freilich sprechen, daß verschiedentlich im Rahmen der Diskussion um die Anwendung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage im Erbrecht darauf hingewiesen wird, eine Anwendung dieses Instituts müsse schon deshalb scheitern, weil ansonsten die Anfechtungsregelungen mit ihren Frist- und Formvorschriften entgegen dem Willen des Gesetzgebers weitgehend sinnlos würden82. Spricht dieser Einwand auch gegen den hiesigen Vorschlag, im Regelfall von einer Freistellungsklausel auszugehen? Davon kann nicht ausgegangen werden. Die Freistellungsklausel wird im 79 Diese Einsicht ist unabhängig davon, daß § 1353 I HS 2 BGB eingeführt worden ist, um das Zustandekommen von Scheinehen zu bekämpfen, MünchKommWacke, § 1353 Rn. 12; Palandt-Brudermüller, § 1353 Rn. 4. Denn auch ohne die ausdrückliche Bestimmung des § 1353 I HS 2 BGB galt das Verantwortungsprinzip als eines der Inhalte der Verpflichtung zur ehelichen Lebensgemeinschaft, PalandtBrudermüller, ebda.; ansonsten siehe nur MünchKomm-Wacke, § 1353 Rn. 12, 17, 22. 80 Siehe unten § 11 IV 1 b. 81 Da die gefundene Auslegungsklausel der Willensrichtung des Erblassers typischerweise entspricht, ist die Freistellung auch formgerecht erklärt, zum Problem siehe nur MünchKomm-Leipold, § 2085 Rn. 45. 82 So Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 33.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
Wege der ergänzenden Auslegung gefunden. Diese geht richtigerweise der Anfechtung vor, da sie die Verfügung nicht vernichtet und damit dem erbrechtlichen Willensdogma entgegenkommt83. Zwar könnte man hier dennoch ausnahmsweise am Vorrang der ergänzenden Auslegung zweifeln, da hinsichtlich der Vernichtung der Verfügung die Freistellung und die Anfechtung im Ergebnis funktional äquivalent sein dürften. Dennoch werden mit der Freistellungsklausel die erbrechtlichen Frist- und Formvorschriften nicht umgangen84. Denn wo sollte der Umgehungsvorwurf liegen, wenn die Freistellungsklausel mit Hilfe eines den Erblasserwillen zu Ende denkenden Instruments in das Testament implementiert worden ist? Die Freistellungsklausel ist dann Ausdruck der grundlegenden Wertungen des Erbrechts, nämlich Ausdruck seiner personfunktionalen Gründung. Formale Frist- und Formvorschriften können hiergegen nichts erinnern. Würde anders entschieden, würde dafür plädiert, daß die anfechtungsrechtlichen Form- und Fristregelungen im normativen Rang der Personfunktionalität des gewillkürten Erbrechts vorgingen, ohne daß dieses Plädoyer durch Gründe abgestützt würde – und derartige Gründe sind nirgens ersichtlich. Es bleibt nach all dem dabei: Die Selbstanfechtung ist letztlich auf den Ausnahmefall beschränkt, in dem die Ehegatten wahrscheinlich Wert darauf legen, daß sich die Persönlichkeitsentfaltung des Überlebenden nur im Rahmen der anfechtungsrechtlichen Form- und Fristvorschriften abspielen darf. Die Einsicht, dem gemeinschaftlichen Testament könne im Zweifel im Wege ergänzender Auslegung eine Freistellungsklausel entnommen werden, wurde bisher anhand des Fehlgehens sog. „selbstverständlicher Vorstellungen“ entwickelt. Tragender Grund war, daß im Zweifel die Ehegatten als Ausdruck der Gattensolidarität und der intim codierten Verbundenheit nicht wollen oder zumindest der Vorversterbende nicht will, daß der überlebende Teil – falls er seinen Testierwillen irrtumsverhaftet gebildet hat – nicht daran gehindert sein soll, sein „Sein zum Tode“ auch außerhalb der formalen erbrechtlichen Anfechtungs- und Formvorschriften durch eine neue Verfügung von Todes wegen auszuprägen. Diese Erwägung ist aber nicht nur auf das Fehlgehen selbstverständlicher Vorstellungen beschränkt, sondern greift in gleicher Weise auch für den Fall der Anfechtung wegen des Fehlgehens positiver Vorstellungen. Auch hier ist – zumindest für die Selbstanfechtung – nicht einsichtig, wieso der Überlebende an die erbrechtlichen 83 Siehe nur BGH, LM BGB § 2100 Nr. 1; NJW 1978, 264 (266); BayObLGZ 1966, 390 (394); BayObLG, FamRZ 1991, 982; MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 9; Palandt-Edenhofer, § 2078 Rn. 1; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 3; Staud-Otte, § 2078 Rn. 6; RGRK-Johannsen, § 2078 Rn. 27 f.; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 III 2 c; Kipp/Coing, Erbrecht, § 24 III 4 b; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 267. 84 Anderer Ansicht Brox, Einschränkung der Irrtumsanfechtung, 159, der deshalb im Rahmen seines die ergänzende Auslegung weit ausdehnenden Ansatzes auf diese Auslegung die Fristen des Anfechtungsrechts (§ 2082 BGB) analog anwenden will.
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Form- und Fristvorschriften gebunden sein sollte. Die Ehegatten werden deshalb im Wege ergänzender Auslegung auch für den Fall, daß ein positiv erwarteter Umstand tatsächlich nicht eintritt, eine Freistellung des Überlebenden vorgesehen haben. In diesem Falle scheidet eine Selbstanfechtung wiederum mangels lebzeitiger Bindung aus. Schließlich ist bei einer im Wege ergänzender Auslegung in das Testament implementierten Freistellung eine Anfechtung gem. § 2078 II BGB nach dem Tode des Überlebenden im Zweifel durch Bestätigung auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der Überlebende von der Freistellung hätte Gebrauch machen können. Denn anders als bei der ausdrücklichen Freistellung kommt dem Unterlassen des Freigestellten hier nicht der Erklärungswert zu, die Verfügung solle trotz Erwartungsenttäuschung gelten; dem Überlebenden wird ja regelmäßig die Freistellung zuerst einmal – ohne näheren rechtlichen Rat – nicht bewußt sein. Weiß der Überlebende freilich positiv von seiner Freistellung, wird auch bei der im Wege der Testamentsergänzung eingefügten Freistellung im Zweifel von einer Bestätigung der letztwilligen Verfügung auszugehen sein, wenn der überlebende Teil nicht neu verfügt, obwohl die Freistellung einschlägig geworden ist. Nach all dem gilt demnach folgende Auslegungsregel: Auslegungsregel 8.2: Könnte der Überlebende seine korrespektiven Verfügungen wegen Motivirrtums selbst anfechten, werden die Ehegatten oder zumindest der Erstverstorbene im Zweifel hinsichtlich des Umstands, dessen Fehlgehen den Irrtum begründet, eine Freistellungsklausel testamentarisch vorgesehen haben.
Die bisherigen Einsichten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Lassen sich Erwartungsstörungen beobachten, kann das gemeinschaftliche Testament hierfür eine die Störung selbst regelnde Klausel vorgesehen haben, wobei diese Klausel dem Testament auch im Wege der ergänzenden Auslegung entnommen werden kann. Liegt eine derartige Klausel vor, ist es müßig, auf die Instrumente der Freistellung und der Anfechtung zu rekurrieren. Liegt eine derartige Klausel nicht vor, ist zu prüfen, ob eine ausdrückliche Freistellung vereinbart ist. Ist sie vereinbart und hat der überlebende Teil zu Lebzeiten von ihr keinen Gebrauch gemacht, obwohl er dies hätte tun können, ist nach seinem Tode eine Anfechtung nach § 2078 II BGB grundsätzlich nicht zulässig, da aus dem Unterlassen des Erblassers im Zweifel der Wille hervorgehen wird, die Verfügung solle trotz Erwartungsenttäuschung gelten. Ist eine ausdrückliche Freistellung nicht vereinbart, muß anhand der ergänzenden Auslegung untersucht werden, ob eine Freistellung ausbedungen ist. Im Zweifel wird dies der Fall sein, wenn ein Anfechtungsgrund wegen Motivirrtums gegeben ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Anfechtung wegen des Fehlgehens positiver oder „unbewußter“ Vorstellungen zulässig ist. Die Selbstanfechtung wegen
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
Motivirrtums kommt nur in Betracht, wenn der überlebende Teil hinsichtlich der Regulierung der Erwartungsstörung den anfechtungsrechtlichen Form- und Fristregelungen unterworfen sein soll, während die Anfechtung nach dem Tode des Längstlebenden grundsätzlich trotz Freistellung nicht ausgeschlossen ist, es sei denn, der Überlebende hatte positive Kenntnis von seiner Freistellung und testierte gleichwohl nicht neu. Insgesamt gesehen kommt der im Wege der ergänzenden Auslegung ermittelten Freistellungsklausel mithin ein Anwendungsbereich zu, der bisher weitgehend übersehen wurde. III. Das Schicksal der korrespektiven Verfügung des Erstverstorbenen 1. Der Fall der ausdrücklichen Freistellungsklausel
Welches Schicksal nehmen nun die korrespektiven Verfügungen des Erstversterbenden, wenn der Überlebende von der Freistellungsklausel Gebrauch macht? Stellenweise wird hier angenommen, daß der in der widersprechenden Neuverfügung enthaltene Widerruf der korrespektiven Erstverfügung des Überlebenden im Grundsatz die entsprechenden Verfügungen des Vorverstorbenen gem. § 2270 I BGB beseitige, „es sei denn, daß (wie oft) ein entgegenstehender Wille der Eheleute ausdrücklich oder stillschweigend durch Testamentsauslegung festzustellen ist“85. Es wird also angenommen, daß rein tatsächlich zumeist die Unwirksamkeitsfolge des § 2270 I BGB nicht eintreten wird, daß aber gleichwohl in Zweifelsfällen die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen beseitigt sein wird. Von einer derartigen Zweifelsregelung kann nicht ausgegangen werden. Vielmehr ist gerade umgekehrt grundsätzlich im Zweifel bei einem Freistellungsvorbehalt die Wechselbezüglichkeit der Verfügungen nicht gewollt, soweit die Freistellung reicht86. Die Gründe, die für eine derartige Auslegungsregel sprechen, können nur der rechten Gewichtung der im gemeinschaftlichen Testament verkörperten Persönlichkeitsbeiträge beider Gatten entnommen werden. Es müssen mithin die jeweiligen Reziprozitäten87 ermittelt werden, nach denen sich das Erwarten der Ehegatten bemißt. Haben diese eindeutig nur erwartet, zu Lebzeiten beider Teile erfolge der Widerruf des gemeinschaftlich Verfügten in der Form des § 2271 I 1 BGB, scheidet 85 Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 24, Wortverkürzungen gegenüber dem Original getilgt. Ebenso OLG München, JFG 15, 262. 86 So auch ohne nähere Begründung Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 65; SoergelManfred Wolf, § 2271 Rn. 23, mit unklaren Verhältnis zur anderslautenden Ausführung in Rn. 28; Radke, Berliner Testament, 129 ff. 87 Dazu oben § 5 II.
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eine Wirksamkeitsabhängigkeit nach § 2270 I BGB aus. Bestehen im gemeinschaftlichen Testament Anhaltspunkte für eine Freistellungsklausel, ohne daß das Erwarten der Gatten in der soeben geschilderten Weise eindeutig begrenzt ist, ist – wie auch sonst – zu prüfen, ob die Verfügung des einen nicht ohne die Verfügung des anderen getroffen sein würde (§ 2270 I BGB). Ob die Verfügungen gleichwohl wechselbezüglich sind, ist mit der Ermittlung, es läge eine Freistellung vor, also noch nicht entschieden. Nun liegt der Sinn der Unwirksamkeitsfolge nach § 2270 I BGB darin, das Erwarten des Erstverstorbenen hinsichtlich des Gelingens der Implementierung der avisierten Vermögensordnung post mortem zu schützen88. Fraglich ist daher, ob der Erstverstorbene im Zweifel trotz Freistellungsvorbehalt für den Freistellungsfall möchte, daß die von ihm avisierte Vermögensordnung post mortem vollends (nämlich auch hinsichtlich seiner, des Erstverstorbenen Verfügung) zerbricht, wenn aus ihr aufgrund der Zweitverfügung des Überlebenden auch nur ein Stück entfernt wird. Es ist schwierig zu klären, wie hier entschieden werden soll. Gegen die Wechselbezüglichkeit könnte sprechen, entsprechend dem Grundsatz der wohlwollenden Auslegung (§ 2084 BGB) dürfe davon ausgegangen werden, der Erstversterbende habe im Zweifel die Wirksamkeit seiner Verfügung gewollt, mithin nicht umgekehrt die auf der Wechselbezüglichkeit beruhende Unwirksamkeitsfolge des § 2270 I BGB. Diese Erwägung überzeugt nicht recht. Denn mit der benigna interpretatio soll die rechtswirksame Erreichung des vom Erblasser gewollten Ziels der Verfügung gesichert werden89. Dieses muß mithin feststehen – was hier wiederum zweifelhaft ist, da ja gerade danach gefragt wird, ob dem Erstverstorbenen die Unwirksamkeitsfolge des § 2270 I BGB nicht lieber wäre als die Wirksamkeit seiner Verfügung. Die Regel, daß im Zweifel eine Wechselbezüglichkeit bei einer ausdrücklich verfügten Freistellungsklausel zu verneinen ist, gründet denn auch auf einem anderen Gedanken. Wenn der Erstverstorbene dem anderen Teil eine Freistellung eröffnet hat, ist sein Erwartungsniveau hinsichtlich der Festigkeit der gemeinschaftlich erarbeiteten Vermögensordnung und damit auch jenes Maß an Reziprozität notwendigerweise abgesenkt, welches die Bindung des Überlebenden im Ablauf der Zeit sichert90 – warum sollte im Regelfall sonst eine Freistellung verfügt worden sein? Er muß demnach erwarten, daß die Vermögensordnung zerbricht. Testiert er trotz dieses Risikos, kann schwerlich gesagt werden, er testiert, gerade weil der andere von Todes wegen so und so verfügt. Bleiben aber Zweifel an diesem Nexus zurück, ist nach allgemeinen Regeln91 auf fehlende Abhängigkeit zu erken88 89 90
Siehe oben § 4 II 3 c. Siehe nur MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 26. Siehe dazu oben § 5 II.
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nen. Eine weitere Erwägung stützt dieses Ergebnis. Der Erstverstorbene ist sich durchweg bewußt, daß der Überlebende im Lichte seiner Freistellung verfügt. Er kann daher grundsätzlich nicht erwarten, daß der andere Teil auch ohne Freistellung so verfügt hätte, wie er verfügt hat. Kann er dies nicht erwarten, ist aus Gründen des Schutzes des Überlebenden und als Ergebnis einer sachgerechten Bewertung des Erwartendürfens des Erstverstorbenen die Unwirksamkeitsfolge des § 2270 I BGB im Zweifel nicht sachgerecht; die Vereinbarung einer Freistellungsklausel ist im Zweifel eine Art actus contrarius zur Wechselbezüglichkeit. Ist eine Freistellungsklausel verfügt, greift mithin im Zweifel die Unwirksamkeitsfolge des § 2270 I BGB nicht ein. Dies gilt auch für die Fallgestaltungen, in denen die Auslegungsregel des § 2270 II BGB einschlägig ist. Es war schon die Rede davon, daß die recht groben Typisierungen, die diese Vorschrift an den Tag legt, durch feinmaschigere Typenbildungen seinerseits entkräftet werden können92. Eine derartige feinmaschigere Typisierung liegt hier vor. Aus dem zuvor Gesagten ergibt sich zugleich die Ausnahme von dem Grundsatz, daß bei einer Freistellung regelmäßig auch die Unwirksamkeitsfolge des § 2270 I BGB entfällt: Haben die Ehegatten eine Freistellung hinsichtlich des Eintritts eines Umstands (etwa ein bestimmtes Verhalten des Endbedachten) vorgesehen, der von ihnen gleichwohl als sicher erwartet wurde, ist das Erwartungsniveau des Erstverstorbenen hinsichtlich der Stabilität der gemeinschaftlich erarbeiteten Vermögensordnung und damit auch das Maß an Reziprozität gerade nicht abgesenkt. Dann greift aber auch die o. g. Zweifelregelung nicht, da diese ja darauf beruhte, das Erwartungsniveau sei typischerweise gedrosselt. Es muß mithin genau derjenige Erwartungsschutz greifen, den § 2270 I BGB verwirklicht. Da die Anfechtung nach § 2078 II BGB zulässig wäre, wenn die Freistellung nicht vorliegen würde93, kommt der Freistellungsklausel mithin nur die Funktion zu, den Überlebenden von der Last zu befreien, sich in den Formen und Fristen der Anfechtung vom gemeinschaftlichen Testament zu lösen94. Freilich wird der Fall, daß die Ehegatten eine Freistellung vorsehen, obwohl sie die fraglichen Umstand als sicher eintretend erachten, kaum praktisch relevant werden. Denn schon die Tatsache, daß der Überlebende freigestellt wird, deutet darauf hin, daß die Ehegatten den Eintritt oder den Nichteintritt des Umstands, der der Freistellung zugrunde liegt, für möglicherweise zwar hochwahrscheinlich, nicht aber für überaus sicher gehalten haben – wieso sollten sie eine sichere Erwartung mittels Freistellung absichern?
91 92 93 94
Dazu oben § 6 III 4. Oben § 6 III 1 a und c. Dazu siehe oben § 8 II 1. Diese gelten für die Freistellung ja nicht, siehe § 8 II 1.
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2. Der Fall der im Wege ergänzender Auslegung ermittelten Freistellung
Die soeben für den Fall der ausdrücklich von den Gatten vorgesehenen Freistellungsklauseln geltende Auslegungsregel fußt auf der Einsicht, das Erwartungsniveau des Erstversterbenden hinsichtlich der Festigkeit der gemeinschaftlich erarbeiteten Vermögensordnung und in der Folge das Maß an Reziprozität, welches die Bindung des Überlebenden im Ablauf der Zeit sichert, sei bei einer ausdrücklichen Freistellungsklausel grundsätzlich erheblich reduziert. Bei einer Freistellungsklausel, die im Wege der ergänzenden Auslegung dem Testament hinzugefügt worden ist, kann eine derartige Absenkung des Erwartungsniveaus und der Reziprozität nicht in dem gleichen Maße wie bei der ausdrücklichen Klausel angenommen werden. Denn die Freistellung wurde ja qua ergänzender Auslegung mit Blick auf die erbrechtlichen Form- und Fristregelungen für den Fall angenommen, daß auch der Anfechtungsgrund wegen Motivirrtums gegeben wäre. Die Erwartungsstörung ist hier keine andere als im Fall des Irrtums. Greift bei diesem aber § 2270 I BGB, kann dies bei der Freistellung nicht anders sein. Es kommt mithin wie bei der Anfechtung typischerweise keine Absenkung des Erwartungsniveaus in Betracht. Es muß dann bei der allgemeinen Regel des § 2270 I BGB bleiben, daß bei einer in Ansehung des Freistellungsvorbehalts erklärten widersprechenden Zweitverfügung des Überlebenden die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen unwirksam ist. Es gilt demnach folgende Auslegungsregel: Auslegungsregel 8.3: Liegt eine ausdrückliche Freistellungsklausel vor, ist im Zweifel davon auszugehen, daß die freigestellte Verfügung nicht wechselbezüglich ist, es sei denn, die Freistellung wurde hinsichtlich eines Umstands vorgesehen, dessen Eintritt oder Nichteintritt die Ehegatten nicht nur als hochwahrscheinlich, sondern als zweifelsfrei angesehen haben. Ist die Freistellungsklausel im Wege der ergänzenden Auslegung ermittelt worden, bleibt es im Zweifel bei der Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen nach § 2270 I BGB. 3. Freistellung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage?
Es war schon die Rede davon, daß das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nicht in erbrechtliche Zusammenhänge übertragen werden kann95. Gilt dieses Verdikt auch noch mit Blick auf die bisherigen Ausführungen zur Freistellungsklausel, einher mit der ergänzenden Auslegung und der Anfechtung wegen Motivirrtums? Immerhin geht es doch bei der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments bei Lichte betrachtet um einen gesetzlich geregelten Fall der Maßgeblichkeit einer bestimmten sub95
Siehe oben § 6 II 1.
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jektiven Motivlage als Geschäftsgrundlage für die Weitergeltung der letztwilligen Verfügung96. Hierbei kann durchaus auf die gebräuchliche subjektive Formel im Gefolge Oertmanns zurückgegriffen werden, da diese subjektive Formel ja in nuce die Gründung der Testierfreiheit im personfunktionalen Willensdogma nachzeichnet; ob die subjektive Formel auch im vermögensrechtlichen Leistungsstörungsrecht sinnvoll ist97, kann daher mit Blick auf das erbrechtliche Willensdogma dahingestellt bleiben. Andere Ansätze der Geschäftsgrundlagenlehre ergeben im Testamentsrecht denn auch erkennbar keinen rechten Sinn: der Grund testamentarischer Bindung kann nicht mittels objektiver Kautelen gewonnen werden, da Reziprozität entsprechend der partikularen Interaktionsgepflogenheiten der Ehegatten nur subjektiv bestimmt werden kann, so daß Folgerungen aus einem „Verfügungszweck“, der „wirtschaftlichen Bedeutung“ der Verfügung und ähnlichem98 nicht zulässig sind99. Auch eine Anknüpfung an der vertraglichen Risikoverteilung100 bleibt müßig, da dies im gewillkürten Erbrecht nur wieder auf das Willensdogma und damit auf den Begriff der subjektiven Geschäftsgrundlage zurückverweist. Nach der subjektiven Formel wird die Geschäftsgrundlage gebildet „durch die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, aber bei dem Vertragsschluß zutage getretenen gemeinschaftlichen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihr nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt oder dem Fortbestand gewisser Umstände, auf denen sich der Geschäftswille der Parteien aufbaut“101. Es liegt auf der Hand, daß diese Formel abgewandelt werden müßte, um das ganze Spektrum der erbrechtlich relevanten Motivationen zu erfassen, da ja erbrechtlich auch ein Nichtbedenken erheblicher Umstände (die sog. „selbstverständlichen Vorstellungen“ der Rechtsprechung) ein beachtliches Motiv sein kann. Doch selbst wenn dies gelänge, änderte dies nichts daran, daß 96 Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1268); vorsichtige Andeutungen auch bei SoergelManfred Wolf, § 2271 Rn. 15; Kuchinke, FS v. Lübtow, 283 (287). 97 Die Kritik an dem Oertmannschen Ansatz wird maßgeblich mitbestimmt durch den Vorwurf, der subjektive Ansatz könne die Geschäftsgrundlage nicht hinreichend in das System des Leistungsstörungsprogramms einordnen, vgl. nur Soergel-Teichmann, § 242 Rn. 208; Beuthien, Zweckerreichung, 55 f.; Koller, Risikozurechnung, 19 f., 25 f.; Köhler, Unmöglichkeit, 117 ff.; Fikentscher, Geschäftsgrundlage, 5 ff. 98 Zum objektiven Ansatz innerhalb der Geschäftsgrundlagenlehre vgl. nur MünchKomm-Roth, § 242 Rn. 209; Soergel-Teichmann, § 242 Rn. 479. 99 Abhängigkeit kann unbestritten nicht gegen den Willen der Beteiligten angeordnet werden, vgl. nur Battes, Vermögensordnung, 247 f. 100 Dazu vgl. nur MünchKomm-Roth, § 242 Rn. 483 f., 500 f.; Soergel-Teichmann, § 242 Rn. 214 ff.; Staud-Jürgen Schmidt, § 242 Rn. 889 ff. 101 BGHZ 25, 390 (392); 40, 334 (336); 61, 153 (160); 74, 370 (372 f.); 84, 1 (8 f.); 88, 226 (231).
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letztlich das vermögensrechtliche Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlagen nicht in erbrechtliche Kontexte verpflanzt werden sollte. Denn bei Lichte betrachtet ist im Erbrecht ein Erwartungsstörungsprogramm implementiert, welches sogar noch um einiges flexibler ist als das vermögensrechtliche Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Dies zeigt ein Blick auf die Rechtsfolgen eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage. Diese sind dichotom angelegt: Richterliche Anpassung des Vertrages nach dem Kriterium der Zumutbarkeit auf der einen und (nachrangig) Vertragsauflösung nach Rücktritt, (bei Dauerschuldverhältnissen) Kündigung oder (im Gesellschaftsrecht) Auflösungsklage auf der anderen Seite102. Das gewillkürte Erbrecht stellt ein sehr viel differenzierteres und zugleich die Willensherrschaft des Erblassers sehr viel stärker als das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage betonendes Instrumentarium bereit, welches damit die Personfunktionalität des Erbrechts unterstreicht: Regelung des fraglichen Umstands anhand einer im Wege der ergänzenden Auslegung ins Werk gesetzten Testamentsklausel, sodann Regelung des Umstands durch den Überlebenden auf der Grundlage einer wieder durch ergänzende Auslegung aufgestellten Freistellungsklausel, schließlich Anfechtung der Erstverfügung mit anschließender Neuverfügung. Das gewillkürte Erbrecht stellt damit ein weiteres Mal die Willensherrschaft der Rechtsperson stärker in den Vordergrund als das Vermögensrecht, und gibt damit ein weiteres Argument zur Hand, die Idee einer personfunktionalen Gründung des Erbrechts zu untermauern. Das Institut der Wegfall der Geschäftsgrundlage zeichnet in seiner dichotomen Rechtsfolgenstruktur die Flexibilität des Erbrechts mithin nicht hinreichend nach – zu verschieden sind ja auch die Zielsetzungen der beiden Rechtsgebiete: im Vermögensrecht gerechter Ausgleich bei angemessener Risikoverteilung versus Verwirklichung der Willensherrschaft im Testamentsrecht. Wenn dann noch bedacht wird, daß der Geschäftsgrundlagenansatz nicht erklären kann, wieso ein Motiv als Geschäftsgrundlage überhaupt relevant werden kann103, wird hinreichend deutlich, daß die Geschäftsgrundlagenlehre zu Recht im Erbrecht keine Anwendung findet und durch die ergänzende Auslegung kombiniert mit Anfechtung wegen Motivirrtums funktional äquivalent ersetzt wird104.
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MünchKomm-Roth, § 242 Rn. 544 ff.; Soergel-Teichmann, § 242 Rn. 262 ff. Dazu schon oben § 6 II 1. 104 Siehe BGH, NJW 1993, 850; OLG Köln, DNotZ 1993, 215 f.; MünchKommLeipold, § 2078 Rn. 25; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 18; Staud-Otte, § 2078 Rn. 22. aA Keymer, Anfechtung, 45 ff., 167 ff., 176 ff. 103
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IV. Beispielhafte Einzelfälle 1. Die fehlgeschlagene Versorgung des Überlebenden
Falls die Ehegatten zum Ausdruck gebracht haben, daß sie von dem Schlußerben die Versorgung des überlebenden Teils erwarten, wird in Rechtsprechung105 und Literatur106 angenommen, es sei naheliegend, der überlebende Ehegatte sei für den Fall zu einer anderweitigen letztwilligen Verfügung berechtigt, daß er annehmen darf, seine Versorgung durch den Endbedachten sei nicht mehr gewährleistet. Wenn die Einsetzung des Schlußerben durch das Versorgungsmotiv veranlaßt worden ist und der Schlußerbe durch seine Einsetzung zugleich zur Versorgung motiviert werden soll, stehen Erbeinsetzung und Versorgungsleistung zwar nicht rechtlich in einem Gegenseitigkeitsverhältnis, wohl aber faktisch. Das OLG Hamm führt hier zu Recht aus, daß die rechtliche Unverbindlichkeit der dem Endbedachten auferlegten Versorgung ihr Gegenstück in der freien Widerruflichkeit der Verfügung findet107. Ansonsten würde davon ausgegangen werden, daß der Erstverstorbene gerade dann dem Überlebenden seine Solidarität in der Versorgung hat entziehen wollen, wo seine Versorgung gefährdet ist. Wahrscheinlich ist eine derartige Annahme nicht. Rechtstechnisch kann die vom OLG Hamm zu recht vorgenommene Wertung daher über eine im Wege ergänzender Testamentsauslegung ermittelte Freistellungsklausel ins Werk gesetzt werden. Der Überlebende kann mithin bei einer fehlgeschlagenen Versorgung seine Sicherung im Alter in anderer Weise suchen und ggfls. neu testieren. Regelmäßig werden im Falle der anderweitigen Verfügung die Verfügungen des Erstverstorbenen nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam werden. 2. Die vorrangige Prüfung der Wechselbezüglichkeit
Bei der Prüfung, ob eine Freistellungsklausel in Betracht kommt, muß freilich immer die Vorfrage beantwortet werden, ob überhaupt eine korrespektive Verfügung hinsichtlich des Umstands vorliegt, bei dem die Freistellung einschlägig sein soll. So wird in der Literatur mancherorts diskutiert, ob eine Freistellungsklausel nicht für die Fallgestaltungen angenommen werden sollte, daß der Überlebende etwa vermächtnisweise einer moralischen Verpflichtung nachkommen möchte, etwa bei einer Belohnung für langjährige oder besondere Dienstleistungen108. Richtigerweise wird regelmäßig in diesen Fällen schon die Wechselbezüglichkeit zu verneinen 105 106 107
OLG Hamm, FamRZ 1995, 1022 (1023). Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 57. OLG Hamm, FamRZ 1995, 1022 (1023).
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sein, soweit die Erfüllung der moralischen Verpflichtung oder der Anstandspflicht in Rede steht109. Des weiteren hat die Rechtsprechung stellenweise einen Freistellungsvorbehalt bei einem nach dem ersten Todesfall eintretenden Vermögenserwerb beim Überlebenden angenommen, welcher die zu Lebzeiten beider Gatten vorhersehbare wirtschaftliche Situation grundlegend umgestaltet110. Richtigerweise entfällt wiederum auch hier zumindest in dem Fall schon die Bindung, wenn der Vermögenszuwachs nicht mit den Mitteln des Eigenvermögens des Überlebenden und ohne Einsatz des vom verstorbenen Gatten erworbenen Nachlasses erzielt wurde, wie dies etwa bei Schenkungen oder Erbschaften von dritter Seite nach dem ersten Todesfall zutrifft111. 3. Das Beispiel des unvorhersehbaren Vermögenszuwachses beim überlebenden Teil
Bei dem zuvor diskutierten Beispiel des unvorhersehbaren Vermögenserwerbs stellt sich die Frage nach dem Freistellungsvorbehalt mithin nur für den Erwerb, welcher mit den Mitteln des vom Erstverstorbenen von Todes wegen Erworbenen oder des Eigenvermögens des Überlebenden bewerkstelligt wurde. Es gilt die allgemeine Regel: Regelmäßig kann dem gemeinschaftlichen Testament hinsichtlich „selbstverständlicher“ Umstände, die zur Anfechtung wegen Motivirrtums berechtigen würden, ein Freistellungsvorbehalt entnommen werden112. Dies bedeutet hier: Ist im konkreten Fall nur eine normale Vermögensentwicklung als – gemessen an den gängigen anfechtungsrechtlichen Maßstäben – „selbstverständlich“ angenommen worden, so daß sich ein vom normalen Verlauf der Dinge abweichender Vermögenszuwachs (in welcher Höhe, sei zuerst einmal noch dahingestellt) als erhebliche Umstandsänderung erweist, läge der Anfechtungsgrund nach § 2078 II BGB vor. Im Zweifel wäre dann eine Freistellungsklausel hinsichtlich einer Zweitverfügung über den Zuwachs ausbedungen. So einsichtig dies auch auf den ersten Blick klingen mag, der Fall wird wohl eher theoretisch bleiben. Einmal ist schon fraglich, was denn das ist, ein „vom normalen Verlauf der Dinge abweichender Vermögenszuwachs“. Einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise dürften derartige, auf die „Normalität“ der wirtschaftlichen Abläufe bezogene Differenzierungen eher suspekt erschei108 Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 25; dazu auch OLG Köln, LZ 1928, 1710; ablehnend etwas Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 60. 109 Oben § 6 III 2 c. 110 So OLG Zweibrücken, NJW-RR 1992, 587; zustimmend Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 58. 111 Siehe oben § 6 III 2 b. 112 § 8 III 2.
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nen. Zudem gilt nach den gegebenen normativen Zurechnungskriterien der Eigentumsverfassung die Leistung des Eigentümers als Legitimationsanker des Eigentums, mag auch tatsächlich in der vernetzten und vielfältig diversifizierten Wirtschaft das Zurechnungskriterium der eigenen Leistung mehr Fiktion als Realität darstellen und bei einem Vermögenszuwachs qua Kapitalertrag sowieso von vornherein nicht überzeugend sein – herrschend gilt immer noch, daß das Eigentum Frucht eigener Leistung und des intelligenten Einsatzes der eigenen Mittel sei113. Der Überlebende wird kraft seiner Sozialisation, die diese herrschende Legitimationssemantik des Eigentums in ihm verankert haben wird, durchweg davon ausgehen, daß ein Vermögenszuwachs seiner Schaffenskraft zuzurechnen und damit grundsätzlich erwartbar sein wird. Auf der anderen Seite dürfte die Leistungsfähigkeit des überlebenden Gatten auch dem Erstverstorbenen regelmäßig bekannt gewesen sein. Er wird deshalb auch einen ansehnlichen Vermögenszuwachs, welcher als Frucht der Leistung des anderen Teils gilt, zumeist in seine Erwartungsbildung einbezogen haben. Hat er aber so erwartet, scheidet eine Freistellungsklausel grundsätzlich aus. Wirklich exorbitante Vermögenszuwächse hingegen dürften durchweg von dem Überlebenden nicht als selbstverständlich erwartet werden, mag auch ansonsten im konkreten Fall davon ausgegangen worden sein, er würde sein Eigenvermögen nach Kräften mehren. In eng umgrenzten Extremfällen wird mithin eine Freistellungsklausel im Zweifel in Betracht kommen, die dem Überlebenden eine vom gemeinschaftlichen Testament abweichende Verfügung von Todes wegen über den Zuwachs eröffnet. Da das Erwartungsniveau bzgl. der Höhe des Vermögenszuwachses abgesenkt ist, werden die korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen bei letztwilligen Zweitverfügungen des Überlebenden über den Vermögenszuwachs aus den gleichen Gründen nicht nach § 2270 I BGB unwirksam, die dies auch bei der ausdrücklichen Freistellungsklausel bewirkt haben114. Die Behandlung der Vermögenszuwächse nach dem Tode des Erstverstorbenen richtet sich mithin danach, ob ein „außerordentlich großer“ Zuwachs gegeben ist oder nicht. Dem Richter kommt ein gewisser Wertungsspielraum hinsichtlich der Annahme dessen zu, was berechtigterweise als „außerordentlich“ angesehen werden darf. Schädlich ist dies nicht. Dieser Spielraum ist nicht größer als sonst, wie er etwa im Bereich der ergänzenden Auslegung oder im Rahmen der Geschäftsgrundlagenlehre bei dem Wegfall der großen Geschäftsgrundlage gepflegt wird. Die bloße Tatsache des richterlichen Bewertungsspielraums spricht mithin nicht gegen die hier 113 Siehe zum Gesamtproblem der auf Locke zurückgehenden Arbeitstheorie des Eigentums, Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 6 I, II, III. 114 Zu diesen Gründen § 8 II 2.
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vorgeschlagene Lösung. Der Richter wird sich freilich zuvor fragen müssen, ob nicht den Verfügungen des Erstverstorbenen selbst eine Bewertung der Vermögensentwicklung im Wege der ergänzenden Testamentsauslegung entnommen werden kann115. V. Die Freistellungsklausel bei der Einheitsund bei der Trennungslösung Die Befugnis zur Änderung der letztwilligen Verfügung nach dem ersten Todesfall bezieht sich notwendigerweise nur auf die Verfügung des überlebenden Teils, § 2065 BGB116. Haben sich die Gatten – entsprechend der Auslegungsregel des § 2269 I BGB – gegenseitig zu Vollerben und den endbedachten Dritten zum Schlußerben eingesetzt (Einheitslösung), treten weiter keine Schwierigkeiten auf, da die Freistellungsklausel dem überlebenden Teil hier die Befugnis gibt, über seinen (des Überlebenden) Nachlaß zugunsten eines anderen Dritten frei zu verfügen. Problematisch wird es nur, wenn die Ehegatten sich gegenseitig zu Vorerben und den Dritten zum Nach- und Ersatzerben eingesetzt haben (Trennungslösung); die Erbenstellung erwirbt der Dritte ja aufgrund der Verfügung des Erstversterbenden, diese wiederum kann der Überlebende nicht ändern. Das Problem wird richtigerweise bei der Freistellungsklausel dadurch bewältigt, daß die Nacherbenstellung durch den Umstand bedingt ist, daß der Überlebende nicht anderweitig verfügt117. Diese Konstruktion ist nicht unumstritten. Stellenweise wird ihr mit der Begründung entgegengetreten, sie verstoße gegen das in § 2065 BGB niedergelegte Gebot der vollständigen und abschließenden Willensbildung, welches auch für die Nacherbeneinsetzung gälte118. Dieser Einwand überzeugt nicht. Der Sinn und Zweck des Prinzips der materiellen Höchstpersönlichkeit des Testaments kann weder in sachenrechtlichen Zuordnungsinteressen, in Verantwortungsgesichtspunkten oder in dem Familieninteresse, noch in Vorstellungen zur Richtigkeitsgewähr des letztwillig Verfügten, im 115
Dazu nur MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 56. RG, DNotZ 1932, 348 (Nr. 14); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 32; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 31; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 28. 117 RGZ 95, 278 (279); RG, JW 1925, 2121 (2122 f.); RG, DNotZ 1942, 374 (375); BGHZ 2, 35 (36); 15, 199 (204); 59, 220 (222 f.); BayObLGZ 1965, 457 (463); 1982, 331 (341 f.); KG, DNotZ 1956, 195 (199); OLG Oldenburg, FamRZ 1991, 862 (863); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 32; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 27; Soergel-Loritz, § 2065 Rn. 18 ff.; Staud-Otte, § 2065 Rn. 19 ff.; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 III 4 d; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 4 b Fn. 175. 118 So MünchKomm-Leipold, § 2065 Rn. 10; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 141; Brox, FS Bartholomeyczik, 41 (56). BGH, NJW 1981, 2051 (2052), ließ offen, ob an der h. M. festzuhalten sei. 116
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Schutz des Kernbereichs privatautonomer Entfaltung oder im Rekurs auf Mißbrauchsgefahren gefunden werden; ansonsten wäre nicht begreiflich, wieso das Gesetz eine drittbestimmte Erbeneinsetzung nicht, ein wirtschaftlich funktional äquivalentes, drittbestimmtes, nachlaßaufzehrendes Vermächtnis aber sehr wohl zuläßt119. § 2065 BGB kommt vielmehr die Bestimmung zu, der symbolischen Funktion der Erbenstellung im Rahmen der persönlichen Todesverarbeitung Rechnung zu tragen, da das kulturelle Bewußtsein die Eigenschaft, Erbe von jemandem zu sein, mit etwas Zeichenhaftem: der personalen Verbundenheit mit dem Erblasser, verbindet120. Die teleologische Reichweite des § 2065 BGB ist nach all dem limitiert durch das Verbot, das Symbolische der Erbenstellung nicht zu beschädigen. Es ist nicht ersichtlich, wie dies bei einer auf den Fall, daß der Vorerbe nicht anderweitig verfügt, bedingten Nacherbeneinsetzung geschehen soll. Darüberhinaus ist auch nach den eigenen Kriterien, die die abweichende Meinung an bedingte Nacherbeneinsetzungen anlegt, keine unzulässige Potestativbedingung gegeben. Potestativbedingungen lassen es generell zu, daß die Geltung einer letztwilligen Verfügung (auch einer Erbeneinsetzung) vom Willen eines Dritten abhängig gemacht wird. Die Grenze wird allgemein dort gesehen, wo eine Vertretung im Willen vorliegen würde; Potestativbedingungen sind damit zulässig, wenn der Erblasser seinen Willen vollständig gebildet hat und in die Willensbildung das Bedingungsereignis einbezogen hat121. Es soll „das Ereignis alleingenommen für den Entschluß des Erblassers und seine Vorstellungen Bedeutung haben, nicht lediglich der darin zum Ausdruck kommende Willen des Dritten als solcher“122. So ist es aber auch im strittigen Fall der bedingten Nacherbeneinsetzung. Dies zeigt folgender Vergleich: Eine Potestativbedingung, daß der als Erbe Bedachte nur aus einer ausgewählten Gruppe von Personen sich verheiraten darf, widrigenfalls er seine Bedenkung verliert, wird wohl durchgängig mit Blick auf das Prinzip materieller Höchstpersönlichkeit für zulässig erachtet123. Auch hier hat der Erblasser das Unterlassen eines Rechtsgeschäfts (die Heirat) focussiert und nur auf dieses Ereignis, nicht aber auf den darin 119 Dies kann hier nicht näher vertieft werden, siehe daher nur Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 III 3 a. 120 Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 III 3 b. 121 Siehe zur Grenze von Potestativbedingungen BGHZ 15, 199 (201 f.); BayObLG, FamRZ 1986, 606 (607); KG, JFG 20, 144, KG, OLGE 43, 394; OLG Hamm, OLGZ 1968, 80 (84); Raape, FS Zitelmann, 1 (18); MünchKomm-Leipold, § 2065 Rn. 5; Soergel-Loritz, § 2065 Rn. 13; RGRK-Johannsen, § 2065 Rn. 7; anders Staud-Otte, § 2065 Rn. 13 ff. 122 MünchKomm-Leipold, § 2065 Rn. 5. 123 Die Zulässigkeit derartiger Zölibatsklauseln wird allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit, nicht unter dem der materiellen Höchstpersönlichkeit diskutiert.
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sich ausdrückenden Willen des Bedachten zum Zölibat seine Vorstellungen ausgerichtet. Der Unterschied zum strittigen Fall besteht allein darin, daß bei der Zölibatsklausel das mißliebige Rechtsgeschäft (die Heirat) kein solches von Todes wegen darstellt. Relevant sein kann dieser Unterschied indes nicht, da die Natur des Rechtsgeschäft des Bedachten, welches von der Bedingung erfaßt wird, ja keinen Bezug zum Telos materieller Höchstpersönlichkeit aufweist. Nach all dem bleibt es dabei: Der Weg der herrschenden Ansicht, über eine Potestativbedingung dem überlebenden Teil einen sachgerechten Gebrauch von einer Freistellungsklausel auch bei der Trennungslösung zu ermöglichen, ist tragfähig.
§ 9 Entbindung aus Gründen des Schutzes des Überlebenden: Die Hauptfälle Bisher war die Rede von der Entbindung des überlebenden Teils, die auf dem gemeinsamen Willen beider Gatten oder zumindest auf dem Willen des Erstverstorbenen fußt. Nunmehr soll die Lösung von der testamentarischen Bindung aus Gründen des wegen einer Entwertung der gemeinschaftlich avisierten Vermögensordnung post mortem erforderlichen Schutzes des überlebenden Teils im Mittelpunkt der weiteren Überlegungen stehen. Im Vordergrund geht es dabei um den Schutz seines Persönlichkeitsrechts, erneut nach dem ersten Todesfall von Todes wegen verfügen zu können. Praktisch relevant sind vor allem die Fallgestaltungen, in denen der Überlebendenschutz avisiert wird, weil ein Vermögensopfer beim überlebenden Ehegatten oder bei einem bedachten Dritten vorliegt (dazu § 9 I) oder weil der Endbedachte weggefallen ist (dazu § 9 II). Er soll zudem dort nicht gebunden sein, wo sein Testierwille schon bei der Errichtung des gemeinschaftlichen Testaments nicht irrtumsfrei gebildet worden ist (dazu § 9 III). Die Fälle des Fehlschlags der von beiden Ehegatten zu Lebzeiten geplanten Vermögensordnung durch untragbare Vermögensrisiken (§ 2271 III BGB) oder aufgrund gewichtiger personaler Gründe (§ 2271 II 2 BGB) bleiben im folgenden außen vor, da sie in der Praxis durchweg keine große Rolle spielen und rechtlich keine größeren Schwierigkeiten aufwerfen. I. Die Loslösung von der Bindung kraft Ausschlagung: Der Fall des § 2271 II 1 HS 2 BGB Die Voraussetzungen, unter denen der überlebenden Teil berechtigt ist, sich gem. § 2271 II 1 HS 2 BGB durch Ausschlagung von seiner Bindung zu entledigen, sind rechtsdogmatisch nicht unumstritten. Sowohl der Gegenstand der Ausschlagung als auch die rechte Person des Ausschlagenden sind Gegenstand heftiger Meinungsverschiedenheiten. Diese Meinungsver-
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schiedenheiten sind mit ein Spiegelbild jener tiefgreifenden Unsicherheiten, denen sich der Bindungsgrund gemeinschaftlicher Testamente immer noch ausgesetzt sieht124. Mit Blick hierauf sei noch einmal in Erinnerung gerufen, daß nach den Ergebnissen der bisherigen Überlegungen der Bindungsgrund des § 2271 II BGB darin liegt, den erstversterbenden Teil davor zu bewahren, daß seine psychischen Gratifikationen entwertet werden, die er in der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung in intim codierter Kommunikation und gegründet auf der Planung der postmortalen Vermögensordnung dem anderen Gatten geleistet hat125. Nun dürfte klar sein, daß die Lösung von der testamentarischen Bindung qua Ausschlagung sich nicht mit der Erwägung rechtfertigen läßt, die Verausgabung psychischer Gratifikationen sei im Falle der Ausschlagung mißlungen. Denn die durch diese Gratifikationen dem überlebenden Teil geleistete Hilfestellung bei seiner eigenen Todesverarbeitung ist ja unzweifelbar nicht davon abhängig, daß dieser das von Todes wegen vom Erstverstorbenen Erworbene ausschlägt. Anders gesagt: Der Erstverstorbene könnte trotz Ausschlagung weiterhin auf einer Bindung des Überlebenden insistieren, da ansonsten seine psychischen Gratifikationen ohne Grund ins Leere gingen. Der Grund für die Lösung von der Bindung im Falle der Ausschlagung kann daher nicht auf der Seite des Erstverstorbenen und damit nicht in einer Entwertung psychischer Gratifikationen gesucht, sondern muß allein in der Person des Überlebenden selbst festgemacht werden. Es gilt also zu prüfen: Warum rechtfertigen es Interessen des Überlebenden, von der testamentarischen Bindung befreit zu werden, wenn eine Ausschlagung des vom Erstverstorbenen Erworbenen gegeben ist? 1. Der Ausschlagungsgegenstand
Heftig umstritten ist, ob der überlebende Teil nur den ihm letztwillig zugewendeten Vermögensvorteil – also das „ihm Zugewendete“ i. S. § 2271 II 1 Hs 2 BGB126 – oder auch eine etwaige gesetzliche Erbenstellung ausschlagen muß, um seine Testierfreiheit durch eine Entledigung von der testamentarischen Bindung wieder zu erlangen. Der Wortlaut gibt augenscheinlich keinen Anhaltspunkt für die Entscheidung dieser Frage, da ja der gesetzliche Erbteil nicht zugewendet ist. Zudem läßt § 1948 I BGB es gerade zu, das testamentarisch Erlangte auszuschlagen, um als gesetzlicher Erbe die Erbschaft anzutreten. Gleichwohl erscheint der Weg, als „lachen124 Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1278), fing dies in folgender treffender Sentenz ein: „wenn man den Grund einer Bindung nicht kennt, kann man über die Voraussetzungen ihrer Auflösung nur rätseln“. 125 Oben § 6 I. 126 Zur Definition siehe nur MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 21.
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der gesetzlicher Erbe“127 das ererbte Vermögen des Erstverstorbenen genießen zu dürfen und gleichzeitig von der Bindungswirkung des § 2271 II 1 BGB befreit zu sein, vielen als anrüchig. Die h. M. verwirft diesen Weg denn auch128. Die Begründungen hierzu sind freilich unterschiedlich. a) Streitstand Stellenweise wird verlangt, der überlebende Teil müsse einen hinreichend erheblichen Nachteil auf sich nehmen, um sich per Ausschlagung von der Bindungswirkung zu befreien; der gesetzliche Erbteil müsse mithin dem Werte nach „wesentlich“ oder „erheblich“ geringer129 sein als der testamentarische130. Gegen diese „Vermögensopfertheorie“ wurde eingewandt131, sie weise dem § 2271 II 1 HS 2 BGB eine Funktion zu, die im allgemeinen Schuldrecht die Vertragsstrafe erfülle; diese beruhe jedoch auf einem erhöhten Mißtrauen der Parteien oder auf einem besonderen Interesse am Erfüllungszwang, was beim gemeinschaftlichen Testament erkennbar nicht der Fall sei. Darüberhinaus sei die Abgrenzung zwischen einem erheblichen und einem unerheblichen Nachteil im Einzelfall zu schwierig, als daß er für § 2271 II 1 HS 2 BGB entscheidend sein dürfte. In der Tat sprechen die Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich des rechten Maßes des erwartbaren Vermögensverlusts gegen die Vermögensopfertheorie. Der Vergleich mit der Vertragsstrafe ist jedoch nicht überzeugend. Vielmehr versucht die Vermögensopfertheorie ja nichts anderes, als den Verlust der Vertrauensinvestition beim Erstversterbenden und den Verlust beim Überlebenden zu parallelisieren; letzterer soll nicht an einem Erwerb partizipieren und zugleich das Vertrauen des Erstverstorbenen in den Bestand der Vermögensordnung enttäuschen dürfen. Ist dem so, ist aber zugleich klar, warum die Vermögensopfertheorie nicht überzeugt. Denn mit dem Topos „Vertrauen in den Bestand der Vermögensordnung“ wird ein Gedanke als Problem des § 2271 II 1 HS 2 BGB angesprochen, welcher richtiger Ansicht nach in § 2270 I BGB geregelt ist: Nur § 2270 I BGB widmet sich ja den Folgen der Enttäuschung einstmals gewährten Vertrauens, welches sich allein auf die beidseitig ersonnene Vermögensordnung für die Zeit nach dem ersten und nach dem 127
Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1278). BayObLG 15, 36 (38); KG, NJW-RR 1991, 330 (331); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 25; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 40; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 227; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 506; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 III 3 b.; angedeutet bei Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 3 c b. 129 Beide Zitate bei KG, NJW-RR 1991, 330 (331). 130 So KG, NJW-RR 1991, 330 (331) unter Bezugnahme auf BayObLG, JFG 15, 36 (38); Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 40; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 227; wohl auch Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 19. 131 Bei Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1278). 128
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zweiten Todesfall bezieht132. § 2271 II 1 BGB hingegen nimmt sich des Austauschs psychischer Gratifikationen in jener Situation an, in der es den Gatten anhand von Vermögenswerten an der gemeinschaftlichen Bewältigung ihres „Seins zum Tode“ in intim codierter Kommunikation ging; diese wiederum sind trotz Ausschlagung nicht entwertet. Das in § 2270 I BGB geschützte Vertrauen des Erstverstorbenen auf Bestand der Vermögensordnung post mortem wird bei einer Ausschlagung nur des testamentarischen Erbteils nicht anders geschützt, als dies der Fall wäre, wenn auch der gesetzliche Erbteil ausgeschlagen würde. Denn egal was der Überlebende ausschlägt, die wechselbezüglichen Verfügungen werden damit noch nicht gem. § 2270 I BGB außer Kraft gesetzt; hierzu ist vielmehr der Widerruf (Widerrufstestament, widersprechendes Testament oder Erbvertrag) des überlebenden Teils erforderlich133. Dies ist auch folgerichtig. Denn der Erstversterbende hätte ja für den Fall der Ausschlagung ohne Widerruf der korrespektiven Verfügung des Überlebenden testamentarisch Vorsorge treffen können, indem er einen Ersatzerben bestimmt hätte – wie dies im übrigen zumeist der Fall ist, wovon noch zu handeln sein wird. Sein Interesse an der rechten Vermögensordnung post mortem wäre dann gewahrt. Hat er keine Regelung vorgesehen, muß er auch die Folgen (Weitergeltung seiner korrespektiven Verfügung) tragen134. Letztendlich fordert die Vermögensopfertheorie einen Vermögensnachteil des Überlebenden, obwohl dessen Persönlichkeitsrecht auch dann schützenswert ist, wenn bei ihm zwar kein derartiger Nachteil, wohl aber die gemeinschaftlich von den beiden Gatten zu Lebzeiten avisierte Vermögensordnung post mortem durch die Ausschlagung zerbrochen ist. Indem die Vermögensopfertheorie ihren Blick zu sehr auf den Schutz des Erstverstorbenen und dessen vermögensbezogene Gratifikationen und nicht auf den Schutz des Überlebenden richtet135, läuft sie ohne weiteres in die soeben skizzierte Falle des § 2270 I BGB: Für den Schutz des Erstverstorbenen ist ein Vermögensopfer des Überlebenden irrelevant, da dessen vermögensbezogenen Gratifikationen allein die testamentarische Bindung nicht generieren. Der Schutz des erstverstorbenen Teils beruht nun einmal nur auf der Verausgabung psychischer Gratifikationen. Die angemessene Lösung gewinnt man erst, wenn die Perspektive gewendet und der Schutz des Überlebenden focussiert wird. Dieser Schutz wiederum setzt schon dann ein, wenn die Vermögensordnung post mortem entwertet ist136. Diese Entwertung kann bei einem Vermögensopfer des Überlebenden 132
Siehe oben § 4 II 3 c. KG, KGJ 48, A 99; OLG Kiel, HEZ 2, 329; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 45. 134 Siehe zur Zurechnung der erwartbaren Selbstverantwortungsbeiträge an den Erstverstorbenen oben § 4 II 3 c. 135 Ausdrücklich focussiert etwa das KG, NJW-RR 1991, 330 (331), ausschließlich die Interessen des Erstverstorbenen. 136 Dazu sogleich § 9 I 1 b. 133
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vorliegen; ein Vermögensopfer ist aber für die Entwertung selbst keine notwendige Bedingung. Deshalb überzeugt die Vermögensopfertheorie nicht. Schließlich bleibt unklar, was für den Erstversterbenden mit einer Ausschlagung auch des gesetzlichen Erbteils eigentlich gewonnen wäre. Denn bei Enterbung erhält der überlebende Teil ja entsprechend der güterrechtlichen Lösung des § 1371 II BGB die Ausgleichsforderung aus dem Zugewinn und zusätzlich den kleinen Pflichtteil. Eine erhebliche wirtschaftliche Schlechterstellung und damit ein „Vermögensopfer“ wird damit regelmäßig nicht verbunden sein137. Insgesamt gesehen überzeugt die Vermögensopfertheorie deshalb nicht138. In der Literatur wurde statt des Rekurses auf ein Vermögensopfer vorgeschlagen, den Sinn des § 2271 II 1 HS 2 BGB im Verbot des venire contra factum proprium zu sehen. Der Ehegatte, der das testamentarisch Zugewendete ausschlage und den gesetzlichen Erbteil annehme, verhalte sich untragbar widersprüchlich139. Überzeugend ist dies nicht. Mit der Ausschlagung des testamentarisch Zugewendeten bei Annahme des gesetzlichen Erbteils erhält der Überlebende nicht mehr die Vorteile, die ihm das gemeinschaftliche Testament verschafft hat; vielmehr tritt die Rechtslage ein, die bestünde, wenn überhaupt nicht testiert worden wäre. Wo hier ein Widerspruch im Verhalten sein soll, ist nicht ersichtlich140. Besonders deutlich wird dies, wenn nochmals die Rechtslage betrachtet wird, die bei der Ausschlagung des gesetzlichen Erbteils eintritt. Als Folge einer Ausschlagung tritt nämlich die güterrechtliche Lösung nach § 1371 II BGB ein. Der Überlebende enthält mithin immer einen beachtlichen Vermögensvorteil aus dem Vermögen des Erstversterbenden, womit die Widersprüchlichkeit im Handeln noch weniger einsichtig ist. Schließlich setzt eine Widersprüchlichkeit im Verhalten immer ein Drittes (einen Bezugspunkt) voraus, vor dessen Hintergrund ein Verhalten von einem anderen Verhalten unterschieden und zudem ein Widerspruch im Verhalten ausgemacht werden kann. Nun ist fraglich, auf welchen Bezugspunkt hin der Überlebende, der nur das testamentarisch Ererbte ausschlägt, sich genau widersprüchlich verhalten soll. Ist Bezugspunkt die von beiden Gatten einstmals im gemeinschaftlichen Testament avisierte Vermögensordnung oder die Inanspruchnahme einer gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Option nach § 1948 I BGB? Ist 137
So auch Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1262). Kritisch auch Battes, Vermögensordnung, 137 ff.; Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1261 ff.). 139 Musielak, FS Kegel, 433 (449 f.). Auch Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1262), gründet § 2271 II BGB auf dem venire-Verbot, anerkennt aber im Unterschied zu Musielak nicht, das es verletzt sei, wenn der Überlebende das testamentarische Erbe ausschlage und den gesetzlichen Erbteil annehme. 140 Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1262). 138
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letzteres der Fall, scheidet ein widersprüchliches Verhalten aus, da ein solches nicht vorliegt, wenn ein Verhalten gesetzlich erlaubt ist141. Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn die gesetzliche Erlaubnis des § 1948 I BGB – wie stellenweise vorgetragen142 – selbst als fragwürdig angesehen wird143, da Fragwürdigkeiten der Norm ihre verfassungsrechtliche Gültigkeit ja nicht untergraben können. Als Bezugspunkt der Widersprüchlichkeit kommt mithin nur die gemeinschaftlich projektierte Vermögensordnung in Betracht. Doch wo sollte hier ein widersprüchliches Verhalten zu sehen sein? Haben die Ehegatten die Vermögensordnung so aufgefaßt, daß der Überlebende nur etwas erhalten soll, wenn die gemeinsame Nachlaßregelung Bestand hat, so nehmen die Vertreter der venire-Lösung im Zweifel eine auf den Fall bedingte Enterbung durch den Erstversterbenden an, daß der Überlebende seine von der Verfügung des Erstverstorbenen abhängige Verfügung nach Ausschlagung widerruft144. Der Überlebende enthält dann nichts aus dem Nachlaß des Erstverstorbenen; die Frage des widersprüchlichen Verhaltens stellt sich schon nicht. Haben die Ehegatten hingegen nicht vorgesehen, daß der überlebende Teil nur etwas um des Bestands der gemeinsamen Vermögensordnung willen erhalten soll, scheidet nicht nur eine bedingte Enterbung aus. Es ist auch kein widersprüchliches Verhalten mehr ersichtlich, da die Ehegatten den Fall der Ausschlagung des testamentarischen bei Annahme des gesetzlichen Erbteils gerade nicht geregelt haben. Hinsichtlich des venire-Verbots liegen die Dinge dann klar: Man kann sich nicht widersprüchlich zu etwas verhalten, wenn ein Bezugspunkt der Widersprüchlichkeit nicht ersichtlich ist. Die „venire-Lösung“ muß mithin ausscheiden. Andere setzen am Begriff des „ihm Zugewendeten“ in § 2271 II 1 HS 2 BGB an. Danach ist in diesem Sinne zugewandt nicht nur der testamentarische Erbteil, sondern auch dasjenige, was der Erstversterbende dem Überlebenden „nicht durch Enterbung vorenthalten hat“145. Der Überlebende würde mithin nicht das ihm Zugewendete ausschlagen, wenn er nicht auch den gesetzlichen Erbteil abweist. Begründet wird dies damit, daß dem Überlebenden nicht das Risiko abgenommen werden dürfe, das er einginge, wenn er seine Verfügungen zu Lebzeiten beider Gatten widerrufe. Dieses Risiko wäre die Enterbung durch den anderen Teil. Würde mithin die Zuwendung i. S. § 2271 II 1 HS 2 BGB nicht auch die fehlende Enterbung beinhalten, könnte der Überlebende sich des Enterbungsrisikos zu Lebzeiten 141
Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1278). Bei MünchKomm-Leipold, § 1948 Rn. 2; Staud-Otte, § 1948 Rn. 5; Holzhauer, Erbrechtliche Untersuchungen, 144 f. 143 Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1278 f.). 144 Musielak, FS Kegel, 433 (448). 145 Staud-Otte, § 1948 Rn. 12. 142
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des Erstversterbenden entziehen und gleichwohl das Vermögen des anderen Teils entsprechend dem gesetzlichen Erbrecht nach dem ersten Todesfall erhalten. Darüberhinaus hätte diese Lösung des Ausschlagungsproblems auch den Gedanken der Rechtssicherheit für sich146. Die Lösung überzeugt nicht. Pfeiffer147 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß gegen sie schon § 2270 III BGB spricht, der abschließend148 die Verfügungen nennt, die im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit stehen können. Die Nichtenterbung zählt nicht dazu – und zwar schon deshalb, weil sie (anders als die Enterbung, siehe § 1938 BGB) gar keine Verfügung darstellt. Da sie nicht unter § 2270 BGB fällt, gilt für sie aber auch nicht § 2271 II BGB. Zudem überzeugt das Risiko-Argument nicht recht. Denn hinsichtlich der vermögensbezogenen Vertrauensbeiträge könnte jeder der beiden Gatten zu Lebzeiten durch eine auf den Fall bedingte Verfügung Vorsorge treffen, daß der Überlebende das ihm testamentarisch Zugewandte ausschlägt. Daß ein Ehegatte dies unterläßt, weil er dem anderen Teil nicht mißtraut, entlastet ihn als selbstverantwortliche Rechtsperson nicht, da ja eine Überwälzung der Selbstverantwortung auf den anderen Gatten nicht statthaft ist, solange es die Regelung des § 2270 I BGB gibt149. Nochmals sei darauf hingewiesen, daß § 2271 II BGB gar nicht den Schutz desjenigen Vertrauens regelt, welches der Erstverstorbene hinsichtlich der postmortalen Vermögensordnung in das gemeinschaftliche Testament investiert hat; sedes materiae dieses Schutzes ist allein § 2270 I BGB. Auch die an § 2271 II 1 HS 2 BGB im Wege der Auslegung des Begriff des „Zugewendeten“ ansetzende Lösung kann mithin dahin gestellt bleiben. Ein anderer Vorschlag geht dahin, für § 2271 II 1 HS 2 BGB zwar eine Ausschlagung des testamentarisch Zugewandten hinreichen zu lassen. Es wäre für diesen Fall aber im Zweifel als Auslegungsregel davon auszugehen, daß das gemeinschaftliche Testament insofern eine bedingte Enterbung enthalte150. Eine derartige bedingte Enterbung kann verfügt sein, wenn das gemeinschaftliche Testament sich so auslegen läßt151. Ob das Testament so ausgelegt werden kann, ist aber eine für den Einzelfall zu entscheidende Frage, die nicht über die vorgeschlagene Auslegungsregel vorentschieden werden darf152. Bei Lichte betrachtet würde dem Erstversterbenden die je146
Zur Argumentation siehe Staud-Otte, § 1948 Rn. 12. Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1279). 148 Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 14. 149 Dazu ausführlich oben § 4 II 3 c. 150 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 25; ders., FS Kegel, 433 (448); Holzhauer, Erbrechtliche Untersuchungen, 136 f. 151 Hierüber dürfte Einvernehmen herrschen, Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 19; Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1279); Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1264). 152 Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 17; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 43; Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1264 f.); Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1279). 147
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dem Ehegatten zukommende Selbstverantwortung, für den Fall der Ausschlagung durch eine bedingte Verfügung Vorsorge zu treffen153, durch die Auslegungsregel abgenommen. Dies wäre nur dann möglich, wenn die Wahrscheinlichkeit des der Auslegungsregel zugrundeliegenden (hypothetischen) Willens größer wäre als eine andere Auslegung154. Ansonsten wird eine Auslegungsregel zur nicht hinnehmbaren Fiktion. Für den typischen Fall der nicht zerrütteten Ehe ist es aber zweifelhaft, in der Regel davon auszugehen, die Gatten hätten sich zum gemeinschaftlichen Testament erst durch den wirtschaftlichen Druck einer Enterbung motivieren lassen155. Würde von einem derartigen Nexus zwischen Motivation und wirtschaftlichem Vorteil als Normalfall ausgegangen, würde man dem Ehegattentestament genau dasjenige den do-ut-des-Vorstellungen der schuldrechtlichen Vertragslehren verpflichtete Leitbild anempfehlen, das oben aus guten Gründen verworfen worden ist156. Es ist daher zweifelhaft, ob eine Ausschlagung des testamentarischen Erwerbs für den Erstverstorbenen Anlaß gewesen wäre, den überlebenden Teil zu enterben157. Menschliche Enttäuschungen dürften hier hochwahrscheinlich sein, erbrechtlich einschneidende Folgen eher nicht. Zudem bleibt auch hier wieder unklar, was für den Erstversterbenden mit einer bedingten Enterbung gewonnen wäre, da dem Ehegatten ja die güterrechtliche Lösung des § 1371 II BGB weiterhin offen bleibt und er sich demgemäß nicht ohne weiteres wirtschaftlich schlechter gestellt sehen muß als bei Eintritt der gesetzlichen Erbfolge158. Schließlich würde bei der Annahme einer Auslegungsregel übersehen, daß damit den korrespektiven Verfügungen eines gemeinschaftlichen Testaments über dem Weg der Auslegung eine Bindungswirkung angesonnen wird, die diesen nicht zukommt. Die Bindung, welche durch § 2271 II 1 BGB statuiert wird, ist eine schwache Bindung. Sie ist nicht durch ein Vertrauen auf die Festigkeit einstmals gewährter Vermögensdispositionen gerechtfertigt, sondern durch die psychische Gratifikation des anderen Teils im Moment gemeinschaftlicher Todesverarbeitung159. Möchten sich die Ehegatten stärker binden, müssen sie sich des Instituts des Erbvertrags bedienen160. Nach all dem scheidet auch der Weg über die erbrechtliche Auslegungsregel „im Zweifel bedingte Enterbung“ als Problembewältigung aus. 153
Zu dieser Selbstverantwortung siehe nochmals oben § 4 II 3 c. Dazu oben § 6 III 1 a; sowie Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 II 1 c dd. 155 Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1264); Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1279). 156 Siehe oben § 4 II 1. 157 So auch Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1264); Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1279). 158 Hierauf weist zu Recht Tiedtke, FamRZ 1991, 1259 (1264), hin. 159 Oben § 6 I. 160 So im Ergebnis auch Tiedtke, FanmRZ 1991, 1259 (1265). 154
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b) Eigene Lösung Wie hinsichtlich des Ausschlagungsgegenstands zu entscheiden ist, ergeben folgende Überlegungen: Die Ausschlagung des ihm Zugewendeten kann dem von Todes wegen Bedachten sinnvollerweise nicht verwehrt werden. Denn der Eintritt in die volle erbrechtliche Rechts- und Pflichtenstellung soll auch dem von seinem Ehegatten testamentarisch bedachten überlebenden Teil nicht gegen seinen Willen aufgedrängt werden. Wichtig ist dieser „Aufdrängungsschutz“ ja schon deshalb, weil der Umfang oder die Art der seit dem gemeinschaftlichen Testieren mittlerweile erworbenen Passiva zur Ausschlagung drängen können. Zudem können sich aus dem Verhältnis zum Erstverstorbenen oder zu den Ersatzerben Gründe für eine Ausschlagung ergeben haben161. Schließlich wäre es mit dem Willensprinzip nicht vereinbar, einer Zuwendung, der man zuvor nicht zugestimmt hat, ohne jede Gegenwehr entgegensehen zu müssen. Das Gesetz hat auf diese Interessenlage mit der Regelung der §§ 1942 I, 1948 I BGB reagiert. Mit Blick auf diese Erwägungen sollte § 2271 II 1 HS 2 BGB als eine Schutzvorschrift zugunsten des Überlebenden interpretiert werden. Da es um die Wiedergewinnung seiner Testierfreiheit geht, hieße dies nichts anderes, als daß sich § 2271 II 1 HS 2 BGB den Schutz des Persönlichkeitsrechts des überlebenden Teil anzunehmen gedenkt. Ein derartiger Persönlichkeitsschutz ist auch einsichtig. Denn mit der Ausschlagung fällt die dem Überlebenden vom erstverstorbenen Teil gewährte Auszeichnung gegenüber der Sozietät fort, er (der Überlebende) spiele im Rahmen der letztwilligen Ausprägung seines (des Erstverstorbenen) „Seins zum Tode“ eine gewichtige Rolle, da er ja von Todes wegen bedacht worden sei. Darüberhinaus findet ein ersatzloser Fortfall statt, da das gesetzliche Erbrecht ja nichts darüber aussagt, ob der Überlebende irgendeine Rolle im „Sein zum Tode“ des Erstverstorbenen gespielt hatte. Die gemeinschaftlich von beiden Gatten avisierte Vermögensordnung post mortem ist mit der Ausschlagung deshalb zerfallen. Wenn die per Bedenkung ins Werk gesetzte Auszeichnung des Überlebenden durch den vorverstorbenen Teil mithin entfällt, wäre aber nicht mehr einsichtig, warum der Überlebende auch für die Zukunft die Endbedachten in genau der Weise weiterhin ausgezeichnet lassen und den symbolischen Gehalt der Bedenkung weiterhin der Sozietät adressieren muß162, wie dies vor der Ausschlagung der Überlebende hinsichtlich des Vorverstorbenen an den Tag gelegt hat. In personfunktionaler Diktion gesagt: Der Sinn der Testierfreiheit liegt darin, dem Erblasser die Gelegenheit zu verschaffen, einen besonders wirkungsvollen, nämlich mit 161
Siehe allg. nur Staud-Otte, § 1942 Rn. 1. Nämlich durch die Verfügungen im gemeinschaftlichen Testament, wenn die Testierfreiheit weiterhin gebunden wäre. 162
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dem Vermögen geführten Schlag163 gegen die auf ihn einströmenden funktionalen Imperative der gesellschaftlichen Subsysteme zu führen, um damit dasjenige Maß an freiheitssichernder Distanz zum traditierten Ethos sozialer Sitten und überkommener Gebräuche zu gewinnen, welches die Chancen zur Ausprägung des je eigenen Selbst bemerkenswert erhöht. Warum soll dem überlebenden Erblasser die Gelegenheit für einen erneuten Schlag genommen werden, wenn der von dem Erstverstorbenen seinerseits ins Werk gesetzte Schlag (die Bedenkung des Überlebenden und der Endbedachten) zumindest teilweise wirkungslos wird, weil der Überlebende ausgeschlagen hat? Der Vorverstorbene darf nach all dem eine weitere Bindung schlechterdings nicht vom anderen Teil erwarten, wenn er (der Vorverstorbene) erwartet muß, daß der Überlebende ausschlagen darf. Das Ausschlagen selbst wiederum darf dem überlebenden Teil – und zwar ganz unabhängig von den Erwartungen des Erstverstorbenen – aus allgemeinen Gründen des Willensschutzes nicht verwehrt werden. Ist dem so, kann der Erstverstorbene nicht mehr davon ausgehen, der Überlebende sei weiterhin gebunden. § 2271 II 1 HS 2 BGB zeichnet genau dieses normative Erwartendürfen nach. Mithin reicht es aus, daß der Überlebende nur das ihm Zugewendete, nicht aber den gesetzlichen Erbteil ausschlägt. Bei dieser Lösung wird der Erstverstorbene hinreichend geschützt. Denn die testamentarische Bindung schützt nicht das Vertrauen des Erstversterbenden, daß seine auf den Todesfall getroffenen Vermögensdispositionen nicht entwertet werden164. Sedes materiae dieses Schutzes ist vielmehr – dies war das Ergebnis der Überlegungen zum Bindungsgrund korrespektiver Verfügungen165 – allein § 2270 I BGB. Für den Erstverstorbene ist damit gesichert, daß seine Vermögensdispositionen im Fall der Fälle wieder zurückgeholt werden können. Daß § 2271 II 1 HS 2 BGB als Schutzvorschrift zugunsten des Überlebenden verstanden werden muß, zeigt auch die Erwägung, daß der Erstverstorbene im Falle der Ausschlagung selbst dann nicht mehr erwarten darf, wenn er nach den allgemeinen Grundsätzen der testamentarischen Bindung tatsächlich erwartet hat – und zwar aus dem Blickwinkel des § 2271 II 1 HS 1 BGB eigentlich zu Recht erwartet hat, weil die psychischen Gratifika163
Aus diesem Rekurs auf das Vermögen folgt nicht etwa, daß nunmehr nicht mehr persönlichkeitsrechtlich, sondern vermögensrechtlich argumentiert wird. Denn das gewillkürte Erbrecht zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß es mit einem Segment, welches gemeinhin dem Vermögensrecht zugeordnet wird, persönlichkeitsrechtliche Wirkungen entfaltet. Das Vermögen ist das – aufgrund des Todes des Testierenden notwendige – Mittel zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des von Todes wegen Verfügenden, siehe dazu oben § 2 I sowie Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 9 IV 1, 2. 164 Siehe hierzu nochmals oben § 4 II 3 c. 165 Oben § 4 II 3 c, § 5 III 2 b.
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tionen, welche dem anderen Teil im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens für die Todesverarbeitung in intim codierter Kommunikation durch den Erstverstorbenen geleistet worden sind, ungeachtet der Ausschlagung immer noch verausgabt sein können, so daß aus Sicht der Erstverstorbenen trotz Ausschlagung eine Befreiung von der Bindung eigentlich nicht in Frage käme. Da der Überlebende bei Ausschlagung gleichwohl frei wird, kann dies somit nur an dem Schutz seiner Testierfreiheit liegen. Nach all dem reicht es für die Lösung von der testamentarischen Bindung hin, daß der überlebende Teil nur das testamentarisch Zugewandte, nicht aber den gesetzlichen Erbteil ausschlägt. Ob das bisher diskutierte Problem, ob auch der gesetzliche Erbteil ausgeschlagen werden muß, überhaupt in vielen Fällen praktisch relevant sein wird, ist durchaus fraglich166. Haben die Ehegatten die Trennungslösung gewählt und sich somit gegenseitig zu Vorerben und den Dritten zum Nacherben eingesetzt, führt die Ausschlagung der Vorerbenstellung i. S. § 1953 BGB grundsätzlich nicht zur gesetzlichen Erbfolge des Überlebenden, weil der Dritte als Nacherbe im Zweifel auch als Ersatzerbe des Vorerben nach § 2096 BGB eingesetzt ist, § 2102 I BGB. Im Fall der Einheitslösung des Berliner Testaments gilt gleiches, da der Schlußerbe auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung in der Regel zugleich Ersatzerbe ist167. Ist Dritter das gemeinschaftliche Kind, ist sowohl in der Trennungs- als auch in der Einheitslösung dessen Einsetzung nicht jeweils korrespektiv zueinander168. Verfügt der Überlebende nach der Ausschlagung mithin zu Lasten des gemeinschaftlichen Kindes, wird dessen Bedenkung durch den Vorverstorbenen nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam; damit ist dessen Ersatzerbenstellung zugleich nicht berührt. Schlägt der Weg über die Ersatzerbschaft freilich aus welchen Gründen auch immer fehl, tritt nach der Ausschlagung gem. § 2271 II 1 HS 2 BGB gesetzliche Erbfolge nach dem Erstversterbenden ein. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen. Gesetzt den Fall, als Endbedachte seien vom Erstverstorbenen E der dem Überlebenden Ü nahestehende A und umgekehrt von Ü der dem E nahestehende B eingesetzt. Die Einsetzung des A durch den E und des B durch den Ü stehen im Zweifel im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit, § 2270 II BGB. Schlägt Ü nach dem ersten Todesfall aus und testiert zugunsten eines Dritten zu Lasten des B neu, wird die im Zweifel erfolgte Einsetzung des A als Ersatzerbe des Ü nach § 2270 I BGB unwirksam. Es tritt dann gesetzliche Erbfolge zugunsten des Ü ein. 166
Dazu Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1280). KG, OLGZ 1987, 1 (5); Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2269 Rn. 32; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 18; Soergel-Manfred Wolf, § 2269 Rn. 4. 168 Siehe oben § 6 III 3 a. 167
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung 2. Die Person des Ausschlagenden
a) Die ausschließliche Bedenkung eines Dritten Ob die Ausschlagung des erbrechtlichen Erwerbs den Überlebenden von der testamentarischen Bindung befreit, ist fraglich, wenn der erstverstorbene Ehegatte wechselbezüglich nicht den anderen Teil, sondern einen Dritten bedacht hat. Hier kann der überlebende Ehegatte nichts ausschlagen, da er nichts erlangt hat. Ob er gleichwohl gebunden bleibt, wenn der Dritte ausschlägt, ist umstritten. Herrschend wird davon ausgegangen, die Ausschlagung durch den Dritten löse den Überlebenden nicht von der testamentarischen Bindung169; der überlebende Teil sei auf das Anfechtungsrecht zu verweisen170. Andere werten – stellenweise beschränkt auf den Fall, daß der Dritte mit dem Überlebenden verwandt ist oder ihm sonst nahesteht171 – umgekehrt und lassen analog § 2271 II 1 HS 2 BGB172 eine Lösung von der Bindung zu173. Die h. M. überzeugt nicht. Ihr tragendes Argument lautet, beim überlebenden Gatten läge kein Vermögensopfer vor, welches das der Korrespektivität zugrundeliegende Gegenseitigkeitsverhältnis zerstöre174; zudem sei die Ausschlagung durch den Dritten dem in § 2271 II 1 HS 2 BGB avisierten Fall nicht gleichwertig, weil dem Dritten anders als dem Ehegatten der Vorwurf eines widersprüchlichen Verhaltens nicht gemacht werden könne175. Durchschlagend ist diese Erwägung indes nicht. Schon bei der Diskussion der Frage, ob der Überlebende auch das gesetzliche Erbrecht ausschlagen muß, wurde gezeigt, daß weder der Gedanke des Vermögensopfers, noch der des Verbots eines widersprüchlichen Verhaltens erklärt, warum sich der Überlebende gem. § 2271 II 1 HS 2 BGB von der Bindung per Ausschlagung lösen kann. Die Lösung gewinnt man auch hier wieder aus dem vor kurzem skizzierten Telos des § 2271 II 1 HS 2 BGB als Schutzvorschrift zugunsten des 169 Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 38; Erman-Schmidt, § 2271 Rn. 12; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 23; ders., FS Kegel, 433 (443 ff.); Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 12; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 26; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 40; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 506 f.; Schlüter, Erbrecht, Rn. 367; Kegel, FS Jahrreiß, 141 (151). 170 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 23; Schlüter, Erbrecht, Rn. 367. 171 Battes, Vermögensordnung, 139; Brox, Erbrecht, Rn. 192; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 III 3 b; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 227; im Ergebnis, nicht jedoch in der dogmatischen Diktion auch Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1280 mit Fn. 159). 172 Ebenroth, Erbrecht, Rn. 227. 173 Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 20; Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1280). 174 Schlüter, Erbrecht, Rn. 367. 175 So MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 23; ders., FS Kegel, 433 (444 f.).
§ 9 Entbindung aus Gründen des Schutzes des Überlebenden
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Überlebenden. Der Grund für die Entbindung des Überlebenden bestand darin, daß der Erstverstorbene nicht erwarten darf, der Überlebende wäre weiterhin gebunden, obwohl die zu seiner Bindung führende korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen wegen der Ausschlagung weggefallen ist. Begründet wurde dies damit, die Auszeichnung des Überlebenden als Erbe sei entfallen, so daß nicht einsichtig wäre, warum der Überlebende in jener Situation die Endbedachten weiterhin zwingend als seine Erben auszeichnen müsse, in der die Vermögensordnung post mortem, in der das vom Erstverstorbene entfaltete „Sein zum Tode“ sich kristallisiert hat, wegen der Ausschlagung entwertet worden ist176. Es spielt demnach keine Rolle, ob die korrespektive Bedenkung dem anderen Teil oder einem Dritten zuteil geworden ist, da dies den erforderlichen Schutz des Überlebenden ja nicht relevant berührt. An dem normativen Erwartendürfen des Erstverstorbenen ändert sich mithin nichts, wenn nur ein Dritter korrespektiv bedacht worden ist. Schlägt dieser aus, gehört der überlebende Teil von der Bindung befreit. Dies zeigt sich auch daran, daß nach h. M. ja auch der zu Lebzeiten des Überlebenden erfolgende ersatzlose Wegfall des korrespektiv endbedachten Dritten zu einer Lösung von der Bindung führt177. Auch hier kann der Vorverstorbene nicht erwarten, der Überlebende bliebe weiterhin gebunden. Wieso hier also eine Loslösung eintritt, im Fall der Ausschlagung durch einen korrespektiv bedachten Dritten hingegen nicht, muß der h. M. unerfindlich bleiben. Auch die Vermeidung eines Wertungswiderspruchs spricht mithin dafür, die Ausschlagung des Dritten mit einer Lösung von der Bindung beim Überlebenden zu koppeln178. Nach all dem kann es auch nicht darauf ankommen, ob der Destinator der wechselbezüglichen Verfügung dem überlebenden Teil nahestand oder mit ihm verwandt ist. Allerdings wird in diesen Fällen Anlaß sein, das Vorliegen der Korrespektivität besonders eingehend zu untersuchen179. b) Die Bedenkung des überlebenden Gatten und eines Dritten aa) Diskussionslage Sind sowohl der überlebende Ehegatte als auch ein Dritter bedacht, ist strittig, ob nur der Ehegatte180 oder neben diesem auch der Dritte181 aus176
Siehe oben § 9 I 1 b. Siehe nur MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 20; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 37. 178 So auch Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1280). 179 Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1280 Fn. 159), verneint für den Regelfall das Vorliegen der Wechselbezüglichkeit, wenn ein dem überlebenden Teil nicht verwandter oder ihm nicht nahestehender Dritter bedacht worden ist. 177
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
schlagen muß oder auch unter Umständen nur der Dritte182 ausschlagen kann, damit der Überlebende seine Testierfreiheit wiedergewinnt. Für die Ansicht, die Ausschlagung des Ehegatten reiche zur Wiedergewinnung von dessen Testierfreiheit hin, wird als weitgehend einziges Argument vorgetragen, daß es auf das Verhalten des endbedachten Dritten für § 2271 II 1 HS 2 BGB überhaupt nicht ankäme, da diese Regelung auf dem Verbot eines venire contra factum proprium des überlebenden Teils beruhe, welches für den Dritten ersichtlich ohne Belang sei183. Überzeugend ist dies nicht, da das venire-Verbot ja die Ausschlagungsregelung des § 2271 II 1 HS 2 BGB nicht erklären kann184. Die Diskussionslage ist ansonsten merkwürdig unklar, was sich etwa an Argumenten zeigt, die Ausschlagung des Dritten und des Ehegatten sei insgesamt „am ehesten überzeugend“185. Das Problem muß deshalb grundlegend aufgerollt werden. Dabei kann es sinnvollerweise nur um die Ausschlagung eines Dritten gehen, der im Interesse des Überlebenden vom Erstverstorbenen zu dessen Erben eingesetzt worden ist, der also dem Erstverstorbenen beispielsweise nahestand. Denn die Ansicht, auch der vom erstverstorbenen Teil in seinem eigenen Interesse eingesetzte Dritte müsse ausschlagen, damit der Überlebende seine Testierfreiheit wiedergewinnt, wäre ja ungereimt. Sie würde letztlich dazu führen, daß der Erwartungsschutz des Erstverstorbenen aufgrund § 2271 II 1 HS 2 BGB nur aufgehoben wäre, wenn auch der vom Erstverstorbenen in seinem Interesse eingesetzte Dritte seine Bedenkung verliert; dies liegt erkennbar nicht im Erwartungsbereich des Erstverstorbenen. Fraglich ist mithin nur, ob der Dritte ausschlagen muß, welcher vom Erstverstorbenen eingesetzt worden ist, weil der Überlebende seinerseits so und so testiert hat – wobei dieses „so und so“ oftmals darin bestehen wird, daß der Überlebende einen Dritten bedacht hat, dessen Bedenkung dem Erstverstorbenen am Herzen lag. Die sachgerechte Problemlösung kann anhand von Beispielen186 plastisch gemacht werden. Dabei sollen jeweils drei Lösungen unterschieden werden: Nach der Lösung 1 reicht es zur Wiedergewinnung der Testierfreiheit des Überlebenden hin, daß dieser ausschlägt, nach der Lösung 2 muß nur der endbedachte Dritte, der in dem gerade beschriebenen Sinn im Interesse des Überlebenden vom Erstverstorbenen ein180 So Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 39; Erman-Schmidt, § 2271 Rn. 12; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 24; ders., FS Kegel, 433 (445 f.); Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 41; Plack-Greiff, § 2271 Anm. IV 1 b y. 181 So Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 17; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 20. 182 So Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1280 f.). 183 Musielak, FS Kegel, 433 (445 f.). 184 Dazu siehe oben § 9 I 1 a, 2 a. 185 So Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1280). 186 Dazu auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1280).
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gesetzt worden ist, ausschlagen, und bei der Lösung 3 müssen beide, der überlebende Teil und der Dritte, ausschlagen. Diese Lösungen werden hier nicht anhand von Fallgestaltungen untersucht, bei denen der Dritte neben dem überlebenden Ehegatten etwa zur Hälfte als Erbe bestellt worden ist, sondern anhand der Bedenkung des Ehegatten mit der Bedenkung eines Dritten als dessen Schluß- und Ersatzerbe oder anhand der Bedenkung des Dritten als Nacherbe des Vorverstorbenen. Dies dürften die praktisch einschlägigeren Fälle darstellen187. bb) Die Rechtslage bei der Trennungslösung Gesetzt den Fall, die Ehegatten haben sich – wie bei der Trennungslösung – als Vorerben sowie eine dem erstversterbenden Teil nahestehende Person A und eine dem überlebenden Teil nahestehende Person B je zur Hälfte als Nacherben (und deshalb in der Regel auch als Ersatzerben) eingesetzt. Ceteris paribus ergäbe die Auslegung, daß wechselseitig zum einen die gegenseitigen Vorerbeneinsetzungen je zueinander und zum anderen die Nacherbeneinsetzungen je zueinander sind, nicht aber die Einsetzungen der Ehegatten jeweils zu der Einsetzung des A oder des B. In einer Abwandlung sei Wechselbezüglichkeit jeder der Verfügungen untereinander gegeben. Wie steht es mit dem Grundfall? Lösung 1: Würde die Ausschlagung des Längstlebenden zur Entbindung nach § 2271 II 1 HS 2 BGB hinreichen, würde im Falle der Ausschlagung A und B hälftige Ersatzerben nach dem Erstverstorbenen, §§ 1953 I, II, 2102 I BGB. Testiert der Überlebende (etwa zu Lasten von A) neu, wird die korrespektive Verfügung des Erstversterbenden zugunsten des B in diesem Zeitpunkt unwirksam, § 2270 I BGB. A würde mit der Errichtung des neuen Testaments des Überlebenden alleiniger Ersatzerbe des Erstverstorbenen. Lösung 2: Falls B die Nacherbschaft nach dem erstverstorbenen Teil ausschläge und falls schon allein diese Ausschlagung dem Überlebenden seine Testierfreiheit wiederverschaffte, wird A alleiniger Ersatznacherbe des Erstverstorbenen, da das in § 2094 BGB niedergelegte Anwachsungsrecht des A dem Anrecht des Vorerben aus § 2142 II BGB vorgeht188. Testiert der Überlebende nun zu Lasten des A neu, verschlägt dies nicht, da die Einsetzung des Überlebenden zum Vorerben des Erstverstorbenen im Grundfall nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam wird, da diese Verfügung nicht korrespektiv ist zur Bedenkung des A durch den Überlebenden. Im Grundfall könnte bei der Lösung 2 mithin die einzige Folge der neuen Verfügung des Überlebenden die Unwirk187
Ebenso Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1280). RG, Recht 1916 Nr. 488; BayObLG, FamRZ 1962, 538 (539); MünchKommGrunsky, § 2142 Rn. 5; Soergel-Harder, § 2142 Rn. 5; Staud-Behrends/Avenarius, § 2142 Rn. 7. 188
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
samkeit der Bedenkung des B durch den Erstverstorbenen nach § 2270 I BGB sein; diese ist aber durch die Ausschlagung sowieso schon weggefallen. Die Vollerbschaft nach dem Erstverstorbenen erwirbt A also erst im Nacherbfall (Tod des Überlebenden). Lösung 3: Schlagen hingegen sowohl der Überlebende als auch der endbedachte B aus und reicht nur dies zur Wiedergewinnung der Testierfreiheit des Überlebenden hin, tritt A als Ersatzerbe des Erstverstorbenen dessen Vollerbschaft mit dessen Tode an, §§ 1953 I, II, 2094, 2102 I BGB. Die Ergebnisse sind mithin fast die gleichen wie bei der o. g. ersten Lösung; nur wird A auch dann alleiniger Ersatzerbe nach dem Erstverstorbenen, wenn der Überlebende nicht neu zu seinen Lasten testiert, zudem wird er alleiniger Ersatzerbe schon im Zeitpunkt des Todes des Erstverstorbenen und nicht erst im Zeitpunkt des Neutestierens des Überlebenden. Hieraus wird zugleich deutlich, warum eine Ausschlagung auch des Dritten neben dem Überlebenden nicht erforderlich sein kann, damit letzterer seine Testierfreiheit wiedergewinnt: Die Schlußerben A und B sind zugleich im Zweifel auch Ersatzerben des Erstverstorbenen189. Müßte auch der Dritte ausschlagen, wäre dies nur einsichtig, wenn die Erwartungen des Erstverstorbenen typischerweise darauf gerichet sind, daß (i) der A „automatisch“ (also ohne widersprechende Zweitverfügung des überlebenden Teils) die alleinige Ersatzerbschaft erhält und (ii) er nicht nur „automatisch“, sondern schon im Todeszeitpunkt des Erstversterbenden (und nicht erst mit der Errichtung eines weiteren Testaments durch den überlebenden Teil) dessen Alleinersatzerbe werden soll. Für derartige Erwartungen ist aber nichts ersichtlich. Ist dem so, verschlägt es für den Erwartungsschutz des Erstverstorbenen nichts, wenn nur der überlebende Teil, nicht aber der Dritte ausschlägt. Der praktische Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Lösung besteht mithin zum einen im Zeitpunkt des Erwerbs der Vollerbschaft nach dem Erstverstorbenen. Während der Erwerb bei der ersten Lösung schon im Zeitpunkt der Errichtung des neuen Testaments durch den Überlebenden erfolgt, ist dies bei der zweiten Lösung erst im Zeitpunkt des Todes des Überlebenden der Fall. Zum anderen sind bei der ersten Lösung A und B schon im Zeitpunkt des Todes des Erstverstorbenen dessen Erben geworden, während bei der zweiten Lösung A die Alleinerbschaft nach dem Erstverstorbenen erst im Tode des Überlebenden erwirbt. Wie sind diese verschiedenen Zeitpunkte mit Blick auf den Erwartungsschutz des Erstverstorbenen zu bewerten? Falls die Lösung 1 für richtig erachtet wird, müßte der Überlebende die Vorerbschaft ausschlagen, um A zu enterben, obwohl im Grundfall die Verfügung des erstverstorbenen Teils zu seinen Gunsten nicht von seiner Verfügung zugunsten des A abhängt. Dies wiederum wäre mit Blick auf die Erwartungen des Erstverstorbenen ungereimt190, da dieser den 189
Siehe § 9 I 1 b.
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A geschützt sehen will. Um diesen Schutz zu bewerkstelligen, hat der Erstverstorbene den anderen Gatten mit der Einsetzung des und nur des B gratifiziert, die Einsetzung des anderen Teils als Vorerbe spielte hierfür im Grundfall ja keine Rolle191. Darüberhinaus würde es auch dem Sinn und Zweck des § 2271 II 1 HS 2 BGB widersprechen, wenn auch der Überlebende ausschlagen müßte. Denn diese Vorschrift sichert das Persönlichkeitsrecht des überlebenden Teils, wenn die ihn bindende korrespektive Verfügung aufgrund der Ausschlagung des Bedachten entfallen ist; der Erstverstorbene darf hier nicht erwarten, der Überlebende sei weiterhin gebunden192. Im Grundfall war der Überlebende aber nur deshalb an seine Bedenkung des A gebunden, weil der Erstverstorbene den B bedacht hat. Fällt die Bedenkung des B wegen Ausschlagung fort, ist kein Grund mehr ersichtlich, den Überlebenden weiterhin zu binden. Zumindest im Grundfall spricht also nichts dafür, auch die Ausschlagung des Überlebenden neben der des endbedachten B zu verlangen. Rechtstechnisch kann dem Rechnung getragen werden, indem § 2271 II 1 HS 2 BGB teleologisch zu reduzieren ist (als die Ausschlagung des dem Überlebenden Zugewendeten durch diesen verlangt wird) und analog auf den Fall der Ausschlagung des korrespektiv vom Erstverstorbenen endbedachten Dritten anzuwenden193. Wie sieht es bei der Abwandlung aus? Lösung 1: Wenn in der Abwandlung die Ausschlagung durch den Überlebenden für die Wiedergewinnung von dessen Testierfreiheit genügen würde und er ausschlägt, würden A und B hälftige Ersatzerben nach dem Erstverstorbenen, § 2102 I BGB. Testiert der überlebende Teil zu Lasten des A neu, würde die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen zugunsten des B zum Zeitpunkt der Errichtung des weiteren Testaments des Überlebenden gem. § 2270 I BGB unwirksam; A würde zu diesem Zeitpunkt alleiniger Ersatzerbe des Erstverstorbenen. Lösung 2: Das gleiche Ergebnis träte ein, falls die Ausschlagung durch den B zur Entbindung des Überlebenden hinreichen würde und dieser neu zu Lasten des A testiert. Denn der A wäre mit der Ausschlagung des B alleiniger Nacherbe des Erstverstorbenen geworden, § 2094 BGB. Wenn der Überlebende zu Lasten des A neu testiert, verliert er gem. § 2270 I BGB seine Vorerbenstellung nach dem Erstverstorbenen. A erwirbt dann als Ersatzerbe die Vollerbenstellung nach dem Erstverstorbenen, § 2102 I BGB. Lösung 3: Schlagen hingegen sowohl der Überlebende als auch der endbedachte B aus, sind die Ergebnisse die gleichen, nur daß A nicht erst im Nacherbfall, sondern schon im Zeitpunkt des Todes des Erstverstorbenen 190
Ebenso Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1281). Im Grundfall stehen die gegenseitigen Einsetzungen als Vorerbe nicht im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zur Einsetzung der Dritten jeweils als Nacherbe. 192 Siehe § 9 I 1 b. 193 Im Ergebnis auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1281). 191
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
dessen Vollerbe wird. Die Notwendigkeit, daß sowohl der Überlebende als auch der diesem nahestehende endbedachte Dritte ausschlagen muß, kann deshalb aus den gleichen Gründen wie bei der Einheitslösung und bei dem Grundfall verworfen werden; hierauf sei verwiesen. Die Lösungen 1 und 2 unterscheiden sich in der Abwandlung mithin nicht in dem Zeitpunkt, in dem der A die Alleinerbenstellung nach dem Erstverstorbenen erhält; dies ist in beiden Lösungen der Zeitpunkt der Errichtung eines neuen Testaments durch den Überlebenden. Die Lösungen unterscheiden sich nur, soweit der Erwerb der hälftigen Mitvollerbenstellung des A zusammen mit dem B nach dem Erstverstorbenen zur Rede steht. Diese erwirbt A nur bei der Lösung 1, während er bei der Lösung 2 schon vor der Errichtung einer neuen Verfügung durch den Erstverstorbenen die alleinige Nacherbschaft erhält. Wie sind diese Unterschiede mit Blick auf den Erwartungsschutz des Erstverstorbenen zu bewerten? Auf den ersten Blick scheint es so zu sein, daß schon die Ausschlagung des B hinreicht, um dem Überlebenden seine Testierfreiheit wiederzuverschaffen, da in diesem Fall der A am umfassensten geschützt ist, da dieser in der Lösung 1 ja zuerst einmal nur die hälftige Ersatzerbenstellung mit B, in der Lösung 2 aber die alleinige Nacherbenstellung nach dem Erstverstorbenen erhält. Anders als im Grundfall stehen bei der Abwandlung aber sämtliche Verfügungen im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zueinander. Der Erstverstorbene hat deshalb den anderen Teil mit seiner Einsetzung und der des B gratifiziert. Es liegt hier nahe, deshalb die Ausschlagung beider Teile, des Überlebenden und des B, zu verlangen, was jedoch schon vor kurzem ausgeschlossen wurde. Mithin wird es den Erwartungen des Vorverstorbenen am ehesten entsprechen, daß der Überlebende ausschlagen muß, damit dieser seine Testierfreiheit wieder erhält.
cc) Die Rechtslage bei der Einheitslösung Gesetzt den Fall, die Gatten haben sich – wie in der Einheitslösung – gegenseitig als Alleinerben sowie eine dem erstversterbenden Teil nahestehende Person A und eine dem überlebenden Teil nahestehende Person B je zur Hälfte als Schlußerben eingesetzt. Da A und B wegen ihrer Schlußerbenstellung regelmäßig auch Ersatzerben nach dem Vorverstorbenen sind, sind sie im Falle der Ausschlagung des Überlebenden auch durch den vorverstorbenen Teil von Todes wegen bedacht. Auch im Falle der Einheitslösung stellt sich deshalb durchaus die Frage, wer ausschlagen muß, damit der Überlebende seine Testierfreiheit wiedererlangt. Nun ergäbe weiter die Auslegung im Grundfall, daß nur die Einsetzungen des A und des B zum Schlußerben des je Überlebenden, nicht aber die Einsetzung jeweils zum Alleinerben des Erstverstorbenen mit der Einsetzung des dem anderen Teil
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Nahestehenden im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit stehen; in der Abwandlung sind hingegen sämtliche Verfügungen wechselbezüglich. Lösung 1: Reicht es zur Entbindung hin, wenn der Überlebende das Erbe des Erstverstorbenen ausschlägt, werden A und B sowohl im Grundfall als auch in der Abwandlung Ersatzerben des Erstverstorbenen. Testiert der Überlebende später zuungunsten des A, wird dessen Ersatzerbenberufung nach dem Erstverstorbenen wiederum sowohl im Grundfall als auch in der Abwandlung unwirksam; A wird mithin im Zeitpunkt der Errichtung des neuen Testaments194 Alleinersatzerbe des erstverstorbenen Teils. Lösung 2: Gewänne der Überlebende seine Testierfreiheit schon dann wieder, wenn einzig B die Ersatzerbschaft nach dem Erstverstorbenen ausschlägt195, ist zu unterscheiden: Testiert in der Abwandlung der Überlebende zu Lasten des A neu, würde seine Bedenkung durch den Erstverstorbenen gem. § 2270 I BGB unwirksam; der A erwürbe im Zeitpunkt der Errichtung des neuen Testaments durch den Überlebenden als alleiniger Ersatzerbe die Alleinerbschaft nach dem Erstverstorbenen, § 2094 BGB. Die Unterschiede zur ersten Lösung liegen bei der Abwandung also allein darin, daß A vor der Errichtung der neuen Verfügung des Überlebenden nicht schon zur Hälfte (in Miterbengemeinschaft mit B) die Ersatzerbschaft nach dem Erstverstorbenen angetreten hat. Im Unterschied zur Lösung 3 des Grundfalls und der Abwandlung bei der Trennungslösung kann hier der Erstverstorbene durchaus erwarten, der Überlebende bliebe weiterhin gebunden, wenn nicht auch er selbst ausschlägt. Denn der Erstverstorbene darf nur dann nicht mehr erwarten, daß der Überlebende gebunden sei, wenn die Bindung des Überlebenden auf der Bedenkung eines Dritten beruht, die dieser ausgeschlagen hat196. In der Abwandlung wird die Bindung des Überlebenden aber durch dessen Bedenkung des A bewirkt, so daß der überlebende Teil nur frei würde, wenn A ausschlüge. Eine Ausschlagung des B genügt gerade nicht. Die Lösung 2 überzeugt daher zumindest in der Abwandlung nicht. Im Grundfall würde sich bei der Lösung 2 an der Vollerbenstellung des Überlebenden durch die Ausschlagung auf Seiten des B nichts ändern. Testiert der Überlebende nun zu Lasten des A neu, verschlägt dies nicht, da die Einsetzung des Überlebenden zum Alleinerben des Erstverstorbenen im 194 Die Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügungen nach § 2270 I BGB tritt im Fall der Anfechtung von Anfang an ein. Im Fall eines zur Unwirksamkeit führenden Widerrufs der im gemeinschaftlichen Testament enthaltenen Verfügung – wie hier – beginnt die Unwirksamkeit erst mit dem Widerruf, siehe nur Soergel-Manfred Wolf, § 2270 Rn. 18. 195 Zur Berechtigung des Ersatzerben, die Ersatzerbschaft nach dem Erbfall und vor dem Wegfall des Erstberufenen auszuschlagen, siehe nur MünchKomm-Schlichting, § 2096 Rn. 10. 196 Siehe § 9 I 1 b.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
Grundfall nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam wird, da diese Verfügung nicht korrespektiv ist zur Bedenkung des A durch den Überlebenden. Im Grundfall könnte bei der Lösung 2 mithin die einzige Folge der neuen Verfügung des Überlebenden die Unwirksamkeit der Bedenkung des B durch den Erstverstorbenen nach § 2270 I BGB sein; diese ist aber durch die Ausschlagung sowieso schon weggefallen. Der Überlebende könnte also zu Lasten des B neu testieren, obwohl sich für ihn nichts geändert hat; die Erwartung des Erstverstorbenen, der Erwerb von Todes wegen des B sei zumindest nach ihm hinreichend gesichert, ginge mithin ins Leere. Schon aus diesem Grund kommt auch im Grundfall und damit insgesamt gesehen bei der Einheitslösung die Lösung 2 nicht in Betracht. Lösung 3: Müßte der Überlebende seine Bedenkung und der drittbedachte B seine Ersatzerbschaft ausschlagen, damit der Überlebende erneut testieren kann, hätte A sowohl im Grundfall als auch in der Abwandlung auch ohne neue, dem gemeinschaftlichen Testament widersprechende Verfügung des Überlebenden die alleinige Ersatzerbenstellung nach dem Erstverstorbenen im Zeitpunkt von dessen Tode (§ 1953 I, II BGB) erlangt. Die Notwendigkeit, daß sowohl der Überlebende als auch der diesem nahestehende endbedachte Dritte ausschlagen muß, kann deshalb aus den gleichen Gründen wie bei der Trennungslösung verworfen werden: Es ist nicht ersichtlich, wieso es dem Willen des Erstverstorbenen typischerweise entsprechen soll, daß der A „automatisch“ (also ohne widersprechende Zweitverfügung des überlebenden Teils) und unmittelbar schon im ersten Todesfall die alleinige Ersatzerbschaft erhalten soll; genau das wäre aber die Konsequenz, wenn auch der B ausschlagen müßte. Nach all dem reicht es bei der Einheitslösung folglich zur Wiedergewinnung der Testierfreiheit des Überlebenden aus, wenn dieser ausschlägt. Auch bei der Einheitslösung kann die Lösung 3 mithin verworfen werden. dd) Ergebnis zur Ausschlagung bei Bedenkung des Überlebenden und eines Dritten Die bisherige Diskussion hat ergeben, daß sowohl bei der Einheits- als auch bei der Trennungslösung es grundsätzlich ausreicht, daß der überlebende Gatte seinen testamentarischen Erwerb ausschlägt; eine Ausschlagung durch den Dritten ist nicht erforderlich197 und alleine auch nicht hinreichend. Eine Ausnahme ist bei der Trennungslösung zu machen, soweit die Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments ergibt, daß im Verhältnis 197 Im Ergebnis ebenso Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 39; Erman-Schmidt, § 2271 Rn. 12; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 24; ders., FS Kegel, 433 (445 f.); Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 41; Plack-Greiff, § 2271 Anm. IV 1 b y.
§ 9 Entbindung aus Gründen des Schutzes des Überlebenden
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der Wechselbezüglichkeit nur die gegenseitigen Vorerbeneinsetzungen je zueinander und die Nacherbeneinsetzungen je zueinander stehen, nicht aber die Einsetzungen der Ehegatten jeweils zu der Einsetzung des A oder des B. Hier braucht der Überlebende nicht auszuschlagen, soweit derjenige endbedachte Dritte (typischerweise: eine dem Überlebenden nahestehende Person, in den o. g. Beispielsfällen jeweils der B) ausschlägt, den der Erstverstorbene bedacht hat, weil der Überlebende zugunsten eines anderen Dritten (typischerweise: eine dem Erstverstorbenen nahestehende Person, in den o. g. Beispielsfällen jeweils der A) letztwillig verfügt hat. § 2271 II 1 HS 2 BGB ist insofern teleologisch zu reduzieren ist (als die Ausschlagung des dem Überlebenden Zugewendeten durch diesen verlangt wird) und analog auf den Fall der Ausschlagung des korrespektiv vom Erstverstorbenen endbedachten Dritten anzuwenden198. II. Der Wegfall des Endbedachten Wird die Verfügung des einen Gatten, die mit einer des anderen Gatten im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit steht, gegenstandslos, entfällt die testamentarische Bindung. Es liegt auf der Hand, daß bei einem derartigen Wegfall der Überlebende seine Testierfreiheit aus den gleichen Gründen wiedergewinnt, die bei der Ausschlagung des ihm vom Erstverstorbenen Zugewendeten einschlägig sind199: Ist die Verfügung des Erstverstorbenen ins Leere gegangen und damit die Vermögensordnung post mortem zerbrochen, ist kein Grund mehr ersichtlich, den Persönlichkeitsschutz des Überlebenden weiterhin gegenüber dem des Erstverstorbenen nachrangig zu bewerten; der überlebende Teil gewinnt mithin seine Testierfreiheit zurück. 1. Der Wegfall der Bindung aufgrund Wegfalls des Endbedachten
Eine Gegenstandslosigkeit einer Verfügung von Todes wegen kommt insbesondere beim Tode des Bedachten (§§ 1923 I, 2160 BGB), bei der Ausschlagung der Zuwendung (§§ 1953 Abs. 1, 2180 III BGB), beim Erbverzicht (§§ 2346 ff. BGB) und bei der Erbunwürdigkeit (§§ 2339 ff. BGB) in Betracht200. Ein weiterer Fall ist die Pflichtteilsstrafklausel201. Bei derartigen Klauseln wird verfügt, daß ein Schlußerbe, der nach dem ersten Todesfall den Pflichtteil verlange, beim zweiten Todesfall ebenfalls nur den Pflichtteil erhalten solle. Wird der Pflichtteil verlangt, kann dies bewirken, 198
Im Ergebnis auch Pfeiffer, FamRZ 1993, 1266 (1281). Oben § 9 I 1 b. 200 Dazu siehe nur den Überblick bei MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 20. 201 Zu derartigen Klauseln siehe nur die Übersicht zu den kautelarjurisprudentiellen Formelwerken bei Radke, Berliner Testament, 93 ff. 199
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
daß ein Bedachter wegfällt und die ihn begünstigende Verfügung gegenstandslos wird202. Herrschender Meinung nach ist Voraussetzung des Bindungsfortfalls, daß nicht ein anderer an die Stelle des Bedachten gem. §§ 2069, 2096, 2190 BGB tritt oder die Zuwendung einem anderen gem. §§ 2094, 2158 BGB zuwächst203. In der Mehrzahl der Sachverhalte dürfte nach dieser Ansicht eine Lösung von der Bindung kraft Wegfalls der Verfügung praktisch kaum eintreten. Dem ist zumindest für den Eintritt der Ersatzerbschaft i. S. § 2069 BGB mit der Begründung widersprochen worden204, aus § 2069 BGB folge zwar die Ersatzerbenstellung, keineswegs jedoch die Wechselbezüglichkeit derselben mit Verfügungen des anderen Teils. Als Argument wird angeführt, es existiere kein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, die Ehegatten, die unter gegenseitiger Bedenkung beispielsweise das einzige gemeinsame Kind als Schlußerben einsetzten, wollten zugleich auch jede Änderungsmöglichkeit bezüglich der Position des als Ersatzerben an die Stelle des weggefallenen Kindes tretenden Enkels nach dem ersten Todesfall ausschließen. Eine derartige Annahme einer Bindung zugunsten der Enkel sei schon deshalb nicht wahrscheinlich, weil die Entwicklung und Eignung der Enkel zumeist noch nicht hinreichend von den Ehegatten beobachtet und eingeschätzt werden könne; auch betreuerische Gründe könnten gegen eine Bindung sprechen205. Diese Überlegung überzeugt zumindest, soweit es darum geht, ob allein schon aus der Regelung des § 2069 BGB auf die Wechselbezüglichkeit der Ersatzerbeneinsetzung geschlossen werden kann206. Denn in der Tat müssen die Gründe, die für die Wechselbezüglichkeit der Verfügungen zugunsten der Endbedachten sprechen, nicht auf den Ersatzerben übertragbar sein. 2. Die Wechselbezüglichkeit der Verfügung hinsichtlich des Ersatzerben
Mit dieser soeben getroffenen Feststellung ist aber noch nicht zugleich der Schluß zutreffend, die Wechselbezüglichkeit sei nunmehr allein nach der allgemeinen Regel des § 2270 I BGB für den Ersatzerben neu zu prüfen207. Vielmehr ist zu fragen, ob nicht auch für die Ersatzerbschaft die 202
Siehe BayObLG, BayObLGZ 1960, 222; OLG Dresden, OLGE 40, 144. BayObLG, DNotZ 1935 BayBeil. 129; BayObLGZ 1960, 216 (222); ZEV 1994, 362 (364); OLG Frankfurt, FamRZ 1998, 772 (774); OLG Hamm, FamRZ 1982, 203; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 20; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 29; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 39. 204 Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 V 2 b; Baumann, ZEV 1994, 351 (352 f.); Radke, Berliner Testament, 126 f. 205 Baumann, ZEV 1994, 351 (353). 206 So auch OLG Frankfurt, FamRZ 1995, 772 (774). 203
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Zweifelsregelung des § 2270 II BGB einschlägig ist, falls der Ersatzerbe – wie regelmäßig – mit den Gatten verwandt ist. Das OLG Frankfurt208 geht ohne weiteres davon aus, § 2270 II BGB sei auf den Ersatzerben anwendbar. Davon kann jedoch so ohne weiteres nicht die Rede sein. § 2271 II BGB folgert aus dem Umstand des Nahestehens auf die Motivlage der Abhängigkeit, wobei die Eigenschaft, mit dem Gatten verwandt zu sein, einen bloßen Unterfall des Nahestehens darstellt, und zwar ein solcher Unterfall, bei dem im Zweifel davon auszugehen ist, daß ein Nahestehen gegeben ist209. Nun ist der Begriff des Nahestehens in § 2271 II BGB wiederum eng auszulegen210. Mit Rücksicht hierauf wird die Zweifelsregelung, daß Verwandte des Gatten diesem auch nahestehen, nicht nur um so leichter zu entkräften sei, desto entfernter der Grad der Verwandtschaft ist. Vielmehr kann sie auch nur dann greifen, wenn es um die Verwandten des erstverstorbenen Teils geht, die im Testament ausdrücklich genannt oder ihm im Wege der erläuternden oder ergänzenden Auslegung entnommen werden können; sie greift aber nicht bei Verwandten, die im Wege von Auslegungsregeln als Bedachte gelten. Alles andere würde den teleologischen Grund, der § 2270 II BGB bei der Verwandtschaft einsichtig werden läßt (nämlich: das bei Zweifeln anzunehmende personale Nahestehen), durch eine doppelte „Zweifelsregelung“ (nämlich: im Zweifel als Erbe und im Zweifel als Nahestehend) dermaßen „ausdünnen“, daß die Auslegungsvorschrift teleologisch ad absurdum geführt würde. Die Frage, ob der Ersatzerbe wechselbezüglich bedacht worden ist, ist nach all dem grundsätzlich nach § 2270 I BGB und nicht nach § 2270 II BGB zu beurteilen, es sei denn, der Ersatzerbe stünde dem anderen Teil tatsächlich im konkreten Falle nahe. III. Die Lösung von der Bindung qua Anfechtung 1. Die Selbstanfechtung durch den überlebenden Teil
a) Allgemeines Zu Lebzeiten beider Gatten ist eine Anfechtung wechselbezüglicher Verfügungen eines gemeinschaftlichen Testaments allgemeiner Meinung nach ausgeschlossen, da die Ehegatten jederzeit ihre Verfügungen nach § 2271 I BGB widerrufen können und deshalb ein Anfechtungsrecht nicht bedürfen, um neu testieren zu können211. Nach dem ersten Todesfall tritt die mate207
So aber wohl Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 V 2 b; Baumann, ZEV 1994, 351 (352 f.); Radke, Berliner Testament, 126 f. 208 OLG Frankfurt, FamRZ 1995, 772 (774). 209 Dazu oben § 6 III 3 b. 210 Dazu oben § 6 III 3 b.
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rielle Bindung der Testierfreiheit des Überlebenden gem. § 2271 II BGB ein. Obgleich im Gesetz auch für diesen Fall die Selbstanfechtung der eigenen wechselseitigen Verfügung nicht vorgesehen ist, wird sie gleichwohl für diese Verfügungen in analoger Anwendung der Vorschriften über den Erbvertrag (§§ 2281 ff. BGB i.V. m. §§ 2079 f. BGB) zugelassen, da nunmehr wie beim Erbvertrag der Schutz der Willensfreiheit des Erblassers zur Rede stünde und damit die Interessenlage hinsichtlich der Bindungswirkung in beiden Fällen gleich wäre212. Damit ist der zweite der eingangs213 genannten beiden Fälle der Lösung von der Bindung einschlägig: der Schutz des überlebenden Teils. Freilich ist umstritten, in welcher Stelle des Gesetzes dieser Schutz am ehesten zum Ausdruck kommt. So hat der BGH stellenweise statt einer Analogie zu den §§ 2281 ff. BGB auch auf die Regelung des § 2080 BGB rekurriert. Das Freiwerden von der Bindungswirkung soll für den gebundenen Erblasser als Vorteil i. S. dieser Vorschrift gelten können214. Dies ist schon deshalb nicht angängig, weil dann auf die notarielle Beurkundung der Anfechtungserklärung gem § 2282 III BGB analog verzichtet werden könnte. Wieso dies bei der Anfechtung korrespektiver Verfügungen zulässig sein soll, beim Erbvertrag hingegen nicht, bliebe unerfindlich215. Es bleibt mithin dabei: die §§ 2281 ff. BGB analog sind mit dem Eintritt der Bindungswirkung nach dem ersten Todesfall für den überlebenden Teil für dessen Verfügungen anwendbar. Der Anwendungsbereich der Selbstanfechtung sollte bei einem gemeinschaftlichen Testament nicht überschätzt werden. Denn richtigerweise werden – wie gezeigt wurde216 – die Ehegatten hinsichtlich eines Umstands, bei dem der Anfechtungsgrund wegen Motivirrtums vorliegt, im Zweifel im Testament eine Freistellungsklausel vereinbart haben, die im Wege ergänzender Auslegung in das testamentarische Erwartungsstörungsprogramm im211 Siehe RGZ 77, 165 (169), 87, 95 (97); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 34; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 33; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 7 a. 212 BGHZ 37, 331 (333); BGH FamRZ 1970, 79 (80); RGZ 77, 165 (168 ff.); 87, 95 (98); 132, 1 (4); RG JW 1917, 536; RG WarnR 1918, Nr. 213; WarnR 1931, Nr. 25; BayObLG, BayObLGZ 1989, 116 (119 f.); BayObLG, FamRZ 1995, 1024; KG, DNotZ 1933, 578 (580); OLG Kiel, HEZ 2, 329 (334); OLG Celle, OLGZ 1969, 85 (87); OLG Hamm, OLGZ 1972, 387 f.; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 36; MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 7; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 33 f.; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 69; Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 27; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 44; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 229; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 7 a; Leipold, Erbrecht, Rn. 355; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 513 f.; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 III 4 b; Schlüter, Erbrecht, Rn. 371. 213 Oben § 7 I 1, § 7 III. 214 BGH, FamRZ 1991, 52 (55). 215 Kritisch deshalb auch Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1281). 216 Dazu siehe oben § 8 III 2 sowie unten § 11 IV 1 c.
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plementiert wird. Ist eine derartige Klausel vorgesehen, entfällt die bindende Wirkung des Testaments hinsichtlich des fraglichen Umstands. Damit scheidet aber nach allgemeinen Regeln eine Analogie zu §§ 2281 f. BGB und damit die Selbstanfechtung aus. Interessen des Erstverstorbenen spielen entgegen stellenweise anderslautender Ansicht217 bei der Selbstanfechtung durch den Überlebenden keinerlei Rolle218. Insbesondere kommt nicht in Betracht, die Anfechtung von einer objektiven Würdigung des Irrtums im Sinne einer Angemessenheitsprüfung unter Berücksichtigung der Interessen des Erstverstorbenen oder – ähnlich wie beim Wegfall der Geschäftsgrundlage die Rückabwicklung des Geschäfts – davon abhängig zu machen, daß das Festhalten an der Verfügung schlechthin unzumutbar wäre219. Alles andere wäre mit den personfunktionalen Gehalten der Testierfreiheit220 unvereinbar. Die Interessen des Erstverstorbenen werden durch § 2270 I BGB hinreichend geschützt221. Die Anfechtung ist selbst dann gestattet, wenn die sie begründenden Umstände erst vom Erblasser willkürlich herbeigeführt worden sind. Hierbei kommt es entgegen der herrschenden Meinung222 nicht immer darauf an, daß die Gründe wider Treu und Glauben vom Erblasser veranlaßt worden sind223. Zwei Fallgestaltungen gilt es hier zu unterscheiden. In der ersten hat der Erblasser in der letztwilligen Verfügung selbst die vermeintliche Treuwidrigkeit gesetzt – etwa durch eine besonders perfide erbrechtliche Auflage zu Lasten des Erben mit der Folge, daß dieser ein erwartetes Wohlverhalten nicht mehr zeigt. Ein Treuwidrigkeitsschutz ist hier selbst 217 OLG Hamm, NJW 1972, 1088 (1089 f.), ist der Auffassung, für die Frage, ob die Anfechtung wegen Übergehens eines Pflichteilsberechtigten nach § 2079 S. 1 BGB ausgeschlossen ist mit Rücksicht auf einen entgegenstehenden Willen, sei auf den Willen beider Ehegatten abzustellen. Siehe auch MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 8; Erman-Schmidt, § 2271 Rn. 16; Battes, Vermögensordnung, 312 f. 218 So auch MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 36; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 34. In der dogmatischen Grundlegung auch Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1281), der aber zu Recht darauf hinweist, daß bei der Prüfung, ob der Erblasser nicht trotz Übergehens des Pflichtteilsberechtigten ebenso testiert hätte (§ 2079 S. 2 BGB), die Interessen des Erstversterbenden einfach deshalb oft einfließen, weil der Überlebende möglicherweise auf den anderen Teil Rücksicht genommen hätte. Es bleiben dann aber immer noch allein die Interessen des Anfechtungsberechtigten. 219 So aber Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 2; ähnlich MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 8, der hiervon jedoch letztlich Abstand nimmt, weil ein „Bruch mit der klaren Aussage des Gesetzes“ befürchtet wird. Ebenso Ritter, Konflikt, 117 f. 220 Dazu oben § 2 und Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 11 VII. 221 So auch MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 36. 222 Siehe nur BGHZ 4, 91; MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 36; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 16. 223 Für einseitige, nicht aber für wechselseitige Verfügungen ebenso Staud-Otte, § 2078 Rn. 15; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 62.
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dann nicht sachgerecht, wenn ein gemeinschaftliches Verfügungsverhalten von Ehegatten vorliegt. Sedes materiae eines Bedachtenschutzes im Wege der Inhaltskontrolle der letztwilligen Verfügung ist allein die Sittenwidrigkeitsprüfung des § 138 I BGB224. Und ein Vertrauensschutz der Gatten ist nur im Rahmen der §§ 2070 f. BGB angesiedelt und findet ansonsten wegen der Personfunktionalität der Testierfreiheit selbst dann nicht statt, wenn die Erblasser miteinander verheiratet sind. Der zweite Fall betrifft ein Verhalten des Erblassers, welches dazu führt, daß es zu einer Abweichung der Entwicklung von dem im gemeinschaftlichen Testament gehegten Vorstellung kommt. Ein Beispiel wäre der Fall, daß der Erblasser den Endbedachten nach dem ersten Todesfall so bösartig behandelt, daß dieser sein vom Erblasser im Verfügungszeitpunkt unter- oder vorgestelltes Wohlverhalten abstreift. Auch hier greift der Einwand eines treuwidrigen Verhaltens mit Rücksicht auf die Personfunktionalität des gewillkürten Erbrechts nicht ein, welches gerade das von tradierten Sitten und Ansichten über das gute und gerechte Leben abweichende Testierverhalten schützt. Ging daher der Erblasser beim Testieren entgegen allem Anschein (und damit entgegen tradierter Sitte) davon aus, der Bedachte würde – gleichgültig, was geschieht – sich so und so verhalten, darf ihm ein diesbezüglicher Irrtum nicht schaden. Freilich muß eingehend geprüft werden, ob der Erblasser tatsächlich von der Konstanz im Verhalten des Bedachten ausgegangen ist oder dessen Reaktion einkalkuliert hat. Ist letzteres der Fall, fehlt schon die Erheblichkeit des Irrtums225. b) Form- und Fristfragen Die Anfechtungserklärung muß analog § 2281 II BGB dem Nachlaßgericht gegenüber abgegeben werden226. Sie bedarf analog § 2282 III BGB der notariellen Beurkundung. Wegen des besonderen Erklärungsgegners ist eine Umdeutung einer neuen Verfügung des Überlebenden in eine Anfechtungserklärung ausgeschlossen. Während die Form der Anfechtung praktisch weniger problematisch ist, ergeben sich gewichtige Rechtsprobleme bei der Bestimmung der Anfechtungsfrist nach § 2283 BGB. Richtigerweise ist im Falle der Selbstanfechtung für die in § 2283 II 1 BGB für den Fristbeginn vorgesehene Kenntnis vom Anfechtungsgrund davon auszugehen, daß nicht nur die Kenntnis der Tatsachen, aus denen die Anfechtbarkeit hervorgeht, sondern auch das positive Wissen erforderlich ist, daß die 224
Staud-Otte, § 2078 Rn. 15. MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 36. 226 MünchKomm-Leipold, § 2081 Rn. 5; Soergel-Loritz, § 2081 Rn. 5. Eine Differenzierung nach den in § 2081 BGB genannten Verfügungen und den dort nicht genannten Verfügungen, für die § 143 IV 1 BGB gilt, findet mithin nicht statt. 225
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Anfechtungsberechtigung besteht. Die Begründung für diese manchen sicherlich zu weit gehende Aussage kann besonderes lebensnah an dem Parallelproblem der Anfechtungsfrist bei der Anfechtung wegen der Übergehung eines Pflichtteilsberechtigen nach § 2079 BGB beispielhaft verdeutlicht werden. Auf die dortigen Ausführungen wird an dieser Stelle daher verwiesen227. 2. Die Anfechtung durch Dritte
Ein Anfechtungsrecht Dritter ist vor dem ersten Todesfall nicht228, wohl aber entsprechend den allgemeinen Regeln der §§ 2078 ff. BGB nach dem Tode des Längstlebenden gegeben, § 2080 I, II BGB229. Für die Anfechtung wechselbezüglicher Verfügung des Überlebenden gilt allgemeiner Meinung nach § 2285 BGB analog230. Eine Anfechtung durch Dritte ist mithin ausgeschlossen, wenn das Anfechtungsrecht des Überlebenden im Zeitpunkt seines Todes ausgeschlossen wäre. Für die Drittanfechtung der Verfügungen des Erstverstorbenen gilt § 2285 BGB hingegen nicht231, da der erstverstorbene Teil zu Lebzeiten seine Verfügungen nie anfechten konnte232. Das bloße Unterlassen der Anfechtung deutet demnach allenfalls darauf hin, daß der Erstverstorbene die Verfügung auch in Kenntnis der Sachlage erklärt hätte, so daß die Erheblichkeit des Irrtums fehlen mag233. Eine entsprechende Anwendung des § 2285 BGB auf die Verfügungen des erstverstorbenen Gatten ist somit zu Recht nicht veranlaßt. Die Anfechtungsfrist beginnt nicht vor dem Tode des Ehegatten, dessen Verfügung angefochten werden soll234. Kenntnis des Anfechtungsgrundes i. S. § 2082 II 1 BGB bedeutet im Falle der Drittanfechtung freilich nicht auch – wie bei der Selbstanfechtung –, daß das positive Wissen erforderlich ist, die Anfechtungsberechtigung bestünde. Richtigerweise muß hier zwi227
Unten § 11 IV 1 b. Siehe nur MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 34. 229 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 40. 230 Dazu nur RGZ 77, 165; 87, 95; 132, 1; BayObLG, NJW-RR 1989, 587 (588); 1992, 1223 (1224); KG, NJW 1963, 766 (767); FamRZ 1968, 219; OLG Hamm, OLGZ 1971, 312 (313); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 41; Erman-Schmidt, § 2271 Rn. 16; Jauernig-Stürner, § 2271 Anm. 2 d bb; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 38; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 67; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 55; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 516 f. 231 Anders LG Karlsruhe, NJW 1958, 714. 232 Siehe nur MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 41; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 38; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 67. 233 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 41. 234 So richtigerweise BayObLG, FamRZ 1977, 347 (349); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 42; gegen OLG Frankfurt, MDR 1959, 393. 228
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schen der Unkenntnis des Anfechtungsgrundes (kein Fristbeginn) und der des Anfechtungsrechts (unschädlich für Fristbeginn) differenziert werden. Die näheren Gründe für diese Ansicht werden auch hier wiederum erst im Rahmen der Anfechtung nach § 2079 BGB erläutert; auf diese Ausführungen sei daher an dieser Stelle verwiesen235.
§ 10 Entbindung qua Schutz des Überlebenden: Seltener einschlägige Fälle Nachdem bei den bisherigen Überlegungen die hauptsächlich einschlägigen Instrumente diskutiert wurden, mit deren Hife der Überlebende seine Testierfreiheit wiedergewinnen kann, wird nun zu überlegen sein, ob nicht ausnahmsweise dem Überlebenden ein Kondiktionsanspruch gegen den Endbedachten zur Verfügung steht, der ihm im Ergebnis wieder zu seiner Testierfreiheit verhilft (dazu § 10 I). Freilich muß genau untersucht werden, welchen praktischen Nutzwert aus der Kondiktion gezogen werden kann. Sodann ist zu untersuchen, ob nicht ausnahmsweise unter noch näher darzulegenden Umständen eine Loslösung von der Bindung allein deshalb in Frage kommt, weil der überlebende Teil dies so will (dazu § 10 II). I. Die Loslösung von der Bindung kraft Kondiktion 1. Einführung in die Problematik
Ceteris paribus sei einmal davon ausgegangen, die Ehegatten hätten ein gemeinschaftliches Testament nach der Einheits- oder der Trennungslösung errichtet und als Endbedachten wechselbezüglich einen Dritten eingesetzt, damit dieser durch die Bedenkung dazu veranlaßt wird, den überlebenden Teil gehörig zu versorgen236. In einer Abwandlung haben die Ehegatten sich von dem Dritten mit Blick auf dessen testamentarisch bindende Bedenkung die Versorgung schuldrechtlich zusagen lassen. Nach dem ersten Todesfall versorgt der Dritte den Überlebenden nicht, nur schlecht oder verzögerlich. Im Grundfall wollen die Ehegatten den Dritten mithin durch die Bedenkung zu etwas veranlassen, während in der Abwandlung eine Leistungsverpflichtung des Erblassers auf Erbeinsetzung des Dritten wegen § 2302 BGB ausgeschlossen ist. Nun stellen derartige Veranlassungsfälle oder der Fall, daß eine der Parteien – wie hier, § 2302 BGB – gesetzlich nicht zu ihrer Leistung verpflichtet werden kann, im allgemeinen Vermögensrecht geradezu klassische Beispiele dar, bei denen die condictio ob rem 235 236
Unten § 11 IV 2. Siehe zum parallelen Fall beim Erbvertrag unten § 16 I 2, 3.
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223
aus § 812 I 2 Alt. 2 BGB einschlägig sein kann. Es liegt deshalb nahe, für derartige Gestaltungen die Frage zu stellen, ob dem überlebenden Teil nicht ein Kondiktionsanspruch aus § 812 I 2 Alt. 2 BGB gegen den gemeinschaftlich testamentarisch Endbedachten auf Abschluß eines Zuwendungsverzichtsvertrags i. S. § 2352 BGB gegeben werden kann, wenn die gemeinschaftlich von den Ehegatten ihm gegenüber gehegte Versorgungserwartung enttäuscht wird. Ein derartiger Zuwendungsverzicht würde zum Wegfall des gemeinschaftlich Endbedachten führen. Die Rechtsfolgen eines derartigen Wegfalls sind im Hinblick auf mögliche Ersatzerben und auf eine eventuelle Anwachsung schon geklärt worden; auf die dortigen Ausführungen sei hier verwiesen237. Die Richtschnur ist, daß die qua Zuwendungsverzicht relevant werdende Ersatzerbeneinsetzung grundsätzlich nicht wechselbezüglich ist. Die Ersatzerbenberufung hindert deshalb zumeist nicht, daß der überlebende Teil seine Testierfreiheit wiedergewinnt. Steht die Berufung dennoch einmal wie die Bedenkung des Zuwendungsverzichtenden im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit, so ist zu prüfen, ob nicht auch gegen den Ersatzerben die Kondiktion gegeben ist. In Literatur und Rechtsprechung blieb ein derartiger Bereicherungsanspruch bisher außerhalb des entgeltlichen Erbvertrages unerörtert. Gemeinhin deutet eine derartige Enthaltsamkeit darauf hin, daß die Erträge, die ein derartiger Anspruch für die Lösung von der testamentarischen Bindung erbringen kann, wohl eher gering einzuschätzen sind, und daß deshalb es zu einer Art Askese hinsichtlich der bereicherungsrechtlichen Implikationen der geschilderten Versorgungsfälle kommt. Gleichwohl darf sich eine dogmatisch orientierte Untersuchung einem derartigen asketischen Vorgehen nicht anschließen, da es immer noch reizvoll ist nachzuweisen, ob tatsächlich die Kondiktion dem testamentarische gebundenen Erblasser nicht weiterhilft: Es kann sinnvoll sein, zu zeigen, daß etwas praktisch nicht sinnvoll ist. Und dies ist etwas durchaus anderes, als nur zu behaupten, etwas sei nicht sinnvoll. Zudem steht einer recht verstandenen Dogmatik es immer gut an, sich um der Klarheit des dogmatischen Systems rechtlicher Wertungen willen auch solchen Fragen zuzuwenden, deren praktische Relevanz nicht recht einsichtig ist. Vor diesem Hintergrund wird im folgenden diskutiert werden, was es mit dem geschilderten Bereicherungsanspruch des Überlebenden auf sich hat. 2. Die condictio ob rem
Gemeinhin werden im Erbrecht bereicherungsrechtliche Fragen nur anhand des Problems thematisiert, wie Leistungsstörungen im Rahmen eines 237
§ 9 II und unten § 11 III 3.
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entgeltlichen Erbvertrages zu beurteilen sind. In dieser Untersuchung wird das Kondiktionsrecht denn auch ausführlich anhand der Thematik diskutiert werden, wie der erbvertraglich gebundene Überlebende seine Testierfreiheit wiedergewinnen kann, wenn der vertragsmäßig Endbedachte seine Versorgungspflichten nicht gehörig erfüllt oder der Versorgungserwartung nicht nachkommt238. Auf diese Überlegungen kann an dieser Stelle nur hingewiesen und zugleich angeraten werden, zuvor die dortigen Gedankengänge nachzuvollziehen, ehe die folgenden Ausführungen weiterverfolgt werden. Die Überlegungen zum Erbvertrag haben – übertragen auf das gemeinschaftliche Testament – folgendes Ergebnis gezeitigt: Die causa einer erbrechtlichen Verfügung ist jedes Motiv, welches ihr zugrundeliegt239. Jedes erhebliche Motiv ist deshalb ein rechtlich relevanter Zweck der erbrechtlichen Bedenkung. Die Verknüpfung zwischen dieser Bedenkung (abstrakter gesagt: der Zuwendung) und dem Zweck ist kausal ausgestaltet und nicht abstrakt, da nach den causa-Lehren eine derartige kausale Verknüpfung vorliegt, wenn bei einer Zweckverfehlung die Zuwendung beispielsweise qua Anfechtung vernichtbar ist240. Beim gewillkürten Erbrecht ist dies ausweislich des § 2078 II BGB bei jedem erheblichen Motiv der Fall. Nun ist es zulässig, daß die Ehegatten die Verbindung zwischen Zuwendung und Zweck von einer kausalen in eine abstrakte Verknüpfung umwandeln241. Die Lösung von der testamentarischen Bindung bei einer abstrakten Verknüpfung zwischen Zuwendung und Zweck wurde bisher in Literatur und Rechtsprechung nicht erörtert, so daß es geradezu auf der Hand liegt, ob diese Leerstelle nicht schon aus Gründen eines dogmatischen Systembedürfnisses mit der Kondiktion belegt werden kann. Nun ist das Mittel zu einer gewillkürten Abstraktheit die Vereinbarung über den Zweck, welchem die Verfügung von Todes wegen dienen soll242. Im Ausgangsbeispiel ist dieser Zweck die Versorgung des Überlebenden durch den Endbedachten. Kennt der Dritte die Zweckvereinbarung und hat er nicht deutlich zu erkennen gegeben, daß er nicht daran denkt, dem avisierten Zweck genüge zu tun, wird er nach Treu und Glauben Partei der Zweckvereinbarung. Kennt er die Zweckvereinbarung nicht oder widerspricht er ihr, kann um seines Schutzes willen eine Kondiktion nicht greifen. Diese Wertung basiert auf der Einsicht, rechtlich sei dem Bedachten nur das Risiko der Anfechtung wegen Motivirrtums zugewiesen, nicht aber dasjenige, sich einem Anspruch ausgesetzt zu sehen. Letzteres ist dem Dritten daher nur anzusinnen, wenn er Partei der Zweckvereinbarung wird243. Ha238 239 240 241 242
Unten Unten Unten Unten Unten
§ § § § §
16 17 17 17 17
bis § 18. I 2. I 2 c. II 2. II 2.
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ben die Ehegatten gewußt, daß sie sich testamentarisch qua Korrespektivität binden und haben sie gerade um dieser Bindung willen den Endbedachten zur Versorgung veranlassen wollen oder hat dieser die Versorgung nur wegen der bindenden Bedenkung zugesagt, liegt eine bereicherungsrechtliche Leistung eines Vorteils vor244. Dieser Vorteil ist die bindende Bedenkung des Dritten und ein „etwas“ im Sinne des Bereicherungsrechts245. Wird nun nach dem ersten Todesfall der von den Ehegatten gemeinschaftlich vereinbarte Zweck der Zuwendung verfehlt, kann der Überlebende grundsätzlich von dem Endbedachten die testamentarische Bindung „kondizieren“ und die Einwilligung in einen Zuwendungsverzichtsvertrag verlangen246. Eine Ausnahme ist für den Fall zu machen, daß die Ehegatten eine Freistellungsklausel in ihr gemeinschaftliches Testament aufgenommen haben, da es hier schon an dem bereicherungsrechtlich relevanten „etwas“ fehlt und aus diesem Grunde eine Kondiktion ausscheiden muß247. Damit ist schon eine wichtige Vorentscheidung hinsichtlich der rechtlichen Relevanz der Kondiktion getroffen, da ja die Freistellung bei einer Motiventtäuschung nach dem hiesigen Ansatz der Regelfall sein wird248. Soviel zu den bereicherungsrechtlichen Grundlagen der condictio ob rem beim gemeinschaftlichen Testament. Die Zweckverfehlungskondiktion kommt mithin nur in Betracht, wenn die Ehegatten sich (i) über einen Zweck verständigt haben, den sie gemeinsam mit der Bedenkung des Dritten verfolgen, sie (ii) die testamentarische Bindung des Überlebenden kennen und im Hinblick auf diese dem Dritten die Zweckverfolgung antragen oder von ihm erwarten, sie (iii) keine Freistellung des Überlebenden für den Fall der Verfehlung anfechtungsrechtlich erheblicher Motive vorgesehen haben und falls schließlich (iv) der Dritte die Zweckvereinbarung kennt und nicht zum Ausdruck bringt, daß er ihr nicht zu folgen bereit ist. Liegen diese und die sonstigen „normalen“ Kondiktionsvoraussetzungen vor, kann der Überlebende von dem Endbedachten die Einwilligung in einen Zuwendungsverzichtsvertrag nach § 2352 S. 1 BGB verlangen. 3. Probleme des Leistungsbegriffs
Nach dem modernen Kondiktionsverständnis besteht der Leistungsbegriff aus einem finalen, einem kognitiven und einem volitiven Element: Leistung ist jede Zuwendung, welche auf eine bewußte und zweckgerichtete Vor243 244 245 246 247 248
Unten § 17 II 4. Unten § 18 II 1. Unten § 17 I 1. Unten § 18 II 2, III. Unten § 19 II. Dazu § 8 II 2.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
teilsvermehrung gerichtet ist249. Das finale Element ist bei einer auf die Versorgung des Überlebenden gerichteten korrespektiven Bedenkung des Dritten nicht weiter problematisch; es liegt eben in der Versorgungsmotivation. Schwierigkeiten treten beim gemeinschaftlichen Testament beim kognitiven und volitiven Leistungselement auf. Bei der Leistungskondiktion muß der die Kondiktion geltend machende Ehegatte den Bindungsschematismus des gemeinschaftlichen Testaments erkannt (kognitives Element) und in Richtung auf eine zielgerichtete Steuerung der Vorteilsverschiebung an den Dritten gewollt haben (volitives Element), da sonst die testamentarisch bindende Bedenkung nicht geleistet sein kann. Nun tritt die Bindungsfolge des § 2271 I BGB ex lege unabhängig von der Vorstellung der Parteien – wenngleich nicht entgegen ihren geäußerten Willen – ein, so daß sich die Ehegatten im konkreten Fall der Bindungsfolge des gemeinschaftlichen Testierens aktuell und individuell tatsächlich überhaupt nicht bewußt gewesen sein müssen. Wenn ein derartiger Ausfall des kognitiven und volitiven Elements vorliegt, entfällt freilich zugleich auch die Zweckgerichtetheit des Güterbewegungsvorgangs250. Dies liegt ganz einfach daran, daß genau mit dem zugewendeten Vorteil der Zuwendende final etwas bewirken will251; es liegt auf der Hand, daß dies wiederum nur möglich ist, wenn Kenntnis und Wille gegeben sind. Die Probleme liegen beim gemeinschaftlichen Testament weniger in den Fällen eines deutlich fehlenden oder bestehenden Zuwendungsbewußtseins. Wenn dieses fehlt, entfällt auch das kognititve Element der Leistung und damit die Leistungskondiktion. Interessanter ist vielmehr, ob ähnlich wie in den Fallgestaltungen, in denen es die Motivation der Ehegatten nur anhand schwieriger Auslegungen des Parteiverhaltens zu ermitteln ist und eher typologische Zuordnungen von Parteiverhalten und Motivation die Regel sind, auch das kognitive und das volitive Element der Leistung ähnlich ermittelt werden kann. Dies wäre nichts Neues, wie schon der Flugreisefall BGHZ 55, 128 zeigt, in dem der BGH Bewußtsein und Wille als ein „generelles Leistungsbewußtsein“ und als einen „generellen Leistungswille“ verstanden hat. Die dieser Diskussion zugrundeliegenden Sachverhaltsgestaltungen waren jedoch durch ein Handeln des „Leistenden“ gekennzeichnet, welches am Markt mit seinen rollenhaften Austauschvorgängen stattfand. In diesen Fällen war der Schluß am ehesten gerechtfertigt, der „Leistende“ bediene sich bei seinem typischen Handeln der marktförmig gängigen Formen (hier: des Vertrages) und leiste also. Ob dieser Schluß im allgemeinen Vermögensrecht berechtigt ist, mag dahingestellt bleiben; an Kritik hat es jedenfalls nicht gefehlt252. Nun besteht die Funk249 250 251
Hierzu siehe wiederum die Darstellung beim Erbvertrag unten § 18 II 1. Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 4 II 1 b. Vgl. nur Klinke, Causa, 71, 87 f.
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tion des subjektiven Erfordernisses der Leistung darin, eine Vorteilsverschiebung demjenigen als Leistung zuzurechnen, welcher die Transaktion vornimmt253. Es geht also darum, Privatautonomie zu aktualisieren254. Die Leistungsfähigkeit des Leistungsbegriffes ist hierbei freilich umstritten255; dies ändert jedoch nichts daran, daß angesichts des Rekurs auf die Privatautonomie kein Anlaß besteht, hinsichtlich des Bestehens des kognitiven und volitiven Elements der Zuwendung andere Kriterien anzulegen, als dies beim finalen Element (hier: der Versorgungsmotivation) der Fall ist; eine unterschiedliche Behandlungsweise ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch das Leistungsbewußtsein und der Leistungswille kann daher bei typischen Fallgestaltungen unter Umständen als bestehend angenommen werden. Nur: Bei welchen typischen Fällen ist dies der Fall? Nun sind in den hier zur Diskussion anstehenden Fallgestaltungen, in denen das Leistungsbewußtsein nicht deutlich ermittelt werden kann, die Ehegatten gleichwohl davon ausgegangen, sie könnten den Dritten durch die Bedenkung dazu motivieren, den Überlebenden zu versorgen. Die Frage, warum sie das überhaupt erwartet haben, wo doch das Wissen weit verbreitet ist, daß Testamente gemeinhin jederzeit widerruflich sind, kann dann nur so beantwortet werden, daß sie wohl gewußt haben werden, daß sie den Dritten nur mit einer bindenden Bedenkung relativ sicher dazu veranlassen können, eine gehörige Versorgung sicherzustellen. Es dürfte deshalb die Auslegungsregel zulässig sein, daß das Leistungsbewußtsein typischerweise gegeben ist, wenn die Ehegatten den Dritten durch seine Bedenkung zu einem Verhalten veranlassen wollten. Die diesem Schluß zugrundegelegte Hypothese, die Ehegatten würden davon ausgehen, daß das Verhalten des Dritten zwar auch durch die bloße Bedenkung, jedoch darüberhinaus auch durch die Form einer stabilisierten, bindenden Zuweisung einer Erbchance motiviert wird, erscheint wahrscheinlich und dürfte den zu Ende gedachten Willen der Ehegatten nach typischerweise entsprechen. Sobald Anhaltspunkte für ein mangelndes Leistungsbewußtsein der Ehegatten gegeben sind, scheidet eine Leistung freilich zwingend aus. Die Frage ist dann: Greift eine Nichtleistungskondiktion?
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Kritisch bsp. Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 4 II 1 b mwNachw. Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 4 II 1 b. Vgl. auch Welker, Bereicherungsausgleich, 26 f. 254 Staud-Lorenz, 13. Bearb., § 812 Rn. 5; v. Caemmerer, Festschrift Rabel, 333 (350 f.). 255 Dazu nur Kupisch, Gesetzespositivismus, passim; ders., JZ 1985, 101 ff., 163 ff. 253
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung 4. Die allgemeine Abschöpfungskondiktion des § 812 I 1 Alt. 2 BGB
a) Allgemeines Bei den Nichtleistungskondiktionen taucht sofort eine Schwierigkeit auf. Eingangs256 war davon die Rede, daß die Ehegatten die causa der erbrechtlichen Verfügung durch eine Zweckvereinbarung von einer kausalen Verknüpfung von Zuwendung und Zweck auf eine abstrakte Verknüpfung umstellen und damit den Weg zur Kondiktion ebnen können. Nun scheint zumindest in dem Fall, daß eine Zweckvereinbarung nicht gegeben ist, in denen sich die Ehegatten also nicht gemeinschaftlich darauf geeinigt haben, daß der Zweck der Bedenkung des Dritten darin liegt, beispielsweise die Versorgung des Überlebenden sicherzustellen, eine Nichtleistungskondiktion schon deshalb zwingend auszuscheiden, weil eine Kondiktion die Abstraktheit der Vorteilsverschiebung voraussetzt. Ein derartiger Gedanke würde jedoch einer schwerwiegenden Kategorienverwechselung unterliegen: Die Begriffe abstrakt und kausal bilden die Formen ab, in denen ein Rechtsgrund auf eine Vorteilsverschiebung einwirkt257. Sie sind Begrifflichkeiten der causa-Lehren, und diese wiederum handeln von Zuwendungen, ihren Zwekken und den Folgen einer Zweckstörung. Bei den Nichtleistungskondiktionen geht es jedoch nicht um derartige Fragen der „Zweckverfehlung“ einer Leistung, sondern schlagwortartig um die Frage, ob ein Erwerb nach der für den Einzelfall geltenden rechtlichen Güterzuordnung nicht bei dem Empfänger verbleiben soll, sondern einem anderen gebührt258. Es spielt daher bei Nichtleistungskondiktionen keine Rolle, ob die Vorteilsverschiebung im Kontext der causa-Lehren als kausal ausgestaltet begriffen werden muß. Vielmehr besteht das allen Bereicherungen „in sonstiger Weise“ gemeine Merkmal darin, daß dem Bereicherungsschuldner ohne Leistung Vorteile zugeflossen sind, die ihm nicht gebühren, weil ihre Einordnung in seine Vermögenssphäre der materiell-rechtlichen Zuweisungsordnung zuwiderläuft259, 260. Über die Eingrenzung der zuweisungshaltigen Positionen besteht in den Randfeldern zwischen rechtlichen Befugnissen, jemanden von 256 257
§ 10 I 2. Krawielicki, Grundlagen, 9; vgl. auch Westermann, Causa, 95; Klinke, Causa,
81 ff. 258
Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 7 I 3. Zur heute herrschenden Zuweisungstheorie im Gefolge Hecks (SchuldR, 421 ff.), Wilburgs (Ungerechtfertigte Bereicherung, 27 ff.) und v. Caemmerer (Festschrift Rabel, 333 (353 ff.)) vgl. nur statt vieler mit Unterschieden im einzelnen Staud-Lorenz, § 812 Rn. 23 ff.; RGRK-Heimann-Trosien, § 812 Rn. 41; MünchKomm-Lieb, § 812 Rn. 205, 207 ff.; Soergel-Mühl, § 812 Rn. 132 ff.; Erman-Westermann, § 812 Rn. 65; Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 7 II 2; Koppenstein/Kramer, Bereicherungsrecht, § 9 I 4; Loewenheim, Bereicherungsrecht, 74 ff.; Larenz/Canaris, SchuldR II/2, § 69 I 1 b; Esser/Weyers, § 50 I 1. 259
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dem Genuß eines Rechts auszuschließen, auf der einen und bloßen immateriellen Positionen oder Affektionsinteressen sowie wirtschaftlichen Chancen auf der anderen Seite noch Uneinigkeit. Unumstritten ist jedoch, daß den klassischen absoluten Rechten, denen eine Ausschlußfunktion und die Möglichkeit kapitalmäßiger Nutzung inhärent ist und auf die nach klassischer Lehre der Zuweisungsgehalt beschränkt werden solle261, ein relevanter Zuweisungsgehalt zukommt262. Demgegenüber knüpfen neuere Ansätze an dem durch § 823 I BGB, aber auch durch § 823 II BGB gewährleisteten Deliktsschutz263, an der Verbietungsmöglichkeit von Zugriffen auf ein Gut264 oder an der kommerziellen Verwertungsmöglichkeit, also der Marktgängigkeit von Rechtspositionen an265. Die Einzelheiten können dabei auf sich beruhen, da der Zuweisungsgehalt des hier betroffenen Guts (der Testierfreiheit) in Anlehnung an die Zuweisung bei den absoluten Rechten ermittelt werden kann.
260 Bekanntlich ist die Zuweisungstheorie nicht unumstritten und wird vor allem durch die auf Fritz Schulz zurückgehende, in neuerer Zeit von Kellmann, Horst Heinrich Jakobs, Hartmut Haines und Jan Wilhelm vertretene sog. „Rechtswidrigkeitstheorie“ kritisiert, nach der der Erwerb ungerechtfertigt ist, der auf eine – je verschieden in den jeweiligen Ansätzen verstandene – widerrechtliche Handlung des Bereicherten zurückgeführt werden kann, vgl. als Überblick nur MünchKomm-Lieb, § 812 Rn. 199 ff. Das Meinungsspektrum beschränkt sich nicht auf derartige Zuweisungs- oder Rechtswidrigkeitslehren, vielmehr sind auch Ansätze jenseits von Zuweisung und Rechtswidrigkeit zu verzeichnen, für die hier paradigmatisch nur auf Joerges verwiesen werden soll, der im Kontext seines wirtschaftsrechtlichen Ansatzes anhand einer „wirtschaftsrechtliche(n) Transformation der bereicherungsrechtlichen Dogmatik“ (AK-Joerges, vor § 812 Rn. 28; ders., Bereicherungsrecht als Wirtschaftsrecht, 61 ff.) zu anders ausdifferenzierten Lösungen gelangt, vgl. nur AKders., § 812 Rn. 48 ff. 261 Vgl. nur v. Caemmerer, Festschrift Rabel, 333 (397 f.), aber anders insbes. für das Warenzeichenrecht. 262 Vgl. nur Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 7 III 1; Larenz/Canaris, SchuldR II/2, § 69 I 1 c. 263 So (mit Beschränkung durch die Entgeltfähigkeit des betreffenden Gutes als Voraussetzung der Kondiktion) Larenz/Canaris, SchuldR II/2, § 69 I 1 c. 264 So Kleinheyer, JZ 1970, 471 (474 ff.); ihm folgend Koppenstein/Kramer, Bereicherungsrecht, § 9 I 4. 265 So die h. L., vgl. nur statt vieler MünchKomm-Lieb, § 812 Rn. 211 ff.; Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 7 III 2 c, d bb; Esser/Weyers, § 50 I 1; Loewenheim, Bereicherungsrecht, 69 ff.; als ein Kriterium unter anderen bei Erman-Westermann, § 812 Rn. 66.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
b) Der Zuweisungsgehalt der Testierfreiheit in Anlehnung an die Rechtslage bei den klassischen absoluten Rechten Das durch die ex lege eintretende Bindungswirkung des § 2271 II BGB betroffene Rechtsgut ist die Testierfreiheit des überlebenden Gatten. Die Testierfreiheit ist nun zweifellos kein absolutes Recht; gilt es doch als Hauptkennzeichen absoluter Rechte, ihrem Inhalt nach ein Bündel von Unterlassungsansprüchen gegenüber jedermann zu eröffnen; ihnen wohnt gleichsam ein exklusiver Bereich in Substanz und Ertrag inne. Dennoch steht die Testierfreiheit einem absoluten Recht gleich, weil sie rechtlich so stark geschützt ist, daß sie nicht „eingriffsfähig“ ist: Private Dritte können sie nicht beeinträchtigen; die §§ 2078 II, 2302, 313 BGB geben hier die maßgeblichen Stichworte vor. Plakativ formuliert, schützt die Rechtsordnung die Testierfreiheit nicht erst, indem sie bei Eingriffen dem Rechtsinhaber einen Unterlassungsanspruchs (wie in § 1004 BGB bei den absoluten Rechten) gibt; vielmehr läßt sie es schon ausweislich der §§ 2078 II, 2302, 313 BGB nicht zu, daß es schon zu Beeinträchtigungen kommen kann. Der der Testierfreiheit zukommene Zuweisungsgehalt liegt somit in der „Willensmäßigkeit“ ihrer Ausübung, eben ihrem personfunktionalen Gehalt – es wäre ja auch reichlich merkwürdig, der Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht keinen Zuweisungsgehalt zukommen zu lassen, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aber sehr wohl. Gegen die Annahme eines Zuweisungsgehalt der Testierfreiheit könnte nun eingewendet werden, mangels eines deliktisch möglichen Eingriffs schiede eine Kondiktion zwingend aus266. Schlüssig ist dies freilich nicht. Die bereicherungsrechtliche Relevanz des Merkmals eines deliktischen Eingriffs liegt im Kontext der o. g. Rechtswidrigkeitstheorie darin, daß von dem deliktischen Schutz auf den Zuweisungsgehalt des jeweiligen Rechts oder Rechtsguts zurückgeschlossen wird. Gerade ein derartiger Rückschluß geht dann ins Leere, wenn ein Eingriff nur deshalb ausgeschlossen ist, weil in das Recht selbst – eben aufgrund seiner starken Ausgestaltung – nicht eingegriffen werden kann; aus der Unmöglichkeit eines Eingriffs läßt sich dann kein Argument gegen einen Zuweisungsgehalt gewinnen. Gegen die Zubilligung eines Zuweisungsgehalts an die Testierfreiheit kann weiter nicht eingewendet werden, sie sei aufgrund der §§ 2302, 313 BGB nicht entgelt- und damit auch nicht marktfähig, was jedoch Voraussetzung einer Nichtleistungskondiktion sei267. Die Testierfreiheit ist jedoch durchaus – wenn nicht zu einer synallagmatischen Verknüpfung von Leistungen gegriffen wird – entgelt- und marktfähig268. Zudem ist sie auch marktgängig, wie 266 So könnte man vor dem Hintergrund der o. g. Lehre argumentieren, die den Zuweisungsgehalt an den deliktischen Schutz binden.
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schon die Existenz entgeltlicher Erbverträge zeigt. Einwände gegen einen kondiktionsrechtlich relevanten Zuweisungsgehalt der Testierfreiheit könnten freilich noch darin bestehen, daß die Testierfreiheit funktional als Ausdruck personaler Freiheit begriffen werden muß, um ihr in toto gerecht zu werden – und an der Einbindung personenrechtlicher Güter in eine Vorteilsabschöpfung qua Kondiktion, also an der Zubilligung eines vermögensrechtlichen Zuweinungsgehalts wird vielfach Anstoß genommen269. Dennoch hindert die personale Funktionalität der Testierfreiheit nicht, ihr einen vermögensrechtlichen Zuweisungsgehalt zuzubilligen, da die Rechtsordnung in der auf Verpfründungsverträge bezogenen Regelung des § 2295 BGB anerkannt hat, daß der Testierfreiheit ein Markt eröffnet ist. c) Präzisierung: Zuweisungsgehalt und Legalerwerb Der Zuweisungsgehalt der Testierfreiheit ist bisher nur skizzenhaft mit „Willensgemäßheit“ umrissen worden; dies gilt es nun zu präzisieren. Die Bindung des überlebenden Ehegatten wird ex lege statuiert. Bei derartigen Legalerwerbsvorgängen wird gemeinhin der Zuweisungsgehalt des betroffenen Rechts dahingehend konkretisiert, ob mit der Vorteilsverschiebung das Gesetz eine endgültige Neuordnung der Güterlage herbeiführen will270. Nun weist das Gesetz die Bindung des überlebenden Gatten als endgültig aus, solange die Entbindungstatbestände der § 2271 II 1 HS 1, 2, III BGB, der §§ 2078 ff. BGB, § 2077 BGB, ein Änderungsvorbehalt oder die sonstigen Entbindungsmöglichkeiten271 nicht greifen. Ist nach diesen Tatbeständen eine Entbindung möglich, liegt ein Zuweisungsgehalt der Testierfreiheit vor. Ist eine Entbindung hingegen nicht mehr möglich (weil beispielsweise die Anfechtungsfrist versäumt worden ist), scheidet ein Zuweisungsgehalt aus. Ist beispielsweise die Anfechtung verfristet und greift auch sonst kein Entbindungstatbestand, kann keine Zuweisungswidrigkeit der Bindung des 267 So könnte man vor dem Hintergrund des oben gestreiften Ansatzes argumentieren, der an der kommerziellen Verwertungsmöglichkeit des betroffenen Guts den Zuweisungsgehalt festmachen will. 268 Siehe dazu ausführlich unten bei der Kondiktion im Rahmen des entgeltlichen Erbvertrages § 17 I 1. 269 Zur Diskussionslage vgl. nur Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 7 IV 2 a; Koppenstein/Kramer, Bereicherungsrecht, § 9 I 4 c; MünchKomm-Lieb, § 812 Rn. 218 f.; Erman-Westermann, § 812 Rn. 69; sowie ausführlich Götting, Persönlichkeitsrechte als Vermögensrechte, passim. 270 Staud-Lorenz, § 812 Rn. 28; Erman-Westermann, § 812 Rn. 80; Reuter/Martinek, § 9 I, II. 271 Hierzu zählt die bisher noch nicht angesprochene Möglichkeit, sich in Wertungsanlehnung an § 138 I BGB von der testamentarischen Bindung zu lösen, siehe dazu sogleich § 10 II.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
Überlebenden angenommen werden. Falls die Bindung zuweisungswidrig ist, hat der überlebende Ehegatte dann die Kondiktion gegen den bindend Endbedachten – und zwar eine Kondiktion, die man als „Legalerwerbskondiktion“272, als „allgemeine Abschöpfungskondiktion“273 oder durch sonstige Kondiktionstypen benennen könnte, die im Rahmen der Nichtleistung durch den Modus des Erwerbs des Vorteils unterschieden werden274? Davon sollte nicht ausgegangen werden. Denn der Endbedachte sähe sich im Falle, daß eine Nichtleistungskondiktion gegeben wird, unvermutet einem Anspruch des Überlebenden ausgesetzt, obwohl dieser auch ohne eine bereicherungsrechtliche Anspruchsberechtigung die Vorteilsverschiebung durch die ihm zur Verfügung stehenden Lösungstatbeständen rückgängig machen könnte. Für einen derartigen Übergang von einseitigen Entbindungsmöglichkeiten zu einem Anspruch müßten Gründen ersichtlich sein, da ein Anspruch den Endbedachten stärker belastet als die sonstigen Instrumente, mit denen der Überlebende seine Testierfreiheit zurückgewinnen kann. Im Recht der Leistungskondiktion ist dies Anlaß, nur bei dem Vorliegen eines bestimmten subjektiven Tatbestands beim Endbedachten die Leistungskondiktion zuzulassen275. Der Endbedachte kann damit einer Anspruchsberühmung durch den Überlebenden etwas entgegensetzen. Bei der Nichtleistungskondiktion wäre ihm dies nicht möglich. Mit Blick hierauf dürften die gesetzlich vorgesehenen Lösungsmöglichkeiten außerhalb der Nichtleistungskondiktion diese als Spezialregelungen ausschließen. 5. Ergebnis zur Kondiktion
Im Ergebnis kommt die condictio ob rem nur in Betracht, wenn die Ehegatten keine Freistellungsklausel für den Fall der Zweckverfehlung vereinbart haben. Da sie dies regelmäßig getan haben werden, ist der Anwendungsbereich der Zweckverfehlungskondiktion denkbar gering. Liegt ausnahmsweise keine Freistellungsklausel vor, greift die Anfechtung wegen Motivirrtums. Die praktischen Vorteile der Kondiktion liegen in diesem Falle bestenfalls in der Ersparnis von Beurkundungskosten und in gewissen Beweisvorteilen. Hierzu wird wiederum auf die Ausführungen zum Erbvertrag verwiesen276. Die Abschöpfungskondiktion könnte allenfalls einschlägig 272
Dazu nur MünchKomm-Lieb, § 812 Rn. 224 ff. So der Versuch bei Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 9 II, III. Dezidiert kritisch für die Kategorie einer Abschöpfungskondiktion Larenz/Canaris, SchuldR II/2, § 69 IV 2 b. 274 Larenz/Canaris, SchuldR II/2, § 69 IV 2 a; Reuter/Martinek, Bereicherungsrecht, § 3 III 2, § 9 I. 275 Dazu siehe ausführlich unten § 17 II 4. 276 Unten § 19 II, siehe aber auch § 19 III. 273
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sein, wenn der überlebende Teil noch abgesehen von der Kondiktion rechtliche Möglichkeiten besäße, seine Testierfreiheit wiederzugewinnen. Ansonsten hat der korrespektiv bedachte Dritten die bindende Bedenkung nicht zuweisungswidrig erlangt. Es zeigt sich mithin, daß die Abschöpfungskondiktion keinerlei eigenständigen Anwendungsbereich besitzt und schon deshalb im Rahmen der Dogmatik des gemeinschaftlichen Testaments eigentlich vernachlässigt werden kann. Die Nichtleistungskondiktion kann jedoch nicht nur vernachlässigt werden; sie ist sogar aus Konkurrenzerwägungen mit den sonstigen Möglichkeiten, die dem Überlebenden zur Verfügung stehen, um seine Testierfreiheit wiederzugewinnen, ausgeschlossen. Denn ansonsten würde sich der bindend Endbedachte einer Anspruchsberühmung und damit einer Verschlechterung seiner Rechtsposition gegenüber sehen, was erkennbar ein Systembruch wäre. Da im praktischen Ergebnis auch die Leistungskondiktion zumindest im Recht des gemeinschaftlichen Testaments wenig praktische Relevanz aufweisen dürfte, kann unter einem praktischen Blickwinkel die condictio auf sich beruht bleiben. II. Die Lösung von der Bindung aufgrund des Willens des Überlebenden Die bisherigen Fallgestaltungen, in denen eine Lösung von der testamentarischen Bindung zulässig war, hatten gemein, daß der überlebende Teil von der Bindungswirkung wegen des Willens beider Gatten oder des Willens des Erstverstorbenen die Möglichkeit, sich zu lösen, erhalten soll (Fall: Freistellungsklausel) oder aufgrund des Schutzes des überlebenden Teils von der Bindung befreit worden ist, weil ein derartiger Schutz aufgrund eines Bruchs der gemeinschaftlich von beiden Gatten avisierten Vermögensordnug post mortem notwendig ist (Fälle: Anfechtung, Ausschlagung, Wegfall des Endbedachten und Kondiktion). Wie steht es mit einer Loslösung, wenn diese aufgrund des Willens des Überlebenden stattfinden soll? 1. Fälle: Anschauungswandel und irrtumsrechtlich irrelevante Umstandsänderung
a) Allgemeines Bisher war die Thematik nicht Gegenstand der Betrachtung, ob der überlebende Gatte sich unter gewissen Umständen von der Bindung aus dem Grunde lösen kann, weil sich nach dem ersten Todesfall Umstände verwirklichen, die weder zur Anfechtung wegen Irrtums berechtigen noch zum Gegenstand einer Freistellungsklausel gemacht worden sind und die auch nicht über die ergänzende Testamentsauslegung unmittelbar eingefan-
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gen werden können. Es können mithin nur Umstände im weiteren sein, deren Verwirklichung zum einen die ergänzende Auslegung nicht tragen oder welche zum anderen nicht schon im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens positiv oder als selbstverständlich angenommen worden sind oder von deren Irrtumsrelevanz das Gesetz im Zweifel – wie bei der Wiederverheiratung – ausgeht. Die prägantesten Beispiele sind der erhebliche Anschauungswandel nach Testamentserrichtung oder der Eintritt nicht positiv bedachter, aber auch nicht als selbstverständlich beim Testieren angenommene Ereignisse, die beide folglich den Überlebenden auch nicht zu seinen korrespektiven Verfügungen motiviert haben können. Eine Irrtumsanfechtung und eine ergänzende Auslegung kommen hier deshalb nicht in Betracht277. Analytisch kann also die Trennlinie zwischen dem nachtestamentarischen Anschauungswandel und der irrtumsrechtlich irrelevanten Umstandsänderung auf der einen Seite und den Umständen, die zur Anfechtung oder zur Freistellungsklausel führen oder die ergänzende Auslegung leiten können, auf der anderen Seite scharf gezogen worden. Leider ist das nur analytisch so. In der Praxis wird die Abgrenzung von der Frage entschieden werden, ob nicht doch im Einzelfall der Erblasser von der selbstverständlichen Erwartung ausgegangen ist, er würde seine im Zeitpunkt der Testamentserrichtung gehegte Einstellung hinsichtlich eines bestimmten Umstands nicht ändern. Ein Beispiel: Politisch eng verbundene, kinderlose Ehegatten setzen in ihrem gemeinschaftlichen Testament sich gegenseitig zu Alleinerben und korrespektiv eine politische Partei zum Schlußerben des Längstlebenden ein. Nach dem ersten Todesfall ändert der Erblasser seine politische Einstellung. Kann hier davon ausgegangen werden, der Erblasser sei, als er seine Verfügung traf, von der selbstverständlichen Erwartung ausgegangen, er werde seine einstmals gehegte politische Einstellung nach dem ersten Todesfall nicht mehr ändern? Der BGH bejaht dies für die Anfechtung nach dem Tode des letztwillig Verfügenden278, während die Literatur mit teleologischen Gründen bestreitet, es läge eine anfechtungsrechtlich relevante hypothetische Vorstellung vor279.
277 Siehe zur Unanwendbarkeit der erbrechtlichen Anfechtungsvorschriften auf spätere Fehlvorstellungen, die nicht auf eine positive oder als selbstverständlich unterstellte Motivlage im Zeitpunkt des Testierens zurückgehen, nur BGHZ 42, 327 (332); OLG Hamm, FamRZ 1994, 1062 (1064); MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 32. 278 BGH, LM BGB § 2078 Nr. 4. 279 MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 39.
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b) „Selbstverständliche Vorstellungen“ – Anfechtung – ergänzende Auslegung Das Beispiel zeigt sehr schön, welche Funktion dem anfechtungsrechtlichen Kriterium der „Selbstverständlichkeit“ einer Vorstellung in der Dogmatik der Lösung von der testamentarischen Bindung zukommen kann: Es kann durchaus als ein gewissermaßen abgedunkeltes Zurechnungsmodul fungieren, mit dem ohne klare Begründung dem Überlebenden eine Entbindung ermöglicht werden kann, wenn nicht offen gelegt wird, warum die Zurechnung eines Umstands zum Kreis des Selbstverständlichen im konkreten Fall erfolgt. Wenn die Rechtsprechung beispielsweise die Konstanz der politischen Einstellung für selbstverständlich der Testiermotivation inhärent erachtet, kann dies als Ausdruck des republikanischen Sinnbilds begriffen werden, der Bürger sei zu jedem Zeitpunkt ein gewissenhafter citoyen, der seine politische Einstellung als Ausprägung des ureigenen politischen Selbst begreift. Erbrechtlich einsichtig wäre dies freilich so einfach erst einmal nicht. Denn der Umstand, die Konstanz der politischen Einstellung würde immer als selbstverständlich angesehen, ist hier eben nur das Abbild einer politischen Konzeption der Person und hätte mit den erbrechtlichen Vorgaben, die an die Ermittlung eines hypothetischen Willens gemeinhin gestellt werden, nur mehr wenig zu tun280. Die Problematik kann weiter gesponnen werden: Können auch Affekte „selbstverständliche“ Umstände sein oder ist eine Änderung im Affekthaushalt des Erblasser regelmäßig irrelevant? Ist es angängig zu behaupten, die Konstanz der affektiven Zuneigung, welche vom überlebenden Teil gegenüber dem Erstverstorbenen gehegt wird, habe dem Überlebenden als selbstverständlich vorgeschwebt, mithin berechtige ein Erkalten der Affektion nach dem ersten Todesfall zur Anfechtung, so daß folgerichtig für diesen Fall eine Freistellungsklausel ausbedungen oder zumindest eine Anfechtung nach § 2078 II BGB zulässig wäre281? Oder werden Affekte als zu „flüchtig“ angesehen, als daß sie die Testiermotivation „selbstverständlich“ tragen können? Hängt die „Selbst280 Die Literatur kritisiert denn auch am Ansatz der Rechtsprechung, mit dem Kriterium des „selbstverständlichen Willens“ sei überhaupt keine Begrenzung des Motivirrtums erreichbar, so etwa Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 19. 281 Das BayObLG hat noch jüngst in FamRZ 2000, 1053 (1054) judiziert, daß bei einem einseitigen Erbvertrag die Erwartung, daß zwischen dem Erblasser und dem Bedachten bis zum Tode eines der beiden Vertragsteile Eintracht herrschen und der Bedachte alles vermeiden werde, was dem Erblasser Schwierigkeiten bereiten könnte, nicht allgemein oder auch nur für den Normfall unterstellt werden könne, was sicherlich einsichtig ist. Es fährt sodann jedoch fort, „besondere Umstände des Einzelfalles“ müßten die Annahme der geschilderten Erwartung rechtfertigen. Wieso es hier auf „besondere“ Einzellfallumstände und nicht einfach auf Einzelfallumstände ankommen soll, läßt sich wohl nur mit der affektiven Natur der Erwartung erklären.
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verständlichkeit“ eines Umstands von seiner Vernünftigkeit ab – was entschieden zweifelhaft wäre, da ein personfunktionales Erbrecht ja nicht zwischen der Vernunft- und der Affektnatur des Menschen normativ trennt282. Wird die „Selbstverständlichkeit“ etwa implizit nur nach objektiv-normativen Kriterien bestimmt283? Die Fragen zeigen, daß das Konzept der „selbstverständlichen Vorstellungen“ bei Lichte betrachtet für eine rechtspraktische Anwendung wenig tauglich ist. Die Literatur hat mit Blick auf die Schwierigkeiten, welche in dem Ansatz an „selbstverständlichen Vorstellungen“ verborgen sind, denn auch andere Vorschläge vorgestellt, um den Anwendungsbereich des Motivirrtums sachgerecht zuzuschneiden. Leipold und Otte etwa sprechen anstelle von „selbstverständlichen Vorstellungen“ von dem Nichtbedenken vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Umstände. Die erforderliche Eingrenzung eines solchen Nichtbedenkens wird über das Kriterium der „Erheblichkeit“ zu leisten versucht, an das im Verhältnis zur Gesamtwertung des Erblassers strenge Anforderungen gestellt werden solltenn; hier sei dann zu untersuchen, ob sich die gesamte Motivation nicht mehr als tragfähig erweise284. Kuchinke verortet demgegenüber die Anfechtung wegen Fehlgehens „selbstverständlicher Vorstellungen“ als Gegenstück zur ergänzenden Auslegung und rekurriert infolgedessen in Anlehnung an Heinrich Lange auf den hypothetischen Willen des Erblassers; es sei zu fragen, ob dieser die Verfügung bei Kenntnis der wirklichen Lage oder bei Vorausschau der Entwicklung der Umstände so, wie geschehen, getroffen hätte285. Beide Ansätze gehen bei der Prüfung, ob eine Anfechtung zulässig ist, mithin übereinstimmend davon aus, daß zuerst eine weite Hypothese vorzuschlagen ist (Nichtbedenken von Umständen), die dann im weiteren auf ihre Erheblichkeit untersucht werden muß. Ob sich diese Erheblichkeit richtigerweise an dem Maßstab der „Tragfähigkeit der Gesamtmotivation“ wie bei Leipold und Otte oder an dem des „hypothetischen Erblasserwillens“ wie bei Kuchinke überprüfen läßt, dürfte im praktischen Ergebnis bei den sich hier eher nuancierend, denn differenzierend voneinander abgrenzenden Lehren kaum entscheidend sein. Im Endeffekt dürfte dem Ansatz an dem hypothetischen Erblasserwillen der Vorzug zu geben sein. Er findet ein wertungsmäßiges Spiegelbild zur ergänzenden Auslegung. Damit optimiert er das innere System des Rechts als ein kohärentes (nämlich auf das erbrechtliche Willensdogma bezogenes) und konsistentes (nämlich wegen der Spie282
Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 V 4 b cc. So der Vorwurf bei Keymer, Anfechtung, 66. 284 MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 29, 38; Staud-Otte, § 2078 Rn 23; ähnlich Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 19. 285 Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 III 2 c; zu Lange siehe ders., JherJb 82 (1932), 1 (26 ff., 35 f.); ähnlich Kipp/Coing, Erbrecht, § 24 II 2 b, c. 283
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gelbildlichkeit zur ergänzenden Auslegung das System des Willensschutzes abrundendes) System rechtlicher Wertung und befriedigt damit dogmatische Systembedürfnisse. Zudem ist der Ansatz am hypothetischen Willen auch in der Wertung einsichtig. Denn es geht ihm nicht darum zu fragen, welche andere Verfügung der Erblasser ohne Irrtum errichtet hätte, und ob die errichtete, aber anfechtbare Verfügung dem Erblasserwillen noch besser entspricht als die bei der Anfechtung eintretende gesetzliche Erbfolge286. Sondern mit dem Rekurs auf den hypothetischen Willen wird nur präziser herausgestellt, welches Kriterium für die Entscheidung über die Anfechtbarkeit wertungsmäßig das einzig relevante ist: die Erblassermotivation. Hinter dem Leipoldschen Diktum, es müsse geprüft werden, ob sich die gesamte Motivation nicht mehr als tragfähig erweise, verbirgt sich bei Lichte betrachtet im Großen und Ganzen deshalb nichts anderes als die Kuchinkesche Frage, ob der Erblasser seine Verfügung bei Kenntnis der wirklichen Lage oder bei Vorausschau der Entwicklung der Umstände so, wie geschehen, getroffen hätte287. Der Ansatz am hypothetischen Erblasserwillen hat aber den Vorzug, das innere System rechtlicher Wertung konstruktiv abzurunden und dadurch zu schließen, indem die Anfechtung wegen Motivirrtums als klares Gegenstück zur ergänzenden Auslegung konstruiert wird. Ihm sollte deshalb der Vorzug gegeben werden. Es gilt also: Hat der Überlebende im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens nicht bedacht, daß nach dem ersten Todesfall ein bestimmter Umstand eintreten kann, so ist hinsichtlich der Relevanz dieses Umstands für die Lösung des Längstlebenden von der testamentarischen Bindung wie folgt zu unterscheiden: Falls der überlebende Gatte seine Verfügung auch bei Vorausschau der Entwicklung der Umstände zweifelsfrei so, wie geschehen, getroffen hätte, entfällt eine Anfechtung wegen Motivirrtums. Hätte der Gatte die Verfügung nicht getroffen, muß untersucht werden, wie er testiert hätte, wenn er die Entwicklung in ihren wesentlichen Zügen bedacht hätte. Läßt sich dies nicht beantworten, kommt im Zweifel eine Freistellungsklausel, ansonsten eine Anfechtung in Betracht. Läßt sich hingegen angeben, wie die Verfügung wohl ausgesehen hätte, ist weiter zu prüfen, ob sich dies als Weiterentwicklung der getroffenen Verfügung darstellen läßt288. Diese Einschränkung der ergänzenden Auslegung ist herrschender Ansicht nach erforderlich, um die Grenze zur richterlichen Testamentskorrektur289 oder zur sog. berichtigenden Auslegung290 zu vermeiden. Ist diese Grenze überschritten oder läßt sich nicht feststellen, wie der Erblasser hypothetisch verfügt hätte, ist eine Berücksichtigung des 286 Diesen Vorwurf adressieren MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 38, und Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 25, an die Langesche Lehre. 287 So i. E. auch Keymer, Anfechtung, 66 f. 288 Siehe nur MünchKomm-Leipold, § 2084 Rn. 47.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
fraglichen Umstands über die ergänzende Auslegung nicht möglich; in Frage kommt nur die Freistellung oder die Anfechtung. Es verbleiben mithin nur die Fälle, in denen nicht zweifelsfrei entschieden werden kann, ob der Überlebende auch bei Bedenkung des Umstands so, wie geschehen, nicht verfügt hätte. Nach allgemeinen Regel scheidet hier die Anfechtung aus291. Kann dem Längstlebenden nicht doch noch in Ausnahmefällen gleichwohl geholfen werden? 2. Die Wertungsparallelität zur Sittenwidrigkeit einer letztwilligen Verfügung
a) Der Ausgang: Gewichtung der Interessen beider Gatten Dem überlebenden Teil kann in der Tat für den soeben herausgearbeiteten Fall bei noch näher darzulegenden Umständen geholfen werden. Dies liegt an folgender Überlegung: Die Frage, ob der überlebende Teil nach dem ersten Todesfall von seiner testamentarischen Bindung befreit werden kann, obwohl die ausdrücklich geregelten gesetzlichen Befreiungstatbestände nicht vorliegen, kann sich nur nach dem geschützten Maß jener Erwartungen richten, welche der Erstverstorbene im gemeinschaftlichen Testieren an den Tag gelegt hat. Die Schutzwürdigkeit der Erwartung ist dabei eine Frage normativer Gewichtung der Interessen beider Gatten. Nunmehr steht die Gewichtungsfrage für den Fall auf dem Plan, in dem der Überlebende wegen einer anfechtungsrechtlich irrelevanten und auslegungsrechtlich nicht verwertbaren Umstandsänderung nach dem ersten Todesfall nicht mehr gebunden sein will. Es geht also um die Frage, ob und in welchen Begebenheiten der testamentarisch Gebundene sich entbinden kann, weil er – und nur er – es so will. b) Der Wertungsabgleich mit § 138 I BGB Die Antwort auf diese Frage gibt ein Blick auf die gesetzliche Wertung, in bestimmten Fällen sei eine letztwillige Verfügung wegen Sittenwidrigkeit gem. § 138 I BGB nichtig. Die Regelung des § 138 I BGB ist auf die testamentarische Bindung nicht anwendbar, da diese Bindung gesetzliche Folge 289 Eine solche schlägt hingegen v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 303 f., vor. Er sieht hierin ausdrücklich keinen Fall der ergänzenden Auslegung, sondern eine richterliche Korrektur. 290 Für eine solche Brox, Einschränkung der Irrtumsanfechtung, 144 ff., mit folgerichtig analoger Anwendung der anfechtungsrechtlichen Fristenregelungen auf die ergänzende Auslegung, siehe ders., ebda., 159. 291 MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 49 aE; Soergel-Loritz, § 2078 Rn. 32.
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der Rechtsgeschäfte (des gemeinschaftlichen Testaments), nicht aber Inhalt dieser Rechtsgeschäfte selbst ist. Es ist ja unsinnig zu behaupten, die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen sei sittenwidrig, weil sie als Baustein in dem gesetzlichen Programm dient, welches die testamentarische Bindung des Überlebenden generiert. Dies ist das eine. Das andere ist die Überlegung, daß richtigerweise die Einsicht, eine Verfügung von Todes wegen sei sittenwidrig, nicht als Makel oder als Vorwurf verstanden werden darf. Vielmehr geht es bei der Sittenwidrigkeitsprüfung im Testamentsrecht in dem Fall, daß dem Bedachten beispielsweise mittels erbrechtlicher Potestativbedingungen ein bestimmtes Verhalten auferlegt worden ist, vornehmlich darum, ihm vor allzu viel Druck auf jenes Handeln zu bewahren, welches herkömmlich als Ausdruck einer freien Willensentscheidung begriffen wird292. Damit soll gewährleistet werden, daß nicht diejenigen Mindestanforderungen unterschritten werden, welche das Recht voraussetzt, damit die Allgemeinheit seiner selbst gewahrt bleibt – die das Recht mithin implizit unterstellt, damit Rechte überhaupt ausgeübt werden können293. Bei Rechtsgeschäften von Todes wegen wird mithin der Bedachte unter gewissen Voraussetzungen geschützt. Er wird zudem sogar geschützt, obwohl das Verhalten, zu dem er mittels Potestativbedingungen motiviert werden soll, rechtlich vom Erblasser nicht erzwingbar ist. Beim sittenwidrigkeitsrechtlichen Bedachtenschutz reicht mithin ein untragbarer faktischer Druck schon aus, um die Verfügung des Erblassers entsprechend zu vernichten. Beim gemeinschaftlichen Testament ist jedoch der Druck, welcher auf dem überlebenden Teil lastet, weil er neu testiert will, sich daran aber aufgrund seiner Bindung gehindert sieht, nicht nur faktischer Natur. Denn der Erblasser kann sich der Bindung ja nicht entziehen, während der bedingt Bedachte sich gleichwohl von dem auf ihn wegen der bedingten Bedenkung ruhenden Druck frei machen könnte, wenn er nur will. Der durch die Bindungswirkung erzeugte Druck ist demnach von durchaus rechtlicher Qualität. Der Überlebende kann sich mithin in einer noch stärker belastenden Situation befinden, wie der in sittenwidriger Weise bedingt Bedachte. Nun wäre das nicht weiter schlimm, wenn sich die Belastung selbst ausschließlich als Folge einer gesetzlichen Wertung (etwa als Folge eines Schutzes objektiver Interessen des allgemeinen Wohls) darstellen ließe, da ja der Rechtsperson gemeinhin zugemutet wird, gesetzlich auferlegte Belastungen zu ertragen, soweit nicht das Maß des verfassungsrechtlich Erträglichen überschritten ist. Doch so ist es hier ja nicht. Die durch die Bindungswirkung ins Werk gesetzte Belastung beruht nicht auf Allgemeininteressen, sondern dient dem Schutz der Erwartungen des Erstverstorbenen und ist zugleich durch diese begrenzt. Es steht mithin genau diejenige Konstellation 292 293
Dazu ausführlich unten § 15 II 2. Siehe unten § 15 II 2 c cc.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
in Rede, in der auch die Sittenwidrigkeitsprüfung situiert. Ist dem so, darf um der Vermeidung eines Wertungswiderspruchs zur Rechtslage bei Rechtsgeschäften und der dort möglichen Sittenwidrigkeitsprüfung willen der Erwartungsschutz des Erstverstorbenen nicht rigide jegliche Lösung von der Bindung des Überlebenden in einer Situation verhindern, in der die gesetzlichen Entbindungstatbestände nicht einschlägig sind. Anders formuliert: Gesetzt den Fall, der Überlebende wäre unter der Bedingung als Alleinerbe eingesetzt, daß dieser sein Testament zugunsten eines Dritten nicht mehr ändert. Eine Sittenwidrigkeitsprüfung käme hier dogmatisch selbstverständlich in Betracht. Doch warum sollte dies anders sein, wenn ein noch stärkerer Effekt – nämlich die rechtliche Bindung, der sich der Überlebende auch nicht kraft seines Willens entziehen kann – den Längstlebenden abhält, nach dem ersten Todesfall neu zu testieren? Bei der bedingten Erbeinsetzung ist die Motivation eine rechtsgeschäftlich relevante, bei dem testamentsrechtlichen Erwartungsschutz des § 2271 II BGB eine rechtsgeschäftlich irrelevante294. Gleichwohl liegen in beiden Fällen auf das gleiche Ziel gerichtete, den Überlebenden belastende Motivationen als Grund eben der Belastung vor. Hinsichtlich des Schutzes des überlebenden Teils ist es aber unbeachtlich, wie die Motivation des Erstverstorbenen nach den Kategorien der Rechtsgeschäftslehre einzuordnen ist. Warum soll also die Bindung des Überlebenden ohne jede weitere Prüfungsmöglichkeit bestehen bleiben, wenn andererseits dessen bedingte Bedenkung einer Sittenwidrigkeitsprüfung unterzogen werden könnte? Wieso sollten Erwartungen sich stärker gegenüber widerstreitenden Interessen Dritter durchsetzen dürfen als der rechtsgeschäftliche Willen? Und: Da durch § 138 I BGB gesichert wird, daß der Erblasser den Bedachten als Rechtsperson anerkennt295, wieso soll sich der Erstverstorbene dieser Anerkennung des Überlebenden als Rechtsperson dadurch entziehen dürfen, daß er seine Motivation nicht rechtsgeschäftlich äußert, sondern nur als bloße Erwartung an den Tag legt? Die Antwort kann nur sein, daß hinsichtlich der Lösung von einer qua Erwartungsschutz bewerkstelligten rechtlichen Bindung und der Befreiung von einer per Potestativbedingung herbeigeführten faktischen Bindung ein normativer Gleichklang erzeugt werden muß. Es bleibt noch ein einziger Einwand: Es könnte noch angeführt werden, ein relevanter Unterschied zwischen der Potestativbedingung und dem Erwartungsschutz bestünde dennoch, da anders als bei der Potestativbedingung beim Erwartungsschutz nach § 2271 II BGB der Überlebende doch immerhin einmal das gewollt habe, was er als seinen letzten Willen für richtig hielt, während von einem 294 Rechtsgeschäftlich irrelevant ist die Motivation freilich nur, wenn das entsprechende Rechtsgeschäftskonzept angelegt wird, siehe dazu ausführlich oben § 4 II 4. 295 Siehe zur Einsicht, daß § 138 I BGB in Anerkennungsverhältnissen gründet, Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 VI.
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derartigen Wollen beim bedingt Bedachten keine Rede sein könne. Dieser Einwand überzeugt nicht. Denn die Rede, der Bedachte habe seiner mit der Potestativbedingung verbundenen Belastung nie zugestimmt, ist durchaus ungereimt. Richtigerweise hat der Bedachte die Zustimmung zur Verfügung durch eine unterlassene Ausschlagung signalisiert296. Man wird hier trotz dieses Signals dennoch durchweg davon ausgehen, die unterlassene Ausschlagung deute darauf hin, der Bedachte habe ausschließlich seiner bedingungslosen Bedenkung, nicht aber auch der Bedingung „zugestimmt“. Nur sollte dann auch beim Erwartungsschutz davon ausgegangen werden, der Überlebende habe zwar seiner Verfügung, nicht aber seiner Bindung implizit „zugestimmt“. Privatautonom relevant binden kann sich der Erblasser nun einmal einzig in den Formen des Erbvertrags297, § 2302 BGB. Ansonsten kann er seine Verfügungen von Todes wegen grundsätzlich (Ausnahme: Erbvertrag, korrespektive Verfügung) jederzeit aufheben, § 2253 BGB. Der Vergleich der testamentarischen Bindung mit der Potestativbedingung bleibt mithin tragfähig. Der Wertungsabgleich mit § 138 I BGB zeigt nach all dem, daß ein weiterer Fall der Lösung von der testamentarischen Bindung durchaus in Frage kommt. Konstruktiv bekommt man diesen Fall durch einen Blick auf das schutzwürdige Erwartungsniveau des Erstverstorbenen in den Griff. Dieses ist in den im folgenden darzulegenden Fallgestaltungen normativ abgesenkt. Darüberhinaus ist in den dort skizzierten Fallgestaltungen auch die dem Überlebenden durch den Erstverstorbene gewährte psychische Gratifikation, die die Bindung nach § 2271 II BGB letztlich normativ begründet298, nur mehr in residualen Beständen greifbar. Nach all dem gilt: Darf der Erstverstorbene – wie hier – nicht mehr relevant erwarten, besteht kein Grund mehr für eine Bindung des Überlebenden nach § 2271 II BGB. Das Ergebnis entspricht schließlich auch den gängigen Wertungen des Persönlichkeitsrechts, als dessen Ausdruck das gewillkürte Erbrecht richtigerweise ja begriffen werden muß: Auch in der persönlichkeitsrechtlichen Abwägungssemantik gibt es Schwellen, jenseits derer ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht schlechterdings nicht mehr geduldet wird. Es wäre verwunderlich, wenn ähnliches nicht auch bei der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments beobachtet werden könnte. Daß dies beobachtet werden kann, gibt mithin ein weiteres Argument für das hiesige Projekt an die Hand, das gewillkürte Erbrecht personfunktional zu interpretieren. 296 Siehe zu diesem interaktionistischen Verhältnis Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 10 VI 3 b. 297 Auch die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments kann ja nicht auf einen privatautonomen Selbstbindungswillen zurückgeführt werden, siehe oben § 4 II 4. 298 Dazu oben § 5 III 2, § 6 I 2.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
c) Einsatzpunkte einer Lösung von der Bindung in Anlehnung an § 138 I BGB Es bleibt das Problem, bei welchem Sachverhalt eine Lösung von der Bindung in Anlehnung an die Wertungen des § 138 I BGB zulässig wäre. Da die Voraussetzungen zur Entbindung auf einem Wertungsabgleich mit der Sittenwidrigkeitsprüfung nach § 138 I BGB fußen, kommen nur solche Gestaltungen in Betracht, bei denen eine bedingte Einsetzung des überlebenden Gatten sittenwidrig wäre, wenn die Bedingung darin besteht, der Überlebende ändere sein Testament nicht mehr. Es gelten mithin die allgemeinen Regeln der sittenwidrigkeitsrechtlichen Prüfung von erbrechtlichen Potestativbedingungen: Die Bindung gilt als gesetzlich nicht angeordnet, wenn sie für den Überlebenden nicht nur schwer durchzuhalten, sondern geradezu untragbar wird299. Mit dieser weiten Formulierung ist freilich für die praktische Rechtsanwendung nicht all zu viel gewonnen. Eine erste Präzisierung erhält man, wenn die sonstigen Möglichkeiten betrachtet werden, sich von der Bindung zu lösen. Beruht der Wille des Überlebenden, neu zu testieren, auf einer Veränderung im Verhalten der Endbedachten, so kommt ein Versuch, sich wegen dieser Umstandsänderung über einen Wertungsabgleich mit § 138 I BGB von der Bindung zu lösen, nicht in Betracht. Einmal wird beim Fehlgehen eines konkret avisierten Wohlverhaltens der Endbedachten oftmals die Anfechtung/Freistellung oder die ergänzende Auslegung weiter helfen können. Ist dies nicht möglich, regelt das Gesetz in den §§ 2271 II 2, 2271 III BGB abschließend die Möglichkeiten, sich wegen solcher Umstände von der Bindung zu befreien, die auf Seiten der Endbedachten eintreten. Der abschließende Charakter dieser Vorschriften folgt hierbei aus dem Gedanken, daß in den §§ 2271 II 2, 2271 III BGB auch Möglichkeiten zur Entbindung vorgesehen sind, bei denen der Druck auf den Überlebenden nicht so stark wäre, als daß er eine Lösung von der Bindung kraft eines Wertungsabgleichs mit § 138 I BGB rechtfertigen würde. Das abgestufte System der § 2271 II 2, 2271 III BGB darf mithin nicht unterlaufen werden. Gleiches gilt für die Umstandsänderung, daß ein Pflichtteilsberechtigter nach dem ersten Tode hinzugekommen ist. Auch dies wird allein über § 2079 BGB oder die entsprechende Freistellungsklausel geregelt. Ein Rückgriff auf den Wertungsabgleich mit § 138 I BGB erübrigt sich hier aus den gleichen Gründen, wie bei der Entbindung kraft §§ 2271 II 2, 2271 III BGB. Relevant werden können (nicht: sind) nach all dem allenfalls Umstandsänderungen, die nicht durch ein Verhalten der Endbedachten oder etwa durch eine Wiederverheiratung ausgelöst worden sind. In Frage käme bei299 Siehe dazu die entsprechenden Ausführungen zur Sittenwidrigkeit erbrechtlicher Potestativbedingungen unten § 15 II 2 d.
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spielsweise der Wandel der politischen Einstellung oder des religiösen Bekenntnisses, wenn die Ehegatten ein Vermächtnis nach dem Tode des Längstlebenden zugunsten einer bestimmten politischen Partei oder einer religiösen Vereinigung vorgesehen haben. Derartige Umstandsänderungen sind relevant (vorausgesetzt, eine erläuternde Auslegung, eine Freistellung oder eine Anfechtung kommen nicht in Betracht) und führen dann dazu, daß hinsichtlich des Vermächtnisses der Überlebende nach dem ersten Todesfall neu testieren kann, wenn andernfalls es für den Überlebenden unzumutbar wäre, sein „Sein zum Tode“ nicht mehr erneut auszuprägen. Die Unzumutbarkeitsschwelle wird hierbei um so niedriger liegen, desto stärker der Umstand zu denjenigen Bereichen zählt, die herkömmlich einer freien Entscheidung der Rechtsperson reserviert bleiben sollen. Zudem sind auch graduelle Abstufungen denkbar: Die Zumutbarkeitsschwelle wird um so mehr steigen, je umfangreicher der Überlebende entbunden werden will. Bei der erforderlichen Abwägung in Anlehnung an § 138 I BGB darf zudem nicht unterschlagen werden, daß die testamentarische Bindung beileibe nichts geringfügiges ist, sondern eine weitere Ausformung des „Seins zum Tode“ unterbindet. Eine Dogmatik, die den Sinn des Testierens vornehmlich im Familiarismus verortet300 oder den Blick auf die Bedachten lenkt301, wird hier die Akzente sicherlich anders setzen wollen. Daß dies nicht der sachgerechte Ansatz ist, die Wertungen des gewillkürten Erbrechts zu entschlüsseln, ist aus hiesiger Perspektive unabweislich. Der Erblasser wird mithin von der testamentarischen Bindung hinsichtlich des Vermächtnisses analog § 138 I BGB frei. Ein Beispiel kann die erforderliche Abwägung verdeutlichen: Hat der Überlebende korrespektiv im gemeinschaftlichen Testament einer rechtsradikalen Partei ein Vermächtnis ausgesetzt, ist die Bedenkung in der Regel trotz des Begünstigten nicht sittenwidrig302. Wandelt der Erblasser nach dem ersten Todesfall seine politische Einstellung – nach Teilen der Literatur kommt hier eine Anfechtung nicht in Betracht303 – und wen300 Paradigmatisch MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 1 ff. Ähnlich Staud-Boehmer, 11. Aufl., Einl zum Erbrecht, § 17 Rn. 1 f., 3; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 9 I 1 a; v. Lübtow, Erbrecht, 17; Häsemeyer, Abhängigkeit, 122 ff.; Linker, Neubestimmung, 11, 59 f.; Papantoniou, AcP 173 (1973), 385 (393 ff.); Heinrich Lange, JherJb 82 (1932), 1 (12); Zawar, DNotZ-Sonderheft 1989, 116 (131); Zopfs, ZEV 1995, 309 (312); und schon Otto von Gierke, Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs, 507; ähnlich auch Ebenroth, Erbrecht, Rn. 180; angedeutet bei Staud-Otte, Einl. zum Erbrecht Rn. 55; siehe im übrigen nur Prot. V, 493 f. Zu einer derartigen familiaristischen Deutung der Testierfreiheit siehe ablehnend Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 3 II–IV. 301 Paradigmatisch Keuk, FamRZ 1972, 9 (14 f.); Windel, Modi, 244 ff. mit 1 ff. Kritisch dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 7 II. 302 Der Lösungsweg, der von MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 39, aufgewiesen worden ist (nämlich die Prüfung, ob die Verfügung des Erblassers sittenwidrig ist), ist deshalb hier nicht hilfreich.
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Kap. 3: Die Loslösung von der testamentarischen Bindungswirkung
det sich einer demokratischen Partei zu304, wäre es unzumutbar, daß er weiterhin der Sozietät adressieren muß, er übe eine rechtsradikale Gesinnung – denn was sonst, wenn nicht dieses, wird jedermann annehmen, der von dem Vermächtnis erfährt. Die Umstandsänderungen weisen bei den bisherigen Beispielen einen Bezug zum gemeinschaftlichen Testament auf. Sie müssen dies aber nicht. So kann auch umgekehrt der Überlebende das Bedürfnis verspüren, aufgrund einer nach dem ersten Todesfall erwachten Religiösität seiner Religionsgemeinschaft ein Vermächtnis auszusetzen. Sollte diese Umstandsänderung relevant sein, muß freilich ein wirklich extremer Fall vorliegen, bei dem von einem Zerbrechen des Überlebenden die Rede sein kann, wenn er nicht neu testieren darf. Denn ist der Umstandsänderung kein Bezug zum gemeinschaftlichen Testament eigentümlich, kann noch nicht einmal erwartet werden, daß der Erstverstorbene seine Erwartungen, die er dem anderen Teil gegenüber hegt, an dessen Persönlichkeitsentwicklung anpaßt; er hat dafür ja überhaupt keinen Anlaß – was bei einem Vermächtnis zugunsten einer politischen Partei selbstredend anders ist. Fehlt aber auf Seiten des Erstverstorbenen ein derartiger Anlaß, seine Erwartungen zu überdenken, fehlt es in der Regel an der oben305 beschriebenen Situation, die einen Wertungsabgleich mit § 138 I BGB einsichtig macht. Nach dem bisher Gesagten dürfte es auf der Hand liegen, daß dem Richter bei der Entbindung über einen Wertungsabgleich mit § 138 I BGB zwar nicht eine Testamentskorrektur (der Überlebende muß ja immer erst noch erneut testieren, wenn er von seiner Bindung befreit ist), wohl aber eine wertende Gestaltungsmacht an die Hand gegeben wird, mit der er die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments entsprechend den Wertungen des inneren Systems des Rechts in Ausnahmefällen auf das Maß des Zumutbaren beschneiden kann. Eine derartige richterliche „Abwägungsmacht“ ist hier – ebenso wie bei § 138 I BGB – nichts Schlechtes, sondern notwendig mit einem Rechtssystem verbunden, welches sich nicht als ein maschinenhaftes Formalrecht versteht, sondern das System der inneren Wertungen seiner selbst in den Vordergrund stellt. 3. Das Schicksal der Verfügungen des Erstverstorbenen
Hat die Abwägung ergeben, daß der Überlebende ganz oder teilweise von seiner testamentarischen Bindung befreit ist, und testiert er im Ausmaß 303
Siehe nur MünchKomm-Leipold, § 2078 Rn. 39. Die Rechtsprechung nimmt hier Anfechtung wegen Motivirrtums an, siehe BGH, LM BGB, § 2078 Nr. 4, zur Kritik hierzu § 10 II 1 a, b. 305 § 10 II 2 b. 304
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der Befreiung abweichend vom gemeinschaftlichen Testament erneut, werden die korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam sein. Das Erwartungsniveau des erstverstorbenen Gatten wurde als Ergebnis der zugunsten des Überlebenden ausgegangenen Abwägung normativ abgesenkt. Er durfte also selbst dann nicht erwarten, wenn er tatsächlich erwartet hat. Anders gesagt: Er ist nicht schutzwürdig. Mithin braucht ihm auch nicht der Schutz des § 2270 I BGB zuteil werden; er soll bedingt für den Fall, daß der Überlebende nach dem ersten Todesfall ein Testament errichtet, allein testieren, um sich damit für alle Eventualitäten abzusichern.
Kapitel 4
Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung § 11 Entbindung im Fall der Wiederverheiratung I. Interessenlage und Grundfälle Die Wiederverheiratung des überlebenden Teils führt bei diesem oftmals zu einer Neubewertung der dem gemeinschaftlichen Testament zugrundeliegenden Motivation. Der Überlebende kann daran interessiert sein, auch seinen zweiten Ehegatten und etwaige aus zweiter Ehe resultierende Abkömmlinge von Todes wegen zu bedenken. Gleichzeitig wird das Interesse des Erstverstorbenen, seinen längstlebenden Gatten nach dem ersten Todesfall hinreichend versorgt zu sehen, manchmal durch die vom zweiten Gatten geleistete Versorgung abgefangen; die Schutzwürdigkeit des Überlebenden zu Lebzeiten wäre damit merklich abgesenkt. Die testamentarische Bindungswirkung nach § 2271 II BGB, welche durch die einstmals mit dem vorverstorbenen Teil getroffenen korrespektiven Verfügungen ins Werk gesetzt worden ist, wird in der Situation der Neuverheiratung oftmals als nicht hinnehmbare Fessel empfunden. Dementsprechend wird nach Wegen gesucht, die Bindung zu lösen. Die Konkurrenz zwischen dem Testierwunsch des Überlebenden und dem Erwartungsschutz des Erstverstorbenen birgt nur schwer zu durchdringende Wertungsfragen; die Gewichtung der Schutzwürdigkeit des Neugatten und der Abkömmlinge aus zweiter Ehe auf der einen Seite und den durch das gemeinschaftliche Testament aus erster Ehe bedachten Dritten auf der anderen Seite kompliziert das Wertungsproblem noch einmal. Hierbei liegt es auf der Hand, daß die Interessen der Neufamilie und der gemeinschaftlich Endbedachten nicht als solche interessieren1, sondern primär über das rechte Verständnis des gemeinschaftlichen Testaments zwischen den Gatten aus erster Ehe relevant werden, etwa indem die schutzfähigen Erwartungen des Erstverstorbenen primär auf den Schutz seiner Abkömmlinge und nicht auf den der neuen Familie des Überlebenden ausgerichtet sind, während dieser gerade sein Versorgungsinteresse gegenüber seinem neuen Gatten und der Abkömmlinge aus zweiter Ehe betonen kann. Die Kautelarjurisprudenz hat auf das Problem der rech1
Siehe oben § 7 II 2 b, c.
§ 11 Entbindung im Fall der Wiederverheiratung
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ten Interessengewichtung durch die Ausprägung von Wiederverheiratungsklauseln reagiert. Diese werden noch einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden2. Im folgenden Teil wird die Situation diskutiert, in der die gemeinschaftlich testierenden Ehegatten eine ausdrückliche Klausel für den Fall der Wiederverheiratung des Längstlebenden nicht vorgesehen haben. Im Rahmen einer die Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht focussierenden Arbeit wird hierbei die Lösung von der Bindungswirkung im Falle der Wiederverheiratung im Mittelpunkt der dogmatischen Betrachtung stehen. Denn die Wiederverheiratung wird regelmäßig einen derartig starken Einschnitt in die Lebensumstände einer Person darstellen, daß diese gewillt sein wird, ihr einstmals mit dem Vorverstorbenen gemeinschaftlich entfaltetes „Sein zum Tode“ aktuell zu überdenken und sich einen neuen Entwurf eines personalen Selbst zu eigen zu machen, welchen sie sodann der Sozietät als letztwillige Verfügung offenbart sehen will. Die Frage, ob und inwieweit sich der überlebende Teil von der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments wird lösen können, wird im folgenden für den typischen Fall diskutiert, daß zu den Abkömmlingen aus erster Ehe in der zweiten Ehe weitere Abkömmlinge des Überlebenden hinzutreten. Der Grundfall lautet demnach: Gesetzt den Fall, aus der ehelichen Verbindung zwischen dem Überlebenden und dem Erstverstorbenen entstammen gemeinsame Abkömmlinge. Nach dem Tode des Erstverstorbenen heiratet der überlebende Gatte erneut. Aus der zweiten Ehe entstammen wiederum Abkömmlinge. II. Die Position des neuen Ehegatten hinsichtlich der Vererbung seines Vermögens 1. Allgemeines
Der neue Ehegatte des Überlebenden kann über sein in die Ehe mitgebrachtes und während der Ehe erworbenes Vermögen ohne weiteres trotz eines gemeinschaftlichen Testaments zwischen den Gatten der ersten Ehe testieren. Dies gilt auch für den Fall, daß die neuen Gatten Gütergemeinschaft vereinbart haben. Vorverstirbt hier der neue Gatte, so gehört sein Anteil am Gesamtgut zum Nachlaß; der Verstorbene wird nach den allgemeinen Regeln (also testamentarisch oder per gesetzlicher Erbfolge) beerbt, § 1482 BGB. Ist fortgesetzte Gütergemeinschaft vereinbart, so setzen die gemeinsamen Abkömmlingen aus der Zweitehe die Gütergemeinschaft mit dem überlebenden Teil fort, § 1483 I BGB. Die nicht gemeinschaftlichen Abkömmlinge des Überlebenden aus erster Ehe sind am Erbfall nach dem neuen Gatten nicht beteiligt. Vorverstirbt der aus erster Ehe Überlebende, so werden dessen Abkömmlinge aus erster Ehe von der fortgesetzten Güter2
Unten § 12.
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
gemeinschaft ausgeschlossen und erben so, als ob sie nicht eingetreten wäre, § 1483 II BGB. Sie erben richtigerweise mithin zusätzlich zum Vorbehalts- und Sondergut auch aus dem Gesamtgut, indem sie in die Gesamthand eintreten3. Diese Entscheidung situiert in einem schwierigen Spannungsverhältnis zwischen zwei Regelungen. Auf der einen Seite steht die Forderung des § 1483 I BGB, nach dem über das nicht auseinandergesetzte Gesamtgut die Gesamthandsgemeinschaft nur zwischen dem überlebenden Gatten und den gemeinschaftlichen Abkömmlingen der zweiten Ehe fortgesetzt wird. Auf der anderen Seite ordnet § 1483 II BGB an, daß die Rechtsstellung des einseitigen Abkömmlings durch die Vereinbarung der fortgesetzten Gütergemeinschaft nicht tangiert sein soll. Nach einer Meinung soll dieses Spannungsverhältnis mit Rücksicht auf den Grundgedanken der fortgesetzten Gütergemeinschaft (dem Erhalt des Gesamtgutes in seiner Substanz) dadurch aufgelöst werden, daß den einseitigen Abkömmlingen des verstorbenen Gatten aus erster Ehe nur ein schuldrechtlicher Anspruch auf Teilauseinandersetzung zugebilligt wird, welcher zwar das Recht einschließt, Naturalteilung nach §§ 2042, 752 BGB zu verlangen, nicht aber das Recht, Teilungsversteigerung nach § 753 BGB zu begehren4. Begründet wird dies damit, die ehevertragliche Vereinbarung der Gütergemeinschaft erfülle die Erbvertragsform (§ 2276 II BGB). Wünsche der Erblasser in einer Form, die einer Verfügung von Todes wegen genügen würde, den Weiterbestand des Gesamtgutes bei seinem überlebenden Gatten und (nur) den gemeinschaftlichen Abkömmlingen, habe er damit zugleich die rechtliche Zurücksetzung seiner einseitigen Abkömmlinge in Kauf genommen5. Nun kann aber gerade dies nicht gemutmaßt werden, wenn ein bindendes gemeinschaftliches Testament aus erster Ehe vorliegt, da eine Zurücksetzung der erstehelichen Abkömmlinge gegen die Bindungswirkung verstoßen würde. Es kann mithin nur davon ausgegangen werden, daß gerade umgekehrt als sonst angenommen wird, der Überlebende wolle seine erstehelichen Abkömmlinge nicht zurücksetzen; es kommt also zu deren Eintritt in die Gesamthand. Vorverstirbt der neue Ehegatte und hat dieser entsprechend der Trennungslösung den Überlebenden zum Vorerben und die gemeinschaftlichen Abkömmlingen der zweiten Ehe zu Nacherben berufen, hindert das gemeinschaftliche Testament und die dort vorgesehene Erbrechtsordnung nicht den Anfall bei den Abkömmlingen der zweiten Ehe, wenn der Überlebende nachverstirbt. Denn als Nacherben erben diese Abkömmlinge ausschließlich von dem zweiten Gatten. Hat dieser entsprechend der Einheitslösung den 3
Staud-Thiele, § 1483 Rn. 21 f. So MünchKomm-Kanzleiter, § 1483 Rn. 14; Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 39 I 5; wohl auch Palandt-Brudermüller, § 1483 Rn. 3. 5 MünchKomm-Kanzleiter, § 1483 Rn. 14. 4
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Überlebenden zum Alleinerben bestimmt, ist dieser auch in Ansehung des § 2271 II BGB nicht daran gehindert, hinsichtlich des vom neuen Gatten von Todes wegen erworbenen Vermögens zugunsten der gemeinschaftlichen Abkömmlingen aus zweiter Ehe zu testieren, mögen auch dadurch die Kinder aus erster Ehe nur einen Teil seines Gesamtvermögens erwerben, so daß eigentlich eine widersprechende Verfügung zu Lasten der gemeinschaftlich aus dem Testament der ersten Ehe Endbedachten vorhanden zu sein scheint. Bei Lichte betrachtet stellt sich schon gar nicht die Frage, ob hier der Überlebende ausnahmsweise sich von der Bindung lösen kann, da er richtigerweise hinsichtlich des von Todes wegen vom neuen Gatten Erworbenen nie gebunden war – dies war eines der Ergebnisse der Überlegungen zum Grund der testamentarischen Bindung6. Der Grund liegt darin, daß der Erstversterbende der ersten Ehe den erbweisen Vermögenszuwachs regelmäßig nicht in seine Erwartungsstrukturen eingebunden hat; Frucht dieser Einsicht war die Formulierung einer diese Erwartungsausrichtung widerspiegelnden Auslegungsregel. Haben die Gatten aus erster Ehe hingegen ausdrücklich vorgesehen, daß auch ein Vermögenserwerb des Überlebenden von Todes wegen unter die Bindungswirkung nach § 2271 II BGB fallen soll, bleibt der Überlebende gebunden. Dem zweiten Gatten ist dann zu raten, Vorerbschaft des Überlebenden und Nacherbschaft der gemeinschaftlichen Abkömmlinge aus der zweiten Ehe zu verfügen. Es bleibt nach all dem im folgenden noch zu klären, ob nicht doch noch eine Beeinträchtigung der Abkömmlinge aus erster Ehe gegeben sein kann. 2. Das Problem der Beeinträchtigung der Endbedachten aus erster Ehe
a) Fall 1: Einheitslösung im gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe Gesetzt den Fall, die Gatten aus erster Ehe haben sich gegenseitig zu Vollerben und die Endbedachten als Schlußerben des Längstlebenden eingesetzt. Setzt nun der Längstlebende nach der Wiederverheiratung und nach dem Tode des zweiten Gatten zu Lasten der erstehelichen Abkömmlinge die zweitehelichen Kinder als Miterben zu dem Anteil an seinem Gesamtvermögen ein, der dem von dem zweiten Gatten von Todes wegen erworbenen Vermögen entspricht, bilden die Kinder aus erster und aus zweiter Ehe eine Miterbengemeinschaft hinsichtlich des Nachlasses des Längstlebenden. Hierbei ist sicherzustellen, daß eine Beeinträchtigung der erstehelichen Abkömmlingen durch eine Beteiligungsquotelung entsprechend dem Verhältnis zwischen dem in den Nachlaß geflossenen Vermögen des zweiten Gatten und dem Rest des Nachlasses vermieden wird, da nur dann die 6
Dazu siehe oben § 6 III 2 b.
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Unwirksamkeitsfolge des § 2271 II BGB nicht eintritt7. Liegt eine derartige Beeinträchtigung dennoch nicht schon durch die Tatsache vor, daß nunmehr die Kinder aus beiden Ehen eine Miterbengemeinschaft bilden? Bei der Beurteilung, ob eine Beeinträchtigung der korrespektiv endbedachten Kinder aus erster Ehe gegeben ist, ist grundsätzlich eine auf den Sinn der Bindungswirkung bezogene, also „erwartungstheoretische“ Betrachtungsweise an den Tag zu legen. Denn anders als beim Erbvertrag, bei dem der erbvertraglich Endbedachte in einem Recht durch eine weitere letztwillige Verfügung rechtlich beeinträchtigt werden kann8, besitzen die in einem gemeinschaftlichen Testament endbedachten Dritten zumindest dann keinerlei Rechte vor dem letzten Todesfall, wenn sie nicht als Nacherben, sondern als Erben des Längstlebenden eingesetzt worden sind; und sind sie Nacherben, bezieht sich ihr Nacherbenschutz nur auf Verfügungen des Vorerben zu dessen Lebzeiten, §§ 2113 ff. BGB9. Mit Blick auf diese Rechtsstellung der korrespektiv Endbedachten richtet sich die Frage, wann sie beeinträchtigt sind, allein nach dem Schutz der berechtigten Erwartungen des Erstverstorbenen; der Beeinträchtigungsschutz dient ja nur diesem, nicht aber (allenfalls als unbeachtlicher Reflex) auch den Endbedachten. Regelmäßig wird der Erstverstorbene beim gemeinschaftlich mit dem anderen Teil projektierten Zuschnitt der Vermögensordnung post mortem nur darauf Wert gelegt haben, daß der Erbteil des von seiner Seite aus Endbedachten dem Wert nach nicht angegriffen wird. Eine Zuordnung einzelner Nachlaßobjekte zu einzelnen Erben wird durchweg ausscheiden, falls keine diesbezügliche Teilungsanordnung oder ein gegenstandsbezogenes Vorausvermächtnis verfügt ist. Haben die Ehegatten weder eine Teilungsanordnung, noch ein Vorausvermächtnis verfügt, ist nicht ersichtlich, wieso sich auf einzelne Nachlaßobjekte bezogene Erwartungen beim Erstverstorbenen herausgebildet haben sollen, die korrespektive Verfügung zugunsten der Endbedachten umfasse auch den Übergang des Gesamtnachlasses in eine Miterbengemeinschaft allein zwischen den im gemeinschaftlichen Testa7 Die testamentarische Bindung betrifft nur Verfügungen, die die Endbedachten beeinträchtigen, siehe BGH, NJW 1959, 1730; BayObLGZ 1966, 242 (245); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 19; Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 15 f.; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 33; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 28; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 3 c b. 8 Bei § 2289 I 2 BGB besteht Einigkeit, daß eine rechtliche Schlechterstellung auf jeden Fall das Beeinträchtigungsmerkmal erfüllt; strittig ist darüberhinaus nur, ob auch eine wirtschaftliche Schlechterstellung für eine Beeinträchtigung hinreicht, sofern sie eine rechtlich geschützte Position aus dem Erbvertrag betrifft. Siehe Siebert, FS Hedemann, 237 (250, 256 ff.); MünchKomm-Musielak, § 2289 Rn. 10; Staud-Kanzleiter, Rn. 14, für die rechtliche Betrachtungsweise und Soergel-Manfred Wolf, § 2289 Rn. 3, 10, für die auch wirtschaftliche Betrachtungsweise. 9 Dazu oben § 7 II 2 c.
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ment Endbedachten. Dementsprechend findet auch die Beurteilung der Beeinträchtigung gem. § 2270 I BGB wertbezogen und nicht objektbezogen statt. Die Existenz einer Miterbengemeinschaft beeinträchtigt Werterwartungen nicht, § 2047 I BGB. Dieser Grundsatz einer wertmäßigen Betrachtung gilt auch – wieso sollte dies nun anders sein – für den Fall, daß der überlebende Teil seine zweitehelichen Kinder am Gesamtnachlaß partizipieren läßt. Falls sich jedoch in dem Teil des Nachlasses des Überlebenden, der nicht vom vorverstorbenen zweiten Gatten stammt, ein Vermögensgegenstand befindet, bei dem der erstverstorbene Gatte der ersten Ehe erkennbar erwartete, daß er im Erbgang in objecto den Endbedachten des gemeinschaftlichen Testaments der ersten Ehe zukomme, wird eine Abweichung vom Grundsatz der wertbezogenen Beurteilung der Beeinträchtigung angezeigt sein. Ein Beispiel ist etwa ein vom vorverstorbenen ersten Gatten oder vom Überlebenden in die erste Ehe eingebrachtes oder während dieser Ehe aufgebautes Unternehmen, welches an die gemeinschaftlichen Abkömmlinge aus erster Ehe von Todes wegen weitergegeben werden soll. Hier darf der vorverstorbene Teil erwarten, daß der Überlebende keine Dritten in die Unternehmerstellung durch letztwillige Verfügung gelangen läßt, mögen auch die Endbedachten wirtschaftlich im Zeitpunkt des Todes des Längstlebenden hierdurch nicht schlechtergestellt sein. Der Grund für diese Erwartung besteht im Unternehmensbeispiel an der herausgehobenen Stellung dieses Nachlaßgegenstands für den Lebenserwerb der Endbedachten, der diesen deshalb gegenständlich erhalten bleiben soll. Auch bei einem Einfamilienheim wird regelmäßig der Erstverstorbene ein Interesse daran haben, daß es allein in das Eigentum seiner Abkömmlinge fällt und nicht Dritte an ihm partizipieren. Denn letzteres dürfte durchweg dazu führen, daß das Haus veräußert wird. Andere Gegenstände, die allein auf die Endbedachten des Testaments der ersten Ehe zukommen sollen, wären etwa solche, bei denen ein starkes Affektionsinteresse des Vorverstorbenen besteht. Ob ein solches Interesse besteht, ist Sache der Beweiserhebung. Läßt sich die Affektionslage nicht eindeutig klären, entfällt im Zweifel ein auf einen bestimmten Nachlaßgegenstand bezogenes Affektionsinteresse, da dies der allgemeinen Regel entspricht, daß die Beeinträchtigung der Endbedachten nicht objekt-, sondern wertbezogen beurteilt wird. Steht das Affektionsinteresse hingegen fest oder befand sich im Nachlaß ein Unternehmen, findet im Zweifel eine objektbezogene Betrachtungsweise hinsichtlich der Beeinträchtigung der gemeinschaftlich von den Gatten der ersten Ehe bedachten Abkömmlingen statt; technisch wird dies durch eine inzident verfügte Teilungsanordung oder durch Vorausvermächtnisse an die Abkömmlinge aus erster Ehe zu bewältigen sein. Mithin gilt: Es ist sicherzustellen, daß der Nachlaßwert, der den erstehelichen Kindern kraft des gemeinschaftlichen Testaments der Gatten der Erst-
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ehe zusteht, nicht geschmälert wird. Grundsätzlich reicht hierzu eine wertmäßige Nachlaßteilung entsprechend dem Verhältnis zwischen dem in den Nachlaß geflossenen Vermögen des Gatten der zweiten Ehe und dem Rest des Nachlasses aus. Nur ausnahmsweise (relevante Beispiele: bei einem Unternehmen, einem Einfamilienhaus und bei affektiv besetzten Gegenständen) findet eine Zuordnung einzelner Nachlaßgegenstände an die Kinder aus erster Ehe statt; die wertmäßige Teilung muß dann anhand des restlichen Nachlasses vollzogen werden. Der wiederverheiratete Überlebende wird mithin tunlichst ausdrücklich eine Teilungsanordnung gem. § 2048 BGB vorsehen, den Kindern aus der erster Ehe gegenstandsbezogene Vorausvermächtnisse gem. § 2150 BGB aussetzen oder die Erbquote nicht-beeinträchtigend gestalten, also den Kindern aus zweiter Höhe nur eine Nachlaßpartizipation in Höhe des vom zweiten Gatten im Wege des Erbgangs erworbenen Vermögens bewilligen. Soweit sich hierzu im zweiten Testament nichts ausdrücklich findet, wird anzunehmen sein, daß der Erblasser die entsprechende Erbquote implizit verfügt hat, um den testamentarischen Erwerb der Kinder aus zweiter Ehe nicht den Risiken der Unwirksamkeit gem. § 2271 II BGB auszusetzen. Schlägt eine derartige Auslegung fehl, ist die neue Verfügung des Überlebenden der ersten Ehe nicht gänzlich, sondern nur insoweit unwirksam, als sie tatsächlich die Endbedachten beeinträchtigt. Mit Blick hierauf wird analog § 2085 BGB10 die Verfügung zugunsten der zweitehelichen Abkömmlinge insoweit aufrechtzuerhalten sein, daß sie mit der richtigen, die Erbschaft der Endbedachten aus erster Ehe wertmäßig nicht schmälernden Erbquote eingesetzt sind11. Eines freilich scheint gegen die bisherigen Überlegungen zu sprechen, es sei nicht einsichtig, daß die Kinder aus der zweiten Ehe nur an dem Erbe des anderen Elternteils, nicht aber an dem möglicherweise nach dem Tode des Erstversterbenden eingetretenen, eventuell sehr erheblichen Vermögenszuwachs des Überlebenden partizipieren sollen. Es wird noch gezeigt werden12, daß die Kinder aus der zweiten Ehe sehr wohl auch am Vermögen des Überlebenden wenigstens zu einem Teil teilhaben können. Insofern werden auch – wenn die Ehegatten der zweiten Ehe dahingehend testieren wollen – die Interessen der zweitehelichen Kinder durchaus gewahrt. 10
Bei der Teilunwirksamkeit einer einheitlichen Verfügung wird richtigerweise § 2085 BGB analog angewendet, ein Rückgriff auf § 139 BGB entfällt, siehe MünchKomm-Leipold, § 2085 Rn. 9; Soergel-Loritz, § 2085 Rn. 11; Staud-Otte, § 2085 Rn. 11; Kipp/Coing, Erbrecht, § 21 VI; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 34 V 2 b; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 280 f.; Schlüter, Erbrecht, Rn. 199. 11 § 2085 BGB wird beim gemeinschaftlichen Testament für das Verhältnis der wechselbezüglichen Verfügungen der Ehegatten zueinander durch § 2270 I BGB ausgeschlossen, MünchKomm-Leipold, § 2085 Rn. 10. Doch gilt dies eben nur für diese korrespektiven Verfügungen. Diese stehen hier nicht in Rede. 12 Sogleich unten § 11 III.
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b) Fall 2: Trennungslösung im gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe Soweit schließlich die Gatten aus der ersten Ehe die Trennungslösung gewählt haben, also gegenseitige Vorerbschaft und Nacherbschaft der gemeinschaftlichen Abkömmlinge verfügt haben, werden im zweiten Todesfall die Kinder aus erster Ehe hinsichtlich des Nachlasses ihres erstverstorbenen Elternteils dessen Nacherben; die erstehelichen Abkömmlinge bilden daneben die Miterbengemeinschaften mit den zweitehelichen Kindern hinsichtlich des Gesamtnachlasses des nachverstorbenen Überlebenden. Hinsichtlich dieses Nachlasses gelten die Ausführungen zu Fall 1 entsprechend: Erbeinsetzung der Abkömmlinge aus zweiter Ehe nur nach der Quote, welcher dem Verhältnis des nach dem Tod des zweiten Gatten von diesem erworbenen Nachlaßwerts zum Gesamtnachlaß entspricht; ausnahmsweise Zuweisung einzelner Nachlaßgegenstände aus dem allein vom Überlebenden der ersten Ehe stammenden Nachlaßteil im Wege einer Teilungsanordnung oder eines Vorausvermächtnisses. III. Die Position des wiederverheirateten Längstlebenden I: Allgemeines 1. Übersicht
Die Möglichkeiten des überlebenden Ehegatten, nach der Wiederverheiratung neu – unter Umständen gemeinschaftlich mit dem zweiten Gatten – zu testieren, hängt davon ab, ob er sich von der testamentarischen Bindung lösen kann. Die Lösung kraft § 2271 II 1 HS 2 BGB wird durchweg ausscheiden, da die Ausschlagung des vom Erstverstorbenen testamentarisch Zugewendeten wegen Verfristung (§ 1944 I, II BGB) regelmäßig nicht mehr in Betracht kommen wird. Die Fallgestaltungen, bei denen eine Entbindung gem. § 2271 II 2, III BGB eintritt, weil die Abkömmlinge aus erster Ehe der Verschwendung oder der Überschuldung anheimgefallen sind oder sich einer Verfehlung schuldig gemacht haben, die zur Entziehung des Pflichtteils berechtigen, können vernachlässigt werden. Gleiches gilt für den Fall, daß die Abkömmlinge sämtlich ersatzlos vorversterben oder einer von ihnen ersatzlos wegfällt; hier wurde schon gezeigt, daß im Zweifel hinsichtlich des Erwerbs des Ersatzerben oder – im Falle der Anwachsung gem. §§ 2094, 2158 BGB – des Miterben in Höhe der Anwachsung keine Bindung gegeben ist13. Auch eine Freistellungsklausel verhilft den überlebenden Teil dazu, seine Testierfreiheit wiederzugewinnen, wenn sie verfügt worden ist; auf das oben14 Gesagte sei hierbei verwiesen. Zu diskutieren 13
§ 9 II.
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sind demnach noch folgende Fälle: (i) Die Endbedachten des Testaments der ersten Ehe stimmen der sie beeinträchtigenden Verfügung zu. (ii) Der Überlebende (oder ein Dritter) ficht die einer Bedenkung des neuen Gatten oder der Abkömmlinge aus zweiter Ehe entgegenstehende korrespektive Verfügung aus dem gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe wegen Irrtums gem. § 2079 BGB an. (iii) Schließlich bleibt zu prüfen, ob der überlebende Gatte auch in weiteren Fällen seine Testierfreiheit wiedergewinnen kann und welches Schicksal in diesen Fallgestaltungen die Verfügungen des Erstversterbenden haben. Bevor dies die leitende Thematik der folgenden Ausführungen sein wird, soll noch ein Blick auf den Zuschnitt des Vermögens geworfen werden, welches tatsächlich von der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments aus erster Ehe erfaßt wird. 2. Das von der Bindungswirkung erfaßte Vermögen des überlebenden Teils
a) Die zur Vererbung anstehenden Vermögensmassen beim Überlebenden Nach der h. M. wird von der testamentarischen Bindung das gesamte Vermögen des überlebenden Teils erfaßt. Die Bindung soll sich sogar auf das Vermögen erstrecken, welches der Überlebende erst nach dem Tod des anderen Teils unter Lebenden oder sogar von Todes wegen erwirbt15. Es war schon die Rede davon, daß dies aufgrund der gemeinhin gehegten Erwartungen des Erstversterbenden im Zweifel nicht für die Vermögenszuwächse gilt, die nicht aus Mitteln des vom Erstversterbenden ererbten Vermögens oder aus dem Vermögen des Überlebenden im Zeitpunkt des ersten Todesfalls stammen16. Bei einer Wiederverheiratung kann nun ebenfalls nicht die Rede davon sein, daß das gesamte Vermögen des Überlebenden von der testamentarischen Bindungswirkung erfaßt wird. Drei Vermögensmassen gilt es zu unterscheiden. Ist der überlebende Teil gemäß der Einheitslösung als Alleinerbe des zweiten Gatten eingesetzt und vorverstirbt dieser, wurde hinsichtlich des Nachlasses des zweiten Gatten – erste Vermögensmasse – schon klargestellt, daß hierüber im Zweifel keine Bindung nach § 2271 II BGB eintritt17. Ist der Überlebende nach den Vorgaben der Trennungslösung Vorerbe des vorverstorbenen zweiten Gatten, entfällt sowieso eine te14
Oben § 8. RG JW 1915, 1121; KG DR 1939, 1443 (1444); v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 503; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 30; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 15; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 29. 16 Oben § 6 III 2 b. 17 Vgl. soeben und nochmals oben § 6 III 2 b und hinsichtlich der näheren Folgen § 11 II 2. 15
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stamentarische Bindung aus dem gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe, da die Abkömmlinge der zweiten Ehe im Nacherbfall unmittelbar vom zweiten Gatten erben. Bezüglich des von Todes wegen als Alleinerbe18 erworbenen Vermögens des Erstverstorbenen – zweite Vermögensmasse – tritt grundsätzlich (über Ausnahmen wird noch zu reden sein) die Bindungswirkung nach § 2271 II BGB ein, falls keine Lösung nach den §§ 2171 II 1 HS 2, III BGB und den sonstigen, nun schon öfters genannten19 Fallgestaltungen möglich ist. Es bleibt – dritte Vermögensmasse – das sonstige Eigenvermögen des Überlebenden ab dem ersten Todesfall (also sein Gesamtvermögen abzüglich des vom ersten und zweiten Gatten von Todes wegen Erworbenen). Diese dritte Vermögensmasse kann wiederum unterteilt werden in das im Zeitpunkt der Wiederverheiratung bestehenden Alt-Vermögens des überlebenden Teils sowie in das ab der Wiederverheiratung erworbene eigene Vermögen. Kann hinsichtlich zumindest eines Teils dieser dritten Vermögensmasse der Überlebende von Todes wegen frei verfügen, ohne testamentarisch gebunden zu sein? Die These lautet: Der Überlebende wird von der testamentarischen Bindung hinsichtlich eines Viertels der o. g. dritten Vermögensmasse frei, wenn er sich (i) wiederverheiratet, (ii) das gemeinschaftliche Testament der ersten Ehe für diesen Fall keine ausdrückliche Regelung vorgesehen hat und falls (iii) er mit seinem neuen Gatten wiederum gemeinschaftlich korrespektiv testiert. Soweit der Überlebende frei wird, kann er neu testieren. Testiert er hierbei in Widerspruch zu den korrespektiven Verfügungen des gemeinschaftlichen Testaments der ersten Ehe, tritt dennoch im Zweifel keine Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügung des Erstverstorbenen nach § 2270 I BGB ein. Soweit die These. Im Beispiel: Gesetzt den Fall, in einem gemeinschaftlichen Testament hat A seinem Gatten B im Wege der Einheitslösung als Alleinerbe ein Haus, B dem A Wertpapiere im Wert von A 200.000,– vererbt, wobei Schlußerbe der Dritte D sein soll. Ceteris paribus stehen sämtliche Verfügungen im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zueinander. A stirbt. B verheiratet sich mit C. B kann nun über ein Viertel seines Wertpapiervermögens frei – etwa zugunsten seines zweiten Gatten – verfügen. Die Verfügung des A wird gleichwohl im Zweifel nicht unwirksam.
18 Ist (wie bei der Trennungslösung) Vorerbschaft des anderen Gatten und Nacherbschaft der gemeinsamen Abkömmlinge abgeordnet, stellt sich die Frage nicht, ob der Überlebende über das vom Vorverstorbenen Ererbte letztwillig verfügen kann. Denn die Abkömmlinge erwerben als Nacherben im Nacherbfall (also im Tode des Überlebenden) unmittelbar vom Erstverstorbenen. Der Längstlebende kann also hier nichts vermachen. 19 Oben § 7 II 1.
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b) Die Testierfreiheit und das Eigenvermögen des Überlebenden aa) Die Limitierung des Erwartungsschutzes im Falle der Wiederverheiratung: Allgemeines Nun scheint bei Lichte betrachtet die soeben vorgestellte These ohne weiteres gegen § 2271 II BGB zu verstoßen, da der Wortlaut dieser Vorschrift den Anschein erweckt, als ob eine Bindung trotz Wiederverheiratung und Neutestierens unabweislich ist. Zweifel an dieser apodiktischen Antwort weckt ein Blick auf den Sinn und Zweck des § 2271 II BGB. Diese Vorschrift schützt die berechtigten Erwartungen, die der Erstverstorbene hegen darf und um deren Schutz willen das Gesetz die testamentarische Bindung anordnet. Die Regel lautet hier: Bindung gem. § 2271 II BGB wegen des Schutzes geleisteter psychischer Gratifikationen auf der einen und Schutz von vermögensbezogenen Erwartungen des Erstverstorbenen über § 2270 I BGB auf der anderen Seite20. Die testamentarische Bindung schützt mithin nicht einfach so die Erwartung des Erstverstorbenen, der Überlebende würde nicht mehr neu testieren. Vielmehr wird diese Erwartung nur aus dem Grunde geschützt, weil der Erstverstorbene den Überlebenden psychisch in dessen Todesverarbeitung durch die Implementation einer Vermögensordnung post mortem unterstützt hat. In der Diktion der Theorie des sozialen Austauschs gesagt tritt aufgrund des Reziprozitätsprinzips Bindung des einen Teils ein, weil der andere Teil ihn psychisch gratifiziert hat. Fällt die Relevanz dieser psychischen Gratifikation hingegen weg, tritt eine Lösung von der testamentarischen Bindung ein, soweit der Wegfall reicht. Denn es ist kein Grund mehr ersichtlich, den Überlebenden an einer erneut mit den Mitteln der letztwilligen Verfügung ins Werk gesetzten Todesverarbeitung zu hindern, wenn ein Interesse des Erstverstorbenen an dieser Verhinderung nicht mehr existiert. Die Bindung nach § 2271 II BGB ist ja kein Selbstzweck, sondern in ihrer Legitimation von den geschützten Erwartungen des Erstverstorbenen abhängig. Nun wäre es aber ein Unding anzunehmen, die durch den Erstverstorbenen dem anderen Teil geleistete psychische Gratifikation sei schon dann entwertet, wenn der andere Teil meint, die ihm während der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung einstmals von dem einen Teil gewährte Unterstützung sei für ihn nunmehr nach dem ersten Todesfall ohne Wert. Denn mit einer derartigen Erwägung würde dem Erstverstorbenen jeglicher Schutz genommen, da nur noch der Wille des überlebenden Teils entscheidend wäre, um die Testierfreiheit wiederzugewinnen. Es sollte vielmehr darauf ankommen, ob dem Überlebenden ein funktionales Äquivalent zu genau jener Gratifikation zuteil wird, die der Erstverstorbene ihm geleistet hat, und 20
Siehe oben § 4 II 3 c, § 6 I.
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ob hinsichtlich dieses funktionalen Äquivalents der Erstverstorbene Erwartungen ausbilden konnte. Nur dann ist sowohl für den Überlebenden die einstmalige psychische Gratifikation durch den ersten Gatten tatsächlich zu einem gewissen Grade entwertet, als auch ein Schutz des erstverstorbenen Teils nicht mehr einsichtig, da dieser ja nicht erwarten darf, der andere Teil hätte auch so verfügt, wie er verfügt hat, wenn die psychische Gratifikation für ihn, den anderen Teil, keinen Wert mehr hat, weil sie funktional adäquat ersetzt worden ist. Nun gibt es nur einen einzigen Fall, in dem dies eintritt: der Fall der Wiederverheiratung des Überlebenden. Allein hier kann es nochmals zu einer funktional der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung der Gatten der ersten Ehe äquivalenten Verschmelzung der Todesverarbeitungen zweier Menschen in intim codierter Kommunikation kommen, die das Gesetz mit einer Bindung des je Überlebenden aufgrund des Austauschs psychischer Gratifikationen prämiert. Und die Wiederverheiratung selbst muß der Erstverstorbene in sein Erwartungskalkül einbinden. Denn die Verheiratung gehört zu jenen Essentialia personaler Entfaltung, hinsichtlich deren Eintritt oder Nichteintritt irgendwelche Erwartungen Dritter nicht schutzwürdig sind. Der Erstverstorbene muß also davon ausgehen, daß es zur Wiederverheiratung kommt. Ihm muß dann zweierlei bewußt werden: Einmal muß er erwarten, daß bei der Auflösung der zweiten Ehe ein Teil des Vermögens des Überlebenden als Zugewinnausgleich verloren gehen kann, sei es, daß die Ehe geschieden wird, sei es, daß sie durch Tod aufgelöst wird, § 1371 BGB. Der Erstverstorbene darf also keine Erwartungen hinsichtlich des Schicksals des Vermögens hegen, welches im Zeitpunkt des Todes des Überlebenden als Zugewinnausgleich anfällt. Als zweites muß ihm aber auch bewußt sein, daß sein eigener Beitrag zur Todesverarbeitung des Überlebenden (nämlich die psychische Gratifikation) keine große Rolle mehr spielen kann. Etwas anderes gilt nur, wenn der Überlebende ihm im Akt des gemeinschaftlichen Testierens signalisiert hat, daß er die ihm vom anderen Teil gewährte psychische Gratifikation auch für den Fall der Wiederverheiratung als nicht entwertet erachtet. Im Zweifel wird dies aber nicht der Fall sein. Es bleibt mithin festzuhalten: Für den Fall der Wiederverheiratung sind die Erwartungen des Erstverstorbenen limitiert – es fragt sich nur, wieweit die Limitierung reicht. Dies hängt von dem Maß der Entwertung der psychischen Gratifikation ab:
bb) Reziprozität und Wiederverheiratung Es bleibt die Frage, ob bei einem gemeinschaftlichen Testament zwischen den Gatten der zweiten Ehe die dem Überlebenden durch den Erstverstorbenen gewährte psychische Gratifikation vollständig oder nur teil-
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weise entwertet wird. Richtigerweise ist sie nur zu einem Teil entwertet und nur hinsichtlich dieses Teils wird der Überlebende von seiner testamentarischen Bindung befreit. Denn durch das gemeinschaftliche Testieren der Ehegatten der zweiten Ehe wird die durch den Erstverstorbenen geleistete psychische Gratifikation ja nicht vollends hinfällig, sondern ist in den Erfahrungsschatz des überlebenden Teils als erlebtes memento mori eingegangen, in dem es aus Sicht beider Gatten der ersten Ehe weiterhin eine hilfreiche Wirkung im Prozeß der Todesverarbeitung entfalten kann. Aus dieser Tatsache des weiteren Fortwirkens der psychischen Gratifikation folgt nun nicht aber auch umgekehrt, daß die Bindung gänzlich erhalten bleibt. Denn das Gesetz läßt eine testamentarische Bindung nur einsetzen, wenn zu der psychischen auch eine vermögensmäßige Gratifikation hinzukommt, da ja das Vermögen das Mittel ist, welches das personfunktionale Erbrecht als Mittel der Todesverarbeitung begreift. Das Gesetz geht folgerichtig davon aus, daß die dem Überlebenden durch den Erstverstorbenen gewährte psychische Gratifikation vollständig entwertet ist, wenn die gemeinsam erdachte Vermögensordnung post mortem sich vollends nicht mehr realisieren läßt. In den Fällen der §§ 2271 II 2, III BGB ist dies offensichtlich der Fall. Dabei bedeutet „Unmöglichkeit einer Realisierung der Vermögensordnung post mortem“ nicht, daß der Endbedachte aus Rechtsgründen nicht mehr die Erbenstellung erhalten kann. Dies zeigt schon der Fall des § 2271 III BGB i.V. m. § 2289 II BGB. Dort kann der Endbedachte durchaus noch Erbe werden, es bietet sich aber aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft nicht mehr an. Die Frage, wann eine Vermögensordnung entwertet ist, muß also aus einer wirtschaftlichen Perspektive her betrachtet werden – und entscheidend wird hier sein, daß der Erstverstorbene erwarten mußte, daß es zum Zugewinnausgleich nach der Beendigung der zweiten Ehe kommt, denn dann kann er auch in dieser Höhe keine vermögensbezogenen Erwartungen mehr ausbilden. Nun scheint diese wirtschaftliche Betrachtungsweise aber der allgemein geteilten Einsicht zu widersprechen, daß Ausgleichspflichten unter Lebenden – und zu solchen gehört auch die Erblasserschuld aus §§ 1371 II, 1378 I BGB – mit den auf den Todesfall bezogenen Geschäften des Erstverstorbenen (also mit dem gemeinschaftlichen Testament) erst einmal nichts zu tun haben. Die Trennung gründet letztlich in der Einsicht, die letztwillige Bedenkung beziehe sich nicht auf den Nachlaß oder gar einzelne Nachlaßgegenstände, sondern auf den Erwerb der formellen Erbenposition der Endbedachten. Diese wiederum wird durch eine Verpflichtung zum Zugewinnausgleich nicht relevant berührt. Der hiesigen Lösung könnte mithin folgender Einwand entgegengesetzt werden: Würde die Schutzwürdigkeit des Erwartens des Erstverstorbenen davon abhängig gemacht, daß im Fall der Wiederverheiratung ein Vermögensverlust in Höhe des hälftigen Zugewinns beim Tode des Längstlebenden stattfindet, käme es zu einem nicht gerecht-
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fertigten Durchbruch dieses Grundsatzes der Trennung zwischen dem Nachlaß und dessen Gegenständen auf der einen und dem Erwerb der formellen Erbenposition auf der anderen Seite. Die testamentarische Bindung beziehe sich nur auf den Schutz eben der formellen Erbenposition. Diese wird aber rechtlich (wenn auch nicht wertmäßig) durch einen Zugewinnausgleich nicht tangiert, da ja die Erbenstellung der Endbedachten auch bei einem vermögenslosen Nachlaß im zweiten Todesfall weiterhin erworben würde und eben hierauf (auf diesen Erwerb) die Erwartung des Erstverstorbenen gerichtet sei. Zudem würde ja auch sonst nicht gesagt, bei Risiken, welche im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens der Gatten aus erster Ehe für den Erstverstorbenen absehbar waren, sei die testamentarische Bindung von vornherein um den kapitalisierten Betrag des Risikos vermindert, so daß über die diesem Betrag entsprechende Erbquote der Überlebende frei verfügen könne. Eine Erwartungsbildung sei nun einmal selbst ein riskantes Unterfangen; es käme nicht auf die Erwartbarkeit eines wirtschaftlichen Risikos, sondern auf die Erwartbarkeit des rechtlichen Risikos an, daß der Überlebende nicht mehr neu testiere, was schon aus dem Wortlaut des § 2271 II BGB folge. Wieso sollte im Fall der Wiederverheiratung mit folgendem Zugewinnausgleich etwas anderes gelten? Der Einwand wiegt schwer, greift aber letztlich nicht durch. Zuzugeben ist, daß es für die Frage, ob eine relevante Entwertung der Vermögensordnung post mortem vorliegt, nicht darauf ankommt, daß das Vermögen des Überlebenden sich durch irgendwelche Ereignisse zwischen dem ersten und dem zweiten Todesfall verringert hat. Dies zeigen die Lösungstatbestände des § 2271 II 1 HS 2 BGB auf der einen und des § 2271 II 2, III BGB auf der anderen Seite: Bei § 2271 II 1 HS 2 BGB geht es um eine Veränderung in der einstmals gemeinschaftlich ersonnenen Vermögensordnung unmittelbar im Anschluß an den Tod des Erstversterbenden (§ 1944 I, II BGB), während bei den Fällen des § 2271 II 2, III BGB die wirtschaftliche Zerstörung der Vermögensordnung (im Fall des § 2271 III BGB) oder ihre „moralische“ Zerstörung (Fall des § 2271 II 2 BGB) in Rede steht. Sowohl der Fall des § 2271 II 1 HS 2 BGB als auch die Fälle des § 2271 II 2, III BGB stehen mithin in einem unmittelbaren Todesbezug. Dies ist auch einsichtig, da ein personfunktional verstandenes Erbrecht ja den Tod als einen der wichtigsten Bezugspunkte für normative Differenzierungen in den Blick nimmt. Veränderungen im Vermögensbestand des Überlebenden, die zwischen dem ersten und dem zweiten Todesfall stattfinden, widmen sich folgerichtig allein die Regelungen der §§ 2287 f. BGB analog. Was folgt aus all dem für den Fall der Wiederverheiratung? Nach den §§ 1372 ff. BGB wird im Scheidungsfall der Regelgüterstand der Zugewinngemeinschaft durch den Zugewinnausgleich abgewickelt. Gleiches gilt für den Ausgleich des Zugewinns für den Fall der Auflösung der Ehe durch
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Tod nach § 1371 II BGB i.V. m. §§ 1373 ff. BGB. Dieser Fall wiederum ist dann gegeben, wenn der Überlebende trotz Wiederverheiratung von seiner testamentarischen Bindung nicht befreit wird und er deshalb den zweiten Gatten zwangsläufig enterben muß. Beim Tod des Längstlebenden findet ohne Scheidung der zweiten Ehe der Ausgleich des Zugewinns somit gem. § 1371 II BGB statt. Ob diese hälftige Wertbeteiligung am Zugewinn nach den §§ 1373 ff. BGB sachgerecht ist und sich geltungstheoretisch als Recht erweisen kann21, steht hier nicht zur Debatte. Eine abstrahierende Betrachtung, die den Blick nicht auf die Idee gemeinsamen Erwirtschaftens oder auf die Funktionsteilung der Familie lenkt, sondern das Prinzip der Gleichberechtigung der Geschlechter als Wertungsgrundlage des Zugewinnausgleichs focussiert22, wird zwar einen den Zugewinnausgleich tragenden Gedanken liefern, dennoch aber die bedenkliche Zufälligkeit eines manchen Ergebnisses nicht legitimieren können23. Letztlich können diese Mißliebigkeiten im geltenden Güterrecht – das Fehlen schon der „Verheißung“ gerechter Ergebnisse, wenn die Ansätze der Rechtsprechung betrachtet werden24 – hier offen gelassen werden: Der Zugewinnausgleich ist unbestritten wenn nicht schon Recht, so doch bindendes Gesetz und fordert als Gesetz hinsichtlich seines Wertungsgrundsatzes der hälftigen Wertbeteiligung am Zugewinn Beachtung ein. In Höhe des Zugewinnausgleichs läßt sich folglich die ehemals gemeinschaftlich geplante Vermögensordnung entweder aufgrund Scheidung oder aufgrund des Todes des Längstlebenden nicht mehr realisieren. Gemeinhin sind derartige Vermögensverluste für die Frage, ob die Vermögensordnung post mortem relevant entwertet worden ist, tatächlich (wie dies auch der oben vorgetragene Einwand konstatiert) ohne weiteren Belang. Beim Zugewinnausgleich aufgrund Eheauflösung durch den Tod des überlebenden Gatten ist dies aber entscheidend anders. Denn dieser Ausgleich ist von Gesetzes wegen untrennbar mit dem Tode des Längstlebenden verknüpft und tritt sicher ein, wenn die Wiederverheiratung erfolgt. Und da er von Gesetzes wegen an den Tod geknüpft ist, stellt er ein ebenso todesbezogenes Ereignis dar, wie die Fälle der §§ 2271 II 1 HS 2, 2271 II 2, III BGB. Damit schließt sich der Kreis: Ist der Zugewinnausgleich gem. § 1371 II BGB auf den Tod bezogen, ist in seiner Höhe die gemeinschaftlich einstmals auf den Weg gebrachte Vermögensordnung post mortem für beide Gatten der ersten 21
Aus der überbordenen Kritik siehe nur Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, § 34 I. 22 Dazu Dieter Schwab, FS Söllner, 1079 (1085), mit Bezug auf BGH, FamRZ 1977, 124. 23 Siehe zu einzelnen Fallgestaltungen Dieter Schwab, FS Söllner, 1079 (1085 ff.). 24 So Dieter Schwab, FS Söllner, 1079 (1093).
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Ehe ebenso entwertet, wie dies bei den §§ 2271 II 1 HS 2, 2271 II, III BGB der Fall ist. Aus der Todesbezogenheit des Zugewinnausgleichs nach § 1371 II BGB folgt mithin, daß guten Gewissens der Überlebende in Höhe des Zugewinnausgleichs25 von der testamentarischen Bindung befreit ist. Man mag hiergegen einwenden, auch die Pflichtteilsansprüche etwaiger Abkömmlinge aus der zweiten Ehe entstünden mit dem Tode des Überlebenden, gleichwohl sei dieser nicht in Höhe dieser Ansprüche schon zu Lebzeiten von seiner testamentarischen Bindung befreit, wenn er nicht gem. § 2079 BGB anficht. Der Einwand verfängt nicht. Denn die psychischen Gratifikationen haben für den Überlebenden nur dann keinen Wert mehr, wenn sie durch das gemeinschaftliche Testieren mit dem neuen Gatten funktional äquivalent ersetzt werden. Gerade dies ist aber bei Ansprüchen nicht der Fall, die bei dem Tode des Überlebenden eben nur wegen dieses Todes eingreifen. Es bleibt mithin dabei: Nur beim Wiederverheiratungsfall tritt sicher ein teilweiser Vermögensverlust des Überlebenden im Zeitpunkt seines Todes und die Möglichkeit ein, daß die dem Überlebenden durch den Erstverstorbenen gewährten psychischen Gratifikationen funktional äquivalent durch ein neues gemeinschaftliches Testament mit dem Gatten der zweiten Ehe ersetzt werden können, so daß sie ihre Bindungskraft verlieren. Hierauf kann nur die teilweise Entbindung die Antwort sein. Mit Blick auf all dies verschlägt es auch nicht, daß der während der Zweitehe aufgetretene Zuwachs des Vermögens des Überlebenden zu drei Vierteln an die Endbedachten des gemeinschaftlichen Testaments der Erstehe fällt. Die Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments schützt die in der letztwilligen Verfügung niedergelegte Persönlichkeitsausprägung des Erstverstorbenen. Die Endbedachten der zweiten Ehe können gegenüber diesem Persönlichkeitsschutz keine rechtlich relevanten Interessen einwenden. Es ist nichts ersichtlich, was hier für eine Limitierung der Erwartungsbildung des Erstverstorbenen und damit für eine Beschränkung seines Erwartungsschutzes sprechen könnte. Hierin zeigt sich einmal mehr, daß es beim gewillkürten Erbrecht um den Schutz der Persönlichkeit des Testierenden geht, gegenüber dem Vermögensinteressen Dritter nachrangig sind. Dies erweist sich auch in der Einsicht, daß auch die Interessen der Endbedachten des erstehelichen Testaments ja nicht als solche geschützt sind, sondern nur als Reflex des Persönlichkeitsschutzes des Erstverstorbenen26.
25 26
Es wird noch die Rede davon sein, wie hoch die Entbindung genau ist. Dazu oben unter § 7 II 2 c.
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cc) Das Maß der Loslösung von der testamentarischen Bindung Ist die Vermögensordnung post mortem in Höhe des Zugewinnausgleichs nach § 1371 II BGB entwertet, liegt es nahe, auch eine Lösung von der testamentarischen Bindung in eben der Höhe des tatsächlichen Zugewinns gem. §§ 1373 ff., 1390 BGB zu geben. Dennoch ist dies nicht ratsam. Denn setzt der Überlebende seinen zweiten Gatten in einem neuen Testament zu einem Bruchteil als seinen Erben ein, wird der zweite Gatte nicht nur schuldrechtlich am Nachlaß als Nachlaßgläubiger, sondern auch dinglich als Miterbe beteiligt. Mit dem öffentlichen Interesse an einer rechtssichernden Zuordnung des Nachlasses wäre es aber kaum vereinbar, wenn erst in schwierigen Berechnungen der tatsächliche Zugewinn ermittelt und dieser sodann ins Verhältnis zum Gesamtvermögen gesetzt werden müßte, um die Erbquote zu bestimmen. Sachgerechter ist es daher, den Überlebenden von vornherein in einem festen Vermögensbruchteil von seiner testamentarischen Bindung zu lösen. In Frage käme hier eine Anlehnung an die Regelung des Ausgleichs des Zugewinns im Todesfalle. Stirbt der Überlebende und wäre kein Testament vorhanden, würde der Ausgleich des Zugewinns durch eine Erhöhung des gesetzlichen Erbteils des Gatten um ein Viertel der Erbschaft bewirkt; als Ausgleichpauschale für den Zugewinn wird dem zweiten Gatten also ein Viertel des Nachlasses des Überlebenden als das Mindestmaß dessen zugebilligt, was das Gesetz als Ausgleich für den beendeten Güterstand für angemessen hält. Dieses Maß sollte aus Gründen der Rechtssicherheit auch für den Grad der Entbindung des überlebenden Teils gewählt werden, der dann hinsichtlich eines Viertels seines Vermögens, von dem vorab das letztwillig vom Erstverstorbenen Erworbene abzuziehen ist, wieder neu testieren könnte. Zwar ist die Regelung des § 1371 I BGB in ihrer Sinnhaftigkeit und Legitimität mehr als nur umstritten. Sie gilt weithin als vollständig verfehlt, da ihr ehegüterrechtlich eher grobes Raster den tatsächlichen Zugewinn wohl kaum je treffen wird27 und da die Schwierigkeiten im Hinblick auf die Bewältigung internationalprivatrechtlicher Fallgestaltungen aufgrund der in § 1371 I BGB zu findenden Verquickung von Güter- und Erbrecht bekannt sind28. Diese Problemstellungen können jedoch auch hier wieder auf sich beruhen, weil es hier nicht um die güterrechtliche Unsinnigkeit der 27 Siehe zur bekannten ehegüterrechtlichen Krux des § 1371 I BGB nur v. Olshausen, Konkurrenz, insbes. 72 ff.; Rauscher, Reformfragen, 65 ff.; Leipold, AcP 180 (1980), 160 (176); und aus der Kommentarliteratur nur MünchKomm-Koch, § 1371 Rn. 3 ff. 28 Zur diesbezüglichen Problemerörterung siehe v. Olshausen, Konkurrenz, 91 ff. Aus der überbordenden Kritik an § 1371 I BGB siehe ansonsten nur Leipold, AcP 180 (1980), 160 (176); Rauscher, Reformfragen, Bd. 1, 242 ff., Bd. II/1, 58 ff.; Plate, Die Auflösung der Ehe durch den Tod, 91 ff.
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erbrechtlichen „Lösung“ der Güterstandsabwicklung durch § 1371 I BGB, sondern darum geht, einen Anhaltspunkt für die Entbindung des Überlebenden zu gewinnen. Letztlich hätten sämtliche Lösungen der Frage, in welchem Maß der Überlebende seine Testierfreiheit wiedergewinnt, etwas durchaus gewaltsames an sich. Der Weg über die Viertellösung des § 1371 I BGB hat aber immerhin den Vorteil einer rechtssichernden Handhabe für sich. Aus all dem folgt, daß in Höhe eines Viertels seines Vermögens der Überlebende im Fall seiner Wiederverheiratung frei wird, wenn die neuen Gatten gemeinschaftlich korrespektiv testieren. Es ist mithin möglich, den zweiten Gatten nicht nur schuldrechtlich über den Zugewinnausgleich oder den Pflichtteil, sondern auch dinglich als Miterben am Nachlaß des Überlebenden zu beteiligen. Kommt es zur Scheidung der zweiten Ehe, lebt die Bindung aus dem ersten gemeinschaftlichen Testament wieder auf, da dieses nicht gem. § 2270 I BGB insoweit unwirksam geworden ist, als der Überlebende abweichend neu testiert hat, wie noch gezeigt werden wird. Das Wiederaufleben findet nicht statt, wenn das zweite Testament gem. § 2268 II BGB trotz Scheidung weiterhin wirksam ist. Denn dann hat sich für den Überlebenden die ihm von seinem zweiten Gatten gewährte psychische Gratifikation nicht erledigt. Schließlich bleibt noch zu sagen, daß in das Vermögen, zu dessen viertel Teil der Überlebende von der testamentarischen Bindung frei wird, nicht der vom Erstverstorbene ererbte Nachlaß fällt. Bei der Trennungslösung ist dies schon wegen der Trennung der Nachlasse der Fall, da die Endbedachten unmittelbar vom Erstverstorbenen erben. Bei der Einheitslösung folgt dies einmal schon aus der Tatsache, daß ein Vermögenserwerb von Todes wegen nach den Wertungen des Gesetzes selbst dann nicht zum Zugewinn gerechnet wird, wenn der Erwerb während der Ehe stattfindet, § 1374 II BGB. Zwar gilt diese Norm nur für den Ausgleich des Zugewinns nach dem § 1371 II BGB und nicht für die erbrechtliche Lösung des Zugewinnausgleichs nach § 1371 I BGB. Schädlich ist dies nicht. Denn die hier vorgeschlagene Viertellösung der testamentarischen Bindung in Anlehnung an § 1371 I BGB wurde ja nur aus Gründen einer rechtssichernden Handhabe gewählt, obwohl sich eigentlich das Maß der Entbindung nach dem Verhältnis des Zugewinnausgleichsanspruch nach § 1371 II BGB zum Gesamtvermögen des Überlebenden bestimmen müßte. Die Orientierung an der Halbteilung nach § 1371 I BGB hindert mithin nicht, daß Wertungen des § 1371 II BGB i.V. m. §§ 1373 ff. BGB in die Bestimmung des Vermögens einfließen, auf den der Halbteilungsgrundsatz angewendet wird. Darüber hinaus folgt die Abrechnung des ererbten Eigenvermögens des Erstverstorbenen vom Gesamtvermögen des Überlebenden aus der Tatsache, daß eine Entwertung der psychischen Gratifikation hinsichtlich des Eigenvermögens des
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Erstverstorbenen bei einer Wiederverheiratung des Überlebenden bei Lichte betrachtet nicht stattfindet. Denn das Vorbild, welches der Überlebende für sein eigenes memento mori aus dem letztwilligen Handeln des Erstverstorbenen hat gewinnen können, bleibt dem Überlebenden ja voll erhalten; die Verfügung des Erstverstorbenen bleibt ja wirksam. Der Überlebende kann sie seinem eigenen neuen memento mori durchaus weiterhin als Vorbild zugrundelegen. In dieser Funktion bleibt die dem Überlebenden durch den Erstverstorbenen geleistete Gratifizierung weiterhin wirksam, so daß entsprechend dem Prinzip der Reziprozität auch künftig Bindung gegeben ist. c) Die Lösung von der Bindung und § 2270 I BGB § 2270 I BGB schützt das Vertrauen des Erstverstorbenen, daß seine Vermögensdispositionen nach seinem Tode erhalten bleiben und nicht entwertet werden29. Dieses Vertrauen wird vom Gesetz freilich nur soweit geschützt, wie eine Bindung des Überlebenden überhaupt besteht. Fehlt sie zumindest teilweise – wie im Falle der Wiederverheiratung –, greift § 2270 I BGB nicht ein. Bei Lichte betrachtet kommt es im Fall der Wiederverheiratung mit gemeinschaftlichem Testament der Gatten der zweiten Ehe gar nicht zu einer Loslösung von der Bindung. Vielmehr ist für diesen Fall im Zweifel nie eine Wechselbezüglichkeit der Verfügungen in Höhe der Hälfte des Eigenvermögens des Überlebenden (wiederum unter Vorabzug des Nachlasses des Erstverstorbenen) gegeben, wenn man einmal die Bindung zu Lebzeiten an die Form des notariellen Wiederrufs gem. § 2271 I BGB außer Acht läßt. Dies zeigt folgende Überlegung: Regelmäßig darf im Rahmen der typischen Erwartungsstrukturen einer intakten Ehe jeder Gatte vom anderen Teil Verantwortung, Beistand und Fürsorge erwarten30. Dürfte der überlebende Teil nun vom Erstverstorbenen nicht erwarten, daß dieser seine Erwartungen auf den Fall seiner, des Überlebenden Wiederverheiratung anpaßt, dürfte er nicht davon ausgehen, sein Gatte aus erster Ehe sei auch post mortem an seinem Wohlergehen interessiert, wenn dieses Wohlergehen darin besteht, seinerseits Solidarität und Fürsorge dem zweiten Gatten angedeihen lassen zu können. Mit ehelicher Fürsorge und solidarischem Beistand hätte dies wenig zu tun. Will sich der Erstverstorbene für den Fall der Wiederverheiratung des Überlebenden absichern, kann er zum kautelarjurisprudentiellen Mittel der Wiederverheiratungsklausel greifen31. Tut er dies nicht, soll er sich nicht wundern, daß der Überlebende von ihm Solidarität und Beistand für den Fall der Wiederverheiratung einfordert32. Dem erstversterbenden Gatten wird daher zumindest kein erheblicher Nachteil 29 30 31
Siehe oben § 4 II 3 c. Dazu schon oben § 8 II 2. Zu diesen unten § 12.
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zugefügt, wenn der Überlebende erwarten darf, der Erstverstorbene würde erwarten, daß der Überlebende seinerseits zu Recht erwartet, er könne Solidarität und Fürsorge gegenüber einem etwaigen zweiten Gatten hegen. Nun könnte gegen eine derartige Erwartungshaltung des überlebenden Teils sprechen, dieser dürfe schon deshalb keine Solidaritätsbekundungen des Erstverstorbenen erwarten, die auf die Zeit nach dessen Tode gerichtet ist, da für diese Zeit die erste Ehe durch den Tod eines der Gatten aufgelöst worden sei; eheliche Solidarität und Fürsorge würden aber nach der Auflösung der Ehe nicht mehr geschuldet. Dieser Einwand geht fehl. Auch ansonsten wird davon ausgegangen, die todesbedingte Eheauflösung führe nicht dazu, daß rein formal von einer Erwartung der Gatten nicht mehr ausgegangen werden dürfe, der je andere würde sich um die nach dem ersten Todesfall eintretende Situation des Gegenübers einfach deshalb nicht mehr sorgen, weil die Ehe dann nicht mehr formal existiere. Dies gilt ansonsten zu Recht absurd, so ist es auch hier. Insgesamt gesehen findet im Zweifel mithin eine Beschränkung schon in der Erwartungsbildung des Erstverstorbenen statt. Ist dies so, stand die Verfügung des Erstverstorbenen mit der des Überlebenden im Zweifel nicht im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit, soweit ein Viertel seines Vermögens unter Vorabzug des vom Erstverstorbenen von Todes wegen Erworbenen betroffen ist. Will der Erstverstorbene gleichwohl die Wechselbezüglichkeit, soll er dem anderen Gatten dies mitteilen und um Bestätigung der gehegten Erwartung als zu Recht gehegt bitten. Diese Zurechnungserwägungen zeigen wieder einmal33, daß es im Recht des gemeinschaftlichen Testaments nur bedingt fruchtbar ist, in den §§ 2270 f. BGB einen gesetzlich geregelten Fall zu sehen, in dem eine bestimmte subjektive Geschäftsgrundlage für die Weitergeltung eines Rechtsgeschäfts maßgeblich ist34. Zwar 32 Das AmtsG Nettetal, FamRZ 1998, 1331 (1332), folgert aus dem Umstand, daß die Gatten erster Ehe keine Regelung für den Fall der Wiederverheiratung des Überlebenden getroffen hätten, beide hätten den Willen gehabt, daß ihre Verfügungen auf jeden Fall Gültigkeit haben sollen, unabhängig davon, ob der Überlebende wieder heiraten würde oder nicht. Dem kann nicht gefolgt werden. Wiederverheiratungsklauseln werden typischerweise gewählt, um die Endbedachten so abzusichern, wie sich dies der Erstverstorbene vorstellt, siehe unten § 12 I. Hier wird gerade im Interesse der Endbedachten ein geringeres Maß an Solidarität mit dem Überlebenden gezeigt als im Falle des Fehlens einer Wiederverheiratungsklausel. Denn Solidarität würde ja gerade bedeuten, daß der Erstversterbende dem Überlebenden nach seiner Verwitwung einen Neuanfang qua Wiederverheiratung nicht durch rigide vermögensrechtliche Maßnahmen (wie bsp. einer Wiederverheiratungsklausel) erschweren will. In einer funktionierenden Ehe dürfte aber im Zweifel von gelebter Solidarität ausgegangen werden. Das AmtsG Nettetal wertet gerade umgekehrt, ohne hierfür Argumente vorzutragen. Ähnlich wie das AmtsG Nettetal auch etwa BayObLG, FamRZ 1995, 251 (253). 33 Siehe zu weiteren Fällen oben § 6 II 1.
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mag hier durchaus von einer Geschäftsgrundlage gesprochen werden können35. Aber die Einordnung einer Motivation als Geschäftsgrundlage beantwortet ja noch nicht die Frage, wann die Motivation auch tatsächlich maßgeblich ist. Hier helfen nur die soeben vorgetragenen Zurechnungserwägungen hinsichtlich des erwartbaren Maßes an einer sachgerechten Erwartungsbildung weiter. Es gilt deshalb folgende Auslegungsregel: Auslegungsregel 11.1: Im Zweifel steht die Verfügung des überlebenden Teils für den Fall (sic!) und insoweit, als der Überlebende im Falle der Wiederverheiratung von der testamentarischen Bindung gelöst wird, schon nicht im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit mit der Verfügung des Erstverstorbenen, soweit es um die Zeit nach dem ersten Todesfall geht. Testiert der Überlebende in dem Maße seines Freiwerdens neu, ist daher im Zweifel die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam.
d) Zusammenfassung Im Rückblick bestätigt sich nach all dem die Eingangsthese: Der Überlebende darf hinsichtlich eines Viertels seines eigenen Vermögens, von dem zuvor das vom Erstverstorbenen ererbte Vermögen abgerechnet worden ist, trotz eines gemeinschaftlichen Testaments mit korrespektiven Verfügungen frei von Todes wegen verfügen, wenn er sich (i) wiederverheiratet, (ii) das Testament für diesen Fall keine ausdrückliche Regelung vorgesehen hat und falls (iii) er mit seinem neuen Gatten wiederum gemeinschaftlich korrespektiv testiert. Die Restriktionen, die sich der Überlebende bei einer Wiederverheiratung hinsichtlich einer weiteren Entfaltung seines „Seins zum Tode“ gegenüber sieht, die er gemeinschaftlich mit seinem neuen Gatten in intim codierter Interaktion ins Werk zu setzen trachtet, haben sich daher zu einem Großteil entschärft. Es ist eine tragfähige Balance gefunden worden zwischen den berechtigten Belangen des Erstverstorbenen und denen des Überlebenden. Der zweite Gatte kann nach der hier vorgeschlagenen Lösung durch Erwerb von Todes wegen vom Überlebenden mehr erhalten, als er erhalten würde, wenn es zum Zugewinnausgleich gem. § 1371 II BGB und zur Auskehr des Pflichtteils gekommen wäre. Er kann aber auch weniger erhalten. In diesem Fall kann er nach § 1373 III BGB vorgehen. Die „Viertellösung“ von der Bindung bestätigt inzident zudem die hohe Wertigkeit des letztwilligen Verfügens: Ist nicht einsichtig, wieso die Rechtsperson an einer weiteren Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehin34 35
So aber Pfeiffer, FamRZ 1991, 1266 (1268). Dazu oben § 8 III 3.
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dert werden sollte, hebt das Erbrecht eine Einschränkung der Testierfreiheit auf. Daß sich dies im Wortlaut der §§ 2070 f. BGB nicht so deutlich wiederspiegelt, schadet nicht, solange das innere System des Rechts – wie hier – den richtigen Weg weist. 3. Die Zustimmung der erstehelichen Abkömmlinge zur beeinträchtigenden Verfügung
Die neue letztwillige Verfügung des überlebenden Teils, welche die korrespektiv bedachten Dritten beeinträchtigt, wird nicht dadurch wirksam, daß die Dritten der neuen Verfügung formlos zustimmen. Hierüber dürfte zu Recht weitgehend Einigkeit bestehen36. Ansonsten würden die Formvorschriften des § 2352 S. 3 BGB i.V. m. § 2348 BGB unterlaufen. Haben die Ehegatten der ersten Ehe die Einheitslösung gewählt, gilt folgendes: Da die Endbedachten hier als Schlußerben des zuvor als Alleinerben vom Erstverstorbenen eingesetzten Überlebenden bestellt sind, müssen sie mithin einen formgerechten Zuwendungsverzichtsvertrag gem. § 2352 S. 1 BGB mit dem überlebenden Teil abschließen. Der große Vorteil eines Zuwendungsverzichts gegenüber einer Anfechtung aus § 2079 BGB liegt darin, daß im Gegensatz zur Anfechtung der Zuwendungsverzicht durch den Schlußerben die korrespektive Verfügung des Erstversterbenden (also die Alleinerbeneinsetzung des anderen Teils) unberührt läßt. Die korrespektive Verfügung wird ja durch den Verzicht nicht aufgehoben oder unwirksam, vielmehr verhindert entsprechend § 2346 I 2 BGB der Verzicht nur den Anfall der Zuwendung beim Verzichtenden, wie wenn er den Erbfall nicht erlebt hätte37. Die Alleinerbeneinsetzung des Überlebenden durch den erstverstorbenen Teil wird somit nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam. Trotz Zuwendungsverzichts wird gleichwohl die korrespektive Verfügung nicht ohne weiteres gegenstandslos werden. Denn die Schlußerben aus dem ersten, dem gemeinschaftlichen Testament können ihren Verzicht nicht auf ihre Abkömmlinge erstrekken. § 2352 BGB verweist ja nicht auf die Regelung des § 2349 BGB aus dem Recht des Erbverzichtsvertrags. Die Abkömmlinge der Verzichtenden werden aber regelmäßig als Ersatzerben berufen sein, § 2069 BGB38, so daß diese nunmehr in die Rechtsstellung der einstmals Endbedachten eintreten. Richtigerweise bewirkt dieses Eintreten gem. § 2069 BGB aber noch nicht, daß die Ersatzerbenbedenkung auch korrespektiv verfügt ist; dies gilt es erst 36 BGH, FamRZ 1969, 207 (208); OLG Hamm, OLGZ 1982, 272 (276); OLG Köln, FamRZ 1983, 837; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 17; Soergel-Damrau, § 2352 Rn. 4. 37 MünchKomm-Strobel, § 2352 Rn. 12. 38 OLG Hamm,. MDR 1982, 320; MünchKomm-Strobel, § 2352 Rn. 13; SoergelManfred Wolf, § 2271 Rn. 17; Soergel-Damrau, § 2352 Rn. 2, 4.
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noch nach § 2270 I BGB (im Zweifel nicht gem. § 2270 II BGB) zu prüfen39. Liegt danach Korrespektivität dennoch vor, müßten die Abkömmlinge der einstmals Endbedachten grundsätzlich selbständig auf ihre testamentarische Zuwendung verzichten. Etwas anderes wird im Wege der ergänzenden Auslegung des gemeinschaftlichen Testaments nur anzunehmen sein, wenn gegen eine vollständige Abfindung der erstehelichen Abkömmlingen verzichtet worden ist40. Doch wird hier regelmäßig die Motivation zum Zuwendungsverzichtsvertrag beim Überlebenden entfallen, da die vollständige Abfindung dem Wert nach einer vorgezogenen Erbfolge gleichkommt, so daß zumindest dem Wert nach der Überlebende seinen neuen Ehegatten und die neuen Abkömmlingen der zweiten Ehe in der Regel nicht besserstellen kann, als sie stünden, wenn der Verzichtsvertrag nicht geschlossen wäre. Der Überlebende wird hier darauf verwiesen sein, bei den Abkömmlingen aus erster Ehe dafür zu werben, daß sie zumindest hinsichtlich eines Viertels seines Vermögens unter Vorabzug des vom Erstverstorbenen Erworbenen von der Bindung qua Zuwendungsverzicht freigestellt wird41. Denn in dieser Höhe kann – wie gezeigt wurde42 – der überlebende Teil sowieso nach einer Wiederverheiratung letztwillig frei verfügen, ohne testamentarisch gebunden zu sein; ein derartig beschränkter Zuwendungsverzicht wird daher der Streitvermeidung dienen. Bei der Trennungslösung haben die Abkömmlinge aus erster Ehe die Stellung von Nacherben erlangt. Nach dem Tode des Erstverstorbenen scheidet ein Zuwendungsverzicht nach § 2352 BGB aus, da der hierfür erforderliche Vertrag mit dem Erblasser aufgrund von dessen Tod nicht mehr geschlossen werden kann. Will der Nacherbe mithin der Beeinträchtigung „zustimmen“, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Nacherbschaft auszuschlagen oder die Nacherbenanwartschaft an den Vorerben zu übertragen, womit das Nacherbenrecht erlöschen würde43. § 2142 I BGB stellt klar, daß die Ausschlagung schon nach dem Tode des erstverstorbenen Teils zulässig ist; der Nacherbfall muß mithin nicht abgewartet werden44. Freilich ist in beiden Fällen (Ausschlagung oder Übertragung der Nacherbschaft) wiederum das Recht etwaiger Ersatznacherben nach §§ 2142 II, 2096 BGB zu beachten, wenn der Erstverstorbene Ersatznacherben berufen hat45. Falls 39
Dazu § 9 II. Siehe zu diesem Fall BGH, NJW 1974, 43 (44); BayObLG, NJW-RR 1997, 1027; OLG Düsseldorf, DNotZ 1974, 367; MünchKomm-Strobel, § 2352 Rn. 14; Palandt-Edenhofer, § 2352 Rn. 6; Soergel-Damrau, § 2349 Rn. 2. 41 Ein beschränkter Verzicht auf einen ideellen Bruchteil ist zulässig, siehe nur MünchKomm-Strobel, § 2352 Rn. 4; Soergel-Damrau, § 2352 Rn. 1. 42 Unten § 11 III 2 b. 43 Soergel-Harder, § 2142 Rn. 1. 44 MünchKomm-Grunsky, § 2142 Rn. 1. 40
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Ersatznacherben nicht vorhanden sind, bliebe immer noch das Anwachsungsrecht etwaiger Mitnacherben gem. §§ 2142 II, 2094 BGB im Zweifel unberührt. Doch auch hier wieder gilt, daß im Zweifel die Einsetzung der durch eine Auslegungsregel als Ersatzerben Berufenen nicht wechselbezüglich sein wird46. Ist sie gleichwohl gem. § 2270 I BGB wechselbezüglich, müßten die Mitnacherben und die Ersatznacherben entweder ebenfalls die Ersatznacherbschaft ausschlagen oder ihre Anwartschaft an den Vorerben übertragen. Der nunmehr als Alleinerbe handelnde überlebende Teil könnte dann frei verfügen. IV. Die Position des wiederverheirateten Längstlebenden II: Die Anfechtung gem. § 2079 BGB 1. Die Selbstanfechtung durch den Überlebenden
a) Der Anfechtungsgrund Der überlebende Teil kann sich von der testamentarischen Bindung befreien, wenn er seine korrespektive Verfügung zu Fall bringt. Diese Möglichkeit eröffnet sich ihm im Falle der Wiederverheiratung durch eine auf eine analoge Anwendung der §§ 2281, 2079 BGB gestützte47 Selbstanfechtung seiner eigenen Verfügung wegen der Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten, nämlich des zweiten Gatten oder der etwaig der zweiten Ehe entstammenden Abkömmlinge (§ 2303 BGB). Nach dem zweiten Todesfall bleibt die Anfechtung gem. § 2079 BGB nach § 2080 III BGB den Pflichtteilsberechtigten vorbehalten. Bei nichtwechselbezüglichen Verfügungen entfällt die Selbstanfechtungsbefugnis des Erblassers, da der Testierende die Verfügung jederzeit widerrufen kann, § 2253 BGB. Es war eines der Ergebnisse der bisherigen Überlegungen, daß im Zweifel eine Wechselbezüglichkeit der Verfügungen des Überlebenden mit denen des Erstverstorbenen in Höhe eines Viertels des Eigenvermögens des Überlebenden (wiederum unter Vorabzug des Nachlasses des Erstverstorbenen) im Falle der Wiederverheiratung des überlebenden Teils nicht gegeben ist, da sich hier keine relevanten Erwartungsstrukturen beim erstverstorbenen Gatten herausgebildet haben48. Da in dieser Höhe mithin nur ein einseitiges Testament gegeben ist, erstreckt sich die Anfechtung nach § 2079 S. 1 BGB nur auf das restliche Dreiviertel. 45
Soergel-Harder, § 2142 Rn. 5 f., § 2100 Rn. 13 mit § 2102 Rn. 11. § 9 II. 47 Allgemeine Meinung, siehe nur RGZ 77, 165 (172); BGHZ 37, 331 (333); Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 69; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 34. 48 Siehe § 11 III 2 c. 46
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Der Anfechtungsgrund nach § 2079 S. 1 BGB schützt die Testierfreiheit des Erblassers49. Bei der Selbstanfechtung aus § 2079 BGB erlangt der Erblasser seine Fähigkeit zurück, über die veränderte Sachlage sein „Sein zum Tode“ neu zu entfalten50. Die Interessen des Pflichtteilsberechtigten an einer Partizipation am Nachlaß des Überlebenden sind ausschließlich über das Pflichtteilsrecht geschützt51. § 2079 S. 1 BGB ist folglich eine der zahlreichen erbrechtlichen Vorschrift, mit der der personfunktionale Gehalt des gewillkürtem Erbrechts zur Geltung gebracht wird. Die Anfechtung gem. § 2079 S. 1 BGB gibt dem Erblasser ein einfaches Instrument in die Hand, sich von der testamentarischen Bindung gänzlich zu befreien. Die Schneidigkeit des § 2079 S. 1 BGB liegt vor allem in dessen Eigenschaft, schon aus der Unkenntnis des Pflichtteilsrechts und der Übergehung des Pflichtteilsberechtigten zu folgern, daß die einstmalige Motivation zur Verfügung nicht tragfähig ist52. Die Erheblichkeit des Irrtums muß mithin nicht konkret festgestellt werden, sondern kann gerade umgekehrt ausnahmsweise gem. § 2079 S. 2 BGB entfallen53. Hierin liegt auch die Bedeutung gegenüber § 2078 II BGB, dessen Anwendungsbereich ansonsten den Fall des Übergehens eines Pflichtteilsberechtigten ohnedies abdeckt. Ein relevantes Übergehen i. S. des § 2079 S. 1 BGB liegt vor, wenn der Pflichtteilsberechtigte nicht vom Erblasser bedacht, aber auch nicht von der Erbfolge ausgeschlossen worden ist54. Danach wird im Falle der Wiederverheiratung regelmäßig ein Übergehen eines Pflichtteilsberechtigten i. S. des § 2079 S. 1 BGB gegeben sein, da dem Überlebenden die Person seines 49 Der Sinn und Zweck des Anfechtungsrechts aus § 2079 S. 1 BGB ist ansonsten umstritten. Während stellenweise davon ausgegangen wird, diese Regelung solle primär das gesetzliche Erbrecht des übergangenen Pflichteilsberechtigten vor einer nicht fehlerfrei motivierten Verfügung und – bei der Selbstanfechtung – daneben auch noch die Testierfreiheit des Erblassers schützen (so Soergel-Loritz, § 2079 Rn. 1; Ritter, Konflikt, 118 f.; auch BGH, NJW 1970, 279 f., geht davon aus, daß das Anfechtungsrecht „zumindest auch dem eigenen Interesse des Erblassers dient“), wird andernorts der Telos der Norm zumindest bei der Selbstanfechtung allein im Schutz der Testierfreiheit verankert (So bei MünchKomm-Leipold, § 2079 Rn. 2, aA ders., ebda., Rn. 2 bei der Anfechtung einseitiger Verfügungen durch den übergangenen Pflichtteilsberechtigten selbst). 50 Ähnlich MünchKomm-Leipold, § 2079 Rn. 2, der aber davon spricht, die Anfechtung ermögliche eine „gerechtere“ Gestaltung der letztwilligen Verfügung. Dies steht erkennbar im Zusammenhang mit seiner allgemeinen Ansicht, der Zweck der Testierfreiheit läge in der gerechtigkeitsorientierten Anpassung des gesetzlichen Erbrechts auf den familiaren Einzelfall. Zur Kritik an dieser Auffassung siehe ausführlich Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 3 II–IV. 51 Oben § 7 II 2 b. 52 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 1. 53 Staud-Otte, § 2079 Rn. 1; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 1. 54 RGZ 59, 60 (62); BayObLG, FamRZ 1971, 147 (151); BayObLGZ 1993, 389 (394 ff.); Soergel-Loritz, § 2079 Rn. 3; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 307.
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zweiten Gatten im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens oftmals nicht bekannt sein wird. Schon deshalb wird weder eine Bedenkung, noch eine Enterbung verfügt sein, da nicht anzunehmen ist, der Überlebende habe schon „vorsorglich“ implizit einen etwaigen Gatten enterben wollen55. Wenn die Person des zweiten Gatten dem Überlebenden schon im Zeitpunkt des gemeinschaftlichen Testierens mit dem ersten Gatten bekannt war und ihm letztwillig etwas zugewendet worden ist56, schadet dies grundsätzlich nicht. Es reicht mithin aus, daß dem Erblasser im Zeitpunkt der Testamentserrichtung die aktuelle oder potentielle Pflichtteilsberechtigung des Begünstigten nicht bekannt war57. Diese subjektive Betrachtungsweise ist gegenüber einem rein objektiv ausgerichteten Übergehensbegriff vorzugswürdig. Nach diesem objektiven Übergehensbegriff hindert schon jede letztwillige Zuwendung an einen Pflichtteilsberechtigten die Anwendbarkeit des § 2079 S. 1 BGB, und zwar unabhängig davon, ob die Bedenkung vor oder nach der Erlangung der Pflichtteilsberechtigteneigenschaft erfolgte und ob der Erblasser sich der aktuellen oder potentiellen Pflichtteilsberechtigung nun bewußt war oder nicht58; stellenweise wird hiervon eine Ausnahme gemacht, wenn die Zuwendung ganz geringfügig war59. Der überlebende Teil wäre dann auf die Anfechtung nach § 2078 II BGB verwiesen60. Gegen diese objektive Betrachtung spricht ausschlaggebend, daß die Triftigkeit der gesetzlichen Vermutung des § 2079 S. 1 BGB, die Unkenntnis des Erblassers von der Pflichtteilsberechtigung sei für den Testamentsinhalt kausal gewesen, nicht davon abhängt, ob der Erblasser ohne Kenntnis der Pflichtteilsberechtigung den späteren Berechtigten überhaupt nicht oder als Nicht-Pflichtteilsberechtigten bedacht hat. Denn wird eine Zuwendung nicht 55 Der Erblasser kann im Testament zum Ausdruck bringen, daß die Verfügung ohne Rücksicht auf etwaige noch folgende spätere Pflichtteilsberechtigte gelten soll. § 2079 S. 1 BGB ist damit nicht mehr einschlägig. Siehe Staud-Otte, § 2079 Rn. 3; RGRK-Johannsen, § 2079 Rn. 6 f. 56 Das klassische Beispiel ist das des Vermächtnisses zugunsten der Haushälterin, die der Überlebende nach dem ersten Todesfall heiratet. 57 So MünchKomm-Leipold, § 2079 Rn. 6; Soergel-Loritz, § 2079 Rn. 3; Lange/ Kuchinke, Erbrecht, § 36 III 4 b b; Brox, Erbrecht, Rn. 229; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 307; Ritter, Konflikt, 119 f.; Jung, AcP 194 (1994), 42 (70 ff.). 58 So RGZ 50, 238 (239 f.); 148, 218 (223); RG, JW 1925, 2756; BayObLG, FamRZ 1994, 1066; OLG Karlsruhe, ZEV 1995, 454 (455 f.); OLG Celle, OLGZ 1968, 84 (86); Palandt-Edenhofer, § 2079 Rn. 3; Staud-Otte, § 2079 Rn. 5; RGRKJohannsen, § 2079 Rn. 10; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 324; Kipp/Coing, Erbrecht, § 24 II 2 d; Schubert/Czub, JA 1980, 257 (261). 59 So OLG Karlsruhe, ZEV 1995, 454 (456); Palandt-Edenhofer, § 2079 Rn. 3; obiter andeutend auch BayObLG, ZEV 1994, 106 (108). 60 Mit Rücksicht hierauf billigt Brox, Erbrecht, Rn. 229, dem Streit keine große Bedeutung zu. Die in § 2079 BGB niedergelegte Umkehr der Behauptungs- und Beweislast hinsichtlich der Irrtümlichkeit sollte aber auch nicht unterschätzt werden, siehe hierzu etwa den Fall OLG Karlsruhe, ZEV 1995, 454 (456).
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im Hinblick auf die Stellung als pflichtteilsberechtigter Erbe gemacht, ist die Motivation des Erblassers trotz der Bedenkung in genau dem Maße unvollständig, von dem § 2079 S. 1 BGB ausgeht. Hierbei kann auch nicht danach differenziert werden, ob die Zuwendung unter dem gesetzlichen Erbteil geblieben ist (so daß nur dann § 2079 S.1 BGB einschlägig sein soll) oder nicht61. Ist die Motivation regelmäßig unvollständig, widerspricht es der personfunktionalen Gründung des gewillkürten Erbrechts, die Annahme, daß die Unvollständigkeit doch nicht mehr regelmäßig vorliegt, davon abhängig zu machen, daß die Bedenkung des späteren Pflichtteilsberechtigten zufällig in Höhe des späteren gesetzlichen Erbrechts erfolgt ist; die Motivation, den künftigen Pflichtteilsberechtigten gegenüber den bisherig Berechtigten zu bevorzugen, ist nun einmal genauso wahrscheinlich, wie die Annahme, er würde benachteiligt werden. b) Die Form und die Frist der Anfechtung Die Anfechtung muß analog § 2281 II BGB stets dem Nachlaßgericht gegenüber erklärt werden62 und bedarf analog § 2282 III BGB der notariellen Beurkundung. Wegen des besonderen Erklärungsgegners ist eine Umdeutung einer neuen Verfügung des Überlebenden in eine Anfechtungserklärung ausgeschlossen. Eine der praktischen Hauptschwierigkeiten bei der Anfechtung liegt in der rechten Bestimmung der Anfechtungsfrist nach § 2283 BGB. Entscheidend ist das Verständnis des Begriffs des „Anfechtungsgrundes“ i. S. § 2283 II 1 BGB: Wird der Begriff weit interpretiert, wird dem Anfechtungsinteresse des Erblassers verstärkt Rechnung getragen, umgekehrt bei enger Interpretation dem Bestandsinteresse der Endbedachten63. Die Problematik kann anhand vier typischer Beispiele verdeutlicht werden. Erster Fall: Der überlebende Teil hält sich durch das gemeinschaftliche Testament für schlechthin gebunden und ficht schon aus diesem Grunde nicht an, weil er dies für folgenlos hält. Zweiter Fall: Der Überlebende geht davon aus, daß das gemeinschaftliche Testament bei einer Wiederverheiratung automatisch unwirksam sei und hält aus diesem Grunde eine Anfechtung nicht für erforderlich64. Dritter Fall: Der überlebende Teil 61 So aber MünchKomm-Leipold, § 2079 Rn. 6; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 36 III 4 b b. 62 MünchKomm-Leipold, § 2081 Rn. 5; Soergel-Loritz, § 2081 Rn. 5. Eine Differenzierung nach den in § 2081 BGB genannten Verfügungen und den dort nicht genannten Verfügungen, für die § 143 IV 1 BGB gilt, findet mithin nicht statt. 63 Siehe MünchKomm-Leipold, § 2082 Rn. 5. Präziser wäre es freilich, von den Bestandschancen der Endbedachten zu sprechen, da ihnen ja richtigerweise keine schutzwürdigen Interessen im Rahmen der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments zukommen, siehe oben § 7 II 2 c. 64 Beispielsfälle: RGZ 107, 192; BayObLG, FamRZ 1992, 1102.
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meint zwar nicht, daß das gemeinschaftliche Testament wegen der Wiederverheiratung unwirksam geworden sei, er hält sich aber für nicht mehr gebunden, widerruft daher seine damaligen Verfügungen und testiert ohne Anfechtung neu. Vierter Fall: Der überlebende Teil hat vergessen, daß ein gemeinschaftliches Testament existiert, hält sich deshalb auch nicht für gebunden und testiert nach dem ersten Todesfall neu. Nach der h. M. ist unter dem Anfechtungsgrund i. S. § 2283 II 1 BGB der Komplex aller für das Anfechtungsrecht wesentlichen Tatsachen zu verstehen, die der Erblasser kennen muß, damit er die Sachlage richtig beurteilen und über die Anfechtung entscheiden kann65. Welche Tatsachen für die Kenntnis vom Anfechtungsgrund „wesentlich“ sind, ist wiederum umstritten. Stellenweise – erste „Unteransicht“ innerhalb der h. M. – werden nur die Tatsachen berücksichtigt, die den Anfechtungsgrund selbst bilden. Dieser Anfechtungsgrund wird hierbei durchweg weit verstanden. Er soll nicht nur den Anfechtungsgrund i. S. der Anfechtungstatbestände (hier also die Übergehung des pflichtteilsberechtigten zweiten Ehegatten) umfassen, sondern auch diejenigen Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen einer (anzufechtenden) wirksamen Verfügung von Todes wegen und die Anfechtungsberechtigung ergibt66. Nach dieser Ansicht sei es erheblich, daß der Überlebende vergißt, daß die ersteheliche Verfügung existiert; eine Kenntnis des Anfechtungsgrundes läge hier noch nicht vor67. Es sei aber sehr wohl unerheblich, daß der Erblasser von der Existenz der erstehelichen Verfügung weiß, aber nicht deren Bindungswirkung kennt oder von deren Wegfall in Folge der Wiederverheiratung ausging68. In den drei ersten der o. g. Fällen könnte allein wegen des dort aufgetretenden Irrtums eine Kenntnis des Anfechtungsgrundes daher nicht verneint werden. Andere69, insbesondere die Rechtsprechung70, – zweite „Unteransicht“ innerhalb der h. M. – ziehen den Umfang der für die Kenntnis des Anfechtungsgrunds wesentlichen Tatsachen weiter. Danach soll eine Kenntnis des 65 RGZ 115, 27 (30); 132, 1 (4); BGH, FamRZ 1970, 79 (81); BayObLG, NJW 1964, 205 (206); OLG Köln, OLGZ 1967, 496 (497); Erman-Schmidt, § 2283 Rn. 2; Jauernig-Stürner, § 2283 Anm. 1 b; MünchKomm-Musielak, § 2283 Rn. 3; Soergel-Manfred Wolf, § 2283 Rn. 2; Staud-Kanzleiter, § 2283 Rn. 6. 66 So MünchKomm-Leipold, § 2082 Rn. 5 f.; jeglicher Rechtsirrtum für unbeachtlich halten auch Schubert/Czub, JA 1980, 334 (336). 67 MünchKomm-Leipold, § 2082 Rn. 6; ders., ZEV 1995, 99 (100). 68 So explizit MünchKomm-Leipold, § 2082 Rn. 6, 8. 69 Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2283 Rn. 6; Erman-Schmidt, § 2082 Rn. 2; Jauernig-Stürner, § 2283 Anm. 1 b; MünchKomm-Musielak, § 2283 Rn. 4; RGRK-Kregel, § 2283 Rn. 2. 70 RGZ 132, 1 (4); BGH, FamRZ 1970, 79 (80 f.); BayObLGZ 1975, 6 (10); BayObLG, FamRZ 1990, 95 (99 ff.); OLG Köln, OLGZ 1967, 496 (497); KG, FamRZ 1968, 218 (219).
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Anfechtungsgrundes i. S. § 2283 II 1 BGB nicht nur bei der Unkenntnis der Tatsachen fehlen, aus denen die Anfechtbarkeit hervorgeht, sondern auch bei einem Rechtsirrtum gegeben sein, der die Unkenntnis der die Anfechtung begründenden Tatsachen zur Folge habe. Nur der „bloße Rechtsirrtum“, bei dem es sich lediglich um eine rechtsirrtümliche Beurteilung des Anfechtungstatbestands selbst handele, soll demnach die Kenntnis des Anfechtungsgrundes nicht hindern können. Nach diesen Grundsätzen hätte der Überlebende im zweiten und vierten der o. g. drei Fälle keine Kenntnis vom Anfechtungsgrund gehabt71, in den beiden anderen Fällen hindert der (bloße) Rechtsirrtum die Kenntnis nicht72. Hinsichtlich des vierten Falles führt das BayObLG aus, daß die für den Beginn der Anfechtungsfrist bedeutsame Kenntnis fehle, wenn das gemeinschaftliche Testament soweit aus der Erinnerung des Erblassers entschwunden sei, daß es selbst bei der Nachlaßregelung der zweiten Ehe nicht in sein Bewußtsein zurückgerufen worden ist73. Demgegenüber wollen Teile der Literatur anders als die h. M. den Begriff des „Anfechtungsgrundes“ gem. § 2283 II 1 BGB weitgehend von der herrschend tradierten Dichotomie von Tatsachen- und Rechtsirrtum lösen und schlagen vor, zwischen der Kenntnis oder der Nichtkenntnis des Anfechtungsgrundes und der des Anfechtungsrechts zu unterscheiden74. Danach ist „ein Rechtsirrtum nur beachtlich, wenn er sich auf den Anfechtungsgrund bezieht und dazu führt, daß der Anfechtende irrtümlich annimmt, es liege kein Anfechtungsgrund vor, nicht aber, wenn der Anfechtende über das Erfordernis irrt, den Anfechtungsgrund im Wege der Anfechtung geltend zu machen“75. Das weitestgehende Verständnis des Begriff des Anfechtungsgrundes ist schließlich erreicht, wenn die Anfechtungsfrist erst zu laufen beginnen soll, wenn der überlebende Teil positiv weiß, daß er gem. § 2079 S. 1 BGB anfechten kann und muß, um seine korrespektive Verfügung aus dem gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe zu Fall zu bringen; der Anfechtungsberechtigte muß hiernach auch die rechtliche Bedeutung der Anfechtungstatsachen erkannt haben76. Die Fristvorschrift des § 2283 II 1 BGB scheint dem ersten Blick nach primär einen Gegenstand eher formalen Charakters zu regeln. Schon früh 71
Siehe RGZ 107, 192 (194). Vgl. RGZ 132, 1 (5), für den Fall, das gemeinschaftliche Testament habe wegen der Wiederverheiratung seine bindende Wirkung verloren. 73 BayObLG, ZEV 1995, 105 (106). 74 So RGZ 107, 192 (194); OLG Hamm, ZEV 1994, 109 (111); Soergel-Loritz, § 2082 Rn. 6; Staud-Otte, § 2082 Rn. 11; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 7 d Fn. 199 mit § 36 VI 4 a; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 333 ff. Zum Problem siehe auch J. Mayer, Der Rechtsirrtum, 267. 75 Soergel-Loritz, § 2082 Rn. 6. 76 So jüngst Ritter, Konflikt, 127 ff. 72
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hat Battes zu Recht darauf verwiesen, daß sich hinter dem Streit um die sachgerechte Auslegung der Fristregelung gewichtige Wertungsprobleme verbergen, und zwar sowohl das Problem, inwieweit dem Willen des überlebenden Gatten Rechnung zu tragen ist, als auch die altbekannte Schwierigkeit, daß die Annahme der Irrelevanz des Rechtsirrtums dazu führen kann, rechtsungewandte Bürger zu benachteiligen77. Die von der h. M. vorgenommene Differenzierung nach Rechts- und Tatsachenirrtum ist nicht überzeugend. Im Rahmen eines personfunktional verstandenen gewillkürten Erbrechts und der damit verbundenen Focussierung des Testierens als genuiner Ort personaler Entfaltung wird das Ansinnen des Erblassers so weit wie möglich geschützt, sich von seiner Selbstdarstellung gegenüber der Sozietät per Anfechtung distanzieren zu wollen, wenn diese Selbstdarstellung auf einer fehlerhaften Annahme hinsichtlich des Eintritts oder des Nichteintritts eines Umstands beruht, solange diese Annahme für die Motivation zur Ausprägung des personalen Selbst erheblich war. Ein zu enges Verständnis des Begriffs des „Anfechtungsgrundes“ i. S. § 2283 II 1 BGB widerstreitet dieser gesetzlichen Teleologie, da eine verfristete Anfechtungsbefugnis dazu führt, daß der Erblasser der Sozietät eine Selbstdarstellung adressieren muß, die er nicht mehr vertritt. Persönlichkeitsrechtlich wäre ein derartiges Festhalten allenfalls dann erträglich, wenn die Rechtsperson im vollen Bewußtsein der Folgen handelt, wenn sie nicht anficht. Den Anfechtungsgrund bilden im Erbrecht mithin all jene auf den jeweiligen Anfechtungsgrund bezogenen Kriterien, welche für die Entscheidung des Erblassers, seine einstmals im gemeinschaftlichen Testament gezeigte personale Selbstdarstellung zu dementieren, relevant sind. Es ist deshalb nicht nur die Kenntnis der Tatsachen, aus denen die Anfechtbarkeit hervorgeht, sondern auch das positive Wissen erforderlich, daß die Anfechtungsberechtigung besteht. Gegen ein derartiges Verständnis des § 2283 II 1 BGB scheint freilich der Wortlaut zu sprechen, der auf die Kenntnis des Anfechtungsgrunds, nicht auf die der Anfechtungsberechtigung abstellt78. Bei Lichte betrachtet wiegt dieser Einwand jedoch nicht schwer. Es liegt allenfalls eine semantische Ungenauigkeit des Gesetzestexts vor, die der Ansicht geschuldet sein wird, das Erbrecht sei als fortgesetztes Eigentum zu begreifen. Dies zeigt ein Blick auf die vermögensrechtlichen Irrtumsregelungen. Hier gibt die Unterscheidung von Rechts- und Tatsachenirrtum im Bereich des § 119 I BGB einen guten Sinn. Denn falls die Rechtsfolge, auf die sich der Irrtum bezieht, gerade nicht diejenige ist, auf deren Herbeiführung die Erklärung nach ihrem Inhalt unmittelbar gerichtet ist79, würde für den Fall, daß die 77
Battes, Vermögensordnung, 325 f. Hierauf weist MünchKomm-Leipold, § 2082 Rn. 5, hin. 79 In diesen Fällen bejaht die h. M. ein Anfechtungsrecht aus § 119 I BGB wegen Rechtsfolgenirrtums, siehe nur Larenz/Wolf, AllgT, § 36 Rn. 81 ff. 78
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Anfechtung gegeben wird, dem Anfechtungsgegner das Risiko zugerechnet, daß sein Vertragspartner hinreichende Rechtskenntnisse aufweist. Dessen Rechtskenntnisse haben jedoch erkennbar keinen Bezug auf das jeweilige Geschäft; das Risiko fehlender Rechtskenntnisse hat mithin der Anfechtungsgegner auch keineswegs übernommen. Im Erbrecht ist dies alles anders. Den Endbedachten kommen keine schutzwürdigen Interessen zu, daß ihnen ihre Erbchance nicht durch die Anfechtung wieder entzogen wird80. Und die Interessen des Erstverstorbenen sind über die Regelung des § 2270 I BGB hinreichend geschützt, da er damit seine dem Überlebenden gewährte vermögensmäßige Gratifikation wieder „zurückholen“ kann. Seine dem anderen Teil geleistete psychische Gratifikation ist zu Recht entwertet, da wegen der Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügungen des gemeinschaftlichen Testaments nach § 2270 I BGB er von Todes wegen testamentarisch nichts erwirbt, so daß eine dem § 2271 II 1 HS 2 BGB wirtschaftlich identische Situation gegeben ist. Insgesamt gesehen spielen Interessen des Erstversterbenden bei der Anfechtung also keine Rolle. Die Abgrenzung zwischen relevantem und irrelevantem Irrtum richtet sich nach alldem allein nach den geschützten Interessen des Anfechtungsberechtigten – und geschützt sind dessen Interessen, soweit sie Ausdruck der Personfunktionalität des gewillkürten Erbrechts sind. Mit Blick hierauf muß auch der Begriff „Anfechtungsgrund“ und das darauf bezogene o. g. Wortlautargument in einem anderen Licht erscheinen. Denn der Grund der Anfechtung liegt im Motivirrtum, dessen Relevanz wiederum im Persönlichkeitsschutz des Erblassers zu finden ist. Ist dem so, ist der tiefere Anfechtungsgrund die Notwendigkeit, im konkreten Fall die Persönlichkeit des letztwillig Verfügenden zu schützen. Kenntnis des Anfechtungsgrundes heißt dann nichts anderes als Kenntnis von dieser Notwendigkeit – und damit Kenntnis des Anfechtungsrechts selbst. Es bleibt mithin dabei: Der überlebende Teil muß die Umstände kennen, aus denen sich sein Anfechtungsrecht ergibt, und die Tatsache, daß er anfechten kann und muß, um seine korrespektiven Verfügungen zu vernichten81. c) Selbstanfechtung und Freistellungsklausel Es war eines der Ergebnisse der bisherigen Überlegungen, daß dem gemeinschaftlichen Testament im Zweifel im Wege der ergänzenden Auslegung eine Freistellungsklausel entnommen werden kann, wenn dem Erblasser – das Fehlen der Klausel unterstellt – ein Anfechtungsgrund wegen Motivirrtums zur Seite steht82. Auf die Anfechtung käme es in diesem Falle 80 81
Siehe oben § 7 II 2 c. Im Ergebnis ebenso Ritter, Konflikt, 128 f.
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samt den damit verbundenen Form- und Fristproblemen nicht an. Für den Wiederverheiratungsfall kann nun nicht Gleiches allein schon mit der Begründung angenommen werden, als Folge der Wiederverheiratung sei regelmäßig die Anfechtung wegen der Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten als gesetzlich geregelter Fall eines Motivirrtums zulässig. Dies begründet noch nicht die Annahme, eine Freistellung sei im Wege der ergänzenden Auslegung testiert. Denn ansonsten würde die in § 2079 BGB niedergelegte Umkehr der Darlegungs- und Beweislast dazu benutzt, eine Willensrichtung festzustellen. Die oben aufgestellte Zweifelsregelung hinsichtlich der Freistellungsklausel wurde aber nur im Rahmen einer bestehenden Willensrichtung für ein Fehlgehen der mit dieser Richtung avisierten Umstände entwikkelt. Mithin bleibt es für den Fall der Wiederverheiratung dabei: Eine Freistellung des Überlebenden kann im Zweifel nur angenommen werden, wenn im konkreten Fall ein Anfechtungsgrund nach § 2078 II BGB wegen der Übergehung eines Pflichtteilsberechtigten bestünde; ob ein Anfechtungsgrund nach § 2079 S. 1 BGB vorliegt, ist hingegen unbeachtlich. 2. Die Anfechtung durch die Pflichtteilsberechtigten
Nur am Rande sei erwähnt, daß nach dem Tode des Überlebenden – nicht vorher83 – der neue Ehegatte zur Anfechtung nach § 2079 BGB befugt ist, § 2080 III BGB. Bei der Anfechtung korrespektiver Verfügungen des Überlebenden gilt § 2285 BGB entsprechend84, so daß die Anfechtung durch den zweiten Gatten ausgeschlossen ist, wenn das Selbstanfechtungsrecht des Überlebenden zum Zeitpunkt seines Todes erloschen war. Die Anfechtung durch den Pflichtteilsberechtigten unterliegt – anders als beim überlebenden Teil – keinem Formzwang, da nicht § 2282 BGB, sondern § 2081 BGB greift85. Für die Anfechtungsfrist ist allein auf die Kenntnis des zweiten Gatten nach dem zweiten Erbfall abzustellen86, da ein Fristlauf nicht in Betracht kommt, bevor die Anfechtungsbefugnis überhaupt der Rechtsperson eingeräumt worden ist87.
82
§ 8 III 2. KG, FamRZ 1968, 218 (219); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 40; SoergelManfred Wolf, § 2271 Rn. 37. 84 BayObLG, NJW-RR 1989, 587 (588); 1992, 1223 (1224); KG, NJW 1963, 766 (767); KG, FamRZ 1968, 219; OLG Hamm, OLGZ 1971, 312 (313); MünchKommMusielak, § 2271 Rn. 41; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 38; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 67; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 55; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 516 f. 85 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 42; Soergel-Manfred Wolf, § 2282 Rn. 3. 86 Anders OLG Frankfurt, MDR 1959, 393: Zum Fristbeginn führe schon die etwaige Kenntnis des Pflichtteilsberechtigten nach dem ersten Todesfall. 87 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 42. 83
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Die relevante Kenntnis des zweiten Gatten kann sich freilich nicht mehr – wie bei der Selbstanfechtung des Erblassers – auf die Kenntnis auch des Anfechtungsrechts selbst beziehen; dem zweiten Gatten steht ja nicht wie dem Selbstanfechtenden selbst die Notwendigkeit zur Seite, seine personelle Entfaltung durch die Anfechtung zu schützen, mit der oben das weite Verständnis des Begriffs des Anfechtungsgrundes hergeleitet worden ist. Vielmehr schützt die Anfechtungsberechtigung nach § 2079 BGB hier nur den Gedanken familiarer Verbindung88. Ist dem so, ist richtigerweise beim zweiten Gatten zwischen der Unkenntnis des Anfechtungsgrundes (kein Fristbeginn) und der des Anfechtungsrechts (unschädlich für Fristbeginn) zu unterscheiden89. Falls der Anfechtende also über die Unumgänglichkeit irrt, den erkannten Anfechtungsgrund im Wege der Anfechtung geltend zu machen, hat dies auf den Fristbeginn keinen Einfluß. Mit dieser vermittelnden Meinung werden zum einen die kaum einsichtigen und in sich widersprüchlichen Abgrenzungen vermieden, welche die o. g. zweite „Unteransicht“ innerhalb der h. M.90 vorschlägt91. Zum anderen werden auch die zu engen Restriktionen der ersten „Unteransicht“ innerhalb der h. M.92 fallengelassen. Danach sollten auch solche Rechtsirrtümer für den Fristbeginn irrelevant sein, die sich auf Tatsachen beziehen. Bei derartigen Irrtümer ist aber das Risiko, daß die Appelfunktion der Anfechtungsfrist verfehlt wird, in gleichen Maße wie bei einem hergebrachten Tatsachenirrtum existent. Mithin darf die Unkenntnis des Anfechtungsgrundes hier gleichermaßen nicht schädlich sein wie bei einem reinen Tatsachenirrtum93 3. Der Ausschluß der Anfechtung gem. § 2079 S. 2 BGB
Die h. M. läßt aus der Tatsache, daß der Überlebende trotz Kenntnis von der Pflichtteilsberechtigung das Testament „geflissentlich“ bestehen läßt, den Schluß zu, gem. § 2079 S. 2 BGB könnte die Anfechtbareit ausgeschlossen sein, weil der Erblasser die Verfügung auch bei Kenntnis ebenso hätte errichten wollen94. Bei der Anfechtung durch den Erblasser dürfte die88
Dazu unten § 42 II. So allgemein auch RGZ 107, 192 (194); OLG Hamm, ZEV 1994, 109 (111); Soergel-Loritz, § 2082 Rn. 6; Staud-Otte, § 2082 Rn. 11; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 VI 7 d Fn. 199 mit § 36 VI 4 a; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 333 ff. 90 Dazu siehe oben § 11 IV 1 b. 91 Kritisch hierzu auch Soergel-Loritz, § 2082 Rn. 5; Staud-Otte, § 2082 Rn. 8; MünchKomm-Leipold, § 2082 Rn. 7. 92 Dazu siehe § 11 IV 1 b. 93 Kritisch zur h. M. auch Soergel-Loritz, § 2082 Rn. 5. 94 RGZ 77, 165 (170); BGH, LM BGB § 2079 Nr. 1; BayObLGZ 1971, 147 (151 f.); 1980, 42 (50); BayObLG, FamRZ 1983, 952 (953); OLG Frankfurt, FamRZ 1995, 1522. 89
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ser Ansatz kaum je relevant werden. Denn es wäre wertungswidersprüchlich, einerseits die Frist für die Anfechtung gem. § 2283 II 1 BGB erst ab Kenntnis sowohl der Umstände, aus denen sich das Anfechtungsrecht ergibt, als auch des Anfechtungsrechts und seiner Bedeutung laufen zu lassen und andererseits den obigen Schluß für sinnvoll zu erachten. Die Kenntnis der Pflichtteilsberechtigung als solche und eine gleichwohl zu beobachtende Untätigkeit reicht für einen Schluß nach § 2079 S. 2 BGB nicht hin. Denn falls der Überlebende sich innerhalb der Anfechtungsfrist von einem Jahr (§ 2283 I BGB) nicht weiter rührt, hat sich die Anfechtungsproblematik nach Fristablauf sowieso erledigt. Und allein aus dem Umstand, daß der Erblasser innerhalb der Frist nicht sogleich die Anfechtung erklärt, kann nicht gefolgert werden, er habe vornherein die Verfügung auch bei Kenntnis von der Pflichtteilsberechtigung errichtet. Die Anfechtungsfrist ist auch eine Frist, innerhalb der der Erblasser sich frei Rechenschaft ablegen soll, ob er tatsächlich die einstmals mit dem Erstverstorbenen gefundene Todesverarbeitung per Anfechtung vernichtet oder nicht. Dies darf nicht durch ein eher Willensfiktionen bemühendes Vorgehen nach § 2079 S. 2 BGB unterlaufen werden. Auch im Fall der Anfechtung durch den Pflichtteilsberechtigten wird grundsätzlich nichts anderes gelten, da sich hier die Frage, wie der Erblasser bei Kenntnis entschieden hätte, nicht anders zu beurteilen ist. 4. Die Wirkung der Anfechtung nach § 2079 S. 1 BGB
a) Die Wirkung hinsichtlich des Testaments des Überlebenden Nach überwiegender Ansicht – erste Meinung – vernichtet die Anfechtung nach § 2079 BGB im Gegensatz zu der Anfechtung nach § 2078 BGB vorbehaltlich der Einschränkung nach § 2079 S. 2 BGB das Testament seinem ganzen Umfange nach95. Einsichtig ist dies nicht. Der Rekurs auf die Entstehungsgeschichte96 überzeugt als Argument hier ebensowenig, wie der Verweis auf die Tatsache, daß in § 2079 S. 1 BGB im Unterschied zu § 2078 II BGB der einschränkende Begriff „soweit“ fehlt97. Die Entstehungsgeschichte gibt für eine vollständige Vernichtung der Verfügung keinen klaren Hinweis98. Und das Wortlaut-Argument trägt eine derartig weitreichende Vernichtung einer letztwilligen Verfügung nicht. Denn es wäre 95 RGZ 59, 60 (63); BayObLGZ 1971, 147 (152); 1975, 6 (9); 1980, 42 (49); BayObLG, FamRZ 1983, 952 (954); 1985, 534 (535); OLG Frankfurt, FamRZ 1995, 1522; OLG Hamburg, FamRZ 1990, 910 (912); Kipp/Coing, Erbrecht, § 24 III 1 b; Lange/Kuchinke, Erbrecht, v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 339; Schlüter, Erbrecht, Rn. 247; Reinicke, NJW 1971, 1962 (1963). 96 So Reinicke, NJW 1971, 1962 (1963). 97 Anders BayObLGZ 1971, 147 (151). 98 Dazu siehe nur Staud-Otte, § 2079 Rn. 13.
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ein Wertungswiderspruch zu einem personfunktional gegründeten Erbrecht, wenn auch die Anordnung einer Testamentsvollstreckung, eine Enterbung, eine familienrechtliche Anordnung oder ein Vermächtnis, welches lediglich einen Miterben beschwert, bei einer Anfechtung nach § 2079 BGB vernichtet werden, obwohl diese Verfügungen mit dem Übergehen des Pflichtteilsberechtigten nichts zu schaffen haben brauchen. Die Entscheidung über die Unwirksamkeit derartiger Verfügungen ist dem Erblasser überantwortet, der ja hinsichtlich dieser Verfügungen auch zumeist wegen § 2270 III BGB testamentarisch durchweg nicht gebunden sein wird. Eine Einschränkung des Umfangs der Anfechtungswirkung ist deshalb erforderlich. Einschränkungen der Anfechtungswirkung sind denn auch vorgeschlagen worden. Einige – zweite Meinung – sehen das Testament des Überlebenden nur insoweit als nichtig an, als der übergangene Pflichtteilsberechtigte von seinem gesetzlichen Erbrecht ausgeschlossen sei99. Stellen in der Literatur – dritte Ansicht – stimmen dem für die Anfechtung nach dem zweiten Todesfall zu und votieren für die volle Nichtigkeit nur für den Fall der Selbstanfechtung durch den Überlebenden100. Andere – vierte Ansicht – nehmen an, Erbeinsetzungen und Vermächtnisse seien soweit nichtig, wie sie das Erbrecht des Pflichtteilsberechtigten schmälern, welches sich bei völliger Vernichtung des Testaments ergäbe, es sei denn, der Erblasser habe die Beeinträchtigung der Pflichtteilsberechtigten in Kauf genommen101. Schließlich wird – fünfte Ansicht – eine Orientierung an dem hypothetischen Erlasserwillen vorgeschlagen102. Die einzelnen Vorschläge sind zumindest bei der Anfechtung durch den Pflichtteilsberechtigten durchaus praktisch relevant. Dies zeigt der Fall, daß die kinderlosen Ehegatten der ersten Ehe sich gegenseitig als Alleinerben und die Pflegemutter des erstverstorbenen Gatten zur alleinigen Schlußerbin eingesetzt haben. Die Einsetzung der Pflegemutter steht hier im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zur Einsetzung des Überlebenden durch den erstverstorbenen Teil, § 2270 II BGB. Wird das Testament des Längstlebenden später von dem zweiten Gatten nach § 2079 BGB angefochten oder ficht 99 OLG Köln, NJW 1956, 1522; LG Darmstadt, NJW-RR 1988, 262; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 309; Jung, AcP 194 (1994), 42 (77 ff.); wohl auch Staud-Otte, § 2079 Rn. 12 ff., der sich aber zum Fall der Selbstanfechtung beim gemeinschaftlichen Testament nicht explizit verhält. 100 So MünchKomm-Leipold, § 2079 Rn. 19 f.; für den Erbvertrag ebenso MünchKomm-Musielak, § 2281 Rn. 18. 101 So Soergel-Loritz, § 2079 Rn. 9. Loritz bildet als Beispiel für die Ausnahme den Fall, daß der Erblasser seiner Haushälterin ein Bild als Andenken vermacht hat. Hier sei davon auszugehen, daß generell alle (auch die noch nicht bekannten oder die neuen) Pflichtteilsberechtigten hinsichtlich des Bilddes zurückgesetzt sein sollten. 102 So bei Brox, Erbrecht, Rn. 238; wohl auch Staud-Kanzleiter, § 2281 Rn. 36.
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der Überlebende selbst an, kommt aber nicht mehr dazu, neu zu testieren, wäre nach der h. M. die Erbeinsetzung in vollem Umfang nichtig, so daß gesetzliche Erbfolge eintreten würde (Erbquote zu zugunsten des neuen Gatten; die Pflegemutter ginge leer aus). Nach der zweiten Ansicht bliebe die Einsetzung der Pflegemutter zumindest zur Hälfte des Nachlasses unberührt, da hinsichtlich der anderen Hälfte die Erbfolge des Pflichtteilsberechtigten in Höhe seines gesetzlichen Erbrechts eintritt. Die Vertreter der dritten Ansicht votieren ebenso für den Fall der Anfechtung durch den neuen Ehegatten, lassen aber bei der Selbstanfechtung die Einsetzung der Pflegemutter (wie die Vertreter der h. M.) entfallen und votieren vollens für gesetzliche Erbfolge. Die vierte Ansicht führt hier ebenfalls zur gesetzlichen Erbfolge des neuen Gatten zu und belassen die andere Hälfte des Nachlasses der Pflegemutter. Die fünfte Ansicht bleibt eher im Unklaren, wenn sich nicht mehr gem. § 2079 S. 2 BGB aufklären läßt, wie der Erblasser bei Kenntnis der Umstände entschieden hätte. Das Beispiel zeigt, daß bei der zweiten und vierten Ansicht der Erblasser trotz der Anfechtung nach § 2079 BGB weiterhin an die korrespektive Bedenkung der Pflegemutter gebunden wäre. Dies gibt einen Hinweis, wie richtigerweise zu entscheiden ist. Nach dem Sinn und Zweck der Anfechtung nach § 2079 BGB soll dem Erblasser die Möglichkeit eröffnet werden, seine letztwilligen Verfügungen mit Blick auf den neuen Pflichtteilsberechtigten neu zu überdenken103. Von diesem Überdenken können auch nicht nur gesetzliche Erbrechte, sondern auch Verfügungen zugunsten Dritter betroffen sein. Wäre er hier weiterhin an seine korrespektiven Verfügungen gebunden, wäre dies unter personfunktionaler Betrachtung des gewillkürten Erbrechts nicht einsichtig. Der Erstverstorbene ist durch § 2270 I BGB hinreichend geschützt104. Dies gilt um so mehr, als der Überlebende den neuen Ehegatten hinsichtlich eines Viertels seines Eigenvermögens (bei Vorabzug des vom ersten Gatten letztwillig Erworbenen) sowieso von Todes wegen bedenken kann, ohne gegen seine testamentarische Bedenkung ansonsten zu verstoßen105. Das Ergebnis lautet mithin: Erbeinsetzungen, Vermächtnisse und Auflagen werden grundsätzlich von der Anfechtungswirkung bei einer Anfechtung nach § 2079 BGB erfaßt. Bei sonstigen Anordnungen ist die Nichtigkeitsfolge schon deshalb nicht veranlaßt, weil hier keine Bindung nach § 2271 II BGB eintreten kann (§ 2270 III BGB) und der Erblasser daher nicht geschützt werden muß. Würde anders entschieden, würden auch solche Anordnungen von Todes wegen aufgrund der Anfechtung nichtig sein, die der Erblasser hat aufrechterhalten wollen und deshalb nicht geändert hat, obwohl er dies mangels Bindungswirkung (§ 2270 III BGB) hätte 103 104 105
Dazu siehe nur Soergel-Loritz, § 2079 Rn. 1. Dazu oben § 4 II 3 c und 3, § 5 III 2 b, § 6 I 2. Siehe § 11 III 2.
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tun können. Die Nichtigkeitsfolge greift schließlich auch für den Fall der Anfechtung durch den Pflichtteilsberechtigten nicht. Es ist nicht ersichtlich, wieso hier der Anfechtungsberechtigte nicht nach § 2078 II BGB vorgehen und konkret darlegen und beweisen soll, daß der Erblasser tatsächlich die Verfügungen nicht für den Fall getroffen habe, daß unvorhergesehen ein Pflichtteilsberechtigter auftritt. b) Die Wirkungen hinsichtlich der korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen Verfügungen des erstverstorbenen Teils, welche mit der angefochtenen Verfügung im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit stehen, werden gem. § 2270 I BGB grundsätzlich im vollen Umfang nichtig. Rückwirkend auf den ersten Todesfall wird damit in der Regel gesetzliche Erbfolge eintreten106, falls nicht der Erstverstorbene für den Fall der Unwirksamkeit seiner korrespektiven Verfügungen durch ein auf diesen Fall bedingtes einseitiges Testament Vorsorge getroffen hat107. Gesetzliche Erbfolge wird gleichfalls vermieden, wenn ein wegen der wechselbezüglichen Verfügungen unwirksames späteres Testament aufgrund ihrer Nichtigkeit nach § 2270 I BGB wirksam wird108; die testamentarische Bindungswirkung erfaßt ja nicht die Testierfähigkeit des gebundenen Teils, sondern nur dessen Testierfreiheit, so daß eine der wechselbezüglichen Verfügung widersprechende einseitige Verfügung nicht nichtig, sondern nur unwirksam ist109. § 2270 I BGB statuiert selbst eine Auslegungsregel. Läßt sich ausnahmsweise feststellen, daß der Erstverstorbene seine Verfügungen auch bei Kenntnis der sich aus der Anfechtung ergebenden Unwirksamkeit der Verfügungen des anderen Teils getroffen haben würde, ist insoweit die Wechselbezüglichkeit zu verneinen; die Verfügungen des Erstverstorbenen behalten in diesem Falle ihre Wirksamkeit110. Der überlebende Teil wird in Höhe eines Viertels seines Eigenvermögens unter Vorabzug des vom Erstverstorbenen letztwillig Erworbenen von seiner testamentarischen Bindung frei, falls er sich wiederverheiratet und mit seinem neuen Gatten gemein106 MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 43; Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 34; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 73; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 515 f. 107 Siehe zur Selbstverantwortung eines jeden Ehegatten, für den Fall des § 2270 I BGB Vorsorge zu treffen, oben § 4 II 3 c. 108 RGZ 65, 275; 130, 213 (214); MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 43; RGRK-Johanssen, § 2271 Rn. 51; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 76; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 1, 515 f. 109 Siehe nur Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 31. 110 OLG Hamm, NJW 1972, 1088 (1089); Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2271 Rn. 61; MünchKomm-Musielak, § 2271 Rn. 44; Palandt-Edenhofer, § 2271 Rn. 34; RGRK-Johannsen, § 2271 Rn. 50; Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 39.
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 283
schaftlich testiert111. In Höhe dieser Quote fand im Zweifel schon keine Wechselbezüglichkeit der Gattenverfügungen statt. Im Ergebnis wird deshalb die gesetzliche Erbfolge regelmäßig nur für ein Dreiviertel des Nachlasses des vorverstorbenen ersten Gatten eintreten.
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln I. Problemstellung 1. Kautelarjurisprudentielles Regelungsangebot
Die Wiederverheiratung des überlebenden Teils führt – wie gezeigt wurde112 – auf der Ebene der Wiedergewinnung seiner Testierfreiheit zu schwierigen Rechtsproblemen, wenn für den Wiederverheiratungsfall nicht eigens testamentarisch Vorsorge getroffen worden ist. Dem Erstverstorbenen kann daher daran gelegen sein, für den Fall der Wiederverheiratung besondere Vorkehrungen hinsichtlich des Schicksals seines eigenen Vermögens zu treffen. In Ehegattenerbverträgen oder -testamenten113 ist dies häufig der Fall. Das Abfließen des Vermögens an die Angehörigen der neuen Familie vor allem durch Rechtsgeschäfte unter Lebenden oder durch ein Hinzutreten neuer Pflichtteilsberechtigter soll verhindert und zugleich den Endbedachten des Erstverstorbenen, also regelmäßig den gemeinsamen Abkömmlingen aus erster Ehe, ihr Anteil am Erbe gesichert werden114. Ähnliche Problemlagen ergeben sich – ausgenommen die Pflichtteilsberechtigungen – bei der Eingehung einer nichtehelichen Partnerschaft. Die kautelarjurisprudentiell gebräuchlichen Klauseln reichen vom Verlust des Erbrechts des sich wiederverheiratenden Ehegatten zugunsten der Abkömmlinge aus der Ehe mit dem Erstverstorbenen, über die Anordnung der Nacherbfolge durch die als Schlußerben vorgesehenen Abkömmlinge und dem Gebot der Auseinandersetzung nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge, bis zur Aussetzung von 111
Siehe § 11 III 2 b. Dazu oben § 11. 113 Gemeinschaftliche Testamente und Erbverträge müssen dabei im Hinblick auf die zu vergegenwärtigenden dogmatische Probleme nicht einer je eigenständigen Betrachtung unterzogen werden, so auch Buchholz, Erbfolge, 13 f.; vgl. auch Battes, Gemeinschaftliches Testament, 19 ff. 114 Vgl. zum Schutzzweck der gebräuchlichen Wiederverheiratungsklauseln nur MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 45; Palandt-Edenhofer, § 2269 Rn. 16; Lange/ Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3 a; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 2, 918; Kipp/Coing, Erbrecht, § 79 IV 1; Leipold, Erbrecht, Rn. 356; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 237; Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 607; Zawar, NJW 1988, 16; Dippel, AcP 177 (1977), 349 (351 f.); Haegel, RPfleger 1976, 73 f.; Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (436). 112
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auf den Wiederverheiratungsfall bedingten Vermächtnissen in Gestalt von Geld- oder Herausgabevermächtnissen zugunsten der Endbedachten des gemeinschaftlichen Testaments der ersten Ehe115. Die gewählten Gestaltungen werden dabei in die jeweils ausersehene dogmatische Grundform der Ehegattenverfügung – also in die Trennungs- und die Einheitslösung116 – eingebunden. Wollen die Ehegatten vor allem die Interessen der Endbedachten gewahrt sehen und wählen daher die Trennungslösung – also Vor- und Nacherbschaft –, so wird regelmäßig als das den Nacherbfall auslösende Ereignis die Wiederverheiratung oder die Aufnahme einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft festgesetzt. Im einzelnen unterscheiden sich die je gewählten Lösungen zwar von Fall zu Fall117. Größere Probleme hinsichtlich der dogmatischen Grundlegung entstehen hier jedoch nicht118. Besondere Probleme werfen Wiederverheiratungsklauseln jedoch auf, wenn die Interessen des Überlebenden im Vordergrund stehen und deshalb die Ehegatten die Einheitslösung gem. § 2269 BGB gewählt und sich gegenseitig zu Vollerben eingesetzt haben und zudem präzise weitere Angaben in der letztwilligen Verfügung fehlen. Hier liegen bewußt ehegattenbegünstigende Anordnungen vor; Wiederverheiratungsklauseln stellen dann ein Korrektiv dar, welches die Zweitehe als unvorhersehbares lebensgeschichtliches Ereignis erb- und kautelarrechtlich kalkulierbar machen soll119. Im Fall der Wiederverheiratung entfällt oftmals das Versorgungsinteresse des Überlebenden und das Motiv wechselseitiger Ehegattenbegünstigung schlägt für den Erstverstorbenen in einen je nach Gestaltung abgestuften erbrechtlichen Vorrang der gemeinsamen Abkömmlinge um, damit ein Abfließen wesentlicher Vermögensteile aus dem Nachlaß des Erstversterbenden an Familienfremde vermieden wird120. Vor dem Hintergrund dieses 115 Vgl. nur Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3 a; Dippel, AcP 177 (1977), 349 (352); Buchholz, Erbfolge, 18; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 237; MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 48 ff.; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 39 f.; Haegele, JurBüro 1968, Sp. 87 (Sp. 88 ff.); ders., RPfleger 1976, 73 (74); Jünemann, ZEV 2000, 81 (81 f.); Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (273 f.); Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 54 f.; Strötz, Wiederverheiratungsklausel, 5 ff. Vgl. zu einzelnen Kautelen auch Buchholz, ebda., 19 ff. 116 Zu diesen oben § 7 II 2 c. 117 Vgl. nur Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3 a; Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 608; Radke, Darstellung, 62 f. 118 Leipold, Erbrecht, Rn. 357; Palandt-Edenhofer, § 2269 Rn. 21; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3 b; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 238; Dittmann/Reimann/ Bengel-Bengel, § 2269 Rn. 40; Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 607; Dippel, AcP 177 (1977), 349 (358 f.); Buchholz, Erbfolge, 16, 18 f. 119 Buchholz, Erbfolge, 16. 120 Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (435 f.); Buchholz, Erbfolge, 16; Otte, AcP 187 (1987), 603; Dippel, AcP 177 (1977), 349 (360, 369); Haegele, JurBüro 1968, Sp. 87; ders., RPfleger 1976, 73 f.
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Motivwandels sehen die gebräuchlichen Klauseln deshalb in der Regel vor, daß der überlebende Ehegatte bei einer Eheschließung den Nachlaß des Erstverstorbenen an die gemeinsamen Kinder herauszugeben, sich mit ihnen nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge auseinanderzusetzen oder ein Vermächtnis auszukehren habe121. Die Regelungsziele der Hauptverfügung (Einheitslösung) und der ergänzenden Anordnung (Wiederverheiratungsklausel) stehen folglich naturgemäß in einem gewissen Gegensatz: hier Hervorhebung der Interessen des Überlebenden, dort dessen Hintanstellen und Betonung der Interessen der Abkömmlinge der ersten Ehe. 2. Dogmatische Problemstellungen
Es ist mit Blick auf den gerade festgestellten Gegensatz nicht verwunderlich, daß die dogmatischen Problemlagen und die konstruktiven Schwierigkeiten zunehmen, je stärker sich die Hauptverfügung der reinen Einheitslösung nähert122. Die Hauptschwierigkeiten einer Kombination von Vollerbeneigenschaft des überlebenden Ehegatten und einer Wiederverheiratungsklausel liegen darin, daß die Erbeinsetzung des überlebenden Gatten selber in ihrem Charakter von den ursprünglichen Intentionen des Erblassers (Ehegattenschutz durch grundsätzlich unbeschränkte Vollerbenstellung) abgelöst wird. Bei der Einheitslösung steht die Eigenwertigkeit, Individualisierung und soziale Autonomie der Gattenbeziehung im Vordergrund und nicht nur eine Form letztwilliger Vermögensverteilung, sondern vor allem das vermögensrechtliche Abbild einer affektiv vorgeprägten Stufenfolge der Familienbeziehung in der Generationenfolge zur Rede123. Die hier zum Ausdruck kommende Alterssolidarität (Versorgungsgedanke) vor dem Hintergrund einer gemeinschaftlichen Lebensleistung verträgt sich kaum mit konkurrierenden Nachlaßinteressen, die dem lebzeitigen oder erbrechtlichen Verfügungsinteresse des Überlebenden – wie bei der Wiederverheiratungsklausel – entgegengesetzt werden124. Diesen Konflikt zwischen dem Überlebenden und konkurrierenden Nachlaßinteressen gilt es auszubalancieren. Für dem Fall, daß mit Eintritt eines bestimmten Zeitpunktes oder Ereignisses der Erstbedachte sein Erbrecht verlieren soll und den Nachlaß an einen anderen herauszugeben hat, stellt das Gesetz diese Balance her, indem es 121 Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3 a; Palandt-Edenhofer, § 2269 Rn. 16; Dippel, AcP 177 (1977), 349 (352); Buchholz, Erbfolge, 18; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 237; MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 48 ff.; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 39 f.; Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 54 f.; Haegele, JurBüro 1968, Sp. 87 (Sp. 88 ff.); ders., RPfleger 1976, 73 (74); Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (273 f.). 122 Buchholz, Erbfolge, 17. 123 Buchholz, Erbfolge, 32 f. 124 Vgl. auch Buchholz, Erbfolge, 36.
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von Gesetzes wegen kraft erbrechtlicher Typenbildung eine Vor- und Nacherbfolge und damit einen Wechsel in der Erbeneigenschaft des Überlebenden anordnet, der vom Voll- zum bloßen Vorerben wird, § 2103 BGB. Nichts anderes gilt für eine Wiederverheiratungsklausel, bei der für den Fall der Wiederverheiratung eine Auseinandersetzung nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge angeordnet wird. Das ungewisse Ereignis der Wiederverheiratung wird bei der Wiederverheiratung also auch im Falle der Einheitslösung über das Bedingungsrecht in die Gestaltung eingebunden: Die Erbeinsetzung des überlebenden Ehegatten kann auflösend (§§ 158 II, 2075 BGB) bedingt für den Fall der Wiederverheiratung oder aufschiebend bedingt (§§ 158 I, 2074 BGB) für den Fall der Nichtwiederverheiratung gestaltet werden. Das konstruktive Gegenstück zur Vermeidung einer subjektlosen Erbschaft125, also die komplementäre Rechtsstellung desjenigen, der bei Bedingungseintritt oder -ausfall Erbe sein soll, liegt dann in der Anordnung einer aufschiebend oder auflösend bedingten Nacherbschaft nach dem Erstverstorbenen zugunsten der Abkömmlinge der ersten Ehe und damit verbunden126 die bedingte Vorerbenberufung des je überlebenden Ehegatten127. Zwangsläufig tritt beim Erstberufenen nach der noch näher zu besprechenden Lösung der h. M. eine Verdoppelung der Rechtsstellung ein: er wird zum Vollerben und zum Vorerben, je durch eine Bedingungskonstruktion mit dem Ereignis der Wiederverheiratung verknüpft128. Die Nacherbfolge ist dann – und nach herrschender Meinung zumeist aufschiebend – bedingt; der überlebende Ehegatte ist nach der unten noch näher skizzierten h. M. auflösend bedingter Vollerbe und aufschiebend bedingter Vorerbe. Dieses dogmatische Gerüst einer Verbindung von Einheitslösung und Wiederverheiratungsklausel aus Vollerbschaft, Bedingungslehre und Vor- und Nacherbschaft129 hat zu zahlreichen dogmatischen Streitfragen geführt, die von der Erörterung des Verhältnisses der Testierfreiheit zum Nacherbenschutz über die Frage, ob bei einer Wiederverheiratungsklausel im Falle der Wiederverheiratung der Überlebende automatisch auch ohne ausdrückliche Anordnung seine Testierfreiheit wiedererlangt, bis hin zum Verhältnis von Eheschließungsfreiheit und der über eine Zölibatsklausel gesteuerten Vermögensfürsorge für die Abkömmlinge von kalter Hand, und hier insbesondere zur Frage nach der Zulässigkeit erbrechtlicher Potestativbedingungen, reichen. 125 Dazu Raape, AcP 140 (1935), 233 (237); MünchKomm-Leipold, § 1942 Rn. 2. 126 Nacherben ohne Vorerben sind bekanntlich gesetzlich nicht vorgesehen, vgl. Asbeck, MDR 1959, 897; Buchholz, Erbfolge, 23. 127 Buchholz, Erbfolge, 22 f. 128 Buchholz, Erbfolge, 23; vgl. auch die Nachw unten Fn. 137 bis Fn. 139. 129 Buchholz, Erbfolge, 23.
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Die Schwierigkeiten, die mit der in der Wiederverheiratungsklausel verborgenen Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit des überlebenden Teils verborgen sein können, werden erst im Zusammenhang mit der Sittenwidrigkeit letztwilliger Verfügungen diskutiert130. Im Vordergrund der folgenden Ausführungen stehen vielmehr folgende mit der Wiederverheiratungsklauseln verbundenen Rechtsfragen: Einmal ist wichtig, welche Rechte der Überlebende bis zum Wiederverheiratungsfall hat. Schwierig ist hier aus den schon genannten Gründen131 vor allem ein gemeinschaftliches Testament, welches nach dem Vorbild der Einheitslösung errichtet worden ist. Auf diese Lösung wird deshalb unter § 12 II ein besonderes Augenmerk gelegt. Sodann muß geklärt werden, wie es um die Rechtslage nach der Wiederverheiratung bestellt ist und welche Einbußen hier der überlebende Teil zu vergegenwärtigen hat (dazu § 12 III). Bei den folgenden Erörterungen darf nicht aus den Augen verloren werden, daß die dogmatischen Wertungsprobleme, welche Wiederverheiratungsklauseln aufwerfen, oftmals in konstruktive Schwierigkeiten eingekleidet sind. Es wird sich zeigen lassen, daß bei aller Konstruktion die Wertungsfragen überwiegen und gerade den scheinbar so einfach zu handhabenden Wiederverheiratungsklauseln ihr ganz eigenes Gepräge geben. II. Die Situation vor der Wiederverheiratung bei der Einheitslösung: Die Konkurrenz zwischen der lebzeitigen Rechtmacht des Überlebenden und dem Schutz der Nacherben 1. Die dogmatische Konstruktion hinter einer Wiederverheiratungsklausel
Materiell steht hinter der Frage nach der dogmatischen Konstruktion der Wiederverheiratungsklausel das Problem zur Rede, welche Rechtsmacht dem Überlebenden über die Erbschaft bis zur Wiederheirat zugestanden werden soll132. Wie schon gesagt, wird überwiegend – dem Kammergericht gebührt hier die Vorreiterrolle133 – aus einer Wiederverheiratungsklausel in einem Testament mit Einheitslösung der Schluß gezogen, daß die Vollerbschaft des Überlebenden sowie die Vor- und Nacherbschaft nur bedingt angeordnet sei. Zugleich trete mit der Wiederheirat der Nacherbfall ein. Hieraus ergeben sich bei der Einheitslösung gewichtige Probleme. Wenn für den Wiederverheiratungsfall beispielsweise vorgesehen ist, daß der überlebende Ehegatte sich mit den Abkömmlingen nach den Regeln der gesetzlichen 130
Siehe unten § 15 II. Oben § 12 I 1. 132 So auch Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3 c aE. 133 KG, JW 1937, 2520; KGJ 33 Abt. A 176 (177); 40 Abt. A 174 (175); 42 Abt. A 109 (114); KG, DNotZ 1943, 137; FamRZ 1972, 96 (97 f.). 131
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Erbfolge auseinandersetzen soll, entsteht Vorerbschaft hinsichtlich des bei Wiederverheiratung den Abkömmlingen zufallenden Teils und Vollerbschaft hinsichtlich des Rests134, regelmäßig also für die Hälfte des Nachlasses nach dem Erstverstorbenen, §§ 1371, 1931 BGB. Der Überlebende kann hier der Höhe seiner Vollerbquote entsprechend Nachlaßgegenstände aus dem mit der Teilnacherbschaft beschwerten Nachlaß herauslösen, indem die Nacherben gem. § 2120 BGB verpflichtet sind, in die gegenständliche Teilung einzuwilligen135. Das genaue Verhältnis von Voll-, Vor- und Nacherbschaft im übrigen ist hingegen umstritten: In der ersten – herrschenden – Variante wäre der Überlebende bis zu seiner eventuellen Wiederheirat auflösend bedingter Vollerbe und zugleich aufschiebend bedingter Vorerbe, da er mit seiner Wiederheirat die Rechtsstellung des Vollerben verliert und gleichzeitig durch Eintritt der Nacherbfolge der Nachlaß ganz oder teilweise136 auf Dritte übergeht. Der Nacherbe ist dann unter der aufschiebenden Bedingung eingesetzt, daß der Überlebende wieder heiratet137. Andere wollen – zweite Variante – umgekehrt auflösend bedingte Vor- und Nacherbschaft und auf134 BayObLGZ 1961, 200 (205); BayObLG FamRZ 1967, 695 (696); KG JW 1937, 2520 (2521); KG JFG 13, 155 (156 f.); KG KGJ 40 Abt. a, 174 (175); KG FamRZ 1968, 331 (332); 1972, 323 (324); Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 119; Haegele, RPfleger 1976, 73 (76 f.). Vgl. allg. zur Zulässigkeit der Nacherbfolge in einen Bruchteil BGH RPfleger 1980, 95; BayObLGZ 1958, 109; 1961, 205; KG OLGZ 39, 17; Soergel-Harder, § 2100 Rn. 5; MünchKomm-Grunsky, § 2100 Rn. 16; Palandt-Edenhofer, § 2100 Rn. 5; Asbeck, MDR 1959, 897 (899). Vorerbschaft bzgl. des gesamten Nachlasses und Mitnacherbschaft in Höhe des gesetzlichen Erbteils nehmen hingegen an v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 2, 920; Thielmann, Sittenwidrige Verfügungen, 258. 135 BGHZ 26, 378; BayObLGZ 1958, 109; Staud-Behrends/Avenarius, § 2120 Rn. 6; Soergel-Harder, § 2120 Rn. 5; Palandt-Edenhofer, § 2120 Rn. 2; kritisch zur Begründung Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (447); einschränkend Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 129 ff. 136 Ein teilweiser Übergang etwa liegt vor, wenn für den Fall der Wiederverheiratung eine Auseinandersetzung nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge angeordnet ist. 137 So die herrschende Ansicht, die mangels näherer präziser Angaben im Testament zu einer derartigen typisierenden Testamentsauslegung greift. Vgl. nur RGZ 156, 172 (180 f.); BGHZ 96, 198 = DNotZ 1986, 541 (mit abl. Anm. Zawar) = JR 1986, 155 (mit zust. Anm. Bökelmann) = JuS 1986, 565 (mit Anm. Hohloch); BGH FamRZ 1961, 275 (276); BayObLGZ 1961, 200 (205); BayObLG FamRZ 1967, 695 (696); OLG Hamm, DNotZ 1972, 96 (97); OLG MÜnchen, HRR 1937 Nr. 563. Aus dem Schrifttum vgl. nur Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (146 f.) (aufschiebend bedingte Vor- und Nacherbschaft); Haegele, RPfleger 1976, 73 (75); Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (274); Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (439); Buchholz, Erbfolge, 55 ff.; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 41; Staud-Behrends/Avenarius, § 2100 Rn. 27; Jauernig-Stürner, § 2269 Anm. 6 a; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2269 Rn. 41; Palandt-Edenhofer, § 2269 Rn. 17; RGRK-Johannsen, § 2269 Rn. 19;
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schiebend bedingte Vollerbschaft annehmen138. In einer dritten Variante wird schließlich darauf abgestellt, daß je nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Erblasserwillen entweder der eine oder der andere Weg in Betracht kommt139. Andere wiederum lehnen derartige Bedingungskonstruktionen ab und rekurrieren ausschließlich auf unbedingte Vor- und Nacherbfolge140. Für die lebzeitige Rechtsmacht des Überlebenden entscheidend ist, daß ganz überwiegend – jenseits aller konstruktiver Erwägungen – die §§ 2113 ff. auch für den nur bedingten Vorerben gelten sollen. Überwiegend141 wird hierzu bei Fehlen entgegenstehender Umstände die Auslegungsregel142 aufgestellt, es läge befreite Vorerbschaft vor. Dabei wird entweder von einer vollständigen Befreiung ausgegangen; begründet wird dies durch das in der Einheitslösung generell zum Ausdruck kommenden gegenseitigen Vertrauen der Eheleute in die Wirtschaftsführung des Überlebenden143. Oder das Maß der Befreiung wird von dem Maß des gegenseitig gewährten Vertrauens abhängig gemacht144. Wie dem auch im einzelnen sei, aus der Anordnung der Vorerbschaft folgt, daß der ursprüngliche Ordnungsplan der Gatten, den überlebenden Teil durch eine weitreichende eiKipp/Coing, Erbrecht, § 79 IV 1; Brox, Erbrecht, Rn. 189; Schlüter, Erbrecht, § 26 VI 3; Strötz, Wiederverheiratungsklausel, 65 ff. 138 Thielmann, Sittenwidrige Verfügungen, 258 f.; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 2, 918 ff. (wobei die aufschiebend bedingte Vollerbschaft nicht ausdrücklich erwähnt wird). 139 Soergel-Manfred Wolf, § 2269 Rn. 26; MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 55; Leipold, Erbrecht, Rn. 358; Forster, Wiederverheiratungsklausel, 97 ff., 112, 120 f.; Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (145 ff.); Hilgers, MittRhNotK 1962, 381 (388 f.); Ripfel, RPfleger 1951, 578. 140 So mit Unterschieden im einzelnen Wilhelm, NJW 1990, 2857 (2860 f.); Zawar, NJW 1988, 16 (18); ders., DNotZ 1986, 544 (545 f.); Asbeck, MDR 1959, 897 (898); Jünemann, ZEV 2000, 81 (82 ff.); Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3 c.; Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 609; Otte, AcP 187 (1987), 603 (605). 141 Gegen eine typisierende Auslegung OLG Stuttgart, JFG 6 (1929), 162 ff.; LG Mannheim, MDR 1960, 497. Siehe auch KG JW 1936, 395 (396). 142 BayObLGZ 1966, 227 (233). 143 So die ganz überwiegende Ansicht RGZ 156, 172 ff.; BGH FamRZ 1961, 275 (276); BayOlGZ 1961, 200 (204); 1966, 227; KGJ 42, Abtl. A, 109 (114 f.); KG Recht 1930, Nr. 322; KG JW 1936, 395; KG JW 1938, 2748; OLG Hamm, DNotz 1972, 96 (97); Kipp/Coing, Erbrecht, § 79 IV 1; Leipold, Erbrecht, Rn. 358; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 239; Schlüter, Erbrecht, § 62 VI 3; RGRK-Johannes, § 2269 Rn. 19; Palandt-Edenhofer, § 2269 Rn. 18; Erman-Schmidt, § 2269 Rn. 12; Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (274); Zawar, NJW 1988, 16 (18); Ripfel, RPfleger 1951, 578 (579 f.); Hilgers, MittRhNotK 1962, 381 (390); Weihe, DNotZ 1939, 9 (11 f.); Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (441 ff.); Dippel, AcP 1987, 349 (361); Haegele, RPfleger 1976, 73 (76). Offengelassen in BGHZ 96, 198 (204 f.). 144 So BGH FamRZ 1961, 275 (277); Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 44.
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
genbestimmte Vermögensherrschaft stark zu schützen, durch eine Vorerbenstellung des Überlebenden mit der Geltung der §§ 2111 ff., 2136 BGB und hier vor allem des § 2113 II BGB konterkarriert wird. Der Grund hierfür wird zumeist in der Schutzwürdigkeit des bedingten Nacherben gefunden, die im erbrechtlichen Typenzwang der Vor- und Nacherbfolge mit ihren gesetzlichen Beschränkungen der §§ 2100 ff. BGB ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden habe145. Die Testierfreiheit wird hier somit einem Drittschutz im Form einer wertmäßigen Nachlaßerhaltungspflicht nachgeordnet. Die nunmehr interessierende Frage ist daher die, inwieweit der erstverstorbene Erblasser den skizzierten Ordnungsplan durchsetzen kann, wenn dieser vor dem Hintergrund einer gewachsenen Alterssolidarität primär an einer unbeschränkten Herrschaft des Überlebenden vor der Wiederverheiratung orientiert ist. 2. Testierfreiheit und Nacherbenschutz im Kontext der erbrechtlichen Typenordnung: Formalbegründungen aus dem Bedingungsrecht
Ein derartiger Ordnungsplan einer primär unbeschränkten Herrschaft des Überlebenden vor der Wiederheirat setzt voraus, daß die §§ 2113 ff. BGB im Fall der Einheitslösung mit Wiederverheiratungsklausel so weitgehend wie erforderlich und gesetzlich zulässig nicht angewendet werden. Hierzu gilt es zu differenzieren: Wenn der Erblasser den Überlebenden als durch die Wiederheirat auflösend bedingten Vorerben und aufschiebend bedingten Vollerben eingesetzt hat, gelten die §§ 2113 ff. BGB von vornherein ex lege unmittelbar146. Bei unterbliebener Wiederheirat – also eine juristische Sekunde vor dem Tod des Zweitversterbenden – endigt die Vorerbschaft und der Überlebende wird zum Vollerben mit der Folge, daß alle zunächst gegen die §§ 2113 ff. BGB verstoßenden Verfügungen und Vollstreckungsmaßnahmen analog § 185 II BGB mit Wirkung ex nunc147 wirksam werden148. Sehr viel problematischer ist die Situation, wenn die Wiederverheiratung in der Weise mit der Erbeinsetzung verknüpft wird, daß der Überlebende als auflösend durch die Wiederheirat bedingter Vollerbe und aufschiebend bedingter Vorerbe, der Endbedachte entsprechend als aufschiebend beding145
Vgl. nur Zawar, NJW 1988, 16 (19); Stürner, JZ 1983, 148 (149); Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 533; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 42. 146 Vgl. nur MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 52 f.; Soergel-M.Wolf, § 2269 Rn. 26; ders., FS v. Lübtow, 325 (326); Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (147). 147 Dazu vgl. BGH WM 1978, 1406; Wolf, FS v. Lübtow, 325 (326). 148 Vgl. nur MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 53; Wolf, FS v. Lübtow, 325 (326).
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ter Nacherbe eingesetzt wird. Die herrschende Ansicht wendet auch auf diesen Fall – entgegen einiger Stimmen im Schriftum149 – die §§ 2113 ff. BGB an150, was schon aus formalen Gründen in einem erhöhtem Maße begründungsbedürftig ist: Die Vorwirkungen einer bedingten Rechtsstellung werden allein durch die §§ 158, 161 BGB geregelt – und zuerst einmal nicht durch die §§ 2113 ff. BGB, welche erst bei Eintritt der Bedingung eingreifen151. Lebzeitige Verfügungen des Vollerben über einzelne Nachlaßgegenstände hindern ja nicht den Eintritt des aufschiebend bedingten Nacherben in die Erbenstellung. § 161 II BGB greift hier nicht: Der Nacherbe wird Erbe, selbst wenn kein Nachlaßvermögen mehr vorhanden ist; und die Erbenstellung wird durch letztwillige Verfügungen des Erblassers und nicht durch lebzeitige Verfügungen des Voll- und Vorerben bestimmt152. Formal könnte eine direkte Geltung der §§ 2113 ff. BGB demnach allein dadurch begründet werden, daß die Zulässigkeit einer aufschiebend bedingten Vor- und Nacherbschaft bestritten und darauf verwiesen wird, es könne allenfalls eine auflösend bedingte Nacherbschaft und eine aufschiebend bedingte Vorerbschaft geben: Nacherbschaft sei per definitionem aufschiebend bedingte oder befristete, Vorerbschaft auflösend bedingte oder befristete Erbeinsetzung153. Weitere Bedingungen würden nur die Bedingung für die Erbeinsetzung anreichern, so daß die Rede von einem aufschiebend bedingten Nacherben letztlich irreführend und pleonastisch sei154. Bei einer Wiederverheiratungsklausel bei Verfügungen mit Einheitslösung läge demnach eine unbedingte Nacherbschaft vor, zu deren Schutz die §§ 2113 ff. dann automatisch gelten würden. Der Anordnung einer aufschiebend bedingten Vorerbschaft wird also vorgeworfen, sie sei pleonastisch. Eine derartige Argumentation ist aus vielerlei Gründen angreifbar155. Gewichtiger ist jedoch, 149 Die §§ 2113 ff. wollen ausschließen je für den Fall, daß dies dem Willen der Ehegatten entspricht, Buchholz, Erbfolge, 55; Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 97 ff., 120; Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (145); MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 55; wohl auch Leipold, Erbrecht, Rn. 358, der aber regelmäßig eine auflösend bedingte Vorerbschaft annimmt. Schon früher wollten Löffers, Berliner Testament, 64, und Merkel, Gemeinschaftliches Testament, 101 f., die §§ 2113 ff. BGB hier ausschließen. 150 Vgl. nur Zawar, NJW 1988, 16 (19); Stürner, JZ 1983, 148 (149); Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 533; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 43. 151 MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 56; Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (145 f.); Wilhelm, NJW 1990, 2857 (2861 f.); Buchholz, Erbfolge, 45 ff.; Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 83 f.; zuneigend für den Fall, daß die letztwillige Verfügung als auflösend bedingter Vollerbe und aufschiebend bedingter Vorerbe aufzufassen ist auch Leipold, Erbrecht, Rn. 358. 152 Wolf, FS v. Lübtow, 325 (327). 153 So Wilhelm, NJW 1990, 2857 (2860 ff.); zustimmend Radke, Darstellung, 69. 154 Wilhelm, NJW 1990, 2857 (2862). 155 Vgl. dazu nur Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (145).
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daß mit dem Pleonasmus-Vorwurf das Wertungsproblem nicht bewältigt ist: Wenn der Schutz des überlebenden Gatten u. a. durch dessen freie Eigentümerstellung gewährleistet werden soll, stellt sich automatisch die Frage, wie sich dieser Schutz dann gegenüber den konkurrierenden, durch die §§ 2113 ff. BGB geschützten Nachlaßinteressen der Endbedachten und den Haftungsinteressen der Nachlaßgläubiger der Nacherben verhält – und nur darum geht es. Hinter dem Streit um die Geltung der §§ 2113 ff. BGB verbirgt sich somit augenscheinlich weniger ein Konstruktionsproblem des erbrechtlichen Bedingungsrechts der Vor- und Nacherbschaft, sondern vor allem ein Wertungsproblem. Wie soll dieses für den Fall bewältigt werden, daß der Überlebende als auflösend durch die Wiederheirat bedingter Vollerbe und aufschiebend bedingter Vorerbe eingesetzt ist? 3. Die Konkurrenz zwischen Ehegattenschutz und Nachlaßinteressen
a) Der Ausgangspunkt: Die Widersprüchlichkeit im gesetzlichen System Wenn die soeben vorgestellte Formalbegründung aus dem Bedingungsrecht ernst genommen wird, kann bei einer Einsetzung des überlebenden Teils als auflösend bedingter Vollerbe und aufschiebend bedingter Vorerbe von einer unmittelbaren Geltung der §§ 2113 ff. BGB nicht ausgegangen werden156, da die Bedingung noch nicht eingetreten ist und die Vorwirkungen einer bedingten Rechtsstellung unmittelbar nur in den §§ 158 ff. BGB geregelt sind157. Nach dem Regelungszusammenhang des Gesetzes soll der Nacherbe gegen lebzeitige Verfügungen über Nachlaßgegenstände zumindest durch eine wertmäßige Beteiligung (§ 2111 BGB) und durch die Verfügungsbeschränkungen des § 2113 II BGB geschützt sein. Wenn die Nacherbenstellung nun selbst wiederum bedingt ist, verschiebt sich das Schutzproblem formal in die allgemeinen Regeln des Bedingungsrechts (also in die §§ 158 ff. BGB) und läuft dort naturgemäß leer: Funktional wird der Nacherbenschutzmodus bei einer Gesamtrechtsnachfolge zwar von den §§ 2113 ff. BGB übernommen, die für die Verwaltung des Nachlasses bei Vor- und Nacherbfolge das Problem regeln, welches für die bedingte oder befristete Verfügung über einen Einzelgegenstand § 161 BGB klärt158; es wurde aber schon darauf hingewiesen, daß rein formal gesehen die 156 Insofern ist MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 56, und Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (145), zuzustimmen. 157 So auch MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 55; Leipold, Erbrecht, Rn. 369; ders., FamRZ 1988, 352 (353); Meier-Kraut, NJW 1992, 143 (145); Wilhelm, NJW 1990, 2857 (2861 f.); Buchholz, Erbfolge, 45 f.; als konsequent bezeichnet dies auch Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 533. Kritisch aber Soergel-M. Wolf, § 2269 Rn. 19; John, FamRZ 1983, 1090 (1093). 158 Insofern kann Wilhelm, NJW 1990, 2857 (2862) gefolgt werden.
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§§ 2113 ff. BGB bei einer aufschiebend bedingten Vorerbschaft nicht greifen und daher der Schutz des Nacherben weitgehend leerläuft, da ihm § 161 II BGB nicht hilft159. Ob sich gegenüber dieser Formalbegründung ein Rekurs auf die Teleologie der §§ 2113 ff. BGB oder des § 161 BGB160 und damit eine analoge Anwendung dieser Vorschriften durchsetzen kann, hängt davon ab, ob sich der gesetzliche Regelungszusammenhang in seinen Wertungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Ehegattenschutz und drittbezogenen Nachlaßinteressen (Endbedachte; Nachlaßgläubiger der Endbedachten) unter Einbezug der kautelarjurisprudentiell entwickelten doppelt bedingten Erbeneinsetzung (bedingte Vor- und Nacherbschaft) bei einer rein formalen Betrachtung als widersprüchlich erweisen würde – und damit gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstieße161. Der Gesetzgeber hat augenscheinlich dieses Wechselspiel zwischen den §§ 158 ff. BGB und §§ 2113 ff. BGB im Falle der bedingten Anordnung einer bedingten Erbenstellung, also der bedingten Nacherbschaft nicht hinreichend berücksichtigt – so daß ein Wertungswiderspruch naheliegt. Einem derartigen Wertungswiderspruch wird jedoch vor allem mit zwei Argumenten entgegengetreten. Das erste Argument rekurriert auf die Schutzwürdigkeit der Endbedachten. Vorgetragen wird, der Erblasser hätte auch ganz von einer Regelung für den Fall der Wiederheirat absehen können; hier wären die Endbedachten gar nicht geschützt162. Was ist von diesem Argument zu halten? Das Argument bindet die Schutzbedürftigkeit der Endbedachten an die Intentionen des Erblassers, was durchaus folgerichtig ist. Denn falls der Erblasser die Endbedachten völlig eines Schutzes entkleiden kann, so kann er ihnen auch nach einem bestimmten Ereignis, bsp. der Wiederverheiratung, einen gewissen Schutz gewähren, ohne indes spiegelbildlich auch zu einem Schutz vor Ereigniseintritt wertungsmäßig verpflichtet zu sein. Freilich ist dies noch lange keine überzeugende Überlegung. Die Anknüpfung an den Erblasserwillen wird nicht folgerichtig zu Ende gedacht: Es wird völlig abstrahiert von den konkreten Intentionen des Erblassers, dem im Einzelfall auch an dem Schutz gerade der Endbedachten auch vor Wiederverheiratung gelegen sein kann. Das Argument, der 159
Siehe gerade oben § 12 II 2. Soergel-Manfred Wolf, § 2269 Rn. 26; ders., FS v. Lübtow, 325 (326), und Jauernig-Stürner, § 2269 Anm. 6a, wollen die §§ 2113, 161 II ihrem Schutzzweck nach auf lebzeitige Verfügungen des Voll- und Vorerben über einzelne Nachlaßgegenstände anwenden. 161 Vgl. zu den Ausgangsbedingungen einer Analogie Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 475. Die herrschende Methodenlehre würde hier auf das Erfordernis einer planwidrigen Gesetzeslücke rekurrieren, vgl. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, 191 ff. 162 MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 55, 59; vgl. auch Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 89. 160
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Erblasser hätte auch ganz von einer Regelung für den Fall der Wiederheirat absehen können, deutet demnach eher auf die Notwendigkeit von Differenzierungen und damit auf eine Fallgruppenbildung hin. Es reicht so abstrakt, wie es bisher formuliert worden ist, zur Begründung einer wertungskonsistenten Lösung nicht hin. Neben dem ersten Argument wird als zweites eine historische Begründung bemüht: Buchholz163 verweist auf die historischen Bezüge der Vor- und Nacherbschaft. Danach sei die Anordnung der Vor- und Nacherbschaft , welche beispielsweise bei einer aufgrund einer Wiederverheiratungsklausel aufgegebenen Herausgabepflicht des Nachlasses an Dritte gesetzlich vorgesehen sei, einzig der erbrechtlichen Typenbindung geschuldet. Nach Buchholz entspricht bei einer Wiederverheiratungsklausel mit Einheitslösung dieser Typenbindung jedoch kein materialer Schutzzweck. Vielmehr könne die Typenbindung nur als eine bloß konstruktiv-formale Rechtserscheinung gedeutet werden164. Es sei daher nicht veranlaßt, zum Schutze des aufschiebend bedingten Nacherben die §§ 2113 ff. BGB analog anzuwenden165. Mit derartigen Erwägungen wird das Wertungsproblem jedoch nicht gelöst, sondern in der Charakterisierung der Typenbindung als rein konstruktiv-formal eingeschlossen – doch ob dies der Fall ist, ist gerade die Frage. b) Nacherbenschutz und Erblasserwille Das Wertungsproblem (also: wie steht es um den Nacherbenschutz?) bleibt demnach noch offen. Es kann auch nicht mit dem Gedanken bewältigt werden, die Kautelarjurisprudenz solle sich wegen der schwierigen Rechtsfragen angewöhnen, den überlebenden Ehegatte als Testamentsvollstrecker oder Generalbevollmächtigten der Nacherben einzusetzen; wegen dessen Zustimmungsmöglichkeiten zu Verfügungen166 wäre der überlebende Teil dann praktisch der Beschränkungen seiner bedingten Vorerbenstellung entledigt. Hier würden allenfalls die Nacherbenschutzvorschriften ohne innere materielle Berechtigung umgangen167; die Anordnung einer Testamentsvollstreckung kann dem Testamentsvollstrecker-Vorerben nicht mehr Befugnisse einräumen, als er schon als Vorerbe selbst hat168. Das Wertungs163
Buchholz, Erbfolge, 49 ff. Buchholz, Erbfolge, 55. 165 Buchholz, Erbfolge, 55. 166 Die eine Beeinträchtigung des Rechts der Nacherben ausschließe, vgl. RGZ 65, 129. 167 RGZ 177, 177 (178); KG JFG 11, 126; MünchKomm-Grunsky, § 2136 Rn. 5; RGRK-Johannsen, § 2136 Rn. 2; Soergel-Harder, § 2136 Rn. 1; Staud-Behrends/ Avenarius, § 2136 Rn. 12; Erman-M. Schmidt, § 2136 Rn. 1; Palandt-Edenhofer, § 2136 Rn. 1; Kipp/Coing, Erbrecht, § 67 I 9d. 168 MünchKomm-Grunsky, § 2136 Rn. 5; Soergel-Harder, § 2136 Rn. 1. 164
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problem muß daher an den §§ 2113 ff. BGB unmittelbar ansetzen: an der Frage nach ihrer analogen Anwendung und an der Suche nach differenzierten Ausgestaltungsmöglichkeiten des Nacherbenschutzes. Der sachgerechte Ausgangspunkt liegt in dem folgenden Gedanken: Sollen Wertungswidersprüche vermieden werden, müssen die §§ 2113 ff. BGB auch bei aufschiebend bedingter Vor- und Nacherbschaft gelten, wenn nach dem Gesamtplan des Gesetzes ein Schutz drittbezogener Nachlaßinteressen (Endbedachte und ihrer Nachlaßgläubiger) wertungsmäßig nicht allein davon abhängig gemacht werden kann, ob die Nacherbenstellung bedingt ist oder nicht. Dieser Gedanke wird die folgenden Erwägungen leiten. aa) Die beiden relevanten Kriterien zur Entscheidung des Konkurrenzproblems Nun hätte der Erblasser – hierauf wurde schon hingewiesen169 – auch ganz von einer Regelung für den Wiederverheiratungsfall und damit von einem Schutz der Endbedachten und ihrer Nachlaßgläubiger absehen können. Genausowenig wie der Nacherbe ein Recht darauf hat, überhaupt als Nacherbe eingesetzt zu werden, ist hier auch sein bloßes Vermögensinteresse nicht schützenswert, den Nachlaß in seiner wertungsmäßigen Substanz und in seinem ursprünglichen Kernbestand zu erhalten170. Ähnliches gilt für die Gläubiger, die im Nacherbfalle Nachlaßgläubiger des Nacherben wären: Da ihr Schutz dem Nacherbenschutz akzessorisch ausgestaltet ist, ist ihr Befriedigungsinteresse vor dem Nacherbfall dann nicht schützenswert, wenn das Vermögensinteresse der Nacherben nicht anerkannt wird171. Der Erblasserwillen ist für die Verteilung der Schutzwürdigkeit der jeweiligen Interessen daher durchaus zuerst einmal relevant. Diese Einsicht kann auch nicht mit dem argumentum ad absurdum angegriffen werden, daß dann auch bei einer unbedingten Vor- und Nacherbschaft die Geltung des § 2136 BGB durch den Erblasserwillen relativiert werden könnte. Mit diesem Argument wird gerade ein wichtiger Unterschied ausgeblendet: die auf dem Erblasserwillen beruhende Potestativbedingung. Bei der Wiederverheiratungsklausel hängt die Berechtigung der Endbedachten im Unterschied zum unbedingten Nacherben eben von einer Willensentscheidung des Überlebenden und damit von einem Fremdinteresse (nämlich des des Überlebenden an einer Wiederverheiratung) ab und wird durch dieses maßgeblich mediatisiert. Der Interessenschutz des Endbedachten ist nach dem Willen des Erblassers also akzessorisch zum Fremdinteresse. Es kommt dann nur noch 169
Oben § 12 II 3 a. Wolf, FS v. Lübtow, 325 (328). 171 Die Einwände von Wolf, FS v. Lübtow, 325 (328 ff.), der Schutz der Nachlaßgläubiger verlange eine Anwendung der §§ 2113 ff. BGB, laufen somit leer. 170
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auf den Grad der Akzessorietät an, den der Erblasser differenziert ausgestalten kann172. Einem personfunktional verstandenen Erbrecht steht es gut an, die Lösung des Konkurrenzproblems zwischen der dem Überlebenden eingeräumten Rechtsmacht und dem Schutz der Nacherben nicht von vornherein in einer Analogie zu diversen gesetzlichen Regelungen zu suchen, sondern der Entscheidung des Erblassers anzuvertrauen, wenn schon die §§ 2113 ff. BGB bei einer aufschiebend bedingten Nacherbschaft tatbestandsmäßig nicht gelten. Der Rahmen zwingender gesetzlicher Wertentscheidungen muß dabei freilich beachtet werden. Neben dem Erblasserwillen muß deshalb selbstverständlich auch die systematische Wertungseinheit der Erbrechtsordnung gewahrt sein, damit die Gesamtabstimmung mit dieser nicht fehlschlägt. Dies bedeutet, daß auch sonstige erbrechtliche Fingerzeige für parallele Interessenkonflikte einbezogen werden müssen. Wird der Erblasserwille relevant, hilft häufig eine Fallgruppenbildung weiter, anhand derer Auslegungsregeln für typische Fälle gewonnen werden können. Zweckmäßigerweise orientiert sich die Fallgruppenbildung im Fall der Wiederverheiratungsklauseln danach, in welchem Maße der Erblasser dem anderen Ehegatten vertraut, und welches Mindestmaß an Sicherungen zugunsten der (bedingt berufenen) Nacherben er herbeiführen wollte, d.h. welches Sicherungsbedürfnis der Endbedachten der Erblasser als berechtigt anerkannt hat, wenn schon eine Wiederverheiratungsklausel vorgesehen wurde173. Diese Fallgruppenbildung wird im weiteren versucht. bb) Fallgruppenbildung Der Normalfall – Fallgruppe 1 – ist die bei der Einheitslösung vorliegende Vollerbeneinsetzung des überlebenden Teils. Grundsätzlich zeigt sich in dieser Vollerbeneinsetzung ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Eheleuten in die alleinige Verantwortung des je Überlebenden für den Nachlaß. Die Wiederverheiratungsklausel beruht hier nicht auf einem Mißtrauen in die Wirtschaftsführung des Überlebenden. Diese Konstellation entspricht in ihren grundlegenden Wertungen der Situation eines grundsätzlich befreiten Vorerben und eines unbedingten Nacherben: ein Sicherungsbedürfnis der Letztbedachten und ein hohes Maß an Eigenfürsorge des Überlebenden ist vom Erblasser selbst anerkannt worden. Aus dieser Interessenlage folgt zweierlei: Einmal entspricht es dem Erblasserwillen, daß der gesetzlich vorgesehene Nacherbenschutz durch 172
So andeutend auch Leipold, FamRZ 1988, 352 (353). Hiervon ausgehend auch Leipold, FamRZ 1988, 352 (353). Ähnlich will Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 44, anhand des jeweils zum Ausdruck gebrachten Maßes an Vertrauen die Frage entscheiden, ob und inwieweit der Überlebende von den Beschränkungen der §§ 2113 ff. BGB gem. § 2136 BGB befreit ist. 173
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 297
Analogiebildung zu den §§ 2113 ff. BGB grundsätzlich greift. Zweitens kann dieser Schutz nur der Interessenlage gemäß differenziert ausgestaltet werden. Dies wiederum heißt, daß zwar angenommen werden darf, die Ehegatten hätten den Überlebenden von all den Beschränkungen analog § 2136 BGB befreien wollten, die seine alleinige Verantwortung für den Nachlaß einschränken (analog §§ 2113 I, 2114, 2116–2119, 2127–2131 BGB). Der Erblasser hat jedoch durch die Anordnung einer Wiederverheiratungsklausel auch die Substanzerhaltungsinteressen der Nacherben in ihrer Berechtigung anerkannt. Die Beschränkungen, die den Übergang der Substanz des vom Erstverstorbenen Hinterlassenen sichern wollen (analog §§ 2113 II, III, 2133, 2134 BGB) bleiben daher grundsätzlich anwendbar174. Dies ist im Zweifel auch dann so, wenn konkrete Vorgaben zu der Anwendbarkeit der gesetzlichen Regelungen zur Substanzerhaltung in der letztwilligen Verfügung fehlen. Denn zum einen geht das gesetzlich vorgesehene Bild der Ehe von einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis zwischen den Ehegatten und nicht von einer zerrütteten Ehe aus, so daß die dem Ehegatten aufgrund seiner Vertrauensstellung zugewiesene Verantwortung für den Nachlaß rechtlich wertungsmäßig den Normalfall darstellen darf. Zum anderen stellt diese Auslegungsregel das Ergebnis einer vernünftigen Interessenabwägung dar und dürfte daher den Normalfall hinreichend sicher typologisch abbilden. Bei dieser Auslegungsregel (also: im Zweifel befreite Vorerbschaft des Überlebenden mit Substanzsicherung zugunsten des Nacherben analog §§ 2113 II, III, 2133, 2134 BGB) schimmert der Gedanke ehelicher Solidarität durch und kommt das Vertrauen in die Wirtschaftsführung des Überlebenden und zugleich das Interesse des Erstverstorbenen an einer adäquaten und schutzwürdigen Sicherung des überlebenden Ehegatten zum Ausdruck. Dies gilt insbesondere für die Verfügungsbeschränkung des § 2113 II BGB. Gerade unter dem Aspekt der Sicherung seines Auskommens kann der Überlebende an der unentgeltlichen Weggabe von Vermögenswerten kein schutzwürdiges Interesse haben, da bei einer unentgeltlichen Veräußerung von Nachlaßgegenständen die wirtschaftliche Sicherung des Längstlebenden mangels eines äquivalenten Vermögenszuflusses gefährdet ist. Daneben wird aber bei der skizzierten Auslegungsregel auch den vom Erblasser als berechtigt anerkannten Interessen der Endbedachten entsprochen. Die Stellung eines auflösend bedingten Voll- und Vorerben ist daher kein Pleonasmus, sondern markiert den formalen Ausdruck einer materialen Ehegattenund Familiensolidarität, die zugleich sowohl auf dem Vertrauens- und dem Sicherungsgedanken hinsichtlich des Ehegatten als auch auf dem Interessenschutz der Endbedachten beruht. 174
So auch Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 44.
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
In der letztwilligen Verfügung können auch – zweite Fallgruppe – Anhaltspunkte (wirtschaftliche Verhältnisse der Ehegatten, die Person des Letztberufenen und ähnliches) für eine andere Auslegung des Testaments, also vollständig befreite oder nicht befreite Vorerbschaft vorhanden sein. Das Maß der Beschränkungen des Überlebenden wird hier zwischen den beiden materialen Polen eines sehr weitgehenden Vertrauens und eines sehr hohen Sicherungsbedürfnisses auch für die Endbedachten angesiedelt und muß anhand der Auslegung der letztwilligen Verfügung im Einzelfall aufgedeckt werden. Falls sich bei der Auslegung beispielsweise Anzeichen ergeben, daß bei einem Nachlaß, der u. a. aus zahlreichen Wertpapieren besteht, der Erstverstorbene gerade hinsichtlich dieser Papiere den Nacherben besonders geschützt sehen wollte, kann durchaus die Anwendbarkeit der §§ 2116 f. BGB angeordnet sein, nicht hingegen die der §§ 2113 I, 2114, 2118 f., 2127–2131 BGB. Der Auslegung stellt sich hier eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe. Falls nach dem Willen des Erstverstorbenen – Fallgruppe 3 – auch die Substanz des Nachlasses eindeutig vornehmlich dem Überlebenden zugewendet werden sollte, oder der Erblasser sogar ausdrücklich auch von den Beschränkungen des § 2113 II BGB analog suspendieren wollte, mithin: wenn eindeutig völliges Vertrauen vorherrscht und das Sicherungsinteresse der Endbedachten sehr weitgehend vom Erblasser negiert wird175 – bsp. wenn die zu Erben berufenen Dritten mit den Eheleuten überhaupt nicht oder nur entfernt verwandt sind und auch kein persönliches Näheverhältnis besteht –, tritt das Konkurrenzproblem zwischen Ehegatten- und Nacherbenschutz voll zu Tage. Die h. M. löst dieses Konkurrenzproblem durch einen gleichsam a-priori-Vorrang des Nacherbenschutzes176. Mit diesem Vorschlag wird aber nur dem schon angesprochenen Problem aus dem Weg gegangen, ob der bei einer unbedingten Vor- und Nacherbfolge bestehende, in den §§ 2113 ff. BGB zum Ausdruck kommende Nacherbenschutz auch bei einer aufschiebend bedingten Nacherbfolge immer und ohne jeden Abstrich angenommen werden kann. Die analoge Anwendung der §§ 2113 ff. BGB wird aus zwei Gründen zugelassen177. Einmal, weil die §§ 2113 ff. BGB bei einer Gesamtrechtsnachfolge als funktionales Äquivalent zu den §§ 158 ff. BGB dienten. Und zweitens hätte der Erblasser den Endbedachtenschutz überhaupt in seine Verfügung mit einbezogen. Ohne einen derartigen gewillkürten Einbezug wäre nicht klar, warum vor Eintritt oder Ausfall 175 Eine Wiederverheiratungsklausel ergibt in dieser Fallgruppe schon deshalb Sinn, weil damit der Stamm des Vermögens nicht irgendwelchen Personen zukommt, mit denen der Erstverstorbene nichts zu schaffen haben möchte. 176 Vgl. nur Stürner, JZ 1983, 149 (150); Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 42 f.; MünchKomm-Grunsky, 2113 Rn. 16; Palandt-Edenhofer, § 2269 Rn. 18. 177 Dazu oben § 12 II 3 a.
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der Bedingung die Endbedachten überhaupt schützwürdig sind. In der hier diskutierten Fallvariante 3 überzeugen derartige Erwägungen aber nicht recht. Denn in dieser Fallvariante versagt der Erblasser den Endbedachten von Todes wegen letztlich sehr weitgehend den Schutz. Bei Lichte betrachtet ist das Schutzinteresse des Erblassers bei der Fallgruppe 3 allein darauf gerichtet, daß der Endbedachte die Erbenstellung erhält und der Nachlaß nicht in irgendwelche fremden Hände gerät; vor dem zweiten Todesfall soll der Überlebende aber zu Lebzeiten schalten und walten können, wie er will. Die Endbedachten würden also vom Erstverstorbenen nur als bloßer Reflex dieses „Ausschlußinteresses“ geschützt. Wieso sollten dann aber die §§ 2113 ff. BGB analog gelten? Man könnte nun daran denken, daß die §§ 2113 ff. BGB schon deshalb auch bei der Fallgruppe 3 angewendet werden müßten, weil sie als zwingendes Recht von Dispositionen des Erblassers unabhängig seien178. Doch damit handelt man sich allenfalls den Vorwurf einer typischen petition principii ein, sind doch die §§ 2113 ff. BGB unmittelbar nicht anwendbar und steht ihre analoge Anwendung unter der Voraussetzung der Vermeidung widersprüchlichen Rechts. Und zu diesem Recht gehört auch die Willensherrschaft des Erblassers. Wie also soll entschieden werden? Hier hilft ein Blick auf gesetzliche Regelungskomplexe, die ähnliche Gestaltungen regeln und deshalb als Wertungsvorbild modellhaft herangezogen werden können. 4. Der Nacherbenschutz für den Fall einer klaren Bevorzugung des Überlebenden vor den Nacherben: Der Bezug auf ähnliche gesetzliche Wertungsmodelle
a) Der Ansatzpunkt: Lebzeitiges Eigeninteresse des Vorerben Dem Wertungsproblem in der soeben skizzierten Fallvariante 3 kann man nicht dadurch ausweichen, daß der Erblasser auf die Einräumung eines bloß aufschiebend bedingten Universal- oder Quotenvermächtnisses179 verwiesen wird. Dieses dürfte vom Erblasser typischerweise in dieser Situation zumeist nicht gewollt sein; der eindeutig angestrebte Schutz des Familienvermögens vor Familienfremden oder sonstigen Personen wäre dann nur obligatorisch und nicht dinglich gesichert. Wenn im übrigen darauf verwiesen wird, der Erblasser habe jeglichen Nacherbenschutz negiert, so daß es wer178 Nach allgemeiner Meinung ist § 2113 II zwingendes Recht, vgl. nur MünchKomm-Grunsky, § 2113 Rn. 20; Palandt-Edenhofer, § 2113 Rn. 9; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 28 IV 5 d. 179 Diesen Weg schlug 1924 schon Rode vor, vgl. ders., LZ 1924, Sp. 716 ff. Vgl. auch BGH FamRZ 1974, 652 f.; LG Köln, FamRZ 1975, 289; Weihe, DNotZ 1939, 9 (13); Asbeck, Betrieb 1961, 869 (870); Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (454); Haegele, RPfleger 1976, 73 (77).
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tungswidersprüchlich wäre, die Endbebachten mittels einer Analogie zu den §§ 2113 ff. BGB noch zu schützen, so ist auch dieser Schluß voreilig gezogen. Denn dann wird zu rasch allein auf die Testierfreiheit des Erblassers abgestellt, ohne daß sonstige Fingerzeige der Rechtsordnung bei parallelen Interessenkonflikten zur Entscheidung herangezogen worden wären. Ein an der Interessenlage und der gesetzlichen Regelung paralleler Interessenkonflikte orientierter und dem Willen des Erblassers gerecht werdender Nacherbenschutz muß daher anhand derjenigen erbrechtlichen Regelungskomplexe entwickelt werden, die sich ähnlicher Interessenkonflikte annehmen. Einen ersten Orientierungspunkt gewinnt man, wenn ein Blick auf die erbrechtlichen Modelle geworfen wird, bei denen Dritte vor lebzeitigen unentgeltlichen Verfügungen geschützt werden (nur um die Zulässigkeit dieser geht es ja in der Fallvariante 3) und die eine zumindest wertmäßige Bindung des Nachlasses erreichen: dies sind einmal die §§ 2113 II, 2136 BGB, dann § 2287 BGB aus dem Recht des Erbvertrages und § 2205 S. 3 BGB aus dem Recht der Testamentsvollstreckung und schließlich der Pflichtteilsergänzungsanspruch des § 2325 BGB. Die Art und Weise, in denen der zu Schützende bei diesen Regelungen vor lebzeitigen Verfügungen bewahrt wird, ist je verschieden: im Vor- und Nacherbenrecht wird der Nacherbenschutz über die Zustimmungspflicht zu einer ordnungsgemäßen Verwaltungsmaßnahme (§ 2120 BGB), im Erbvertragsrecht der Schutz des Vertragserben über das subjektive Element der Beeinträchtigungsabsicht und im Recht der Testamentsvollstreckung der Erbenschutz durch die Zustimmungsmöglichkeit derjenigen Personen, zu deren Schutz das Verfügungsverbot besteht180, der Interessenlage angepaßt. Im Pflichtteilsergänzungsrecht kommen demgegenüber die Interessen des Pflichtteilsberechtigten voll zum Zuge kommen181. Diese Sonderstellung des Pflichtteilsrechts ist auch einsichtig, da der Pflichtteilsberechtigte sich in einer sehr schwachen, bloß obligatorischen Position befindet und sich nicht noch bsp. mit bestimmten subjektiven Intentionen des Verstorbenen (wie der Vertragserbe im Falle des § 2287 BGB) auseinandersetzen soll. Das Pflichtteilsrecht sollte deshalb als Wertungsvorbild für das hiesige Problem außer Betracht bleiben. Das gilt auch für das Recht der Testamentsvollstreckung. Denn bei der Testamentsvollstreckung ist die Interessenkonstellation eine ganz andere als bei der Vor- und Nacherbenkonkurrenz: nicht verschiedene, sukzessiv folgende Vollrechtsinhaber konkurrieren, sondern die Vollrechtsinhaber mit dem Verfügungsbefugten. 180 Vgl. BayObLG FamRZ 1987, 104; Palandt-Edenhofer, § 2205 Rn. 35; MünchKomm-Brandner, § 2205 Rn. 61. 181 Eine Beeinträchtigungsabsicht ist bei § 2325 bekanntlich nicht erforderlich, MünchKomm-Frank, § 2325 Rn. 7; Staud-Ferid/Cieslar, § 2325 Rn. 37; Lange/ Kuchinke, Erbrecht, § 37 IX 1 b.
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Es bleibt somit ein Vergleich der Schutzmodi des Nacherben- und des Erbvertragsrechts: Im Recht des Erbvertrages werden nach nunmehr herrschender Ansicht nach Verabschiedung der Lehre von der Aushöhlungsnichtigkeit unentgeltliche Verfügungen des Erblassers unter Lebenden nur dann nicht gem. §§ 2286, 2287 BGB zum späteren Ausgleich gebracht, wenn ein lebzeitiges Eigeninteresse des Erblassers zum Ausdruck kommt. Diese Formel vom lebzeitigen Eigeninteresse bezeichnet genau den Interessenkonflikt182, den die verfügenden Ehegatten mit einer Verbindung von Vollerbeneinsetzung und Wiederverheiratungsklausel unter weitgehendem Vorrang des Überlebenden lösen wollten183. Es liegt daher nahe, die beiden Schutzmodi des § 2113 II BGB und des § 2287 BGB aufeinander abzustimmen: Hiernach wäre eine unentgeltliche Verfügung über Nachlaßgegenstände durch den Überlebenden bei der Fallgruppe 3 zulässig, wenn dem Verfügenden ein lebzeitiges Eigeninteresse zur Seite steht. Diese Einschränkung dürfte bei der Fallvariante 3 typischerweise dem Willen des Erblassers entsprechen. Ob ein lebzeitiges Eigeninteresse vorhanden ist, entscheidet sich aus einer Abwägung der Interessen des Überlebenden an seiner Verfügungsfreiheit mit den Erhaltungsinteressen der Endbedachten184. Es muß untersucht werden, ob nach dem Urteil eines objektiven Beobachters die Beweggründe des Überlebenden angesichts der gegebenen Umstände so sind, daß die Endbedachten sie anerkennen und ihre Benachteiligung durch die lebzeitige Verfügung hinnehmen müssen185. Ein Mißbrauch der Verfügungsfreiheit entfällt somit dann, wenn die Lebensplanung und Lebensgestaltung sich im Rahmen des der Persönlichkeit des Überlebenden Angemessenen hält und das Interesse der Endbedachten nicht aus den Augen verloren geht186. Hierzu kann im Näheren auf die bisher zu § 2287 ergangene Rechtsprechung und auf die Fallgruppenbildung im dortigen Schriftum zurückgegriffen werden. Eine unentgeltliche Verfügung ist bsp. dann aufgrund eines lebzeitigen Eigeninteresses zulässig, wenn die Schenkung dem Bemühen des Überlebenden entspringt, seine Altersversorgung zu verbessern187 oder 182
Insoweit ist Buchholz, Erbfolge, 40, Recht zu geben. Insofern sprechen auch die Motive von einem Schutz des Nacherben vor einer willkürlichen Vereitelung des Rechts des Nacherben, vgl. Mot. V, 114 = Mugdan, Materialien V, 61. 184 So für das Erbvertragsrecht MünchKomm-Musielak, § 2287 Rn. 10; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 273; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 25 V 5 d (1); Spellenberg, NJW 1986, 2351 (2356); je zu § 2287. Kritisch gegenüber dem Kriterium des „lebzeitigen Eigeninteresses“ Speckmann, NJW 1976, 341 ff.; Staud-Kanzleiter, § 2287 Rn. 13; dazu vgl. nur Spellenberg, aaO, 2535 ff. 185 BGHZ 83, 44, zu § 2287, für das Erbvertragsrecht. 186 Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 25 V 5 d (4), zu § 2287. 187 BGHZ 66, 8; BGH FamRZ 1977, 539; WM 1979, 442; BGHZ 82, 274; 83, 44 (46); 97, 188 (196); OLG Düsseldorf, NJW-RR, 1986, 806; OLG München, NJW-RR 1987, 1484; bezogen auf das Bedürfnis, zwecks Betreuung und Pflege im 183
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Schenkungen aus ideellen Zwecken oder aus persönlicher Rücksicht zu tätigen188. Eine zulässige Verfügung liegt weiter dann vor, wenn die Schenkung darauf zielt, eine aus besonderen Leistungen, Opfern und Versorgungszusagen des Beschenkten an den Überlebenden oder ihm nahestehenden Personen folgende sittliche Verpflichtung des Überlebenden einzulösen189. In diesem Rekurs auf ein lebzeitiges Eigeninteresse liegt eine sachgerechte Entscheidung des Konkurrenzproblems in der Fallvariante 3190. Die Sachgerechtigkeit einer Problemlösung allein reicht jedoch dann nicht zu einer recht verstandenen Dogmatik hin, wenn ein dogmatisch-konstruktiver Weg zur Problemlösung nicht gangbar ist. Wie steht es damit? b) Dogmatisch-konstruktive Bewältigung: Zustimmungspflicht des Nacherben Dogmatisch-konstruktiv kann die soeben getroffene Bewertung der Konkurrenz zwischen den Interessen des Überlebenden und denen der Nacherben in der Fallgruppe 3 auf verschiedenen Wegen erfolgen: Einmal kann bei einer Wiederverheiratungsklausel, bei der die Schutzwürdigkeit des Sicherungsinteresses der Endbedachten gegen lebzeitige Verfügungen des Überlebenden durch die Ehegatten negiert worden ist (also eben bei der o. g. Fallgruppe 3) ein Vermächtnis dergestalt verfügt werden, daß die Nacherben durch den Erblasser verpflichtet werden, Schenkungen zu genehmigen, wenn ein lebzeitiges Eigeninteresse des Überlebenden vorliegt (hier sog. Vermächtnislösung)191. Daneben könnte zu dem Weg gegriffen werden, dem Nacherben eine Zustimmungspflicht gem. § 2120 BGB analog bei Vorliegen eines lebzeitigen Eigeninteresses anzusinnen (hier sog. Zustimmungslösung). Schließlich könnte bei Vorliegen eines lebzeitigen Eigeninteresses bei dem aufschiebend bedachten Nacherben eine Analogie zu § 2113 II BGB unter Verweis auf die in dem § 2287 BGB niedergelegte parallele Regelung eines ähnlichen Interessenkonflikts verneint werden Alter seinen jüngeren Ehegatten an sich zu binden BGH, NJW 1992, 2630. Ein Eigeninteresse verneint OLG Oldenburg, OLGZ 1994, 434, wenn die Altersbetreuung schon sichergestellt ist. 188 BGHZ 66, 8 (16); 83, 44 (46); OLG Köln, FamRZ 1992, 607. 189 OLG Köln, FamRZ 1992, 607 ff. 190 Zu den einzelnen Fallgruppen siehe oben § 12 II 3 b bb. 191 Vgl. zur strittigen Frage, ob der Nacherbe durch Vermächtnis verpflichtet werden kann, die Verfügung zu genehmigen: bejahend Kipp/Coing, Erbrecht, § 51 III 1b; Staud-Behrends/Avenarius, § 2136 Rn. 7; Palandt-Edenhofer, § 2136 Rn. 11; RGRK-Johannsen, § 2136 Rn. 5, 7; Wolf, FS v. Lübtow, 325 (330); verneinend: MünchKomm-Grunsky, § 2137 Rn. 9; Soergel-Harder, § 2136 Rn. 2. Wenigstens für den hier vorliegenden Fall einer Veräußerung mit lebzeitigem Eigeninteresse des Längstlebenden dürfte von einem zulässigen Vermächtnis auszugehen sein.
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(hier sog. analogieeinschränkende Lösung)192. Die letztere Lösung entspricht zwar durchaus den Interessen der Beteiligten; dennoch sind die Vermächtnis- und die Zustimmungslösung interessenadäquater: Die analogieeinschränkende Lösung gibt dem Überlebenden das Recht, ohne vorherige Abstimmung mit den Endbedachten unentgeltlich bei einem lebzeitigen Eigeninteresse über Erbschaftsgegenstände zu verfügen193. Demgegenüber erscheint es interessengerechter, vor der unentgeltlichen Veräußerung von Nachlaßgegenständen das Gespräch mit den Endbedachten zu suchen, wie dies bei der Vermächtnis- und der Zustimmungslösung der Fall ist. Dies entspricht schon deshalb eher den Interessen, weil der Erblasser in der Fallvariante 3 trotz Wiederverheiratungsklausel zwar den Überlebenden so weit wie möglich freistellen möchte und hierzu den Endbedachten einen jeglichen materiellen Schutz bei Veräußerungen mit lebzeitigen Eigentinteresse entziehen wollte. Da der Erblasser auf der anderen Seite jedoch überhaupt für den Fall der Wiederverheiratung Vorsorge getroffen hat, anerkennt er zumindest ein ganz schwaches Schutzinteresse der Endbedachten – und dieses kann sich am besten verwirklichen, indem der Überlebende das Gespräch mit dem Endbedachten sucht, um von ihm die Zustimmung nach der Vermächtnis- oder Zustimmungslösung zu erhalten. Für eine derartige Bewältigung des Wertungsproblems von Ehegatten- und Drittschutz über eine Vermächtnis- oder Zustimmungslösung spricht auch, daß hier derselbe Gedanke greift, der den BGH dazu bewogen hat, bei einer befreiten Vorerbschaft dem Nacherben nur den Anspruch auf den Überrest, aber keinen Anspruch auf ordnungsgemäße Verwaltung durch den Erben zuzubilligen194. Wenn im übrigen ein Vermächtnis durch den Erblasser nicht ausgesetzt wurde, verbleibt die Zustimmungslösung, die als gesetzlich eingeräumtes Modell auch dann greift, wenn von Zustimmungsfragen in der letztwilligen Verfügung selbst keine Rede ist. Falls kein Vermächtnis der beschriebenen Art vorliegt, ist der Nacherbe also analog § 2120 BGB verpflichtet, der unentgeltlichen Verfügung des Überlebenden über Nachlaßgegenstände zuzustimmen, wenn diesem ein anerkennenswertes lebzeitiges Eigeninteresse zur Seite steht. Bei dieser Zustimmungspflicht wird die in § 2120 BGB angesprochene „Ordnungsge192
Ähnlich Harder, DNotZ 1994, 822 (829 ff.), der bei einer Zustimmungspflicht gem. § 2120 BGB die Regelung des § 2113 BGB auf die betroffenen Verfügungen nicht anwenden will. 193 Das in praxi eine Abstimmung mit den Endbedachten faktisch bei immobiliaren Vermögenswerten schon wegen des grundbuchrechtlichen Nacherbenvermerks (dazu nur Haegele, RPfleger 1976, 73 (81 f.); gegen einen Nacherbenvermerk spricht sich Buchholz, Erbfolge, 56, aus) erfolgt, hindert diese Einschätzung nicht, da zumindest bei Mobilien eine Abstimmung gänzlich entfällt. 194 BGH, ZEV 1994, 45 (46) gegen RGZ 148, 385 (391); Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 28 IV 4 c.
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mäßheit der Verwaltung“ quasi doppelt subjektiviert: einmal wird die Zustimmungspflicht auf den Willen des Erblassers gegründet, den überlebenden Ehegatten weitreichend freizustellen und dem Überlebenden dann auch die näheren Maßstäbe für eine ordnungsgemäße Verwaltung anheimzustellen; sodann wird die Zustimmungspflicht auf die lebzeitigen Eigeninteressen des Überlebenden als nicht zu übersteigende Grenze für die Ordnungsgemäßheit der Verwaltung bezogen. Auch hier schimmert wieder eheliche Solidarität durch, da typischerweise die jeweiligen lebzeitigen Eigeninteressen des Überlebenden von der vergangenen, aber doch gemeinsamen Lebenswelt der Ehegatten, von ihren gemeinsamen Lebensentwürfen und Handlungsroutinen abhängig sein dürften, so daß damit zumeist die Maßstäbe der ehelichen Lebensverhältnisse post mortem weiter erstreckt werden. Es gilt also: Falls beispielsweise der überlebende Ehegatte eine unentgeltliche Verfügung über Nachlaßgegenstände trifft, die nicht ersichtlich der Wahrung eigener Vermögensbelange, sondern nur einer Benachteiligung der Erberwartungen der Endbedachten dient, kommt es zu einer rechtsmißbräuchlichen Ausübung195 der durch die Vollerbenstellung verbürgten Freiheit, und eine Zustimmungspflicht entfällt. Gegen die hier vertretene Lösung einer Zustimmungspflicht der Endbedachten zu unentgeltlichen Verfügungen des Überlebenden bei einem lebzeitigen Eigeninteresse analog § 2120 BGB könnte freilich noch eingewendet werden, der Sinn und Zweck der Verpflichtung des Vorerben zur ordnungsgemäßen Verwaltung diene in erster Linie dem auf Substanzerhaltung und -erlangung gerichteten Erbschaftsinteresse des Nacherben196, so daß im Normalfall unentgeltliche Verfügungen nie zustimmungspflichtig seien197. Bei der hier diskutierten Fallgruppe 3 dient die zur bedingten Vor- und Nacherbschaft führende Wiederverheiratungsklausel jedoch primär dem Schutz des Erblasserinteresses, den Endbedachten die Erbenstellung, nicht jedoch den Nachlaß auch dem Werte nach zu sichern. Ist dem so, geht der Einwand, unentgeltliche Verfügungen seien grundsätzlich nicht zustimmungspflichtig, hier ins Leere.
195 Vgl. BGHZ 59, 343 (350, 352); 82, 274 (282); 83, 44; BGH, NJW-RR 1987, 2; BGH, NJW 1992, 564 (566); 92, 2630 (2631); OLG München, NJW-RR 1987, 1484 (1485); je zu § 2287. 196 Vgl. BGH, NJW 1993, 1582 (1583); Palandt-Edenhofer, § 2120 Rn. 2. Vgl. auch die Überlegungen bei Wolf, FS v. Lübtow, 325 (326 f.), zur Anwendung des § 161. 197 MünchKomm-Grunsky, § 2120 Rn. 4; Soergel-Harder, § 2120 Rn. 4.
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c) Flexibilisierung des Nacherbenschutzes und erbrechtlicher Typenzwang Gegen die hier vorgeschlagene Lösung für die Fallgruppe 3198 kann auch nicht angeführt werden, der erbrechtliche Typenzwang stünde einer derartigen Handhabung des Gesetzes entgegen199. Zwar kann danach der Erblasser nur solche Verfügungen von Todes wegen treffen, die im Gesetz ausdrücklich als zulässig anerkannt sind oder deren Zulässigkeit sich aus dem Inhalt der gesetzlichen Bestimmungen zumindest durch Analogie ergibt200. Der Grund hierfür liegt – ähnlich wie im Sachenrecht201 – in der inter-omnesWirkung erbrechtlicher Verfügungen, so daß mit Rücksicht auf Dritte, insbesondere auf Nachlaßgläubiger, eine klare und zwingende Ausgestaltung der vom Erblasser geschaffenen Rechtslage notwendig ist202. Insofern dient der erbrechtliche Typenzwang dem Funktionieren einer auf Privateigentum aufbauenden Marktwirtschaft, da eine aus einer unüberschaubaren Anzahl von Marktteilnehmern bestehende Wirtschaft nach kalkulierbaren, für alle gleichen Spielregeln auch für den Fall eines universalsukzessiven Vermögensübergangs verlangt203 – Erbrecht ist hier eindeutig auch funktionales Vermögensrecht. Damit liegt jedoch auf der Hand, warum der Typenzwang204 gegen die hier entwickelte Lösung nichts erinnern kann: Die 198
Zu dieser Fallgruppe siehe oben § 12 II 3 b bb. Bsp. Zawar, NJW 1988, 16 (19), weist auf den erbrechtlichen Typenzwang hin, der einer Flexibilisierung des § 2136 BGB entgegenstehen soll. 200 Staud-Otto, Vorbem. § 1937 Rn. 14; Planck-Flad, Vorbem. § 1937 Nr. 2a; Kipp/Coing, Erbrecht, § 20 I; Leipold, Erbrecht, § 12 I 1; Strothmann, Jura 1982, 349 (350 ff.); v. Lübtow, 110 f.; AK-Däubner, Einl. Rn. 17. 201 Vgl. zum sachenrechtlichen Typenzwang Staud-Seiler, 13. Aufl., Einl. zu § 854 Rn. 38 ff.; Soergel-Mühl, Einl. Sachenrecht, Rn. 21; Heck, Sachenrecht, § 23. Ausführlich Wiegand, FS Kroeschell, 623 ff.; sowie unten § 35 II 2. 202 Vgl. Kipp/Coing, Erbrecht, § 20 I; Strothmann, Jura 1982, 349 (352); v. Lübtow, 111. 203 AK-Däubner, Einl. Rn. 17 f. 204 Hinter dem Typenzwang verbergen sich grundsätzlich – ähnlich wie im Sachenrecht – in den Worten Wiegands (FS Kroeschell, 623) „grundlegende, zu Axiomen verfestigte und geschrumpfte Wertungsprozesse“. In der Entwicklung des Sachenrechts wurden – basierend auf der Savignyschen Unterscheidung von Sachenund Obligationenrecht – unter dem Signum der Autonomie der Sachenrechtsordnung alle „relativ-dinglichen“ Mischformen zwischen Sachen- und Obligationenrecht verworfen und obligatorischen Rechtsverhältnissen die Drittwirkung versagt. Die privatautonome Gestaltung dinglicher Rechte ist ja nichts anderes als eine Einwirkung obligationsrechtlicher Abreden auf die sachenrechtlichen Rechtsverhältnisse (Wiegand, ebda., 634). Mit dieser Entscheidung wird die Verkehrsfähigkeit der Waren der Parteidisposition entzogen und eine Grundlage für eine funktionsfähige Marktwirtschaft gelegt (Wiegand, ebda., 637; vgl. auch Wieacker, Industriegesellschaft, 28, 37 f.). Für den erbrechtlichen Typenzwang stehen derartige Überlegungen derzeitig noch aus. 199
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
Rechtsicherheit wird durch die hier vorgestellte Lösung nicht weiter beeinträchtigt, da die ohne Zustimmung, jedoch mit Zustimmungspflicht des Nacherben getroffene Verfügung des Vorerben zuerst einmal auf den Zeitpunkt des Nacherbfalls hinausgeschoben205 unwirksam ist206. 5. Testierfreiheit und Nacherbenschutz: Ergebnis
Es zeigte sich, daß Wiederverheiratungsklauseln bei einem Testament nach dem Vorbild der Trennungslösung keine größeren Schwierigkeiten aufweisen. Diese Klauseln konnte daher weitgehend vernachlässigt werden. Es stand deshalb das Wertungsproblem der Konkurrenz zwischen Ehegattenschutz und drittbezogenen Nachlaßinteressen bei letztwilligen Verfügungen mit Einheitslösung im Mittelpunkt der bisherigen Überlegungen207 – und zwar vor allem die Gestaltung, daß eine aufschiebend für den Fall der Wiederverheiratung bedingte Vorerbschaft des Überlebenden angeordnet worden ist. Dieses Konkurrenzproblem allein durch einen a-priori-Vorrang des Drittschutzes zu bewältigen, wie dies bei der herrschenden Meinung geschieht208, unterschlägt die privatautonomen Wertungen des Erblassers, der den Schutz drittbezogener Nachlaßinteressen durchaus differenziert ausgestalten kann. Auf der anderen Seite überzeugen auch die Lösungen nicht, die vor allem aufgrund des formalen Verhältnisses zwischen den §§ 2113 ff. BGB und den §§ 158 ff. BGB bei aufschiebend bedingter Vorund Nacherbschaft und auflösend bedingter Vollerbschaft einen Vorrang des Ehegattenschutzes annehmen209. Bei diesem Vorschlag wird das Wertungsproblem, um das es hier geht: die interessengerechte Ausbalancierung des Ehegattenschutzes auf der einen und der Nachlaßinteressen der Endbedachten und der Haftungsinteressen der Nachlaßgläubiger auf der anderen Seite, negiert und auf Kosten einer nur vermeintlich wertneutralen Argumentation aus dem Problemzusammenhang entfernt. Als Ausgangspunkt der vor diesem Hintergrund aufzunehmenden Überlegungen muß das Gebot einer Widerspruchsfreiheit der Erbrechtsordnung dienen: das Problem konkurrierender Schutzinteressen muß dergestalt bewältigt werden, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung gewahrt bleibt210 – dies zwingt grundsätzlich zu einer Analogie zu den § 2113 ff. BGB211. Eine derartige Analogie muß freilich den Differenzierungskriterien des 205 206 207 208 209 210 211
Vgl. Lange/Kuchinke, § 28 IV 4 c. MünchKomm-Grunsky, § 2120 Rn. 1. Vgl. dazu oben § 12 II 1 Vgl. § 12 II 1. Vgl. § 12 II 2. Vgl. § 12 II 3 a. Vgl. § 12 II 3 b.
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 307
rechtlichen Wertungseinklangs gerecht werden: weder darf die Argumentation losgelöst von den relevanten Wertungstopoi und damit überabstrakt noch unter Zuhilfenahme historisch-formaler Gesichtspunkte erfolgen212. Erkenntnisleitend ist hier eine Fallgruppenbildung, die an dem jeweiligen typologisch gebündelten Erblasserwillen ansetzt213. In dem mangels anderer Anhaltspunkte zu vermutenden Normalfall, bei dem der Erblasser das vorrangige Interesse des Überlebenden an einer alleinigen Verantwortung für den Nachlaß, aber auch das Interesse der Endbedachten an der Teilhabe an der Substanz des vom Erstverstorbenen Hinterlassenen anerkannt hat, ist der Überlebende analog § 2136 BGB von den Vorschriften befreit, die seine alleinige Verantwortung für den Nachlaß einschränken (§§ 2113 I, 2114, 2116–2119, 2127–2131 BGB analog), während das Substanzerhaltungsinteresse der Endbedachten dadurch gesichert wird, daß eine Befreiung von den §§ 2113 II, 2133, 2134 BGB analog nicht gewährt wird. Falls aufgrund verschiedener Anhaltspunkte wie bsp. den wirtschaftlichen Verhältnissen der Ehegatten, der Person des Letztberufenen etc. eine andere Willensrichtung des Verfügenden angenommen werden darf, kann die Auslegung auch eine vollständig befreite oder auch gar nicht befreite Vorerbschaft ergeben. Falls jedoch der Erblasser die Interessen des Überlebenden klar in den Vordergrund stellt und das Sicherungsinteresse der Endbedachten weitgehend negiert, weil nur ein Abwandern des Nachlasses in fremde Hände nach der Wiederverheiratung verhindert werden soll, muß eine differenziertere Austarierung der Wertung geschehen. In dieser Fallgruppe soll nach dem Willen des Erblassers der Überlebende auch zu unentgeltlichen Verfügungen über Nachlaßgegenstände berechtigt sein. Andererseits soll ihm auch nicht völlige Verfügungsfreiheit zukommen, da ansonsten von einer Wiederverheiratungsklausel überhaupt abgesehen worden wäre. In diesem Wertungsproblem kann an die verschiedenen Modelle angeknüpft werden, mit denen die Erbrechtsordnung Dritte vor lebzeitigen unentgeltlichen Verfügungen schützt214. In Frage kommt hier nur der Schutz des Vertragserben vor beeinträchtigenden lebzeitigen Verfügungen des Vertragspartners gem. § 2287. Dieses Wertungsmodell regelt genau den Interessenkonflikt, dessen Bewältigung hier angezeigt ist. Eine unentgeltliche lebzeitige Verfügung über Nachlaßgegenstände durch den Überlebenden ist daher bei dieser Fallgruppe dann zulässig, wenn ihm ein lebzeitiges Eigeninteresse hierfür zur Seite steht. Dogmatisch-konstruktiv kann diese Interessenlage dadurch abgebildet werden, daß die Endbedachten im Falle eines derartigen Interesses zur Zustimmung zur unentgeltlichen Verfügung analog § 2120 BGB ver212 213 214
Vgl. § 12 II 3 a. Vgl. § 12 II 3 b. Vgl. § 12 II 4 a.
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
pflichtet sind215. An einer derart differenzierten Ausformung des Wertungsproblems hindert auch der erbrechtliche Typenzwang nicht: die Rechtssicherheit, die vornehmlich den Typenzwang begründen kann, wird durch die hier vorgestellte Lösung nicht beeinträchtigt216 III. Die Rechtslage nach Wiederverheiratung 1. Das Problem der Bindungswirkung
Nach der Wiederverheiratung zerbricht der bei der Einheitslösung vorgesehene Zusammenhang des Vermögens des vorverstorbenen und des überlebenden Gatten. Der Nachlaß des Vorverstorbenen wird abgesondert und fällt ganz oder teilweise je nach Klausel den gemeinsamen Kindern zu. Bei der Trennungslösung erlischt aufgrund des nunmehr eingetretenen Nacherbfalles die Zuweisung des Vermögens des Erstversterbenden an den Überlebenden. Vor diesem Hintergrund und angesichts des hinzugetretenen zweiten Gatten und etwaiger aus der Zweitehe hervorgegangener Kinder besteht für den Überlebenden häufig das Bedürfnis, hinsichtlich seines eigenen Nachlasses neu zu testieren. Ob der Überlebende hierzu berechtigt ist, ist durchaus fraglich. Bei gemeinschaftlichen Testamenten der hier behandelten Art, also Testamenten mit Einheits- oder Trennungslösung, bedenken sich die Ehegatten gegenseitig und verfügen zugleich zugunsten ihrer gemeinsamen Kinder als Erbe des Längstlebenden (Einheitslösung) oder als Nacherbe des Erstverstorbenen und Erbe des Überlebenden (Trennungslösung). Derartige Verfügungen sind nicht nur gegenseitig, sondern in der Regel (§ 2270 II BGB) auch hinsichtlich der Verfügung zugunsten der gemeinsamen Kinder217 korrespektiv218 und damit nach dem ersten Todesfall mit bindender Wirkung (§ 2271 II 1 BGB) ausgestattet. Bei der dogmatischen Untersuchung von Wiederverheiratungsklauseln stand für die Zeitspanne vor der Wiederverheiratung weniger die Bindung hinsichtlich der Verfügungen zugunsten der gemeinsamen Kinder als die Rechtsmacht des Überlebenden im Spannungsverhältnis zwischen einerseits Freiheit und Bindung des überlebenden Gatten und andererseits den Erberwartungen der 215
Vgl. § 12 II 4 b. Vgl. § 12 II 4 c. 217 Vgl. zur Frage, ob auch gemeinsame Kinder Verwandte i. S. § 2270 II BGB darstellen, nur RGZ 88, 330 (332); 116, 148 (150); BayObLGE 19, 143 ff.; BayObLG DNotZ 1977, 40 (41); MünchKomm-Musielak, § 2270 Rn. 11; StaudKanzleiter, § 2270 Rn. 28; Palandt-Edenhofer, § 2270 Rn. 8; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 V 2; Battes, Gemeinschaftliches Testament, 161. 218 Dazu siehe oben § 6 III 1 c, dort auch zur Einsicht, daß die Einsetzung des eigenen Kindes gemeinhin nicht korrespektiv ist zur Einsetzung der eigenen Person als Erben des anderen Teils. 216
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 309
Endbedachten nach dem vorverstorbenen Gatten zur Rede. Nach der Wiederverheiratung kann diese Frage nach der Rechtsmacht des Überlebenden zu lebzeitigen Verfügungen über den Nachlaß nach dem Erstverstorbenen ausgeblendet werden, da die bedingte (Einheitslösung) oder unbedingte (Trennungslösung) Nacherbfolge eingetreten ist oder das bedingte Vermächtnis zugunsten der Kinder wirksam wird (Vermächtnislösung) und damit die auf den vorverstorbenen Elternteil bezogenen Erberwartungen der Kinder sich erfüllt haben. Nunmehr verändert sich die problemleitende Perspektive: Nicht mehr die lebzeitige Rechtsmacht des Überlebenden über den Nachlaß des Erstverstorbenen, sondern dessen gesetzlich gem. § 2271 II 1 BGB vorgesehene Bindungswirkung wird zum Problem. Die allgemeine Frage, wie der Überlebende im Falle seiner Wiederverheiratung seine Testierfreiheit wiedergewinnen kann, wurde schon diskutiert; auf die bisherigen Überlegungen – insbesondere zur Anfechtung nach § 2079 S. 1 BGB – sei hier daher nur verwiesen219. An dieser Stelle gilt es nur zu klären, ob sich aus einer Wiederverheiratungsklausel ein neuer Aspekt für die Lösung von der testamentarischen Bindung des überlebenden Teils gewinnen läßt. Wiederverheiratungsklauseln enthalten zumeist keine Regelung hinsichtlich der Testierfreiheit des Überlebenden nach seiner Wiederverheiratung, so daß man daran denken könnte, der Überlebende sei einerseits an seine Verfügungen zugunsten der gemeinsamen Kinder gebunden und könne andererseits dem zweiten Gatten und etwaigen aus der Zweitehe hervorgehenden Kindern außerhalb des oben nachgezeichneten Rahmens220 nichts testamentarisch zuwenden. Durchweg werden Wiederverheiratungsklauseln jedoch auch ohne ausdrückliche Regelung weitergehende Rechtsfolgen hinsichtlich der Wiedergewinnung der Testierfreiheit des Überlebenden zugeschrieben, als sie gemeinhin ohne eine derartige Klausel eintreten können. Zwei Problemebenen sind hier zu unterscheiden: Zum einen gilt zu klären, inwiefern die Bindung an das gemeinschaftliche Testament entfällt (dazu § 12 III 2). Sodann muß die Frage beantwortet werden, welches Schicksal die Verfügungen des Überlebenden zugunsten der gemeinsamen Kinder nimmt, ob sie also im Wiederverheiratungsfall automatisch unwirksam werden oder nicht (dazu § 12 III 3). Zu beiden Fragestellungen sind unterschiedliche Antworten gefunden worden.
219
Oben § 11. Siehe zum Umfang des Vermögens des Längstlebenden, welches von der testamentarischen Bindungswirkung erfaßt wird, oben § 11 III 2. 220
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung 2. Testamentarische Bindung und Wiederverheiratungsklausel
a) Entwicklung einer typisierenden Auslegungsregel Hinsichtlich der Frage, wie es um die testamentarische Bindung des Überlebenden bei korrespektiven Verfügungen im Falle einer Wiederverheiratungsklausel und dem eingetretenen Wiederverheiratungsfall bestellt ist, übernahm auch hier wieder die Rechtsprechung des Kammergerichts eine Leitfunktion in der Problembewältigung. Nachdem das Kammergericht anfangs einen Bindungswegfall nur bei einem diesbezüglich hinreichend deutlich vorgesehenen Willen der Eheleute annahm221, wandelte es seine Rechtsprechung später durchgreifend und ging umgekehrt von einer auf dem typisierten hypothetischen Willen eines als vernünftig und verständnisvoll gedachten Erblassers gründenden Auslegungsregel222 des Inhalts aus, daß aufgrund der Wiederverheiratungsklausel die letztwilligen Verfügungen ihren Charakter als wechselbezügliche verlieren und somit die Gebundenheit des Überlebenden im Zeitpunkt der Wiederverheiratung enden würde223. Diese Erkenntnis wurde schon bald von der Rechtsprechung übernommen224 und fand auch in der Literatur einen zumeist positiven Widerhall225 – wenngleich stellenweise für differenziertere Lösungen des Pro221
KG OLGZ 37, 261 (263). Kritisch gegenüber einer überbordenen ergänzenden Auslegung Buchholz, Erbfolge, 97. 223 Die Wende in der kammergerichtlichen Rechtsprechung wurde mit einem unveröffentlichten Beschluß aus dem Jahre 1934 (1 b X 450/34) eingeleitet, auf den das KG in JW 1937, 2520 (2521), hinwies. KG JW 1938, 2748 = HRR 1938, 1338, erweiterte diese Annahme sodann auf die Bindung beim Erbvertrag und zudem auf Verfügungen mit Trennungslösung. Vgl. sodann nur KG NJW 1957, 1073; FamRZ 1968, 331 (332). OLG Freiburg, NJW 1961, 1410, und BayObLGZ 1962, 137 (140), erweitern die Auslegungsregel schließlich auf Verfügungen mit Vermächtnislösung. 224 OLG München, HRR 1938, Nr. 881; OLG Kiel, SchlHA 1940, 73 (76); OLG Karlsruhe, NJW 1961, 1410 (zum Erbvertrag); BayObLGZ 1962, 137 (139); OLG Zweibrücken, OLGZ 1973, 217 (219 f.); OLG Köln, FamRZ 1976, 552; OLG Hamm, FamRZ 1995, 250 (251). 225 Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 45; Erman-Schmidt, § 2269 Rn. 14; PalandtEdenhofer, § 2269 Rn. 19; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3d; MünchKommMusielak, § 2269 Rn. 59; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2269 Rn. 42; Soergel-M.Wolf, § 2269 Rn. 30; Jauernig-Stürner, § 2269 Anm. 6b; v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 2, 920 f.; Nieder, Testamentsgestaltung, Rn. 612; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 II 2c; § 38 III 2; Schlüter, Erbrecht, § 21 V 4; Brox, Erbrecht, Rn. 189; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 240; Leipold, Erbrecht, Rn. 359; ders., FamRZ 1988, 352 (354); Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 140 ff.; Hankel, Neuere Rechtsprechung, 169 f.; Lüderitz, Auslegung, 382; Huken, DNotZ 1965, 729 (73o f.); Hurst, MittRhNotK 1962, 450 (452 f.); Hilgers, MittRhNotK 1962, 381 (390); Haegele, JurBüro 1968, Sp. 87 (Sp. 90); ders., RPfleger 1976, 73 (78); Simshäuser, FamRZ 1972, 273 222
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 311
blems von Bindungsfortfall und Bindungsbestand plädiert226 und vereinzelt sogar mit Rücksicht auf den Schutz der erstehelichen Kinder von einer grundsätzlich fortbestehenden Bindung ausgegangen wurde227. Die kautelarjurisprudentiellen Klauselwerke sehen zumeist einen Bindungswegfall vor228 – ein Hinweis darauf, daß die Regel des Kammergerichts auch in der Praxis überzeugt. b) Die Diskussion der Auslegungsregel des Kammergerichts Begründet wurde die Auslegungsregel des Kammergerichts vor allem mit einem Verlustargument229: Wer die Voll- oder Vorerbenstellung einbüße, soll auch an seine korrespektive Verfügung nicht mehr gebunden sein, da mit der Nachlaßherausgabepflicht der innere Grund für die wechselbezügliche Bindung entfallen sei. Gegen dieses Verlustargument wurde eingewandt, Verlustgesichtspunkte könnten bei der Beantwortung der Frage, ob der Überlebende von seiner testamentarischen Bindung befreit wird, keine Rolle spielen, weil im Spannungsfeld zwischen den das gemeinschaftliche Testament beherrschenden Äquivalenz- und Solidaritätsgedanken die Ausstrahlungskraft des Gegenleistungsprinzips auf die Korrespektivität notwendigerweise begrenzt sei230. Überzeugend ist dieser Einwand nicht. Zwar ist durchaus zuzugeben, daß es bei der Bindung nicht nur um ein materielles Leistungsverhältnis im Sinne eines austauschvertraglichen do ut des, sondern vornehmlich um einen Komplex von immateriellen Momenten und ideellen Motiven geht231. Es geht jedoch nicht an, das Ehegattentestament als Ausprägung eines gemeinschaftlichen rechtlichen Wollens und Handelns in toto dem Sozialgebilde Ehe zuzuordnen, und es damit auch an den Strukturbedingungen der ehelichen Lebensgemeinschaft mit einem je spezifischen Kräfte- und Spannungsfeld in Form des Wechselspiels von Äquivalenz und Solidarität teilnehmen zu lassen232. Auf diese Weise würde das gewillkürte Erbrecht in seinen Wertungsgrundlagen als vornehmlich fortge(277). Bei Testamenten mit Trennungslösung de lege ferenda auch Battes, Gemeinschaftliches Testament, 370. 226 Bei Buchholz, Erbfolge, 96 ff.; Dippel, AcP 177 (1977), 362 (369 f.); RGRKJohannsen, § 2269 Rn. 20; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 46 f.; Strötz, Wiederverheiratungsklausel, 96 f. De lege ferenda bei Testamenten mit Einheitslösung auch Battes, Gemeinschaftliches Testament, 354 ff. (Prinzip der Halbteilung). 227 Bei Domke, JW 1937, 2521 f. 228 Siehe die Zusammenstellung bei Radke, Darstellung. 84. 229 KG, JW 1937, 2520 (2521). 230 So Buchholz, Erbfolge, 86 ff. 231 Dazu ausführlich oben § 4 II 1. Insofern ist Buchholz, Erbfolge, 88, Recht zu geben. 232 Wie dies bei Buchholz, Erbfolge, 88 ff., geschieht.
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
setztes Familienrecht begriffen und damit eines seiner wichtigsten Charakteristika entkleidet, nämlich Ausdruck des Persönlichkeitsrechts des Testierenden zu sein233. Die richtige Antwort auf die Frage, ob eine Lösung von der testamentarischen Bindung angenommen werden kann, eröffnet ein Blick auf den Grund, warum das Gesetz überhaupt eine derartige Bindung anordnet. Dieser Grund wurde im Rahmen dieser Untersuchung in dem Gedanke der durch Gratifikationen abgestützten Reziprozität gesehen234. Es konnte gezeigt werden, daß es bei der Bindungswirkung nach § 2271 II 1 BGB nicht darum geht, den Erstverstorbenen zu schützen, weil er mit Blick auf die letztwilligen Verfügungen des anderen Gatten selbst Anordnungen von Todes wegen getroffen hat. Ein derartiges vermögensbezogenes Vertrauen wird vielmehr nicht über § 2271 II 1 BGB, sondern allein durch die Regelung des § 2270 I BGB geschützt235. Bei der Bindung nach § 2271 II 1 BGB steht im Gegenteil nicht der Schutz vermögensmäßiger Gratifikationen, sondern der Schutz psychischer Gratifikationen im Vordergrund. Was heißt das? Im Prozeß der gemeinschaftlichen Todesverarbeitung, die ihren rechtsgeschäftlichen Niederschlag in dem gemeinschaftlichen Testament gefunden hat, gewährt der Erstverstorbene dem überlebenden Teil eine Hilfe bei seiner eigenen Todesverarbeitung durch psychische und emotionale Unterstützungen (diese wurden als sog. „psychische Gratifikationen“ bezeichnet), die aus der personalen Nähebeziehung zwischen den Gatten erwachsen und in dieser – nicht im Institut der Ehe – ihren Sitz haben. Das Gesetz ordnet die testamentarische Bindung zwar nur bei der Ehe und der eingetragenen Lebenspartnerschaft an. Dies geschieht jedoch nur deshalb, weil zum einen vermutet werden darf, hier sei eine personal-affektive Verbundenheit typischerweise gegeben, und weil zum anderen der Gedanke der Rechtssicherheit für eine Anknüpfung an formalisierte Gemeinschaften spricht236. Solidaritätsaspekte und ähnliches spielen demgegenüber eine geringere Rolle. Der Grund für die gesetzliche Wertung, einstmals gewährte psychische Gratifikationen rechtfertigen die testamentarische Bindung, liegt in der Einsicht, daß gerade derartige Gratifikationen als Zeichen des Persönlichkeitsrechts des Ehegatten, der sein „Sein zum Tode“ verarbeitet, begriffen werden können. Letztlich gründet die testamentarische Bindung mithin im Persönlichkeitsrecht des Erstverstorbenen. Soweit mit Blick auf diese Teleologie des 233
Siehe zur Einsicht, daß das gemeinschaftliche Testament wenig mit der Form der Ehe, viel jedoch mit den in intim codierten Partnerschaften lokalisierten Kommunikationschancen und den damit verbundenen Möglichkeiten der eigenen Persönlichkeitsentfaltung zu tun hat, oben § 6 I 3 b. 234 Dazu ausführlich oben § 5, § 6 I. 235 Siehe dazu § 4 II 3 c, § 5 III 2 b. 236 Dazu oben § 6 I 3.
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 313
§ 2271 II 1 BGB die Lösung von der testamentarischen Bindung im Falle der Wiederverheiratung zur Rede steht, wurde schon ausgeführt, daß die psychischen Gratifikationen, die der Erstverstorbene dem Überlebenden im gemeinschaftlichen Testieren gewährt hat, für den überlebenden Teil entwertet sind, wenn dieser sich erneut verheiratet237. Eine Lösung von der testamentarischen Bindung ist deshalb im Falle der Wiederverheiratung grundsätzlich die sachgerechte Antwort. Auch in hergebrachter Sicht wird dies so sein. Denn auch soweit in Kategorien familiarer Solidarität gedacht wird, ist eine Lösung von der Bindung die richtige Antwort auf die Wiederverheiratung, wenn eine Wiederverheiratungsklausel vorliegt. Unter Solidaritätsgesichtspunkten wird angenommen, beim gemeinschaftlichen Testament ginge es den Ehegatten vor allem um die bedürfnisgerechte Versorgung und Sicherung des Überlebenden. Dies gelte jedoch nicht auch für die Zeit nach der Wiederverheiratung. Hier ändere sich vielmehr die Interessenlage238. Aufgrund der Vereinbarung einer Wiederverheiratungsklausel schlüge das Motiv wechselseitiger Ehegattenbegünstigung und damit auch das Moment solidarischer Verantwortung füreinander in einem je nach Gestaltung abgestuften Vorrang der gemeinsamen Abkömmlinge um, die dann durch den Eintritt des Nacherbfalles begünstigt werden239. Werden die Abkömmlinge so begünstigt, entspricht dem die Lösung von der Bindung. Auch nach Ansicht eines erbrechtlichen Familiarismus ist daher bei der Wiederverheiratung die Entbindung des Überlebenden die sachgerechte Antwort. Gewinnt der Überlebende also bei der Wiederverheiratung seine Testierfreiheit im Zweifel wieder, wenn die Ehegatten der ersten Ehe im gemeinschaftlichen Testament eine Wiederverheiratungsklausel vorgesehen haben? Obgleich schon nach den bisherigen Überlegungen viel dafür spricht, bleibt ein Einwand noch zu diskutieren. Denn besteht durch die Auslegungsregel des Kammergerichts, die nun einmal nicht nach Fallgruppen gegliedert ist, nicht die Gefahr, daß diejenigen Differenzierungen eingeebnet werden, die das Gesetz bei den allgemeinen Entbindungsinstrumentarien anordnet, welche dem Schutze des Überlebenden dienen240? Aus Gründen des Schutzes des Überlebenden ordnet § 2272 II 1 HS 2 BGB dessen Entbindung an, wenn er das ihm Zugewendete ausschlägt241. Soweit dem Überlebenden bei Wiederheirat die von Todes wegen vom Erstverstorbenen erworbenen Vorteile vollständig oder nahezu vollständig entzogen werden, greift genau dieser Schutzgedanke des § 2271 II 1 HS 2 BGB242; der Überlebende wird also von der testamentarischen Bindung zu Recht gänzlich befreit. Aber gilt 237 238 239 240 241
Dazu oben § 11 III 2 b aa. Zur Interessenlage vgl. nur Dippel, AcP 177 (1977), 349 (369). Das sieht auch Buchholz, vgl. Erbfolge, 16. Zu diesen Instrumentarien siehe oben § 9, § 10. Dazu oben § 9 I.
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
dies auch dann in dieser Weite, soweit der überlebende Gatte bei Wiederheirat das aus dem Nachlaß des Erstverstorbenen Erlangte nur zum Teil herausgeben muß? Hier wird stellenweise vertreten, der hypothetische Wille beider Ehegatten ginge grundsätzlich nur auf einen nur teilweisen Wegfall der Bindung an die wechselbezüglichen Anordungen243. Denn nur so würde sowohl das Sicherungsinteresse des Erstverstorbenen an einer möglichst weitgehenden Bedenkung der im gemeinschaftlichen Testament Berufenen als auch das Partizipationsinteresse des Überlebenden an der möglichst weitgehend Bedenkung des zweiten Ehegatten und der Abkömmlinge aus zweiter Ehe angemessen berücksichtigt. Wenn sich bsp. der überlebende Ehegatte bei Wiederheirat mit den erstehelichen Abkömmlingen nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge auseinandersetzen muß, steht zwar ausdrücklich nur die Erbfolge nach dem Erstverstorbenen an; die Ehegatten hätten sich aber darauf eingelassen, daß auch beim Tode des Zweitversterbenden den Abkömmlingen der ersten Ehe ein Anteil in Höhe ihres gesetzlichen Erbteils verbleibe244. Eine derartige abgestufte Lösung überzeugt nicht. Mit ihr wird übersehen, daß mit der Anordnung des Erstverstorbenen, der Überlebende möge sich im Wiederverheiratungsfall mit den Abkömmlingen aus erster Ehe beispielsweise nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge auseinandersetzen, der erstverstorbene Teil genau die Verantwortung wahrnimmt, die im Rahmen dieser Untersuchung dazu bewogen hat, den Schutz der auf den intergenerationalen Vermögenstransfer bezogenen Erwartungen des Erstverstorbenen nicht durch § 2271 II 1 BGB, sondern allein durch § 2270 I BGB gewährleistet zu sehen245. Für die Frage, ob psychische Gratifikationen entwertet sind, spielt es wegen dieser Verantwortungstragung des erstverstorbenen Teils keine Rolle, in welcher Höhe den Abkömmlingen aus erster Ehe Nachlaßbestandteile nach dem Erstverstorbenen zugewendet werden; dies zeigt ja schon das Selbstanfechtungsrecht aus § 2079 S. 1 BGB246. Zwar könnte durchaus daran gedacht werden, der Überlebende hätte wegen des Vorliegens der Wiederverheiratungsklausel seine Verfügungen im gemeinschaftlichen Testament der ersten Ehe auch dann errichtet, wenn er von der Wiederverheiratung Kenntnis gehabt hätte, so daß die Anfechtung oft gem. § 2079 S. 2 BGB ausgeschlossen sein wird. Ein derartiger hypothetischer 242 Zumindest für diesen Fall ebenso OLG Hamm, FamRZ 1995, 250 (251); JR 1987, 376 (377). 243 Vgl. Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 48. 244 So im Ergebnis Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 49; Buchholz, Erbfolge, 106; ähnlich Dippel, AcP 177 (1977), 348 (370). 245 Hierzu sei eindringlich auf die Ausführungen oben § 4 II 3 c, § 5 III 2 b verwiesen. 246 Dazu oben § 11 IV.
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 315
Wille wird jedoch nur dann anzunehmen sein, wenn sich die Lage des Überlebenden gegenüber der Situation eines Testaments ohne Wiederverheiratungsklausel nicht verschlechtern würde. Denn ansonsten würde ja unverständlicherweise gemutmaßt, der Überlebende würde trotz Klausel bei seiner erneuten Verheiratung seine Zurücksetzung aufgrund des Eintritts des Nacherbfalls und einen Verlust seines Anfechtungsrechts aus § 2079 S. 1 BGB hinnehmen. Letzteres kann er nur akzeptieren, wenn bei einer Wiederverheiratung eben wegen der hierauf bezogenen Klausel angenommen werden kann, die testamentarische Bindung sei beendet. Aus all dem folgt, daß die o. g. Auslegungsregel des Kammergerichts zumindest nach dem bisherigen Stand der Erörterungen überzeugt. Das Kammergericht hat neben dem gerade diskutierten Verlustargument auch ein Billigkeitsargument bemüht: Es wäre unbillig, den zweiten Ehegatten und etwaige aus der Zweitehe erwachsene Kinder von der Beteiligung am Nachlaß gänzlich – auch mit Rücksicht auf das nach dem Vorversterbensfall mit Hilfe des Zweitgatten möglicherweise erworbenen Vermögens – auszuschließen. Und dazu käme es allein deshalb schon zumeist, da die Anfechtung der bindenden Verfügung oftmals zu langwierig sei, über Maß die Verwandtschaftsbeziehungen belaste und häufig nicht rechtzeitig geltend gemacht würde247. Das Billigkeitsargument kann in zweierlei Spielarten gelesen werden. Einmal kann es auf eine Vorstellung objektiver, vernünftiger Billigkeit zielen und hiermit auf eine der Bindungsnorm des § 2271 II BGB möglicherweise inhärenten Verpflichtung zur ausgleichenden Gerechtigkeit im Kontext des geltenden Privatrechts. Dies ergibt jedoch keinen rechten Sinn, da dann die Bindungswirkung des § 2271 II BGB von Billigkeitserwägungen abhängig gemacht und damit ein sehr unbestimmtes Moment die rechtliche Stabilisierung gewährter Reziprozität, die die Bindung ja trägt248, untergraben würde. Daneben kann Billigkeit aber auch auf die Privatautonomie der Testierenden bezogen werden. Billigkeit verweist in diesem Falle auf die partikularen Interaktionsgepflogenheiten der Ehegatten249 und darauf, wie sie die Billigkeit im Wiederverheiratungsfall verteilt wissen wollen. Wenn das Billigkeitsargument in diesem Sinne verstanden wird – und das kann es nur, nachdem die erste Variante ausgeschieden ist –, kann dies aber nichts anderes bedeuten, als daß die Ehegatten unter einer Billigkeitsperspektive im Ergebnis ebenso entschieden haben werden wie unter dem gerade skizzierten250 Gesichtspunkt des Vermögensverlusts. Schließlich spricht für die Auslegungsregel des Kammergerichts auch der Gedanke, daß der Bindungsfortfall nicht dem mit dem gemeinsamen Testament intendierten 247 248 249 250
KG, JW 1937, 2520 (2521). Siehe nochmals oben § 5. Dazu oben § 6 III. Oben § 12 III 2 b.
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
Schutz der endbedachten Kinder entgegensteht. Denn Wiederverheiratungsklauseln sollen nur verhindern, daß die Endbedachten den Nachlaß des Erstverstorbenen mit weiteren Pflichtteilsberechtigten teilen sollen; der Nachlaß des Überlebenden ist aber in diese Schutzrichtung nicht einbezogen251. Gegen die Auslegungsregel des Kammergerichts und für eine differenzierte Sicht der Bindungsproblematik spricht sich Buchholz252 aus. Er deutet die Bindung des Überlebenden als Fortwirkung der Verfügung des Erstverstorbenen. Buchholz geht davon aus, daß die Frage der Bindungswirkung nach Wiederheirat zu den Punkten voraussehbarer und kalkulierbarer Realität gehört, die durch die Testamentsklausel zu regeln war und sich daher auch mit den Mitteln der erläuternden Auslegung als Regelungsgegenstand aus der Gesamtstruktur der Erblasserverfügungen erschließen lasse253. Die Verfügungen zugunsten der gemeinsamen Kinder könnten aufgrund einer sachgerechten Betrachtung der Korrespektivität immer nur als Verfügungen über den Gesamtnachlaß verstanden werden – der Erstversterbende habe daher zugleich so über den Gesamtnachlaß verfügt, als ob er der Überlebende wäre254. Überzeugend ist dieser Gedanke nicht. Denn selbst wenn von einem hypothetischen Willen des Erstverstorbenen ausgegangen würde, er habe über den Gesamtnachlaß verfügen wollen, folgt hieraus nichts für die Bindungsfrage. Hierzu sei nochmals daran erinnert, daß der Schutz des Erstverstorbenen hinsichtlich des Schicksals seines Nachlasses nicht in § 2271 II 1 BGB, sondern in § 2270 I BGB situiert. Buchholz bemüht also einen Gesichtspunkt, der schon für den Eintritt der Bindung allein nicht beachtlich ist. Nach all dem bleibt es also dabei: Die Auslegungsregel des Kammergerichts überzeugt. Der Überlebende wird somit entgegen zahlreicher Stimmen in der Literatur255 im Falle der Wiederverheiratung von der testamentarischen Bindung befreit, wenn eine Wiederverheiratungsklausel vorliegt.
251
Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 142. Erbfolge, 96 ff. 253 Buchholz, Erbfolge, 97 f. 254 Buchholz, Erbfolge, 103 ff. 255 Siehe Dippel, AcP 177 (1977), 349 (369 f.); Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 46 f.; Buchholz, Erbfolge, 106 ff.; andeutend auch Soergel-Manfred Wolf, § 2269 Rn. 30. 252
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 317 3. Wiederverheiratungsklausel und der Fortfall der Verfügung des Überlebenden
a) Im Zweifel: Fortfall der Verfügung? Wenngleich der überlebende Ehegatte aufgrund der soeben skizzierten Auslegungsregel von der Bindung an das gemeinschaftliche Testament frei wird, ist damit das Schicksal der gemeinschaftlichen Verfügung im übrigen noch ungeklärt. Die relevante Frage ist: Wird die Verfügung des Überlebenden aus dem Testament der ersten Ehe mit der Wiederverheiratung automatisch unwirksam? Grundsätzlich setzt der Fortfall einer letztwilligen Verfügung einen wirksamen Erlöschensgrund oder einen förmlichen Widerruf (§ 2254 BGB) voraus. Stellenweise wird jedoch angesichts einer Wiederverheiratungsklausel angenommen, daß die wechselbezügliche Verfügung des Überlebenden bei Wiederverheiratung nicht nur ihrer Bindungswirkung entkleidet, sondern automatisch ohne ausdrücklichen actus contrarius entfallen solle. Dogmatisch-konstruktiv wurde dies entweder mittels einer Analogie zu § 2270 I BGB256 oder durch eine aufgrund einer ergänzenden Testamentsauslegung gewonnnen Auslegungsregel herbeigeführt: Grundsätzlich sei die Erbeinsetzung der gemeinsamen Kinder durch die Wiederverheiratung entweder auflösend bedingt257 oder es liege ein durch die Wiederverheiratung bedingter Widerruf der gegenseitigen Erbeinsetzung mit der Folge des § 2270 I258 BGB vor. Daneben wurde auch ein zunächst zur Aufhebung der Korrespektivität führender und sodann den Widerruf gestattender Vorbehalt angenommen259. Mit diesen Konstruktionsangeboten sind auch etwaige Bedenken hinsichtlich der dogmatisch-konstruktiven Stringenz des Verfügungsfortfalls260 ausgeräumt. Auslösender Wegweiser zur Problembewältigung war wiederum das Kammergericht mit einer Entscheidung aus dem Jahre 1957261; es sprach sich für ein Gegenstandsloswerden der 256 Leipold, Erbrecht, Rn. 359; OLG Hamm, FamRZ 1995, 250 (251); andeutungsweise auch in KG, NJW 1957, 1073 (1074). 257 So Hankel, Neuere Rechtsprechung, 169 ff. Angedeutet in KG, NJW 1957, 1073 (1074); KG FamRZ 1968, 331 (332). Vgl. zum Problem Buchholz, Erbfolge, 74, 76. Zweifelnd Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (452 f.); Huken, DNotZ 1965, 729 (730). 258 So Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (277). Ähnlich Dippel, AcP 177 (1977), 349 (366). 259 Darauf weist Buchholz, Erbfolge, 81, hin. 260 Vgl. Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (452 f.); Hilgers, MittRhNotK 1962, 381 (390); Huber, RPfleger 1981, 41 (44); Huken, DNotZ 1965, 729 (730, 732 f.); Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 142 f.; Dittmann/Reimann/Bengel-Bengel, § 2269 Rn. 42; Erman-M. Schmidt, § 2269 Rn. 14. 261 KG NJW 1957, 1073 f. Das Gericht folgt hierbei der Meinung Hankels, Neuere Rechtsprechung, 169 ff. Der Entscheidung schlossen sich an KG FamRZ 1968,
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
Verfügung des Überlebenden aus. Begründet wurde dies mit einem Interessenargument, einem Schutzargument und einem Willkürargument. Es wird sich zeigen lassen, daß alle drei Argumente den automatischen Verfügungsfortfall nicht durchgreifend begründen können. b) Verfügungsfortfall und Ehegatteninteressen Das Interessenargument rekurriert auf das wohlverstandene Interesse der Eheleute, die bei der Vereinbarung einer Wiederverheiratungsklausel selbstverständlich davon ausgingen, daß durch eine etwaige Zweitehe weitere Erbberechtigte dem Überlebenden gegenüber treten, denen verständigerweise eine Beteiligung am Nachlaß des Zweitversterbenden nicht abgeschlagen werden könne. Dieser besonderen Willensrichtung der Ehegatten entspreche jedoch die Gegenstandslosigkeit der Verfügung nach Wiederheirat am ehesten. Dem muß freilich widersprochen werden. Die Ehegatten errichten ein gemeinschaftliches Testament, weil sie ihr Vermögen einem gemeinsamen Schicksal unterwerfen wollen. Die Ungewißheit hinsichtlich des eigenen Überlebens und damit auch hinsichtlich der Möglichkeit zur Wiederverheiratung ist hier prägend. Angesichts dessen kommt es zu einer Dichotomie zwischen den redlicherweise bestehenden hypothetischen Willen der Ehegatten: Sehen sich die Ehegatten jeweils als Erstversterbende, so wird die Vorstellung, daß das beiderseitige Vermögen trotz Wiederverheiratung letztlich doch noch rechtlich (Einheitslösung) oder wirtschaftlich (Trennungslösung) ungeteilt an die gemeinsamen Kinder fließen wird, in der Regel nicht aufgegeben262. Anders stellt sich dies dar, wenn sich der Ehegatte jeweils als Überlebender versteht. Hier wird ein vernünftig denkender Erblasser davon ausgehen, die Erstverfügung habe sich erledigt, da nur dann – aufgrund des Eintritts der gesetzlichen Erbfolge – eine Differenzierung zwischen Familienmitgliedern aus erster und zweiter Ehe nicht mehr erfolgt. Die Interessenlage der Ehegatten gibt daher aufgrund der Verschiedenheit der Interessen je nach Perspektive des Überlebens oder des Erstversterbens für die Frage nach dem Verfügungsfortfall recht besehen 331; OLG Hamm, FamRZ 1995, 250 (251); Jauernig-Stürner, § 2269 Anm. 6a; Leipold, Erbrecht, Rn. 359; ders., FamRZ 1988, 352 (355); Haegele, JurBüro 1968, Sp. 87 (Sp. 90); Dippel, AcP 177 (1977), 349 (367 f.); Soergel-M.Wolf, § 2269 Rn. 31; offengelassen in BGH FamRZ 1985, 1123 (1124). Einschränkend nur, wenn im Einzelfall ein Wille auf Verfügungsfortfall konkret ermittelt werden könne PalandtEdenhofer, § 2269 Rn. 19; MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 59; Erman-Schmidt, § 2269 Rn. 14; Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 46 ff. De lege ferenda für die Hälfte des Vermögens des überlebenden Ehegatten auch Battes, Gemeinschaftliches Testament, 364 ff. 262 Forster, Wiederverheiratungsklauseln, 143; Huken, DNotZ 1965, 729 (730 f.). Anders Hankel, Neuere Rechtsprechung, 170.
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 319
nichts her: Jeder der Gatte wird, wenn er sich als Erstversterbenden sieht, gegen den Verfügungsfortfall sein und genau anders entscheiden, wenn er die Perspektive des Überlebenden einnimmt. c) Verfügungsfortfall und Schutz der erstehelichen Kinder Die weiteren Argumente des Kammergerichts können ebenfalls nicht überzeugen. Wieso der Schutz der Kinder aus erster Ehe von einer automatischen Gegenstandslosigkeit nicht berührt werde263, ist nicht recht einsichtig. Zwar ist die bindende Wirkung des gemeinschaftlichen Testaments aufgehoben, so daß der Überlebende jederzeit neu – auch zu Lasten der gemeinsamen Kinder aus erster Ehe – testieren kann. Dazu muß der Überlebende jedoch erst einmal Initiative zeigen. Es kommt also darauf an, ob das Risiko einer fehlenden Initiative – also einer fehlenden Neuverfügung – durch die Ehegatten der Erstehe jemandem zugewiesen worden ist. Wiederum geben die Interessen der Ehegatten für diese Frage vor dem Hintergrund einer ungewissen Zukunft zur Zeit des gemeinschaftlichen Testierens nichts her: Die Interessen der gemeinschaftlich testierenden Ehegatten sind in der Perspektive des Vorversterbens darauf gerichtet, die erstehelichen Kinder so weitgehend zu sichern, wie dies bei dem Hinzutreten neuer Pflichtteilsberechtigter redlicherweise dem überlebenden Ehegatten angesonnen werden kann. Aus dieser Sicht spricht dann alles für die Aufrechterhaltung der Verfügung: Nur so werden die erstehelichen Kinder weitestgehend gesichert, ohne daß der Zweitfamilie jeder Schutz genommen wird. Wenn die Ehegatten jedoch die Perspektive des Überlebenden einnehmen, sind die Interessen nicht auf einen weitestgehenden Schutz allein der Endbedachten, sondern auch auf einen gleich starken Schutz der neuen Familie und damit auf den Verfügungsfortfall gerichtet. Auch das Schutzargument gibt daher aufgrund des Interessenpatts nichts weiter her. Soweit schließlich darauf verwiesen wird264, durch die Gegenstandslosigkeit würde vermieden, daß die Erbfolge nach dem Überlebenden von der Zufälligkeit abhängig gemacht wird, ob der Überlebende neu testiert oder etwa aufgrund Unkenntnis über die Rechtslage oder – doch dies wohl eher im Ausnahmefall265 – aufgrund Nachlässigkeit eine Verfügung nicht mehr errichtet, so kommt es hier wiederum zum Interessenpatt: Die Ehegatten hoffen angesichts der geschilderten Ungewißheit, wer zuerst verstirbt, in der Perspektive des Erstversterbenden, daß eine erneute letztwillige Verfü263
KG, NJW 1957, 1073 (1074). KG, NJW 1957, 1073 (1074); KG FamRZ 1968, 331 (332); zustimmend Dippel, AcP 177 (1977), 349 (368); Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (277). 265 Staud-Kanzleiter, § 2269 Rn. 50; Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (277). Mit Auswertung der Rechtsprechung auch Battes, Gemeinschaftliches Testament, 364 f. 264
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
gung des Überlebenden – aus welchen Gründen auch immer – unterbleibt und ersparen dem Überlebenden nicht jegliche Zumutung und Verantwortung für ein etwaiges Neutestat, die ansonsten den Kindern aus erster Ehe aufgebürdet würden. Etwaige Zufälligkeiten im Testierverhalten sind aus dieser Sicht her von den Ehegatten selbst für unbeachtlich angesehen worden. Den Interessen aus der Perspektive des Überlebens korrespondiert hingegen die Gegenstandslosigkeit der Verfügung, da nur so das Risiko eines fehlenden Testats von den Angehörigen der Zweitfamilie genommen wird. Es liegt damit wiederum ein Interessenpatt vor. d) Verfügungsfortfall und Ehegattensolidarität Ist aus den bisherigen Erörterungen der Schluß zu ziehen, mangels hinreichender gegenteiliger Anhaltspunkte in der Verfügung müsse von einer weiterhin bestehenden, gültigen Verfügung des Überlebenden ausgegangen werden? In der Tat wird dies so gesehen266. Wie ist zu entscheiden? Da es bei der Frage nach der Weitergeltung der Verfügung des Überlebenden nicht um die Entwertung psychischer Gratifikationen geht, kann der mutmaßliche Wille der Gatten an dem Gesichtspunkt festgemacht werden, der ansonsten oft im Mittelpunkt der Auslegung von Ehegattentestamenten steht: dem Gedanken der Ehegattensolidarität. Eine Fallgruppenbildung ist hier hilfreich. (1) Wenn die Ehegatten sich für den Wiederverheiratungsfall vollständig von der Erbfolge ausgeschlossen haben – Fallgruppe 1 –, ist die Ehegattensolidarität in der Regel zusammengebrochen. Der Überlebende darf sich dann in einer weitgehenden solidarischen Verbundenheit zur Zweitfamilie wähnen und wird zudem seiner solidarischen Verantwortung für die Kinder aus erster Ehe aufgrund ihrer uneingegrenzten Erbfolge nach dem Erstverstorbenen weitgehend entkleidet. Vor diesem Hintergrund verfängt das Argument nicht mehr, der dem gemeinschaftlichen Testament zugrundeliegende Gedanke der Einheit des Vermögens spreche für den Willen, das gemeinsame Vermögen für die gemeinsamen Abkömmlinge zusammenzuhalten267. Die Ehegatten zeigen vielmehr angesichts einer zerbrochenen Ehegattensolidarität, daß der Einheitsgedanke nunmehr aufgegeben worden ist, so daß ihren Interessen ein automatischer Wegfall der gemeinschaftlichen Verfügung am ehesten entspricht268. In der Fallgruppe 1 kommt es also zu einem grundsätzlichen Wegfall der Verfügung des Überlebenden im Wiederverheiratungsfall. 266 v. Lübtow, Erbrecht, Bd. 2, 921; Kipp/Coing, Erbrecht, § 35 II 2c; Dittmann/ Reimann/Bengel-Bengel, § 2269 Rn. 45; Huken, DNotZ 1965, 729 (731 f.); Huber, RPfleger 1981, 41 (44). Für Auslegung im Einzelfall OLG Hamm, JR 1987, 376 (377). 267 Huken, DNotZ 1965, 729 (730 f.).
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 321
Gegen diese Lösung wird eingewandt, der wirkliche Wille des Überlebenden würde nicht stets verwirklicht269. Überzeugend ist dies nicht: Der Verfügungsfortfall gründet sich auf einer typisierten Auslegungsregel. Zeigt sich im Einzelfall ein dieser Typisierung nicht entsprechender Wille, ist nach diesem zu entscheiden. Die Anfechtung gem. § 2078 II BGB wegen eines etwaigen Irrtums über die Gegenstandslosigkeit der Verfügung, die von der Gegenansicht, welche eine Aufrechterhaltung der Verfügung favorisiert270, propagiert wird, ist demnach gar nicht erforderlich; schon eine sachgerechte Auslegung kann hier entsprechend dem Vorrang der Auslegung vor der Anfechtung helfen. Die Gegenansicht und die hier vertretene Meinung unterscheiden sich freilich in der Verteilung der Beweislast: Nach der hier vertretenen Lösung muß derjenige, der Rechte aus der Verfügung der Erstehegatten geltend machen will, die Umstände beweisen, die für den ausnahmsweise bestehenden Willen der Ehegatten auf Aufrechterhaltung der Verfügung sprechen. Nach der Gegenansicht ist ihm dies erlassen; hingegen müssen die Mitglieder der Zweitfamilie einen Irrtum gem. § 2078 II BGB beweiskräftig dartun. Diese Unterschiede in der Beweislast sind auch gerechtfertigt, da die hier durch ergänzende typisierte Auslegung gewonnene Regel grundsätzlich willensnäher ist, so daß durch sie typischerweise den Willen der Ehegatten am ehesten gerecht wird. Wenn die Ehegatten dennoch im Einzelfall von einer Aufrechterhaltung der Erstverfügung ausgehen, müssen dafür konkrete Anhaltspunkte vorhanden sein271. (2) Falls der überlebende Ehegatte sich im Fall der Wiederverheiratung hingegen mit den Kindern aus erster Ehe nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge auseinandersetzen soll – Fallgruppe 2 –, so haben die Ehegatten mit dieser Regel gezeigt, daß familiäre Solidarität auch weiterhin eine Rolle spielen soll. Derartige Solidaritätsreste geben damit den Nachlaßinteressen der Kinder aus erster Ehe ein besonderes Gewicht, so daß im Zweifel das gemeinsam Verfügte – also die Beteiligung der Kinder aus erster Ehe mindestens im Umfang ihres gesetzlichen Erbrechts – aufrechterhalten bleibt. Dem Überlebenden ist dann aufgegeben, gegebenenfalls erneut zu verfügen. Verbleibt dem überlebenden Ehegatten für den Fall der Wiederverheiratung ein den Pflichtteil übersteigender Erbteil und den Kindern aus erster Ehe eine die gesetzliche Nachlaßquote übersteigende Erbbeteiligung
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So bereits Weihe, DNotZ 1939, 247 (248); Hurst, MittRhNotK 1962, 435 (443); Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (277), je zumindest für die hier diskutierte Fallgruppe. 269 Staud-Kanzleiter, 12. Aufl., § 2269 Rn. 48. 270 Staud-Kanzleiter, 12. Aufl., § 2269 Rn. 48; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 24 IV 3d. 271 Im Ergebnis für diese Fallgruppe ebenso Simshäuser, FamRZ 1972, 273 (277).
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Kap. 4: Das Sonderproblem Testierfreiheit und Wiederverheiratung
– Fallgruppe 3 –, entfällt die Verfügung aufgrund der durch die Ehegatten gemeinsam anerkannten Nachlaßinteressen der Kinder aus erster Ehe und aufgrund der noch weitgehend vorhandenen familiären Solidarität zwischen den Mitgliedern der Erstfamilie ebenfalls nicht automatisch. Falls dem Überlebenden im Wiederverheiratungsfall nur eine Nachlaßbeteiligung eingeräumt worden ist, die geringer als der Pflichtteil ist – Fallgruppe 4 –, sind die Nachlaßinteressen der erstehelichen Kinder zwar auch deutlich hervorgehoben; aufgrund der die gesetzliche Mindestbeteiligung unterschreitenden Erbquote des Überlebenden zeigen die Ehegatten jedoch, daß jegliche familiäre Solidarität zerbrochen ist, so daß eine Privilegierung der Nachlaßinteressen der Kinder nicht mehr einsichtig erscheint: die Verfügung des Überlebenden entfällt hier automatisch in vollem Unfang. Es zeigt sich mithin, daß differenziert je nach dem jeweiligen Fall zu entscheiden ist, ob im Zweifel die Verfügung des Überlebenden bei der Wiederverheiratung automatisch wegfällt oder ob er erst neu testieren muß.
IV. Ergebnis zu Wiederverheiratungsklauseln Bei den Wiederverheiratungsklauseln stehen zwei Probleme im Mittelpunkt des dogmatischen Interesses: Zum einen geht es um die Frage, welche Rechtsmacht dem Überlebenden zu lebzeitigen Verfügungen über das vom Erstverstorbenen Erworbene gegenüber den Nachlaßinteressen der gemeinschaftlich Endbedachten aus erster Ehe zukommt, wenn der Überlebende Alleinerbe des Erstverstorbenen ist, mithin also ein gemeinschaftliches Testament nach dem Vorbild der Einheitslösung vorliegt. Zum anderen steht die Wiedergewinnung der Testierfreiheit des überlebenden Teils im Raum, wenn – wie zumeist – korrespektive Verfügung in dem Testament der ersten Ehe enthalten sind. Hinsichtlich der ersten Frage wurde eine nach Fallgruppen differenzierende Lösung vorgeschlagen: Im Grundsatz kommt es zu einer analogen Anwendung der §§ 2113 ff. BGB. Der Überlebende ist hierbei analog § 2136 BGB von den Vorschriften befreit, die seine alleinige Verantwortung für den Nachlaß einschränken (§§ 2113 I, 2114, 2116–2119, 2127–2131 BGB analog), während das Substanzerhaltungsinteresse der Endbedachten analog §§ 2113 II, 2133, 2134 BGB gesichert ist. Falls die Interessen des Überlebenden jedoch eindeutig gegenüber den Endbedachten im Vordergrund stehen und die Endbedachten allein das erhalten sollen, was vom Nachlaß noch übrig ist, kann der Überlebende zu Lebzeiten über den als Alleinerbe erworbenen Nachlaß des Erstverstorbenen unentgeltlich verfügen, wenn ihm hierzu ein lebzeitiges Eigeninteresse zur Seite steht. Hinsichtlich des zweiten Problemkreises konnte die vom Kammergericht gefundene Auslegungsregel bestätigt werden, daß der Überlebende von sei-
§ 12 Die Wiederverheiratung im Lichte kautelarjurisprudentieller Klauseln 323
ner testamentarischen Bindung befreit wird, wenn eine Wiederverheiratungsklausel vorliegt und der Verheiratungsfall eintritt. Zudem konnte gezeigt werden, daß die Verfügung des Überlebenden aus dem Testament der ersten Ehe im Zweifel wegfällt, wenn die Ehegatten sich für den Wiederverheiratungsfall vollständig von der Erbfolge ausgeschlossen haben oder falls dem Überlebenden nur eine Nachlaßbeteiligung eingeräumt worden ist, die geringer als der Pflichtteil ist. Die Verfügung aus dem Testament der ersten Ehe bleibt jedoch im Zweifel aufrechterhalten, falls der überlebende Ehegatte sich im Fall der Wiederverheiratung mit den Kindern aus erster Ehe nach den Regeln der gesetzlichen Erbfolge auseinandersetzen soll oder ihm ein den Pflichtteil übersteigender Erbteil und den Kindern aus erster Ehe eine die gesetzliche Nachlaßquote übersteigende Erbbeteiligung eingeräumt worden ist.
Kapitel 5
Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung § 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung I. Zusammenfassung der tragenden Entbindungsmöglichkeiten 1. Die drei tragenden Wertungen einer Lösung von der testamentarischen Bindung
Die Erörterungen zum Recht der Loslösung von der testamentarischen Bindung haben gezeigt, daß eine Entbindung zulässig ist, wenn drei Gründe vorliegen. Der erste Grund behandelt den Fall, bei dem die psychischen Gratifikationen, die der Erstverstorbene im Prozeß des gemeinschaftlichen Testierens dem Überlebenden einstmals gewährt hat und die allein die testamentarische Bindung nach § 2271 II 1 BGB zu generieren vermögen, zu Recht entwertet sind. Es ist dies einzig der Fall der Wiederverheiratung des Überlebenden. Der zweite Grund rekurriert auf den Willen beider Gatten oder zumindest auf den Willen des Erstverstorbenen, die oder der auf eine Lösung von der Bindung des Überlebenden gerichtet sind oder ist, wenn zu einer Freistellung des überlebenden Teils gegriffen worden ist. Der dritte Grund schließlich schneidet ein etwaig tatsächlich gehegtes Erwarten des erstverstorbenen Gatten normativ aus Gründen des Schutzes des Überlebenden auf ein Erwartendürfen zurück, vor deren Folie eine weitere Bindung des überlebenden Teils nicht mehr zulässig erscheint. Der Grund hierfür konnte darin verortet werden, daß eine weitere Bindung des überlebenden Teils dort nicht mehr angezeigt ist, wo die ehemals von beiden Gatten avisierte Vermögensordnung post mortem zerbrochen ist, wie dies etwas in den § 2271 II 1 HS 2, § 2271 II 2, § 2271 III, §§ 2281 ff. BGB analog oder beim Wegfall der Endbedachten gegeben ist. Die eingangs1 gehegte Vermutung, die Lösung von der testamentarischen Bindung gründe auf drei Wertungen: der entwerteten psychischen Gratifikation, den gemeinschaftlichen Willen beider Gatten oder zumindest des Willens des Erstverstorbenen und des Schutzes des überlebenden Teils, hat sich damit bestätigt. Dabei ist es durchaus einsichtig, daß eine zerbrochene Reziprozität zur Entbindung 1
Oben § 7 I 1, § 7 III.
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung
325
führen muß. Denn basiert schon die testamentarische Bindung auf jeweils zwischen den Gatten gewährter Reziprozität, ist bei einer verloren gegangenen Reziprozität kein Grund mehr für eine dann sinnlos gewordene weitere Bindung ersichtlich. Daneben würde eine Bindung des Längstlebenden auch dort nicht überzeugen, wo diese dem gemeinschaftlichen Willen beider Gatten oder dem Willen des Erstverstorbenen entspricht. Denn die testamentarische Bindung ist kein Selbstzweck, sondern gründet in dem Erwartungsschutz des Erstverstorbenen. Haben die Ehegatten oder der Erstverstorbene einen Erwartungsschutz nicht für erforderlich erachtet, scheidet eine Bindung notwendig aus. Schließlich wäre es zudem ungereimt, eine Bindung auch dann weiterhin anzunehmen, wenn Interessen des Überlebenden auftreten, welche aufgrund der zerbrochenen Vermögensordnung post mortem gegenüber dem Erwartungsschutz des Erstverstorbenen als schutzwürdiger einzuschätzen sind. Eine Entbindung ist dann die logische Folge einer sachgerechten Ausbalancierung der Interessen des Erstverstorbenen und des Überlebenden. Auch hier zeigt sich wieder, daß die Testierfreiheit zu Recht als funktionales Persönlichkeitsrecht begriffen werden muß. Denn persönlichkeitsrechtlich gedacht wäre es sehr merkwürdig, wenn die Rechtsperson eine Möglichkeit, ihre Persönlichkeit in einer besonderen Weise zu entfalten (hier: das Testieren), verlieren würde, ohne daß dieser Verlust ausnahmsweise durch gewichtige Interessen einer anderen Rechtsperson oder durch Allgemeininteressen aufgehoben werden könnte.
2. Testamentarische Entbindung und Erwartungsstörung
Die gesetzlichen Wertungen, die zur Lösung von der testamentarischen Bindung führen, können auch anhand eines anderen Kriteriums und damit aus einem anderen Blickwinkel verdeutlicht werden als mit dem gerade vorgetragenen Verweis auf entwertete Reziprozität, den Willen der Gatten oder des Schutzes des Überlebenden. Es sind dies zum einen das Kriterium der Enttäuschung tatsächlich gehegter Erwartungen, zum anderen das Kriterium normativer Begrenzungen derartiger Erwartungen des Erstverstorbenen. a) Entbindung und tatsächlich gehegte Erwartungen Tatsächlich gehegte Erwartungen werden – mit der Folge der Entbindung des überlebenden Teils – nicht mehr geschützt , wenn die vom Erstverstorbenen geleisteten Erwartungsinvestitionen verloren gehen, wobei dieser Verlust auf das Zerbrechen der einstmals gemeinschaftlich mit dem überlebenden Teil geplanten Vermögensordnung post mortem zurückgeführt werden kann. Das Gesetz gibt hier dem Längstlebenden seine Testierfreiheit in
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Kap. 5: Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
einer Situation wieder, in der eine weitere Bindung keinen rechten Sinn mehr ergeben würde. Diese Sinnlosigkeit einer weiteren Bindung kann auf drei Ebenen bezogen sein: auf die Ebene der Bedachten, auf die Ebene der Geschehnisse zwischen dem ersten und dem zweiten Todesfall und auf die Ebene der gemeinschaftlichen Planung selbst, also auf die Zeit vor dem ersten Todesfall. Auf der ersten Ebene findet eine Entbindung des überlebenden Teils wegen Veränderungen auf Seiten der Bedachten statt2. Die Bedachten können einmal ersatzlos wegfallen. Zudem können sie entweder den an sie als künftige verantwortungsbewußte Vermögensträger herangetragenen Erwartungen nicht gerecht werden oder sie enttäuschen im zwischenmenschlichen Bereich jene personalen Hoffnungen, die sie als Bedachte würdig erweisen ließen; das Gesetz hat auf die Erwartungsstörung mit den § 2271 II 2, 2271 III BGB reagiert. Die zweite Ebene greift Veränderungen zwischen dem ersten und dem zweiten Todesfall auf. Falls hier die von beiden Gatten avisierte Vermögensordnung zerbricht, reagiert hierauf die Rechtsordnung mit einem Verlust an testamentarischer Bindung. Besonders augenscheinlich wird dies im Fall des § 2271 II 1 HS 2 BGB3. Selbst wenn der überlebende Teil nur das testamentarisch Erworbene, nicht aber den gesetzlichen Erbteil ausschlägt, gewinnt er richtigerweise seine Testierfreiheit zurück. Der Grund hierfür liegt nicht in einem Opfer auf Seite des Ausschlagenden, sondern in der sachgerechten Bewertung einer Situation, in der ein Erwartungsschutz auf Seiten des Erstverstorbenen nicht mehr einsichtig erscheint, da dasjenige, welches er erwartet hat, selbst dann nicht mehr eintreten kann, wenn der überlebende Gatte auch seinen gesetzlichen Erbteil ausschlüge. Auf einer dritten Ebene findet das Gesetz zu einer Lösung von der testamentarischen Bindung, wo diese bei Lichte betrachtet entweder nicht den Erwartungen des Erstverstorbenen entspricht oder schon keine sachgerechte gemeinschaftliche Planung vorliegt. Ersteres ist grundsätzlich bei Vermögenszuwächsen des Überlebenden der Fall, die auf Schenkung oder auf einem erbrechtlichen Erwerb beruhen4 oder die in ihrem Umfang außerordentlich umfangreich sind5; zudem ist der Überlebende in aller Regel nicht gebunden, soweit seine letztwillige Verfügung nach dem ersten Todesfall einer moralischen Verpflichtung oder sittlichen Gebräuchen entspringt6. Eine gemeinsame Planung kann entsprechend der personfunktionalen Gründung des gewillkürten Erbrechts nur gegeben sein, wenn die Motivlage, auf 2 3 4 5 6
Dazu § 9 II. Dazu § 9 I. Dazu oben § 6 III 2 b. Siehe § 8 IV 3. Dazu § 6 III 2 c.
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung
327
der die gemeinschaftliche Planung beruht, irrtumsfrei gebildet worden ist. Ist dies nicht der Fall, stehen dem überlebenden Teil die Entbindungsmechanismen der Freistellungsklausel7 und der Anfechtung8 zur Seite. Gerade diese beiden Werkzeuge geben dem Überlebenden ein schneidiges Instrumentarium zur Hand, mit dem er auf Veränderungen in der Vermögensordnung post mortem reagieren kann. Freistellung und Anfechtung überschneiden sich in ihrem Anwendungsbereich, wenn eine Enttäuschung von Motiven vorliegt, welche für die Verfügung des Überlebenden erheblich sind. Überschneiden sie sich, sind sie funktional austauschbare Entbindungsmittel, wobei der Vorzug der Freistellung darin liegt, eine Lösung von der Bindung grundsätzlich auch dort zu ermöglichen, wo eine Anfechtung unzulässig ist, weil die Anfechtungsfrist überschritten ist. b) Normative Begrenzungen der Erwartungen des Erstverstorbenen Das Erwarten des Erstverstorbenen wird auch durch normative Kriterien eingeschränkt. Liegen derartige Kriterien vor, darf er selbst dann nicht erwarten, wenn er tatsächlich erwartet hat. Zwei Punkte gilt es hier festzuhalten. Erstens konnte notiert werden, daß das Erwartendürfen des Erstverstorbenen auch ausnahmsweise von Gegeninteressen des Überlebenden abhängig sein kann. Diskutiert wurde dies anhand eines Wertungsvergleichs mit der Sittenwidrigkeit von letztwilligen Verfügungen9 und der Situation der Wiederverheiratung10. Frucht dieser Überlegungen war, daß einmal das Erwarten des Erstverstorbenen ausnahmsweise durch sehr gewichtige Rechtsgüter des Überlebenden eingeschränkt werden kann. Darüberhinaus ist das Erwarten eingeschränkt, wenn es zur Wiederverheiratung kommt, da hinsichtlich eines Viertels des während der zweiten Ehe errungenen Vermögens (unter Vorabzug des vom Erstverstorbenen von Todes wegen Erworbenen) eine testamentarische Bindung nicht in Betracht kommt. In dieser Einschränkung des faktischen Erwartens des Erstverstorbenen durch Gegeninteressen des Überlebenden schimmert zugleich die personfunktionale Gründung des gewillkürten Erbrechts durch. Zweitens kann nicht nur der über § 2271 II BGB, sondern auch der über § 2270 I BGB geleistete Erwartungsschutz von vornherein limitiert sein durch das Maß des überhaupt einsichtigen Erwartens. Anders gesagt: Der Schutzmechanismus des § 2270 I BGB tritt überall dort zurück, wo eine berechtigte Erwartungshaltung des Erstverstorbenen sich nicht hat entwik7
Dazu § 8. Dazu § 9 III. 9 Dazu § 10 II. 10 Dazu § 11. 8
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Kap. 5: Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
keln dürfen. Relevant wurde dieser Gedanke vor allem bei der Wiederverheiratung11 und bei der Entbindung kraft gewichtiger Gegenrechte des Überlebenden12. Würde die Verfügung des Erstverstorbenen hier gleichwohl unwirksam werden, würde er vom anderen Teil erwarten dürfen, daß dieser erwartet, er, der Erstverstorbene, würde die unter Gatten geschuldete Solidarität nicht aufbringen wollen. Da er nicht so erwarten darf, sind seine trotz der unberechtigten Erwartung aufgewendeten Gratifikationen nicht schutzwürdig, so daß eine Entbindung des Überlebenden ohne Unwirksamkeit der korrespektiven Verfügung des Erstversterbenden i. S. § 2270 I BGB die logische Folgerung ist. Ein anderes Beispiel sind die Erwartungsstrukturen bei einer Freistellungsklausel. Bei dieser ist das Erwarten des Erstverstorbenen abgesenkt, weil er erwarten muß, daß der andere Teil nur verfügt, weil er freigestellt ist; ist dem so, darf aber der Erstverstorbene von vornherein nur eingeschränkt erwarten, so daß ein Schutz über § 2270 I BGB nicht veranlaßt ist13. II. Das wirtschaftliche Äquivalent zur Entbindung: Vermögensübertragung durch lebzeitige Rechtsgeschäfte 1. Allgemeines
Oftmals wird der Überlebende versuchen, die testamentarische Bindung durch Schenkungen unter Lebenden – etwa an seinen neuen Ehegatten oder an sonstige Dritte – wirtschaftlich zu unterlaufen. Auf die rechtliche Beurteilung derartiger Austauschvorgänge werden bei bindend gewordenden wechselbezüglichen Verfügung in gemeinschaftlichen Testamenten die erbvertraglichen Regelungen der §§ 2287 f. BGB wegen der gleichen Interessenlage allgemeiner Meinung nach entsprechend angewandt14. Es ist hier nicht der Ort, den Stand der Dogmatik des § 2287 BGB umfassend zu diskutieren. Aus der Fülle der Problemstellungen sollen vielmehr nur zwei Gegenstände herausgegriffen werden, die praktisch häufig relevant sein dürften: dies ist einmal die rechtliche Behandlung unbenannter Zuwendungen an den Gatten der zweiten Ehe, sodann die Problematik, wann eine Bereicherungsabsicht i. S. § 2287 I BGB vorliegt.
11
Dazu § 11 III 2 c, § 11 IV 4 b. Dazu § 10 II 3. 13 Dazu § 8 II 2. 14 RGZ 58, 64 (65); 77, 5 (6); BGHZ 26, 274 (278 f.); 59, 343 (348); MünchKomm-Musielak, § 2269 Rn. 34, § 2271 Rn. 45, § 2287 Rn. 2; Soergel-Manfred Wolf, § 2269 Rn. 20, § 2271 Rn. 46; Staud-Kanzleiter, § 2271 Rn. 86. 12
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung
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2. § 2287 BGB und unbenannte Zuwendungen unter Ehegatten
Nach der Rechtsprechung des BGH15 rechnen unbenannte Zuwendungen unter Ehegatten regelmäßig16 zumindest dann zu den Schenkungen i. S. § 2287 I BGB, wenn sie objektiv unentgeltlich sind; letzteres wiederum soll nicht gegeben sein, wenn die erbrachte Zuwendung unterhaltsrechtlich geschuldet wurde oder falls ihr eine ganz oder teilweise vergütete Gegenleistung von einigermaßen konkretem Charakter gegenüberstand. Diese Ansicht blieb nicht unwidersprochen. Der zweite Gatte habe am ehelichen Vermögenserwerb nach den Wertungen des ehelichen Güterrechts gemeinsam mit dem überlebenden Teil einen Beitrag geleistet, so daß dessen Teilhabe im angemessenen Umfang sicherzustellen sei. Paradebeispiel ist das Schicksal eines in zweiter Ehe erworbenen Familienheims. Zwar sei ein derartiger Erwerb im typischen Fall der ehelichen Lebensverhältnisse unterhaltsrechtlich nicht geschuldet, da der Wohnungsbedarf auch durch die Anmietung einer Wohnung sichergestellt werden könne; dennoch sei der Erwerb kein beliebiger Akt der Vermögensbildung, sondern meistens Ausdruck der Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft17. Der Ansatz der Rechtsprechung wird deshalb nur als Beginn einer noch im einzelnen weiter auszugestaltenden Entwicklung angesehen18. Doch wie geht es weiter? Richtigerweise stellen unbenannte Zuwendungen unter Ehegatten kein gewichtiges Problem dar. Der überlebende Teil wird als Folge güterrechtlicher Wertungen hinsichtlich eines Viertels seines Eigenvermögens (unter Vorabzug des Nachlasses des Erstverstorbenen) im Fall seiner Wiederverheiratung von seiner testamentarischen Bindung befreit, wenn die neuen Gatten gemeinschaftlich korrespektiv testieren19. Dem Gedanken einer Teilhabe des neuen Gatten am zweitehelichen Vermögenszuwachs wird damit schon auf der Ebene der Entbindung Rechnung getragen. Damit entfällt aber in Höhe des Umfangs der Entbindung (also bzgl. des o. g. Viertels des Eigenvermögens des Überlebenden) ein Anspruch der Endbedachten aus § 2287 BGB sowieso, da die Voraussetzungen einer Analogie zu den §§ 2287 f. BGB (nämlich die Bindung) nicht mehr vorliegen. Gleiches sollte für § 2287 BGB gelten, wenn die Gatten der zweiten Ehe nicht gemeinschaftlich testieren. Denn aus Sicht der Endbedachten ist dies kein re15 BGHZ 116, 167; BGH, NJW-RR 1996, 133; zustimmend Erman-Schmidt, § 2287 Rn. 3; Palandt-Edenhofer, § 2287 Rn. 5; § 2325 Rn. 15; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 1361. 16 BGHZ 127, 48 (50 ff.), geht demgegenüber davon aus, die Zuwendung seien regelmäßig nicht unentgeltlich. 17 Langenfeld, NJW 1994, 2133 (2135). 18 MünchKomm-Musielak, § 2287 Rn. 4. 19 Dazu siehe ausführlich unten § 11 III 2 b cc.
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Kap. 5: Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
levanter Umstand, der zu einem Bereicherungsanspruch führen könnte. Falls der zweiteheliche Vermögenszuwachs im übrigen auch oder nur mit den Mitteln des Nachlasses des Erstverstorbenen erbracht worden ist, ist mit dem BGH genau zu prüfen, ob die lebzeitige Zuwendung des Überlebenden an den zweiten Gatten sich nicht beispielsweise als Ausdruck einer angemessenen Alterssicherung oder als nachträgliche Vergütung für während der zweiten Ehe geleistete langjährige Dienste erweist20. Vor diesem Hintergrund relativiert sich das Problem unbenannter Zuwendungen erheblich. 3. Die Beeinträchtigungsabsicht
Nach Meinung der Rechtsprechung21 und ganz überwiegender Ansicht des Schriftums22 ist nach der Aufgabe der „Aushöhlungs“-Rechtsprechung für die Frage, ob eine Beeinträchtigungsabsicht i. S. § 2287 I BGB vorliegt, trotz ernst zu nehmender Kritik23 darauf abzustellen, ob dem Erblasser ein lebzeitiges Eigeninteresse zur Seite steht, welches die unentgeltliche Zuwendung rechtfertigt. Die nähere Ausformung und die dogmatische Berechtigung dieser Figur, welche zu einer umfassenden Bewertung der beteiligten Interessen herangezogen wird, sollen hier nicht weiter thematisiert werden. Im Rahmen eines Systems der Tatbestände, mit denen der Überlebende sich von der testamentarischen Bindung befreien kann, reizen nur die Bezüge zwischen dem lebzeitigen Eigeninteresse und den bisher beschriebenen Entbindungsmöglichkeiten. Also: Liegt ein berechtigtes lebzeitiges Eigeninteresse immer schon dann vor, wenn ein Entbindungstatbestand gegeben ist? Die Antwort gibt ein Blick auf die einzelnen Entbindungstatbestände. Wendet der Überlebende mit Rücksicht auf schwere Verfehlungen des Endbedachten einem Dritten lebzeitig unentgeltlich etwas zu, wird stellenweise verneint, daß ihm ein berechtigtes Interesse i. S. § 2287 I BGB zur Seite stehen könne24. Begründet wird dies mit der Erwägung, der Erblasser dürfe den Endbedachten nicht durch die unentgeltliche Weggabe von Vermögensgegenständen bestrafen, wenn die Voraussetzungen des § 2294 BGB 20
Dazu MünchKomm-Musielak, § 2287 Rn. 4. Ständige Rspr. seit BGHZ 59, 343 (349 f.). 22 Vgl. aus der Kommentar- und Lehrbuchliteratur jeweils m. w. Nachw. nur Erman-Schmidt, § 2287 Rn. 4; Jauernig-Stürner, § 2287 Anm. 1 c; MünchKomm-Musielak, § 2287 Rn. 13; Palandt-Edenhofer, § 2287 Rn. 13; Soergel-Manfred Wolf, § 2287 Rn. 13; Brox, Erbrecht, Rn. 158; Ebenroth, Erbrecht, Rn. 273; Kipp/Coing, Erbrecht, § 38 IV 2 a; Lange/Kuchinke, Erbrecht, § 25 V 5 c; Schlüter, Erbrecht, Rn. 266. 23 So etwa bei Staud-Kanzleiter, § 2287 Rn. 13. 24 So OLG Koblenz, OLGZ 1991, 235 (237); MünchKomm-Musielak, § 2287 Rn. 19, je für den Erbvertrag. 21
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung
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nicht vorliegen würden. Dem dürfte ohne weiteres zuzustimmen sein. Anders ist es aber, wenn der Erblasser sich von der testamentarischen Bindung gem. § 2271 II 2 BGB tatsächlich lösen könnte. Die Behauptung, er könne sich auch in diesem Fall nicht auf ein lebzeitiges Eigeninteresse berufen, liefe auf eine rein formale Argumentation hinaus. Denn der Überlebende könnte wegen § 2271 II 2 BGB ja neu testieren und dem Dritten damit die wirtschaftliche Chance entziehen, von Todes wegen ein Vermögen zu erwerben. Ist dessen Erwerbschance aber schon entwertet, kann es ihm gleichgültig sein, ob der Erblasser ihm die Chance letztwillig oder unter Lebenden entzieht; hinsichtlich der Form des Entzugs der Chance – ob durch Testament oder durch lebzeitiges Rechtsgeschäft – besitzt er keinerlei schutzwürdige Interessen. Andererseits stehen dem Überlebenden sehr wohl schutzwürdige Interessen zur Seite. Denn die Ansicht, es müsse neu testiert werden, zwingt den Erblasser praktisch ja, eine Verfügung von Todes wegen zu errichten. Er müßte dann aber den Endbedachten beispielsweise enterben oder ihm sonst signalisieren, daß er ihn auch im Tode zurückzuweisen gedenke. Er kann dies sicherlich tun. Es ist aber nicht ersichtlich, warum er dies tun muß, um das wirtschaftliche Ziel einer Beeinträchtigung des Endbedachten zu erreichen. Denn die Enterbung oder die sonstige testamentarische Zurückstellung des Endbedachten hat ja etwas Zeichenhaftes an sich; es ist quasi Signum der Tatsache, daß die Verfehlung so schwerwiegend ist, daß der Erblasser sie in seine Todesverarbeitung einbezieht. Für den Endbedachten könnte die lebzeitige unentgeltliche Zuwendung an sonstige Dritte mithin sogar weniger belastend sein als die Enterbung. Der Einwurf, der Erblasser müsse erst neu testieren und könne nicht unter Lebenden unentgeltlich verfügen, ist deshalb nicht so arglos, wie er auf den ersten Blick wirkt. Nach all dem muß davon ausgegangen werden, daß es hinreicht, daß der Erblasser unter Lebenden verfügt, wenn die Voraussetzungen einer Lösung von der Bindung nach § 2271 II 2 BGB ansonsten gegeben sind. Das Beispiel kann verallgemeinert werden: Überall dort, wo der Überlebende sich von der testamentarischen Bindung lösen könnte und solange er dies könnte, kann der Erblasser unentgeltlich unter Lebenden einem Dritten etwas zuwenden, ohne daß eine Beeinträchtigungsabsicht i. S. § 2287 I BGB vorliegt. Alles andere ließe unerklärt, wieso der Erblasser auf eine neue Verfügung von Todes wegen verwiesen werden soll, obwohl damit ein faktischer Zwang ausgeübt wird, sein „Sein zum Tode“ erneut auszuprägen, und obwohl Interessen des Endbedachten hinsichtlich der Form seiner Beeinträchtigung (Schenkung oder Testament) nicht erkennbar sind, da im wirtschaftlichen Ergebnis sowohl die Beeinträchtigung qua Schenkung als auch die qua Testament identisch sind.
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Kap. 5: Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
III. Schlußbetrachtung 1. Ein zehnstufiges Untersuchungsschema
Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen kann mithin folgendes Untersuchungsschema entwickelt werden, anhand dessen im einzelnen geprüft werden kann, ob eine Lösung von der testamentarischen Bindung des Überlebenden angängig ist: 1. Besteht dem Grunde nach eine korrespektive Verfügung? Hier ist darauf zu achten, daß die Vermutungsregel des § 2270 II BGB nicht nur im Einzelfall, sondern auch in typisierten Fällen eventuell nicht greifen kann25. Ist die Wechselbezüglichkeit mit Rücksicht auf die Bedenkung von verwandten Personen gem. § 2270 II BGB begründet worden, ist es zudem zulässig, im Einzelfall den Nachweis zu führen, daß der bedachte Verwandte tatsächlich dem anderen Teil nicht nahegestanden hat26. Darüberhinaus ist auch bei der Anwendung des § 2270 I BGB darauf zu achten, daß bei der Ermittlung des Willens der Ehegatten nicht zu verselbständigten Vernunftserwägungen gegriffen wird, die sich allein vor dem Hintergrund eines gewissen, im genaueren eines bürgerlichen Familienbildes, nicht aber anhand der konkreten Gepflogenheiten des jeweiligen Ehepaares rechtfertigen lassen27. Wenn dem Grunde nach eine testamentarische Bindung besteht, ist weiter zu prüfen: 2. Liegt eine Wiederverheiratungsklausel vor und ist der Wiederverheiratungsfall eingetreten? In diesem Falle wird der Überlebende richtigerweise von seiner testamentarischen Bindung vollends befreit28. Folge für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: keine Unwirksamkeit gem. § 2270 I BGB
Falls keine Wiederverheiratungsklausel gegeben oder der Wiederverheiratungsfall nicht eingetreten ist, ist weiter zu prüfen: 3. Würden die Erberwartungen der aus dem gemeinschaftlichen Testament Endbedachten durch die zweite Verfügung von Todes wegen des Überlebenden beeinträchtigt werden? Ist dies nicht der Fall, steht der Wirksamkeit der zweiten Verfügung nichts entgegen. Das gemeinhin hierzu angeführte Beispiel ist die nach25 26 27 28
Dazu Dazu Dazu Dazu
oben § 6 III 2. oben § 6 III 3 b. oben § 6 III 1 d. siehe oben § 12 III 2, 3.
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung
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trägliche Aufhebung der im gemeinschaftlichen Testament angeordneten Testamentsvollstreckung29. Folge für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: keine Unwirksamkeit gem. § 2270 I BGB
Werden die Erberwartungen der Endbedachten hingegen beeinträchtigt, ist weiter zu prüfen: 4. Liegt eine Ausschlagung nach § 2271 II 1 HS 2 BGB vor? Hier muß beachtet werden, daß der überlebende Teil nur den testamentarischen Erwerb, nicht jedoch den gesetzlichen Erbteil ausschlagen muß, um seine Testierfreiheit wiederzuerlangen30. Ist nicht der überlebende Ehegatte, sondern ein Dritter testamentarisch bedacht, reicht es für die Lösung von der Bindung des Ehegatten aus, wenn der Dritte ausschlägt31. Ist der Überlebende und ein Dritter bedacht, braucht nur der Ehegatte auszuschlagen. Soweit bei einem Testament nach dem Vorbild der Trennungslösung dessen Auslegung im Falle der Bedenkung sowohl des Gatten als auch Dritter allerdings ergibt, daß im Verhältnis der Wechselbezüglichkeit zueinander nur die gegenseitigen Vorerbeneinsetzungen je zueinander und die Nacherbeneinsetzungen je zueinander sind, nicht aber die Einsetzungen der Ehegatten jeweils zu der Einsetzung des je anderen Endbedachten, braucht hingegen noch nicht einmal der Überlebende auszuschlagen, soweit derjenige endbedachte Dritte ausschlägt, den der Erstverstorbene bedacht hat, weil der Überlebende zugunsten eines anderen Dritten letztwillig verfügt hat; § 2271 II 1 HS 2 BGB ist insofern teleologisch zu reduzieren ist und analog auf den Fall der Ausschlagung des korrespektiv vom Erstverstorbenen endbedachten Dritten anzuwenden32. Folge für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: Unwirksamkeit nach § 2270 I BGB
Falls eine nach diesen Regeln beachtliche Ausschlagung vorliegt, entfällt eine weitere Bindung. Ist dies nicht der Fall, ist weiter zu prüfen: 5. Sind die Endbedachten so weggefallen, daß eine Lösung von der Bindung eintritt? Relevante Fälle sind der Tod des Bedachten (§§ 1923 I, 2160 BGB), die Ausschlagung der Zuwendung (§§ 1953 Abs. 1, 2180 III BGB), der Erbverzicht (§§ 2346 ff. BGB) und die Erbunwürdigkeit (§§ 2339 ff. BGB) sowie schließlich die Einschlägigkeit einer Pflichtteilsstrafklau29 30 31 32
Siehe Siehe Siehe Siehe
nur Soergel-Manfred Wolf, § 2271 Rn. 16. oben § 9 I 1 b. oben § 9 I 2 a. oben § 9 I 2 b bb.
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Kap. 5: Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
sel33. Die Lösung von der Bindung hat nicht zur Voraussetzung, daß kein anderer an die Stelle des Bedachten gem. §§ 2069, 2096, 2190 BGB tritt oder die Zuwendung einem anderen gem. §§ 2094, 2158 BGB zuwächst34. Denn die Regelung etwa des § 2069 BGB sagt nur etwas hinsichtlich der Erbfolge, nicht aber hinsichtlich der einer etwaig auf diese Ersatzerbfolge bezogene Korrespektivität aus. Die Ermittlung der Korrespektivität hinsichtlich der Ersatzerbfolge richtet sich dabei richtigerweise nicht nach § 2270 II BGB, sondern nach § 2270 I BGB, es sei denn, der Ersatzerbe stünde dem anderen Teil tatsächlich im konkreten Falle nahe35. Folge für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: Sind die Endbedachten sämtlich weggefallen, ohne daß ein „korrespektiv eingesetzter Ersatz“ gegeben ist, scheidet eine Unwirksamkeit nach § 2270 I BGB aus.
Sind die Endbedachten nicht ersatzlos weggefallen und ist der Überlebende auch künftig gebunden, ist weiter zu prüfen: 6. Falls der Überlebende nur hinsichtlich eines Teils seines nicht vom Erstverstorbenen von Todes wegen erworbenen Vermögens neu zu testieren gedenkt, unterliegt dieser Teil der testamentarischen Bindung? Hier ist darauf zu achten, daß bei einigen Vermögensbestandteilen von vornherein eine testamentarische Bindung im Zweifel schon „tatbestandsmäßig“ nicht stattfindet. Dies ist einmal bei einem Vermögenszuwachs der Fall, welcher von dem Erstverstorbenen in der Regel nicht erwartet wird (etwa bei schenkweisen Zuwendungen an den überlebenden Teil) oder nicht erwartet werden kann (etwa bei einem durch Erbschaft nach dem Tode des Erstversterbenden erlangten Vermögenszuwachs des Überlebenden)36. Denn ein derartiger Vermögenszuwachs kann für die Todesverarbeitung des Erstversterbenden nicht relevant geworden sein. Der Überlebende wird daher im Zweifel zumindest ein Vermächtnis in Höhe des Vermögenszuwachses zugunsten bisher nicht bedachter Dritter aussetzen dürfen. Darüberhinaus ist zu berücksichtigen, daß eine Bedenkung kraft sittlicher Pflicht oder aus Anstand ebenfalls von vornherein nicht unter den Kreis des von der Bindungswirkung erfaßten Vermögens fällt37. Ein weiterer Teil des Eigenvermögens unterfällt im Falle der Wiederverheiratung nicht der testamentarischen Bindung. Der Überlebende 33 34 35 36 37
Dazu Dazu Dazu Dazu Dazu
oben § 9 II 1. oben § 9 II 1. oben § 9 II 2. siehe oben § 6 III 2 b. oben § 6 III 2 c.
§ 13 Das System der Lösung von der testamentarischen Bindung
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darf hinsichtlich eines Viertels seines eigenen Vermögens, von dem zuvor das vom Erstverstorbenen ererbte Vermögen abgerechnet worden ist, frei von Todes wegen verfügen, wenn er sich (i) wiederverheiratet, (ii) das Testament für diesen Fall keine ausdrückliche Regelung vorgesehen hat und falls (iii) er mit seinem neuen Gatten wiederum gemeinschaftlich korrespektiv testiert38. Schließlich fällt bei einer Wiederverheiratung mit Vorversterben des zweiten Gatten dessen Vermögen zwar oft wenigstens zum Teil in den Nachlaß des Überlebenden der ersten Ehe. Dennoch wird dieser Erwerb nicht von der testamentarischen Bindungswirkung im Grundsatz erfaßt; wegen der Details wird auf die obigen Überlegungen verwiesen39. Folge für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: Keine Unwirksamkeit nach § 2270 I BGB40.
Unterfällt das Vermögen, über das der Überlebende von Todes wegen verfügen möchte, nicht den soeben genannten Vermögensmassen, ist weiter zu prüfen: 7. Sind die Erwartungen enttäuscht worden, welche der Überlebende hinsichtlich der Entwicklung der Geschehnisse nach dem ersten Todesfall hegt und auf deren Eintritt der Testierwille aufbaute? Bei der Erwartungsenttäuschung sind mehrere Fälle zu unterscheiden. Einmal kann ein erheblicher Motivirrtum des Überlebenden kraft Enttäuschung positiven Wissens gegeben sein. Sodann kann ein erheblicher Motivirrtum kraft Enttäuschung sog. „selbstverständlicher Vorstellungen“41 einschlägig sein. Schließlich kann sich der Überlebende den Eintritt oder den Nichteintritt eines Umstands nur als wahrscheinlich vorgestellt und gleichwohl testiert haben. In diesen Fällen ist wie folgt zu entscheiden42: Lassen sich Erwartungsstörungen beobachten, kann das gemeinschaftliche Testament hierfür eine die Störung selbst regelnde Klausel vorgesehen haben, wobei diese Klausel dem Testament auch im Wege der ergänzenden Auslegung entnommen werden kann. Liegt eine derartige Klausel vor, regelt sich nach dieser die weitere Bewertung des Falls. Liegt eine derartige Klausel nicht vor, ist zu prüfen, 38
Dazu oben § 11 III 2. Oben § 11 II. 40 Hierzu siehe zum speziellen Fall der Wiederverheiratung oben § 11 III 2 c. 41 An diese Begrifflichkeit wird hier nur der Kürze halber angeknüpft, richtigerweise handelt es sich ja gerade nicht um „Vorstellungen“, siehe oben § 8 II 2, § 9 II 1 b. 42 Dazu oben § 8 II, § 9 III, § 11 IV. 39
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Kap. 5: Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung
ob eine ausdrückliche Freistellungsklausel vereinbart ist. Ist sie vereinbart und hat der überlebende Teil zu Lebzeiten von ihr keinen Gebrauch gemacht, obwohl er dies hätte tun können, ist nach seinem Tode eine Anfechtung nach § 2078 II BGB grundsätzlich nicht zulässig, da aus dem Unterlassen des Erblassers im Zweifel der Wille hervorgehen wird, die Verfügung solle trotz Erwartungsenttäuschung gelten. Ist eine ausdrückliche Freistellung nicht vereinbart, muß anhand der ergänzenden Auslegung untersucht werden, ob nicht dennoch eine Freistellungsklausel in das Testament eingefügt worden ist. Im Zweifel wird dies der Fall sein, wenn ein Anfechtungsgrund wegen Motivirrtums gegeben ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Anfechtung wegen des Fehlgehens positiver oder „selbstverständlicher“ Vorstellungen zulässig ist. Bei der Freistellung wird man schließlich nicht davon ausgehen können, daß für sie die Formen und Fristen der Testamentsanfechtung gelten, bei der die §§ 2282 f. BGB analog greifen43. Im Ergebnis kommt es also grundsätzlich zu einem Vorrang der Freistellung vor der Anfechtung. Dies entspricht allgemeinen Regeln, da die Freistellung Frucht der Auslegung ist, die wiederum der Anfechtung vorgeht. Die Selbstanfechtung wegen Motivirrtums kommt nach all dem nur in Betracht, wenn der überlebende Teil hinsichtlich der Regulierung der Erwartungsstörung den anfechtungsrechtlichen Formund Fristregelungen unterworfen sein soll. Hierbei ist zu beachten, daß die Anfechtungsfrist erst beginnt, wenn der Überlebende Kenntnis von seiner Anfechtungsberechtigung hat44. Nach dem Tode des Längstlebenden ist hingegen die Anfechtung grundsätzlich trotz Freistellung nicht ausgeschlossen, es sei denn, der Überlebende hatte positive Kenntnis von seiner Freistellung (was bei einer im Wege der ergänzenden Testamentsauslegung ermittelten Freistellungsklausel durchweg nicht der Fall sein wird) und testierte gleichwohl nicht neu. Der Freistellung kommt gegenüber der Anfechtung dann ein eigenes Gewicht zu, wenn diese nicht zulässig wäre. Dies ist in der Regel bei den eingangs genannten Gestaltungen der Fall, bei denen der Eintritt oder der Nichteintritt eines Umstands nur als wahrscheinlich vorgestellt und gleichwohl testiert wurde45. Folgen für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: Die Folgen sind verschieden je nachdem, auf welchen Umstand die Lösung des Überlebenden von der testamentarischen Bindung beruht. Liegt eine ausdrückliche Freistellungsklausel vor, ist im Zweifel die Wechselbezüglichkeit der Verfü-
43 44 45
Dazu siehe § 8 II 1. Dazu oben § 9 III 1 b. Dazu oben § 8 II 1.
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gungen nicht gewollt, soweit die Freistellung reicht; eine Unwirksamkeit nach § 2270 I BGB scheidet dann aus46. Ist die Freistellung im Wege der ergänzenden Auslegung ermittelt worden oder findet die Anfechtung statt, verbleibt es hingegen bei der Unwirksamkeitsfolge des § 2270 I BGB47.
Ist keine Freistellung verfügt und kann der Überlebende anfechten, will er aber nicht anfechten, ist weiter zu prüfen: 8. Steht dem Überlebenden die condictio ob rem zur Seite? Unter gewissen, zumeist mit der Anfechtungsberechtigung parallel laufenden Umständen kann der Überlebende von den korrespektiv Endbedachten verlangen, daß diese einer erneuten Verfügung von Todes wegen, die ihre Erberwartungen beeinträchtigt, per Zuwendungsverzicht zustimmen. Voraussetzung ist immer eine Verständigung der Ehegatten, daß die Bedenkung des Dritten einem bestimmten Zweck (etwa der Versorgung des überlebenden Teils) dient und daß der Dritte hiervon Kenntnis hat und den Ehegatten nicht zu erkennen gibt, daß er nicht gewillt ist, dem Zweck nachzukommen48. Die Vorteile, die die condictio gegenüber der Anfechtung eröffnen, sind relativ marginal. Sie bestehen in dem Ersparnis von Beurkundungskosten und gewissen verfahrensrechtlichen Beweisvorteilen49 Folgen für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: War den Ehegatten an der Erreichung des gemeinschaftlich verfolgten Zwecks aus Gründen des Schutzes des Überlebenden gelegen, wird die korrespektive Verfügung des Erstversterbenden im Zweifel nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam sein. Regelmäßig wird hier aber zu fragen sein, ob überhaupt eine Korrespektivität gegeben ist50.
Greift die condictio nicht oder will der Überlebende sie nicht geltend machen, ist weiter zu prüfen: 9. Kommt eine Lösung von der testamentarischen Bindung ausnahmsweise kraft Wertungsvergleichs mit der Sittenwidrigkeit von Rechtsgeschäften in Betracht? Dies ist um der Vermeidung eines Wertungswiderspruchs willen der Fall, wenn die weitere Bindung entsprechend den sittenwidrigkeitsrechtlichen Grundsätzen hinsichtlich der Bewertung erbrechtlicher Potestativbedingungen für den Überlebenden nicht nur schwer durchzuhalten, sondern geradezu untragbar wird51. 46 47 48 49 50
Dazu oben § 8 III 1. Dazu oben § 8 III 2, § 11 IV 4 a. Siehe oben § 10 I. Dazu oben § 10 I 5. Dazu siehe unten § 18 III 3.
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Kap. 5: Zusammenfassung zur testamentarischen Entbindung Folgen für die korrespektive Verfügung des Erstverstorbenen: Hat die Abwägung ergeben, daß der Überlebende ganz oder teilweise von seiner testamentarischen Bindung befreit ist, und testiert er im Ausmaß der Befreiung abweichend vom gemeinschaftlichen Testament erneut, werden die korrespektiven Verfügungen des Erstverstorbenen nicht gem. § 2270 I BGB unwirksam sein52.
10. Was gilt nun? Greift auch die zuletzt beschriebene Möglichkeit nicht, dem Überlebenden seine Testierfreiheit wieder zu verschaffen, bleibt er testamentarisch gem. § 2271 II 1 BGB gebunden. 2. Entbindung als Persönlichkeitsschutz
Die Diskussion hat mithin gezeigt, daß ein zehnstufiges Schema einschlägig ist, mit dessen Hilfe im jeweiligen Einzelfall ermittelt werden kann, ob der überlebende Teil seine Testierfreiheit wiedergewinnen kann. Insbesondere das Fristproblem der Anfechtung, welches erst jüngst wieder als eines der Hauptschwierigkeiten bei den Entbindungstatbeständen des gemeinschaftlichen Testaments identifiziert worden ist53, wird bei der hier vorgeschlagenen Lösung über Freistellungsklauseln erheblich entschärft. Das Gesamtspektrum des Instrumentariums zur Lösung von der testamentarischen Bindung zeigt, daß das Gesetz es sich nicht leicht gemacht hat, die Testierfreiheit einer Rechtsperson zu binden, steht doch immerhin auf dem Spiel, daß sie ihr „Sein zum Tode“ nicht mehr ausprägen und der Sozietät als Ausdruck ihres ureigenen Selbst von Todes wegen adressieren kann. Auch in der Entbindung von Bindung scheint demnach dasjenige auf, welches den Kern der Testierfreiheit ausmacht: der Schutz der Persönlichkeit des Testierenden.
51 52 53
Dazu oben § 10 II 2. Dazu siehe oben § 10 II 3. Bei Ritter, Konflikt, 76, 127 und öfters.
Abschnitt 2
Der Schutz sonstiger personaler Rechte des überlebenden Ehegatten Kapitel 6
Personaler Ehegattenschutz und personfunktionales Erbrecht Es ist ein Gemeinplatz, daß der Erblasser in seinem Testament Verfügungen vorsehen kann, die sich bei näherer Prüfung als sittenwidrig herausstellen. Kein Gemeinplatz ist hingegen, wann dies der Fall ist. Die Relevanz dieser Frage gerade für den Schutz des überlebenden Ehegatten liegt auf der Hand, ist doch die Sittenwidrigkeitsklausel neben dem erbrechtlichen Typenzwang und dem Pflichtteilsrecht eine der greifbarsten und einschneidendsten Beschränkungen erbrechtlicher Willkür. § 138 I BGB bietet oftmals den letzten Ausweg, personale Rechte des überlebenden Teils dort gegen eine überbordende, den längstlebenden Gatten gleichsam überwältigende Entfaltung des erblasserischen „Seins zum Tode“ ins Feld zu führen, wo andere erbrechtliche Instrumente versagen. Indes scheint gerade für ein Erbrecht, welches die Testierfreiheit als Ausprägung personaler Rechte des Erblassers focusiert, eine über § 138 I BGB ins Werk gesetzte Beschränkung erbrechtlicher Willkür ein normativer Affront sondergleichen zu sein. Dieser vermeintliche Schein einer kaum hinnehmbaren Brüskierung erbrechtlicher privatautonomer Entfaltung kann freilich wiederlegt werden, damit eine Wertungswidersprüchlichkeit eines Rechts vermieden wird, welches nun einmal die Sittenwidrigkeitsprüfung letztwilliger Verfügungen kennt. Diese beiden Aspekte – also das Verhältnis zwischen der personfunktional verstandenen Testierfreiheit und der Sittenwidrigkeitsklausel auf der einen und zwischen den Rechten des überlebenden Teils und der Testierfreiheit des Erblassers auf der anderen Seite – stecken deshalb den Rahmen der nun folgenden Erörterungen ab. Zunächst wird kurz skizziert werden, was Sittenwidrigkeit noch bedeuten kann, wenn das gewillkürte Erbrecht personfunktional gedeutet wird (dazu § 14). In einem zweiten Teil wird sodann überlegt werden müssen, wie sich der Überlebende gegen eine letztwillige Verfügung seines vorverstorbenen Gatten zur Wehr setzen kann, wenn er meint, dieser habe dasjenige Maß an personaler Achtung missen
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Kap. 6: Personaler Ehegattenschutz und personfunktionales Erbrecht
lassen, welches Rechtspersonen gemeinhin untereinander rechtlich schulden und nicht nur nach den tradierten Sitten und Gebräuchen der Sozietät einander angedeihen lassen sollten (dazu § 15).
§ 14 Sittenwidrigkeit und personfunktionales Erbrecht I. Streitstand Was unter den Begriff der Guten Sitten im Rahmen des § 138 I BGB zu verstehen ist, ist verschieden beantwortet worden. Vornehmlich drei Ansätze lassen sich unterscheiden. Nach weitaus herrschender Ansicht – erster Ansatz – gewinnen über das Sittengebot des § 138 I BGB außerrechtliche Normen juristische Relevanz, indem die Guten Sitten an die herrschende Rechts- und Sozialmoral gekoppelt wird. Damit werden diejenigen gesellschaftlichen Verhaltenserwartungen für die Anwendung des § 138 BGB fruchtbar gemacht, die durch Eingewöhnung und ganz überwiegende Anerkennung Gültigkeit in der Gesellschaft erlangt haben und die durch die normativ gewordene Übung des Gruppenverhaltens stabilisiert sind1. Die Rechtsprechung greift dabei zunehmend auf eine sorgfältige rechtliche Analyse der Einzelfälle mit rechtlichen Argumenten zurück. Rechtsprinzipien verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Art, dogmatische Argumente, policy-Erwägungen, Folgen- und Normbereichsanalysen in die notwendige rechtliche Wertung, Interessenabwägung und Fallgruppenbildung werden für die Sittenwidrigkeitsprüfung fruchtbar gemacht2. Werden im Einzelfall doch einmal außerrechtliche Verhaltensnormen herangezogen, werden diese einer innerrechtlichen Rezeptionskontrolle unterworfen3; die Sittenwidrigkeitsklausel verweist dann nur auf diejenigen Normen der Sozialmoral, die aus der Sicht des Rechts verbindlich sein sollen4. Alles in allem verschwindet also zwar mehr und mehr die Bedeutung außerrechtlicher Sollensordnungen in der Dogmatik des § 138 I BGB. Zugleich wird aber explizit auch weiterhin darauf bestanden, daß auf den Rekurs auf außergesetzliche Rechtsüberzeugungen nicht verzichtet werden könne5. 1 Statt vieler Henkel, Rechtsphilosophie, 133 ff.; Soergel-Hefermehl, § 138 Rn. 9; Larenz, JurJb 7 (1966/67), 98 (106 ff.). 2 Vgl. nur Soergel-Hefermehl, § 138 Rn. 8; MünchKomm-Mayer-Maly, § 138 Rn. 11; Staud-Sack, § 138 Rn. 39 ff.; Bydlinski, in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 189 (203 f.). 3 BGHZ 67, 48 (51 ff.); Teubner, Generalklauseln, 90 ff. (modifiziert später in ders., in: Bedürfnisse, Werte und Normen im Wandel, 87 (90 ff.)); Soergel-Hefermehl, § 138 Rn. 9; Sack, NJW 1985, 761 (768); H.Dreier, Universitas 1993, 247 (253 ff.). 4 Sack, NJW 1985, 761 (768); AK-Damm, § 138 Rn. 11.
§ 14 Sittenwidrigkeit und personfunktionales Erbrecht
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Nach der ganz herrschenden Meinung bleibt also das Recht weiterhin für den Einbezug außerrechtlicher Sollensordnungen bei aller Betonung der juristischen Kontrolle dieses Einbezugs zumindest der theoretischen Grundlegung nach klar und deutlich offen. Begreift der erste Ansatz die Gute-Sitten-Klausel als Transformationsriemen für gesellschaftliche Sollensordungen (von sozialen Moralen) in das Recht, steht dem diametral gegenüber der zweite Ansatz. Dieser Ansatz begreift § 138 I BGB als Verweisungsnorm auf ungeschriebene Verbotsgesetze (und § 134 BGB entsprechend als Verweisungsnorm auf ausdrückliche gesetzliche Verbote), die mit außerrechtlichen Sollensordnungen nichts zu schaffen haben6. Anders gesagt: § 138 I BGB verweist nach diesem zuletzt genannten Ansatz nicht mehr auf die herrschenden Wertvorstellungen der Sozietät (und „herrschend“ heißt: notwendigerweise Wertvorstellungen, die nicht allen Bürgern gemein sind), sondern ausschließlich auf die Allgemeinheit des Rechts (und „allgemein“ heißt: der Normenkomplex, der allen Bürgern gemein ist). Der Inhalt des § 138 I BGB soll im weiteren dann aus dem Sinn oder dem Zusammenhang der Rechtsordnung ohne Verweis auf eine außerrechtliche Sozialmoral gewonnen werden. Paradigmatisch für einen Mittelweg zwischen den beiden zuvor skizzierten Vorschlägen steht der dritte Ansatz. Danach muß der Begriff der guten Sitten zum einen als „ordre public“ übersetzt und als rechtlicher Zusammenhang von positivem Gesetzesrecht, richterlichem Fallrecht und grundgesetzlichen Wertungen, also als Zusammenhang allgemeiner Rechtsprinzipien begriffen werden. Soweit aber die Bereiche des Intimlebens, der Familie und der Sexualität in Rede stehen, müsse eine sitten- und moralbezogene Bewertung unter Bezugnahme auf die Vorstellungen der Sozietät erlaubt sein7. Je nach Lebensbereich schlägt der dritte Ansatz mithin entweder eine rein innerrechtliche Beurteilung oder eine auch außerrechtliche Bezugnahme auf Sozialmoralen vor.
5 Vgl. bsp. Staud-Sack, § 138 Rn. 45; Bydlinski, in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 189 (208). 6 So Pawlowski, Allgemeiner Teil, Rn. 498 b; ders., Methodenlehre, Rn. 189; ders., Rechtswissenschaft, 117 ff.; ders., ARSP 1964, 503 (513); Smid, NJW 1990, 409 (413); Kraft, FS Bartholomeyczik, 223 (234); Windel, Der Staat 1998, 385 (407 f.); Staud-Sack, § 138 Rn. 26. Vgl. auch AK-Damm, § 138 Rn. 26, 56; ders., JZ 1986, 913 134 Rn. 22. (918 f.). Gernhuber führt einerseits in FamRZ 1960, 326 (335) ausdrücklich aus, § 138 BGB sei „nichts anderes als ein Anwendungsfall des § 134 BGB“ und versteht andererseits in ebda., 333, die Gute-Sitten-Klausel als eine Norm, „die eine gelebte Sittenordnug beruft“. 7 So Simitis, Gute Sitten und ordre public, 166 ff., 175 ff., 180 ff., 195 f. Vgl. dazu auch Esser/Stein, Werte und Wertewandel, 35 ff.; Wiethölter, Rechtswissenschaft, 197.
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II. Gute Sitten und Testierfreiheit Andernorts8 konnte gezeigt werden, daß § 138 I BGB nicht als eine Norm verstanden werden darf, die auf außerrechtliche Sollensordnungen der „billig und gerecht Denkenden“ verweist, wenn die Sittenwidrigkeit von Verfügungen von Todes wegen in Rede steht. Die Einsicht, § 138 I BGB rezipiere nicht soziale Moralen, fußt u. a. auf verfassungsrechtlichen Wertungen in einem weltanschaulich neutralen Staat9 und sodann auf der grundlegenden Entscheidung des Gesetzes, die Testierfreiheit personfunktional auszurichten10. Es ist danach ausgeschlossen, in der Sozietät tradierte und herrschende Wertungen für die Beurteilung einer Verfügung von Todes wegen heranzuziehen. Folge der personfunktionalen Gründung des gewillkürten Erbrechts ist zudem, daß bei der Sittenwidrigkeitsprüfung die Motivation des Erblassers (in anderer Diktion: dessen Gesinnung) nicht als Argument verwendet werden darf zudem, die Sittenwidrigkeit einer Verfügung von Todes wegen zu bejahen – auch dies konnte an anderer Stelle ausführlich geklärt werden11. Eine Ausnahme von der Irrelevanz der erblasserischen Gesinnung für das Sittenwidrigkeitsverdikt besteht allein dann, wenn die erblasserische Motivation auf eine Beeinträchtigung der Menschenwürde irgendeiner Rechtsperson oder auf eine Diskriminierung aus Gründen der Rasse gerichtet ist12.
§ 15 Der Schutz personaler Rechte des Überlebenden Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen sei nochmals notiert: § 138 I BGB muß als eine Vorschrift begriffen werden, die zumindest hinsichtlich der Beurteilung der Verfügungen von Todes wegen nicht auf die herrschende Sozialmoral verweist. Ist dem so, gewinnen notwendigerweise diejenigen Normbestände innerhalb der Dogmatik des § 138 I BGB erheblich an Gewicht, die zumeist als die „der Rechtsordnung selbst immanenten ethischen Prinzipien und Wertmaßstäbe“13 bezeichnet werden, nämlich vor allem die Grundrechte Dritter. Im Folgenden gilt es deshalb kurz aufzuzeigen, wie Grundrechte konstruktiv Einfluß im Rahmen des § 138 I BGB gewinnen (dazu § 15 I 1). Sodann muß untersucht werden, welche Eingriffsintensität ein Rechtsgeschäft auf Grundrechte Dritter aufweisen muß, um es 8
Siehe ausführlich Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 12. Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 12 III. 10 Dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 12 IV. 11 Siehe Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 12 IV. 12 Dazu unten § 15 II 2 c dd. 13 Zitat bei Larenz/Wolf, AllgT, § 41 Rn. 18. Ähnliche Umschreibungen finden sich in großer Zahl andernorts. 9
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als sittenwidrig beurteilen zu können (dazu unten § 15 I 2). Schließlich muß geklärt werden, wie es um die Sittenwidrigkeitsprüfung von Verfügungen von Todes wegen bestellt ist (dazu § 15 II). I. Grundrechte Dritter und Sittenwidrigkeit: Allgemeines 1. Das Konstruktionsproblem: Die Art der Einwirkung der Grundrechte
a) Problemstand Heute besteht sowohl bei denjenigen, die § 138 BGB an außerrechtliche Maßstäbe anbinden als auch bei denjenigen, die § 138 BGB allein mit dem objektiven Recht verknüpfen, Einigkeit, daß die Grundrechte des Grundgesetzes im Rahmen des § 138 I BGB Anwendung finden. Der ehedem mit großem Aufwand geführte Streit um die unmittelbare oder mittelbare Grundrechtswirkung wird weithin nur noch ein eher einer historischen Reminiszenz vergleichbares Randproblem heutiger Grundrechtsdogmatik angesehen14; nicht zu Unrecht ist von einer „beispiellosen Akzeptanz“ der Lehre von der mittelbaren Grundrechtswirkung gesprochen worden15. Auch die dogmatische Konstruktion grundrechtlicher Drittwirkung ist mittlerweile mit dankenswerter Klarheit herausgearbeitet worden: Um die Grundrechte, die als staatliche Abwehrrechte zuerst einmal nur an den Staat adressiert sind, innerhalb des § 138 I BGB überhaupt anwenden zu können, müssen sie von ihrem jeweiligen personalen Träger gelöst werden16. Hierzu liegen inzwischen zwei Begründungsstränge vor, von denen der ältere (Grundrechte als Werte) mittlerweile in Form einer Prinzipientheorie von unhaltbaren Annahmen gereinigt worden ist und der jüngere (Grundrechte als Schutzgebote) sich mehr und mehr als der zukunftsträchtigere Ansatz erweisen dürfte. Nach diesem jüngeren Ansatz17 wird die Einflußnahme der 14 So auch die Einschätzung bei Böckenförde, Der Staat 1990, 1 (10); Oeter, AöR 119 (1994), 529 (530); Pietzcker, FS Dürig, 345 (347 ff.); MünchKomm-Säcker, Einl., Rn. 55 f. Anders bsp. Hager, JZ 1994, 373 (374 und öfters), dazu Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 35, 45 ff. Vgl. zur unmittelbaren und mittelbaren Grundrechtswirkung im übrigen nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 480 ff. 15 Bei Zöllner, AcP 196 (1996), 1 (7). 16 Dazu nur Alexy, Der Staat 1990, 49 ff. 17 Siehe Canaris, AcP 184 (1984), 201 (228 f.); ders., JuS 1989, 161 (162); ders., Grundrechte und Privatrecht, 23 ff., 32 ff., 37 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1560, 1572 ff.; Rüfner, in: Hdb. des Staatsrecht, Bd. V, § 117 Rn. 54 ff.; Jarass, AöR 110 (1985), 363 (369, 378 ff.); Pietzcker, FS Dürig, 345 (349 ff.); Enderlein, Rechtspaternalismus, 171 f.; Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, 37 ff.; Hermes, Grundrecht auf Schutz, 49 ff.; Höfling, Vertragsfreiheit, 48 ff.; Oeter, AöR 119 (1994), 529 (535 ff., 549 ff.); Ricardi, FS Schwarz, 781 (786 ff.); im Kontext der ökonomischen Analyse Eidenmüller, Effiziens als Rechtsprinzip, 481 ff. Kri-
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Grundrechte im Privatrecht zunehmend über die Verbindung verschiedener Grundrechtsfunktionen bewältigt: Soweit die Normen des Privatrechts an den Grundrechten gemessen werden, wirken Grundrechte in ihrer klassischen Funktion als Eingriffsverbote und Abwehrrechte (Grundrechte als Interventionsverbote); soweit dagegen privatautonome Akte von Rechtssubjekten auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten untersucht werden, ist deren Funktion als Schutzgebot einschlägig: dem Staat wird nach der Maßgabe eines freilich einen weiten Gestaltungsspielraum18 umfassenden Verbots eines verfassungswidrigen Schutzdefizits (Untermaßverbot) die Pflicht angesonnen, den Grundrechtsträger vor Verletzungen durch andere Bürger zu schützen (Grundrechte als Interventionsgebote)19. Dieser Schutz besteht in der Abgrenzung der Sphären gleichgeordneter Rechtssubjekte20 sowie der Durchsetzung dieser Abgrenzung und wird neben dem ganzen Komplex privatrechtlicher Normen gerade auch durch die Einflußnahme der Grundrechte auf Rechtsgeschäfte über die Guten-Sitten-Klausel gewährleistet21. b) Die Schwierigkeiten eines grundrechtlichen Wertedenkens Dieser Rekurs auf grundrechtliche Schutzpflichten ist jüngeren Datums. Anfangs wurde eher der Weg über die seit Rudolf Smend häufig bemühte Konstruktion der Grundrechte als Werte oder gar Grundwerte gesellschaftlicher oder rechtlicher Art22 – wohl möglich noch in einem materialisierten tisch gegenüber einer verschieden ausgeprägten Wirkungsweise der abwehrrechtlichen und der schutzpflichtbezogenen Grundrechtsdimensionen Hagen, JZ 1994, 373 (378 ff., 381 ff.). 18 Dazu nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 421 ff.; Rüfner, in: Hb. des Staatsrechts, Bd. V, § 117 Rn. 75; Oeter, AöR 119 (1994), 529 (549 ff.). Zum Problemkreis Gestaltungsspielraum – grundrechtliche Abwehrfunktion – Schutzgebot vgl. Alexy, ebda., 427 f.; Hager, JZ 1994, 373 (381 ff.); Pietzcker, FS Dürig, 345 (358 ff.). 19 Die dogmatische Einordnung der Schutzpflichtfunktion ist dabei höchst unterschiedlich und reicht über die Zuordnung zur Teilhabe- oder Leistungsdimension der Grundrechte bis zu ihrer Konzeptualisierung als Ausdruck der grundrechtlichen Abwehrfunktion. Der herrschende Begründungsansatz rekurriert auf Art. 1 III GG. Vgl. dazu umfassend Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1560 f., 1572 ff.; Rüfner, in: Hdb. des Staatsrecht, Bd. V, § 117 Rn. Rn. 50 ff. Selbstverständlich fehlen auch nicht kritische Stimmen, vgl. bsp. nur Preu, JZ 1991, 265 ff. 20 Alexy, Theorie der Grundrechte, 410. 21 Kategorisch ablehnend gegenüber der Annahme von staatlichen Schutzpflichten demgegenüber Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 213 ff., der das Dreieck aus den rechtlichen Beziehungen zwischen den Bürgern und zwischen diesen und dem Staat auflösen und durch eine Rekonstruktion der Eingriffsperspektive ersetzen will. Dazu vgl. nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 416 ff., 482 f.; Höfling, Vertragsfreiheit, 50 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1550 ff., 1562; Canaris, AcP 184 (1984), 201 (217 ff.).
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phänomenologisch-ontologischen Verständnis23 – beschritten, die dann im Privatrecht vornehmlich24 über die Generalklauseln Einfluß gewinnen. Mit dem Instrument einer „objektiven Wertordnung“ wird gleichsam versucht, durch eine „staatlich verwaltete Hochethik“ die „internen Zerfallsbedrohungen einer demokratischen Republik dadurch zu bannen, daß der Staat als gegenüber der Gesellschaft relativ autonomer Träger von Werten etabliert wird“25. Ob eine derartige, hier und da als „Zivilreligion“26 bezeichnete Vorstellung staatstheoretisch überzeugt, ist Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen27 – was hier nicht näher interessiert, da die Voraussetzungen staatlicher Integration für die Erkenntniszwecke dieser Untersuchung nicht weiter relevant sind. Gewichtiger ist die Frage, ob mit dem auf eine objektive Werteordnung gestützten Drittwirkungsverständnis nicht Gefahren verbunden sind, die es letztlich untragbar machen. Nun stehen in der Tat dem grundrechtlichen Werteverständnis gewichtige Kritikpunkte28 gegenüber, die die Überzeugungskraft des Werteansatzes empfindlich schwächen: Ein Wertverständnis des Rechts führt tendenziell zur Relativierung grundrechtlicher Freiheit, wenn der werttheoretisch immanenten Logik des Auf- und Abwertens mit ihrer unausgewiesenen Einflußnahme des geistig-kulturellen Wertbewußtseins der jeweiligen Zeit, der Differenzierungslogik zwischen wertverwirklichendem und wertgefährdendem Freiheitsgebrauch und der Durchsetzungslogik vermeintlich höherer Werte auf Kosten rangniedriger nicht entgegengetreten wird29 – die Arbeit mit ontologisch begriffenen Werten mündet mithin zwangsläufig in Werthierarchien bsp. nach Art der phänomenologischen Wertethik oder in Zweck-Mittel-Schemata30. Diese dem Wertevoka22 Paradigmatisch Rüthers, Rechtsordnung und Wertordnung, 22: Jede Rechtsnorm sei Ausdruck eines Werturteils, das Recht insgesamt die „normative Verfestigung bestimmter Wertmaßstäbe“, vgl. auch Isensee, NJW 1977, 545 ff. 23 Wie dies bsp. bei Zippelius, Das Wesen des Rechts, 96 ff., der Fall ist. Allgemein zum Begriff des Werts vgl. nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 127 ff.; Pawlowski, FS Duden, 349 (350 ff.). 24 Für andere Einbruchstellen vgl. Rüfner, in: Hdb. des Staatsrechts, Bd. V, § 117 Rn. 73; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1557 f., 1584 f.; Hager, JZ 1994, 373 (376); Canaris, AcP 184 (1984), 201 (223 ff.). Für die Einflußnahme allein über Generalklauseln votiert demgegenüber bsp. Mikat, FS Nipperdey, Bd. 1, 581 (587); Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 356; Flume, AllgT II, § 1, 10 b. 25 Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 146, dort beide Zitate. 26 Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 144; Luhmann, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 3, 293. 27 Siehe aus der überbordenden Literatur hier nur Frankenberg, Die Verfassung der Republik, 144 ff. 28 Vgl. dazu nur den Überblick bei Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 912 ff., 1557. 29 All dies ist plakativ von Carl Schmitt im Anschluß an einen von Nicolai Hartmann geprägten Begriff als „Tyrannei der Werte“ beschrieben worden ist.
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bular gleichsam inhärenten Schwächen sind freilich nach dem Umbau der axiologischen Wertetheorie, welche von nicht nachvollziehbaren Prämissen ausgeht31, in eine deontologische Prinzipientheorie32 abgeschwächt worden33. Unter Prinzipien waltet nicht jene Eigenlogik des Wertedenkens, welche tendenziell freiheitszerstörend wirken kann. Die Prinzipientheorie bemüht nicht den dunklen Topos von Werten oder Grundwerten, sondern ist in eine Theorie des argumentativen Auseinandersetzung eingebettet34 und macht sich damit in der Arbeit am Prinzip eine argumentative Rationalität zu eigen, die bei einem axiologischen Werteverständnis mit der ihm eigenen Wertelogik höchstens affirmativ, meist jedoch nur unter der Gefahr verdeckter Wertung erreicht werden kann35. Mag auch die Prinzipientheorie mit der Wertetheorie der Grundrechte strukturell übereinstimmen36, so unterscheiden sie sich deswegen doch erheblich37. Für diejenigen, die überhaupt einem Denken auch in Prinzipien kritisch gegenüber stehen, mag freilich auch all dies noch zu viel sein. So wenden bsp. Pawlowski und Smid kritisch gegen ein Wertedenken ein38, mit diesem 30 Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, 37; ders., Soziale Systeme, 433 f. 31 Dazu nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 134 ff. Eine sehr schöne Übersicht zu den Problemen einer jeden Rede von „Werten“ findet sich bei Lenk, Von Deutungen zu Wertungen, 161 ff. 32 Wie dies bei Alexy, Theorie der Grundrechte, passim, geschieht. Dazu nur Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 914 ff. 33 Ähnlich Seelmann, Rechtsphilosophie, § 5 Rn. 6. 34 Dazu nur Alexy, Theorie der Grundrechte, 493 ff. Gerade dies wurde stellenweise auch kritisch angesehen, siehe etwa jüngst Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 214 ff., 229 ff, mit dem Vorwurf, der Sache nach verbleibe es auch bei der Prinzipientheorie bei einem Wertedenken. 35 Vgl. kritisch zu einem Werteverständnis im Recht nur die Beiträge von Wagner, in: Rechtsstaat und Christentum, Bd. 1, 63 ff.; Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 129 ff.; Ryffel, Rechtsphilosophie, 362 ff.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973. 36 Siehe Alexy, Der Staat 1990, 49 (55). Aus diesem Grunde schätzt Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 17, 26, ein Werte- und ein Prinzipienkonzept weithin für äquivalent ein, ähnlich Somek, Rechtssystem und Republik, 211 Fn. 373; Windel, Der Staat 1998, 385 (389). 37 Siehe auch Seelmann, Rechtsphilosophie, § 5 Rn. 6. Die ausufernde rechtstheoretische Diskussion um den Stellenwert und die Struktur von Rechtsprinzipien kann und braucht hier nicht näher aufgegriffen zu werden, siehe daher nur grundlegend Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990; Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 269 ff., 299 ff., 335 ff.; Somek, Rechtssystem und Repubik, 206 ff.; sowie jüngst Martin Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 1998; Nils Jansen, Die Struktur der Gerechtigkeit, 75 ff. 38 Vgl. Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 850 ff.; ders., ARSP 1996, 26 (29 ff.); ders., Der Staat 1989, 353 (364 ff.); ders., in: Die praktische Philosophie Schellings, 13 (24 ff.); ders., FS Wildenmann, 172 (178 ff.); Smid, Rechtsphilosophie,
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würde der – wie sie es nennen – Staat der Glaubensfreiheit negiert und das autonome Individuum nicht mehr als Selbstgesetzgeber begriffen, sondern als Objekt eines staatlichen Schutzes als Wert verortet, der der Abwägung unterläge. Die Berufung auf Grundwerte löse unter diesem Blickwinkel „die Autonomie der Moral der Bürger auf, deren Herstellung ein Verdienst Kantischer Aufklärung war“39 – ein Einwand, der in seiner grundlegenden Stoßrichtung selbstverständlich auch gegen ein Prinzipiendenken in Anschlag gebracht werden kann. Der Vorwurf lautet dann in etwas pointierter Fassung, daß das Prinzipiendenken das kantische Projekt der in öffentlicher Aufklärung und Deliberation wurzelnden Republik und die hierin eingeschlossene Vorstellung einer allgemein konsentierten abstrakt-generellen Abgrenzung der Freiheitssphären der Bürger hintertreibe40, indem es zur Abwägung im Einzelfall verführe. Doch was ist das alternative Theorienangebot, welches als Ersatz für ein Prinzipiendenken angesonnen wird? Es ist dies der Verweis auf ein institutionelles Rechtsverständnis, im Spiegel dessen die Wirklichkeit der Freiheit im Recht beschrieben werden soll41. Überzeugend ist ein derartiger Verweis trotz des dahinter hervorscheinenden Impetus, die gesellschaftlichen Institutionen im Sinne des Prinzips der Freiheit und der Idee immanenter Vernünftigkeit durchgestaltet zu wissen, freilich nicht. Denn Institutionen sind nichts anderes als „geronnene Prinzipienabwägungen“, die nur deshalb als verfestigt gedacht werden können, weil sie von dem stillgestellten Meta-Sprachspiel einer rigiden Rechtsprechungsmacht als hintergründig gesichert dargestellt werden. Worin bei dieser Rechtsprechungsmacht der Vorteil hinsichtlich des Gebots der Gleichbehandlung der Bürger, welches hinter dem Verdikt gegen ein Prinzipiendenken aufscheint, zu sehen sein soll, wird nicht ganz klar42. Dies gilt vor allem, wenn bedacht wird, daß richtigerweise im Zivilprozeß der Richter mit den Parteien das Rechtsgespräch darüber zu suchen hat, wie die Normen des objektiven Rechts sinnvollerweise in der Situation seiner Anwendung im konkreten Prozeß zu verstehen sind43. Auch der hintergründige Sicherungscharakter von Institutionen geht nicht so weit, daß die interne Verschleifung von genereller Norm und konkreter Anwendung im Prozeß 51 ff., 125; ders., Der Staat 1985, 3 (6 ff.); siehe auch Windel, Der Staat 1998, 385 (407 f.). 39 Smid, Der Staat 1985, 3 (7). 40 Zu diesem Projekt siehe kurz oben § 1 sowie Goebel, ARSP 2003, 372 (373 ff., 384 f.); ders., Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 1 II 2. 41 Dazu nur Smid, Rechtsphilosophie, 179 ff.; ders., NJW 1990, 409 (415) mit dem Rekurs auf Recht als Institutionenordnung. 42 Die Kritik an Pawlowski und Smid kann an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden, siehe deshalb nur Goebel, Rechtsgespräch und kreativer Dissens, 105 ff., 135 ff., 150 ff. 43 Dazu umfassend Goebel, Rechtsgespräch und kreativer Dissens, passim.
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entfallen könnte, welche bei einer jeden prozessualen Situation zu beobachten ist, in der abstrakt-generelle Normen angewendet werden müssen44. Dem Prinzipienansatz sollte deshalb trotz aller Kritik letztlich gefolgt werden. Grundrechtliche Prinzipien wirken dann sowohl im Rahmen zivilrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung als auch in der Relation zwischen Privatrechtssubjekten45. Die Prinzipientheorie und der Schutzgebotsansatz sind inhaltlich ergebnisäquivalent: Es geht jeweils um die Bewältigung von Grundrechtskollisionslagen im Sinne einer Optimierung von Freiheitssphären. Die genaue Konstruktion der Loslösung der Grundrechte von ihren Rechtsträgern und ihre Einordnung als Prinzipien kann letztlich hier auf sich beruhen46. c) Der wiederaufgelebte Streit um die Grundrechtswirkung im Privatrecht Dem eingangs erzeugten Eindruck, die Drittwirkungsdebatte sei einmütig nur noch ein Residuum vergangener dogmatischer Gefechte, ist dezidiert entgegengetreten worden. Besonders eindringlich Windel47 macht sich jüngst die zuvor schon von Diederichsen48 und Zöllner49 vorgetragene, weit früher schon im Rahmen des Ordoliberalismus etwa von Mestmäcker50 apostrophierte und kürzlich von Oechsler51 wieder aufgegriffene Auffassung zu eigen, von einer schneidigen Grundrechtswirkung auf der Ebene des einfachen Privatrechts könne nicht gesprochen werden – einer Auffassung, der jüngst Canaris52 als Reaktion eine ebenfalls entschiedene Absage erteilt hat. Der Streit kreist um zwei Problematiken, von denen die erste – nämlich die Frage, ob die Normen des Privatrechts an den Grundrechten der Verfassung gemessen werden können – auf einer anderen Ebene als das Drittwirkungsthema liegt und daher hier auf sich beruhen kann. Für die Anwendung der Gute-Sitten-Klausel sehr viel gewichtiger ist der klassisch zur Drittwirkungsproblematik rechnende Gegenstand, ob die Grundrechte innerhalb dieser Generalklausel als Argument dienen dürfen, die Sittenwidrigkeit eines 44
Siehe Goebel, Rechtsgespräch und kreativer Dissens, 134 ff., 185 ff. Alexy, Theorie der Grundrechte, 484 ff. 46 Im Detail wird allenfalls noch um die Begründung der subjektiv-rechtlichen Seite insbesondere des Werte-Ansatzes gerungen, vgl. nur Canaris, AcP 184 (1984), 201 (224 f.); Alexy, Theorie der Grundrechte, 485 ff. 47 Windel, Der Staat 1998, 385 ff. 48 Diederichsen, AcP 198 (1998), 171 ff.; ders., in: Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 39 ff. 49 Zöllner, AcP 196 (1996), 1 ff. 50 Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235 (239 f.). 51 Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 141 ff. 52 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999. 45
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Rechtsgeschäfts zu begründen – eine Frage, bei der das gerade skizzierte Verständnis der Grundrechte als objektive Wertordnung oder als verfassungsrechtliche Prinzipien und die funktionale Ausrichtung der Grundrechte als staatliche Schutzpflichten die dogmatischen Markierungspunkte vorgeben. Während die Interpretation der Grundrechte als objektive Wertordnung nach der oben vorgetragenen Kritik nicht mehr ernstlich überzeugt, steht im Mittelpunkt der Debatte die Einbruchstelle der Grundrechte über ihre funktionale Neuinterpretation als Schutzpflichten. Die Hauptstoßrichtung der Gegner der bisherigen Dogmatik grundrechtlicher Drittwirkung kann an einem von Oechsler im Zusammenhang mit der Schutzpflichtproblematik vorgetragenen Argument deutlich gemacht werden. Oechsler macht darauf aufmerksam, daß die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten in ihrer derzeitigen Ausprägung zahlreiche alte Streitfragen nur schwer bewältigen kann. Er verweist beispielhaft auf das alte Problem des gerechten Preises. Nach der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten könnte der Richter bei einem Vortrag, der ausbedungene Preis sei zu hoch, zu einer Preiskontrolle verpflichtet sein, wenn der Preis tatsächlich zu drastisch sei und daher die Verurteilung des Zahlungspflichtigen in dessen Recht aus Art. 14 I GG eingreifen würde53 – ein Ergebnis, was zeige, daß die für das Problem des angemessenen Preises entscheidende Frage, nach welchen tatsächlichen Merkmalen Sachverhalte als gleich oder ungleich beurteilt werden können, im Privatrecht selbst thematisiert würde; das Verfassungsrecht sei hier zu wenig differenzierungsscharf54. Freilich überzeugt auch dieser Einwand nicht recht, da die Ausgangsbasis nicht überzeugt, es gäbe gleichsam außerhalb des Prozesses eine Norm, der entnommen werden könne, daß der Preis zu hoch sei. Eine prozessuale Sicht würde hier klären, daß sich für den Richter das Problem der Grundrechtsverletzung so nicht stellt und auch gar nicht stellen kann55. Sehr viel gewichtiger ist der Oechslersche Einwand, die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten würde das Differenzierungspotential des Privatrechts ständig unterlaufen. Dieser Einwand lokalisiert auf einer theoretischen Ebene, auf der quasi die Grundverständnisse des modernen Privatrechts verhandelt werden. Denn desto stärker im Zuge der herrschenden Wertungsjurisprudenz das System rechtlicher Normen mehr und mehr zu einem bloßen Produkt der Abstimmung von Elementen einer differenzierten Rechtssemantik von Werten, Prinzipien und Interessen56 umgebaut wurde, in dem die Begriffe des äußeren Systems des Rechts im Vorgang der Rechtsanwendung und der rechtsdogmatischen Rechtsproduktion zu Ele53
Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 141. Oechsler, Gerechtigkeit im modernen Austauschvertrag, 142 f. 55 Dazu umfassend Goebel, Rechtsgespräch und kreativer Dissens, § 11 bis § 13; ders., ZZP 113 (2000), 49 (51 ff., 66 ff.). 54
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menten von Abwägungen verflüssigt werden57, desto weniger überzeugt der Rekurs auf ein hohes Differenzierungspotential des privatrechtsdogmatischen Denkens. Ein derartiges Potential kommt dem Privatrecht dann nur noch zu, wenn dessen Materialisierungstendenzen als möglichst zu vermeidender Weg eskamotiert werden, es deshalb eher formal begriffen58 und in der Vorstellung verortet wird, Recht solle gleichsam „mechanisch“ wirken, um die Gleichförmigkeit seiner Funktionsweise zu sichern59. Wird das Privatrecht so verstanden, trifft sich der Oechslersche Einwurf mit dem oben60 gegen ein Prinzipienverständnis der Grundrechte bemühten Einwand, ein grundrechtliches Prinzipiendenken würde die Gleichheit und Autonomie der Bürger hintertreiben. Die Debatte um das Verhältnis zwischen grundrechtlichen Schutzpflichten und den Wertungen des Privatrechts kann daher insgesamt gesehen auch so gelesen werden, daß dort um den rechten Stellenwert der Rechtsperson, ihrer Freiheit und des Rechts überhaupt gerungen wird61. Schon früh ist dies in dem Diktum widergespiegelt worden, auf alten Systemgrundlagen – eben im Rahmen der liberalistischen Formalität des privaten Rechts – könne dessen Durchdringung von der Verfassung her nicht geleistet werden, so daß als „Zauberersatzwort“ die Drittwirkungslehre dienen müsse62.
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Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze, 1988; Canaris, Systembegriff, 90 ff. Insbesondere die strukturtheoretischen Kategorien von „Regel“ und „Prinzip“ waren hier wegweisend. 57 Zu diesem Umbau siehe nur Somek, Rechtssystem und Republik, 193 ff., 197 ff. 58 Es verwundert daher nicht, daß die Arbeit von Oechsler in ihrer gesamten Anlage diese formale Rationalität des Privatrechts stark in den Vordergrund stellt und daß Oechsler sich bei der Frage grundrechtlicher Schutzpflichten im Ergebnis die Auffassung Mestmäckers zu eigen gemacht hat, da dieser ja als Ordoliberaler ebenfalls der formalen Rationalität des Rechts einen hohen Stellenwert abgewinnen kann. 59 Siehe zu dieser „Maschinenmetapher“ des Rechts nur Smid, Einführung in die Philosophie des Rechts, 152 ff. 60 Oben § 15 I 1 b. 61 Zu den hiesigen Überlegungen steht es nicht im Widerspruch, daß an anderer Stelle (Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 12 III 2 c) davon die Rede ist, das überkommene Privatrecht besitze einen erheblichen freiheitssichernden Eigenwert. Diese Einsicht wird mit der nunmehrigen Erwägung nicht zurückgenommen, das System rechtlicher Normen gerate der Wertungsjurisprudenz mehr und mehr zu einem Produkt der Abstimmung konkurrierender Werte im Rahmen einer Abwägungssemantik. Denn der obige Verweis auf den freiheitssichernden Charakter des überkommenen Privatrechts diente der Abgrenzung zwischen diesem und den innerhalb der Sozietät zirkulierenden Sozialmoralen. Diese Abgrenzung wird aber auch durch ein Recht geleistet, dessen Einheit sich nur noch in einer Abwägungssemantik finden kann, wie dies bei der Wertungsjurisprudenz der Fall ist. 62 So schon bei Wiethölter, Rechtswissenschaft, 196 f. (197 das Zitat).
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Es liegt auf der Hand, daß diese Debatte über das rechte Verständnis des Privatrechts im Rahmen dieser Untersuchung nicht in der Breite aufgegriffen werden kann, die notwendig wäre, um eine überzeugende Stellungnahme zu erarbeiten, die sich nicht nur einfach einem der bestehenden Theorienangebote anschließt. In die Debatte muß aber auch gar nicht näher eingegriffen werden. Denn das spannungsreiche Hauptproblem grundrechtlicher Drittwirkung – inwiefern leiden privatrechtliche Differenzierungen unter einem Einbezug grundrechtlicher Wertungen in das Privatrecht? – stellt sich im gewillkürten Erbrecht so überhaupt nicht. Hier besteht weitgehend Einigkeit, daß nicht jede erblasserische Verfügung, welche dem erbrechtlichen Typenzwang entspricht, wirksam sein soll, sondern daß es das Korrektiv der Gute-Sitten-Klauseln gibt. Diese Klausel ist aber nicht nur ein, sondern das einzige Korrektiv. Hier liegt der große Unterschied zum Vermögensrecht: Bei der über § 138 I BGB ins Werk gesetzten grundrechtlichen Drittwirkung im Bereich des gewillkürten Erbrechts kann gar kein privatrechtliches Differenzierungspotential eingeebnet werden, weil es ein solches nämlich in den Fällen gar nicht gibt, bei denen § 138 I BGB herangezogen wird. Die Alternative zum Einbezug der Grundrechte bei der Inhaltskontrolle der Verfügungen von Todes wegen wäre deshalb kein Verlust der differenzierten Ordnungsfunktion des Rechts, sondern allenfalls eine erhöhte Belastung des Bedachten, der sich des großen Schutzpotentials der Sittenwidrigkeitsprüfung beraubt sieht. Denn falls soziale Moralen als möglicher Inhalt der Guten-Sitten-Klausel weggefallen sind und dieses Schicksal auch die Grundrechte der Verfassung ereilen sollte, bliebe kaum mehr etwas übrig, was der Bedachte zu seinen Schutz anführen könnte. Zumindest im Sonderfall des gewillkürten Erbrechts ist daher die vor allem von Canaris63 für den Gesamtbereich des Privatrechts herausgearbeitete grundrechtliche Schutzfunktion einschlägig, ohne daß dem mittels Einwände aus der Formalität des Rechts entgegengetreten werden kann, wie sie sich etwa in dem o. g. vertragsrechtlichen Beispiel des gerechten Preises widerspiegeln. Ob auch generell der grundrechtlichen Drittwirkung zugesprochen werden kann, kann deshalb offen bleiben. 2. Das Kollisionsproblem: Der Umfang der Einwirkung der Grundrechte
a) Möglichkeiten der Präzisierung des § 138 I BGB Es bleibt nach dem zuvor Gesagten also dabei, daß die Grundrechte des Bedachten über § 138 I BGB der erbrechtlichen Verfügung dem Grund nach entgegengesetzt werden können. Mit diesem Verständnis des § 138 I 63 Canaris, AcP 184 (1984), 201 (228 f.); ders., JuS 1989, 161 (162); ders., Grundrechte und Privatrecht, 23 ff., 32 ff., 37 ff.
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BGB ist noch nicht die Frage präjudiziert, welche Anforderungen an die Verletzung der Grundrechte Dritter zu stellen sind, damit sie als Sittenwidrigkeitsmaßstab die Verfügung von Todes wegen hinfällig machen können. In welchem Ausmaß muß also in Grundrechte Dritter eingegriffen sein, damit das eingreifende Rechtsgeschäft als sittenwidrig gilt? Im Bereich des Vertragsrechts wird ein ganzes Spektrum von Lösungsmöglichkeiten hierzu angeboten, deren Übertragbarkeit auf letztwillige Verfügungen zu überprüfen sich durchaus anbietet. Im Vertragsrecht sind freilich die Schwerpunkte der Diskussion auf das angemessene normative Reaktionsniveau der Rechtsordnung angesichts komplexer und zum Teil tiefgreifender sozialer und ökonomischer Konfliktlagen gerichtet, während im Kontext letztwilliger Verfügungen im bisherigen Fallmaterial das Schwergewicht der Sittenwidrigkeitsproblematik eher mit den Topoi Persönlichkeitseingriff, Diskriminierung und familiare Verbundenheit skizziert werden kann. Es lassen sich zwei Extrempole unterscheiden, die bisher die Diskussion des rechten Verständnisses des Tatbestands der Guten-Sitten-Klausel bestimmt haben. Auf der einen Seite wird das Eingriffsniveau des § 138 I BGB auf einen auf Extremfälle beschränkten, die äußerste Toleranzgrenze der Rechtsgeschäfte aufzeigenden Minimalschutz begrenzt. Es geht dann um die Unerträglichkeit eines Verstoßes gegen Sozialmoralen64, im Kontext der grundrechtlicher Drittwirkung auf Eingriffe in den Kernbereich der Grundrechte65. Auf der anderen Seite wird das Eingriffsniveau weitestmöglich auf bloße Rechtswidrigkeit des rechtsgeschäflichen Handelns abgesenkt66 – ein Vorschlag, welcher nicht recht überzeugt, da ansonsten das 64 So BAG JZ 1975, 737 (738): „besonders krasse Fälle“; BGH ZIP 1994, 121: „schwerwiegende Verstöße gegen das Anstandsgefühl“ (im Rahmen des § 826 BGB); Canaris, AcP 184 (1984), 201 (241, 244); ders., FS Larenz, 27 (49 f.): „auf Extremfälle beschränkten Minimalschutz“; dazu auch Wieacker, JZ 1961, 337 (339 f.); Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle, 18: „Evidenzmaßstab“, 20: „äußerste Toleranzgrenze“; Zimmermann, Richterliches Moderationsrecht, 83: „äußerste Grenzen der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie“; Coester-Waltjen, AcP 190 (1990), 1 (15, 31): „schwerwiegende kronkrete Einzelfälle“; Bydlinski, in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 189 (207): „massive Anstößigkeit des Verhaltens“; MünchKomm-Mayer-Maly, § 138 Rn. 1, 132, 138: „Unerträglichkeit“; relativierend ders., AcP 194 (1994), 105 (139): „nicht mehr nur schlechthin unerträgliche, sondern auch der Verfasungsordnung nicht angepaßte Rechtsgeschäfte“; angedeutet bei Soergel-Hefermehl, § 138 Rn. 7: „grobe Mißbräuche der Privatautonomie“. Der Rekurs auf unerträgliche Verstöße gegen die Sozialmoral müßte unter dem hier vertretenen Signum der Allgemeinheit des Rechts freilich bsp. in „unerträgliche Rechtswidrigkeit“ umformuliert werden. 65 Thielmann, Sittenwidrige Verfügungen, 61 ff. 66 Angedeutet bei Reuter, ZGR 1987, 489 (498). Vgl. auch Brüggemeier, Deliktsrecht, Rn. 360 ff.; Wiethölter, Rechtswissenschaft, 197. Mayer-Maly will in AcP 194 (1994), 105, Damm, JZ 1986, 913 (918), ebenfalls zu den Befürwortern der Gleichung Sittenwidrigkeit gleich Rechtswidrigkeit rechnen; wenngleich die etwas
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ausdifferenzierte System rechtlicher Reaktionen auf Normverstöße ausgehebelt würde und bsp. die Differenzierungen im Rahmen des § 134 BGB mit seinem Normzweckvorbehalt unterlaufen würden. Mittelwege werden durch Qualifizierungen der Rechtswidrigkeit des jeweiligen Rechtsgeschäfts beschritten. Hier findet sich dann etwa die Auffassung, generell (und nicht nur, soweit Verfügungen von Todes wegen beurteilt werden) verweise § 138 I BGB ausschließlich auf ungeschriebene Verbotsgesetze67. Darüberhinaus68 wird beispielsweise im Kontext des Wettbewerbsrechts darauf verwiesen, Sittenwidrigkeit müsse mit Systemwidrigkeit des rechtsgeschäftlichen Handelns vor dem Hintergrund eines normativ-funktional begriffenen Freiheitsverständnisses übersetzt werden69. Die Gleichung „Sittenwidrigkeit gleich Rechtwidrigkeit“ wurde schon kritisiert. Das andere Extremverständnis: Sittenwidrigkeit als Unerträglichkeit, ist nicht so einfach von der Hand zu weisen. Zweierlei wurde in der bisherigen Diskussion darunter verstanden: Zum einen soll Unerträglichkeit vorliegen, wenn das Rechtsgeschäft, um dessen Sittenwidrigkeitsprüfung es geht, in den Kernbereich eines Grundrechts eingreift. Zum anderen mag sich das Verdikt der „Unerträglichkeit“ vor dem Hintergrund der Pluralität moderner Gesellschaften verstehen, die allenfalls noch Minimalethiken ubiquitär ihr eigen nennen können70.
unbefangene Formulierung Damms in diese Richtung deutet, wird doch augenfällig, daß Damm Sittenwidrigkeit mit dem Verstoß gegen ungeschriebene Verbotsgesetze und damit nicht schlechthin mit Rechtswidrigkeit gleichsetzt, vgl. nur Damm, ebda., 919; AK-ders., § 138 Rn. 26, 56. 67 Pawlowski, Allgemeiner Teil, Rn. 498 b; ders., Methodenlehre, Rn. 189; ders., Rechtswissenschaft, 117 ff.; ders., ARSP 1964, 503 (513); Smid, NJW 1990, 409 (413); Gernhuber, FamRZ 1960, 326 (335); Honsell, JA 1986, 573 (576); Kraft, FS Bartholomeyczik, 223 (234); Staud-Sack, § 138 Rn. 26 ders., WRP 1985, 1 (2 ff.); ders., RdA 1975, 171 (176 f.), Windel, Der Staat 1998, 385 (407 f.). Vgl. auch AKDamm, § 138 Rn. 26, 56; ders., JZ 1986, 913 (918 f.); Larenz/Canaris, SchuldR II/ 2, § 78 II 1 a. 68 Die von Erwin Deutsch, Haftungsrecht, Bd. 1, Köln u. a., 1976, 232, vorgenommene Charakterisierung der Sittenwidrigkeit als „gesteigerte Rechtswidrigkeit“ findet sich in ders., Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl., 1996, Rn. 290, nicht mehr. 69 Vgl. dazu Mestmäcker, FS Böhm, 383 (383 ff., 392 ff., 410 ff.). Mit Unterschieden im einzelnen folgen insbes. Ludwig Raiser, Claus Ott, Bernd Rebe und Volker Emmerich der durch Franz Böhm und Ernst-Joachim Mestmäcker begründeten funktionalistisch verstandenen Delegationslehre des § 1 UWG, nach der der Richter quasi zu einer sachgerechten Politik durch rechtsetzende Rechtsprechung ermächtigt sei. 70 So bsp. Bydlinski, in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, 189 (207); dazu Goebel, Testierfreiheit als Persönlichkeitsrecht, § 12 III 1.
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b) Sittenwidrigkeitsprüfung und Kernbereich der Grundrechte Insbesondere Thielmann will die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts, welches anhand eines zu starken Eingriffs in Grundrechte Dritter begründet wird, nur dann annehmen, wenn in den Kernbereich eines Grundrechts eingegriffen worden sei71, was nach seinem Dafürhalten dann der Fall ist, wenn Nachteile oder Behinderungen bei der Ausübung von Grundrechten „prohibitiv wirken, d.h. wenn sie einen durchschnittlich standhaften Charakter von der Ausübung abhalten“72. Abgesehen von dem hiermit verbundenen Verständnis eines absoluten grundrechtlichen Kernbereichs73 kann dem schon deshalb nicht gefolgt werden, weil Sittenwidrigkeit dann allein mit einem unerträglichen Normverstoß korreliert wird. Wie noch gezeigt werden wird74, wird damit die ganze Bandbreite der Guten-Sitten-Klausel nur rudimentär erfaßt75. Grundrechtliche Kollisionslagen sind vielmehr anerkanntermaßen nach dem Prinzip des „schonendsten Ausgleichs“ oder der „praktischen Konkordanz“76 und damit ohne Bezug zu absoluten Größen zu bewältigen77. Insgesamt gesehen scheidet also ein Rückschnitt der Sittenwidrigkeitsprüfung auf den grundrechtlichen Kernbereich zumindest insoweit aus, soweit dieser absolut verstanden wird. Ist mit dieser Entscheidung zugleich der Weg zu einer Abwägungs-Hyperthrophie zwischen widerstreitenden Grundrechten eröffnet78? Dem wird im allgemeinen Vermögensrecht auszuweichen versucht, indem Sittenwidrigkeit mit Unerträglichkeit gleich71
Thielmann, Sittenwidrige Verfügungen, 61 ff. Thielmann, Sittenwidrige Verfügungen, 68. 73 Vgl. dazu, daß die dichotome Gegenüberstellung von absoluten und relativen Theorien des grundrechtlichen Kernbereichs in dieser Form das Sachproblem nicht angemessen widerspiegeln, Alexy, Theorie der Grundrechte, 269 ff. 74 Unten § 15 I 2 c. 75 Auch Otto, Personale Freiheit, 142 f., kritisiert den Thielmannschen Ansatz zutreffend mit der Bemerkung, eine Mißachtung der Grundrechte solle für sich allein zur Sittenwidrigkeit schon dann führen, wenn von einer Verletzung des Wesensgehalts noch nicht gesprochen werden kann – und v