Shoah-Träume. Vergleichende Studien zum Traum als Erzählverfahren [1. ed.] 9783846766507, 9783770566501

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Shoah-Träume. Vergleichende Studien zum Traum als Erzählverfahren [1. ed.]
 9783846766507, 9783770566501

Table of contents :
Frontmatter
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Vorbemerkung: Traumerfahrungen der Shoah
I. Traumwissen und Traumliteratur: Erzählte Shoah-Träume
II. Traumdiskurse des beschädigten Selbst: Jean Cayrol und Vercors
III. Traumnotate zwischen Politik und Poetik: Charlotte Beradt, Rudolf Leonhard und Emil Szittya
IV. Träumen im Lager: Robert Antelme, Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún und Anna Langfus
V. Traumsprachen des ‚Muselmanns‘: Charlotte Delbo, Vercors und Elie Wiesel
VI. Alpträume der Nachkriegswirklichkeit: Günter Eich, Primo Levi und Anna Langfus
VII. Traumzeit und Geschichtserfahrung: Anna Seghers und Lenka Reinerová
VIII. Vorausgeträumte Erinnerung: André Schwarz-Bart, D. M. Thomas und Jonathan Safran Foer
IX. Unheimliche Traumschriften: Paula Ludwig und Philip Larkin
X. Der Traum von der Lagerrückkehr: Primo Levi, Charlotte Delbo, Werner Fritsch, Jean Cayrol, Georges Perec und Jorge Semprún
XI. Alptraum und Wunschtraum unmöglicher Erzähler: Romain Gary und Radu Mihăileanu
XII. Traumwissen als Traumnotat: Charlotte Beradt, Paula Ludwig, Ingeborg Bachmann und Hélène Cixous
XIII. Täterträume zwischen Verblendung, Verdrängung und Heimsuchung: Romain Gary, Edgar Hilsenrath, Marcel Beyer, Jonathan Littell, Martin Amis, Olivier Guez und Daša Drndić
XIV. Rückblicke und Ausblicke: Traumwissen der Shoah-Literatur und ‚Traumarbeit‘ der Nachgeborenen
Backmatter
Nachweis der Erstpublikationen
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Shoah-Träume

Traum – Wissen – Erzählen

Herausgegeben von

Stefanie Kreuzer, Christiane Solte-Gresser Wissenschaftlicher Beirat

Andrea Allerkamp Susanne Goumegou Markus Kuhn Hans-Walter Schmidt-Hannisa Roland Spiller Kerstin Thomas

Band 10

Christiane Solte-Gresser

Shoah-Träume Vergleichende Studien zum Traum als Erzählverfahren

BRILL | Wilhelm Fink

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 24 58 37 858/GRK 2021

Umschlagabbildung: Albert Herbig: o. T. (Sondagen), 2019, 20 x 20, Chitosantempera und Tinte (Ausschnitt) www. albertherbigArt.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN: 2567-7993 E-Book ISBN 978-3-8467-6650-7 ISBN der Printausgabe 978-3-7705-6650-1

Inhalt

Vorbemerkung: Traumerfahrungen der Shoah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I.

Traumwissen und Traumliteratur: Erzählte Shoah-Träume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

II.

Traumdiskurse des beschädigten Selbst: Jean Cayrol und Vercors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

III. Traumnotate zwischen Politik und Poetik: Rudolf Leonhard, Charlotte Beradt und Emil Szittya . . . . . . . . . . . . . 51 IV. Träumen im Lager: Robert Antelme, Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún und Anna Langfus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 V.

Traumsprachen des ‚Muselmanns‘: Charlotte Delbo, Vercors und Elie Wiesel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

VI. Alpträume der Nachkriegswirklichkeit: Günter Eich, Primo Levi und Anna Langfus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 VII. Traumzeit und Geschichtserfahrung: Anna Seghers und Lenka Reinerová. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 VIII. Vorausgeträumte Erinnerung: André Schwarz-Bart, D. M. Thomas und Jonathan Safran Foer. . . . 195

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Inhalt

IX. Unheimliche Traumschriften: Paula Ludwig und Philip Larkin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 X.

Der Traum von der Lagerrückkehr: Primo Levi, Charlotte Delbo, Werner Fritsch, Jean Cayrol, Georges Perec und Jorge Semprún. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

XI. Alptraum und Wunschtraum unmöglicher Erzähler: Romain Gary und Radu Mihăileanu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 XII. Traumwissen als Traumnotat: Charlotte Beradt, Paula Ludwig, Ingeborg Bachmann und Hélène Cixous. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 XIII. Täterträume zwischen Verblendung, Verdrängung und Heimsuchung: Romain Gary,Edgar Hilsenrath, Marcel Beyer, Jonathan Littell, Martin Amis, Olivier Guez und Daša Drndić. . . . . . 333 XIV. Rückblicke und Ausblicke: Traumwissen der Shoah-Literatur und ‚Traumarbeit‘ der Nachgeborenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Nachweis der Erstpublikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483

Vorbemerkung: Traumerfahrungen der Shoah

„In Auschwitz träumten wir nicht, wir delirierten“, sagt Charlotte Delbo im zweiten Teil ihrer Roman-Trilogie über ihre traumatischen Erfahrungen. „Von Auschwitz lässt sich nicht erzählen, allenfalls in Form eines Traums“, so müsste man demgegenüber Vercors resümieren, der als einer der ersten Nicht-Deportierten versucht, das Grauen der Vernichtungslager aus dem Untergrund heraus literarisch in Worte zu fassen. Überlebende wie Primo Levi, Anna Langfus oder Jorge Semprún schreiben von wiederkehrenden Alpträumen, in denen sich das Leben nach dem Konzentrationslager als erschütternde Täuschung entpuppt. Robert Antelme oder Charlotte Delbo hingegen erzählen aus dem Inneren einer Lagerrealität, wo der schmale Grat zwischen Leben und Tod derart brüchig wird, dass Halluzination, Delirium und Agonie auch die Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben auflösen. Während für Jean Cayrol der Traum im Lager einen zeitweiligen Fluchtraum bildet, sind für andere Überlebende – allen voran für Elie Wiesel – Träume oft der Ort, an dem sie den Toten begegnen oder ihnen eine Stimme verleihen können. Mitunter allerdings verlagern die Traumatisierten gar die gesamte eigene Existenz in die Träume der Toten hinein. Damit stellen sie die Wirklichkeit eines Lebens nach der Shoah grundsätzlich infrage. Romane, die nationalsozialistische Täterstimmen zu Wort kommen lassen, erzählen wiederum auf provozierende Weise von Träumen, in denen die Grenze zwischen Tätern und Opfern ins Wanken gerät. Auch ihre Leserinnen und Leser werden damit an eine Grenze geführt: Die Traumtexte konfrontieren uns mit der unausweichlichen Frage, ob die Täter wirklich so anders sind als wir selbst. Ob Traumprotokolle, Träume in Autobiographien oder literarische Traumfiktionen; ob Roman, Gedicht, Drama oder Film; ob in unmittelbarer Nähe zu den Konzentrationslagern oder aus der Distanz heraus entstanden; ob von Überlebenden selbst oder von den Nachgeborenen verfasst: Jeder einzelne der hier versammelten Traumtexte spricht zunächst einmal in vielsagender Weise für sich selbst. Der systematische Vergleich zwischen bekannten und bislang kaum zur Kenntnis genommenen Schriften aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen führt aber auch bedeutsame Überschneidungen vor Augen und eröffnet neue Denkräume. So werden etwa bestimmte Typen von Shoah-Träumen erkennbar, die in verschiedenen Variationen immer wieder erzählt werden. Hierzu gehören u.  a. der Traum von der verhinderten Heimkehr aus dem Lager, der Traum vom unwillkürlichen Zurückversetztwerden in die Lagerwirklichkeit,

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Vorbemerkung

Träume, in denen ermordete Familienmitglieder erscheinen und versuchen, mit den Überlebenden in Kontakt zu treten, solche, in denen die Erfahrungen der Shoah im Bild der Hölle ihren Ausdruck finden oder in denen die Shoah regelrecht ‚vorausgeträumt‘ wird. Insgesamt wird damit ein eindrückliches Spektrum an Motiven und Erzählweisen des Träumens sichtbar, die eingesetzt werden, um sich schreibend der Shoah anzunähern. Die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit des Traums, sein unsicherer Wirklichkeitsstatus, die übermächtigen sinnlichen und leiblichen Wahrnehmungen im Traumerleben und der ästhetische Eigensinn, der des Nachts Erfahrungen und Reflexionen in beunruhigende Bilder verdichtet, machen den Traum zu einem äußerst produktiven Erzählverfahren, mit dem die Grenzen des Darstellbaren ausgelotet werden. So begegnen die Traumerzählungen dieses Buches auf je eigene Weise der Aporie der Shoah, die, wie Giorgio Agamben sagt, „in doppeltem Sinne ein Ereignis ohne Zeugen“ ist. Über Träume setzen sich die Schreibenden damit auseinander, dass es „ebenso unmöglich ist, aus dem Inneren des Todes Zeugnis abzulegen – es gibt keine Stimme für das Verschwinden der Stimme –, wie von außen her – denn der outsider ist per definitionem vom Ereignis ausgeschlossen“. Vor diesem Hintergrund lassen sich die erzählten Shoah-Träume auch als eine kritische Reflexion über das vieldiskutierte Problem der ‚Unsagbarkeit‘ lesen. In ihnen scheint jedenfalls ein Wissen aufgehoben, das geborgen und weitergegeben werden will – und das auf anderem Wege kaum zugänglich oder vermittelbar ist. Die hier versammelten Studien sind Ergebnisse meiner langjährigen Forschungsarbeit zu Shoah-Träumen im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“. Einige Beiträge gehen auf Artikel zurück, die bereits in anderen wissenschaftlichen Kontexten erschienen sind und für den vorliegenden Band überarbeitet wurden. Die Kapitel lassen sich damit als Einzelstudien zu verschiedenen thematischen Aspekten des Traums bei bestimmten Autorinnen und Autoren der Shoah-Literatur lesen. Weil manche Texte für ganz unterschiedliche Facetten der Shoah und die damit verbundene Traumthematik wichtig sind, tauchen sie in mehreren Kapiteln auf. Geringfügige Dopplungen, etwa was Überblicke und Kontextualisierungen angeht, wurden in Kauf genommen, um eine Lektüre einzelner Kapitel als in sich abgeschlossene Studien zu ermöglichen. Verweise auf weiterführende Argumentationen, Vertiefungen bestimmter Aspekte an anderer Stelle und Ergänzungen durch zusätzliche Beispiele laden dazu ein, zwischen den einzelnen Buchkapiteln zu springen. Das Buch ist zugleich aber auch ausdrücklich als ein Gesamtes angelegt: Es folgt einer zeitlichen Struktur, die – wo immer es möglich war – die Entstehungschronologie der untersuchten Texte berücksichtigt. Es spannt dabei einen Bogen von Träumen vor der Shoah bzw. solchen, die während der Shoah außerhalb der

Vorbemerkung

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Lager geträumt wurden, über Träume im Konzentrationslager und Traumerzählungen von Überlebenden bis hin zu Traumtexten der nachfolgenden Generationen, die sich literarisch mit der historischen Vergangenheit auseinandersetzen. Ich danke meinen geschätzten Kolleginnen und Kollegen sehr herzlich für die eröffneten Möglichkeiten zur Präsentation, Diskussion und Reflexion dieser Studien. Genannt seien hier, stellvertretend für viele andere, Manfred Engel vom Research Committee The Cultural and Literary History of the Dream der International Comparative Literature Association, Markus Messling mit seinem European Research Council Projekt Minor Universality. Narrative World Productions After Western Universalism sowie Marie Guthmüller für das Network of Cultural Dream Studies und das DFG-Netzwerk Das nächtliche Selbst. Traumwissen und Traumkunst im Jahrhundert der Psychologie. Den ehemaligen und derzeitigen Mitgliedern des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“ (GRK 2021) bin ich dankbar für die anregenden Debatten und ihr anhaltendes Interesse an der Thematik. Leah Kinberg und Alexander Friedman danke ich für ihre fachliche Expertise und ihre wohlwollende Aufmerksamkeit. Mein besonderer Dank geht an Lucia Hubig und Kristina Höfer für ihre sorgfältigen, kritischen Lektüren sowie an Angelika Selle, Jasna Pape und Norah El Gammal für die engagierte und verlässliche Unterstützung bei der Recherche und der Fertigstellung des Manuskripts. Saarbrücken, im März 2021 Christiane Solte-Gresser

I. Traumwissen und Traumliteratur: Erzählte Shoah-Träume

Traumwissen zwischen Psychoanalyse, empirischer Traumforschung und Kulturwissenschaft Träume liefern einen entscheidenden Zugang zur interdisziplinären Erforschung der Shoah. Sie sind, wie Reinhart Koselleck es formuliert, „Quellen, die von einer vergangenen Wirklichkeit zeugen, wie es vielleicht kaum eine andere Quelle zu leisten vermag“.1 Shoah-Träume2 stellen aber auch eine besondere Herausforderung für Traumtheorien, für die Traumaforschung, für Theorien der Erinnerung, für literaturtheoretische Fragen zu Ästhetik und Poetik sowie für die Geschichtsschreibung dar.3 Dabei markiert die Shoah eine deutliche Zäsur 1 2

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Reinhart Koselleck: „Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich“, in: Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 278–299, hier S. 283, vgl. ähnlich auch S. 286. Mit seiner Formulierung „rêves concentrationnaires“ bezeichnet Jean Cayrol ausschließlich Träume, welche von Häftlingen im KZ selbst erlebt wurden (vgl. Kapitel II). Diese Einschränkung halte ich aus mehreren Gründen für problematisch. Wenn im vorliegenden Buch stattdessen von Shoah-Träumen die Rede ist, so lege ich dieser Formulierung eine weite Definition zugrunde: Mit Shoah-Träumen meine ich alle Traumberichte und Traumdarstellungen, welche die Massenvernichtung der europäischen Juden durch das NS-Regime – aber auch anderer Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft  – explizit oder implizit zum Thema machen und in einem nachweislichen Kontext dazu stehen. Wenngleich sich der Begriff freilich ausdrücklich auf die Vernichtung der europäischen Juden bezieht, so schließe ich im Argumentationsgang dieses Buches den Porajmos, d. h. den Völkermord an den Sinti und Roma, sowie die Inhaftierung und Ermordung von Widerstandskämpferinnen und -kämpfern sowie von anderen NS-Verfolgten in diese Formulierung mit ein. Notwendige Differenzierungen werden jeweils im Zuge der Beschäftigung mit den einzelnen Texten vorgenommen. Der Terminus ‚Shoah-Träume‘ dient mir also mangels eines treffenderen Ausdrucks zunächst als verallgemeinernder Oberbegriff, auch wenn seine Verwendung aus einer jüdischen Perspektive durchaus anfechtbar ist. Zur Begriffsverwendung ‚Shoah‘ in Abgrenzung zum sehr viel problematischeren ‚Holocaust‘, vgl. die etymologische Auseinandersetzung mit beiden Bezeichnungen von Giorgio Agamben, die zwar etwas apodiktisch sein mag, der ich mich im Wesentlichen jedoch anschließe: Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III). Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 24–29. So konstatiert etwa Hans Ulrich Reck, dass „der Traum als Reaktion, Kanalisierung, Modellierung von Erfahrungen eines bestimmten, historisch realen Terrors“, „als eine spezifische

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Traumwissen und Traumliteratur

in den einzelnen Disziplinen, die angesichts der millionenfachen industriellen Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten gezwungen werden, die methodischen und theoretischen Prämissen ihrer Forschung grundsätzlich zu überdenken. Während sich die Wissenschaft allerdings erst mit einem historischen Abstand von mehreren Jahrzehnten Träumen der Shoah widmet, scheint in literarischen und autobiographischen Texten schon sehr früh, nämlich bereits während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und unmittelbar zu Beginn der Nachkriegszeit, ein Wissen aufgehoben, das Konzepte des Traums ebenso betrifft, wie die Shoah selbst.4 Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen. Die erste systematische Zusammenstellung von Konzentrationslager-Träumen zu wissenschaftlichen Zwecken erfolgte aus einer psychiatrischen bzw. soziologischen Perspektive. Zwischen 1973 und 1974 hatten Stanisław Kłodziński, Zenon Jagoda und andere polnische Wissenschaftler Shoah-Überlebende mittels eines Fragebogens nach ihren Träumen befragt; und zwar ausdrücklich auch nach Träumen, die bereits im Konzentrationslager selbst geträumt wurden. Eine Auswahl der Antworten wurde in Polen erstmals 1977, in deutscher Übersetzung dann 1987 in den Auschwitz-Heften unter dem Titel „Die Nächte gehören uns nicht“ publiziert und kommentiert.5 Bemerkenswert ist, dass die Verantwortlichen der Studie einen kategorialen Unterschied zwischen den Träumen von ehemaligen KZ-Häftlingen und anderen Träumern sehen; eine Differenz, die es unmöglich mache, die wiedergegebenen Träume „mit den für die Traum-Analyse von Nicht-Häftlingen geeigneten Termini und Untersuchungsinstrumenten anzugehen“.6 Weil es ihnen um den offensichtlichen Zusammenhang zwischen Traum und Lagerhaft geht, interessieren sie sich besonders für Trauminhalte. Weniger von Interesse sind demnach sprachliche Darstellung oder Erzählformen; nicht angemessen scheinen Deutungsversuche oder traumtheoretische Einordnungen. Dies gilt auch noch für die umfassen-

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Form historischer Reflexion“ bzw. „als eigener traumtheoretisch bedeutsamer Typus“ gelten kann. Vgl. Hans Ulrich Reck: „Traum als geschichtliche Zeugenschaft und Reaktion gegen Historie“, in: Hans Ulrich Reck: Traum. Enzyklopädie, Paderborn: Fink 2010, S. 647–648, hier S. 647. Sein Artikel stellt eine Zusammenfassung des Buchkapitels „Terror und Traum“ von Reinhart Koselleck dar, der sich mit seinen methodologischen Überlegungen vor allem auf die Traumquellen von Jean Cayrol und Charlotte Beradt stützt. Diese Quellen wiederum sind Gegenstand der Kapitel II und III des vorliegenden Buches. Vgl. auch Judith Klein: „‚An unseren Schläfen perlt die Angst.‘ Traumberichte in literarischen Werken über das Grauen der Ghettos“, in: Psyche 45/6 (1991), S. 506–521, hier S. 506. Zenon Jagoda/Stanisław Kłodziński/Jan Masłowksi: „Sny więźniów obozu oświęcimskiego.“ [Träume der Gefangenen des Lagers Auschwitz], Przegląd Lekarski  – Oświęcim 34 (1977), S. 28–66. Ich verwende für meine Ausführungen folgende Fassung: Zenon Jagoda/Stanisław Kłodziński/Jan Masłowski: „‚Die Nächte gehören uns nicht …‘. Häftlingsträume in Auschwitz und im Leben danach“, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Die AuschwitzHefte 2 (1987), S. 189–239. Jagoda: Häftlingsträume, S. 191.

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dere Wiedergabe der Überlebenden-Antworten, die Piotr Cywiński, der Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau, 2016 unter dem Titel Lagerträume in der Erinnerung von Auschwitz-Überlebenden herausgegeben hat.7 Erst vor Kurzem hat sich Wojciech Owczarski des Materials von Neuem angenommen und den Blick auf die Sammlung erheblich erweitert: Zwar spielen auch für ihn die sprachliche und narrative Darstellung der Träume keine Rolle. Er situiert sie jedoch konsequent sowohl auf dem Gebiet der Holocaust Studies als auch vor dem Hintergrund historischer Traumdiskurse. Indem er die artikulierten Traumerinnerungen in ihrer individuellen Erfahrungsdimension ernst nimmt, erkennt er sie als ein unhintergehbares Zeugnis der Shoah an. Aus der zutiefst intimen, subjektiven Erfahrung des Träumens erwächst somit in der Mitteilung eine kollektive, soziale Dimension. Und gerade weil die Träumenden selbst ihren Träumen zumeist ohnmächtig und verständnislos gegenüberstehen, das Geträumte oft abgewehrt wird, fremd und unzugänglich bleibt und sich gegen eine Deutung sperrt, sieht Owczarski in ihnen einen bedeutsamen Beitrag zum Problem der ‚Unsagbarkeit‘ bzw. ‚Undarstellbarkeit‘ der erlittenen traumatischen Erfahrungen von Auschwitz-Überlebenden.8 Demgegenüber geht es der neurophysiologischen Schlaf- und Traumforschung ausdrücklich nicht um den Gehalt der Träume, sehr wohl aber streben sie, anders als die Herausgeber der Sammlung in den Auschwitz-Heften, eine grundsätzliche objektivierbare Auseinandersetzung mit der Traumtätigkeit von Überlebenden an. Im Vordergrund stehen hier quantitative Merkmale wie Häufigkeit, Intensität und Zeitpunkt von Shoah-Träumen sowie die physischen und psychischen Reaktionen der Träumerinnen und Träumer. Die Arbeiten von Hanna Kaminer und Peretz Lavie sind die umfassendsten Beiträge auf diesem Forschungsgebiet:9 Für Holocaust-Überlebende haben sie eine signifikante Kor7

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Piotr Cywiński: Sny obozowe w pamięci ocalałych z Auschwitz [Lagerträume in der Erinnerung von Auschwitz-Überlebenden]. Oświęcim: Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau 2016. Der wesentliche Unterschied zur Erstveröffentlichung der Überlebenden-Träume besteht allerdings nicht unbedingt in der Erweiterung des Antwort-Materials, sondern vor allem in seiner Neuanordnung. Der Herausgeber gliedert die wiedergegebenen Träume nach ihren Themen: Das Buch beinhaltet Träume von der Zeit vor Auschwitz, von der Flucht, vom Essen, vom Lager, vom Terror, vom Tod, Fieberträume sowie Träume von der Nachkriegszeit. Der Autor betont die ausgesprochen heterogene, zumeist widersprüchliche Haltung der Träumenden ihren eigenen Träumen gegenüber. Vgl. Wojciech Owczarski: „Dreaming ‚the Unspeakable‘? How the Auschwitz Concentration Camp Prisoners Experienced and Understood Their Dreams“, in: Anthropology of Consciousness 31/2 (2020), S. 128–152, hier S. 133–135. Einen Fokus auf Alpträume und deren Veränderungen im Laufe der Nachkriegsjahre legt der Autor auf der Grundlage desselben Materials in folgendem Artikel: Wojciech Owczarski: „Adaptive Nightmares of Holocaust Survivors. The Auschwitz Camp in the Former Inmates’ Dreams“, in: Dreaming 28/4 (2018), S. 287–302. Peretz Lavie/Hanna Kaminer: „Dreams that Poison Sleep: Dreaming in Holocaust Survivors“, in: Dreaming 1/1 (1991), S. 11–21 und Peretz Lavie/Hanna Kaminer: „Sleep, Dreaming, and Coping Style in Holocaust Survivors“, in: Deirdre Barrett (Hrsg.): Trauma and Dreams, Cam-

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relation zwischen ihrer Anpassungsfähigkeit an das Alltagsleben und ihrer Traumtätigkeit, vor allem der Traumerinnerung festgestellt. Während sich „well adjusted survivors“ mit nur wenig ausgeprägten Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung selten oder gar niemals an ihre Träume erinnern, werden „less adjusted people“, bei denen ein Concentration Camp Syndrome diagnostiziert wurde, regelmäßig von Alpträumen oder traumatischen flashbacks heimgesucht.10 So wenig erstaunlich das Ergebnis an sich auch sein mag, so bedenkenswert sind die Konsequenzen: Traumverdrängung, Traumverleugnung, Traumvergessen erleichtern die aktive Vermeidung von Holocaust-Erinnerungen und tragen damit auch im Wachleben zu größerem seelischem Wohlbefinden bei.11 Wir haben es also gewissermaßen mit einer Umkehrung der Freud’schen These vom Traum als Hüter des Schlafs zu tun. An Therapiemöglichkeiten wird in der Studie geraten,12 spezielle Techniken der Traumauslöschung („voluntary erasure of dream recollection“13) zu erlernen. Leugnung, Unterdrückung, Verdrängung und Abwehr des traumatischen Ereignisses erweisen sich, Kaminer und Lavie zufolge, als aussichtsreicher Weg, um mit der erlittenen Vergangenheit fertig zu werden.14 Ein solcher Vorschlag bewegt sich also genau in die entgegengesetzte Richtung tiefenpsychologischer Ansätze, wie sie etwa der Holocaust-Psychoanalytiker und Trauma-Theoretiker Dori Laub verfolgt, für den der Traum ebenfalls den entscheidenden Zugang zu den Erfahrungen seiner Patientinnen und Patienten bildet. Er sieht gerade das erinnernde Durcharbeiten und Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen im Traum als gesundheitsfördernd an, bridge/London: Havard University Press 2001, S. 114–125. Weitere wichtige Forschungsarbeit mit dezidiertem Holocaust-Bezug auf diesem Feld, die zu vergleichbaren Ergebnissen kommt, leistet mit interdisziplinärem Ansatz und ausgeprägtem Interesse für die Trauminhalte Ioana Cosman: „Remembering the Holocaust: Dreams During and After a Long Traumatic Experience“, in: Philobiblon 18/1 (2013), S. 116–126. Einen Überblick über die klinische Forschung bietet Ido Lurie: „Sleep Disorders Among Holocaust Survivors. A Review of Selected Publications“, in: The Journal of Nervous and Mental Disease 205/9 (2017), S. 665–671. 10 Die Diagnose bezieht sich auf Paul Chodoff: „Late Effects of Concentration Camp Syndrome“, in: Archive of General Psychiatry 8/4 (1963), S. 323–333. 11 Lavie/Kaminer: Sleep, Dreaming, S. 122. Zum Zusammenhang zwischen Trauma und Traumerinnerung vgl. auch Raija-Leena Punamäki: „Trauma and dreaming: Trauma impact on dream recall, content and patterns, and the mental health function of dreams“, in: Deirdre Barrett (Hrsg.): The New Science of Dreaming. Bd. 2.: Content, Recall, and Personality Correlates, Westport: Praeger Publishers 2007, S. 211–251. Mit der Übertragung von Holocaust-Träumen auf die nachfolgende Generation beschäftigt sich aus psychologischer Perspektive Natan Peter Felix Kellermann: „Epigenetic transmission of Holocaust Trauma: Can nightmares be inherited?“, in: Israel Journal of Psychiatry and Related Sciences 50/1 (2013), S. 33–39. 12 Sie wenden sich, wie es in ihren Studien heißt, gegen „exposure“, „catharsis“, „abreaction“ und eine zunehmende Anerkennung der Wirklichkeit, vgl. Lavie/Kaminer: Sleep, Dreaming, S. 123. 13 Lavie/Kaminer: Sleep, Dreaming, S. 124. 14 Lavie/Kaminer: Sleep, Dreaming, S. 124.

Traumwissen und Traumliteratur

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selbst wenn ein solcher Shoah-Traum das Ereignis selbst niemals abbilden und es niemals vollständig erzählt werden kann.15 Quer steht ein solcher Ansatz aber auch zur empirischen Traumforschung des Psychiaters Ernest Hartmann, der, selbst ehemaliger Holocaust-Verfolgter, Alpträume sammelt, um anhand von Traum-Serien die Veränderungen im Laufe der persönlichen Bearbeitung des Traumas zu erkennen. Sein Ziel ist es, dass die Patientinnen und Patienten gerade in der möglichst direkten Auseinandersetzung mit den Trauminhalten die Schrecken der Vergangenheit überwinden lernen. In diesem Zusammenhang unterscheidet Hartmann ‚normale‘ Alpträume von Trauma bedingten Alpträumen, und diese wiederum von solchen, die – wie bei Holocaust-Überlebenden häufig der Fall – aufgrund von schweren Traumafolgestörungen keine Veränderung erfahren, sondern das traumatische Ereignis stets von Neuem wiederholen.16 So legitim jede Methode zur Linderung von individuellen Traumafolgestörungen sicherlich ist, so befremdlich wirken doch Begriffe wie Leugnung, Vermeidung und Auslöschung, wenn man sie aus der empirisch-medizinischen Schlafforschung vom betroffenen Individuum auf den Bereich des kollektiven

15 Vgl. Dori Laub: „Eros oder Thanatos. Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas“, in: Psyche 54/9–10 (2000), S. 860–894. Das Verhältnis von Traum, Trauma und Erzählen beleuchtet auch sein zusammen mit Shoshana Felman publiziertes Buch Testimony, Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York: Routledge 1992, in dem es zentral um die Unwirklichkeit traumatischer Erfahrung geht („as if it no longer resembles any reality“, S. 76). 16 Ernest Hartmann: Dreams and Nightmares. The Origins and Meaning of Dreams, Cambridge (Mass.): Perseus 2001, v. a. S. 17–36. Inwiefern Träume und Ängste wiederum das Erinnerungsvermögen der Shoah radikal beeinflussen, untersucht Henry Krystal: „Was weder erinnert noch vergessen werden kann. Zur psychoanalytischen Traumaforschung bei Überlebenden des Holocaust“, in: Ralf Zwiebel/Marianne Leuzinger-Bohleber (Hrsg.): Träume, Spielräume II. Kreativität und Persönlichkeitsentwicklung, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2003, S. 131–142, hier S. 136. Seit den 1990er Jahren widmen sich auch psychologisch-therapeutische Ansätze, die ausdrücklich den Körper mit einbeziehen, den (transgenerationellen) Traumatisierungen infolge der Shoah, des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus; z. B. die Zeitschrift Echoes of the Holocaust: Bulletin of the Jerusalem Center for Research into the Late Effects of the Holocaust, Jerusalem: Talbieh Mental Health Center (1992–), Yolanda Gampel: Ces parents qui vivent à travers moi. Les enfants des guerres, Paris: Fayard 2005 oder Rob Baum: „Transgenerational trauma and repetition in the body: The groove of the wound“, in: Body, Movement and Dance in Psychotherapy 8/1 (2013), S. 34–42. Zum Zusammenhang zwischen Traum (und weiteren traumähnlichen Zuständen), Trauma, Sinneswahrnehmung und Körperlichkeit vgl. auch Sebastian Leikert: Das sinnliche Selbst. Das Körpergedächtnis in der psychoanalytischen Behandlungstechnik, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2019, v. a. S. 227–229. Die Psychologie reagiert damit auf eine leiblich-sinnliche Dimension des Traumas, die der Shoah-Literatur von Anfang an deutlich eingeschrieben ist und von den Nachgeborenen intensiv fiktional verarbeitet wird. Daher wird ihr im vorliegenden Buch eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. v. a. Kapitel IV, V, VIII und die Nachbemerkung).

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Gedächtnisses überträgt, also die Problematik aus einer historisch-politischen oder kulturwissenschaftlichen Perspektive auf die Shoah in den Blick nimmt.17 Gerade in diesem Bereich zielt die Forschung ausdrücklich auf Erinnerung. Und hier hat die Verbindung von Traum und Trauma Erkenntnisse zutage gefördert, welche für die Shoah-Forschung insgesamt grundlegend sind. Ich denke neben vielen anderen an Lawrence Langers The Ruins of Memory und seine Überlegungen zum Traum für die Unterscheidung zwischen deep memory und external, common memory (vgl. Kapitel V) – diese entwickelt er übrigens anhand des literarischen Werks von Charlotte Delbo, das für die Thematik des Konzentrationslagertraums zu den bedeutsamsten Texten überhaupt gehört.18 Zu nennen wären aber auch Nadja Lux’ ‚Alptraum: Deutschland‘. Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich‘,19 Peter Kuons Studie über Zeugnisse aus Mauthausen, die Traumberichten ein eigenes Kapitel widmet,20 oder Barbara Hahns Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt.21 Dieses Buch beschäftigt sich nicht ausschließlich mit Träumen des Holocaust. Seine komplexe Verflechtung verschiedenster Traum-Stimmen führt aber den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Alptraum, kollektiver Traumtätigkeit und politischer Gewalt umso pointierter zutage.22 Ausdrücklich als Annäherung an das ‚Unsag17 Auch wenn ich die Bedenken gegen einen allzu unbekümmerten Transfer des Trauma-Begriffs in die Kulturwissenschaften teile (vgl. etwa Dominick LaCapra: Representing the Holocaust. History, Theory, Trauma, Ithaca/London: Cornell University Press 2014, S. 14), so hat eine differenzierte Auseinandersetzung mit der gesellschaftspolitischen Dimension kollektiver Traumata doch zweifellos wichtige Erkenntnisse zutage gefördert. Vgl. etwa Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1996, Aleida Assmann: „Trauma“, in: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 2006, S. 258–264 und Manfred Weinberg: „Trauma – Gespenst – Literatur“, in: Elisabeth Bronfen/Birgit Erdle/Sigrid Weigel (Hrsg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln: Böhlau 1999, S. 173–206. 18 Lawrence L. Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven/London: Yale University Press 1991, v. a. S. 7–9. 19 Nadja Lux: „‚Alptraum: Deutschland‘. Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich‘, Freiburg: Rombach 2008. 20 Peter Kuon: L’écriture des revenants. Lectures de témoignages de la déportation politique, Bruxelles: Kimé 2013, v. a. S. 151–170. Auf diese Studie komme ich im Zusammenhang mit Jean Cayrol zurück. 21 Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt, Berlin: Suhrkamp 2016. 22 Zu ergänzen wären in diesem Zusammenhang aber auch Judith Kaspers Studie über die Dissemination des Lagers, für die der Traum eine zentrale Rolle spielt: Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin: De Gruyter 2016, Annika Nickenigs kluger und kenntnisreicher Aufsatz über literarische Traumberichte in der Lagerliteratur: Annika Nickenig: „‚Arrach[é] au rêve de la vie‘. Häftlingsträume und Lagertrauma in literarischen Texten über die Shoah (Levi, Antelme, Semprún)“, in: Marie Guthmüller/Susanne Goumegou (Hrsg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 285–299 und der bereits genannte Beitrag von Judith Klein.

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bare‘ versteht die polnische Soziologin, Psychologin und Holocaust-Expertin Barbara Engelking mündliche Traumberichte im Kontext der Shoah, wenngleich die narrative, sprachliche oder ästhetische Dimension solcher Äußerungen von Überlebenden nicht im Zentrum ihres Interesses steht: Dreams, because of their exceptionality, allow us to imagine […] what is thought to be impossible to express, totally incomprehensible and inaccessible for those who did not experience it. Maybe dreams from the Holocaust period—as well as empathy of their recipients—can get us closer to the unspeakable.23

Am konsequentesten hat unlängst Maria Teresa De Palma Formen und Funktionen des Traums für die Zeugnisliteratur der Shoah herausgearbeitet.24 Als Traummetapher, als rhetorische Figur oder als Erzählfragment in literarischen Zeugnissen stellt der Traum, ihren Untersuchungen zufolge, sowohl ein Verfahren der kritischen Distanzierung von der erlebten Welt als auch die Möglichkeit zum subjektiven Ausdruck totalitärer Erfahrung dar,25 mit dem die Lagerwirklichkeit zu einer neuen Sichtbarkeit gelangt.26 Über den Traum, den sie als eine Form des erweiterten Bewusstseins auffasst, wird eine „crise de la perception du monde vécu ordinaire“ in Szene gesetzt:27 Traumhaftes Erzählen und erzählte Träume bringen so die körperlichen und sinnlichen wie epistemologischen Folgen totalitärer Gewalt zum Vorschein und liefern damit eine entscheidende Quelle für ein dunkles, flüchtiges, unkontrolliertes, fragmentarisches und subjektives Erfahrungswissen.28 Dieses Traumwissen, so wird sich im Laufe der vor23 Engelking stützt sich allerdings nicht auf Träume im oder aus dem Konzentrationslager, sondern auf Aussagen von Juden aus dem Warschauer Ghetto bzw. von solchen Überlebenden, die sich während des Zweiten Weltkrieges verstecken oder als ‚Arier‘ ausgeben konnten. Barbara Engelking: „Sny jako źródło do badań nad Zagładą.“ [Dreams as a source for Holocaust research], Zagłada Żydów : studia i materiały 9 (2013), S. 19–47, hier S. 45. Die englische Übersetzung des polnischen Zitats übernehme ich von Wojciech Owczarski: Dreaming ‚the Unspeakable‘, S. 137. 24 Maria Teresa De Palma: ‚Mi sono alzato, sono ricaduto/Nel fondo dove il secolo è il minuto‘. Rêve et onirisme dans la littérature de témoignage (Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún). DPhil thesis Università de Bologna 2017 (http://amsdottorato.unibo.it/7864/1/De_Palma_Maria_ Teresa_tesi.pdf). De Palma legt ihrer Studie ein vergleichsweise enges Textkorpus zugrunde, geht aber insofern über die hier vorliegende Arbeit hinaus, als sie dem Traumhaften („l’onirique“) in den Texten von Levi, Delbo und Semprún eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, was ihre Perspektive auf das Phantastische hin erweitert. Zudem fokussiert sie v. a. die intertextuellen und intermedialen Dimensionen traumhaften Erzählens in der Zeugnisliteratur. 25 De Palma: Rêve et onirisme, S. 281. 26 De Palma: Rêve et onirisme, S. 325. 27 De Palma: Rêve et onirisme, S. 382. 28 De Palma: Rêve et onirisme, S. 516. Hier verbindet sich der Versuch, traumatische Erfahrungen zu artikulieren, also mit der Flüchtigkeit, die nicht nur dem Traumerleben selbst, sondern auch der Traumerzählung eigen ist. So hat bereits Jean-Daniel Gollut dem literarischen

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liegenden Studien zeigen, besitzt durch seine kollektive Erfahrungsdimension eine unübersehbar soziale, politische und historiographische Tragweite (vgl. Kapitel XIV). Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zeigt sich gerade im Anschluss an die genannten Studien, dass bereits in den allerersten Zeugnissen der Shoah Träume eine herausragende Rolle spielen: Sie werden dort ausführlich erzählt, geteilt und reflektiert.29 Ein solches erzähltes Traumwissen wird im folgenden Kapitel an zwei Beispielen der frühesten Shoah-Literatur herausgearbeitet, verglichen und historisch verortet (vgl. Kapitel  II), bevor es anhand zahlreicher weiterer autobiographischer oder literarisch-fiktionaler Traumtexte im Laufe dieses Buches bis in die unmittelbare Gegenwart hinein verfolgt werden soll. Mit Traumwissen meine ich dabei insgesamt drei unterschiedliche, jedoch eng miteinander verzahnte Ebenen:30 Erstens geht es mir um ein in der Literatur aufgehobenes Wissen über den Traum, also gewissermaßen um erzählte Traumtheorie.31 Zweitens meint Traumwissen ein nicht rein kognitives Wissen über die Welt – ein Wissen, das Maria Teresa De Palma als anti-positivistisch, dialektisch und aufgrund seiner inhärenten Ambivalenzen und Paradoxien als „oxymorique“ bezeichnet:32 Am Extrembeispiel autobiographischer Shoah-Träume artikuliert es sich als ein individuelles, subjektives Erfahrungswissen,33 das im

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Traum, der vor dem Vergessen gerettet werden müsse, eine chronische Tendenz zum „effacement“ bescheinigt. Vgl. Jean-Daniel Gollut: Conter les rêves: La narration de l’expérience onirique dans les œuvres de la modernité, Paris: Corti 1993, S. 169. Gerade über Träume, so stellt bereits Roland Barthes 1984 in „La rature“ am Beispiel von Jean Cayrol fest, erfolgen also die ersten Verbindungen zwischen Lagererfahrung und literarischer Reflexion. Vgl. Roland Barthes: „La rature“, in: Roland Barthes: Le bruissement de la langue, Paris: Seuil 1984, S. 211–220, hier S. 218. Sie orientieren sich in erster Linie an der Differenzierung von Ralf Klausnitzer: Literatur und Wissen. Zugänge – Modelle – Analysen, Berlin/New York: De Gruyter 2008 und Roland Borgards/Harald Neumeyer/Nicolas Pethes/Yvonne Wübben (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, v. a. S. 3–54. Zu den Formen und Funktionen erzählter Theorie vgl. meine Systematik: „Wie lässt sich erzählte Literaturtheorie analysieren? Ein methodischer Vorschlag für den modernen und postmodernen Roman“, in: Christiane Solte-Gresser/Manfred Schmeling (Hrsg.): Theorie erzählen. Raconter la théorie. Narrating Theory. Erzählte Literaturtheorie im Roman, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 27–44. Zum Verhältnis zwischen wissenschaftlichen und literarischen Traumdiskursen vgl. grundlegend Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hrsg.): Writing the Dream/Écrire le rêve, Würzburg: Könighausen & Neumann 2017. De Palma: Rêve et onirisme, S. 514. Vgl. Patricia Fry u. a.: Wissenschaft als Erfahrungswissen, Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2000 und Fritz Böhle: „Wissenschaft und Erfahrungswissen  – Erscheinungsformen, Voraussetzungen und Folgen einer Pluralisierung des Wissens“, in: Stefan Böschen/Ingo Schulz-Schaeffer (Hrsg.): Wissenschaft in der Wissensgesellschaft, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003, S. 143–177. Speziell auf das Gebiet des Traumwissens zugeschnitten ist das Forschungsprogramm des DFG-Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“ (GRK 2021) mit seiner Fokussierung auf ein kulturelles Traumwissen im Arbeitsprogramm 2015–2019 und auf das Erfahrungswissen des Traums für 2019–2024 (www.traumkulturen.de).

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Modus des Traums hervorgebracht wird und damit eine wichtige kollektive Bedeutungsdimension erlangt. Und nicht zuletzt ist, drittens, mit Traumwissen in der Literatur auch ein Wissen der Literatur gemeint, eine Form der ästhetischen Wissensgenerierung also,34 die – um in Anlehnung an Ottmar Ettes Begriff des „Lebenswissens“ oder Vittoria Borsòs „Wissen für das Leben“ zu argumentieren35 – gerade in der Erzählung, als Erzählung hervortritt. Zu den wichtigsten Praktiken ästhetischer Wissensgenerierung zähle ich zunächst Übersetzungspraktiken, mit denen zwischen Welten, Wissensbereichen, Sprachen und Kulturen verhandelt und vermittelt wird. Hinzu kommen Distanzierungspraktiken, die Alternativen zur bestehenden Welt und ihren biopolitischen Bedingungen eröffnen, Inszenierungspraktiken, mit denen solche Bedingungen durch literarisches Probehandeln performativ in Erlebens- und Erfahrungswissen überführt werden, sowie Praktiken der Speicherung und Archivierung, mit denen Spuren und Stimmen eines vergessenen oder marginalisierten Wissens in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben werden. Und nicht zuletzt sind Praktiken zu nennen, in denen dieses Wissen die beteiligten Subjekte physisch und psychisch affiziert, etwa indem die Grenzen zwischen fiktionalisierter Materialität in der Literatur und der materiellen Dimension von Literatur überschritten werden. Mit einer solchen Fokussierung auf die narrative und sprachliche Dimension erzählter Träume, also einer intensiven Auseinandersetzung mit der ästhetischen Form literarischer Traumdarstellungen,36 verortet sich der hier skizzierte Ansatz innerhalb des Saarbrücker Forschungsverbundes „Europäische Traumkulturen“:37 Den Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit dieses Graduiertenkollegs bilden literarische Traumtexte und die jeweiligen Wechselwirkungen zwischen Traumästhetik, Wissenspoetik, Kunst und Kultur. Anders als weite Bereiche der bisherigen Traumforschung, die literarische und künstlerische Träume durch die 34 Vgl. Joseph Vogl: „Poetologie des Wissens“, in: Harun Maye/Leander Scholz (Hrsg.): Einführung in die Kulturwissenschaft, München: Fink 2011, S. 49–71 und Yvonne Wübben: „Ansätze“ und „Forschungsskizze: Literatur und Wissen nach 1945“, in: Roland Borgards/Harald Neumeyer/Nico Pethes/Yvonne Wübben (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 3–16. 35 Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“, in: Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hrsg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen: Narr 2010, S. 11–38, und Vittoria Borsò/Sieglinde Borvitz/Aurora Rodonò/Sainab Sandra Omar (Hrsg.): Wissen und Leben  – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik, Bielefeld: transcript 2014 sowie Vittoria Borsò: „‚Bio-Poetik‘. Das ‚Wissen für das Leben‘ in der Literatur und den Künsten“, in: Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hrsg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen: Narr 2010, S. 223–246. 36 Auch Hans Ulrich Reck betont angesichts der Spezifik von Terror- und Lagerträumen als Forschungsgegenstand die Notwendigkeit, die Funktion solcher Träume in ihrer „Form, nicht in der Repräsentationsleistung“ zu suchen. Vgl. Reck: Traum, S. 648. 37 Zu Forschungsprogramm, Beteiligten, Aktivitäten und Publikationen vgl. www.traumkulturen. de

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direkte Applikation psychoanalytischer Traumtheorien deuten, besteht das besondere Potenzial dieses Zugangs in seiner wissenspoetischen und kulturwissenschaftlichen Ausrichtung: Forschungsgegenstand ist der Traum als Produkt kultureller Arbeit und ästhetischer Konstruktion. In einer dezidiert komparatistischen Perspektive, die Kulturräume, Textsorten und Disziplinen überschreitet, geht es darum, die Eigenheiten ästhetisch gestalteter Träume in wissenspoetischer Perspektive herauszuarbeiten; und dies in mehrfacher Hinsicht. Auf die Thematik der Konzentrationslager-Träume bezogen bedeutet dies: Es geht um die Fragen, welches Wissen Träume über die Shoah bergen, inwiefern die Shoah-Literatur Träume als Wissensspeicher verwendet und wie erzählte Träume Shoah-Wissen als Literatur hervorbringen.

Traum- und Traumadiskurse im wissenschaftshistorischen Kontext Um ein solches Wissen freizulegen, bietet es sich an, von der heutigen Traumforschung aus zunächst einen Schritt zurückgehen und den unmittelbaren traum- und traumatheoretischen Kontext zu umreißen, in dem die ersten literarischen Texte über die Shoah wissenschaftshistorisch stehen. Zweifellos bildet die Freud’sche Traumdeutung bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die wichtigste theoretische Basis für das Verständnis von Träumen.38 Einige Schlaglichter sollen diesen Kontext beleuchten: In der „Psychoanalyse der Kriegsneurosen“ von 1919 und dem Essay „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ von 1915 spielen Erfahrungen politischer Gewalt zwar eine entscheidende Rolle, nicht aber das Thema Traum.39 Der traumatische Traum wiederum kommt in der Traumdeutung von 1900 so gut wie gar nicht vor, ist aber ein wichtiges Thema in Jenseits des Lustprinzips von 1920. Hier jedoch kollidieren die Alpträume in offensichtlicher Weise mit den Thesen der Traumtheorie, vor allem was das Ziel der Wunscherfüllung und die Funktion des Traums als Hüter des Schlafs betrifft.40 So äußert Freud, einigermaßen irritiert über seine Befunde: 38 Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt am Main: Fischer 1991, v. a. die Kapitel „Beziehung des Traums zum Wachleben“ und „Traumreize und Traumquellen“, S. 24–27 und S. 38–58. 39 Sigmund Freud: „Psychoanalyse der Kriegsneurosen“ und „Einleitung zu ‚Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen‘“, in: Gesammelte Werke. Zwölfter Band, 1917–1920, London: Imago 1947, S. 321–324 und „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“, in: Sigmund Freud: Warum Krieg? Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Der Briefwechsel mit Albert Einstein, Stuttgart: Reclam 2012. 40 Vgl. Freud: Traumdeutung, S. 136–146.

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Wenn man es als selbstverständlich nimmt, dass der nächtliche Traum seinen Träumer immer wieder in die krankmachende Situation versetzt, so verkennt man die Natur des Traumes. Dieser würde es eher entsprechen, dem Kranken Bilder aus der Zeit der Gesundheit oder der erhofften Genesung vorzuführen. Sollen wir durch die Träume der Unfallneurotiker [d. h. der Traumatisierten] nicht an der wunscherfüllenden Tendenz des Traumes irre werden, so bleibt uns etwa noch die Auskunft, bei diesem Zustand sei wie so vieles andere auch die Traumfunktion erschüttert und von ihren Absichten abgelenkt worden, oder wir müssen der rätselhaften masochistischen Tendenzen des Ich gedenken.41

Bekanntlich hat Freud in seinen „Neuen Vorlesungen“ von 1933 seine Traumlehre relativiert;42 insofern nämlich, als der Traum hier nur noch als Versuch einer Wunscherfüllung aufgefasst wird.43 Die Traumfunktion wird durch die Fixierung an das Trauma verhindert, die eigentliche Traumarbeit versagt.44 Im Falle des posttraumatischen Schrecktraums, bei dem die Traumfunktion ausgehebelt wird, liegt der „Fehler“ also, wie Martin von Koppenfels feststellt, „bei der Wirklichkeit – oder besser gesagt, bei der Unangemessenheit des gebrechlichen psychischen Apparats an eine Wirklichkeit, die schlechthin unerträglich ist und deshalb seine Verarbeitungsmechanismen selbst noch im Schlaf, ja vor allem im Schlaf beschädigt“.45 Wie dieses Konzept später kritisiert und traumatheoretisch umgearbeitet wird,46 ist in unserem Zusammenhang zunächst einmal weniger entscheidend als die zeitgenössische Rezeption des Freud’schen Ansatzes. Für den französischen Kontext, aus dem ein Großteil der Texte dieses Buches stammt, bleibt zunächst mit Susanne Goumegou festzustellen, dass man in Frankreich, das – von Henri Bergson einmal abgesehen – vor allem durch empi41 Sigmund Freud: „Jenseits des Lustprinzips“, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 191–249, hier S. 203. 42 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt am Main: Fischer 1991, v. a. Kapitel 1, 29. Vorlesung: „Revision der Traumlehre“. 43 Vgl. dazu Martin von Koppenfels’ Beitrag über das Verhältnis zwischen Alptraum und antiker Tragödie und die Frage, ob es eine Poetik des Alptraums gibt. Angesichts der Schreckträume traumatisierter Soldaten hätte Freud, so von Koppenfels, „seine Traumtheorie (und in der Folge auch seine Traumpoetik) komplett revidieren müssen. Traumatische Alpträume stellen die These, das Unbewusste sei ein System, das dem Lustprinzip unterliegt und vom Tod nichts weiß, auf eine harte Probe. Sie legen nahe, diese These könne sich am Ende selbst als Wunschtraum entpuppen; und das Unbewusste womöglich mehr Wissen vom Tod enthalten als das Bewusstsein.“ Martin von Koppenfels: „Gibt es eine Poetik des Alptraums?“, in: Armen Avanessian/Jan Niklas Howe (Hrsg.): Poetik. Historische Narrative und aktuelle Positionen, Berlin: Kadmos 2014, S. 30–45, hier S. 35. 44 Vgl. hierzu die Rekonstruktion von Tamara Fischmann: „Traum und Trauma“, in: Dieter Korzcak (Hrsg.): Die Macht der Träume. Antworten aus Philosophie, Psychoanalyse, Kultursoziologie und Medizin, Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, S. 23–36, hier S. 24. 45 Koppenfels: Poetik des Alptraums, S. 35–36. 46 Einzelne Stationen, etwa die Ansätze von Fairbairn, Kohut, Meltzer und Fosshage, rekonstruiert Tamara Fischmann: Traum und Trauma, S. 25–27.

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rische Traumforschung geprägt ist, der psychoanalytischen Traumdeutung zu Beginn eher ablehnend gegenübersteht.47 Für das Verhältnis zwischen Traum und (kollektivem) Trauma sind damit vor allem zwei weitere Richtungen von Interesse; insbesondere, wenn man über eine traditionelle Einflussforschung hinausgelangen will, der es in erste Linie um den Nachweis kausalgenetischer und kontaktologischer Bezüge geht: C. G. Jung hat direkt an die Freud’sche Traumtheorie angeknüpft und in seinen Überlegungen immer wieder die Mehrdeutigkeit der Wörter und ihren direkten Zusammenhang mit den Assoziationen des Träumers hervorgehoben.48 Was er jedoch ablehnt, sind erstens auf Eindeutigkeit zielende Interpretationsschemata, wie Freud sie vorschlägt, und zweitens die These, dass der Traum die imaginäre Erfüllung verdrängter Wünsche sei.49 Vor allem der Aufsatz „Vom Wesen der Träume“ von 194550 und die Schrift „Traumsymbole des Individuationsprozesses“ von 194451 sind aufschlussreiche Bezugspunkte für literarische ShoahTräume. Zu nennen wären etwa die „großen“, d. h. besonderen Träume mit ihrer dramatischen Struktur, typische Motive (er spricht z. B. ausdrücklich von Zugwagons und Wegkreuzungen, die in den Textbeispielen des vorliegenden Buches ebenfalls sehr häufig vorkommen) und vor allem die Betonung überindividueller Sinnstrukturen, die aufzeigen, dass „Kausalität“, wie Jung formuliert, „in letzter Linie bloß eine statistische Wahrheit“ ist.52 Um traumatische Träume geht es Jung zwar nicht, wie überhaupt seine Traumtheorie von den gesellschaftspolitischen Umständen – naiver- und bedenklicherweise, wie er später selbst zugibt – unberührt bleibt. Was aber für das Verständnis von Shoah-Träumen eine Rolle spielen könnte, ist seine These von der kompensatorischen Funktion der Träume: „Wenn die Einstellung des Bewusstseins zur Lebenssitua47 Freuds Traumdeutung wird erst 1926 ins Französische übersetzt. Zur Freud-Rezeption, dem psychologischen und experimentellen Traumdiskurs sowie Bergsons gedächtnistheoretischer Traumkonzeption vgl. Susanne Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris, München: Fink 2007, S. 213–257. Was die Traumdiskurse des Surrealismus angeht, welche die ästhetische Traumdarstellung der ersten Jahrhunderthälfte prägen, so wäre sicherlich ein detaillierterer Abgleich angebracht. Fürs Erste sei hier festgehalten, dass die Überführung des Traums in die Wachwelt und die Anerkennung seiner realitätskonstituierenden Macht für die Surrealisten das Ziel ihrer traumästhetischen Bemühungen ist (vgl. Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs, S. 259–322). Für die Träume im und vom Konzentrationslager hingegen ist diese traumatische Verkehrung von Traum- und Wachwirklichkeit der qualvolle Ausgangspunkt entsprechender Traumberichte und -reflexionen. 48 Vgl. Carl Gustav Jung: Traum und Traumdeutung, Bd. 4 der 11-bändigen C. G. Jung-Gesamtausgabe, München: dtv 1990, S. 89 und 135. 49 Jung: Traum und Traumdeutung, S. 136 und 137. 50 Erstmals abgedruckt in Ciba Zeitschrift 9. 99 (Juli 1945). Ich zitiere aus der Gesamtausgabe von 1990: „Vom Wesen der Träume“, in: Jung: Traum und Traumdeutung, S. 133–148. 51 Erstmals abgedruckt als Teil des Werkes Psychologie und Alchemie, Zürich: Rascher 1944. Ich zitiere aus der Gesamtausgabe von 1990: Jung: Traum und Traumdeutung, S. 171–280. 52 Jung: Wesen der Träume, S. 133.

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tion in hohem Maße einseitig ist, stellt sich der Traum auf die Gegenseite“; der Traum bilde dann einen notwendigen Ausgleich für „Irrtümlichkeit oder sonstige Defektuosität des bewußten Standpunktes“.53 Wichtig ist ferner, dass zwei Freud-Schüler, die selbst Holocaust-Überlebende sind, sich explizit, wenn auch nicht besonders ausführlich, mit Träumen im Konzentrationslager auseinandersetzen: Viktor E. Frankl und Bruno Bettelheim. Dass die Wirklichkeit der Lager von den Häftlingen wie ein Alptraum erlebt werde und sich die Sphären zwischen Wach- und Traumwelt kaum noch unterscheiden lassen, ist für Bettelheim ein wichtiges Kennzeichen des Nazi-Terrors.54 Ihre eigenen Erfahrungen aus dem Konzentrationslager veranlassen Frankl und Bettelheim zu einer kritischen Weiterentwicklung mancher Elemente der Freud’schen Psychoanalyse; nicht jedoch seiner Traumtheorie. Ungeachtet aller Unterschiede, fassen sie beide Konzentrationslager-Träume als Symptome für kindliche Regression auf.55 Laut Bettelheim beinhalten Träume von KZ-Inhaftierten in erster Linie Racheakte an der SS. Ihr entscheidendes Charakteristikum sei, dass die traumatisierenden Erfahrungen nicht im KZ selbst geträumt werden, sondern erst sehr viel später nach der Befreiung in Alpträumen ihren Ausdruck finden.56 Für Viktor E. Frankl sind, wie sich der autobiographischen Studie „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ von 1947 entnehmen lässt, typische Konzentrationslager-Träume solche, in denen eine Regression zu einer primitiven Form des Seelenlebens stattfindet, wo also träumend die menschlichen Grundbedürfnisse, vor allem nach Nahrung, erfüllt werden.57 Entscheidend ist allerdings für Frankls Form der Vermittlung der Shoah insgesamt, dass er das „Konzentrationslager von innen gesehen“ beschreiben will.58 Und dies im doppelten Wortsinn: Er nimmt eine Perspektive ein, die aus dem Inneren der Lager berichtet, ebenso wie eine, der es um das innere Erleben der Lagerwirklichkeit und ihre desaströsen Folgen für das Individuum geht. Und für letztere spielt, wie sich zeigen wird, die Traumerfahrung eine wichtige Rolle. In welchem Zusammenhang stehen solche Thesen zu autobiographischen und literarischen Schriften über den Traum aus derselben Zeit? Und spielen 53 Jung: Wesen der Träume, S. 147. 54 Bruno Bettelheim: „On Dachau and Buchenwald“, in: Nazi Conspiracy and Aggression, Bd. 7, United States Government Printing Office 1946, S. 824; zitiert nach Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft [1951], München: Piper 1995, S. 678. 55 Peter Kuon, dessen Argumentation ich hier weitgehend folge, hat dies in seiner Arbeit über Konzentrationslager-Überlebende herausgearbeitet. Vgl. Kuon: Revenants, S. 162–163. 56 Vgl. Bruno Bettelheim: „Individual Mass Behaviour in Extreme Situations“, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 38 (1943), S. 417–452, und seinen späteren Essay „Surviving“, in: Bruno Bettelheim: Surviving and Other Essays, New York: Knopf 1979. 57 Viktor E. Frankl: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“, in: Viktor E. Frankl: Gesammelte Werke Bd. 1. … trotzdem Ja zum Leben sagen. Und ausgewählte Briefe 1945–1949, Köln/Wien/Weimar: Böhlau 2005, v. a. Kapitel: „Die Träume der Häftlinge“, S. 64. 58 Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen, S. 16.

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diese Befunde in der öffentlichen Wahrnehmung der 1940er und 50er Jahre überhaupt eine Rolle? Trotz der einschlägigen Zeugnisse herrscht während der ersten zwanzig Jahre nach Kriegsende noch weitgehendes Unverständnis gegenüber dem Zusammenhang von Traum und nationalsozialistischem Terror. Öffentlich geführt wird eine Debatte, die, wie Jonas Nesselhauf gezeigt hat, im Kontext der Traumatisierung von Soldaten und anderen Kriegsheimkehrern vorrangig ökonomisch motiviert ist und eine mitunter durchaus zynische Argumentation verfolgt. Wenn es etwa um Rentenansprüche geht, vertritt man noch lange, unter Verweis auf eine Studie Karl Bonhoeffers von 1926, die These, dass die menschliche Psyche nahezu unbegrenzt belastbar sei.59 Psychische Auffälligkeiten Betroffener seien nicht die Folge von Folter, sondern auf Störungen zurückzuführen, die schon vor dem traumatischen Ereignis bestanden hätten.60 Ein sich wandelndes Verständnis für Shoah-Traumatisierte setzt 1963 mit der Psychoanalyse Kurt Eisslers ein.61 Im Anschluss an seine Studie mit dem berühmt gewordenen Titel „Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ wird im selben Jahr von Paul Chodoff das Concentration Camp Syndrome und 1964 der Begriff der „chronischen traumatischen Depression“ eingeführt.62 Wichtige Forschungen auf diesem Gebiet leistet seit den späten 1950er Jahren auch der polnische Psychiater Antoni Kępiński, der zusammen mit Stanisław Kłodziński zum KZ-Syndrom arbeitet.63 Interessant für unseren Zusammenhang 59 Vgl. Jonas Nesselhauf: Der ewige Albtraum. Kriegsheimkehrer in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Paderborn: Fink 2017, S. 44–46. 60 Bonhoeffer revidiert seine These allerdings später ausdrücklich aufgrund seiner Begegnung mit Holocaust-Überlebenden. 61 Der Wiener Psychoanalytiker, der 1938 in die USA emigriert ist, versteht das KZ-Vernichtungssystem als Realität gewordenen Ausdruck der schrecklichsten Kinderängste („Menschenfresser bedrohen ein hilfloses, liebesverarmtes, hungerndes Selbst“, S. 281. Ich zitiere nach Klein: An unseren Schläfen, S. 515). 62 Paul Chodoff: „Late Effects of Concentration Camp Syndrome“, in: Archive of General Psychiatry 8/4 (1963), S. 323–333 und Heinz Häfner/Walter Ritter von Baeyer/Karl Peter Kisker: Psychiatrie der Verfolgten, Berlin: Springer 1964. Spätere wichtige Stationen der Erforschung von Holocaust-Traumatisierungen (auch der nachfolgenden Generationen) sind  – ohne allerdings dem Traum eine besonders wichtige Rolle zuzuschreiben – Leo Eitinger: „The Concentration Camp Syndrome and Its Late Sequelae“, in: Joel E. Dimsdale (Hrsg.): Survivors, Victims and Perpetrators. Essays on the Nazi Holocaust, Washington u. a.: Hemisphere 1980, S. 127–162, Liliane Opher-Cohn u. a. (Hrsg.): Das Ende der Sprachlosigkeit? Auswirkungen traumatischer Holocaust-Erfahrungen über mehrere Generationen, Gießen: Psychosozial-Verlag 2000, v.  a. die Beiträge von Ira Brenner: „Stacheldraht in der Seele. Ein Blick auf die generationsübergreifende Weitergabe des Holocaust-Traumas“, S. 113–139 und Ilany Kogan: „Die Suche nach der Geschichte der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden“, S. 159–179. 63 Seine bereits publizierten sowie die bis dahin unveröffentlichten Erkenntnisse finden sich zusammengefasst in Antoni Kępiński: Refleksje oświęcimskie [Auschwitzer Reflexionen], Kraków: Przegląd Lekarski 2005. Vgl. hierzu auch die Kontextualisierung von Barbara Engelking:

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ist vor allem ein Essay, den er 1966 unter dem Titel „Koszmar“ [Alptraum] veröffentlicht.64 Ausgehend von den Berichten ehemaliger KZ-Häftlinge, die ihre Erfahrungen immer wieder mit dem Begriff des Alptraums zu umschreiben versuchen, unternimmt Kępiński hier eine Parallelisierung von Traum und Lagerwirklichkeit, die uns auch in literarischen Texten der Shoah mehrfach begegnen wird. Über die Analogie hinaus spricht der polnische Psychiater zum Ende seines Essays hin von einer chronologischen Umkehrung zwischen historischer Wirklichkeitserfahrung und Alptraumerlebnis: Wir wissen nicht, in welchem Grad unser Leben im Wachzustand eine Realisierung unserer Nachtträume darstellt; man weiß auch nicht, ob der Alptraum der Konzentrationslager vor seiner Realisierung nicht vielleicht ein Nacht-Alptraum von vielen Menschen war. Auf jeden Fall hat seine Realisierung eine tiefe Spur in der Geschichte der menschlichen Gattung hinterlassen.65

Der Alptraum „erscheint hier“, so formuliert es Magdalena Marszałek, „als eine Beschreibungsformel der Wirklichkeit des extremen Terrors, die die Potenzialität jener Wirklichkeit im Irrationalen, Unbewussten, Phantasmatischen lokalisiert“.66 Gleichwohl sind auch spätere Studien zu Träumen von KZ-Überlebenden noch oftmals von einer wissenschaftlichen Ausblendung der konkreten Lagererfahrung geprägt. So äußert sich beispielsweise Ruth Klüger in ihrer Autobiographie weiter leben. Eine Jugend, die 1992 erstmals publiziert wurde, sehr kritisch zum Zusammenhang zwischen Traumforschung und Shoah: Neulich las ich in der Zeitung von einem Forschungsprojekt, das frühere KZ-Häftlinge, die an Alpträumen leiden, betraf. Man verglich sie mit solchen, die sich eines ungetrübten Schlafes erfreuen, und suchte den Unterschied in Charaktereigenschaften und in den Situationen ihres gegenwärtigen Lebens. Was sie im Lager erlebt hatten, ließ man beiseite. Das wußte man ja. Ich sage, im Gegenteil, was man kennt, ist die Gegenwart. Die forschenden Psychologen ließen sich auf nichts Neues ein, sondern analysierten forsch den Vordergrund, das, was sie kannten, die Gegenwart. Ich meine, man müßte doch fragen, wie es den Forschungsobjekten damals ergangen war; ihre Häftlingszeit war ja der Ausgangspunkt des Projekts, wie kann das uninteressant sein? Was für unterschiedliche Dinge sind ihnen in „Träume als historische Quelle in der Holocaust-Forschung“, in: Ewa Kobylinska-Dehe/Pawel Dybel/Ludger M. Hermanns (Hrsg.): Im Schatten von Krieg und Holocaust. Psychoanalyse in Polen im polnisch-deutsch-jüdischen Kontext, Gießen: Psychosozial-Verlag 2019, S. 53–68. 64 Antoni Kępiński: „Koszmar“ [Alptraum], in: Antoni Kępiński: Refleksje oświęcimskie [Auschwitzer Reflexionen], Kraków: Przegląd Lekarski 2005, S. 17–27. 65 Kępiński: „Koszmar“, S. 26f. Ich verwende hier die Übersetzung von Magdalena Marszałek, die den Essay in ihrem Aufsatz „Traum/Albtraum, Phantasma und Zeugnis in der posttestimonialen Literatur“ zitiert (in: Wiener Slawistischer Almanach 69 (2012), S. 51–64, hier S. 53). 66 Marszałek: Traum/Albtraum, S. 54. In mehreren Romanen über die Shoah, so zeigt u. a. Kapitel  VIII, wird ein solches ‚Vorausträumen‘ der Konzentrationslager im Modus literarischer Fiktion für die Vermittlung historischer Erfahrung fruchtbar gemacht.

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den Lagern zugestoßen und angetan worden? Ob vielleicht die, die schlecht träumten, gefoltert worden waren und die anderen nicht. Auch das Schreckliche bedarf der näheren Untersuchung.67

Aufgrund der vagen Zeitangabe „neulich“ und anderer fehlender Konkretisierungen lässt sich nicht zurückverfolgen, von welcher Studie hier genau die Rede ist. Das autobiographische Schreibprojekt Ruth Klügers enthält selbst mehrere Traumberichte und reflektiert das Traumerleben seiner Verfasserin zudem ausdrücklich.68 Unter anderem geht es Klüger darum, dem wissenschaftlichen Traumwissen über die Shoah die eigenen Erfahrungen im Modus literarischen Erzählens entgegenzusetzen. Im Rückblick auf die Zeit in New York, wohin sie 1947 emigrierte, widmet sich Klüger nochmals explizit der Kluft zwischen der subjektiven Erfahrung, auch Jahre nach der Shoah noch regelmäßig von Alpträumen heimgesucht zu werden, und dem Umgang mit diesem Phänomen vonseiten der Psychologie. Sie bringt die von ihr erlebte Ignoranz auf sarkastische und durchaus polemische Weise zur Sprache, indem sie die damalige Praxis der Psychoanalyse wissenschaftsgeschichtlich kontextualisiert: Die Wienerwald- und Wiesen-Psychoanalyse, die damals in New York grassierte, vermied die Gesellschaftskritik und die Zusammenhänge zwischen psychischem und historischem Übel, denn man war in voller Flucht vor dem Übermaß an Geschichte, das man eben erfolgreich hinter sich gebracht hatte. Alle seelischen Leiden hatten ihren Ursprung in sich selbst. Draußen wehte ein kalter Wind. Auch Ditha [eine Gefährtin aus dem KZ] ging, während ihrer Ausbildung als Krankenpflegerin, mit ihren Alpdrücken zu einer Psychotherapeutin. Von der bekam sie zu hören, daß das KZ keine bleibende Bedeutung für sie gehabt haben könne, weil sie älter als sechs gewesen sei. Laut dieser Logik, sagte ich ihr ungerührt, haben die KZs niemandem psychologischen Schaden zugefügt, da Kinder unter sechs kaum eine Überlebenschance hatten.69

Auch Dan Diner berichtet davon, dass Alpträume der Nachkriegszeit, die offensichtliche motivische, strukturelle und autobiographisch nachweisbare Verbindungen zur Shoah aufweisen, sehr häufig nicht als solche aufgefasst, sondern mit Ereignissen aus der Gegenwart der Träumenden erklärt werden und damit

67 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen: Wallstein 1992, S. 82 (Kursivsetzungen im Original). 68 Klüger: weiter leben, S. 97, S. 110 und S. 283. Vgl. auch, im direkten Anschluss an eine Passage über Primo Levis Auschwitzbericht Se questo è un uomo, ihre Überlegungen über das immer wieder von Neuem erlebte Fallen auf die Rampe von Auschwitz als ein alles durchdringendes Lebensgefühl, von dem das erzählende Ich vor allem aufwachend heimgesucht wird (Klüger: weiter leben, S. 112), und eine ähnliche, aber ausführlichere Passage (S. 140). 69 Klüger: weiter leben, S. 238–239.

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die Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus regelrecht verdrängen.70 Zahlreiche Autoren und Autorinnen im Nachkriegs-Deutschland sind, wie das Beispiel Ingeborg Bachmann zeigt, von einer solchen Ignoranz in besonderem Maße betroffen (vgl. Kapitel XII). Die eigentliche Traumaforschung, die solche Traumerfahrungen systematisch mit der biographisch-politischen Vergangenheit der Träumenden in Verbindung bringt, entsteht jedenfalls erst infolge des Vietnamkriegs. Mit dem Posttraumatischen Belastungssyndrom werden nun Symptome langfristiger Traumafolgestörungen zu einer bis heute gültigen klinischen Diagnosekategorie.71 Erst seitdem gilt als belegt, dass Traumata durch äußere Ereignisse ausgelöst sein können, ohne dass den Opfern selbst eine Ich-Schwäche oder Überempfindlichkeit attestiert werden müsste. Unter Zuhilfenahme eines solchen Analyserasters werden seitdem zum einen die bereits vorhandenen Traumberichte von Holocaust-Überlebenden neu ausgewertet. So haben beispielsweise Monica Bergman, Oskar MacGregor und andere unlängst das 1973 gesammelte und publizierte Traummaterial aus den Auschwitz-Heften einer quantitativen Inhaltsanalyse mit Blick auf die wichtigsten PTBS-Symptome unterzogen.72 Zum anderen erweisen sich Posttraumatische Belastungsstörungen als sinnvolle Analysekategorie etwa für Traumtexte der Gegenwart, die auf ihre narrative Funktion hin befragt werden sollen. Stephanie Catani und Thomas Neuner zeigen etwa auf, inwiefern das Erzählen dazu dienen kann, traumabedingte Erinnerungsdefizite, -verzerrungen und -verwirrungen bis zu einem gewissen Grad auszugleichen. Dieses Potenzial sprechen sie sowohl dem literarischen Erzählen als auch dem therapeutischen Erzählen zu. Letzteres dient, wie das Beispiel der narrativen Exposition als Therapiemethode zeigt, dazu, Betroffene zu einer kohärenten Biographie zurückzuführen, also die Gedächtnispathologie ein Stück weit zu korrigieren.73 70 Vgl. den von Shoah-Erfahrungen und Kriegsmotiven (z. B. „Bunker“, „Lager“, „Rampe“, „ausladende Lastwagen“) durchsetzten Alptraum eines 28-jährigen Patienten, den der Psychoanalytiker mit einem ökologischen und militärischen Bedrohungsgefühl der Gegenwart, nämlich einem Atomkrieg, erklärt: Dan Diner: „Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz“, in: Dan Diner (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 185–197, hier S. 189. 71 Andreas Maercker (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörung, Berlin: Springer 1997. 72 Monica Bergman/Oskar MacGregor/Henri Olkoniemi/Wojciech Owczarski/Antti Revonsuo/ Katja Valli: „The Holocaust as a Lifelong Nightmare: Posttraumatic Symptoms and Dream Content in Polish Auschwitz Survivors 30 Years After World War II“, in: The American Journal of Psychology  133/2 (2020), S.  143–166. Untersucht werden hier vor allem „war-related themes“, negative Gefühle wie „fear“ und „aggression“ sowie „threatening events“. 73 Vgl. Stephanie Catani/Thomas Neuner: „Kein Weg ins Jetzt. Die Posttraumatische Belastungsstörung und die Literatur der Gegenwart“, in: Barbara Frank-Job/Joachim Michael (Hrsg.): Angstsprachen. Interdisziplinäre Zugänge zur kommunikativen Auseinandersetzung mit Angst, Wiesbaden: Springer 2020, S. 13–33.

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Texte mit dargestellten Shoah-Träumen, die sich neben vielen anderen in besonderer Weise für eine solche interdisziplinäre Perspektive anbieten, wären beispielsweise W. G. Sebalds Austerlitz, D. M. Thomas’ The White Hotel, Aharon Appelfelds Ha’ish she’lo pasak lishon (Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen) oder das autobiographische Schreiben von Jorge Semprún (vgl. Kapitel  XIV). Dabei sollte es in der Auseinandersetzung mit den Texten freilich nicht einfach um einen Abgleich der klinischen Symptome mit der Situation der erzählenden Instanzen innerhalb der Erzählungen gehen. Ein Ansatz, der verschiedene Formen des Wissens, das psychologische bzw. medizinisch-psychiatrische und ein narrativ-ästhetisches Wissen miteinander in einen Dialog bringt und die Texte damit als literarische Konstruktionen und in ihren spezifischen Formen der Wissensgenerierung ernst nimmt, erscheint zweifellos produktiver.74 Dies zu realisieren, ist das Anliegen des vorliegenden Buches. Hierfür stützt es sich in weiten Teilen auf die grundlegenden Erkenntnisse auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Trauma Studies.75 Denn diese haben seit dem „turn to trauma“, den Dominick LaCapra in den 1980er Jahren verortet,76 das interdisziplinäre Traumawissen für die Auseinandersetzung mit literarischen und anderen ästhetischen Artefakten fruchtbar gemacht und sind inzwischen aus der kulturwissenschaftlich orientierten Holocaustforschung kaum mehr wegzudenken. Die zahlreichen Traumdarstellungen und Traumreflexionen, die sich wie ein roter Faden durch die autobiographischen und literarischen Texte der ShoahLiteratur ziehen, nehmen damit eine kulturhistorisch und wissenspoetisch ambivalente Position ein. Sie bestätigen zunächst einmal die bereits 1979 erstmals von Reinhart Koselleck formulierte, methodologisch folgenreiche These, dass der Terror des nationalsozialistischen Regimes die Traumfunktion grundlegend erschüttert77, welche ihr vonseiten der Psychoanalyse zugeschrieben wird. Magdalena Marszałek fasst diese Erkenntnis folgendermaßen zusammen:

74 Einen solchen Ansatz verfolgt beispielsweise explizit Fanny Déchanet-Platz: L’écrivain, le sommeil et les rêves, Paris: Gallimard 2008; etwa, wenn sie sich für ihre Lektüren der Auschwitz-Trilogie von Charlotte Delbo und des autobiographischen Schreibens von Jorge Semprún auf die Erkenntnisse der psychoanalytischen Traumforschung von Marie-Odile Godard bezieht, nämlich auf Rêves et traumatismes. Ou la longue nuit des rescapés, Ramonville-Saint-Agne: Érès 2003. 75 Eine wichtige Grundlage bilden neben zahlreichen anderen Cathy Caruth: Trauma. Explorations in Memory, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1995, Dominick LaCapra: Writing History, Writing Trauma, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001 und Sara R. Horowitz: Voicing the Void. Muteness and Memory in Holocaust Fiction, New York: State University of New York Press 1997. Verweise auf einzelne Studien erfolgen in der Auseinandersetzung mit bestimmten Texten und Problemstellungen. 76 Dominick LaCapra: Memory and History after Auschwitz, Ithaca/London: Cornell University Press 1998, S. 23. 77 Koselleck: Terror und Traum, S. 297.

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[Es war] die historische Erfahrung des extremen Terrors im 20. Jahrhundert, die den Geltungsbereich des psychoanalytischen Modells eines symptomatischen Verhältnisses vom Traum zum Realen limitierte. Hat der Surrealismus mit dem Eintauchen in die Sphären des Unbewussten, des Traums, das Interesse am Realen letzten Endes verloren, so gehört zu den Erkenntnissen über die extremen Terrorerfahrungen eine Entmachtung des Traums als privilegierter Ort vorrationaler Verarbeitung des sich in ihm zeigenden Realen.  […] Die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhundert [sic] hat eine Realität geschaffen, die in ihrer Totalität den Traum nicht nur vereinnahmte, sondern ihn auch seiner Verarbeitungskraft beraubte. Grenzerfahrungen, die sich jeder normalen Bewusstseinstätigkeit widersetzen, lassen die Wirklichkeit, in der sie stattfinden, als irreal erscheinen. In Träumen, die jener extremen Wirklichkeit entspringen, kapituliert gleichsam die vorstellende Kraft der Traumarbeit vor der Chiffre der Wirklichkeit.78

Auch Fanny Déchanet-Platz untersucht Lagerträume, die in autobiographischen Zeugnissen erzählt werden, im Hinblick auf die traumtheoretischen Ansätze der Freud’schen Psychoanalyse und kommt zu dem Schluss, dass sich sowohl die Träume, die im Lager selbst geträumt werden, als auch die traumatischen Träume der Überlebenden gegen die Funktionen sperren, die Freud ihnen zugeschrieben hatte.79 Sie bringt solche Träume daher eher mit dem Konzept des Wiederholungszwangs in Verbindung und klassifiziert Shoah-Träume zusätzlich vor dem Hintergrund der neuropsychologischen Traumforschung als eine ganz eigene Form des Alptraums.80 Allerdings machen die Traumtexte, die in den folgenden Kapiteln analysiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden, auch eine Differenzierung und Weiterführung dieser These nötig: Wenngleich mittels der Träume die Erfahrungen der Shoah tatsächlich nicht einfach eine ‚Verarbeitung‘ erfahren oder in ihrer entlastenden Funktion aufgehen, so werden Träume doch ausgesprochen intensiv genutzt, um eben diese Erfahrung des Unverarbeiteten – und damit die Notwendigkeit seiner fortgesetzten Artikulation, Reflexion und Vermittlung – in eindrücklicher Weise zum Ausdruck zu bringen. Hierin liegt ihr entscheidendes Potenzial. Dass sich damit auch an eine andere traumtheoretische Diskurstradition anschließen ließe, die über die psychologische Funktion hinaus vor allem gesellschaftliche und politische Dimensionen des Träumens in den Blick nimmt, wird das Schlusskapitel dieses Buches zeigen. In der Auseinandersetzung mit frühen Konzentrationslagertexten, wie sie u. a. Jean Cayrol und Vercors vorlegen (vgl. Kapitel II), ergeben sich mit Blick auf 78 Marszałek: Traum/Albtraum, S. 51–52. 79 Fanny Déchanet-Platz: „De la prison du rêve au rêve-prison: La douleur dans les rêves des rescapés des camps de concentration“, in: Sébastien Baudouin/Céline Bricault/Maya Hadeh (Hrsg.): Représentations littéraires et picturales de la douleur du XIX au XXIe siècle, ClermontFerrand: Presses Universitaires Blaise Pascal 2012, S. 235–247. 80 Déchanet-Platz: De la prison du rêve, S. 242. Sie bezieht sich hier auf Freuds Jenseits des Lustprinzips.

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das epochenspezifische Traumwissen der 1930er und 40er Jahre jedenfalls folgende Fragen: Ist es überhaupt denkbar, dass KZ-Träume Bilder „aus der Zeit der Gesundheit“ oder von der „erhofften Genesung“ vorführen, wie Freud schreibt? Und wenn ja, mit welchen Folgen sind solche Traumbilder verbunden? Stärken sie das beschädigte Selbst? Oder stehen sie eher in Verbindung mit dem Tod? Das ist die durchaus kontrovers geführte Debatte, die sich um Jean Cayrols Essay Lazare parmi nous entspinnt, der 1948 erstmals publiziert wurde und zu einer neuen Konzeption literarischen Schreibens nach der Shoah führt. Denn aus seinen Lagererfahrungen entwickelt Jean Cayrol eine eigene Poetik, ein „romanesque concentrationnaire“ bzw. den „roman lazaréen“, dem er am Schluss seines Essays ein eigenes Kapitel widmet (vgl. Kapitel II). Hierin fordert er, dass die Literatur ab 1950 von den Überlebenden aus gedacht werden müsse. Für Vercors’ Erzählung „Le Songe“ von 1944, die in diesem Buch in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle spielt, drängen sich andere Fragen auf: Inwiefern ist die Freud’sche These vom Traum als Hüter des Schlafes angesichts des nationalsozialistischen Terrors nicht nur unhaltbar, sondern auch ethisch fragwürdig? Gibt es konkurrierende Traumkonzepte zu Freud, etwa die Theorien Jungs oder andere zeitgenössische Vorstellungen kollektiven Träumens, die sich ästhetisch und narrativ nutzen lassen? Kann eine Traumerzählung als Waffe dienen gegen einen Schlaf, der sich vor der politischen Realität abgedichtet hat? Muss der Traum nicht, so fragt Vercors, die Augen öffnen für eine Wahrheit, die dem Wacherleben verstellt ist? Um solche grundlegenden Fragen geht es im folgenden Kapitel.

II. Traumdiskurse des beschädigten Selbst: Jean Cayrol und Vercors

Konzentrationslagerträume in Jean Cayrols Lazare parmi nous [1948] Der Dichter und Erzähler Jean Cayrol, der 1942 als Widerstandskämpfer von der Gestapo gefangenen genommen und ein Jahr später nach Mauthausen (bzw. von dort weiter nach Gusen) deportiert wird, legt bereits 1948 einen denkwürdigen autobiographischen Essay vor:1 Er widmet sich hierin ausschließlich einem „kaum beachteten Phänomen“, das zu „den dunkelsten Kapiteln“2 der Shoah zähle: dem „rêve concentrationnaire“. An Träumen zeigt sich, sagt Cayrol (in diesem Punkt ähnlich wie Bettelheim und Frankl), wie grundsätzlich die Lagerhaft das Bewusstsein erschüttert hat. Die 50-seitige Schrift Lazare parmi nous3 liefert eine regelrechte Typologie des Konzentrationslagertraums. Entwickelt hat sie Cayrol aus eigenen Traumerinnerungen, aber auch anhand der mündlichen Berichte seiner Mithäftlinge, besonders einer Gruppe von Freunden um den Pater Jacques du Camel d’Avon.4 Cayrol ist es im KZ offensichtlich nicht nur gelungen, heimlich dichterisch tätig zu sein;5 er hat auch andere Häftlinge systematisch nach ihren Träumen befragt, diese gesammelt und in einen literarischen, poetologischen Kontext gestellt.6 Generell kann das Erzählen, Teilen 1 2 3

4 5 6

Die erste Fassung erschien im September 1948 in Les Temps Modernes. Überarbeitet und 1950 nochmals publiziert wurde der Essay unter dem Titel Lazare parmi nous in den Cahiers du Rhône, Neuchâtel: La Baconnière 1950, S. 15–66. Diese Ausgabe wird im Folgenden zitiert. Cayrol: Lazare, S. 15. Sämtliche Übersetzungen stammen von mir. Die Figur bzw. der Name des Lazarus, jener schon totgeglaubten bzw. von den Toten wieder auferstandenen Gestalt aus dem Johannesevangelium (Joh 11), über den sich im Zusammenhang mit dem Holocaust sehr viel ausführlicher nachdenken ließe, wird auch von anderen Shoah-Autoren wieder aufgenommen, etwa von Werner Fritsch in seinem Traumspiel Aller Seelen. Traumspiel, in: Werner Fritsch: Aller Seelen. Golgatha. Stücke und Materialien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 7–67 (vgl. Kapitel X). Ich übernehme hier die sorgsam rekonstruierten Fakten von Peter Kuon: L’écriture des revenants. Lectures de témoignages de la déportation politique, Bruxelles: Kimé 2013, S. 165. Vgl. ausführlicher Jean Cayrol: Il était une fois Jean Cayrol, Paris: Seuil 1982 und Daniel Oster: Jean Cayrol et son œuvre, Paris: Seuil 1968. Cayrol: Lazare, S. 24, 27, 32, u. a. In dieser Parallelisierung der Lagerträume mit literarischen Motiven, Strukturen oder Autoren liegt eine auffällige Verbindung zu den Traumprotokollen

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und Deuten von Träumen als ein weit verbreitetes Ritual innerhalb der Konzentrationslager gelten. Wojciech Owczarski, der hierzu umfangreiches Quellenmaterial ausgewertet hat, schreibt dieser Praxis eine individuelle, eine zwischenmenschliche und eine soziale Funktion zu. Er kommt zu dem Schluss, dass die Trauminhalte, trotz zahlreicher Deutungsversuche vonseiten der Häftlinge, hinter den gemeinschaftsstiftenden Akt der Kommunikation über das Träumen an sich zurückgetreten seien.7 Von der wichtigen kollektiven Funktion, die Träume im Konzentrationslager eingenommen haben, spricht auch Jean Cayrol, wenn er die Rolle des Träumens im Lager eingehend untersucht. Er tut dies allerdings mit einem deutlichen Fokus auf die jeweiligen Trauminhalte. In einer umfangreichen préambule eröffnet Cayrol zunächst das gesamte Spektrum möglicher Funktionen von Konzentrationslagerträumen. Bereits hier sticht die ungewöhnliche Häufung positiver Begriffe ins Auge, die dem Traum zugeschrieben werden – und die nicht nur heutige Leserinnen und Leser, sondern bereits die zeitgenössische Rezeption irritiert haben: Vom Traum als Rettungsvision ist die Rede, vom Schutzmittel, von einer Verteidigung der Wirklichkeit, einer Art Widerstand gegen den KZ-Alltag, einer Möglichkeit der Flucht,

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Charlotte Beradts, zumal das erste Kapitel in Cayrols Essay ausdrücklich Träumen gewidmet ist, die vor der ‚Endlösung‘ erfolgen (vgl. Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981). Roland Barthes würdigt Cayrol mit seinem späteren Schaffen als einen Vorläufer des nouveau roman, vgl. Roland Barthes: „La rature“, in: Roland Barthes: Œuvres complètes, Bd. 1, Paris: Seuil 1993, S. 1432–1438, hier S. 1438. Vgl. auch die positive Einschätzung Cayrols für eine Literatur nach der Shoah durch Maurice Blanchot von Catherine Coquio: „Was ist eine ‚lazarinische‘ Literatur?“, in: Silke Segler-Meßner/Monika Neuhofer/ Peter Kuon (Hrsg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, S. 275–293, hier S. 278. Neben seinem Roman Dans l’espace d’une nuit ist Cayrol heute vor allem aufgrund des Textes bekannt, den er zu Alain Resnais Film Nuit et brouillard von 1956 geliefert hatte  – einem der bekanntesten filmischen Referenzwerke der Shoah überhaupt –, und der für die deutsche Version von Paul Celan übersetzt wurde. Die Sonderstellung, die Cayrol mit seiner Poetik des Lazarinischen auf dem Feld der Nachkriegsliteratur einnimmt, wird insbesondere von Coquio: Lazarinische Literatur, S. 280, unterstrichen, für die allerdings die Thematik des Traums so gut wie keine Rolle spielt. Wojciech Owczarski: „The Ritual of Dream Interpretation in the Auschwitz Concentration Camp“, in: Dreaming 27/4 (2017), S. 278–289, hier besonders S. 283 und S. 288. Owczarski resümiert in seinem Aufsatz die Erinnerungen, die 147 ehemalige Auschwitz-Häftlinge als Antworten auf einen Fragebogen der Medizinischen Fakultät der Universität Krakau über ihre Träume im Lager formuliert hatten. Das von Anna Chociej ins Englische übersetzte Quellenmaterial befindet sich im Museum Auschwitz-Birkenau. Vgl. auch Piotr Cywiński: Sny obozowe w pamięci ocalałych z Auschwitz [Lagerträume in der Erinnerung von Auschwitz-Überlebenden], Oświęcim: Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau 2016. Owczarski situiert seine Ergebnisse vor dem Hintergrund heterogener jüdischer Traumdiskurse, denen er einen anderen Umgang mit Träumen in der polnischen Kulturgeschichte gegenüberstellt. Zur spezifisch jüdischen Dimension des Träumens im Gegensatz zu der eher katholisch geprägten Tradition, die für Cayrol prägend ist, vgl. den Schlussteil von Kapitel V.

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einem Raum der Genesung, ja sogar von Liebe, Freiheit und Glück, die dem Träumenden im Schlaf zuteilwerden können.8 Es lohnt sich zu untersuchen, von welcher sprechenden Instanz diese Lagerträume präsentiert werden. Der Essay beginnt mit auffallend neutralen und objektiven Formulierungen, die den Text zunächst in die Nähe einer wissenschaftlichen Studie rücken: Nach dem Hinweis auf ein Forschungsdesiderat erfolgt die Benennung der Träumenden in der dritten Person Plural („ceux qui les ont vécus [les rêves]“, „les images vivent en eux“) oder im verallgemeinernden Singular („le cellulaire“, „le prisonnier“, „le déporté“, „le concentrationnaire“).9 Dass das reflektierende Ich selbst zu den Opfern gehört und eigene Traumerfahrungen beizusteuern hat, wird erst nach fünf Seiten deutlich. An dieser Stelle verortet sich die sprechende Instanz nun innerhalb des univers concentrationnaire:10 Das Potenzial des Träumers zur Selbst-Verdopplung im Traum habe Cayrol eigens erfahren, und zwar in einem derart positiven Maße, dass es ihm gestattet sein müsste, ein persönliches Beispiel zu geben.11 Von seinen Erfahrungen, sagt er aber zugleich, wolle er nur dann sprechen, wenn er sie für repräsentativ halte. Grundsätzlich sieht er sich eher als denjenigen, der die Mithäftlinge beobachtet („j’assiste aux autres“12) und für sie spricht. Sehr deutlich ist hier die Aporie zu erkennen, in der sich das erzählende Ich befindet; eine Aporie, welche die gesamte Shoah-Literatur und -Forschung durchzieht:13 Cayrol weiß, dass die eigentlichen Opfer, deren onirisches Innenleben er wachhalten und vermitteln will, kein Zeugnis mehr geben können („les morts ne peuvent plus parler“14). Ihre Erfahrungen möchte er so wenig wie möglich durch seine persönlichen Erinnerungen überlagern, verzerren oder verfälschen. Andererseits kann nur er als Überlebender – der eben nicht, wie es heißt, am Ende des Leids angelangt ist und daher nicht die ganze Wahrheit geschaut hat15 – überhaupt die Stimme erheben. Allein so lässt sich vor „künftigen Konzentrationslagern“ warnen und von der systematischen Entmenschlichung derer zeugen, denen man sogar ihre „Träume als letzte nächtliche Zufluchtsmöglichkeit“ entrissen hat.16 8 9 10 11 12 13

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Cayrol: Lazare, S. 16. Häufig finden sich auch Passivkonstruktionen, in denen das Lager selbst zu einem Subjekt wird, hinter dessen Macht das Objekt fast verschwindet, vgl. Cayrol: Lazare, S. 16 und 17. Mit dem Begriff beziehe ich mich auf David Rousset: L’univers concentrationnaire, Paris: Éditions du Pavois 1946. Cayrol: Lazare, S. 19. Cayrol: Lazare, S. 23. Vgl. hierzu grundlegend James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust: Narrative and the Consequences of Interpretation, Bloomington/London: Indiana University Press 1988, Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone (Homo sacer III), Torino: Bollati Boringhieri 1998 und Sarah Kofman: Paroles suffoquées, Paris: Galilée 1987. Cayrol: Lazare, S. 15. Cayrol: Lazare, S. 27. Cayrol: Lazare, S. 28.

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In der Konsequenz geht die sprechende Instanz in den einzelnen Unterkapiteln des Essays zum „nous“ über. Dieses „Wir“ repräsentiert die kollektive Stimme der Lagerhäftlinge; insbesondere aber steht es für jene interne Gruppe, die sich regelmäßig über ihre Traumerfahrungen ausgetauscht hat. „Nous fûmes tous d’accord, après le récit de ce rêve […], pour souligner qu’il ne pouvait que porter bonheur“:17 Solche Formulierungen zeigen, wie wichtig für Cayrol ein intensiver Dialog über das Traumerleben ist. Aus ihm entsteht die kollektive Autorität, die sein Sprechen legitimiert. Der eigentliche Essay folgt nun einer doppelten Struktur: Auf der ersten Ebene geht es um das nächtliche Traumgeschehen in zeitlicher und räumlicher Abfolge. Rekonstruiert werden die verschiedenen Etappen und „Wellen“18 typischer Häftlingsträume von der ersten Inhaftierung im Durchgangslager mit ihren Panikträumen über Träume im Vernichtungslager bis hin zu den „rêves post-concentrationnaires“. Kennzeichen dieser Träume ist u. a., dass in ihnen (fast an Baudelaire erinnernd) Opfer und Henker oft nicht mehr zu unterscheiden sind. Solche Alpträume von vermeintlicher Schuld, die mit dem eigenen Überleben einhergeht und oftmals die Rolle von Täter und Opfer umkehrt, sind für den Psychoanalytiker und Schlafforscher Ernest Hartmann ein wichtiges Merkmal traumatisch bedingter Träume. Sie stellen einen ersten Schritt zur Verarbeitung des Traumas dar.19 Eine zweite Ebene systematisiert die gesammelten Träume20 im Hinblick auf ihren Trauminhalt: Hier finden sich Traumkategorien wie rêves paysages, rêves d’architecture, rêves de nourriture, rêves de couleurs …21 Cayrol fasst das Traumgeschehen zusammen zu verschiedenen Typen mit be17 Cayrol: Lazare, S. 56. 18 Cayrol: Lazare, S. 31. 19 Vgl. Ernest Hartmann: Dreams and Nightmares. The Origins and Meaning of Dreams, Cambridge (Mass.): Perseus 2001, S. 19–35, hier besonders S. 27. Geradezu komplementär hierzu sind die Träume der NS-Täter in fiktionalen Täterromanen konstruiert (vgl. Kapitel XIII). 20 Sein ‚Traummaterial‘ gibt Cayrol oftmals  – hier tut sich eine offensichtliche Parallele zur Traumsammlung von Charlotte Beradt auf (vgl. Kapitel III) – iterativ statt singulativ wieder. 21 Aber auch im Hinblick auf die Frage, welche Traumtypen im Lager nicht vorkommen, gibt der Text Auskunft (z. B. „absence de rêves érotiques“, S. 29). Innerhalb dieser Anordnung erstaunt besonders die Ausführlichkeit und Differenziertheit, mit der Cayrol Farbträume beschreibt: etwa Träume mit und ohne die Wiederholung ein und derselben Farbe, Trauminterpretationen bestimmter Farben wie Blau, Grün und Rot, aber auch Träume mit und ohne explodierende Farben. Roland Barthes, der besonders von den Farbträumen der Sammlung fasziniert ist, etabliert sogar eine ausdrückliche Parallele zwischen dem Traum und der Dichtkunst: „Les rêves situés et décrits par Jean Cayrol sont d’une très grande beauté. Ils procurent à ceux qui les lisent, comme à ceux qui les ont vécus, par la splendeur de leur substance, une délectation de l’ordre de la satiété ou de l’ébriété. Les rêves de couleur que rapporte Jean Cayrol, par exemple, sont l’essence même de la poésie, parce qu’ils sont au-delà de la métaphore, et que la couleur ou le diamant y sont les figures et non les symboles du salut, cet ailleurs des rêves concentrationnaires est exactement de même nature que l’alibi poétique.“ Roland Barthes: „Un prolongement à la littérature de l’absurde (sur le livre de J. Cayrol, Lazare parmi nous)“, in: Combat 21. September 1950, S. 9.

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stimmten Funktionen. Dabei fällt eine Opposition auf, deren eine Seite an zahlreiche weitere, vor allem literarisch erzählende Traumberichte aus Konzentrationslagern erinnert.22 Die andere Seite allerdings macht die Sonderstellung deutlich, die Cayrols Traumberichte auf dem Feld jener Shoah-Träume einnehmen, welche direkt im Lager geträumt werden: Cayrol unterscheidet rêves projet (also Projekt- oder vielleicht auch Projektionsträume) von den sogenannten rêves salutaires, den ‚Heilsträumen‘. Während die rêves projet den bevorstehenden Tod des Häftlings ankündigen oder symptomatisch begleiten, dienen die Heilsträume einer inneren Flucht und damit der Stärkung, wenn nicht gar temporären Genesung der Träumenden. Die gefährlichen, todesverheißenden Träume sind solche, in denen bewusst oder unbewusst die Welt jenseits des Lagers imaginiert wird; sei es in den zahlreichen Träumen von der Heimkehr (wie sie sich in fast allen Shoah-Texten finden23), sei es in der Evokation der Vergangenheit, sei es in Vorhaben, die sich das Ich für sein Leben nach der Befreiung erträumt.24 Je ereignisärmer und abstrakter die Träume hingegen sind, desto klarer ist ihre positive Wirkung: reine Landschaftsträume ohne Figuren etwa, oder Träume von Farben, die in keine Handlungsstruktur eingebunden sind. Damit fügt sich diese Differenzierung in eine grundsätzliche Einteilung, welche den gesamten Essay Cayrols durchzieht: Die wohltuenden Träume auf der einen Seite (les rêves bénéfiques) zeichnen sich durch einen möglichst großen Abstand von der Lagerrealität aus. Demgegenüber nennt er auf der anderen Seite die rêves diaboliques, die eine Verdopplung, Verlängerung oder Verdichtung des Lageralltags darstellen. Wer im Lager solcherart Träumen ausgesetzt ist, wird durch die nächtliche Traumaktivität zusätzlich geschwächt, den versetzt der Traum also in unmittelbare Todesnähe. Was das Traumwissen angeht, das in Cayrols Essay zutage tritt, so liegt das Besondere – und wohl auch Provozierende – also weniger darin, die Alpträume und Todesträume des Lagers zu dokumentieren. Denn hier finden sich zahlreiche Parallelen zu anderen Shoah-Träumen. Ungewöhnlich ist vielmehr das fast unbegrenzt anmutende Machtpotenzial, das Cayrol den Heilsträumen zuge22 Genaueres hierzu im Schlussteil des Kapitels. 23 Z. B. bei Primo Levi, Cordelia Edvardson, Anna Langfus, Charlotte Delbo, Robert Antelme oder Imre Kertész. 24 Diesen Aspekt der qualvollen Anpassung an die Lagerrealität nach dem Erwachen, durch den der Traum vom Jenseits des Lagers eine „agression supplémentaire“ gewinne, betont vor allem Fanny Déchanet-Platz, die ihre Befunde durch die neuropsychologische Traumforschung stützt. Vgl. Fanny Déchanet-Platz: „De la prison du rêve au rêve-prison: La douleur dans les rêves des rescapés des camps de concentration“, in: Sébastien Baudouin/Céline Bricault/Maya Hadeh (Hrsg.): Représentations littéraires et picturales de la douleur du XIX au XXIe siècle, Clermont-Ferrand: Presses Universitaires Blaise Pascal 2012, S.  235–247, hier S. 243.

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steht.25 Als beunruhige ihn diese positive Dimension der Träume selbst, bemerkt er im Anschluss an eine ausführliche Traumschilderung, dass er auf weitere Beispiele verzichte. Denn sie liefen Gefahr, „une fausse idée des camps, assez irréelle“ zu liefern und damit all jenen das Wort zu reden, die nur auf Beweise warten, um Leid, Angst und Elend der Todgeweihten, ja die Existenz der Lager überhaupt, leugnen zu können.26 Eine, wie wir längst wissen, in den 1940er und 50er Jahren durchaus nicht unbegründete Befürchtung. Wie sich die Lagerwirklichkeit Außenstehenden denn grundsätzlich vermitteln lässt, ohne unglaubwürdig oder pathetisch zu wirken, das ist die zentrale Frage, die auch Vercors umtreibt.

Der Traum vom Konzentrationslager in Vercors’ „Le Songe“ [1944] Die Erzählung „Le Songe“27 gilt als eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit der Realität nationalsozialistischer Konzentrationslager.28 Vercors ist selbst kein Shoah-Opfer, sondern verfasst als Résistance-Mitglied den Text 1943 im Versteck und publiziert ihn ein Jahr später unter Pseudonym in dem von ihm mitgegründeten Pariser Untergrundverlag Minuit. Die Erzählung erscheint also zu einem Zeitpunkt, zu dem in Frankreich erste Gerüchte über die Existenz und vereinzelte Schilderungen von Konzentrationslagern kursieren, das Ausmaß des systematischen, industriellen Massenmords aber noch nicht als allgemein bekannt gelten kann.29 Die Schreckensvision von umherirrenden, durch Folter und Hunger entstellten KZ-Häftlingen wird vom Erzähler explizit als nächtlicher Traum deklariert. Gerahmt wird er durch eine Reflexion über die

25 Weniger ungebrochen, jedoch durchaus ebenfalls mit positiver Wertung, äußert sich Georges Didi-Huberman zum Phänomen des Schlafs während der Haft. Im Schlaf sieht er einen der wenigen Regenrationsräume im Konzentrationslager. Vgl. Georges Didi-Huberman: Images malgré tout, Paris: Minuit 2003, S. 60. 26 Cayrol: Lazare, S. 57. 27 Vercors: „Le songe“, in: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres, Paris: Omnibus 2002, S.  179–186. Vercors, mit bürgerlichem Namen Jean Marcel Bruller, ist bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs als Karikaturist und Buchillustrator tätig. Bekannt ist Vercors heute vor allem aufgrund seiner Résistance-Erzählung Le silence de la mer von 1942. 28 Jean Paul Dufiet: „Novembre 1943, Le Songe de Vercors. La littérature et le camp de concentration nazi“, in: Roman 20–50 28 (1999), S. 115–127, hier S. 115. 29 Vgl. auch Dufiet: „Novembre 1943“, S. 117.

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Funktion des Traums für das kollektive Gedächtnis und seine Bedeutung für die Vermittlung einer Wirklichkeit, die sich der realistischen Darstellung entzieht.30 In einem knapp sechsseitigen Traumbericht schildert das erzählende Ich, wie es im dichten Nebel durch eine sumpfige, geisterhafte Landschaft irrt. Bruchstückhaft erinnert sich der Träumer daran, einen Fluss durchquert und dabei zwei schwarze Schwäne aufgeschreckt zu haben, als er unvermittelt feststellt, nicht mehr allein durch dieses Unterwelt-Szenario zu gehen: An einer Wegkreuzung versucht ein Mann, der ihm bekannt vorkommt und mit dem er offensichtlich zahlreiche Erinnerungen teilt, Kontakt aufzunehmen. Doch die Kommunikation scheitert daran, dass das Gegenüber eine verbrannte, zerfetzte Zunge im Mund hat, die sich „wie eine schwarze, gekochte Schnecke“ zusammenzieht und das Sprechen verhindert.31 Während der Erzähler erschrocken zurückweicht, nimmt er weitere Gestalten wahr, die nicht minder entstellt sind: Abgemagert, verstümmelt und monströs verzerrt, bewegen sie sich gespensterhaft durch die Landschaft. Als sich der Nebel lichtet, erkennt der Erzähler in der Ferne die Umrisse eines Gebäudes, in dessen Mitte ein rauchender Schornstein emporragt. Endlose Menschenschlangen bewegen sich darauf zu. Auf diejenigen, die zusammenbrechen und im Sumpf liegenbleiben, prügeln schwarz gekleidete Männer mit Knüppeln ein. Auch die Toten werden, so beobachtet der Träumer, weiterhin malträtiert oder wie leblose Gegenstände gleichgültig beiseitegeschoben. Seinen Höhepunkt erreicht der Bericht, als das Ich selbst in körperlichen Kontakt mit einem Glied aus den Reihen des Todesmarsches gerät: Er tritt auf eine Hand, die sich wie ein weicher Krake anfühlt, während der Sterbende seinen leeren Blick auf ihn richtet. An dieser Stellt gibt der Erzähler den schockartigen Erkenntnisprozess wieder, den er innerhalb des Traumes durchlaufen hat: Er erinnert sich an die Nummer, die einer dahinsiechenden Gestalt in die Haut tätowiert wurde. Bevor er noch ausgerechnet hat, dass die Menge an Menschen keinesfalls Platz in den Baracken finden kann, wird ihm schlagartig die Bedeutung des Kamins auf dem Gelände klar.32 Der Schreck, der den Träumer durchfährt, ist so groß, dass die Wahrnehmung nebelhaft getrübt wird und das Erinnerungsvermögen vollständig zusammenbricht. Beendet wird der Bericht mit jenem Mann, der ihm bereits zu Beginn des Traumes erschienen war. Dieser sendet ihm sterbend mit 30 Anlass für die Entstehung ist die Schilderung eines Bekannten, der offensichtlich aus dem Konzentrationslager Oranienburg entkommen konnte. Vgl. Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres. Hrsg. von Alain Riffaud, Paris: Omnibus 2002, S. 1009 und William Kidd: „Vercors  – Writing the Unspeakable. From Le Silence de la mer (1942) to La Puissance du jour (1951)“, in: Helmut Peitsch u. a. (Hrsg.): European Memories of the Second World War, New York/Oxford: Berghahn 1999, S. 46–54, hier S. 48. 31 Vercors: Le songe, S. 181; die deutschen Übersetzungen stammen von mir. 32 Zugleich nimmt er den Verwesungsgeruch und den aschefarbenen Rauch wahr, die von ihm ausgehen.

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seinem Lächeln ein letztes brüderliches Zeichen („un signe fraternel“33), in der Hoffnung, nicht vergessen zu werden. Entscheidend für den Text ist seine programmatische Ansprache an die Leserinnen und Leser. Am Beginn steht die rhetorische Frage: „Est-ce que cela ne vous a jamais tourmenté ?“34 Uns wird vor Augen geführt, wie das Wissen um Gewalt und Verbrechen in der Welt nur bruchstückhaft in das individuelle Wachbewusstsein vordringt, um dann sofort vergessen bzw. abgewehrt zu werden. Erst dann konkretisiert sich auch das zuvor nur angedeutete Unheil: „Bientôt ce furent vos propres amis dont chaque jour vous apprenait l’emprisonnement, la déportation ou la mort …“35 Für die isolierten, sich im Wachleben von der Wirklichkeit abschottenden Lesenden, denen selbst keinerlei Unheil droht, findet Vercors ein irritierendes Bild. Irritierend ist es deshalb, weil es in der Ikonographie der Shoah dem Schicksal der Opfer vorbehalten ist:36 Das angesprochene „Du“ befinde sich, so der Erzähler, in einem finsteren, verschlossenen Zugwagon, abgedichtet gegen „les cris d’agonie de ceux dont quelque part on brûlait les pieds et les mains“.37 Für das Verständnis des Traums ist die anschließende traumtheoretische Passage besonders bedeutsam, welche das Bild des „wagon plombé“ in eine andere Richtung weiterführt: In manchen „besonderen“ Nächten gelinge es der Imagination, eine „wundersame Macht“ („un miraculeux pouvoir“38) zu entfalten und im Traum Dinge vorzuführen, die sich weder beweisen oder logisch erklären noch überhaupt rational begreifen lassen. Damit habe der Träumer an einem kollektiven, unbewussten Wissen teil.39 Solche Träume, die etwas aussagen, was nicht nur jenseits des Verstandes, sondern auch jenseits der Imagination liegt, seien eine Möglichkeit, der Isolation im verschlossenen Wagon zu entkommen: Man blicke im Traum endlich über die Böschung der Gleise hinweg und erlange Zutritt zu einer ansonsten verstellten Wahrheit. Vor dem Hintergrund einer solchen Traumkonzeption wird auch das, was zunächst wie die Markierung einer konventionellen Traumerzählung erscheint, hochgradig ambivalent: Die „Dinge, die geschahen, während ich sie Meilen davon entfernt träumte“, erreichen einen 33 34 35 36

Vercors: Le songe, S. 186. Vercors: Le songe, S. 179. Vercors: Le songe, S. 179. Vgl. neben vielen anderen Ruth Klügers Autobiographie weiter leben. Eine Jugend, Göttingen: Wallstein 1992, Claude Lanzmanns Dokumentarfilm Shoah, Frankreich 1985, Radu Mihăileanus Spielfilm Train de vie, Frankreich/Belgien/Niederlande/Israel/Rumänien 1998 (vgl. Kapitel XI) oder Steve Reichs Stück für Streichquartett und electronic tape Different Trains (Kronos Quartett, Pat Metheny), Burbank: Nonesuch/Warner 1988. 37 Vercors: Le songe, S. 179. 38 Vercors: Le songe, S. 180. 39 „Une vaste conscience diffuse, d’une sorte de conscience universelle et flottante, à laquelle il nous arrive de participer dans le sommeil, par certaines nuits favorisées“, Vercors: Le songe, S. 180.

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ganz eigenen, autonomen Wirklichkeitsstatus: Sie existieren eben nicht nur im Traum, sondern, wie Jung wohl gesagt hätte, „über Zeiten und Zonen hinweg“.40 An diese Traumkonzeption knüpft auch das Ende der Erzählung an, das die traumtheoretische Klammer schließt: Alles sei geschehen, „comme en songe“.41 Das Geschehene erscheint wie ein Traum; ob es sich tatsächlich um einen solchen handelt, wird in der Schwebe gehalten oder sogar angezweifelt: „J’ai d’autres idées là-dessus.“42 Es geht also darum, eine grundsätzliche Realität anzuerkennen, die sich unauslöschlich in die Wahrnehmung des Träumers eingegraben hat. Denn was für das erzählende Ich nach dem Erwachen zurückbleibt, sind vor allem die im Traum erlebten sinnlichen Eindrücke und die Erkenntnis, dass die Grenzen zwischen Traum und Wachwelt unwiderruflich eingerissen sind: Der Träumer, der zu Beginn mitleidig oder entsetzt die erträumten Figuren beobachtet, lässt sich am Schluss nicht mehr unterscheiden von den leidenden und entsetzlichen Gestalten, die ihm im Traum begegnen. Das träumende Selbst bleibt nicht nur auf ewig mit ihnen verbunden, sondern ist nun in der abschließenden Traumreflexion selbst eines der Opfer: „Maintenant j’étais un de ces hommes.  […] Je n’étais plus ce spectateur  […]. J’étais seulement un de ces hommes-là.“43 Die Erzählung endet also mit einer vollständigen Identifikation von Traumerzähler, Träumer und geträumter Figur. Eben dieses Selbst, das die Grenzen zwischen Traum- und Wachwelt überschritten hat, wendet sich am Ende der Erzählung – gewissermaßen nochmals aus dem Traumgeschehen heraus – in seiner Agonie direkt an uns Lesende (an ein kollektives „vous“) mit dem verzweifelten Appell, vor dem Grauen nicht die Augen zu verschließen. Nicht nur die Rahmung des Traums, auch der Traumbericht selbst weist zahlreiche konventionelle Verfahren der Traumdarstellung auf: Besonders ausgeprägt ist der Eindruck grotesker Verzerrung und monströser Körperlichkeit der Traumgestalten. Außerdem ist die Wahrnehmung getrübt, es vollziehen sich unerklärliche Sprünge, Erkenntnisse blitzen schockartig auf, Unvorstellbares und Unbegreifliches werden instinktiv gewusst, unterschiedliche Zeitebenen fallen zusammen, die räumliche Orientierung wird verunsichert, Identitäten verschwimmen oder überlagern sich. Ohne Kenntnis der historischen Fakten müssen die im Traum erblickten Gestalten den Leserinnen und Lesern wie eine karikaturhafte Überzeichnung des Geschehens erscheinen. Ein besonderes Augenmerk wird innerhalb des Berich40 Vgl. Kapitel I. In ihrer umfassenden und differenzierten Analyse des Textes zeigt Nadja Lux, wie hier der Gestus des ‚nur ein Traum‘ mehrfach gebrochen und textintern hinterfragt wird, denn „durch offenkundige Brüche in der Traumfiktion“ wird „die Fiktionalität des Traums beständig angezweifelt“. Nadja Lux: ‚Alptraum: Deutschland‘. Traumvisionen und Traumversionen vom ‚Dritten Reich‘, Freiburg: Rombach 2008, S. 341. 41 Vercors: Le songe, S. 186. 42 Vercors: Le songe, S. 186. 43 Vercors: Le songe, S. 186.

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tes allerdings auf die sinnliche Wahrnehmung des Träumenden gelegt, womit der Eindruck unrealistischer Zuspitzung etwas relativiert wird. Den größten Raum des Textes nehmen die körperlichen Beschreibungen der Geschundenen ein, deren Grad der Entstellung und Entmenschlichung sich an den Grenzen des Erträglichen bewegt. Es lässt sich jedoch einzig aus der Perspektive des heutigen Wissens, etwa über den ‚Muselmann‘ im Lager, über den fast zeitgleich Viktor E. Frankl oder Primo Levi geschrieben haben,44 erkennen, dass es sich bei der Beschreibung der KZ-Häftlinge nicht um eine Übertreibung handelt.45 Auch wenn die historische Realität also ‚realistischer‘ oder ‚naturalistischer‘ beschrieben wird als der Träumende es wohl selbst ahnt, ist der Text in erster Linie auf ästhetische Verfremdung hin angelegt. Das auffälligste stilistische Verfahren sind Vergleiche oder andere Formen bildhaften Sprechens. Der gesamte Bericht ist durchzogen von Analogiebildungen, die allerdings wenig stereotyp oder konventionell sind. Sie stammen zwar vorrangig aus dem Bereich der belebten und unbelebten Natur, schlagen sich aber in ungewöhnlichen Bildern nieder.46 So wird nicht nur die Zunge des KZ-Häftlings mit einer zusammengerollten Schnecke verglichen; mitunter bildet, wie Nadja Lux treffend feststellt, die Krankheitsmetaphorik die einzig bleibende Verbindung zum menschlichen Körper.47 Im Hinblick auf das träumende Subjekt ist noch etwas anderes wichtig: Mit dem Bemühen der Traumgestalt, trotz verstümmelter Zunge zu sprechen, eröffnet der Traum eine poetologische Dimension. Es geht offensichtlich auch um die grundsätzliche Frage, wie sich die „catastrophe inexplicable“48 beschreiben lässt, ja ob sie überhaupt darstellbar ist, ohne sie durch Pathos oder Groteske unglaubwürdig zu machen.49 Denn die versengte Zunge, die die Kommunikation der Erfahrung verhindert, aber auch die Stoffbahnen, die „wie zerfetzte Zungen vom Himmel herabhängen“, sind im Text direkt mit dem Problem des Mitteilens verbunden.50 Zwischen mimetischer Repräsentation und alptraum44 Vgl. Viktor E. Frankl: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“, in: Viktor E. Frankl: Gesammelte Werke Bd. 1: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Und ausgewählte Briefe 1945–1949, Köln/Wien/Weimar: Böhlau 2005, v. a. Kapitel: „Die Träume der Häftlinge“, S. 64, aber auch Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998 (zu Agamben vgl. ausführlicher Kapitel V). 45 Mona Körte: „Stummer Zeuge. Der ‚Muselmann‘ in Erinnerung und Erzählung“, in: Silke Segler-Meßner/Monika Neuhofer/Peter Kuon (Hrsg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, S. 97–110. 46 Vgl. Lux: Alptraum Deutschland, S. 346. 47 Lux: Alptraum Deutschland, S. 347. 48 Vercors: Le songe, S. 182. 49 Frédéric Canovas: „Ce que tout lecteur doit savoir: Vercors, le rêve et l’écriture de la mort“, in: Georges Cesbron/Gérard Jacquin (Hrsg.): Vercors et son œuvre, Paris: L’Harmattan 1999, S. 417–436, hier S. 423. 50 Hinzu kommt, dass das französische „langue“ (Vercors: Le songe, S. 180 und S. 181) sowohl das Sprechorgan als auch die Sprache selbst meint. Intertexte liefern wie so oft auch hier epo-

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hafter Verfremdung des Geschehens angesiedelt, ist Vercors’ Traumerzählung eine ästhetische Antwort „auf das Dilemma zwischen dem Unvermögen der Darstellung und dem gleichzeitig als moralische Pflicht empfundenen Zeugnisgebot“.51 Vercors schreibt damit gegen dieselbe Aporie an, die auch Cayrol umgetrieben hatte.

Frühes Traumwissen der Shoah: Traumkonzeptionen der 1940er Jahre im Vergleich An Vercors’ Erzählung lassen sich mehrere mögliche Funktionen ästhetischer Traumfingierung der Shoah erkennen. Die traumtheoretische Reflexion der Einleitung nimmt Bezug auf das Konzept des Unanimismus, das im Frankreich der ersten Jahrhunderthälfte besonders von Jules Romains vertreten wurde.52 Dieser Ansatz weist gewisse Überschneidungen mit C. G. Jungs Idee eines kollektiven Unbewussten auf, welche dieser ja auf der Grundlage des Traums entwickelt (vgl. Kapitel  I).53 Im Traum, so der Erzähler, sei es den Träumenden möglich, eine kollektive Verbindung mit der ‚Weltseele‘ einzugehen und damit an einem überindividuellen Wissen teilzuhaben. Aus dieser Vorstellung resultiert zum einen der erzählerische Appell an kollektive Solidarität (die Formulierung „signe fraternel“ könnte direkt von Romains stammen). Zum anderen dient der Verweis auf die kollektive Dimension des Träumens natürlich dazu, „individualpsychologische Deutungsversuche im Hinblick auf das narrative Ich“ von vornherein auszuschließen.54 So scheint sich der Text auch gegen die individualisierenden, fernab jeglicher gesellschaftspolitischen Relevanz angesiedelten Traumadiskurse zu sperren, die noch bis in die 1970er Jahre hinein vorherrschen.

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chenübergreifende Erzählmodelle und rhetorische Muster für die ästhetische Darstellung von Gewalterfahrung. Lux nennt in erster Linie „klassische Intertexte des Schreckens“ wie Dantes Commedia, Shakespeares Hamlet und die Ästhetik der Dekadenz (Lux: Alptraum Deutschland, S. 352). Hinzuzufügen wären wohl noch die Passionsgeschichte des Neuen Testaments (vgl. „porter sa croix“, Vercors: Silence de la mer, S. 183) und die auffällige TotentanzMotivik, von der die gesamte Traumerzählung durchzogen ist und die sich auch im bildkünstlerischen Werk Vercors’ mehrfach findet. Lux: Alptraum Deutschland, S. 358. Mit Nadja Lux lässt sich dieses literarische Verfahren als asymptotisches Erzählen der Shoah bezeichnen. Jules Romains: „Petite introduction à l’unanimisme“, in: Jules Romains: Problèmes européens, Paris: Flammarion 1933, S. 217–245. Vgl. auch den bereits 1908 erschienenen Gedichtband La vie unanime. Jung: Traum und Traumdeutung, v. a. S. 7–67. Lux: Alptraum Deutschland, S. 337.

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Vor allem aber wird damit auch dem Traumgeschehen selbst eine kollektive Relevanz zugesprochen.55 Der Bezug auf das unanimistische Konzept verdeutlicht außerdem, dass der Traum zwar jenseits des logisch Erklärbaren, des rational Fassbaren und des faktisch Beweisbaren liegt. Aber gerade darum kann man sich seines Wahrheitsgehaltes nicht entziehen. Hieraus ergeben sich unmittelbare Konsequenzen in der Wachwelt; nämlich das Gebot, dem Weltgeschehen nicht teilnahmslos gegenüber zu stehen. Diese solidarisierende Wirkung spricht Vercors freilich nicht nur dem Traum, sondern auch der Literatur zu: Angesichts des nationalsozialistischen Grauens müsse das Unrecht mittels der Erzählung „in die Welt hinausgeschrien“ werden.56 Diesen Appell in eine Traumerzählung zu kleiden, schützt in Zeiten staatlichen Terrors nicht nur Autor und Leserschaft vor politischer Gewalt. Vercors meinte, durch die Inszenierung nicht nachprüfbarer Fakten die Hinterbliebenen der Deportierten schonen zu können. Als Begründung für die Wahl einer Traumerzählung führt er später in seinem Essay La bataille du silence an,57 die Verkleidung des Geschehens als Traum habe er mit Rücksicht auf die zahlreichen Menschen vorgenommen, die ihre Angehörigen in einem „enfer semblable“58 wussten und denen er nicht die letzte Hoffnung auf deren Überleben nehmen wollte. Zugleich habe er sich aber auch selbst geweigert, das ganze Ausmaß des Grauens zu erfassen und den Text zunächst aus der Sorge zurückgehalten, sich durch mögliche unglaubwürdige Übertreibungen in den Dienst der Kriegspropaganda zu stellen.59 Abgesehen von diesen Gründen dient ihm der Traum aber auch dazu, die Entscheidung über die Wahrheit des Berichteten an seine Adressatinnen und 55 Vercors setzt sich zehn Jahre zuvor in einem ganz anderen Medium allerdings explizit mit der Psychoanalyse auseinander, indem er einen Traumschlüssel entwirft, der die wichtigsten „typischen“ Träume bzw. Traumsituationen in 20 Aquarellen festhält. Vgl. Vercors: Ce que tout rêveur doit savoir de la méthode psychanalytique d’interprétation des rêves; suivi d’une nouvelle clé des songes avec 20 aquarelles de l’auteur représentant les rêves typiques, Paris: Creuzevault 1934. Nimmt man an, dass dieses ungewöhnliche Werk eine ironische Auseinandersetzung mit Freud darstellt (was aber aus diesem weitgehend unbekannten Werk nicht eindeutig hervorgeht), so würde sich Vercors, zieht man die einschlägige Forschung Susanne Goumegous heran, in die traumkritische Haltung der französischen Literaten gegenüber der Freud’schen Traumdeutung einreihen. Vgl. das Kapitel zur Rezeption der Traumdeutung in Frankreich in: Susanne Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris, München: Fink 2006, S. 247–257. 56 Vercors, zit. nach Alain Riffaud: „Vercors, dessinateur, écrivain, homme engagé“, in: Le silence de la mer et autres œuvres, Paris: Omnibus 2002, S. 1–26, hier S. 10. Betont werden muss allerdings, dass die Texte von Jules Romains über die Einstimmigkeit als literarisch-kollektive Bewegung bedenklich zwischen brüderlicher Solidarität und Gleichschaltung oszillieren. 57 Vercors: „La bataille du silence“, in: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres, Paris: Omnibus 2002, S. 805–1032. 58 Vercors: La bataille du silence, S. 1010. 59 Vercors: La bataille du silence, S. 1008–1009.

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Adressaten zu delegieren. Frédéric Canovas geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter: Das Grauen würde eher zugelassen, wenn die Lesenden sich im Glauben wiegen könnten, dass es nur geträumt sei.60 Renate Lachmann sieht im Traumtext ausdrücklich den Raum, „Entsetzliches, Anrüchiges, Verwerfliches“ zur Sprache zu bringen, und damit „den Diskurs des Wachtextes [zu] beunruhigen“. Der Traumtext verfügt also „über Lizenzen, die der ‚Haupttext‘ nicht zulässt, d. h. konventionell nicht zulassen darf“.61 Hier lässt sich direkt an C. G. Jungs Aufsatz „Vom Wesen der Träume“ anknüpfen, in dem er feststellt, dass der Traum zwar auf irrige Einstellungen aufmerksam mache, jedoch selbst keine moralische Absicht habe und man daher „nötige Entscheidungen und Entschlüsse“ nicht einfach den unbewussten „Träumen zuschieben“ könne.62 Anders als Jung aber, diese Bemerkung sei hier erlaubt, hat eine solche Aufmerksamkeit für „irrige Einstellungen“ den Autor Vercors tatsächlich zu einer „nötigen Entscheidung“, nämlich in den aktiven Widerstand geführt. Dem Traum-Ich kommt in der Erzählung damit eine wichtige StellvertreterFunktion zu: Er wird zum Sprachrohr für diejenigen, die – wie die Traumgestalten im Text – über keine eigene Stimme verfügen (vgl. auch Kapitel V). Zudem vermittelt er den angesprochenen Leserinnen und Lesern den schockhaften Erkenntnisprozess, der im Wachleben abgewehrt würde, im Durchqueren der Alptraumlandschaft buchstäblich schrittweise.63 Die Vermittlungsposition, die das nächtliche Selbst innehat, verweist zugleich auf das grundsätzliche Problem der Mitteilbarkeit und der Darstellbarkeit der Shoah: Während den Figuren im Traum selbst die Sprache versagt, nähert sich die Traumsprache des Erzählers dem Grauen an, indem es eben das Ringen um eine angemessene Sprache und die nachhaltige Beschädigung des Vorstellungsvermögens bildlich vor Augen führt. Auch bei Cayrol findet sich ganz wörtlich die Jung’sche Idee vom Traum als nächtliche Kompensation.64 Doch insgesamt lässt sich das Traumwissen seines Essays eher in der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse herausarbeiten. 60 Canovas: Ce que tout lecteur doit savoir, S. 343. 61 Renate Lachmann: „Traum als Text im Text“, in: Kenneth Hanshew/Sabine Koller/Christian Prunitsch (Hrsg.): Texte prägen. Festschrift für Walter Koschmal, Wiesbaden: Harrassowitz 2017, S. 13–31, hier S. 20 und 29. 62 Carl Gustav Jung: „Vom Wesen der Träume“ [1945], in: Carl Gustav Jung: Traum und Traumdeutung, München: dtv, S. 133–148, hier S. 148. 63 An dieser Stelle wird nochmals besonders deutlich, dass nicht die Befunde der Freud’schen Traumtheorie selbst es sind, die durch die Träume der Shoah infrage gestellt werden, sondern vielmehr deren Wertung, welche angesichts der Shoah eine Umkehrung erfährt: Die Theorie der Wunscherfüllung offenbare sich, wenn man nur dem alltäglichen Sprachgebrauch folge: „‚Das hätt’ ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt‘, ruft entzückt, wer in der Wirklichkeit seine Erwartungen übertroffen sieht“ (Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 146). 64 Cayrol: Lazare, S. 56.

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Freud hatte sich angesichts der traumatisch gestörten Traumfunktion gefragt, weshalb die Träumenden immer wieder in die krankmachende Situation hineinversetzt werden, anstatt „Bilder aus der Zeit der Gesundheit oder der erhofften Genesung vorzuführen“.65 Dieses Problem tritt in Cayrols Essay offen zutage: Er führt ja eben solche Träume aus der Zeit der Gesundheit vor; nämlich von der Welt außerhalb des Lagers oder vor der Inhaftierung. Auch wird man kaum in Abrede stellen, dass es sich hierbei um versuchte Wunscherfüllungen handelt. Nun bewirken solche rêves projets allerdings genau das Gegenteil von Genesung oder Gesundheit. Die Kluft zwischen solchen Wunschträumen und der Lagerwirklichkeit ist derart unüberbrückbar geworden, dass der allmorgendliche Anpassungszwang an diese Wachwelt einen lebensbedrohlichen Kraftakt bedeutet. Was Freud auf rein wissenschaftlicher Ebene als traumtheoretischen Konflikt formuliert hatte – „sollen wir nicht an der wunscherfüllenden Tendenz des Traumes irre werden“66 –, ist in den Berichten der Lagerhäftlinge zu einer wörtlichen, erschütternd-konkreten Realität geworden. Rachehandlungen, wie sie Bettelheim für Träume im Konzentrationslager beschreibt,67 werden von Cayrol nicht berichtet. Zu bestätigen scheint sich aber Viktor E. Frankls These von den Regressionsträumen, die der Stillung menschlicher Grundbedürfnisse dienen.68 Dass Träume vom Essen ein kollektives Phänomen der Lagernächte sind, wissen wir seit Primo Levis Tantalos-Träumen aus Se questo è un uomo, den Brot-Halluzinationen von Robert Antelme und Benedikt Friedman, Charlotte Delbos Dursttraum von einer Orange (vgl. Kapitel IV) oder Elie Wiesels Erzählung kollektiver Essens-Träume: „Et nous mangions, ah ce que nous pouvions manger dans ces rêves : les mets les plus rares, les fruits les plus mûrs, les gâteaux les plus doux.“69 Auch Cayrols Essay Lazare parmi nous berichtet von solchen rêves de nourriture, besonders eindringlich von einer „re65 Einer gesonderten Argumentation bedürfte die Frage des zeitlichen Abstands zwischen Traum und traumatischem Ereignis, die in diesem Beitrag über frühe Shoah-Texte jedoch nicht im Zentrum steht. In sämtlichen späteren Zeugnissen aber nimmt dieses unvermittelte Zurückversetztwerden in die traumatische Situation durch den Traum eine zentrale Rolle ein. 66 Sigmund Freud: „Jenseits des Lustprinzips“, in: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt am Main: Fischer 2009, S. 191–249, S. 203. 67 Bruno Bettelheim: „Individual Mass Behaviour in Extreme Situations“, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 38 (1943), S. 417–452, hier S. 449. 68 Viktor E. Frankl: „Trotzdem Ja zum Leben sagen“, in: Gesammelte Werke Bd. 1: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Und ausgewählte Briefe 1945–1949, Köln/Wien/Weimar: Böhlau 2005, v. a. Kapitel: „Die Träume der Häftlinge“, S. 64. 69 Vgl. Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005, hier vor allem das fünfte Kapitel: „Le nostre notti“, S. 50–58, Benedikt Friedman: Ich träumte von Brot und Büchern. Zornige Erinnerungen eines jüdischen Österreichers, Wien: Promedia 1992, v. a. S. 67–68 und S. 77–79, Robert Antelme: L’espèce humaine, Paris: Gallimard 1957, v. a. S. 96, Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra, Paris: Minuit 1970, S. 120 und Elie Wiesel: „Voici mes songes“, in: Elie Wiesel: Et où vas-tu ? Textes, essais, dialogues, Paris: Seuil 2004, S. 229–231, hier S. 229.

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ligieuse au chocolat“.70 Entscheidend ist aber, dass die Träumenden nach der Erschütterung des Aufwachens entweder umso gequälter aus dem Traum hervorgehen, oder aber, dass die Befriedigung bereits im Traum selbst verwehrt wird71  – das Erzählmodell des Tantalos-Mythos könnte ja vielsagender kaum sein. Vor allem jedoch wird im Vergleich zur psychoanalytischen Perspektive Frankls oder Bettelheims deutlich, dass das Wesentliche der rêve concentrationnaires für Cayrol in einem ganz anderen, fast mystischen Bereich des Traumerlebens liegt, nämlich der nächtlichen Rettung in geträumte Abstraktionen und reine Symbolwelten. In den Traumreflexionen von Jean Cayrol ist die Verdopplung des träumenden Ich übrigens ein ebenso zentrales Merkmal wie in Vercors’ Erzählung. Allerdings verfolgt die Verdopplung bei Cayrol den gegenteiligen Zweck, und sie erfolgt in die entgegengesetzte Richtung: Bei Vercors war der Träumer Beobachtender und Erlebender zugleich. In der Identifikation mit den Opfern holt er Rezipientinnen und Rezipienten seines fiktionalen Berichts mit in den Traum – und damit direkt in das Innere des Lagers – hinein. Cayrol hingegen zeigt, wie es manchen Häftlingen gelingt, sich im Traum zu verdoppeln, sich als Traum-Ich aus dem Lager herauszubewegen und so von der unmittelbaren Bedrohung zu lösen. Dies geschieht vorrangig über die Symbolkraft bestimmter Farben und Motive, an deren christliche oder biblische Dimension die Träumenden unmittelbar anknüpfen können. Mit Blick auf Jungs Traumtheorie wird so eine weitere Gemeinsamkeit der Traumschriften von Vercors und Cayrol deutlich: Beide, der literarische und der autobiographisch-dokumentarische Text, sind durchzogen von dem, was Jung „Mythologeme“ nennt;72 mythologische oder religiöse, hier v. a. christliche Motive. Diese speisen sich vorrangig aus der biblischen Passion („le sang du Christ“73, „porter sa croix“74 u.  v.  a.), der Totentanz-Tradition und der antiken oder dantesken Unterweltsmythologie (wie die Flussüberquerung, die schwarzen Schwäne und die Höllenmetaphorik zeigen). Ein wesentliches Element der Träume sind also ihre nach Jung über „Zeiten und Zonen“75 hinweg geteilten kollektiven Bilder, die eher in einem Jung’schen als einem Freud’schen Kontext zu verorten wären und die, als „klassische Intertexte des Schreckens“,76 einen 70 Cayrol: Lazare, S. 43. 71 Vgl. im Kontrast hierzu nochmals Sigmund Freud: „Wenn es mir gelingt, meinen Durst durch den Traum, daß ich trinke, zu beschwichtigen, so brauche ich nicht aufzuwachen, um ihn zu befriedigen“ (Freud: Traumdeutung, S. 137). 72 Carl Gustav Jung: „Vom Wesen der Träume“ [1945], in: Carl Gustav: Traum und Traumdeutung, München: dtv, S. 133–148, S. 144. 73 Cayrol: Lazare, S. 54. 74 Vercors: Le songe, S. 183. 75 Jung: Vom Wesen der Träume, S. 142. 76 Nadja Lux: Alptraum Deutschland, S. 352.

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Epochen übergreifenden Erzählrahmen und ein rhetorisches Muster liefern für das, was in der Realität als bislang beispiellos und undarstellbar gilt. Interessanterweise hat Peter Kuon aber auch gezeigt, wie sehr das Traumwissen Cayrols in den literarisch-ästhetischen Kontext seiner Zeit eingebettet ist. Es speist sich u. a. aus dem Surrealismus, etwa wenn, einem hasard objectif gleich, ein zufälliges Objekt aus dem Traum sich als Rettung erweist, indem es in die Wachwelt überspringt und dort den Tod tatsächlich aufschiebt. Berichtet wird etwa vom Traum eines todgeweihten Häftlings. Dieser wird zwar nicht explizit für die wundersame Rettung des Träumers verantwortlich gemacht. Das Traumerleben wird aber doch eindeutig mit den späteren Ereignissen in der Wachwelt korreliert: Während im Traum das Blut eines Kruzifixes sich wohltuend über den Körper des Häftlings ergießt, findet sich der Sterbende einige Tage später, von der SS auf dem Appellplatz in einem Schneehaufen entsorgt, plötzlich unter einer roten Decke innerhalb einer Baracke wieder; einer Decke, von der niemand sagen kann, wo sie plötzlich herkommt.77 Legt man allerdings die Kriterien an, die Susanne Goumegou der surrealistischen Traumästhetik zuschreibt, so werden freilich vor allem die Unterschiede zwischen den von Cayol präsentierten ShoahTräumen und der Poetik des Surrealismus sichtbar.78

Vercors und Cayrol im Kontext literarischer Shoah-Träume Halten wir fest: Entscheidend für die verschiedenen Ausprägungen der Traumdiskurse der Shoah scheint der jeweilige Gestaltungsspielraum zu sein, der dem träumenden Selbst zugestanden wird. Wie aktiv oder wie passiv sind die einzelnen Träumenden? Und sind Selbstermächtigung und subjektiver Wille überhaupt angemessene Analysekategorien? Bei Vercors wird das Ich, das vor der Shoah die Augen verschließt, schlafend von einer verdrängten Wahrheit heimgesucht. Dieser Wahrheit ist es über das immersive Potenzial des Traums mit Leib und Seele ausgesetzt. Den Widerstand des Bewusstseins aufzugeben, er77 Vgl. Cayrol: Lazare, S. 53–54. 78 Etwa was die Gattungsmerkmale des surrealistischen „récit de rêve“ angeht, deren Personal und Topographie sich weitgehend an der Wachwirklichkeit orientiert. Zum Traum im Surrealismus, vgl. Susanne Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs, S. 259–313. Die generelle Aufwertung und ‚Wahrhaftigkeit‘ des Traums sowie die Macht, die ihm zugestanden wird, ähneln sich hingegen durchaus. Literaturhistorisch wäre das Werk Cayrols, über seinen Beitrag zur Literatur der Shoah hinaus, am ehesten bei den nouveaux romanciers zu verorten.

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möglicht Vercors zufolge also den Zugang zu einem Wissen, das den Träumenden in der Wachwelt verstellt bleibt. Für Cayrol und seine Mithäftlinge als tatsächliche Shoah-Opfer hängt das Überleben in signifikanter Weise davon ab, ob es ihnen gelingt, zu aktiv Gestaltenden ihres Traumerlebens zu werden, wörtlich zum Herrscher der eigenen Träume: „Le prisonnier était maître de son sommeil. Le SS n’avait pas de prise ni d’autorité sur ces quelques heures où toute chose vécue était imaginée jusqu’au paroxysme d’une vision surnaturelle.“79 Die Träumenden müssen in einer Art luzider Traumlenkung versuchen, bestimmte Träume bewusst hervorzurufen und andere mit aller Kraft zu vermeiden. Diese Fähigkeit erinnert an die Anpassungsfähigkeit der Überlebenden aus den Studien der neurophysiologischen Schlafforscher Lavie und Kaminer: Resilienz ist in beiden Fällen unauflöslich mit Traumvermeidung oder Traumvergessen verbunden.80 Der fundamentale Unterschied freilich bleibt bestehen: Die erzählten Träume selbst sind in Cayrols Essay zugleich ein programmatisches Dokument gegen das Vergessen und Verdrängen von politischen Gewalterfahrungen. In Anbetracht der großen Zahl autobiographischer Traumberichte der Shoah darf jedoch eines nicht außer Acht gelassen werden: Die meisten anderen Zeugnisse widersprechen jener positiven Macht des Traums, die Cayrol als „Waffe gegen die Lagerrealität“ dient.81 Der Titel der polnischen Dokumentation in den Auschwitz-Heften (vgl. Kapitel I) hatte ja bereits darauf hingewiesen: „Die Nächte gehören uns nicht.“82 Jorge Semprún macht ein solches ‚enteignetes Träumen‘ zum ästhetischen Gestaltungsprinzip seines autobiographischen Schreibens. Mit seiner Feststellung, dass die Stimmen der SS mitten in die Träume eindringen und das Traumgeschehen kontrollieren, widerspricht er direkt Cayrols These, der Träumer sei Herr seines Schlafes und im Traum unverwundbar durch die SS (vgl. Kapitel IV).83 Und Charlotte Delbo geht noch einen Schritt weiter, wenn sie sagt, dass es in Auschwitz überhaupt keine Träume gab, sondern nur Halluzination, Delirium und Agonie. Über ihre Traumreflexionen scheint sie ebenfalls mit Cayrol in einen Dialog zu treten: „Au camp“ heißt es in La mémoire et les jours, „on ne pouvait jamais […] se réfugier dans l’imaginaire […]. C’est impossible. On ne peut s’imaginer, ni être autre, ni être ailleurs. […] Sur le rêve, la volonté n’a aucun pouvoir“ (vgl. Kapitel IV).84 Auch Robert Antelmes Traumer79 Cayrol: Lazare, S. 18. 80 Peretz Lavie/Hanna Kaminer: „Dreams that Poison Sleep: Dreaming in Holocaust Survivors“, in: Dreaming 1/1 (1991), S. 11–21 und Peretz Lavie/Hanna Kaminer: „Sleep, Dreaming, and Coping Style in Holocaust Survivors“, in: Deirdre Barrett (Hrsg.): Trauma and Dreams, Cambridge/London: Havard University Press 2001, S. 114–125. 81 Cayrol: Lazare, S. 17. 82 Vgl. Klein: An unseren Schläfen, S. 509. 83 Cayrol: Lazare, S. 18 und Jorge Semprún: L’écriture ou la vie, Paris: Gallimard 1994, S. 22. 84 Charlotte Delbo: La mémoire et les jours, Paris: Berg International 2013, S. 10 und 11.

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kenntnis aus L’espèce humaine wirkt letztlich wie eine Bestätigung von Cayrols gefährlichen rêves projet – und zugleich wie die Negation seiner Heilsträume: „Il va falloir ne rien imaginer, ne rien rêver, il va falloir bien savoir que nous sommes ici absolument“ (vgl. Kapitel IV).85 Allen Zeugnissen gemeinsam – Cayrol und Vercors eingeschlossen – ist allerdings die quälende Präsenz von Alpträumen, die nicht im Kontrast zur Lagerwirklichkeit stehen, sondern die deren Analogie, Verdopplung oder Verlängerung bilden. In dieser Hinsicht lassen sich auffällige Parallelen zu sämtlichen autobiographischen Texten über Konzentrationslagerträume ziehen, die vor 1950 verfasst wurden, etwa zu Charlotte Delbos programmatischer These: „A Auschwitz on ne rêvait pas, on délirait“86 und ihren erdrückenden Traumschilderungen, in denen sie nachts die quälende Arbeit im Steinbruch oder in den Sümpfen fortsetzt.87 Auch Primo Levi hat sich bekanntlich nicht nur besonders früh, sondern auch in besonders differenzierter Weise mit den Bedingungen des Träumens im Lager auseinandergesetzt; etwa damit, wie das nächtliche Pfeifen und Rattern der Züge oder der morgendliche SS-Befehl zum Aufstehen in das Traumerleben eindringen (vgl. Kapitel IV).88 Robert Antelmes Traum vom Flugzeug, das nicht über das Lager hinwegfliegt, sondern dort landet und ihn nach Hause bringt, fügt sich ebenfalls direkt in diesen Kontext ein: Er lässt das erwachte Ich verwirrt, zermürbt und geschwächt zurück.89 Was die beiden Beispiele schließlich aber für den frühen Traumdiskurs der Shoah besonders bedeutsam macht, ist nicht zuletzt die Erkenntnis, dass für die Überlebenden die Unterscheidung von Traumerfahrung und Wacherleben nicht erst nach der Rückkehr erschüttert wird, wie dies etwa Primo Levi, Anna Langfus, Jorge Semprún, Aharon Appelfeld und viele andere in ihren ‚traumatischen Träumen‘ so eindringlich erzählen. Sie berichten von Träumen, in denen das Lager zur einzigen existierenden Wirklichkeit wird und die Befreiung zur bloß geträumten Illusion. Diese Umkehrung oder Verwirrung des Verhältnisses von Traum und Wacherleben tritt in Cayrols Essay und in Vercors’ Erzählung schon deutlich hervor: Bereits die Realität im Konzentrationslager erscheint den Betroffenen – wie Cayrol alles andere als metaphorisch und in Übereinstimmung mit so vielen Leidensgenossen sagt – „plus imaginé que vécu“, „une hallucina85 Robert Antelme: L’espèce humaine, Paris: Gallimard 1957, S. 46. 86 Charlotte Delbo: Une connaissance inutile, Paris: Minuit 1970, S. 88. 87 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, bes. die Kapitel „Un jour“, S. 40–49, „Le jour“, S. 72–79, „La nuit“, S. 86–94. 88 Levi: Se questo, S. 53. 89 Antelme: L’espèce humaine, S. 72. Ganz ähnlich äußert sich auch Jean Améry, der schreibt, dass das Lager weder Phantasie noch Spiritualität erlaube. Der Versuch, die Grenzen der Wirklichkeit im Lager in eine metaphysische Dimension hinein zu überschreiten, sei „aussichtslos und wohlfeil“. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München: Szcesny 1966, S. 28 und 46 (für das Zitat).

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tion“, „en rupture d’un monde réel“.90 Auch Charlotte Delbo, Primo Levi, Robert Antelme oder Elie Wiesel beschreiben, dass sie den Lagerterror als irreal, wie in einem Traum erfahren. Wobei der eigentliche Alptraum darin besteht, dass es kein Erwachen aus dieser Erfahrung gibt. Was die Inhaftierten letztlich in ihren autobiographischen Texten erzählen, ist also, dass ein Szenario, wie es Vercors in eine Dimension jenseits des Vorstellbaren überführt hatte, bereits von der Wirklichkeit überholt wurde. Wie lagert sich ein solches, von Vercors inszeniertes seismographisches Wissen – eine ‚Vorahnung‘ der tatsächlichen Dimensionen der Shoah – in Traumprotokollen der 1930er Jahre ab? Und in welchem Verhältnis stehen solche aufgezeichneten Träume zur fiktionalen Literatur? Diese Fragen sind Gegenstand des folgenden Kapitels.

90 Cayrol: Lazare, S. 24–25.

III. Traumnotate zwischen Politik und Poetik: Charlotte Beradt, Rudolf Leonhard und Emil Szittya

Traumnotate als Exilliteratur Ich lebe auf dem Meeresgrund, um unsichtbar zu bleiben, nachdem die Wohnungen öffentlich geworden sind.1 Ich träume oft, ich fliege über Nürnberg, fische mit einem Lasso Hitler mitten aus dem Parteitage heraus und versenke ihn zwischen England und Deutschland im Meer. Manchmal fliege ich weiter nach England und erzähle der Regierung, zuweilen Churchill selbst, wo Hitler geblieben ist und daß ich es getan habe.2

Diese beiden so unterschiedlichen Träume stammen aus der TraumprotokollSammlung der Journalistin Charlotte Beradt, die seit 1939 im Exil lebt. In ihnen geht es jeweils um Raumgrenzen; und zwar um Grenzen, die im unmittelbaren Kontext der nationalsozialistischen Diktatur erfahren werden. Der Traum vom Leben auf dem Meeresgrund wird geträumt von einem deutschen Arzt, der 1934 die Erfahrung macht, dass seine eigenen vier Wände ihn nicht mehr vor der Bespitzelung durch das totalitäre Regime schützen können. Hier taucht also jemand buchstäblich ab, weil das Private keinen Rückzugsort mehr bietet. Als einzig möglicher Lebensraum erscheint eine Unterwasserwelt, weitab von der sichtbaren Oberfläche; der Weg, wie es in der Traumsammlung interpretierend heißt, in die „innere Emigration“.3 Der Traum vom Hitlerattentat hingegen inszeniert Grenzüberschreitungen in entgegengesetzter Richtung. Das Meer ist kein Schutzraum, in dessen Innerem sich der Träumer verborgen hält, sondern Ort der Vernichtung und Befreiung von außen. Hier geht es nicht um die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem und den Zusammenbruch von individuellen Schutzmauern gegen ideologische Propaganda und sich ausbreitenden Terror. Infrage stehen vielmehr geographische und politische Grenzen, die flie1 2 3

Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Mit einem Nachwort von Reinhart Koselleck, Frankfurt am Main 1981, S. 20. Beradt: Drittes Reich, S. 85. Beradt: Drittes Reich, S. 20.

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gend überwunden werden. Der Träumer haust daher nicht unten im Meer, sondern er nähert sich ihm von oben, um direkt in das Weltgeschehen einzugreifen. Von hieraus bewegt er sich anschließend in ein Land, in dem er sicher ist und womöglich als Held gefeiert wird. Zweierlei scheint kaum verwunderlich: erstens, dass dieser zweite Traum im Exil geträumt wird. Er stammt von einem Journalisten, der nach Prag emigriert ist, der also, um Beradts Formulierung zu verwenden, „Traumfreiheit“4 genießt; und zweitens, dass Tyrannenmorde und gelingende Grenzüberschreitungen innerhalb der Traumsammlung die große Ausnahme darstellen. Die grundsätzliche Thematik dieser Träume jedoch, dass sie nämlich Fluchträume eröffnen oder verhindern und von Grenzen handeln, die gewaltsam eingerissen werden bzw. die sich gegen den eigenen Willen auflösen, sind allerdings ein durchgängiges Phänomen von Traumprotokollen, die vor dem unmittelbaren Hintergrund der Shoah und des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Dies haben die von Charlotte Beradt veröffentlichten Traumprotokolle mit zahlreichen anderen Träumen gemeinsam, die im Zusammenhang mit Flucht, Verfolgung und Exil geträumt, aufgezeichnet und gesammelt wurden. Als eines der jüngsten Beispiele kann das Buch der Träume von Bogdan Bogdanović gelten: Die grüne Schachtel, im Jahr 2007 veröffentlicht, enthält Hunderte von Traumnotizen und Traumreflexionen des Architekturprofessors und ehemaligen Bürgermeisters von Belgrad.5 Seit 1993 von Milošević verfolgt, sendet er, verborgen an einem geheimen Ort, vor Zensur und Selbstzensur versteckte Botschaften an sich selbst, indem er seine Traumnotizen in einer verschlossenen Schachtel sammelt und später im österreichischen Exil ordnet, ausführlich kommentiert und als Buch veröffentlicht.6 Politisch gedeutet und als spezifische Exilerfahrungen kategorisiert werden diese Architektenträume erst nachträglich vom Verfasser selbst: Er nutzt die Fragmente zur ausführlichen Reflexion über Exilträume. Und er nutzt sie hierbei auch zur Selbstinszenierung als Verfolgungs-Opfer und mutiger Widerstands-Aktivist, wenn nicht gar als eine Art Prophet der Kriegsereignisse des Balkankonflikts. Im direkten Kontext von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg existieren weitere wichtige Traumsammlungen, die bislang noch wenig systematisch unter dem Aspekt der individuellen Traumformen und kollektiven Traumfunktionen betrachtet worden sind. Die kommentierten und typologisierten Konzentrationslager-Träume aus der Sammlung von Jean Cayrol sind wohl das bekannteste Beispiel (vgl. Kapitel II); Paula Ludwigs Träume, größtenteils im Exil entstanden, ein weiteres. Sie zeichnen sich – im Gegensatz zu den Träumen in 4 5 6

Beradt: Drittes Reich, S. 85. Bogdan Bogdanović: Die grüne Schachtel. Buch der Träume. Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber, Wien: Zsolnay 2007. Bogdanović: Grüne Schachtel, S. 7–10.

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Jean Cayrols Buch – dadurch aus, dass sie keinerlei Kontextualisierung oder Interpretation durch die Autorin erfahren und in vielfacher Weise ebenfalls Grenzen und ungewöhnliche Behausungen zum Thema haben (vgl. Kapitel IX und XII).7 Was Exil- und Häftlingsträume während des Zweiten Weltkriegs im engeren Sinne betrifft, so zählen Rudolf Leonhards Traumbuch des Exils und Emil Szittyas 82 rêves pendant la guerre 1939–1945 sicherlich zu den umfangreichsten und ungewöhnlichsten Werken.8 Solche von Beradt, Leonhard und Szittya im Exil geträumten, im Exil aufgezeichneten oder im Exil veröffentlichten Träume, die im unmittelbaren Zusammenhang mit Bedrohung, Verfolgung, Flucht und Inhaftierung durch das nationalsozialistische Regime entstanden sind, sollen nun im Hinblick auf ihre zentralen Themen, Motive, Darstellungsweisen und – wo sich die Träumenden selbst oder die Aufzeichnenden zu den notierten Traumerlebnissen äußern  – ihren individuellen Erinnerungs- und Deutungskontext befragt werden.

Die Traumnotate von Charlotte Beradt Was Charlotte Beradts Projekt angeht, Träume aus der nationalsozialistischen Diktatur zu protokollieren, so stellt sich natürlich zunächst die Frage, inwiefern es sich dabei überhaupt um eine Exilthematik handelt. Aus der Exilsituation heraus werden hier Träume zwischen 1933 und 1939 aus dem Inneren des ‚Dritten Reichs‘ wiedergegeben. Das Material selbst stammt also gerade nicht aus dem Exil oder der Gefangenschaft. Die Traumtexte haben allerdings oftmals Grenzen und Räume zum Gegenstand, die sich unschwer mit Flucht, Exil und Internierung in Verbindung bringen lassen. Entscheidender ist jedoch, dass die Anordnung, Einbettung und Deutung der Träume in ihrer ästhetischen und politischen Dimension aus einem beträchtlichen zeitlichen und räumlichen Abstand heraus erfolgt. Diese Perspektive der Publizistin spielt für das Verständnis des Buches eine bedeutsame Rolle. Denn in diesem Zusammenhang stellen sich Fragen nach Grenzen in autobiographischer, editionsgeschichtlicher und gattungstheoretischer Hinsicht. Die Journalistin Charlotte Beradt stammt aus einer jüdischen Familie und ist in den 1920er und 30er Jahren Mitglied der Kommunistischen Partei Deutsch7 8

Paula Ludwig: Träume. Aufzeichnungen aus den Jahren zwischen 1920 und 1960, Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt 1962. Vgl. auch Nadja Lux: ‚Alptraum: Deutschland‘. Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich‘, Freiburg: Rombach 2008, S. 359–390. Rudolf Leonhard: In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils, Berlin: Aufbau 2001.

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lands. Ab 1933 wird sie aufgrund einer Denunziation vorübergehend inhaftiert und unmittelbar darauf mit einem Berufsverbot belegt.9 Seit Beginn der Machtergreifung befragt sie mehr als 300 Bekannte, Freundinnen, Freunde und weitere Personen in ihrem Umfeld nach deren politischen Träumen. Ungefähr 50 davon notiert sie vollständig in verschlüsselter Form, versteckt sie und schickt sie schließlich, als Briefe getarnt, ins Ausland, bevor sie mit ihrem Ehemann 1938 über London nach New York flieht, wo sie ab 1939 bis zu ihrem Tode bleibt.10 1943 publiziert sie in der Zeitschrift Free World den Essay „Dreams under Dictatorship“,11 in dem sie einen Teil des gesammelten Materials zum ersten Mal für eine öffentliche Leserschaft aufbereitet und kommentiert.12 Barbara Hahn hat pointiert die Unterschiede zwischen der Präsentation des Materials in Essay und Buch herausgearbeitet: Der historische Abstand von gut 20  Jahren führt dazu, dass die Träumenden in der späteren Ausgabe mit ihrer extremen Emotionalität, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit fast vollständig zurücktreten.13 Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten in der späteren Publikation Informationen voran, die allgemeine Identitätskategorien wie Alter, Geschlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der Träumenden festhalten und die Bedeutung der berichteten Träume oftmals vorwegnehmen.14 Sie fügt außerdem zahlreiche Träume zu ganzen thematischen Serien und Variationen desselben Grundmotivs zusammen und nimmt damit einen sehr weitgehenden strukturierenden Eingriff in das Material vor. Dieser erfolgt, wie Janosch Steuwer kritisch anmerkt, aus der spezifischen Perspektive der Totalitarismus- und Nationalsozialismus-Forschung der 1960er Jahre. Denn Beradt ist in den USA viele Jahre lang eng mit Hannah Arendt befreundet, deren Origins of Totalitarianism von 1951 sie intensiv rezipiert.15 Damit wird in der Sammlung Beradts eine ganz bestimmte Sichtweise auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit im Nationalsozialismus präsentiert und forciert.16

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Janosch Steuwer: ‚Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse‘. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern. 1933–1939, Göttingen: Wallstein 2017, S. 534. Kelly Bulkeley: „Dreaming in a Totalitarian Society. A Reading of Charlotte Beradt’s The Third Reich of Dreams“, in: Dreaming 4/2 (1994), S. 115–125, hier S. 115. Charlotte Beradt: „Dreams under Dictatorship“, in: Free World (Oktober 1943), S. 333–337. Er findet sich in der Übersetzung von Barbara Hahn in der Neuausgabe Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Herausgegeben von Barbara Hahn, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 148– 150. Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, Kapitel: „Das Dritte Reich des Traums“, S. 31–37, hier S. 32. Hahn stellt für den Essay insgesamt eine Anordnung nach den Gesichtspunkten der Freud’schen Traumdeutung fest. Hahn: Endlose Nacht, S. 36. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, New York: Schocken 1951. Steuwer: Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse, S. 538.

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Literaturwissenschaftlich ist die Sammlung insofern von Bedeutung, als die Traumaufzeichnungen von der Herausgeberin nicht nur programmatisch in einen literarischen Kontext eingebettet werden. Aufgrund ihrer eigenen literarischen Qualitäten, die Beradt ausführlich erörtert, führen die Traumerzählungen gerade den Modus fiktionaler, ästhetischer Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit als Zugangsmöglichkeit zu den kaum realistisch darstellbaren Dimensionen der zunehmenden Ideologisierung, Terrorisierung und Gleichschaltung vor Augen. 17 Darüber hinaus dienen Beradts Traumprotokolle bis heute als Inspirationsquelle für zahlreiche spätere Beschäftigungen mit dem Verhältnis von Traum und Politik, insbesondere für Überlegungen zum Einfluss politischer Gewalt auf individuelle Erfahrungswelten und subjektive Wahrnehmungsmuster. So finden sich einige der von Beradt notierten Träume, die mittlerweile eine besondere Bekanntheit erlangt haben, in Durs Grünbeins autobiographischem Werk Die Jahre im Zoo.18 Sie bilden ferner den Ausgangspunkt für das von W. Gordon Lawrence entwickelte Konzept des „Social Dreaming“19 oder für ein Projekt der Theaterperformance-Gruppe Helfersyndrom.20 Zur berechtigten Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt, es sei selbstverständlich und unvermeidlich, dass die Träume in der Erzählung durch die Träumenden selbst „retouchiert“ wurden.21 Hier verweist sie auf das Grundproblem jeder Traumerfahrung, die nicht als solche, sondern nur rückblickend in Worte, Bilder und Narrative transformiert vermittelt werden kann. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und hinsichtlich der Erzählstruktur ausgesprochen homogen. Diese Bemerkungen sollten bereits deutlich gemacht haben, dass sich das Buch auch, was die Gattungszuordnung betrifft, auf einer recht durchlässigen 17 Vgl. Hans-Walter Schmidt-Hannisa: „Nazi-Terror and the Political Potential of Dreams: Charlotte Beradts Das Dritte Reich des Traums“, in: Gert Hofmann u. a. (Hrsg.): German and European Poetics after the Holocaust, New York: Rodopi 2011, S. 107–122, hier S. 121. 18 Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 75–78. Grünbein integriert in sein Kapitel „Tag der Arbeit“ einige Träume aus dem zweiten und dritten Teil von Beradts Traumsammlung, nämlich aus den Träumen vom „Umbau der Privatperson oder ‚Das wandlose Leben‘“ und „Bürokratische Greuelmärchen oder ‚Ich finde an nichts mehr Freude‘“, die er zusammenfassend präsentiert. Während andere Bezüge auf fremde Texte in diesem hochgradig intertextuellen Buch (etwa auf Werke von Franz Kafka, Paul Adler oder Gottfried Benn) explizit gemacht werden, bleibt Charlotte Beradts Das Dritte Reich des Traums als Quelle allerdings ungenannt. 19 Vgl. W. Gordon Lawrence (Hrsg.): Experiences in Social Dreaming, London: Routledge 2003 und Alastair Bain: „The organization as a container for dreams“, in: W. Gordon Lawrence (Hrsg.): Infinite Possibilities of Social Dreaming, London: Routledge 2007, S. 148–161. 20 Helfersyndrom: Die Träume von uns. Traumprotokolle. Mit Zeichnungen von Zeljko Vidovic, Lohmar: Hablizel 2015. 21 Beradt: Drittes Reich, S. 11.

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Grenze bewegt. Beradt bezeichnet ihre Sammlung in Analogie zu privaten Tagebüchern als „Nachtbücher“,22 die im Unterschied zum Tagebucheintrag allerdings von größerer Unwillkürlichkeit seien und daher besser geeignet, „die Strukturen der Wirklichkeit [zu] deuten“.23 Es finden sich ferner die Gattungsbezeichnungen „Fabeln“24, „Parabeln“25  – Formen uneigentlichen Sprechens also. Aber auch von „Karikaturen“, „Kabarett“ oder „Mosaiken“ ist die Rede26 und einem ständigen Oszillieren der Texte zwischen Tragik und Komik.27 Damit demonstriert Beradt in ihren Kommentaren einen besonderen Glauben an das poetische wie politische Potenzial des Traums. Hans-Walter Schmidt-Hannisa situiert die Form der Sammlung vor dem Hintergrund autonomer Traumaufzeichnungen, die spätestens seit der Publikation der Träume Friedrich Huchs von 1904 als eigenständige Kunstgattung gelten können. Diese hatten offensichtlich auch Rudolf Leonhard, um dessen Traumbuch es noch ausführlicher gehen wird, zur Aufzeichnung seiner Träume inspiriert.28 Damit stellt SchmidtHannisa die besondere Literarizität der Sammlung Beradts in den Fokus seiner Betrachtungen. Diese führt er auf literaturwissenschaftlich bedeutsame Elemente der Sammlung wie deren kollektive Autorschaft, den mitunter deutlich kritischen Gehalt der Texte und die Authentizität der Traumerfahrungen zurück.29 In jedem Falle zeigt Charlotte Beradts Präsentation der Traumprotokolle, inwiefern Literatur und Traum gleichermaßen einen Kampf mit Worten und Bildern um eine „Ausdrucksform für das Unausdrückbare“ darstellen.30 Was die komplexe Gesamtanordnung der Sammlung angeht, so hat man ihr, wohl nicht ganz zu Unrecht, antisemitische und misogyne Züge vorgeworfen. Kurz vor dem Ende findet sich ein Teil zu den widerständig handelnden Träumern, bevor es mit zwei deutlich aus der Reihe fallenden Kapiteln endet: einem über Frauen, deren Träume als zumeist beschämende Wunschträume, sich mit Hitler oder anderen NS-Größen zu vereinigen, gelesen werden, sowie einem letzten Kapitel über „träumende Juden“. Auch wenn diese Anordnung mit der 22 Beradt: Drittes Reich, S. 10. 23 Beradt: Drittes Reich, S. 10. Um solche Strukturen der Wirklichkeit, also die spezifische Form des Traumes, geht es Elisabeth Lenk in ihrer Studie zur unbewussten Gesellschaft, in der sie u. a. Beradts Traumtexte ausdrücklich gegen eine psychoanalytische Deutung verteidigt. Vgl. Elisabeth Lenk: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, Berlin: Matthes & Seitz 1983, hier v. a. S. 9, S. 294–295 und S. 385–387. In ihrem Buch geht Lenk auch kurz auf Träume von Shoah-Häftlingen ein, ohne ihnen allerdings eine gesonderte Bedeutung zuzuschreiben. 24 Beradt: Drittes Reich, S. 112–113. 25 Beradt: Drittes Reich, S. 15, S. 61 u. a. 26 Beradt: Drittes Reich, S. 14. 27 Sie verwendet des Weiteren Genre-Begriffe wie „Parodien“, „Paradoxen“, „Momentaufnahmen“, „Visionen“ und „Skizzen“. Beradt: Drittes Reich, S. 15 und S. 20. 28 Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror, S. 111. 29 Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror, S. 107–108. 30 Beradt: Drittes Reich, S. 15.

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besonderen Stellung der Juden im Nationalsozialismus erklärt wird, die im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung „von Anfang an offenem Terror“ unterlagen,31 so fällt doch auf, dass kein anderes Kapitel einer Kategorisierung nach Geschlecht oder ‚Rasse‘ bzw. Religion folgt.32 Barbara Hahn macht eine Struktur aus, die von der Entstehungsgeschichte des Buches über die Entwicklungsstationen des totalitären Regimes bis zum beginnenden Holocaust verläuft.33 Jedes Kapitel wird durch einen Titel eröffnet, der das zentrale Thema der im Folgenden jeweils präsentierten Träume benennt. Darauf folgen ein kurzes, prägnantes Zitat eines Träumers und zwei Motti. Hierbei handelt es sich um eine, wie Hahn treffend bemerkt, „waghalsige Mischung“; nämlich eine „spannungsgeladene Vielfalt“34 aus Zitaten des Alten und Neuen Testaments, von NS-Historikern, Erzählern und Dichtern sowie Propagandisten der nationalsozialistischen Ideologie. Inwiefern die „Ausdrucksmittel“, welche Beradt in den Traumprotokollen erkennt,35 mit den Verfahren literarischer Texte übereinstimmen, zeigt sie durch Resümees, Zitate und weitere Verweise auf literarische Werke vor allem der klassischen Moderne; und zwar vorrangig solche, die totalitäre Herrschaftsmuster erfinden oder vorwegnehmen. Hierzu zählen, um sich zunächst nur auf die Motti zu beziehen, etwa Kafka, Brecht und Orwell, die mehrfach zitiert werden, aber auch Goethe. Es finden sich des Weiteren Fragmente traumtheoretischer Texte oder Reflexionen zur Funktion des (Alp-)Traums und des Schlafs (z. B. von Dostojewski, T. S. Eliot, Hiob, Lukas, Robert Ley) sowie Aussagen zum Totalitarismus und/oder Nationalsozialismus (nämlich von Heinrich Himmler, Hans Frank, Eugen Kogon und Hannah Arendt). Innerhalb der Kapitel werden, über die wiederholte Auseinandersetzung mit den bereits genannten Autoren hinaus, Breton, Huxley, Schiller, Grillparzer oder Karl Valentin genannt, aber auch Verszeilen aus Volksliedern, aus dem Deutschen Requiem von Johannes Brahms oder Selbstaussagen von Sophie Scholl. Entscheidend ist aber wohl, dass nicht nur explizite intertextuelle 31 Beradt: Drittes Reich, S. 100. 32 Vgl. auch Irmela von der Lühe: „Das Dritte Reich des Traums. I racconti onirici di Charlotte Beradt sotto la dictatura“, in: Hermann Dorowin/Rita Svandrlik/Leonardo Tofi (Hrsg.): La sfuggente logica dell’anima: Il sogno in letteratura. Studi in memoria di Uta Treder, Perugia: Morlacchi 2014, S. 317–327, hier besonders S. 320, und Barbara Hahn: „Ein kleiner Beitrag zur Geschichte des Totalitarismus“, in: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Barbara Hahn, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 148– 155, hier S. 152–153. 33 Zur Deutung des gesamten Buchtitels, der den Zusammenhang zwischen politischer Entwicklung und der Geschichte des Traumwissens hervorhebt, vgl. Barbara Hahn: „‚Chaque époque rêve la suivante‘. Or: How to Read a ‚Bilderatlas‘ of the Twentieth Century“, in: Barbara Hahn/Meike Werner (Hrsg.): The Art of Dreams. Reflections and Representations, Amsterdam u. a.: De Gruyter 2013, S. 85–95, hier besonders S. 90–92. 34 Hahn: Geschichte des Totalitarismus, S. 148–155, hier S. 153. 35 Beradt: Drittes Reich, S. 15.

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Einzeltextreferenzen erfolgen, sondern auf allgemeine literarische, biblische, mythologische oder andere narrative Strukturen und dramatisch-performative Verfahren verwiesen wird, mit denen sich die präsentierten Träume deuten und in einen größeren kulturellen, historischen und politischen Kontext einbetten lassen. Welche Motive und Topoi werden in der Sammlung erkennbar? Auffallend sind zahlreiche Träume, in denen sich die Figuren aus Deutschland weg in andere Länder begeben – oder zu begeben versuchen. Dass ein Träumer, wie im eingangs zitierten Beispiel, im Flug über das Meer Deutschland verlässt und ein anderes Land erreicht, stellt Beradt zufolge einen Sonderfall dar.36 Zumeist erweisen sich Nationalgrenzen als Sperren, Kontrollen sind Zurückweisungen, Grenzposten werden zu Fluchtverhinderern, zur Bedrohung für Leib und Leben. Die Träumenden sind in Deutschland eingeschlossen, das Land hinter der Grenze erweist sich als unerreichbar. Pässe und andere Papiere, verräterisches Verhalten und verdächtige Mitreisende bilden dabei auffällig oft unüberwindliche Hindernisse. Menschen fliehen auf dem Schiff nach China37 oder schwimmen durch das Meer nach Dänemark, wo alle „Nasenverdächtigen“ aussortiert und erschossen werden.38 Sie fliehen über das Gebirge; beispielsweise mit der jüdischen Mutter auf den Schultern, deren ebenso gefürchteter wie herbeigesehnter Tod den Weg in die Freiheit eröffnet;39 oder auch mit gestohlenem Pass in die Tschechoslowakei, bevor in Prag ein SS-Mann zum Verhör erscheint, der die Fliehenden von Anfang an belauscht hatte.40 Ein anderes Beispiel verknüpft nationalpolitische mit sprachlich-kulturellen Grenzen: Über die Grenze nach Marokko wird man nur gelassen, wenn man etwas ins Französische übersetzt, der Träumer aber weigert sich und singt stattdessen „O Täler weit, o Höhen“.41 Andere Träume machen anhand von Gegenständen des täglichen Gebrauchs deutlich, dass kein privater Rückzugsraum mehr existiert, wie beispielsweise der Briefmarkentraum: An einem Postschalter wird dem Wartenden der Kauf von Briefmarken verweigert, weil er mit dem Ausland kommunizieren will; nur ein Engländer kann sich für den Briefeschreiber, der selbst sprachlos bleibt, beim Postbeamten über diese Drangsalierung beschweren.42 36 37 38 39 40 41

Beradt: Drittes Reich, S. 85. Beradt: Drittes Reich, S. 79. Beradt: Drittes Reich, S. 64. Beradt: Drittes Reich, S. 53. Beradt: Drittes Reich, S. 80. Beradt: Drittes Reich, S. 110. Liedtexte, Verszeilen oder Bibelzitate bilden eine ganz eigene Thematik der Traumsammlung. Es bedürfte einer gesonderten Analyse, um nachzuweisen, mit welchen Verfahren diese in Zusammenhang mit der Nazi-Ideologie gebracht werden, die in Zeitungen, Lautsprecherparolen und Plakaten ihren allgegenwärtigen Ausdruck findet (vgl. hierzu die knappen Ausführungen in Beradt: Drittes Reich, S. 33). 42 Beradt: Drittes Reich, S. 46.

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Darüber hinaus finden sich mehrere Erzählungen von Ausweisungen ohne Ziel, die mit Traumerfahrungen von versperrten Fluchtwegen kombiniert werden. Diese reichen vom ahasverischen Fluch („Sie sollen nirgends mehr wohnen./ […] Das soll ihr Dasein sein.“43), über die beschämende Ausweisung aus einem Konzertsaal, während die Musik (offensichtlich aus dem Deutschen Requiem von Brahms) intoniert: „Wir haben hier keine bleibende Statt“,44 bis hin zum Versuch, durch Lappland in ein Reich zu gelangen, das als das „letzte Land der Welt, wo Juden noch gelitten sind“ bekannt ist, an dessen Grenze schließlich ein Marzipanschweinchen-artiger Zollbeamter den Pass in Eis und Schnee versenkt.45 Häufiger sind jedoch Träume, in denen nicht die Flucht ins Ausland verwehrt wird, sondern die privaten Grenzen, Schutzmauern und Rückzugsorte überwältigt oder untergraben werden; und zwar von Mitläufern und Spitzeln oder offiziellen Repräsentanten der Ideologie und des Terrors. Berühmt gewordenen ist jener Traum eines Fabrikdirektors, in dem Goebbels in die Fabrik eindringt und den Träumer inmitten seiner eigenen Leute bloßstellt.46 Vergleichbare Beispiele wären etwa ein Traum, in dem sich spitzelnde Handwerker und Boten mit offenen Rechnungen Zugang zur Wohnung verschaffen und die Träumerin einzingeln.47 In einer Opernloge ist eine Maschine installiert, die erkennt, dass die Zuhörerin beim Erscheinen des Teufels auf der Bühne an Hitler gedacht hat,48 ein Zahnarzt will sich zum Feierabend mit einem Buch auf dem heimischen Sofa niederlassen und stellt fest, dass seine Wohnung keine Wände mehr hat, während aus einem unsichtbaren Lautsprecher der Erlass zur Abschaffung von Wänden verlesen wird.49 Auf ähnliche Strukturen verweist das „Schulungsamt für den Einbau von Lauschern an der Wand“50 oder die „Dienststelle zur Überwachung von Telefongesprächen“,51 deren bedrohliche Anrufe beim Träumer demütigendes Betteln und Flehen auslösen. Die neben dem Fliegertraum einzige gelungene Flucht wird in einem Traum inszeniert, der wiederum räumliche Grenzen mit sprachlichen zusammenschließt: Es geht bezeichnenderweise um das Untertauchen in einem Trappistenkloster „irgendwo auf der Welt“, in das sich „alle Leute geflüchtet haben, die sowieso nie wieder sprechen können“.52 Dass sich Ideologie, Propaganda und Terror unaufhaltsam im Allerinneresten der privaten Räumlichkeiten ausgebreitet haben, macht insbesondere der 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Beradt: Drittes Reich, S. 106. Beradt: Drittes Reich, S. 103. Beradt: Drittes Reich, S. 107. Beradt: Drittes Reich, S. 7. Beradt: Drittes Reich, S. 24. Beradt: Drittes Reich, S. 22. Beradt: Drittes Reich, S. 19. Beradt: Drittes Reich, S. 32. Beradt: Drittes Reich, S. 31. Beradt: Drittes Reich, S. 109.

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Traum vom sprechenden Ofen deutlich, der ähnlich wie ein Märchen funktioniert: Ein SA-Mann steht im Wohnzimmer und öffnet die Tür des Kachelofens, um den sich die Familie allabends versammelt. Dieser „fängt mit schnarrender, durchdringender Stimme zu reden an […]: jeden Satz, den wir gegen die Regierung gesagt, jeden Witz, den wir erzählt haben“.53 Auch andere Alltagsgegenstände erweisen sich als Denunzianten; allen voran die Nachtischlampe, die „ans Licht bringt“, was die Träumerin „im Bett gesagt hat“.54 Von besonderer Bedeutung ist gerade dieser Traum nicht zuletzt, weil er eine Meta-Ebene besitzt; eine selbstreferenzielle Dimension, mit der die Träumerin die Bedeutung ihres Traums im Traum selbst auf den Punkt bringt: Träumend schlägt sie in einem Traumbuch die Bedeutung von Lampe nach, findet die Erklärung „schwere Krankheit“ und stellt nach der ersten Erleichterung verzweifelt fest, dass dies die Deckbezeichnung für „Verhaftung“ ist.55 Vielleicht lassen sich überhaupt Meta-Träume, die also selbst bereits eine Reflexion über das Träumen unter den Zwängen der nationalsozialistischen Diktatur enthalten, als letzte Steigerung einer Aufhebung von inneren Abgrenzungsund Schutzmechanismen verstehen. Hierzu einige Beispiele: Ich will eine Bekannte aufsuchen, die  […] ‚Klein‘ heißt, entdecke aber auf der Straße, daß ich ihre genaue Adresse vergessen habe. Ich gehe in eine Telefonzelle, um sie nachzuschlagen, schlage aber aus Vorsicht unter einem ganz anderen Namen […] nach, was ja […] sinnlos war.56 Ich träume, daß ich im Traum vorsichtshalber Russisch spreche  […], damit ich mich selbst nicht verstehe und damit mich niemand versteht, falls ich etwas vom Staat sage […].57 Ich erzähle einen verbotenen Witz, aber aus Vorsicht falsch, so daß er keinen Sinn mehr hat.58 Ich träume, daß ich nur noch von Rechtecken, Dreiecken, Achtecken träume, die alle irgendwie wie Weihnachtsgebäck aussehen, weil es doch verboten ist zu träumen.59

53 54 55 56 57 58 59

Beradt: Drittes Reich, S. 37. Beradt: Drittes Reich, S. 39. Beradt: Drittes Reich, S. 39. Beradt: Drittes Reich, S. 41. Beradt: Drittes Reich, S. 41. Kursivsetzung im Original. Beradt: Drittes Reich, S. 41. Beradt: Drittes Reich, S. 42. Von diesem Traum lassen sich sinnfällige Verbindungslinien zu gegenstandlosen Konzentrationslagerträumen ziehen, die der KZ-Überlebende Jean Cayrol als „rêves de salut“ bezeichnet (vgl. Kapitel II). Jean Cayrol: „Les rêves lazaréens“, in: Jean Cayrol: Lazare parmi nous, Neuchâtel: Editions de la Baconnière 1950, S. 15–66, hier S. 39–40. Eine ganz andere Haltung nimmt demgegenüber etwa Robert Antelme ein. Vgl. Robert Antelme: L’espèce humaine, Paris: Gallimard 1957, S. 34 und S. 46.

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Hans-Walter Schmidt-Hannisa hebt in solchen Berichten das subversive Potenzial des Traumes hervor, das er in dezidierter Weise mit den Verfahren und Strategien der Literatur in Zusammenhang bringt.60 Sicherlich, solche Träume lassen sich als kreative Reaktionen auf zunehmende ideologische Einengung und politischen Terror verstehen; als deren „Seismographen“61. Indem hier aber der innere Widerstand nicht von außen gebrochen, sondern von den Träumenden selbst in einen Prozess der Anpassung überführt wird, erweisen sich die Beispiele bei aller Originalität und Pointiertheit des Traumgeschehens wohl vor allem als erschütternde Produkte der Selbstzensur. Es sind jedenfalls Träume vom Zusammenbrechen der Individualität, von der Auflösung menschlicher Würde, von Scham und Demütigung. Vor allem aber ist Reinhart Koselleck zuzustimmen, der feststellt, dass in den Träumen vom nationalsozialistischen Terror die Grenze zwischen manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken so gut wie aufgehoben ist. Die Träume liefern also gewissermaßen ihre eigene Deutung gleich mit. Eine weniger überzeugende Kritik der Sammlung gegenüber formuliert Bruno Bettelheim, der moniert, dass die zur Deutung notwendige Kindheitsgeschichte und die freien Assoziationen der Träumenden nicht systematisch mit in die Sammlung aufgenommen worden seien und die Traumprotokolle mithin keine Interpretation zuließen.62 Die in Beradts Sammlung wiedergegebenen Träume lassen sich jedenfalls als Grenzphänomene auf mehreren Ebenen auffassen. In ihrer paradoxen Ambivalenz oszilliert die Grenzerfahrung in den Träumen selbst zwischen Faszination und Bedrohung: Ob verlockende und verhinderte Grenzüberwindungen nach außen oder beängstigende und gegen den Willen selbst vollzogene Grenzauflösungen nach innen; die Träume führen jeweils vor Augen, wie die Trennlinien zwischen Öffentlichem und Privatem, Kollektivem und Individuellem,63 Politisch-Ideologischem und widerständig Subjektivem verwischen, zusammenbrechen oder gewaltsam aufgebrochen werden. Gerade in dem schmalen Spielraum zwischen in den Traum eingesickerter Nazi-Ideologie und einem Moment des geträumten Widerstands, der sich in den Protokollen Charlotte Beradts auftut, liegt laut Sharon Sliwinski der politische Gehalt des Traums, dem sie eine ganz eigene Form der agency zuspricht:

60 Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror, S. 111. 61 Beradt: Drittes Reich, S. 10. 62 Vgl. Bruno Bettelheim: „Essay“, in: Charlotte Beradt: The Third Reich of Dreams. Translated from the German by Adriane Gottwald. With an Essay by Bruno Bettelheim, Chicago: Quadrangle Books 1968, S. 149–170. 63 Vgl. Renate Böschenstein: „Der Traum als Medium der Erkenntnis des Faschismus“, in: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hrsg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 131–148, hier S. 131.

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Evidently, a dream is not akin to the more obvious political gestures such as voting or marching in a parade, but this mental activity can still be understood as an important species of political thought. Indeed, Beradt’s collection provides a prism through which to reconsider the ways political power—far from being simply impressed upon the psyche—represents a force each individual negotiates on a nightly basis. In turn, this particular form of thought might offer a new site to consider the psychological roots of resistance.64

Als Texte loten die Träume den schmalen Grat aus zwischen Erfinden und Erinnern, Bewusstem und Unbewusstem, Erleben und Erzählen, Erfahrung und Imagination. Wie Nadja Lux überzeugend feststellt,65 verwässern auch die zeitlichen Grenzziehungen; nämlich diejenigen zwischen der Gegenwart des Traumgeschehens, der Vergangenheit – die etwa in Form von Tagesresten unmittelbar, und in literarischen, biblischen, mythologischen Präfigurationen mittelbar ihre Spuren im Traum hinterlässt –, und der Zukunft als seismographische Vorwegnahme im Traum. Diese steht in offensichtlichem Gegensatz zu klassischen Vorhersehungen und Prophezeiungen in politischen Herrscherträumen. Nadja Lux sieht die herausragende Bedeutung von Charlotte Beradts Traumsammlung u. a. in der Tatsache, dass die individuellen und kollektiven Erfahrungswelten des Nationalsozialismus weder aus der „Perspektive des Exils, noch aus der erinnerten Rückschau innerer Emigranten nach 1945 vermittelt [werden], sondern im Spiegel zeitgenössischer Traumerzählungen aus dem Innenraum der Diktatur [erfolgen]“. Die Einsichten in die „Strukturen und Funktionsweisen totalitärer Herrschaft lassen sich also explizit aus der ästhetischen Form ableiten“.66 In eine vergleichbare Richtung zielt auch Georges Didi-Huberman. Dieser sieht in seiner kunstphilosophischen Studie Survivance des lucioles in eben der ästhetischen Dimension der Träume Beradts ein geheimes Wissen in Bildern aufgehoben, dessen widerständiges Potenzial er in besonderem Maße hervorhebt.67 Indem die Träume nicht die äußere Wirklichkeit zeigen, wie sie sich in der alltäglichen Wahrnehmung bietet, sondern die individualitätszersetzende Struktur, die in dieser Wirklichkeit verborgen ist, enthüllen die erzählten Traumgeschichten „die geheimen Antriebskräfte und Einpassungszwänge“ der

64 Sharon Sliwinski: Dreaming in Dark Times. Six Exercices in Political Thought, Minneapolis/ London: University of Minnesota Press 2017, S. 172. Zur „radical agency of the unthought“, vgl. S. 178. 65 Lux: Alptraum Deutschland, S. 12 und 17. 66 Beide Zitate in Lux: Alptraum Deutschland, S. 15. 67 Georges Didi-Huberman: „Images: Faire apparaître des rêves: Charlotte Beradt ou le savoirluciole. Témoignage et prévision. L’autorité du mourant“, in: Georges Didi-Huberman: Survivance des Lucioles, Paris: Minuit 2009, S. 115–120, hier S. 117 und 118.

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nationalsozialistischen Herrschaft. Sie „bezeugen  – als fiktionale Texte  – den Terror, zugleich aber sind sie Vollzugsweisen des Terrors selbst“.68

Die Traumnotate von Rudolf Leonhard Als Jude und Kommunist verfolgt, exiliert und mehrfach interniert, notiert und sammelt Rudolf Leonhard auf der Flucht und während der Haft Hunderte von Träumen, von denen eine beträchtliche Auswahl im Jahr 2002 unter dem Titel In derselben Nacht publiziert wird. Diese Notate sind zutiefst von den politischen Erfahrungen ihrer Zeit geprägt.69 Die Besonderheit dieser Traumpublikation zeigt sich gerade in der Abgrenzung zum Traumbuch von Bogdan Bogdanović. Das im Traum Erlebte wird von seinem Träumer in keiner Weise kommentiert oder gedeutet. Die Träume stehen und sprechen für sich allein. Sie sind allerdings sorgsam nummeriert, chronologisch angeordnet und jeweils mit einem exakten Datum versehen: Die in der Sammlung wiedergegebenen Berichte stammen aus der Zeit vom 28. Mai 1941 bis zum 1. Juli 1944. Beim Beginn der Aufzeichnungen ist Rudolf Leonhard als zunächst nach Frankreich geflüchteter, später ausgebürgerter und dann in verschiedenen Sammel- und Durchgangslagern internierter Dichter und Antifaschist bereits 20 Monate lang in Haft, u. a. in Le Vernet, Les Milles und Castres. Einmal gelingt ihm die Flucht, er wird jedoch erneut verhaftet, bevor er am 17. September 1943 – wenige Tage vor seiner angekündigten Deportation  – im Rahmen eines Massenausbruchs aus dem Lager Castres fliehen kann und sich, versteckt in Südfrankreich, der Résistance anschließt.70 Die Traumnotate aus In derselben Nacht reichen also fast ein Jahr über diese Flucht hinaus. Hervorhebenswert ist an der Sammlung zum einen, dass oftmals ganze Traumserien festgehalten werden, die sich innerhalb ein und derselben Nacht ereignen (daher der Titel des Traumbuchs). Deren schriftliche Aufzeichnung erstreckt sich mitunter über viele Seiten hinweg. Zum anderen beansprucht das Geträumte als ein autonomes Werk eigene Gültigkeit; der Autor geht damit seit Beginn der Aufzeichnungen von einem öffentlichen Interesse an seinem 68 Alle Formulierungen Kosellecks in Beradt: Drittes Reich, S. 117–132, hier S. 127 und S. 128. 69 Steffen Mensching: „Somnio ergo sum. Das Lager als Traumfabrik“, Nachwort in: Rudolf Leonhard: In derselben Nacht, S. 493–516, hier S. 510. 70 Ich beziehe mich auf die ausführliche Rekonstruktion von Margot Taureck: „Exil und Reisen im Geiste. Rudolf Leonhards Traumbuch des Exils“, in: Johannes F. Evelein (Hrsg.): Exiles Traveling. Exploring Displacement, Crossing Boundaries in German Exile Arts and Writings 1933– 1945, Amsterdam: Rodopi 2009, S. 329–345, hier S. 330–333.

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Traumerleben aus.71 Hans-Walter Schmidt-Hannisa versteht das Traumprojekt Rudolf Leonhards in direktem Zusammenhang mit seiner kommunistischen Haltung. In einer an Hegel geschulten Argumentation lehne er die bürgerliche Form der individuellen Autobiographie ab, zugunsten einer Veröffentlichung rhizomatisch strukturierter nächtlicher Traumerlebnisse, denen er ausdrücklich eine überindividuelle, eine historiographische und eine sozialkritische Funktion zuschreibt.72 Geradezu programmatisch betont Leonhard die gesellschaftliche Dimension des Träumens: „Man träumt als Individuum und individuell; aber das träumende Individuum ist ein Zoon politikon, das seinen sozialen Gehalt und seine soziale Bestimmung träumt“.73 Indem die Traumtexte vollständig auf eine Erklärung oder Deutung durch den Träumer bzw. durch Dritte verzichten, bilden sie ein eigenständiges autobiographisches Dokument, das auf eindrucksvolle Weise die Verflechtung individueller Traumtätigkeit mit den gesellschaftspolitischen Bedingungen des Nationalsozialismus und des Vichy-Régimes erkennbar macht. Steffen Mensching hat die jahrezehntelang in Archiven verschwundene Sammlung im Aufbau-Verlag herausgegeben, dabei das von Leonhard vorgesehene Vorwort mit „TraumReflexionen“, „Traum-Thesen“, Gedanken zu „Halbtraumphänomenen“ und einer „Methodik des Erinnerns“ allerdings weggelassen,74 dafür aber den komplizierten Entstehungsprozess und den abenteuerlichen Weg des Manuskripts bis zur Veröffentlichung rekonstruiert. In der steten Furcht vor der Auslieferung an die Gestapo oder der Deportation in eines der Vernichtungslager, ist das Traumbuch unter höchst prekären Bedingungen entstanden: zumeist in Dunkelheit, in Ermangelung des passenden Schreibmaterials und unter der ständigen Gefahr der Entdeckung oder des Verlustes. Leonhard notiert die Traumerlebnisse während der Nacht offensichtlich mit Bleistift auf kleine Notizzettel, 71 Mensching führt aus, dass Leonhard seine Traumnotate von Anfang an zur Veröffentlichung vorgesehen, als Edition vorbereitet und während der Haft bzw. im Untergrund durchgängig auf eine spätere Publikation gehofft hatte. Vgl. Mensching: Somnio ergo sum, S. 515. 72 Hans-Walter Schmidt-Hannisa: „Another Life  – Another Diary. Dream Diaries by Swedenborg, Rudolf Leonhard, and Detlev von Uslar“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Mediating the Dream/Les genres et médias du rêve, Würzburg: Königshausen  & Neumann 2020, S. 131–157, hier S. 143 und S. 156. Schmidt-Hannisa bezieht sich u. a. auf das noch unveröffentlichte Traumtagebuch 1941–1943, das sich im Rudolf Leonhard Archiv der Berliner Akademie der Künste befindet. 73 Ich zitiere aus dem unveröffentlichten Traumtagebuch Leonhards nach Hans-Walter Schmidt-Hannisa: Another Life, S. 144, Fußnote 31. Doch nicht allein in der kommunistischen Grundlage sieht Hans-Walter Schmidt-Hannisa die gesellschaftspolitische Funktion von Leonhards Traumkonzeption. Ein kritisches Bild der Zeit entsteht ihm zufolge darüber hinaus durch die zahlreichen in den Träumen auftauchenden kommunistischen Künstler, Aktivisten und Intellektuellen, deren Exil durch die Traumnotate Leonhards dokumentiert wird. Vgl. Schmidt-Hannisa: Another Life, S. 147. 74 Mensching: Somnio ergo sum, S. 515. Dieses traumtheoretische Material wird derzeit von Andrea Allerkamp neu gesichtet und editiert.

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die er anderntags wieder ausradiert, um Papier zu sparen, und überträgt sie später sorgfältig, mit minutiösen Korrekturen versehen, in sein Manuskript. Bei der Überstellung in ein anderes Lager kann er die Aufzeichnungen zunächst mitnehmen, während des Ausbruchs allerdings muss er sie zwei Mithäftlingen anvertrauen, die das Manuskript retten. Ungewöhnlich ist die Sammlung nicht nur aufgrund dieser Entstehungsumstände und der Bedeutung als eigenständiges literarisches Werk, sondern auch wegen der besonderen Aufmerksamkeit, die Rudolf Leonhard sich selbst als ‚Forschungsgegenstand‘ angedeihen lässt. Bereits früher hatte der Autor expressionistischer Gedichte seine Träume notiert und einige davon veröffentlicht. Sie finden sich in dem berühmten Buch der Träume, das Ignaz Ježower 1928 im Rowohlt Verlag publiziert hatte75 und das wiederum in enger Verbindung zu den Traumprotokollen Walter Benjamins steht.76 Steffen Mensching geht davon aus, dass Leonhard sich für die getreue Wiedergabe des Traums und die Modi seiner Niederschrift an der ersten autonomen Traumsammlung der Literaturgeschichte orientierte, dem 1904 publizierten Band Träume von Friedrich Huch.77 Und auch hier zeigt sich, ähnlich wie bei Vercors und Cayrol (vgl. Kapitel II), dass es offensichtlich nicht die Traumdeutungen und Traumtheorien der Psychoanalyse sind, die den Schriftsteller zur ausgeprägten Auseinandersetzung mit seinen inneren Traumwelten motiviert haben. Leonhard selbst äußert sich vielmehr folgendermaßen: Es kann ein äußerer Anlaß gewesen sein, der mich auf den Gedanken brachte, Träume regelmäßig aufzuzeichnen; soweit ich mich erinnere, war es die Lektüre der Traumaufzeichnungen Friedrich Huchs, lange vor der Lektüre von Traumberichten der Psychoanalytiker.78

Nun sind in einer derart ausführlichen, unselektierten und in keinerlei Erzähloder Deutungskontext eingebetteten Sammlung freilich nicht alle Traumbeispiele für unseren Themenzusammenhang gleichermaßen ergiebig. Festzuhalten bleibt jedoch: Es liegt sicherlich keine andere derart umfassende authentische Dokumentation eines individuellen Traumgeschehens vor, das, wenn auch nicht im Angesicht der Shoah selbst, so doch in unmittelbarer Nähe, nämlich in einer über Jahre hinweg währenden existenziellen Bedrohungssituation durch den Nationalsozialismus und das Vichy-Regime, entstanden ist. Insgesamt betrachtet 75 Ignaz Ježower: Das Buch der Träume, Berlin: Rowohlt 1928. 76 Walter Benjamin: Träume. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Burkhardt Lindner, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Die ersten Traumnotate des Buches sind diejenigen, die sich auch in Ježowers Buch der Träume finden. Vgl. Benjamin: Träume, S. 9–12. 77 Friedrich Huch: Träume, Berlin: Fischer 1904. Zum Traumprotokoll als eigenständiger Textsorte vgl. ausführlicher Kapitel XII. 78 Rudolf Leonhard, zitiert nach Steffen Mensching: Somnio ergo sum, S. 493–516, hier S. 501.

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sind die Träume ausgesprochen disparat und heterogen. Sie lassen sich daher – der Textsorte Traumbuch entsprechend – inhaltlich kaum systematisieren. Ein großer Teil handelt von den zahlreichen Freunden und Bekannten Leonhards, von den vielen Orten seines Lebens, von unterschiedlichsten, oftmals erotischen Erlebnissen, von ambivalenten Stimmungen und Eindrücken. Es finden sich darunter jedoch viele Themen und Motive, die auch andere Lager- und DiktaturTräume prägen  – allen voran jene aus Charlotte Beradts Das Dritte Reich des Traums: Verhöre und Kontrollen durch uniformierte Personen, die Atmosphäre einer unsichtbaren, um sich greifenden, aber ungreifbaren Bedrohung, unüberwindliche Grenzen, versuchte Grenzübertritte und fehlende Papiere  – und immer wieder Zugfahrten und Transporte, mit denen eine existenzielle Verunsicherung einhergeht. Margot Taureck veranschlagt den Umfang von Reise- und Fluchtträumen auf ein Viertel des gesamten Traumbuches.79 In ihrer Typologie der Leonhard’schen Reiseträume nennt sie u. a. Themen, die die Aufzeichnungen in auffällige Nähe zu anderen Träumen rücken, welche vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Terrors notiert und publiziert wurden: Träume von fehlgeschlagenen Reisen, gescheiterten Fluchtversuchen, der Abreise von Freunden, der Begegnung mit Toten auf Reisen, einer vom Tod verhinderten Ankunft oder auch Träume von der Heimkehr aus der Gefangenschaft oder dem Exil, die die Träumenden nach dem Aufwachen umso verzweifelter zurücklassen.80 Auffällig sind auch Träume von sich verwandelnden Tieren, wie sie bei Paula Ludwig ebenfalls vorkommen – einem Thema, dem Barbara Hahn in ihrer Studie Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Politik eine besondere Aufmerksamkeit schenkt.81 Zahlreiche Traumerlebnisse sind mit der beruflichen Dimension des Träumers verbunden: Als Schriftsteller und Verlagslektor träumt er vielfach von Lesevorgängen, Manuskripten und Korrekturfahnen, wobei die damit verbundene Materialität – etwa von Buchstaben, Buchkörpern und Schreibprozess, die im Traum ein eindrückliches Eigenleben entfalten82 – besonders produktiv für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung vor dem Hintergrund der Shoah scheint (vgl. Kapitel IX). 79 Taureck: Exil und Reisen, S. 329. 80 Taureck: Exil und Reisen, S. 337–341. 81 Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 99–102. 82 Vgl. neben vielen anderen den Traum von einer zu haltenden Rede, deren Text immer wieder neu aufgeschrieben werden muss: Das weiße Büttenpapier liegt auf der Straße, ist unregelmäßig durchgerissen, weist plötzlich einen mit Schreibmaschine geschriebenen Text auf, dessen erster Satz jedoch auf irritierende Weise „verschrieben“ wurde, bevor in einer weiteren Traumszene ein Trupp starker Männer den Begleiter des Träumers blitzschnell verhaftet und wegführt. Währenddessen denkt der Träumer, dass er den Freund zwar nie wieder sehen wird, aber abends immerhin die Rede noch wird halten können. Leonhard: In derselben Nacht, S. 112–113. Ein weiterer Traum erzählt von einem Lager, in dem der Name des jeweiligen Platzinhabers in „grosse[n], saubre[n], hellrote[n] Buchstaben an die Wand gemalt“ ist.

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Am 7. Februar 1942 notiert Leonhard einen Traum von der Flucht vor den Deutschen:83 Der Träumer gelangt fliehend an ein Gitter, hinter dem ihm zugerufen wird, er solle die noch nicht Informierten vor einer bevorstehenden Invasion warnen. Er begibt sich auf die Suche nach Anna Seghers, die er nach einigem Umherirren auch findet. Ihr, die sich im Traum zu langsam bewegt und taumelt, will er bei der Flucht helfen – eben jener Schriftstellerin, die ihrerseits bereits 1940 über Marseille nach Mexiko fliehen konnte und dort nur wenige Jahre später mit „Der Ausflug der toten Mädchen“ eine eindrückliche Traumerzählung von Flucht, Exil und den Gräueln der beiden Weltkriege in Deutschland veröffentlicht (vgl. Kapitel VII). Im Anschluss an diese Traumbegegnung findet sich der Träumer in einem Konsulat wieder, wo er versucht, den Attaché von der Dringlichkeit seiner Ausreise zu überzeugen: Ich setze ihm in wenigen Worten die Situation auseinander; ich sage, dass ich Schriftsteller sei, ein bekannter Schriftsteller, und in welcher Gefahr ich mich befinde; ich suche ‚un toit pour une nuit seulement‘. Auf dem Wege, als ich allein war, im Laufen, hatte ich das Elend gespürt; erst nach dieser Niederlage fühlte ich mich ganz als Emigrant, jetzt sah ich erst, wieviel Hoffnungen ich noch gehabt hatte, die nun alle zersplittert waren, und ich hatte schrecklich geweint, im Laufen. Jetzt, da ich davon spreche, steigt die grenzenlose Enttäuschung wieder auf, die Tränen kommen wieder hoch, ich wische sie mit dem noch nassen Taschentuch ab, zornig gegen mich, weil die Szene melodramatisch wirken könnte.84

Nicht nur handelt der Traum also von Anna Seghers; auch die geträumte verzweifelte Lage angesichts des elenden Flüchtlings-Status und der damit einhergehenden existenziellen Not, die dem Träumer selbst in ihrer Dramatik unecht und übertrieben vorkommt, erinnern sehr deutlich an Seghers: nämlich an ihren Roman Transit, in dem das fast aussichtslose Unterfangen, die nötigen Papiere für die Ausreise aus Europa zu erlangen, zum zentralen Erzählthema wird. Repräsentativ für Leonhards Traumbuch des Exils sind Träume von Zugfahrten, etwa vom Rangieren der Zugwagons auf dem Bahnhof in Vichy, und von beängstigenden Papierkontrollen in den Wagons beim Grenzübertritt, während derer der Träumer als illegal Reisender entdeckt zu werden droht.85 In Leonhards Sammlung findet sich ferner ein – folgt man den Ausführungen von Viktor E. Frankl zum Träumen im Lager (vgl. Kapitel I) – typischer Essenstraum, in dem Leonhard: In derselben Nacht, S. 420. Besonders eindrücklich ist auch jener Traum, in dem die Befreiung erfolgt und die Buchstaben der Namen von den Befreiten wie Blumen auf Stängeln in den Händen gehalten werden. Leonhard: In derselben Nacht, S. 412–413. 83 Leonhard: In derselben Nacht, S. 115–117. 84 Leonhard: In derselben Nacht, S. 115–116; ein weiterer einschlägiger Fluchttraum findet sich S. 411–412. 85 Leonhard: In derselben Nacht, S. 118.

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der Träumer „wütenden Hunger“ verspürt und in dem nach dem Morgenappell Uniformierte in der Baracke die Gedanken und die innere Haltung des Träumenden überprüfen.86 Während Bruno Bettelheim Lagerträume oftmals als Racheträume kategorisiert hatte (vgl. Kapitel I), so sind solche Träume, wie auch Steffen Mensching betont, in Leonhards Traumbuch auffällig abwesend.87 Der Träumer spürt im Traumerleben deutlich die Schmerzen der Anderen, fügt aber selbst niemandem Gewalt zu. Im Hinblick auf apokalyptische Szenarien, in denen die unmittelbare Bedrohung durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft evoziert wird, stechen in Rudolf Leonhards Traumsammlung gleich mehrere Träume hervor: In einem Traum vom Oktober 1941 erscheint das Lager, in dem ihm seine Kameraden zu nah auf die Pelle rücken, den Platz auf der Pritsche streitig machen und ihn durch ihr nächtliches Stöhnen quälen, wie eine verschwommen wahrgenommene, bleiche Unterwasserwelt. Für den inhaftierten Träumer ist also der Meeresgrund als Fluchtraum, wie er dem Arzt in der ‚inneren Emigration‘ aus Beradts Traumsammlung zu Beginn der 1930er Jahre noch erschienen war, endgültig versperrt.88 Wir finden zudem einen beängstigenden Todestraum, der den eigenen Sterbeprozess schrittweise und anhand zahlreicher Details als körperlich-sinnliche Wahrnehmung wiedergibt: Ich werde sterben, das Sterben hat sogar schon angefangen. […] Ich halte selbst eine Rosenknospe, will sie an mich drücken; ich kann es schon nicht mehr, ich erstarre schon, und das Gefühl für Berührungen ist schon in mir erstorben, nur noch ein gallertiges, eisiges Gefühl läuft unter der Haut. Und unter diesem Gefühl, überall in mir, sitzt das Grauen. Ich will es herausschreien, aber ich bekomme die Kiefer nicht mehr auseinander. Schließlich, qualvoll, als brächen sie auf, und ein Schrei bricht vor; ich schreie, schwer, mühsam, mehrmals, vielmals: ‚Fürchterlich wird die Kälte sein!‘ [Als ich erwache, glaube ich, wirklich geschrien zu haben].89

Ein expliziert als Höllentraum deklariertes nächtliches Erlebnis Leonhards kann zudem als typisch für das Traumgeschehen gelten, welches sich an der Bedrohung durch den Nationalsozialismus abarbeitet (vgl. Kapitel XII). Die Unterwelt, in die der gestorbene Träumer eintritt, „ist von der Oberwelt gar nicht so verschieden, sie ist nur ein wenig dumpfer, braun, etwas mehr gedrückt und eigentlich nicht weniger heftig“.90 Als Hölle ist der Bereich außerdem deutlich markiert, weil der Raum aus verschiedenen Schichten und Stockwerken besteht und, wie in Dantes „Inferno“ aus der Commedia, nach einem klaren geometri86 87 88 89

Leonhard: In derselben Nacht, S. 74. Mensching: Somnio ergo sum, S. 508. Leonhard: In derselben Nacht, S. 47–49. Leonhard: In derselben Nacht, S. 302–303. Die eckigen Klammern am Ende des Zitats finden sich im Original. 90 Leonhard: In derselben Nacht, S. 290–291.

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schen Prinzip gestaltet zu sein scheint. Dass Leonhard weiterhin von einem engen Raum träumt, in dem Tierleichen auf dem Boden liegen und an dessen Decke eine Gießkanne angebracht wurde, aus der Gas entströmt,91 rückt das Traumgeschehen assoziativ endgültig in die unmittelbare Nähe der Shoah.

Die Traumnotate von Emil Szittya Ein weiteres, ungewöhnliches Traumbuch aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges gilt bis heute als so gut wie unbekannt, obwohl es sehr erhellend ist im Hinblick auf vor allem die Frage, „à savoir sous quelle forme la guerre s’insinuait dans le sommeil des gens“, also wie sich die politische Ausnahmesituation im inneren Erleben der Träumerinnen und Träumer niederschlägt.92 Über die genauen Umstände der Entstehung und Publikation dieser Traumsammlung ist nur wenig bekannt. Der aus Ungarn stammende, 1886 geborene Jude Emil Szittya publiziert 1963, ein Jahr vor seinem Tod, erstmals eine Vielzahl seiner während des Krieges gesammelten Traumnotate in dem Band 82 rêves pendant la guerre 1939–1945.93 Der Maler, Kunstkritiker, Dichter und Journalist Szittya lebt seit 1906, von einem zweijährigen Zwischenaufenthalt auf dem Monte Verità unterbrochen, in Paris und muss, wie Tausende andere auch, bei der Invasion der Deutschen im Mai/ Juni 1940 in den Süden des Landes fliehen. Ähnlich wie Charlotte Beradt, allerdings mit der bedeutenden zeitlichen Verschiebung von den 1930er Jahren hin zur Periode des Zweiten Weltkriegs, fragt Szittya Menschen, die ihm unterwegs zufällig begegnen, systematisch nach ihren Träumen. Seine Aufzeichnungen umfassen Berichte von Träumenden aller Altersstufen vom Kind bis zum Greis, von Jüdinnen, Katholiken und Atheistinnen, von Künstlern, Bauern, Intellektuellen und Soldaten – sogar ein deutscher Soldat erzählt ihm seine Träume, was offensichtlich den Anlass für die systematische Erfassung des Traumerlebens seiner Zeitgenossen bildete.94 Schließlich wählt Szittya diejenigen Träume für seine

91 Vgl. Mensching: Somnio ergo sum, S. 513. Anscheinend hat Mensching den Traum aber nicht mit in die Sammlung aufgenommen. 92 Emmanuel Carrère: „Préface“, in: Emil Szittya: 82 rêves pendant la guerre 1939–1945, Paris: Allary Éditions 2019, S. 5–15, hier S. 7. 93 Vgl. die Erstausgabe Emil Szittya: 82 Rêves pendant la guerre 1933–1945. Illustrés par l’auteur, Paris: Les Diurnales 1963. Ich verwende die von Emmanuel Carrère neu herausgegebene und mit einem Vorwort versehene Ausgabe: Emil Szittya: 82 rêves pendant la guerre 1939–1945, Paris: Allary Éditions 2019. 94 Szittya: „Avertissement“, in: Szittya: 82 rêves, S. 16–22, hier S. 19–20.

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Sammlung aus, die einen besonders eindeutigen Bezug zu Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und der Shoah erkennen lassen. Anders als bei Rudolf Leonhard sind diese Träume nicht mit genauen Daten versehen – die Befragten erzählten oftmals Träume, die schon länger zurückliegen oder solche, die häufig wiederkehren. Insgesamt ist jedoch ein chronologischer Verlauf innerhalb der Sammlung zu erkennen. Sie reicht von Träumen des Kriegsausbruchs über die Bedrohung und Verfolgung durch die Wehrmacht, die Gestapo und Kollaborateure, die zunehmenden Deportationen und die erstarkende Résistance bis hin zu Träumen vom Kriegsende und von typischen Nachkriegsträumen, wie etwa demjenigen von der Rückkehr ins Lager. Während die Träume des Exils von Rudolf Leonhard und Paula Ludwig gänzlich ohne Kontextualisierung auskommen und Bogdan Bogdanović seine Träume zur ausführlichen Selbstdeutung und Selbstpositionierung nutzt, wendet Emil Szittya nochmals ein anderes Verfahren an, das dem der Traumprotokollierung von Charlotte Beradt ähnelt: Er versieht die Träume mit Titeln und situiert jeden Traum mittels einer einleitenden oder den Traumbericht rahmenden Passage. Hier werden der Träumer oder die Träumerin kurz charakterisiert, ohne deren Namen zu nennen (was besonders bei einem berühmten Kunsthistoriker oder einem frankophilen deutschen Schriftsteller zu Spekulationen geführt hat),95 der Kontext der Begegnung und Befragung wiedergegeben und zumeist auch die Reaktion der Träumenden auf die eigene Traumerzählung eingefügt. Diese Rahmungen des Autors wirken allerdings deutlich literarischer als die sachlichen Anmerkungen der Journalistin Beradt. Es handelt sich um regelrechte poetische Miniaturen, die in knappen Zügen anhand bestimmter Situationen und Ereignisse aus dem Leben der Träumerinnen und Träumer eine präzise Vorstellung von den jeweils Erzählenden vermitteln und deren Traumerlebnisse damit in einen schlaglichtartigen biographischen Gesamtzusammenhang einbetten. Zugleich grenzt sich Szittya ironisch von der womöglich durch seine Leserschaft bemerkten Nähe der Traumberichte zu literarischen Texten wie denen der Surrealisten oder Franz Kafkas ab, die wiederum für die Interpretation der von Beradt gesammelten Träume zentral sind: On pourrait même y trouver des rapports avec le surréalisme et le kafkaïsme. Tant mieux pour les collectionneurs de mystères. Tout cela ne me regarde pas. Je m’oppose à ces jeux. J’ai gardé volontairement ces rêves à l’état brut parce que je prétends que je n’ai pas le droit de les analyser ou de les expliquer. Je ne veux pas paraître juger ou critiquer cette tragique période de six années. J’essaye simplement de verser un document au dossier de l’histoire des mœurs.96 95 Vgl. Philippe Lançon: „ L’Occupation des rêves, sur les traces d’Emil Szittya“, in: Libération vom 8. Februar 2019 (https://next.liberation.fr/livres/2019/02/08/l-occupation-des-reves-surles-traces-d-emil-szittya_1708210), o. S. 96 Szittya: „Avertissement“, in: Szittya: 82 rêves, S. 21–22.

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Und wichtiger noch: Anders als bei Beradt – so zeigt bereits sein programmatisches Vorwort – verzichtet Emil Szittya explizit auf jedwede Deutung und eigene Kommentare. Was dieser über die Träume denkt, soll für die Texte, die er ganz für sich selbst sprechen lassen will, keine Rolle spielen. Diese deutliche Zurückhaltung lässt der Avantgardist, dessen eigene literarische Arbeiten im engen Kontext des Dadaismus entstehen, auch gegenüber der Psychoanalyse erkennen – eine weitere Gemeinsamkeit mit anderen Zeitgenossen, die sich für den Zusammenhang zwischen Traumerleben und historisch-politischem Zeitkontext interessieren:97 J’ai la manie presque maladive de ramasser des documents sur les différents aspects de la vie quotidienne. De 1939 à 1945, j’ai demandé à toutes sortes de gens, enfants, vieillards, ouvriers, paysans, intellectuels, quels rêves ils faisaient. Cette enquête indiscrète, qui n’était pas de psychanalyse, avait pour but de découvrir ce que pensaient les hommes de la guerre et de la Résistance pendant qu’ils dormaient. Les images que j’ai recueillies donnent une nouvelle sorte de roman de guerre. Les hommes furent logés pendant six ans dans une prison pleine d’odeurs puantes, et j’ai essayé d’ouvrir cette prison.98

Emmanuel Carrère hat nachgewiesen, dass auch Szittya – ganz ähnlich wie Leonhard – mit seinem Traumbuch auf eine öffentliche Anerkennung als Schriftsteller hofft.99 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Gattungsbezeichnung, die er für sein Projekt vornimmt, weil sie einiges über die Motivation der Traumbefragungen aussagt: Während der traditionelle Kriegsroman lediglich das Schicksal einzelner Figuren anhand von Ereignissen beleuchten könne und dabei diese Individuen stets als Helden konzipiere, so gelänge es dem Traumbuch als einer Form des besonders aktuellen Kriegsromans – diese Aktualität schreibt er der Gleichzeitigkeit von Erzählen, historischem Ereignis und der unmittelbaren Zeugenschaft zu –, einen Überblick über das innere Erleben durchschnittlicher Menschen einer gesamten Epoche zu liefern. Zudem könne das Buch einen Einblick in ein bislang unbekanntes Kapitel der Résistance bieten. Und in der Tat finden sich in der Sammlung auch zahlreiche Träume von Résistance-Mitgliedern und ihren Angehörigen.100 Darüber hinaus ist das Pro97 So verfasst Szittya etwa 1916 in Budapest einen Erzähltext, dessen Untertitel „Roman contre la psychanalyse“ lautet: Emil Szittya: Les films de haschich du Douanier Rousseau et de Tatiana Joukoff mélangent les cartes (un roman contre la psychanalyse). Vgl. auch Philippe Lançon: Sur les traces. Lançon hält es im Übrigen trotz der erst 1943 in den USA erfolgten Veröffentlichung des Beradt’schen Traummaterials für möglich, dass Szittya die Sammlung von Charlotte Beradt gekannt hat. Er vermutet einen Kontakt über das Ehepaar Chagall, mit dem beide auf der Flucht bzw. im Exil verkehrten. 98 Szittya: „Avertissement“, in: Szittya: 82 rêves, S. 20. 99 Emmanuel Carrère: „Préface“, in: Szittya: 82 rêves, S. 5–15, hier S. 14. 100 Szittya: „Avertissement“, Szittya: 82 rêves, S. 17–23, hier S. 20 und S. 22.

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jekt in intermedialer Dimension interessant: Als Maler und Kunstkritiker versteht Szittya die von ihm wiedergegebenen Träume als „peinture des rêves avec des images plus ou moins abstraites“;101 Philippe Lançon nennt sie „[q]uatrevingt-deux vignettes de l’humanité, du désastre, qui correspondent à son tempérament de peintre expressionniste“.102 In thematischer und motivischer Hinsicht bildet das Buch von Szittya eine bemerkenswerte Fortsetzung der Traumprotokolle von Charlotte Beradt. Denn aufgrund der fortgeschrittenen und zugespitzten historisch-politischen Situation und der Befragung von Träumenden jenseits der deutsch-französischen Grenze können sie als eine Art Radikalisierung der Träume aus dem ‚Dritten Reich‘ verstanden werden: Die Bedrohung wird sehr viel deutlicher wahrgenommen, militärische Aktionen wie Bombardierungen oder Verfolgung bzw. Vernichtung etwa durch Deportationen und Erschießungen, brechen direkt in die nächtlichen Traumwelten ein, der Widerstand spielt nachvollziehbarerweise eine ungleich größere Rolle als in Deutschland. Die Dimensionen der Shoah werden nicht, wie in einigen Träumen Beradts, in seismographischen Bildern erahnt, sondern finden konkret Eingang in das Traumerleben. Grenzen spielen aber auch hier eine entscheidende Rolle, und zwar in nationaler, seelischer und körperlicher Hinsicht. Insgesamt stechen in der Sammlung mehrere traumübergreifende Themen hervor – wobei offenbleiben muss, ob diese tatsächlich als repräsentativ für das Traumgeschehen während des Zweiten Weltkriegs gelten können, weil über die Auswahlkriterien, die Szittya der Veröffentlichung zugrunde legt, nichts bekannt ist. Auffällig ist jedenfalls die Häufigkeit, mit der die Träumerinnen und Träumer von ihren nächtlichen Ängsten um ihre Angehörigen berichten – sei es um kleine Kinder, die vor den Deutschen versteckt wurden, oder um Verwandte, die im Widerstand tätig bzw. als Soldaten der französischen Armee in den Krieg involviert sind. Darüber hinaus zeigt sich immer wieder, dass die im Wachleben sehr viel eindeutigeren Grenzen, etwa zwischen Franzosen und Deutschen, zwischen Résistance-Mitgliedern und Kollaborateuren sowie zwischen Zivilisten und Soldaten, im Traum ins Wanken geraten oder regelrecht eingerissen werden. So findet sich etwa ein Traum, in dem ein Unbekannter aus den eigenen Reihen Namenslisten für eine bevorstehende Deportation zusammenstellt und sich als Spion entpuppt.103 In einem anderen gerät ein Bürgermeister, der mit den Deutschen kollaboriert, in Verzweiflung, weil sein eigener Sohn vor lauter Angst, selbst als Jude deportiert zu werden, vor ihm davonläuft. Eine ähnliche Struktur weist auch der Traum auf, in dem ein heimlich Brot essender Träumer sich plötzlich in einen Cousin der Deutschen verwandelt („le cousin des 101 Szittya: 82 rêves, S. 19. 102 Lançon: Sur les traces, o. S. 103 Szittya: 82 rêves, S. 47.

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Fritz“104). In diesen Zusammenhang fällt auch jener „Le racisme“ überschriebene Traumbericht, in dem eine mit einem Juden verheiratete ‚Arierin‘ träumt, sie sei als Elfjährige mit einem Schwarzen vermählt worden, der durch ihre Schuld totgeschlagen wird. Repräsentativ für und sehr aussagekräftig im Hinblick auf die oftmals im Traum wahrgenommene Überlagerung von nationalen, topographischen und psychischen Grenzen scheint der „Les frontières“ betitelte Traum eines griechischen Schriftstellers. Er verlegt die Gräuel der Nationalsozialisten in ein Theater und verbindet eine seelische Grenzerfahrung – die Ohnmacht angesichts der bevorstehenden Hinrichtung der Ehefrau auf der Bühne – mit der Unmöglichkeit, die physische Distanz zu ihr zu überwinden, um sie zu retten: Die zwischen den beiden liegenden Zuschauerreihen werden plötzlich zu Landesgrenzen, die aufgrund strenger Kontrollen durch das bewachende Militär und fehlender Papiere nicht überschritten werden können: Je me trouvais dans un théâtre, naturellement. Je ne sais pas quelle pièce on y jouait. La scène ne comportait pas d’acteurs mais des bourreaux. Au milieu, un énorme bloc de pierre servait de billot sur lequel les bourreaux tranchaient les têtes avec des haches. Les plus habiles d’entre eux étaient nommés ministres. Tout à coup, on traîna ma femme sur scène pour la décapiter. Je hurlais, je voulais sauter moi aussi sur scène, mais à chaque rangée était la frontière d’un pays étranger et des douaniers militaires me demandaient mon passeport. À mon grand effroi, je m’aperçus que jamais je n’en avais possédé.105

War uns in den Traumnotaten von Charlotte Beradt bereits mehrfach die Ahasver-Motivik begegnet – die Träumer müssen auf ewig heimatlos durch die Welt irren –, so erfährt dieser Aspekt bei Szittya noch eine Steigerung. In zwei weiteren Publikationen hatte er, der viele Jahre seines Lebens offensichtlich als dandyhafter Vagabund verbringt und von den Zeitgenossen als umherirrender Clochard wahrgenommen wird,106 der Legende bereits eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.107 Insofern ist es kaum verwunderlich, dass er in seine Sammlung auch zwei Träume aufnimmt, in denen es um das Bild des wandernden Juden geht. Die Ahasver-Legende steht in einer langen antisemitischen Tradition und spielt im Nationalsozialismus eine besonders wichtige Rolle. Zum einen wird auf sie angespielt in „Un vieillard chassé à travers le monde“, einem Traum, in dem der von Ort zu Ort gehetzte Träumer schließlich vor Gott gelangt und ihn für das erlittene Unheil  – den Fluch, mit dem er belegt wurde  – anklagt (der Traumbericht ist 104 105 106 107

Szittya: 82 rêves, S. 205. Szittya: 82 rêves, S. 40. Vgl. Philippe Lançon: Sur les traces, o. S. Emil Szittya: Klaps oder Wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt, Potsdam: Gustav Kiepenheuer 1924 und Emil Szittya: Ahasver Traumreiter. Verstörung der Legende, Klagenfurt: Wieser 1991.

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nicht zuletzt auch deshalb bemerkenswert, weil der Träumer den Eindruck hat, an zwei Träumen zugleich teilzuhaben).108 Zum anderen nennt der Träumende aus „Un philosophe juif“ ausdrücklich „la légende des vagabonds éternels“, in der sich die Wurzel all „unserer“ Sünden verberge. Diese Legende scheint es zu sein, die den Träumer während der Befreiung daran hindert, tatsächlich in die Freiheit zu gelangen: Er sitzt in einem Taxi, das ihn in seine Zukunft fahren soll, strandet jedoch an einem unüberwindlichen Fluss aus Tränen, die dem Ghetto entstammen, bevor der Taxifahrer ihn zwingt, auszusteigen, weil sein Ziel zu weit entfernt sei.109 Durchgehend weist die Sammlung auch Träume von einem gescheiterten Heldentum auf. Mit seiner Aussage, dass die Traumerzählungen seines Buches die Kriegssituation offensichtlich realistischer wiederzugeben imstande seien als Kriegsromane, die sich an der traditionellen Heldenkonzeption orientieren, scheint Emil Szittya also recht zu behalten. Während die Träumer in der Wachwelt eigentlich nach außen hin bewundernswerte Kämpfer, aufrechte Widerständler oder schützende Familienväter abgeben wollen, werden sie des Nachts oft von anderen Traumgestalten gedemütigt, sie empfinden große Scham angesichts ihres Verhalten und nässen sich – im Traum oder auch in der Wachwirklichkeit – ein.110 Szittyas Sammlung enthält zudem eine ganze Serie an Hungerträumen.111 Besonders ungewöhnlich, und in seiner positiven Qualität und Wirkung geradezu an die KZ-Träume von Jean Cayrol erinnernd (vgl. Kapitel II), ist ein Traum, der einen in Drancy inhaftierten Träumer immer wieder ereilt und der ihn – seiner eigenen Aussage nach – über das Lagerelend hinwegtröstet: Während er in der Wachwirklichkeit vor süßen Nudeln Ekel und Abscheu empfindet, träumt er jede Nacht wieder von Neuem, dass ihm ein appetitlich angerichteter, niemals leer werdender Teller gezuckerter Nudeln vorgesetzt wird, die er genüsslich verspeist.112 Eine Frau bezeichnet einen ihrer Träume sogar als Grund für ihr Überleben im Lager: Als sie während eines stundenlangen Appells zusammenzubrechen droht, erlebt sie in einem Tagtraum, dass ihr der Vater süße Marmelade in den Mund träufelt und sie damit zu neuer Stärke zurückfindet.113 Ein weiterer, geradezu ‚poetischer Hungertraum‘ handelt davon, dass sich der Träumer selbst zunächst in einen Gemüsegarten und anschließend in einen enormen Schinken verwandelt, was für ihn mit einem tiefen Glücksgefühl verbunden ist.114 108 109 110 111 112 113 114

Szittya: 82 rêves, S. 101–103. Szittya: 82 rêves, S. 231–232. Szittya: 82 rêves, S. 59. Vgl. auch S. 127, S. 143 und S. 211. Vgl. neben vielen anderen Szittya: 82 rêves, S. 105, S. 162, S. 173, S. 193, S. 198, S. 202 und S. 225. Szittya: 82 rêves, S. 57–58. Szittya: 82 rêves, S. 167. Szittya: 82 rêves, S. 170.

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Überhaupt sind Träume zahlreich vertreten, in denen sich der Körper der Träumenden, sei es durch Hunger, sei es aus Angst oder einem Schutzbedürfnis heraus, auf groteske Weise verwandelt: Der Bauch einer Schulinspektorin, die sich vorgenommen hat, niemals mehr Nahrung zu sich zu nehmen, als sie ihren Schützlingen geben kann, beginnt plötzlich zu sprechen. Ein Redner hat sein Manuskript in einer Schachtel im Inneren seines Kopfes versteckt, das Herz einer anderen Träumerin bläht sich über die Maßen auf und verliert all sein Blut. Eine Mutter nimmt mit einem Mal ein Loch in ihren Füßen wahr, in dem sie versucht, ihren gefährdeten Sohn zu verstecken, der Mund eines vor Angst singenden Kindes wird von der Gestapo zugesperrt. Im Spiegel erkennt ein Träumer, wie sein Körper langsam zerbröselt, ein anderer stellt fest, dass sein Kopf in Stücke bricht, um letztendlich ganz zu verschwinden. Eine Frau wiederum träumt, wie ihr Leib von innen durch ein Reptil ausgehöhlt wird und schließlich zu Staub zerfällt.115 Viele der Träume prägen auch das Wachleben der erzählenden Personen auf nachhaltige Weise. Dies zeigt sich im Bereich der Hungerträume etwa daran, dass sich der Träumer von der niemals zur Neige gehenden Nudelmahlzeit im Lager den ganzen Tag über auf den Moment des Einschlafens freut, weil er sich sicher ist, denselben Traum immer wieder träumen zu dürfen – eine Hoffnung, die offensichtlich nicht enttäuscht wird. Ein anderer Traum von Nahrung im Lager wiederum endet damit, dass sich die Träumerin im Traum selbst bewusst wird, ihr Gemüse so rasch wie möglich essen zu müssen, damit sie sich beim Aufwachen endlich satt fühlen kann.116 Was gegenüber den anderen bisher genannten Sammlungen ins Auge sticht, sind außerdem zahlreiche Träume von Kindern, bei denen es sich ebenfalls oftmals um Hungerträume oder Träume von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten handelt.117 Hervorzuheben ist zudem, dass Szittyas Auswahl nicht nur besonders viele Träume von Frauen umfasst, sondern dass diese immer wieder auch Situationen und Themen zur Sprache bringen, die als spezifisch weibliche gelten können. Eine solche Geschlechterspezifik erstreckt sich etwa vom Traum eines sich beängstigend ausdehnenden Bauchs, der Unbekanntes in sich birgt, über einen Abtreibungstraum oder Träume von Prostitution und einer Vergewaltigung bis hin zum Traum einer der vielen Frauen, denen man nach Kriegsende zur öffentlichen Demütigung die Haare geschoren hat, weil ihnen Kontakt zu deutschen Soldaten nachgesagt wurde.118 Im Hinblick auf das geäußerte Traumwissen innerhalb der Sammlung scheint bemerkenswert, dass gleich mehrere der Träumer davon berichten, inwiefern 115 116 117 118

Szittya: 82 rêves, S. 31, S. 63, S. 170, S. 231, S. 249, S. 268, S. 283. Szittya: 82 rêves, S. 218. Vgl. Szittya: 82 rêves, S. 72, S. 86, S. 122, S. 188 und S. 190. Vgl. Szittya: 82 rêves, S. 108–109, S. 165, S. 209, S. 249 und S. 283.

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sich ihr Traumerleben mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges grundlegend gewandelt habe. Während sie ansonsten kaum träumten oder sich nicht an ihre Träume erinnerten, erlebten sie, so ihre Aussagen, ihre aktuellen Traumerfahrungen nun als besonders häufig und als besonders intensiv.119 Selbst jener Träumer, der zu Beginn seines Berichtes Freuds Traumdeutung kritisiert („l’explication des rêves de Freud, c’est de la charlatanerie“120) und behauptet, Träume seien allein durch schlechte Nahrung oder andere Leibreize motiviert, erzählt einen eindrücklichen Angsttraum, der in eindeutigem Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg steht. Er selbst setzt ihn zu der quälenden Situation in Beziehung, seinen kleinen Sohn vor der Wehrmacht im Süden des Landes versteckt zu haben, ohne zu wissen, wie es ihm geht. Ein anderer Träumer, ein polnischer Jude auf der Flucht, dessen Töchter bei einem Bombenangriff getötet wurden, ängstigt sich allabendlich aufs Neue vor dem Einschlafen, weil er fürchtet, den ermordeten Kindern im Traum zu begegnen.121 Diese Angst vor den eigenen Träumen scheint ein verbreitetes Phänomen der Zeit zu sein, wie auch andere Berichte eindrücklich zeigen.122 Abschließend sollen aus Emil Szittyas Traumbuch exemplarisch drei Träume näher betrachtet werden, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lagererfahrung stehen: Sie werden im Lager selbst geträumt und stehen auf je unterschiedliche, stets jedoch irritierende Weise mit der Wirklichkeit außerhalb des Lagers in enger Beziehung. Eine Überlebende aus Auschwitz wird von Szittya nach den Bedingungen ihrer Haft gefragt. Über ihre Zeit im Konzentrationslager weigert sie sich zu sprechen. Einzig von ihren Traumerfahrungen während der Internierung berichtet sie: Während ihrer Haft habe sie, die sich auf der Flucht vor den Deutschen von ihrem Ehemann trennen musste und denunziert wurde, einen Traum gehabt, der sie während ihrer gesamten Zeit der Haft verfolgt und beschäftigt: Am 6.  Februar 1943 träumt sie, dass ihr Ehemann beim Verteilen kommunistischer Flugblätter verhaftet worden und in einem Keller zu Tode geprügelt worden sei. Im Traum habe sie hysterisch geschrien und sei davon aufgewacht. Nachdem sie 1945 nach Paris zurückgekehrt sei, habe sie, so erzählt sie, herausgefunden, dass ihr Mann eben an jenem 6. Februar tatsächlich von der SS ermordet worden sei.123 Ein deutscher Schriftsteller, der von 1939 bis 1943 in einem französischen Konzentrationslager interniert ist, hat all seine Hoffnung auf ein menschenwürdiges Weiterleben nach dem Krieg verloren. Der Schmerz über den Verlust des geliebten Frankreichs, das ihm eine neue Heimat hätte werden sollen, kann 119 120 121 122 123

Vgl. u. a. Szittya: 82 rêves, S. 124. Szittya: 82 rêves, S. 30. Szittya: 82 rêves, S. 68. Vgl. etwa auch Szittya: 82 rêves, S. 81. Szittya: 82 rêves, S. 216–217.

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auch nicht durch die Aussicht auf eine Ausreise über Marseille nach Mexiko kompensiert werden, obwohl er bereits im Besitz einer Fahrkarte und eines Transitvisums ist. Auf dem Weg nach Amerika bringt er sich um, indem er vom fahrenden Zug springt, der ihn nach Marseille hätte bringen sollen. Kurz nach seiner Flucht aus dem Konzentrationslager erzählt er Emil Szittya folgenden Traum, den er noch innerhalb des Lagers träumte: J’étais enfin libre. J’étais étonné de l’existence des rues et des bistrots. Je suis entré dans un bistrot. Je vis qu’il y avait des chaises et des tables, sans savoir à quoi elles servaient. Je suis sorti rapidement. Tout ce que je voyais m’était inconnu.124

Nicht erst nach der Befreiung kommt dem Schriftsteller seine Existenz also unwirklich und sinnlos vor; träumend erscheint ihm bereits im Lager das Leben nach der Haft wie eine unbekannte Welt, in der die gewöhnlichen Dinge des Alltags ihre Selbstverständlichkeit verloren, keinen Zweck und keinen Sinn mehr haben. Dass eine solche Erfahrung von zahlreichen Überlebenden geteilt wird, wird uns im Laufe dieses Buches noch intensiver beschäftigen (z. B. in Kapitel X). Der Traum „Retour d’Auschwitz“ beinhaltet eine ganz ähnliche Erfahrung. Er ist eingebettet in die Aussage der Träumerin, sich im Lager massiv gegen ihre Träume gewehrt zu haben, um möglichst viel ungestörten Schlaf zu finden. Erst als sie keine Kraft für diese Abwehr mehr hat, erlebt sie im Traum ihre eigene Befreiung: J’étais libéré et une sentinelle de nuit me donna par vengeance, parce que je vivais encore, un miroir. Je ne savais plus ce que c’était, je pensais qu’on pouvait le manger. Je le pris et voulus l’avaler, et je vis un spectre s’y refléter. Je fus tellement effrayé que je jetai le miroir. La sentinelle nazie me disait : ‚Le cochon qui te gardait, c’était toi-même.‘ On nous poussa dans une voiture et j’avais peur d’y rentrer. On nous donna des sucreries à manger, mais j’avais peur d’y toucher, parce que je craignais que les sentinelles n’y fussent cachées. Nous traversâmes un paysage plein d’arbres. J’avais l’impression de n’en avoir jamais vu. J’entendis sonner des cloches gaiement, et je ne compris pas pourquoi elles étaient si joyeuses.125

Hier wird die Befreiung also nicht als Rückkehr in die Normalität oder als Freiheit von den auferlegten Qualen des Lagers erlebt, sondern im Gegenteil: Der Wachtposten bestraft die Träumerin noch zusätzlich dafür, dass sie überlebt hat. Ihr Spiegelbild zeigt ihr ein erschreckendes Gespenst, eine Wiedergängerin – und damit ein Bild, das von vielen Überlebenden nach der tatsächlichen Rückkehr aus dem Lager verwendet wird, um ihre Erfahrungen zu beschreiben 124 Szittya: 82 rêves, S. 251–252. 125 Szittya: 82 rêves, S. 255–256.

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Traumnotate zwischen Politik und Poetik

(vgl. Kapitel X). Mit seiner Aussage, sie habe sich selbst gefangen gehalten, weist die Wache der Träumenden gar die Schuld an ihrer eigenen Inhaftierung zu. Gleich in zweifacher Weise ist in diesem Traum also die Schuld eines ShoahOpfers thematisiert – ein abgründiger Gefühlszustand, der, wie wir aus der Holocaust-Forschung und nicht zuletzt aus zahlreichen (Traum-)Berichten von Überlebenden wissen, tatsächlich dem vieler Shoah-Traumatisierter entspricht (vgl. Kapitel XIV). Die Befreiung wird als ein Unglück oder eine Chimäre erlebt: Sie wirkt trügerisch (in den Süßigkeiten könnten sich erneut Wachposten versteckt haben, der Spiegel wird für ein Nahrungsmittel gehalten) und gänzlich fremd bzw. befremdlich. Eine baumbewachsene Landschaft, so der Eindruck der Träumerin, habe sie niemals zuvor wahrgenommen, und der Tatsache, dass die Kirchenglocken fröhlich vor sich hinläuten, steht sie völlig verständnislos gegenüber. Dass solche Träume von einer gescheiterten Befreiung, der Freiheit als Illusion oder der verhinderten Rückkehr nach Hause von zahlreichen anderen KZ-Häftlingen geteilt werden, ist Gegenstand des folgenden Kapitels (vgl. Kapitel IV). Träume, die gewissermaßen komplementär zu einer solchen Erfahrung stehen, in denen nämlich nicht im Lager von einer trügerischen Befreiung geträumt wird, sondern die tatsächliche Befreiung aus dem Lager wie ein Traum oder Trugbild erscheint und stattdessen die geträumte Rückkehr ins Lager zur einzig ‚realistischen‘ Wirklichkeitserfahrung wird, werden uns in den Konzentrationslagerträumen von Primo Levi, Anna Langfus, Charlotte Delbo und vielen anderen begegnen und eingehender beschäftigen (vgl. Kapitel X). Halten wir abschließend fest: Die protokollierten Träume mit ihrer Nähe zu literarisch-ästhetischen Formen und ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generieren, so hat sich gezeigt, ein spezifisches Wissen über Totalitarismus, Verfolgung, Flucht und Lagererfahrung, das kaum eine andere Textsorte in dieser schillernden Vieldeutigkeit bietet. Damit haben die Traumsammlungen von Beradt, Leonhard, Szittya u. a. nicht nur, wie Reinhart Koselleck feststellt, Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird.126 Sie erlangen auch eine herausragende Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten; etwa den gegenwärtigen Diskussionen um die gesellschaftlichen Funktionen von Literatur und anderen Künsten (vgl. Kapitel XIV). Innerhalb dieses Kontextes liefern die untersuchten Traumnotate besonders eindrückliche Aufschlüsse über das poetische wie politische Potenzial des Träumens zur Erschließung historischer Wirklichkeit; insofern nämlich, als sich der Traum als erzählte Erfahrung stets auf der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation bewegt. 126 Vgl. Kosellecks Nachwort in Beradt: Drittes Reich, S. 117–132, hier S. 126.

IV. Träumen im Lager: Robert Antelme, Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún und Anna Langfus

Autobiographische Lagerträume Gegenstand der vorangegangenen Kapitel waren in erster Linie Traumerinnerungen, deren Aufzeichnung von Dritten unternommen wurde. Sie können daher nur wenig als Ausdruck einer subjektiven, autobiographisch beglaubigten Shoah-Erfahrung gelten und haben dementsprechend auch keine dezidiert literarische Ausgestaltung erfahren. Demgegenüber soll es in diesem Kapitel nun um Träume während der Lagerhaft gehen, die von Überlebenden in die Form eines autobiographischen Textes überführt werden. Im Rahmen solcher literarischen Autobiographie-Projekte kommt den ästhetischen Traumdarstellungen eine entscheidende Funktion bei dem Versuch zu, die eigenen Erfahrungen der Shoah zu artikulieren und zu vermitteln. Anhand der Träume im Konzentrationslager, die in den autobiographischen Schriften von Robert Antelme, Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún und Anna Langfus wiedergegeben werden, möchte ich daher fragen, inwiefern hier die Traumerfahrung genutzt wird, um der Notwendigkeit des Erzählens gerecht zu werden und zugleich die Grenzen des Darstellbaren vor Augen zu führen. Denn ein zentrales Thema in sämtlichen Texten ist das Dilemma, als Überlebende sprechen zu wollen, sich zum Sprechen verpflichtet zu fühlen (der berühmte Dialog zwischen Elie Wiesel und Jorge Semprún über diese Verpflichtung trägt den Titel Se taire est impossible1), jedoch erleben zu müssen, dass die Worte für diese Erfahrung fehlen, die Erzählung also zu einem aporetischen Projekt wird. Mit diesem ästhetisch gestalteten Ringen um Worte in autobiographischen Texten, die nach ihrer anfangs durchaus problematischen Rezeption heute unbestritten eine der wichtigsten Zugangsmöglichkeiten zu unserem Wissen über die Shoah darstellen, ist zugleich die These von der ‚Unsagbarkeit‘ der Shoah widerlegt; ein Topos, der, wie von

1

Elie Wiesel/Jorge Semprún: Se taire est impossible, Paris: Gallimard 1995.

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vielen anderen,2 etwa in den differenzierten Studien von Annette Wieviorka und Philippe Mesnard problematisiert wird.3 Robert Antelme, der seine Lagererfahrungen als Häftling in Buchenwald bzw. im Außenlager Gandersheim als einer der Ersten zu einem dezidiert literarischen Werk verarbeitet, schreibt beispielsweise im Vorwort zu L’espèce humaine von 1947: […] nous éprouvions un désir frénétique de la dire telle quelle [notre expérience]. Et dès les premiers jours cependant, il nous paraissait impossible de combler la distance que nous découvrions entre le langage dont nous disposions et cette expérience que, pour la plupart, nous étions encore en train de poursuivre dans notre corps. […] A peine commencions-nous à raconter, que nous suffoquions.4

Neben dem grundsätzlichen Versagen der Sprache für die Vermittlung der erlittenen Erfahrungen berichtet Antelme ferner von der unüberwindlichen und erzählerisch kaum zu vermittelnden Kluft, die sich diesseits und jenseits des Stacheldrahts auftut, ebenso wie innerhalb des Lagers zwischen der Sprache der SS und derjenigen der Häftlinge, selbst wenn sie alle „les mêmes mots“, „les mêmes noms“ verwenden.5 Ähnlich formuliert es auch Elie Wiesel: What we suffered has no place within language: it is somewhere beyond life and history. We all knew that we could never say what had to be said, that we could never express in words – coherent, intelligible words – our experience of madness on an absolute scale […]. All words seemed inadequate, worn, foolish, lifeless, whereas I wanted them to sear.6

Auch Primo Levi muss in seinem Auschwitz-Bericht von 1947, der zu den bekanntesten Texten der Shoah-Literatur überhaupt gehört, feststellen, dass die Worte in Auschwitz nicht mit denjenigen außerhalb des Lagers in Übereinstimmung zu bringen sind, weil sie die traumatischen Erlebnisse nicht adäquat auszudrücken vermögen:

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Zu den wichtigsten zählt etwa der Ansatz von Giorgio Agamben, der im folgenden Kapitel präsentiert wird. Vgl. Annette Wieviorka: Déportation et génocide. Entre la mémoire et l’oubli, Paris: Plon 1992 und Philippe Mesnard: Témoignage en résistance, Paris: Stock 2007. Robert Antelme: L’espèce humaine, Paris: Gallimard 1957, S. 9. Antelme: L’espèce humaine, S. 53. Vgl. auch Joë Friedemann: Langages du désastre. Robert Antelme, André Schwarz-Bart, Anna Langfus, Jorge Semprún, Elie Wiesel, Saint-Genouph: Nizet 2007, S. 55. Elie Wiesel: From the Kingdom of Memory. Reminiscences, New York: Summit Books 1990, S. 33 und S. 14 (die Zitate stammen aus den Kurztexten „To Believe or Not to Believe“ und „Why I Write“).

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Come questa nostra fame non è la sensazione di chi ha saltato un pasto, così il nostro modo di aver freddo esigerebbe un nome particolare. Noi diciamo ‚fame‘, diciamo ‚stanchezza‘, ‚paura‘, e ‚dolore‘, diciamo ‚inverno‘, e sono altre cose. Sono parole libere, create e usate da uomini liberi che vivevano, godendo e soffrendo nelle loro case. Se i Lager fossero durati più a lungo, un nuovo aspro linguaggio sarebbe nato.7

Gleichwohl hält es Primo Levi für seine Pflicht, zu sprechen; eine Pflicht, der man sich trotz aller Widerstände nicht entziehen könne: „comunicare si può e si deve […]. Negare che comunicare si può è falso: si può sempre. Rifiutare di comunicare è colpa.“8 Dieses Dilemma wird auch von Jorge Semprún in seiner sehr viel später entstandenen Autobiographie L’écriture ou la vie [1994] zur Sprache gebracht. Hier stehen eben die Schwierigkeiten des autobiographischen Schreibprojektes selbst im Zentrum der Auseinandersetzung (vgl. Kapitel X) – wobei der Autor die Perspektive vom Sprechenden hin zu den Zuhörenden verschiebt: Pourtant, un doute me vient sur la possibilité de raconteur. Non pas que l’expérience vécue soit indicible. Elle a été invivable, ce qui est autre chose, on le comprendra aisément. […] On peut tout dire de cette expérience. Il suffit d’y penser, s’y mettre.  […] Mais peut-on tout entendre, tout imaginer  ? Le pourra-ton ? […] Le doute me vient, dès ce premier instant, cette première rencontre avec des hommes d’avant, du dehors – venus de la vie […].9

Im dritten Band ihrer Auschwitz-Trilogie findet Charlotte Delbo eben für diese Sprachlosigkeit, das Versagen der Worte gegenüber der eigenen Erfahrung ebenso wie gegenüber den Nicht-Deportierten, eine ganz eigene ästhetische Form: vous demandez des choses simples la faim la peur la mort et nous ne savons pas répondre nous ne savons pas répondre avec vos mots à vous et nos mots à nous vous ne les comprenez pas […] vous ne croyez pas ce que nous disons parce que si c’était vrai ce que nous disons nous ne serions pas là pour le dire.10 7 8 9 10

Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 110. Primo Levi: I sommersi e i salvati, Torino: Einaudi 1986, S. 68f. Jorge Semprún: L’écriture ou la vie, Paris: Gallimard 1994, S. 24–25. Charlotte Delbo: Mesure de nos jours, Paris: Gallimard 1971, S. 77–78.

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In der sprachlichen Kombination mehrerer Parallelismen und Chiasmen zu einem lyrischen Textgebilde bringt Delbo hier eine Aporie zum Ausdruck, die sich für viele Überlebende im Motiv eines stummen Schreis oder eines schreienden Schweigens äußert.11 So verwendet etwa Elie Wiesel das Bild des in der Brust eingeschlossenen Schreis, um seine Sprachlosigkeit angesichts der erlittenen Erfahrungen zu formulieren: „Le cri le plus profond est celui qu’on retient enfermé dans sa poitrine.“12 Die jüdisch-polnische Autorin Anna Langfus, die als einzige ihrer Familie die Shoah überlebt und als eine der Ersten gelten kann, die ihre Erlebnisse während der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in eine dezidiert romanhafte Form überführt, beschreibt den Bruch zwischen Erfahrung, Zeugnis und Literatur anhand des Schreis, der sich in Worten nicht wiedergeben lasse, folgendermaßen: Au-delà d’un certain degré d’horreur, il devient difficile de se faire entendre. […] Le lecteur ne pardonne pas à la fiction ce qu’il admet dans la réalité. La réalité a droit au mauvais goût. La fiction, non. C’est une étrange entreprise que de confier à l’ordre raisonnable des mots le soin de traduire la confusion qui nous entoure […]. Où sont les cris que l’oreille perçoit […], où est la présence de la mort ? Un critique dans un accès de lyrisme, peut écrire : ce roman, ce poème est un cri … Non bien sûr. Un cri ne s’exprime pas. Il n’y a pas de cris dans un livre. Il y a des mots. L’horreur a son propre langage et la voix de l’homme sera toujours trop faible pour la rendre. Souvent le cri ne peut être traduit que par le silence.13

An einem „Wörterdelirium“ zu ersticken; sprechen zu müssen, ohne sprechen zu können; das ist die Aporie, die auch Sarah Kofman in Paroles suffoquées artikuliert.14 In diesem Essay versucht sie, wie so viele andere,15 eine Sprache für die 11

Sarah Kofman schreibt in Paroles suffoquées: „Le silence comme un cri sans mots; muet pourtant criant sans fin.“ Vgl. Sarah Kofman: Paroles suffoquées, Paris: Galilée 1987, S. 17. 12 Elie Wiesel: Un désir fou de danser, Paris: Seuil 2006, S. 63. 13 Anna Langfus: „Un cri ne s’exprime pas“, in: Les Nouveaux Cahiers 115 (1993–1994), S. 42–48. Vgl. auch Joë Friedemann: Langages du désastre. Robert Antelme, Anna Langfus, André Schwarz-Bart, Jorge Semprún, Elie Wiesel, Saint-Genouph: Nizet 2007, S. 111–114. 14 „Comment parler, alors qu’on éprouve un ‚désir frénétique‘ de dire, tâche impossible, telle quelle, cette expérience, de tout expliquer à l’autre, que l’on est en proie à un délire de paroles, et qu’en même temps il vous est impossible de parler ? Impossible, sans suffoquer.“ Vgl. Sarah Kofman: Paroles suffoquées, S. 45. 15 Vgl. etwa James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation, Bloomington/London: Indiana University Press 1988 und Lawrence L. Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven: Yale University Press 1991, um die beiden nach wie vor repräsentativsten Ansätze zu nennen, die sich mit diesem Problem aus theoretischer Perspektive auseinandersetzen. Zur Traumthematik bei Langer vgl. Kapitel V. Zur Kritik an der ‚Unsagbarkeit der Shoah‘, vgl. neben Giorgio Agamben (vgl. ebenfalls Kapitel V) auch Georges Didi-Huberman: Images malgré tout, Paris: Minuit 2003, v. a. S. 29–44.

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Erfahrungen der Shoah zu finden. In der Auseinandersetzung vor allem mit Robert Antelmes L’espèce humaine, aber auch mit den Schriften von Maurice Blanchot16 und nicht zuletzt mit ihrer eigenen Geschichte als HolocaustÜberlebende,17 denkt sie über die physische Unmöglichkeit zu sprechen nach; über Worte, die einem den Atem nehmen und die Möglichkeit verhindern, überhaupt zum Sprechen anzusetzen. Das „Unaufhörlich-sprechen-Müssen“, das sich mit „unwiderstehlicher Gewalt aufdrängt“, steht einem „Ersticktwerden“ durch die erlittenen Erfahrungen unvermittelbar gegenüber.18 Diese Sprachlosigkeit fasst Kofman mit Blanchot in das Bild eines „Schweigens – wie ein Schrei ohne Worte, stumm, aber unaufhörlich schreiend“.19 Für Kofman, die sich besonders intensiv mit den Bedingungen des Sprechens im Lager auseinandersetzt, ist es unhaltbar, über die Shoah in Form einer klassischen Erzählung zu kommunizieren.20 Die Grenzerfahrung unendlicher Bedürftigkeit, sagt sie, kann nicht mitgeteilt werden, ohne zu täuschen oder einem Trugbild aufzusitzen: Comment donc raconter ce qui ne peut sans leurre être ‚communiqué‘ ? Ce qui manque – ou a trop – de mots pour être dit, et pas seulement parce que ‚l’expérience limite‘ du dénuement infini, comme toute autre expérience, ne saurait être transmise ?21

Sprechen ließe sich über die Erfahrungen der Shoah allenfalls in einer schwachen oder ohnmächtigen Sprache („sans pouvoir“), die darauf verzichtet, sich das Ereignis anzueignen oder es beherrschen zu wollen.22 Gleichwohl existie16 Maurice Blanchot: Le pas au-delà, Paris: Gallimard 1973, Maurice Blanchot: La folie du jour, Paris: Fata Morgana 1973 und vor allem „L’Idylle“, in: Maurice Blanchot: Après coup, Paris: Minuit 1983. 17 „Parce qu’il était juif, mon père est mort à Auschwitz : comment ne pas le dire ? Et comment le dire.“ Kofman: Paroles suffoquées, S. 15–16. 18 „[…] un étrange double bind : une revendication infinie de parler, un devoir parler à l’infini, s’imposant avec une force irrépressible – et une impossibilité quasi physique de parler : une suffocation; une parole nouée, exigée et interdite, parce que trop longtemps rentrée, arrêtée, restée dans la gorge et qui vous fait étouffer, perdre respiration, vous asphyxie, vous ôte la possibilité même de commencer.“ Kofman: Paroles suffoquées, S. 46. 19 „Le silence comme un cri sans mots ; muet pourtant criant sans fin.“ Kofman: Paroles suffoquées, S. 17. Kofman formuliert dies angesichts der neutralen, pathoslosen Gedächtnisschrift von Serge Klarsfeld (von der ein Ausschnitt in Paroles suffoquées eingefügt ist) und in Auseinandersetzung mit einem Blanchot-Zitat aus Blanchot: Le pas au-delà, S. 87. 20 „Sur Auschwitz, et après Auschwitz, pas de récit possible, si par récit l’on entend : raconter une histoire d’événements, faisant sens.“ Kofman: Paroles suffoquées, S. 21. 21 Kofman: Paroles suffoquées, S. 45. 22 Kofman: Paroles suffoquées, S. 16. Interessanterweise erzählt Sarah Kofman in ihrem letzten Buch einen eigenen Traum, um dem Verlust des in Auschwitz ermordeten Vaters in einer ‚ohnmächtigen Sprache‘ Ausdruck zu verleihen. Der Vater erscheint ihr als ein Betrunkener, der im Zickzack durch die Straße irrt. Vgl. Sarah Kofman: Rue Ordener, rue Labat, Paris: Galilée 1994, S. 18.

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ren freilich zahlreiche Versuche, eben eine solche Unmöglichkeit des Sprechens erzählend zu inszenieren. Diesen scheinbaren Widerspruch bringt Naomi Mandel in ihrem Buch Against the Unspeakable folgendermaßen auf den Punkt: „There is, after all, a distinction between the inability of language to adequately convey experience […] and the rhetorical evocation of that inability.“23 Zu ergänzen wäre, dass auch eine historische bzw. historiographische Perspektive sich des Repräsentationsproblems meist sehr bewusst ist. Saul Friedländer etwa verbindet mit seinen Forschungen zur Judenverfolgung und Judenvernichtung die unlösbare Aufgabe, den Ermordeten eine Stimme zu verleihen, was ihm zufolge auch die Geschichtswissenschaft an ihre eigenen Grenzen führe. Interessanterweise macht auch er dieses Problem an der Stimme bzw. am nicht mehr hörbaren Schrei der Opfer fest: Gerade die „unerwarteten Schreie und geflüsterten Worte“, die „Unmittelbarkeit des Schreies eines Zeugen“ seien es, die die „gut geschützte“ emotionale Distanz des Historikers und seiner Öffentlichkeit erschüttern.24 Was also viele Auseinandersetzungen mit der Shoah eint, ist ein Ringen mit Worten, das sich stets zwischen den Extremen eines Verstummens auf der einen und geschwätziger Trivialisierung auf der anderen Seite bewegt. Wie sich das ‚Undarstellbare‘ in einzelnen literarischen Texten über die Shoah als körperlich spürbare Traumerfahrung niederschlägt, und wie ein solcher Zustand literarisch anhand der Grenzen des menschlichen Körpers gestaltet wird – nämlich durch die Konzentration auf bestimmte körperliche und sinnliche Wahrnehmungen auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod –, ist das Thema dieses Kapitels. Mit Judith Klein gehe ich davon aus, dass [Träume] einen Gegenstand erinnerbar und lesbar [machen], der sich der Darstellung entzieht. Sie drücken in wenigen Bildern eine Vielzahl von Gedanken, Gefühlen, Ängsten oder Wünschen aus und verknüpfen die individuelle Biographie mit dem politischen Geschehen. Die Gewalt der Verfolgung stellen sie in subjektiver Form dar, indem sie sie in die Revolte des gemarterten Körpers überset23 Naomi Mandel: Against the Unspeakable. Complicity, the Holocaust, and Slavery in America, Charlottesville/London: University of Virginia Press 2006, S. 11. Zum Problem der ‚Unsagbarkeit‘, vgl. neben vielen anderen auch Dominick LaCapra: Representing the Holocaust. History, Theory, Trauma, Ithaca/London: Cornell University Press 2014 und Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust, Cambridge: Polity Press 1989. 24 Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Vernichtung 1933–1945, Bd. 2, München: Beck 2006, S. 24–25. Zum Repräsentationsproblem insgesamt, vgl. Saul Friedländer (Hrsg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ‚Final Solution‘, Cambridge: Havard University Press 1992. Dass es sich hierbei nicht nur um eine Kontroverse zwischen biographischer Nähe oder Distanz zur Shoah handelt, sondern auch um einen Unterschied zwischen literarischen und philosophischen Positionen, betont Jürg Altwegg: „Schreiben nach – und über – Auschwitz. Vorwort zur ersten deutschen Ausgabe“, in: Sarah Kofman: Erstickte Worte, Wien: Passagen 1988, S. 12–22, hier S. 21.

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zen. In den autobiographischen Zeugnissen entspringen die Traumberichte nicht nur dem Prozess des Erinnerns, sie stützen und fördern oder ersetzen ihn auch.25

Primo Levis Träume im Lager In den autobiographischen Texten von Primo Levi, allen voran in Se questo è un uomo [1947], La tregua [1963] und I sommersi e i salvati [1986], sind Traumdarstellungen von entscheidender Bedeutung für den Versuch, die Lagererfahrung zu artikulieren und zu vermitteln. Se questo è un uomo entsteht direkt im Anschluss an die Befreiung von Auschwitz, bevor das Manuskript, nach zweifacher Ablehnung durch den Turiner Verlag Einaudi, schließlich 1947 erstmals bei Francesco Da Silva publiziert wird.26 Das Buch erzählt von der Deportation Levis in das Konzentrationslager Auschwitz III (Auschwitz-Monowitz) und seinem Überlebenskampf während der elfmonatigen Internierung. Die 17 Kapitel des Textes geben in chronologischer Reihenfolge die Verhaftung des Erzählers am 13. Dezember 1943, die Deportation in das Durchgangslager Fossoli, den Weitertransport im Viehwagon nach Auschwitz, den Einsatz als Zwangsarbeiter im Chemielabor der Buna-Werke von Auschwitz-Monowitz, die Erkrankung des Erzählers an Scharlach, seine Verlegung in den Krankenbau von Auschwitz und die Befreiung des KZ durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 wieder. Über die Vermittlung der persönlichen Erfahrungen hinaus ist der Bericht eine scharfsichtige Analyse des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates: Es geht um die einzelnen Stationen der Entmenschlichung, die Logik des Lageralltags und der Zwangsarbeit, die Prinzipien der Selektion und die begrenzten individuellen Möglichkeiten, die Überlebenschancen zu erhöhen. Festgehalten werden

25 Judith Klein: „‚An unseren Schläfen perlt die Angst.‘ Traumberichte in literarischen Werken über das Grauen der Ghettos“, in: Psyche 45/6 (1991), S. 506–521, hier S. 507. 26 Primo Levi überarbeitet und ergänzt in den darauffolgenden zehn Jahren zusammen mit seiner Ehefrau Luisa Morpurgo das Manuskript grundlegend, beispielsweise durch das bekannte dritte Kapitel „Iniziazione“. Diese Fassung ersetzt u. a., wie Ian Thomson gezeigt hat, zahlreiche reale durch fiktive Namen, schafft durch Verallgemeinerungen und Versachlichungen eine größere Distanz zum Geschehen und verzichtet noch konsequenter auf Emotionen und Pathos. Vgl. Ian Thomson: „Writing If This Is a Man“, in: Joseph Farell (Hrsg.): Primo Levi. The Austere Humanist, Oxford: Lang 2004, S. 141–160. Seitdem die Neuauflage, mit einem Vorwort von Italo Calvino versehen, 1958 schließlich doch bei Einaudi erschienen ist, zählt das Buch zu den Klassikern der Weltliteratur und den meistgelesenen Texten über die Shoah. Vgl. Christoph Miething: „Primo Levi: Se questo è un uomo“, in: Manfred Lentzen (Hrsg.): Italienische Erzählungen des 20.  Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 141–160, hier S. 149.

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zudem eindrückliche Gesten der Solidarität und der Mitmenschlichkeit in der Erinnerung an einzelne Häftlinge. Das fünfte Kapitel, „Le nostre notti“, handelt ausführlich von den Bedingungen des Schlafs in den KZ-Baracken und von den Träumen der Inhaftierten.27 Wie fast immer in den Texten Levis, so kommt dem Traum auch hier die Funktion zu, „di costituire un passaggio, fittizio, della barriera tra Lager e vita normale, tra vita normale e Lager“.28 Das Kapitel beginnt mit der Rückführung des Erzählers vom Krankenbau in die Baracke und beschreibt zunächst das Elend der abendlichen Lagersituation kurz vor dem Einschlafen. Die zusammengepferchten Mithäftlinge erscheinen dem erzählenden Ich als fragmentierte Gliedmaßen, welche sich in den Körper des Erzählers bohren. Zentrale Themen des Kapitels sind die Unmöglichkeit, in den Schlaf zu finden, und das ständige nächtliche Hochschrecken im Wissen darum, dass der Terror im Morgengrauen unerbittlich fortgesetzt wird. Der hieran anschließende Bericht über die nächtlichen Träume im Lager wird begleitet von einer allgemeinen Reflexion des Erzählers über das Träumen unter den Bedingungen der Deportation. Levi beendet sein Kapitel mit der Beschreibung der Panik, die sich jeden Morgen nach dem Befehl zum Aufstehen („alzarsi“/„wstawać“) ausbreitet.29 Damit entsteht zugleich eine Verbindung zu Levis La tregua, seinem Bericht über die Rückkehr nach der Befreiung des Lagers nach Turin: nämlich zu dessen Eingangsgedicht „Alzarsi“ und zum abschließend erzählten Alptraum, der durch diesen Befehl beendet wird und der somit auch den Schluss dieses gesamten Werks bildet (vgl. Kapitel VI und X).30 Der Erzähler aus Se questo è un uomo beschreibt nach einigen einführenden Überlegungen über die entwürdigenden Rituale und prekären Bedingungen des Schlafens im Konzentrationslager, wie sich im Moment des Einschlafens meh27 Gemessen am Umfang der Forschung zu Primo Levi, wird den Traumdarstellungen v. a. in Se questo è un uomo vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ausnahmen bilden Cesare Segre: „I sogni“, in: Cesare Segre: „Auschwitz, orribile laboratorio sociale“. Nachwort in: Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 179–199, hier S. 195–196, und Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin: De Gruyter 2016, v. a. S. 84–96. 28 Cesare Segre: I sogni, S. 195. 29 Primo Levi: Se questo, S. 56. 30 Levis komplexe Verbindung aus Träumen im Lager und Träumen vom Lager wird detailliert aus einer literaturwissenschaftlich-psychoanalytischen Perspektive analysiert von Judith Kasper: Der traumatisierte Raum, bes. S. 84–96 (vgl. Kapitel X). Maria Teresa De Palma, die sich ebenfalls eingehend den Verflechtungen des Traumgeschehens im Werk Primo Levis widmet, ergänzt die Traumpassagen aus Levis Hauptwerken durch zahlreiche weitere, weniger bekannte Texte des Autors, insbesondere seine Lyrik und Interviews. Vgl. Maria Teresa De Palma: ‚Mi sono alzato, sono ricaduto/Nel fondo dove il secolo è il minuto‘. Rêve et onirisme dans la littérature de témoignage (Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún). DPhil thesis Università de Bologna 2017 (http://amsdottorato.unibo.it/7864/1/De_Palma_Maria_Teresa_tesi. pdf), v. a. S. 308–310, S. 348–350 und S. 387–416.

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rere Bewusstseinszustände überlagern. Die Geräusche der rangierenden Züge kennzeichnen den schrittweisen Übergang vom Wach- in den Schlafzustand: Allora io mi adatto a giacere così, costretto all’immobilità, per metà sulla sponda di legno. Tuttavia, sono così stanco e stordito che in breve scivolo anch’io nel sonno, e mi pare di dormire sui binari del treno. Il treno sta per arrivare: si sente ansare la locomotiva, la quale è il mio vicino. Non sono ancora tanto addormentato da non accorgermi della duplice natura della locomotiva. Si tratta precisamente di quella locomotiva che rimorchiava oggi in Buna i vagoni che ci hanno fatto scaricare: la riconosco dal fatto che anche ora, come quando è passata vicina da noi, si sente il calore che irradia dal suo fianco nero. Soffia, è sempre più vicina, è sempre sul punto di essermi addosso, e invece non arriva mai. Il mio sonno è molto sottile, è un velo, se voglio lo lacero. Lo farò, voglio lacerarlo, così potrò togliermi dai binari. Ecco, ho voluto, e ora sono sveglio: ma non proprio sveglio, soltanto un po’ di più, al gradino superiore della scala fra l’incoscienza e la coscienza. Ho gli occhi chiusi, e non li voglio aprire per non lasciar fuggire il sonno, ma posso percepire i rumori: questo fischio lontano sono sicuro che è vero, non viene dalla locomotiva sognata, è risuonato oggettivamente […]. Questo fischio è una cosa importante, e in qualche modo essenziale: così sovente l’abbiamo udito, associato alla sofferenza del lavoro e del campo, che ne è divenuto il simbolo, e ne evoca direttamente la rappresentazione come accade per certe musiche e certi odori. Qui c’è la mia sorella, e qualche mio amico non precisato, e molta altra gente. Tutti mi stanno ascoltando, e io sto raccontando proprio questo: il fischio su tre note, il letto duro, il mio vicino che io vorrei spostare, ma ho paura di svegliarlo perché à più forte di me. Racconto anche diffusamente della nostra fame, et del controllo dei pidocchi, e del Kapo che mi ha percosso sul naso e poi ma ha mandato a lavarmi perché sanguinavo. È un godimento intenso, fisico, inesprimibile, essere nella mia casa, fra persone amiche, e avere tante cose da raccontare: ma non posso non accorgermi che i miei ascoltatori non mi seguono. Anzi, essi sono del tutto indifferenti: parlano confusamente d’altro fra di loro, come se io non ci fossi. Mia sorella mi guarda, si alza e se ne va senza far parola.31

Durch die harte Holzpritsche stellt sich für das allmählich wegdämmernde Ich zunächst der Eindruck ein, auf Eisenbahnschienen zu schlafen. Das ferne Pfeifen des Zuges stammt von den tatsächlichen Güterzügen, die das Lager BunaMonowitz durchqueren und die der Träumer tagsüber beladen muss. Es handelt sich also um einen Tagesrest, der zugleich ein (un-)mögliches Jenseits des Lagers vor Augen führt: Obwohl das Signal der Lokomotive kontinuierlich lauter wird, der Zug somit immer näherkommt, erreicht er niemals die Baracke, um den Träumenden einsteigen zu lassen und zu befreien. Der Erzähler befindet sich in diesem Augenblick in einem Schwebezustand zwischen Wachen und Schlafen: Er ist sich der „zweifachen Natur“ der Lokomotive bewusst und seiner 31 Primo Levi: Se questo, S. 53.

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eigenen schwankenden Wahrnehmung, die zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein oszilliert. Mit erheblicher Anstrengung versucht der Träumer, sich selbst in seinem Traumzustand zu belassen, das Aufwachen zu verhindern, um nicht wahrhaben zu müssen, dass die unmittelbar bevorstehende Rettung durch den einfahrenden Zug nur geträumt war. Wie es sich auch ganz ähnlich bei Robert Antelme zeigen wird, so haben wir es hier mit einem Traum von der gescheiterten Flucht zu tun; einem Traum von der verhinderten Heimkehr. Besonders auffällig ist an dieser Traumdarstellung die sinnliche Wahrnehmung der Geräusche durch das erzählende Ich. Innerhalb wie außerhalb des Traums ist das Pfeifen der Lokomotive derart tief in den Körper des Häftlings eingedrungen, dass es – wie die Proust’sche mémoire involontaire, doch mit umgekehrter Bewertung – unwillkürlich die Lagerwirklichkeit in all ihrem Leid und Schrecken evoziert. Der Zug, der den Häftling hätte retten können, wird zu einem Bild für die Unausweichlichkeit des Lagers. Das durchdringende Pfeifen repräsentiert für den Erzähler – der die anderen Häftlinge geradezu programmatisch mit in seine Erzählung hineinnimmt – das gesamte Lagerelend: „ne è divenuto il simbolo“. Der Bericht fährt damit fort, dass dem Erzähler im Traum Schwester und Freunde erscheinen. Der Träumer wird sofort von einem existenziellen Bedürfnis heimgesucht, ihnen seine Lagererfahrungen zu kommunizieren. Das, was der Träumer tagsüber erlebt und innerhalb des vorliegenden Berichts bereits erzählt hat, führt er sich im Traum nochmals einzeln vor Augen, um es den Angehörigen detailliert mitteilen zu können. Sobald er jedoch versucht, das Erlebte auszusprechen, führen die Zuhörenden das Gespräch untereinander fort, als sei er gar nicht vorhanden; sie blicken den Erzählenden gleichgültig an, glauben ihm nicht oder wenden sich ab. Die Angst, die den Träumer daraufhin befällt, ist derart unerträglich  – sie wird mit den schlimmsten Fieberträumen der Kindheit verglichen  –, dass er sich zwingt aufzuwachen. Doch die Panik lässt sich nicht abschütteln, sie überträgt sich vielmehr auch auf den Wachzustand. Damit zeigt sich, dass das Erwachen aus einem Alptraum im Lager dem Ich keinerlei Erleichterung verschafft; die Ängste aus dem Traum setzen sich in der Wachwirklichkeit fort und brechen sich auch hier ungehindert Bahn. In den Traumbericht selbst webt der Erzähler sodann eine Traumreflexion ein: Er erinnert sich daran, dass dieser Traum ihn immer wieder von Neuem heimsucht, es sich also um einen wiederkehrenden Alptraum handelt. Als der nun vollständig erwachte Träumer anschließend seine Mithäftlinge beim Schlafen beobachtet, meint er aufgrund ihres Stöhnens und ihrer Kaubewegungen allenthalben Hungerträume erkennen zu können. Er schließt daher einen persönlichen Traumbericht von Nahrungsmitteln an, die sich dem hungernden Träumer immer wieder entziehen, sobald er nach ihnen greift. Auch dieser Traum wird mit geradezu gewaltsamer sinnlicher Konkretheit in Szene gesetzt:

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Non si vedono soltanto i cibi, ma si sentono in mano, distinti e concreti, ne se percepisce l’odore ricco e violento, qualcuno ce li avvicina fino a toccare le labbra, poi una qualche circostanza, ogni volta diversa, fa sì che l’atto non vada a compimento. Allora il sogno si disfa e si scinde neo suoi elementi, ma si ricompone subito dopo, e ricomincia simile e mutato: e questo senza tregua, per ognuno di noi, per ogni notte e per tutta la durata del sonno.32

Durch die Parallelismen und die Klimax seines Berichts macht der Erzähler besonders das Moment der Vervielfältigung deutlich, das dieser Alptraum mit sich bringt: Er affiziert den gesamten Körper, lässt ihn die Erschütterung der sich entziehenden Nahrung jede Nacht nicht nur einmal, sondern immer wieder aufs Neue erleben und sucht jeden der Häftlinge einzeln heim.33 Auch Levi selbst vervielfältigt im Übrigen seine Traumberichte, indem er sie, zum Teil systematisierend und resümierend, an anderer Stelle wieder anführt. So schreibt er etwa über den Traum vom verhinderten Erzählen in I sommersi e i salvati: Quasi tutti i reduci, voce o nelle loro memorie scritte, ricordano un sogno che ricorreva spesso nelle notti di prigionia, vario nei particolari ma unico nella sostanza: di essere tornati a casa, di raccontare con passione e sollievo le loro sofferenze passate rivolgendosi ad una persona cara, e di non essere creduti, anzi, neppure ascoltati. Nella forma piú tipica (e piú crudele), l’interlocutore si voltava e se ne andava in silenzio.34

Gegen Ende des Kapitels aus Se questo è un uomo fährt der Erzähler mit einer Beschreibung des halluzinatorischen Dämmerzustands fort, in dem sich die Internierten nachts die meiste Zeit über befinden. Dieser Zustand setzt sich zusammen aus wiederkehrenden Traumerlebnissen und den Bildern des Lageralltags, die zu einem dichten Gewebe aus monströsen Alpträumen verflochten werden: Il sogno di Tantalo e il sogno del racconto si inseriscono in un tessuto di immagini più indistinte: la sofferenza del giorno, composta di fame, percosse, freddo, fatica,

32 Primo Levi: Se questo, S. 54. 33 Ein Beispiel für einen Hungertraum liefert auch der autobiographische Bericht von Benedikt Friedman: „Ich schlief, dicht an meinen Nachbarn gedrängt, aus Platzmangel und weil es grimmig kalt war. Ich träumte von Brot. Nicht von Fleisch, nicht von Leckerbissen, nur von Brot, von einer großen, altbackenen Bauernbrotschnitte, die man lange kaute und die den Magen füllte. […] Ich konnte bei Nacht nicht schlafen, der Hunger plagte mich, ließ keine Sekunde nach. Ich war todmüde, ich nickte schließlich ein und träumte von Brot, nur von Brot.“ Benedikt Friedman: Ich träumte von Brot und Büchern. Zornige Erinnerungen eines jüdischen Österreichers, Wien: Promedia 1992, S. 68. 34 Primo Levi: I sommersi e i salvati, Torino: Einaudi 1986, S. 3–4.

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paura e promiscuità, si volge di notte in incubi informi di inaudita violenza, quali nella vita libera occorrono solo nelle notti di febbre.35

Da selbst dieser Halbschlaf unablässig vom bevorstehenden Befehl zum Aufstehen bedroht wird, gelingt es den Träumenden weder, sich vor den Alpträumen zu schützen, noch Schlaf und Traum gegen die tatsächlichen Qualen des anbrechenden Tages abzuschotten. Durch den Befehl „wstawać“36 geht der Text schließlich abrupt vom traumähnlichen Zustand, also von der subjektiven Innensicht des Träumers, in das sachlich und objektiv rekonstruierte Chaos der Baracke anlässlich des Morgenappells über. Halten wir vorerst fest: Das fünfte Kapitel aus Levis Bericht nähert sich auf verschiedenen Ebenen dem Phänomen des Lagertraums an. Zunächst einmal ist bemerkenswert, dass wir durch diesen Textabschnitt überhaupt einen detaillierten Einblick in die qualvollen Bedingungen des Schlafens im Konzentrationslager erhalten, das eher ein Delirium als tatsächlichen Schlaf darstellt. Hierin ähnelt der Text der Autobiographie von Robert Antelme – und auch zum ersten Band der Auschwitz-Trilogie von Charlotte Delbo werden sich zahlreiche Parallelen ergeben. Darüber hinaus entsteht hier eine komplexe Verbindung aus individuellen und kollektiven Traumerzählungen. Die beiden erzählten Träume sind zunächst einmal persönliche Traumerfahrungen des autobiographischen Ich. Sie übersteigen das singuläre Erleben jedoch gleich in zweifacher Hinsicht: Zum einen handelt es sich um stets wiederkehrende, sich in zahllosen Variationen ereignende Alpträume. Zum anderen stellt der Erzähler ausdrücklich fest, dass auch viele seiner Mithäftlinge, ja womöglich alle („forse tutti“), von denselben Träumen heimgesucht werden; dass es sich mithin bei dem Erzählten um kollektive Traumphänomene handelt. Nicht erst rückblickend, sondern bereits im Lager selbst findet also, wie auch schon die Traumsammlung von Jean Cayrol deutlich gemacht hat (vgl. Kapitel II), eine Kommunikation über das nächtlich Geträumte statt, das sodann einer gemeinsamen Reflexion unterzogen wird. Levis Bericht hält sowohl klar markierte Schlaf-Träume als auch halluzinatorische Eindrücke fest und analysiert sehr präzise diese unterschiedlichen Bewusstseinszustände bzw. den oftmals kaum merklichen Übergang von einem Zustand in den anderen. Insgesamt ist jedoch keine eindeutige Trennung zwischen Traum und Wachwelt auszumachen: Das Erleben der Inhaftierten bewegt sich auf der Grenze zwischen Traum, Delirium, Erinnerung, Agonie und Klarsichtigkeit über die ausweglose Situation. Für die eigentlichen, eindeutig als Schlafträume markierten Alpträume präsentiert der Erzähler im Wesentlichen drei Themenkomplexe kollektiver Träume, die uns auch in anderen Texten begegnen werden: den Traum vom ver35 Primo Levi: Se questo, S. 55. 36 Primo Levi: Se questo, S. 56.

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wehrten Essen, den Traum von der gescheiterten Rückkehr und den Traum vom verhinderten Erzählen. Dies geschieht in einer Kombination aus zusammenfassender Rekonstruktion des Trauminhaltes, seiner Kontextualisierung innerhalb der konkreten Lagerrealität und verschiedenen Erklärungsansätzen zum Phänomen des Lagertraums insgesamt. Die Struktur dieser Träume analysiert der Erzähler selbst: Die Hungerträume verweben sich mit den immer wiederkehrenden Träumen von der Nicht-Kommunizierbarkeit des Lagers zu einem größeren Netz aus verschiedensten Eindrücken des zurückliegenden Tages.37 Der Bericht verfährt dabei in expliziter Anlehnung an die griechische Mythologie („il sogno di Tantalo“38): Die Träumer erleben Hunger und Durst wie der von den Göttern in die Unterwelt verstoßene Tantalos.39 Auch für diesen sind die köstlichsten Früchte und kühles Wasser zum Greifen nahe, bevor sie sich verflüchtigen oder in schwarzen Sand verwandeln. Und ebenso wie die mythische Gestalt zusätzlich durch einen über ihr schwebenden Felsblock bedroht wird, der jeden Moment herabstürzen kann, werden auch die Inhaftierten von der ständigen Angst um ihre unmittelbare Ermordung gequält. Über dieses Beispiel hinaus, finden sich in Se questo è un uomo zahlreiche weitere intertextuelle Verweise, mit denen oftmals die grundlegende Bedeutung von Literatur und Imagination für die Wahrnehmung der Wirklichkeit ausgelotet wird. Besonders der Versuch, das Erlebte vor dem Hintergrund des „Inferno“ aus Dantes Commedia zu verstehen, wurde bereits umfassend erforscht und in zahlreichen weiteren Texten der Shoah-Literatur wieder aufgenommen.40 Darüber hinaus aber thematisiert Levi, wie Lawrence Langer als einer der ersten Literaturwissenschaftler erkannt hat, in Se questo è un uomo auch die Frage nach der grundsätzlichen Rolle von Träumen bei der Vermittlung und Verarbeitung des Genozids.41 In diesem Zusammenhang erörtert er zu Beginn des Traumkapitels die positiven Funktionen des Träumens – allerdings in allgemeinen, unpersönlichen Formulierungen. Auch unter extremen Bedingungen sei der Mensch fähig, sich im Schlaf einen Schlupfwinkel zu erschaffen („scavarsi una nicchia“42) und eine dünne Schutzwand rings um sich zu errichten („eri37 Auch Elie Wiesel bringt in seinem autobiographischen Roman La nuit das quälende Bedürfnis zu essen in einen direkten Zusammenhang mit Traum und Halluzination. Vgl. Elie Wiesel: La nuit [1958], Paris: Minuit 2007, S. 196. 38 Primo Levi: Se questo, S. 55. 39 Maria Teresa De Palma betont die gesteigerte sinnliche Intensität der Traumwahrnehmung („la qualité sensorielle, à la fois visuelle, tactile et olfactive“), gerade wenn es um die TantalosTräume im Lager geht. De Palma: Rêve et onirisme, S. 348. 40 Etwa bei Ruth Klüger, Peter Weiss, Jorge Semprún oder Imre Kertész. Vgl. Thomas Taterka: Dante Deutsch. Studien zur Lagerliteratur, Berlin: Erich Schmidt 1999. 41 Vgl. seine Passagen zum Traum im Werk von Primo Levi in Lawrence Langer: The Holocaust and the Literary Imagination, New Haven/London: Yale University Press 1975, S. 49–52. 42 Primo Levi: Se questo, S. 50.

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gersi intorno una tenue barriera di difesa“43). Der Traum bilde letztlich eine Möglichkeit, das Trauma zu verarbeiten: Man hat sich ein Nest gebaut, das Trauma der gewaltsamen Verpflanzung sei überwunden.44 Allerdings lassen sich die individuellen und kollektiven Traumberichte des Kapitels, die sehr viel mehr Raum einnehmen als die einführenden, allgemeinen Überlegungen, kaum mit diesen Thesen in Übereinstimmung bringen; ja sie werden durch den Fortgang der Erzählung geradezu widerlegt. Hatte der Erzähler anfangs noch betont, dass sich Traum und Schlaf in gewissem Maße beeinflussen ließen, steht am Ende die Vergeblichkeit im Vordergrund, den Schlaf vor Pein und Alpdruck bewahren zu können. Die „geschilderten Träume […] dementieren und demontieren die eingangs formulierte Reizschutztheorie“, wie Judith Kasper überzeugend feststellt.45 Der Traum vom verwehrten Erzählen weist zudem eine paradoxe meta-literarische Dimension auf: Denn der immer wiederkehrende Alptraum, dass das Berichtete nicht gehört oder nicht geglaubt wird, macht schließlich auch die tatsächliche, nachträgliche Erzählung, die Levi seinen Leserinnen und Lesern präsentiert, prekär, wenn nicht gar unmöglich. Das Erzählen, das endlich Erleichterung verschaffen soll, wird durch den Traum immer weiter hinausgeschoben.46 Die Abgründigkeit dieser verstörenden Erfahrung lotet vor allem Levis zweiter Bericht La tregua aus, der diese Problematik wieder aufnimmt und weiterführt (vgl. Kapitel VI und X).

Robert Antelmes Träume im Lager In Levis Auschwitz-Bericht fiel auf, dass neben den Traumerlebnissen selbst auch immer wieder die Bedingungen des Schlafens im Lager zum Thema gemacht werden.47 Dies ist in den Autobiographien von Antelme, Delbo und Semprún ebenso der Fall. Bereits Jean Cayrol hatte davon gesprochen hatte, dass Träume im Lager gefährlich sein können  – insbesondere derjenige von der 43 44 45 46 47

Primo Levi: Se questo, S. 50. „Ci si è fatto un nido, il trauma del travasamento è superato.“ Primo Levi: Se questo, S. 50. Judith Kasper: Der traumatisierte Raum, S. 85. Judith Kasper: Der traumatisierte Raum, S. 86. Dies lässt sich übrigens auch für die Traum-Berichte der KZ-Überlebenden feststellen, die Zenon Jagoda u. a. in den Auschwitz-Heften des Hamburger Instituts für Sozialforschung herausgegeben haben (vgl. Kapitel I). Vgl. Zenon Jagoda/Stanisław Kłodziński/Jan Masłowski: „‚Die Nächte gehörten uns nicht‘. Häftlingsträume in Auschwitz und im Leben danach“, in: Die Auschwitz-Hefte, Bd.  2. Hrsg. vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Weinheim: Beltz 1987, S. 189–239, hier v. a. S. 194–195.

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Rückkehr nach Hause, der die Träumenden entweder erheblich schwächt oder bereits ihren bevorstehenden Tod ankündigt (vgl. Kapitel II). Auch Robert Antelme, der als Résistance-Mitglied im Sommer 1944 verhaftet und nach der Inhaftierung in einem Gefängnis der Gestapo nach Buchenwald deportiert bzw. anschließend nach Gandersheim, in eines seiner Außenlager, verbracht wird, hat ausdrücklich das Risiko des Träumens formuliert. Es besteht in erster Linie darin, über nicht genügend Kraft für die beim Aufwachen erforderliche Anpassungsleistung an die Lagerwirklichkeit zu verfügen: „[I]l va falloir ne rien imaginer, ne rien rêver, il va falloir bien savoir que nous sommes ici absolument, que, sur chacun de nos jours, le SS règne, le savoir jusqu’à la dernière minute.“48 Dennoch werden in dem autobiographischen Bericht Antelmes, der sich so früh, detailliert und intensiv wie kaum ein anderer Shoah-Text mit dem Verhältnis der Häftlinge zur SS, mit ihren wechselseitigen Blicken und Gesten, mit Formen der Erniedrigung, Entindividualisierung und Entmenschlichung auseinandersetzt,49 auch mehrere Träume erzählt. Relativ zu Beginn des Buches findet sich ein Traum von einer verhinderten Flucht aus dem Lager. Wie die Auseinandersetzung mit Primo Levi bereits gezeigt hat und durch weitere autobiographische Traumberichte noch deutlich wird, kann er als ein typischer Konzentrationslagertraum gelten. Antelme beschreibt zunächst ausführlich den Kontext dieses Traumerlebnisses: Tag und Nacht ist im Lager der Flugzeuglärm der Alliierten zu hören, die ihre Bomben über Deutschland abwerfen. Zum einen empfinden Gefangene wie SS-Mitglieder gleichermaßen Angst, bei einem solchen Angriff getroffen zu werden. Zum anderen stellt Antelme auch eine wesentliche Differenz in der Reaktion auf den Fluglärm fest: Die ängstlichen Blicke der SS, die die Häftlinge so gut wie möglich auskosten, weil sie für einen Moment die Eindeutigkeit des Machtgefüges ins Wanken bringen, deutet er dahingehend, dass sie, die den Nationalsozialisten bislang als ‚Untermenschen‘ gelten, in ihren Augen nun plötzlich als Feinde wahr- und ernstgenommen werden. Die akustische Präsenz der Flugzeuge bewirkt, dass sich das erzählende Ich nun weniger aufgegeben oder 48 Antelme: L’espèce humaine, S.  46–47. Nach Annika Nickenig stellt die neorealistische Schreibweise von Robert Antelme eine Art Überlebensstrategie dar. Vgl. Nickenig: Arrach[é], S. 292. Ähnliches konstatiert auch Benedikt Friedman, als galizischer Jude aus Lemberg in ein Arbeitslager deportiert, in seinen Zornigen Erinnerungen eines jüdischen Österreichers: „Der Schlaf stellte sich nicht ein. Die Gehirnzellen spiegelten mir Szenen aus der Kindheit und der Schulzeit vor, angenehme und weniger angenehme. Ich war mir bewußt, daß ich träumte, daß es Wunschträume waren. Ich war mir bewußt, daß ich ein Wrack war, außerstande, mich dem Zugriff der Häscher zu entziehen. Ich war mir bewußt, daß ich unvermeidlich dem Tod ausgeliefert war. So wartete ich ergeben auf den Tod.“ Benedikt Friedman: Ich träumte von Brot und Büchern. Zornige Erinnerungen eines jüdischen Österreichers, Wien: Promedia 1992, S. 87. 49 Zum Publikations- und Rezeptionskontext, vgl. ausführlicher Joë Friedemann: Langages du désastre, S. 16–19.

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verlassen fühlt.50 Mit diesem Eindruck schläft der Erzähler ein, wobei der Übergang zwischen den im Wachzustand wahrgenommenen Flugzeugen, von denen er sich ausrechnet, dass sie bald zurückkehren müssten, und dem eigentlichen Traumerlebnis abrupt durch die Ankündigung „le rêve:“ erfolgt. Mélodie de ce bruit dans la nuit. C’est calme, c’est long. On est sous leur toit. Et ça commence : il y a une heure ils étaient là-bas, dans une heure ils y seront revenus. Le rêve : un avion atterrit dans le pré, il nous prend à son bord, on s’envole ; deux heures après, je sonne à ma porte. Il serait deux heures du matin. A deux heures du matin, tout à l’heure, heure à laquelle je serai ici, je pourrais être là-bas. Plusieurs fois dans la nuit, on s’arrange de ces calculs. On s’accroche à tout ce qui abolit la distance, à tout ce qui indique qu’elle est franchissable, que l’on n’est pas vraiment dans un autre monde : cinq jours à pied, on est en Hollande, huit jours à pied, à Cologne. Par le parcours avec mes jambes, d’une distance, par la simple marche à pied, tel que je suis ici, en plus ou moins de temps, je peux encore devenir celui qui, à deux heures du matin, aurait sonné à sa porte si l’avion l’avait emporté. Il y a des possibilités infinies. Il n’est même pas nécessaire de franchir des kilomètres. Là, derrière les barbelés, quelques pas et je suis sur la route. […] Il n’y a rien d’impossible puisque je sais que l’ouest existe, et je sais où je veux aller. Mais dans le même instant que je sais cela, je sais aussi qu’au réveil cet équilibre entre le possible et l’impossible sera rompu. Seulement, en ce moment, je ne sais pas si c’est au réveil ou maintenant qu’on a raison. Mon pouvoir retrouvé dans la nuit s’évanouira au réveil. La route ne sera plus que la route qui conduit à l’usine  ; l’ouest sera le petit bois qui la domine, le reste sera effacé. […] c’est plutôt cela, au réveil, qui me ferait croire que nous sommes fous. Parce que ce qui est, est ; ce que nous sommes, nous le sommes ; et l’un et l’autre est impossible.51

Die Flugzeuge sind also in das Traumerleben des Erzählers übergegangen und stellen hier eine Aussicht auf Rettung dar: Eines der Flugzeuge landet und nimmt den Träumer mit. Zwei Stunden später klingelt der Träumer bereits an seiner eigenen Haustür. Wie er die Distanz bis dorthin überwindet, bleibt offen; die Eigenheiten des Traumerlebens machen es möglich, das Vergehen der Zeit zu wissen, ohne es zu erleben. Bis hierhin wird die Rettung durchgehend im Präsens erzählt, als eine Tatsache, die belegt, dass das Unmögliche wahr geworden ist. In den nächsten Sätzen wechseln allerdings Tempus und Modus: Mit dem Konditional wird das Erleben nun ein Stück weit entwirklicht, es stellt sich eine Distanz zwischen Träumer und Geträumtem ein; das Bewusstsein zu träumen ist bereits bis in den Traum hinein vorgedrungen. Das Ich erlebt den Traum nun nicht mehr als etwas Unmittelbares, es stellt sich jetzt nur noch vor, wie es nach Hause gelangt. Schließlich stellt es in einer Art luzider Traumreflexion innerhalb des Traumes (oder womöglich auch in einem kurzen Moment des Wachbewusstseins) fest, dass ähnliche Zeitrechnungen und Überlegungen zur 50 Antelme: L’espèce humaine, S. 73. 51 Antelme: L’espèce humaine, S. 73–74.

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Überwindung der geographischen Distanz zwischen Lager und Zuhause immer wieder angestellt werden. Dies betrifft offensichtlich nicht nur das erzählende Ich selbst – Judith Klein spricht von einem „wiederkehrenden Sehnsuchtstraum, der archetypische Bilder von Befreiung enthält“52 –, sondern auch andere Träumer im Lager.53 Das von Antelme im gesamten Text so exzessiv verwendete „on“ bringt die Vernichtung der eigenen Individualität zum Ausdruck, schließt zugleich aber auch die gesamte Gruppe der Häftlinge in die Betrachtung mit ein. In der anschließenden Reflexion, in der, wie auch Annika Nickenig feststellt, bereits „Traumtext und erste Ansätze zu einer Interpretation zusammenlaufen“,54 verdoppelt sich der Träumende sodann; mehr noch, er kann diese onirische Verdopplung auch als solche benennen: Er ist derjenige, der im Lager gefangen gehalten wird, und gleichzeitig derjenige, der ihm entkommen und lebend nach Hause gelangt ist. Wir haben es hier also mit einem Fluchttraum zu tun, der zugleich gelingt und scheitert. Den schmerzhaften Übergang zurück in die Wachwelt nimmt der Erzähler bereits im Traum vorweg: In einer parallelistischen Reihung von Formulierungen im Futur verwandelt sich die Traumwelt zurück in die Lagerwirklichkeit. Schritt für Schritt wird die Grenzenlosigkeit der Traumerfahrung von den Grenzen des Lagers eingeholt, der Weg nach Hause durch das Fabrikgebäude versperrt, die ersehnte Weite nach Westen durch den Wald begrenzt. Die Traumwelt löst sich auf, verpufft  – und eben dieses Gefühl der Entrealisierung, das Umkippen, durch welches das Ich zurück in die Wachwelt katapultiert wird, ist es, woran der Träumer  – das weiß er noch träumend, bereits vor dem Erwachen – wahnsinnig zu werden droht. Die im Traum erlebte Fähigkeit, an mehreren Stellen gleichzeitig zu sein, im Lager und zu Hause, entpuppt sich als Illusion. Die Parallelen zum Zugtraum bei Primo Levi sind offensichtlich: In beiden Fällen sind es herannahende Verkehrsmittel, deren Geräusche auch den tatsächlichen Lageralltag durchdringen, welche zum Bild für die ersehnte Befreiung werden. Und in ganz ähnlicher Weise dringt in beiden Traumschilderungen, kurz bevor die Rettung gelingt, die Lagerwirklichkeit schrittweise in das Traum-

52 Klein: An unseren Schläfen, S. 509. 53 Eine ähnliche Passage findet sich etwa auch bei David Rousset, der in seinem Bericht Les jours de notre mort anlässlich der am Himmel auftauchenden Flugzeuge den Wunschtraum eines seiner Mithäftlinge wiedergibt: „Bon Dieu, me dit quelqu’un, si on pouvait avoir une échelle pour grimper là-haut.“ David Rousset: Les jours de notre mort, Paris: Pluriel 2012, S. 346. 54 Annika Nickenig: „‚Arrach[é] au rêve de la vie‘. Häftlingsträume und Lagertrauma in literarischen Texten über die Shoah (Levi, Antelme, Semprún)“, in: Susanne Goumegou/Marie Guthmüller (Hrsg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 285–299, hier S. 291.

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bewusstsein der Schläfer ein oder überlagert dieses so, dass zwei Bewusstseinszustände zugleich denselben Wirklichkeitsstatus erlangen. Auch ein anderer Lagertraum aus L’espèce humaine erweist sich als eine Desillusionierung der Rückkehr. Eingebettet wird seine Wiedergabe in eine Situation des abendlichen Dahindämmerns: Nachdem die karge Brotration verspeist ist, kauert sich der Erzähler in eine Ecke, versucht seine Hände zu wärmen und versinkt zunehmend in sich selbst. Hier wird der Beginn des Traums, anders als im vorangegangenen Beispiel, nicht ausdrücklich markiert. Der Übergang in die Traumwelt vollzieht sich vielmehr schrittweise: Je mehr der Erzähler die Außenwelt ausblendet, desto deutlicher taucht vor seinen Augen das Gesicht Ms auf – vermutlich Antelmes damalige Frau Marguerite Duras. Er erinnert sich an „làbas“, an sein Zuhause, sowie an das Glück darüber, dass man dort das Wort an ihn persönlich richtet und er sich leicht und frei bewegen kann, „comme plongé dans un milieu délicieux“.55 Im darauffolgenden Absatz wird diese Vorstellung fortgeführt, jedoch wechselt plötzlich die Perspektive, das Ich nimmt sich selbst nun nur noch von hinten wahr und beobachtet die Szene aus der Distanz: Je ne me vois que de dos là-bas, toujours le dos. Et elle rit. Elle rit, mais ce n’est pas comme ça, je ne crois pas qu’elle riait comme ça. Quel est ce nouveau rire de M … ? C’est celui d’une femelle de l’usine que je reconnais. Je la vois et elle rit toujours. Ou c’est René qui rit comme ça. Je ne sais plus. Elle parle, et c’est faux, c’est la voix de n’importe qui, c’est une voix de crécelle. Quelle est cette voix ? Ça pourrait être la voix d’un homme. Sa figure est ouverte, elle rit. Une crécelle. C’est le rire de celle qui m’a dit Schnell, schnell ! monsieur. Sa voix est morte. Sa bouche s’ouvre et c’est une autre qu’on entend. J’oublie, j’oublie tous les jours un peu plus. On s’éloigne, on dérive. Je n’entends plus. Elle est ensevelie sous les voix des copains, sous les voix allemandes.56

Entsteht zunächst noch der Eindruck, der gleitende Übergang von der Wunschvorstellung der Rückkehr und der Erinnerung an sein Zuhause hinüber in den Schlaftraum sei eine Fortsetzung dieses glücklichen Szenarios, zeigt sich nur wenige Zeilen später, dass auch dieser Traum von einer missglückten Heimkehr handelt. Das eigentlich so vertraute Gegenüber nimmt fremde Züge an: Sein Lachen ist nicht das, welches der Träumer von früher kennt, seine Stimme befremdlich. Die Irritation über diese Feststellung wird durch zahlreiche Fragen und die parataktische Aneinanderreihung verschiedener Bruchstücke der visuellen und akustischen Wahrnehmung in Szene gesetzt; die sprachliche Darstellung passt sich weitgehend an das onirische Erleben an. Regelrecht tastend versucht sich der Träumende der fremden Stimme anzunähern: Er vergleicht sie mit dem Klang einer Rätsche, konstatiert, dass sie ebenso von einem Mann wie 55 Antelme: L’espèce humaine, S. 119. 56 Antelme: L’espèce humaine, S. 119–120.

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von einer Frau stammen könnte, überlegt, ob es sich um die Stimme eines Anderen handeln könnte, artikuliert sein Nicht-Wissen. Doch in mehreren kreisenden Bewegungen gelangt er schließlich der Identität des Gegenübers auf die Spur. M lacht mit der schnarrenden Stimme einer Frau, die der Träumer aus der Fabrik kennt – es liegt nahe, dass es sich um die Befehle einer Aufseherin handelt („Schnell, schnell“). Die Worte aus der Wachwirklichkeit sind in den Traum eingedrungen, das Zuhause wird durch den Lageralltag überblendet. Und gleichzeitig mit dem Verstehen dieser Überlagerung geht auch das Erleben im Traum in die Erklärung des Traums über: Der Erzähler resümiert, dass Ms Stimme von den Stimmen der Deutschen verschüttet, begraben wurde. Entscheidend an dem Traumbericht vom verhinderten Glück der Heimkehr ist also zum einen das sich in diesem Beispiel ebenfalls artikulierende Traumbewusstsein: Auch dieser Traum geht einher mit einer Reflexion über Erkenntnisse im Traum, die mit einem Wissen in der Wachwirklichkeit abgeglichen werden. Während der Träumer im Flugzeugtraum mehr weiß als im Wachzustand, sich sein Bewusstsein nach dem Aufwachen also wieder verengt, ist das Traumwissen hier allerdings beim Erwachen noch unmittelbar präsent: Der Erzähler ist sich sowohl im Traum als auch in der Wachwirklichkeit sicher, das richtige Lachen Ms und ihr wahres Gesicht zu kennen, das ihm in seinem Traumerlebnis auf so fremde Weise erschienen war. Doch sollte auch diese Gewissheit verlorengehen, so überlegt der Erzähler weiter, wäre er vollständig blind, taub und von den anderen Gefangenen endgültig nicht mehr zu unterscheiden. Dieses Wissen wird verbunden mit der bitteren Feststellung, dass ihm die Vorstellung von M tatsächlich immer mehr entschwindet und ihm durch den Traum erst klar geworden ist, wie weit er sich schon von der Welt außerhalb des Lagers entfernt hat. Ein solches Gefühl des Verschwindens der eigenen Identität bildete bereits den Beginn dieser Traumerzählung: Diese hält nicht nur die Schwierigkeiten sprachlich fest, das Irritierende und Flüchtige des Traums einzufangen, sondern sie weist auch hinsichtlich der narrativen Darstellung eine kreisförmige Struktur auf. Nicht allein die Gestalten im Traum haben sich verfremdet, auch mit sich selbst ist das erzählende Ich im Traum nicht identisch; es erlebt sich nur von außen. Halten wir zudem fest, dass auch dieser Traum offensichtlich ein wiederkehrender ist. Dass sich der Träumer „là-bas“, zu Hause, immer nur („toujours“) von hinten sieht, legt jedenfalls nahe, dass sich diese onirische Form der Wahrnehmung, wie auch der Flugzeugtraum („plusieurs fois dans la nuit“), mehrfach wiederholt. Nach Annika Nickenig verdichten sich in diesem Traumerlebnis Vergangenheit (das ehemalige Zuhause), die Gegenwart des Lagers mit ihren penetranten Stimmen und die Zukunft des Rückkehrens zu einem einzigen Bild der zerstörten Vertrautheit. Durch die geradezu filmischen Verfahren der Traumdarstellung – etwa ein herangezoomtes Gesicht, den Perspektivwechsel und die Überblendung mehrerer Realitätsebenen  – entfaltet sich eine besonders ein-

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drückliche Wirkung.57 Insofern erkennt Nickenig die Bedeutung der Antelme’schen Traumdarstellungen in erster Linie darin, dass der Erzähler zeigt, wie sich die Vernichtung von Individualität im Lager auch auf die Traumwahrnehmung auswirkt und inwiefern sich diese Selbstentfremdung in einer Poetik der Inadäquatheit niederschlägt.58 Silke Segler-Meßner sieht in der Betonung der Körperlichkeit, durch die sich Antelmes autobiographisches Schreiben auszeichnet, eine auffällige Parallele zu Charlotte Delbos Auschwitz-Trilogie.59 Und in der Tat sind es die akustischen, haptischen und visuellen Wahrnehmungen und das körperliche Affiziertwerden durch den Traum, mit denen in den Berichten der Überlebenden oftmals Traumerleben und Wachwirklichkeit ineinander verflochten werden. Dies zeigt sich in den Traumdarstellungen von Charlotte Delbo besonders deutlich.

Charlotte Delbos Träume im Lager Auch Charlotte Delbo, die als aktives Résistance-Mitglied im Januar 1943 zusammen mit 230 weiteren Frauen mit dem letzten Transport nichtjüdischer politischer Gefangener nach Auschwitz-Birkenau deportiert wird, erzählt in ihrer autobiographischen Trilogie Auschwitz et après60 ausführlich von den Schlafbedingungen im Lager. Ähnlich wie Levi jenen quälenden Zustand zwischen Wachen und Schlafen beschreibt, in dem sich Träume, Erinnerungen, Wünsche und der Terror des Lageralltags auf kaum mehr unterscheidbare Weise ineinanderschieben, stellt Delbo im ersten Teil der Trilogie, Aucun de nous ne reviendra [1970], fest, dass das Träumen ein Privileg des gesunden Körpers und der freien 57 Nickenig: Arrach[é], S. 293. 58 Nickenig: Arrach[é], S. 293. Die Formulierung einer „Poetik der Inadäquatheit“ findet sich auch bei Susanne Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris, München: Fink 2007, S. 50–52, die sich wiederum auf die psychoanalytischen Forschungen zur Rhetorik des Traums von Brigitte Boothe sowie auf die sprachwissenschaftlich fokussierte Arbeit von Jean-Daniel Gollut: Conter les rêves. La narration de l’expérience onirique dans les œuvres de la modernité, Paris: Corti 1993 stützt. 59 Silke Segler-Meßner: „Le genre, le récit et le corps. Aucun de nous ne reviendra de Charlotte Delbo et L’espèce humaine de Robert Antelme“, in: Romanische Studien 2 (2015), S. 81–104, hier S. 96. 60 Das „après“ bezieht sich allerdings nicht nur auf die Zeit nach dem Lager, die vor allem im dritten Teil, Mesure de nos jours, erzählt wird, sondern zunächst einmal auf die Verlegung von Auschwitz nach Ravensbrück, dem Schauplatz des zweiten Teils von Charlotte Delbo: Une connaissance inutile, Paris: Gallimard 2014.

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geistigen Betätigung sei. Wo die Kraft zum Träumen fehle, bliebe nur noch das Delirium: Vous direz qu’on peut tout enlever à un être humain sauf sa faculté de penser et d’imaginer. Vous ne savez pas. On peut faire d’un être humain un squelette où gargouille la diarrhée, lui ôter le temps de penser, la force de penser. L’imaginaire est le premier luxe du corps qui reçoit assez de nourriture, jouit d’une frange de temps libre, dispose de rudiments pour façonner ses rêves. A Auschwitz on ne rêvait pas, on délirait.61

Judith Klein fasst das komplexe Verhältnis von Wach- und Traumwelt bei Delbo treffend zusammen: „Qualvoller Wachzustand und gepeinigter Schlaf fließen ineinander. Sie sind Abbilder der höllischen Wirklichkeit. Die Träume sind kaum von der übrigen Darstellung abgehoben. Qualen der Nacht antizipieren die Qualen des Tages, die ihrerseits die Bilder der Nacht hergeben.“62 Wie untrennbar die körperliche Zerstörung ganz konkret mit dem Verlust von Stimme und Sprache einhergeht, zeigt sich durchgängig in allen drei Bänden der Trilogie. Beispielhaft ist etwa folgende Passage über den unstillbaren Durst im Lager, die den oben eher abstrakt benannten Zustand des Delirierens in plastischen Bildern eindringlich beschreibt: J’avais soif à […] en perdre la raison, soif à ne plus pouvoir manger, parce que je n’avais pas de salive dans la bouche, soif à ne plus pouvoir parler, parce qu’on ne peut plus parler quand on n’a pas de salive dans la bouche. Mes lèvres étaient déchirées, mes gencives gonflées, ma langue un bout de bois. Mes gencives gonflées et ma langue gonflée m’empêchaient de fermer la bouche, et je gardais la bouche ouverte comme une égarée, […] les pupilles dilatées, les yeux hagards. […] La nuit a été interminable. C’était atroce, ce que j’avais soif, la nuit, et je me demande encore, comment j’ai vécu jusqu’au bout de cette nuit-là.63

Auch eine andere Stelle über den nächtlichen Durst führt deutlich vor Augen, wie die körperliche Entbehrung in einen Schwebezustand zwischen Traum, Delirium und Halluzination übergeht. Im ersten Band der Trilogie, Aucun de nous ne reviendra [1970], erzählt das autobiographische Ich: Il y a la soif du soir et la soif de la nuit, la plus atroce. Parce que, la nuit, je bois, je bois et l’eau devient immédiatement sèche et solide dans ma bouche. Et plus je 61 Delbo: Une connaissance inutile, S. 88. 62 Klein: An unseren Schläfen, S. 511. 63 Delbo: Une connaissance inutile, S. 41–42. Auch der Arzt François Wetterwald vergleicht in seinem Bericht Les morts inutiles den unstillbaren Durst im Lager mit der Erfahrung eines Alptraums: „La soif nous étreint. Combien de temps sommes-nous restés ainsi, perdus dans un rêve incertain  ?“ Vgl. François Wetterwald: Les morts inutiles. Un chirurgien français en camp nazi, Paris: L’Harmattan 2009, S. 23.

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bois, plus ma bouche s’emplit de feuilles pourries qui durcissent. Ou bien c’est un quartier d’orange. Il crève entre mes dents et c’est bien un quartier d’orange – extraordinaire qu’on trouve des oranges ici –, c’est bien un quartier d’orange, j’ai le goût de l’orange dans la bouche, le jus se répand jusque sous ma langue, touche mon palais, mes gencives, coule dans ma gorge. C’est une orange un peu acide et merveilleusement fraîche. Ce goût d’orange et la sensation du frais qui coule me réveillent. Le réveil est affreux. Pourtant la seconde où la peau de l’orange cède entre mes dents est si délicieuse que je voudrais provoquer ce rêve-là. Je le poursuis, je le force. Mais c’est de nouveau la pâte de feuilles pourries en mortier qui pétrifie.64

Der Traum, in dem das Verspeisen einiger Orangenschnitze in all seinen köstlichen Details als körperlicher Genuss erlebt und beschrieben wird, ist vergleichbar mit den Tantalos-Träumen, die Primo Levi als kollektive Traumerlebnisse in Auschwitz ausgemacht hatte. Aber Delbos Traum geht einen Schritt darüber hinaus: Die Orange ist nicht nur zum Greifen nahe, sie wird tatsächlich gierig einverleibt und mit allen Sinnen genossen. Mit auffälligen Wiederholungen einzelner Wörter und ganzer Formulierungen wird zunächst einmal die Verwunderung darüber beschrieben, im KZ überhaupt an eine Orange gelangt zu sein – selbst im Traum muss das erzählende Ich sich immer wieder der Präsenz dieser Frucht versichern.65 Doch so sehr sich die Träumende auch bemüht, ihr Erlebnis auszukosten; sie erwacht abrupt und erlebt den Zustand nach dem Erwachen nun als noch größere Qual als den Durst vor dem Einschlafen. Das Gefühl fauliger Blätter, die sich im Mund ausbreiten und die Mundhöhle austrocknen, welches am Beginn der Traumepisode stand, stellt sich wieder ein; die Erzählerin ist wieder am Anfang des Traumerlebnisses angelangt und unhintergehbar auf die Lagerwirklichkeit zurückgeworfen.66 Eine Parallele zu Levis Traumberichten ist also auch die Mühe des Ich, seine Träume zu kontrollieren, die beglückenden Erlebnisse einerseits fortzusetzen und andererseits aus den Alpträumen willentlich zu erwachen. Doch auch die Erzählerin aus Auschwitz et après muss erkennen, dass sie keine Gewalt über ihre Träume besitzt, sondern ihnen ohnmächtig ausgeliefert ist. 64 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 120–121. 65 Innerhalb von wenigen Zeilen wird das Wort Orange acht Mal wiederholt, allein drei Mal davon in Verbindung mit „un quartier“ und zwei Mal mit dem ihr eigenen Geschmack. 66 Eine in ihrer intensiven sinnlichen Wahrnehmung vergleichbare, in ihrer Struktur jedoch umgekehrte Traumerfahrung findet sich in den Memoiren von Liana Millu [1947]. Hier wird das Szenario der kargen Häftlingsmahlzeit im Traum zunächst in ein Feld voller Kohlköpfe überführt. Als das träumende Ich ein Blatt davon in den Mund nimmt, verwandelt es sich in einen Panettone: „In sogno, mi trovai con Bruna e Pinin in un gran campo di cavoli bianchi. Ne prendevo una foglia e la mettevo in bocca, ma poi si trasformava in una dolce morbida profumata fetta di panettone. Sentivo la dolcezza della pasta che si scioglieva in bocca e Pinin rideva perché era festa.“ Liana Millu: Il fumo di Birkenau, Firenze: La Giuntina 2011, S. 86.

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Zu Beginn dieses Kapitels wurde die autobiographische Strategie, die eigenen Konzentrationslager-Erfahrungen mithilfe von Traumerlebnissen zu erzählen, mit der Sprachlosigkeit angesichts des erlebten Grauens in Verbindung gebracht. Dieser Zusammenhang wird in den Texten Delbos besonders deutlich. Ein wichtiges Motiv ihres Schreibens ist der unhörbare Schrei, der sich lautlos vollzieht und im Halse stecken bleibt – ganz so, als sei hier das sprachliche Bild des stummen Schreis, das Sarah Kofman für die ‚Unsagbarkeit‘ der Shoah verwendet,67 in die konkrete Körpersprache übersetzt. Bemerkenswerterweise wird dieses Bild von Charlotte Delbo direkt mit einer onirischen Erfahrung verbunden. Der lautlose oder erstickte Schrei wird erlebt, als vollziehe er sich im Traum. Als Hunderte von Frauen in Auschwitz mit ansehen müssen, wie eine fliehende Mitgefangene durch einen Wachhund der SS zerrissen wird, heißt es: [C]omme dans un rêve. La femme crie. Un cri arraché. Un seul cri qui déchire l’immobilité de la plaine. Nous ne savons pas si le cri vient d’elle ou de nous, de sa gorge crevée ou de la nôtre. Je sens les crocs du chien à ma gorge. Je crie. Je hurle. Aucun son ne sort de moi. Le silence du rêve. […] Il y a eu un râle qui n’a pas pu sortir de sa gorge […]. On aurait dit qu’on l’avait étranglée.68

Die Erinnerung, wie zusammengepferchte Frauen auf einem Lastwagen vorbeifahren, beschreibt Delbo folgendermaßen: Elles crient vers nous sans qu’aucun son nous parvienne. Leurs bouches crient, leurs bras tendus vers nous crient, et tout d’elles. Chaque corps est un cri. […] Chacune est un cri matérialisé, un hurlement – qu’on n’entend pas. […] Elles hurlaient parce qu’elles savaient mais les cordes vocales s’étaient brisées dans leur gorge.69

An solchen Beispielen zeigt sich also, dass nicht nur das Tagesgeschehen in die Traumwelt der Inhaftierten eindringt; gerade auch die Lagerwirklichkeit wirkt in ihrem Grauen derart irreal, dass sie wie ein Traum wahrgenommen wird.70

67 „Le silence comme un cri sans mots ; muet pourtant criant sans fin“. Sarah Kofman: Paroles suffoquées, Paris: Galilée 1987, S. 17. 68 Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 48. 69 Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 55–57. 70 Ganz ähnlich erlebt auch Elie Wiesel die Lagerwirklichkeit in Auschwitz als so unwirklich, dass er sie für einen Traum hält. Im ersten Band seiner autobiographischen Trilogie La nuit [1958], in der der Überlebende seine Inhaftierung in Auschwitz und die anschließenden Todesmärsche nach Buchenwald rekonstruiert, beschreibt er das Stehen auf dem winterlichen Appellplatz und den damit einhergehenden Verlust des Zeit- und Realitätsgefühls folgendermaßen: „Depuis combien de temps nous tenions-nous ainsi dans le vent glacé ? Une heure ? Une simple heure ? Soixante minutes ? C’était sûrement un rêve.“ Elie Wiesel: La nuit, Paris: Minuit 2007, gekürzte Ausgabe des ursprünglich auf Jiddisch verfassten Textes Un di velt hot geshvign, hier S. 83. Zu den Träumen im Werk Elie Wiesels vgl. ausführlicher Kapitel V.

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Das Kapitel „La nuit“, das sich ebenfalls im ersten Band der Trilogie, Aucun de nous ne reviendra, findet, besteht aus einer sich über sieben Seiten erstreckenden Wiedergabe des nächtlichen Traumerlebens der Erzählerin. Hier gehen verschiedene Traum- und Bewusstseinszustände in Form unabgeschlossener Sätze ineinander über und werden mehrfach durch Traumreflexionen unterbrochen. Dabei ist nicht immer ganz klar, ob sie innerhalb des Traumerlebens selbst oder in kurzen Momenten des Wachens angestellt, oder aber erst nachträglich in der rückblickenden Verschriftlichung hinzugefügt werden. Die erste Hälfte des Kapitels besteht aus einem Alptraum, in dem sich die tagtägliche Zwangsarbeit in den Sümpfen um Auschwitz mit den nächtlichen Halluzinationen im Halbschlaf zum Eindruck vermischt, im Schlamm zu ersticken. […] être étranglées par un tentacule qui s’enroulait autour du cou, serrait les vertèbres, les serrait à les craquer, les vertèbres, la trachée, l’œsophage, le larynx, le pharynx et tous ces conduits qu’il y a dans le cou […]. Il fallait libérer la gorge […]. Ce ne sont pas des pieuvres, c’est la boue. Nous nageons dans la boue […] [qui] entre dans les yeux, dans le nez, dans la bouche, suffoque […]. Et ce serait peu de nager dans la boue si nous n’étions obligées de porter des tragues remplies de mottes de terre. […] et la trague est maintenant remplie d’yeux et de dents, d’yeux qui luisent, de dents qui ricanent […] et tous ces yeux et toutes ces dents flamboient et vocifèrent, dardant, mordant, dardant et mordant de toutes parts et hurlant : Schneller, schneller, weiter, weiter […], et quand nous donnons des coups de poing dans ces gueules toutes en dents et en yeux, les poings ne rencontrent que taies molles, éponges pourries.71

Hervorzuheben ist an dieser Passage in erster Linie die sprachliche Gestaltung der Traumdarstellung. Was hier stark gekürzt wiedergegeben wird – das Gefühl des unentrinnbaren Ertrinkens im Schlamm, die bedrohliche Konfrontation mit den Utensilien der Zwangsarbeit, die plötzlich grinsende Augen haben und sich mit bleckenden Zähnen bewaffnen, die Vermischung der Körper zu einem einzigen unentwirrbaren Knäuel verschiedener Arbeiterinnen  –, diese Beschreibung erstreckt sich in Form lediglich weniger, jedoch über drei Seiten hinweg mäandernder Sätze. Geradezu selbstverständlich wird hier davon ausgegangen, dass es sich auch bei diesem Erstickungstraum um ein kollektives Traumerlebnis handelt. Wo Antelme das unpersönliche und undifferenzierte „on“ verwendet, spricht Delbo von „nous“ und meint damit die Frauen ihrer Baracke, von denen sie an anderer Stelle sagt, dass sie ihnen ihr Überleben verdankt (vgl. Kapitel V). Doch anders als bei Levi, der die Mithäftlinge als individuelle Träumer beschreibt, die alle von denselben Träumen heimgesucht werden, ist das träumende Ich in Delbos Traum kein einzelnes; es erlebt sich als untrennbar mit den

71 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 86–88.

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anderen Körpern verschlungen und spricht daher von seinem eigenen Erleben nur in der ersten Person Plural. So beschreibt die Erzählerin etwa im Anschluss an die Episode vom Versinken im Schlamm auch das Hin- und Hergleiten zwischen Träumen und Wachen als ein kollektives Phänomen: C’est un enchevêtrement de corps, une mêlée de bras et de jambes et, quand enfin nous croyons atteindre à quelque chose de solide, c’est que nous cognons contre les planches où nous dormons et tout s’évanouit dans l’ombre […].72

Auch Primo Levi hatte von den harten Pritschen der Baracken gesprochen, die sich bis in den Traum hinein verlängern und dort schmerzhaft spürbar werden. Und er spricht ebenfalls davon, dass die vielen auf engstem Raum zusammengepferchten Menschen, deren ausgestreckte Glieder der Erzähler nicht abwehren kann, das Schlafen verhindern; ein Thema, das sich ebenso bei Robert Antelme findet.73 Delbo setzt eine solche körperliche Präsenz der Anderen im Traumerleben fort, und zwar, indem sie den von Antelme so minutiös beschriebenen Verlust von Individualität auch auf die Ebene der körperlichen Erfahrung überträgt. Außergewöhnlich ist zudem die Art und Weise, in der Delbo ihre Traumerzählung weiterführt. Nach einem kurzen Erwachen, bei dem das Ich den Eindruck hat, ins Leere zu fallen, stürzt es in einen weiteren Alptraum („je retombe dans un autre cauchemar“), der an Platons Höhlengleichnis erinnert: In einer dunklen Höhle lösen sich nach und nach Schatten von den Wänden und bewegen sich durch die Nacht. Erst im Laufe der nächsten Zeilen zeigt sich, dass dieser Alptraum offensichtlich die Wachwirklichkeit beschreibt. Die nächtliche Atmosphäre in der Baracke wird als gänzlich traumhaft erlebt; ja auf der folgenden Seite sind es sogar die anderen gefangenen Frauen selbst, die als Alpträume bezeichnet werden: [D]e tous les étagements les cauchemars se lèvent, prennent forme dans l’ombre, de tous les étagements montent les plaintes et les gémissements des corps meurtris qui luttent contre la boue, contre les faces d’hyènes hurlantes : Weiter, weiter, […] et il n’y a plus que la ressource de se blottir sur soi-même et essayer de susciter un cauchemar supportable.74

Trauminhalt, Wachwirklichkeit und die Inhaftierten als träumende Instanzen: Alle drei Ebenen verschlingen sich zu ein und demselben Alptraum. Auch in dieser Passage versucht das Ich sein Traumerleben zu steuern; zumindest unternimmt es die Anstrengung, das unerträgliche nächtliche Erlebnis durch einen „erträglichen Alptraum“ zu ersetzen. Es erwägt träumend verschiedene Mög72 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 88. 73 Z. B. Antelme: L’espèce humaine, S. 271–272. 74 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 89.

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lichkeiten und wählt aus den vielen immer wiederkehrenden Träumen im Lager den von der Rückkehr nach Hause aus – eben jenen Traum, den in nur leicht variierter Form auch Levi und Antelme in ihren Autobiographien erzählen: […] peut-être celui [le rêve] où l’on rentre à la maison, où l’on revient et où l’on dit : C’est moi, me voilà, je reviens, vous voyez, mais tous les membres de la famille qu’on croyait torturés d’inquiétude se tournent vers le mur, deviennent muets, étrangers d’indifférence. On dit encore : C’est moi, je suis ici, je sais maintenant que c’est vrai, que je ne rêve pas, j’ai si souvent rêvé que je revenais et c’était affreux au réveil, cette fois c’est vrai, c’est vrai puisque je suis dans la cuisine, que je touche l’évier. Tu vois, maman, c’est moi, et le froid de la pierre à évier me tire du sommeil. C’est une brique éboulée de la murette qui sépare le carré du carré voisin où d’autres larves dorment et gémissent et rêvent sous les couvertures […].75

Nicht nur handelt auch dieser Traum von der gescheiterten Rückkehr nach Hause, er weist auch dieselbe Struktur auf wie die Träume von Levi und Antelme. Einmal abgesehen davon, dass bei Delbo ebenfalls die fremdsprachigen deutschen Befehle des Lageralltags sehr häufig das Traumgeschehen durchdringen, erlebt das träumende Ich hier – an dieser Stelle tut sich eine geradezu verblüffende Parallele zu Levi auf –, dass seine Anwesenheit ignoriert, seine Worte nicht gehört werden, die Familie sich abwendet. Anders als in den bereits untersuchten Heimkehrerträumen richtet die Erzählerin hier allerdings ihre Worte direkt in wörtlicher Rede und in mehrfacher Wiederholung an die Mutter, wodurch das Traumerleben eine zusätzliche Präsenz und Unmittelbarkeit erlangt. Vier Mal wiederholt sie fast flehentlich den Anderen gegenüber ihre eigene Anwesenheit, als wolle sie sich selbst von der ungeheuerlichen Tatsache ihrer Heimkehr überzeugen: „C’est moi“, „me voilà“, „je reviens“, „tu vois“. Besonders auffällig ist im Vergleich der verschiedenen Shoah-Träume die ganz ähnliche Gestaltung eines Traumbewusstseins, das die Heimkehr erlebt und diese zugleich als Traum erkennt. Der Heimkehrertraum Delbos funktioniert nach demselben Konstruktionsprinzip wie derjenige von Robert Antelme. Das Ich weiß im Traum bereits, dass es träumt; es besitzt zwei Formen des Wissens gleichzeitig: ein Wissen im Traum, das die Rückkehr dieses Mal für wirklich hält, und ein Wissen über den Traum, das diesen als eine weitere Täuschung erkennt. Als wolle die Erzählerin die Desillusionierung noch einen Augenblick hinauszögern, versichert sie sich innerhalb des Traums, dass in den Träumen zuvor die Heimkehr zwar stets nur eingebildet war, dass es sich dieses Mal aber ganz sicher nicht um eine Täuschung handle, sondern das Ich sich tatsächlich in der heimischen Küche befinde.

75 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 89–90.

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Wie es bei Levi der polnische Befehl zum Aufstehen ist, der das nächtliche Erleben als Traum entlarvt, und wie bei Antelme die bekannte Stimme der Aufseherin aus der Fabrik in den Traum eindringt und die Heimkehr entwirklicht, so vollzieht sich die Erkenntnis, einer Traum-Täuschung aufgesessen zu sein, auch bei Delbo über eine sinnliche Wahrnehmung: Das Berühren des kalten Spülsteins in der heimischen Küche dient ihr im Traum als ‚Beweis‘ für die Wirklichkeit der Rückkehr. Doch bereits im Traum spürt sie, dass die ausstrahlende Kälte des Waschbeckens sich in das Gefühl des losen Ziegels zurückverwandelt, den sie während des Schlafs an der Barackenwand ertastet. Und nicht nur den Ziegelstein in der Wand fühlt die Erzählerin nun, sondern mit diesem einen Stein zugleich auch all jene eiskalten Ziegel, die sie tagsüber in der Kolonne der Zwangsarbeiterinnen bis zum Zusammenbrechen schleppen muss.76 Die Lagerwirklichkeit ist in den Traum vorgedrungen und hat das Erleben der Heimkehr überlagert. Nicht nur ihre eigene Rückkehr aus dem KZ hat sich damit entwirklicht, sondern auch diejenige aller anderen, die im selben Moment denselben Traum träumen. Der Traumbericht fährt mit eben jener Vervielfältigung fort, die auch die Traumreflexionen Primo Levis kennzeichnet: Der Traum wird nicht nur mehrfach erlebt, sondern auch mehrfach erzählt und dabei als ein kollektiver präsentiert: […] elles sont mortes, aujourd’hui ou demain c’est pareil, elles sont mortes pour le retour dans la cuisine où leur mère les attend et nous nous sentons basculer dans un trou d’ombre, un trou sans fin – c’est le trou de la nuit ou un autre cauchemar, ou notre vraie mort, et nous nous débattons furieusement […]. Il faut rentrer, rentrer à la maison, rentrer pour toucher de nos mains la pierre à évier et nous luttons contre le vertige qui nous attire au fond du trou de la nuit ou de la mort […].77

Eine Steigerung gegenüber Levis Traumdarstellung erfährt diese Passage durch die Ununterscheidbarkeit von Aufwachen, Sterben und Träumen, die sich am Schluss dieses Zitates zeigt. Das Aufwachen selbst aber, mit dem das gesamte Traumkapitel endet, wird nahezu identisch beschrieben wie bei Levi: War es bei Levi der gerufene Befehl zum Aufstehen, so ist es hier die Pfeife, die die Häftlinge zur Arbeit antreibt. Dieses Pfeifen ist auf eine paradoxe Weise zugleich im Traum und außerhalb des Traums angesiedelt; und zwar nicht einfach, weil es in das Traumerleben eindringt, sondern weil sich das Aufwachen im Konzentrationslager lediglich als das Hineinfallen in einen weiteren Alptraum entpuppt: 76 In ihrer genauen Analyse der entsprechenden Textstelle bei Charlotte Delbo gelangt Maria Teresa De Palma zu der überzeugenden Einschätzung, dass der Ziegelstein zum Objekt der Verbindung zwischen Innen- und Außenwelt wird und diese Verbindung vor allem über die sinnliche Wahrnehmung des Gegenstandes im Traum erfolgt. Vgl. De Palma: Rêve et onirisme, S. 339–341. 77 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 90.

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[C]ar la nuit tout nous poursuit à la fois, la boue du marais où on s’enlise, les briques froides qu’il faut porter contre son cœur, les kapos qui hurlent et les chiens […]. Et la nuit est plus épuisante que le jour, peuplée de toux et de râles avec celles qui agonisent solitaires. […] Et quand le sifflet siffle le réveil, ce n’est pas que la nuit s’achève […] Quand le sifflet siffle le réveil c’est un cauchemar qui se fige, un autre cauchemar qui commence […] ce n’est pas la fin de la nuit c’est l’heure où des ombres rentrent dans les murs, où d’autres ombres sortent dans la nuit […] c’est la fin de mille nuits et de mille cauchemars.78

Lagerträume bei Jorge Semprún Mehrere signifikante Traumpassagen weisen auch die autobiographischen Texte von Jorge Semprún auf. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens und als Widerstandskämpfer in der Résistance bzw. gegen die Franco-Diktatur wird er, im Anschluss an seine Verhaftung und eine mehrmonatige Folter durch die Gestapo 1943, Anfang des Jahres 1944 nach Buchenwald deportiert. Träume finden sich etwa in den autobiographischen Romanen Le grand voyage [1963] und Quel beau dimanche ! [1980] sowie insbesondere in seinem Spätwerk L’écriture et la vie [1994].79 Kennzeichnend für das Schreiben Semprúns ist die anachronische, bisweilen auch a-chronische Erzählweise, die Erinnerungen, Träume, zeitliche Vorwegnahmen, zurückliegende Ereignisse und die gegenwärtige Situation des Schreibens und Reflektierens in Form assoziativer Sprünge zu einem autobiographischen Ganzen verwebt. So ist etwa in Le grand voyage der fünftägige Transport des Erzählers das zentrale Geschehen des Berichts. Eingeflochten werden jedoch auch Rückblenden, etwa aus der Zeit des Widerstands in Spanien und der politischen Betätigung des Erzählers in Frankreich. Ebenso finden sich Prolepsen, die das Geschehen vorwegnehmen, das sich erst nach der Deportation in Buchenwald (und sogar erst nach der Befreiung aus dem Lager in Paris) zutragen wird. Traumähnliche Zustände des Verhafteten während seines qualvollen Transportes im Viehwagon wechseln sich daher mit klarsichtigen Beobachtungen der gegenwärtigen Lage ab. Der Roman Quel beau dimanche  ! wiederum widmet sich vor allem der Lagererfahrung in Buchenwald selbst sowie der Zeit nach der 78 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 91–92. 79 Jorge Semprún: Le grand voyage, Paris: Gallimard 2016, Quel beau dimanche ! Paris: Gallimard 1980 und L’écriture et la vie, Paris: Gallimard 1994.

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Rückkehr, die Semprún zunächst in Frankreich und später als Politiker in Spanien verbringt. Der Text setzt sich aber auch intensiv mit der politischen Biographie des erzählenden Ich auseinander, erörtert kritisch die Gewaltherrschaft des Stalinismus  – verbindet also das Nachdenken über nationalsozialistische Konzentrationslager mit Kommentaren über die stalinistischen Straflager – und beinhaltet umfangreiche Reflexionen über den Kommunismus in Europa. In diesem Buch finden sich weniger erzählte Träume als vielmehr verschiedene Passagen über eine verstörende Erfahrung, die Semprún mit anderen KZÜberlebenden teilt: Er stellt sich eine Frage, die unbeantwortet bleiben muss; nämlich ob das Leben in Buchenwald womöglich nur geträumt sein könnte.80 Er fürchtet, dass auch das Leben nach der Befreiung lediglich ein Traum ist und er einzig innerhalb des Traums eines Shoah-Opfers existiert.81 Zudem konstatiert er gar eine Verschachtelung mehrerer Traumebenen im Anschluss an die traumatischen Erfahrungen von Buchenwald, die darin besteht, zu träumen, „in einem Traum zu leben“, zu träumen, „der Traum eines Toten von einst zu sein“.82 Aufgrund dieser Erschütterung der Realitätswahrnehmung und der daraus hervorgehenden, durch traumatische flashbacks geprägten Schreibweise, lässt sich in Semprúns Werk nicht eindeutig zwischen Träumen im Lager und den Träumen des Überlebenden nach der Befreiung unterscheiden. Im Vordergrund seiner Traumdarstellungen steht eindeutig das spätere, abrupte Aufblitzen der erlebten Lagerwirklichkeit im Traum, in Halluzinationen oder deliriumsähnlichen Zuständen. Gestaltet werden solche Zustände vorrangig in einer intertextuellen Erzählweise, mit der das Subjektive dieser Erfahrung in eine kollektive Dimension überführt werden kann. Der Roman L’écriture et la vie enthält jedoch auch eine Traumerfahrung, die aus dem Konzentrationslager selbst stammt. Dass auch sie, ganz wie die Lagerträume Primo Levis, auf das Engste mit späteren Traumerlebnissen, nämlich mit dem Traum vom Zurückversetztwerden ins Lager, verknüpft wird, ist Gegenstand eines späteren Kapitels (vgl. Kapitel X). 80 „Avais-je rêvé ma vie à Buchenwald ? Ou bien, tout au contraire, ma vie n’était-elle qu’un rêve, depuis mon retour de Buchenwald ?“ Jorge Semprún: Quel beau dimanche ! S. 58. 81 Semprún: Quel beau dimanche ! S. 138. 82 Semprún erörtert diese verstörende Erfahrung anhand eines Briefes von Eduard Kusnezow. Dieser wurde des ‚Hochverrats‘ am stalinistischen Regime angeklagt, hätte erst hingerichtet werden sollen und verbrachte dann 15 Jahre in einem sowjetischen Lager. Den Brief verfasste er während der Gefangenschaft und veröffentlicht ihn später in einer Pariser Wochenzeitung. In ihm erkennt Semprún seine eigenen Traumerlebnisse wieder. Vgl. Jorge Semprún: Quel beau dimanche ! S. 262. Hier stellt der Erzähler einen ausdrücklichen Vergleich an zwischen verschiedenen realitätserschütternden Nachwirkungen der Lagerhaft, die dieselben seien, unabhängig davon, ob der Inhaftierte in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager oder in einem stalinistischen Straflager gefangen war. Die Unterschiede zwischen KZ-System und GULAG, insbesondere hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen, die verschiedenen Lagererfahrungen zu kommunizieren, reflektiert allerdings, gerade auch in der Auseinandersetzung mit Jorge Semprún, Renate Lachmann: Lager und Literatur. Zeugnisse des GULAG, Konstanz: Konstanz University Press 2019, bes. S. 471–480.

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Zu den wichtigsten Motiven in L’écriture et la vie zählt der Rauch der Krematorien, der in der Gestalt schwarzer Flocken, weißen Regens oder einer öligen, alles überziehenden grauen Schicht omnipräsent ist und den Lageralltag bestimmt. Immer wieder nimmt der Erzähler dieses Bild auf und verknüpft es mit späteren Eindrücken tatsächlichen Schnees oder auch in selbstreferenzieller Dimension mit der weißen Manuskript- oder Buchseite im Rahmen des eigenen Schreibprozesses. Als eines der eindringlichsten Bilder für den allgegenwärtigen Tod im Lager sucht es den Überlebenden nach der Befreiung immer wieder von Neuem heim. Dieser Tod ist zwar konkret wahrnehmbar; in seiner industriellen Durchführung und massenhaften Monstrosität führt er aber zugleich die Abstraktion dessen vor Augen, was Hannah Arendt „die Fabrikation der Leichen“83 genannt hat: Das Bild legt sich – eben die wie die Asche, der Rauch oder der Schnee, die es selbst enthält – über die gesamte Gegenwart. Doch nicht nur das: Bereits im Lager selbst werden das Krematorium und der ihm entweichende Rauch zur Metonymie für die unablässige Gegenwärtigkeit des Todes. Insofern spricht der Erzähler davon, das Konzentrationslager nicht eigentlich überlebt zu haben, sondern dort durch den Tod hindurch gegangen zu sein: Car je n’avais pas vraiment survécu la mort, je ne l’avais pas évitée. Je n’y avais pas échappé. Je l’avais parcourue, plutôt, d’un bout à l’autre. J’en avais parcouru les chemins, m’y étais perdu et retrouvé, contrée immense où ruisselle l’absence. J’étais un revenant, en somme.84

Dies macht der Erzähler deutlich, indem er zwar keinen eigentlichen Traumbericht – also die Erzählung eines Traumgeschehens als Aneinanderreihung von Ereignissen – anführt, sehr wohl aber über das Träumen im Lager nachdenkt. Seine Überlegungen führt er sodann vom Traumerleben während der Inhaftierung fast unmerklich weiter bis hin zu seinen Träumen nach der Befreiung. Auch Semprún beginnt seine Passage mit einer umfassenden Kontextualisierung des Traums innerhalb des Lageralltags. Er beschreibt den ständigen Blick auf das Krematorium und die Unmöglichkeit, seine Präsenz und seine Funktion den Außenstehenden zu erklären. Der herkömmliche Begriff „fumée“, sagt der Erzähler, ließe sich nicht mit dem Rauch der Krematorien in Übereinstimmung bringen: Mais ils ne peuvent pas vraiment comprendre. Ils ont saisi le sens des mots, probablement. Fumée : on sait ce que c’est, on croit savoir. Dans toutes les mémoires d’homme, il y a des cheminées qui fument. […] Cette fumée-ci, pourtant, ils ne savent pas. Et ils ne sauront jamais vraiment.85 83 Hannah Arendt: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München: Piper 1996, S. 61–62. 84 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 25. 85 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 21.

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Es folgt die Beschreibung einer Situation, die weitgehend mit der des Flugzeugtraums aus Robert Antelmes L’espèce humaine übereinstimmt: Die Alliierten fliegen mit ihren Flugzeugen über das Lager hinweg, um Deutschland zu bombardieren. Da das ständige Feuer des Krematoriums den Piloten zur Orientierung dienen könnte, befiehlt der Lagerkommandant, den Vernichtungsbetrieb zu unterbrechen. Dies ist die Situation, in der sich die schlafenden Häftlinge befinden: Lorsque les escadrilles alliées s’avançaient vers le cœur de l’Allemagne, pour des bombardements nocturnes, le commandement S.S. demandait qu’on éteignît le four crématoire. Les flammes, en effet, dépassant de la cheminée, étaient un point de repère idéal pour les pilotes anglo-américains. Krematorium, ausmachen ! criait alors une voix brève, impatientée, dans le circuit des haut-parleurs. ‚Crématoire, éteignez !‘ Nous dormions, la voix sourde de l’officier S.S. de service à la tour de contrôle nous réveillait. Ou plutôt : elle faisait d’abord partie de notre sommeil, elle résonnait dans nos rêves, avant de nous réveiller. À Buchenwald, lors des courtes nuits où nos corps et nos âmes s’acharnaient à reprendre la vie – obscurément, avec une espérance tenace et charnelle que démentait la raison, sitôt le jour revenue –, ces deux mots, Krematorium, ausmachen ! qui éclataient longuement dans nos rêves, les remplissant d’échos, nous ramenaient aussitôt à la réalité de la mort. Nous arrachaient au rêve de la vie.86

Auch wenn das Traumgeschehen selbst gar nicht erzählt wird, wir es hier also nicht mit einem der zahlreichen Rückkehrerträume zu tun haben, sondern eher das Traumphänomen im Allgemeinen erörtert wird, so lassen sich doch deutliche Gemeinsamkeiten mit den Träumen einer verhinderten Heimkehr von Levi, Delbo oder Antelme erkennen: In der rhetorischen Gestaltung stechen vor allem die Beschaffenheit der Stimme und ihre akustische Wahrnehmung hervor. Die Verbindung zwischen Traum und Wachwelt funktioniert auch hier über einen fremdsprachigen Befehl. In Antelmes Traumbericht und in Delbos Träumen werden das scheppernde Lachen des Gegenübers sowie die Worte schnell, schnell bzw. schneller, schneller bzw. weiter, weiter nur während des Träumens genannt. Die tatsächlichen Befehle tauchen zwar auch in der Wachwelt auf, werden aber an ganz anderen Stellen erzählt. In Levis Traumerzählungen dringt das wstawać zunächst noch nicht in den Traum selbst ein; erst später wird es auch Teil des Traumgeschehens. Bei Jorge Semprún hingegen sind wir mit der Besonderheit konfrontiert, dass der Befehl Krematorium, ausmachen! auf zwei Ebenen zugleich präsent ist: Als nächtliche Lautsprecherdurchsage während der Bombenangriffe und innerhalb des Traumerlebens der Häftlinge. 86 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 21–22.

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Dem Befehl in der Erzählung Semprúns kommt damit jene Funktion zu, die in anderen Träumen die Fortbewegungsmittel innehatten: Sie gehören einer zweifachen Wirklichkeit an. Die gesteigerte Ausweglosigkeit in L’écriture ou la vie zeigt sich darin, dass diese Dopplung nicht mit einem Aspekt der Rettung in Verbindung gebracht wird, sondern, ganz im Gegenteil, die Allgegenwart und Unentrinnbarkeit des Todes umso unerbittlicher vor Augen führt. Dass der Tod die einzige Realität der Lagerwirklichkeit darstellt, wird auch durch jene Umkehrung vor Augen geführt, die eine Differenzierung zwischen Traum- und Wachwelt unmöglich bzw. hinfällig macht: Nicht aus dem Traum wird der Schlafende bei Semprún durch den Befehl herausgerissen, sondern aus dem „Traum des Lebens“ („le rêve de la vie“), der illusionären Idee also, derer sich die Träumenden bemächtigt hatten, sie seien im Konzentrationslager noch am Leben. Es handelt sich demnach beim brutalen Herausgerissenwerden aus dem Schlaf um eben jenes Herausfallen aus dem geträumten, nur eingebildeten Leben, hinein in einen (weiteren) Alptraum, das auch Charlotte Delbo als eines der quälendsten Traumphänomene der Konzentrationslager beschrieben hatte. Die Traumpassage wird von Semprún übrigens fortgeführt durch einen Sprung in die Erzählgegenwart. Ainsi, dans le sursaut du réveil, ou du retour à soi, il nous arrivait à soupçonner que la vie n’avait été qu’un rêve, parfois plaisant, depuis le retour de Buchenwald. Un rêve dont ces deux mots nous réveillaient soudain, nous plongeant dans une angoisse étrange par sa sérénité. Car ce n’était pas la réalité de la mort, soudain rappelée, qui était angoissante. C’était le rêve de la vie, même paisible, même rempli de petits bonheurs. C’était le fait d’être vivant, même en rêve, qui était angoissant.87

Diese verschachtelte Struktur, dass nämlich das Leben unwirklich wie ein Traum erscheint, wird uns im Kapitel über verschiedene Varianten des Traums vom Zurückversetztwerden ins Konzentrationslager noch näher beschäftigen (vgl. Kapitel X). Die Befehle aus dem Lager können jederzeit aus dem Nichts auftauchen, um einen daran zu erinnern, dass das gegenwärtige Dasein kein wirkliches ist, sondern der Tod die einzige Existenzform – im Lager ebenso wie nach dem Lager. Bemerkenswerterweise ist zwar nicht die oben zitierte Krematoriums-Episode aus L’écriture ou la vie ein Traum von der verhinderten Heimkehr. Ein solcher wird aber unmittelbar vor dieser Passage erzählt – und es ist sicherlich kein Zufall, dass er dem Traum von der endgültigen Todesgegenwart direkt vorausgeht. Bei diesem Traum handelt es sich allerdings nicht um einen echten Schlaf-

87 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 22.

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traum, gemeint ist wohl eher ein Tag- oder Wunschtraum; nämlich das Gedankenspiel des Erzählers, dem Lager durch einen bewaffneten Aufstand zu entkommen. Semprún versucht in Buchenwald zwar tatsächlich, den Widerstand zu organisieren. Die Idee eines militarisierten Marsches der Häftlinge in Richtung Weimar wird allerdings als ein Traum beschrieben, der so kühn ist, dass ihn niemand wirklich zu träumen wagt. Der Erzähler gibt dabei den Ausbruch zunächst im Modus des Traums wieder, bevor er diesen als unrealistisch und tollkühn entlarvt: Plus tard, nous marchions sur Weimar, en armes. Nuit tombée, les blindés de Patton nous rattrapaient sur la route.  […] Aucun d’entre nous, jamais, n’aurait osé faire ce rêve. Aucun d’assez vivant encore pour rêver, pour se hasarder à imaginer un avenir. Sous la neige des appels, alignés au cordeau par milliers pour assister à la pendaison d’un camarade, nul d’entre nous n’aurait osé faire ce rêve jusqu’au bout : une nuit, en armes, marchant sur Weimar.88

Entscheidend an dieser Passage ist, dass sie zunächst wirkt, als enthielte sie einen performativen Selbstwiderspruch: Die Behauptung, man habe im Lager nicht genügend Kraft besessen, um den Traum vom Aufstand gegen die SS zu träumen, wird widerlegt dadurch, dass der Erzähler ihn ja tatsächlich präsentiert. Allerdings wird er nicht zu Ende geträumt. Sich den Erfolg der Aktion zu erträumen, das wagen die Häftlinge offensichtlich nicht. Der Traum vom bewaffneten Widerstand und damit vom Ausbruch aus dem Lager scheitert: Beim Marsch auf Weimar werden die Häftlingssoldaten entdeckt, die Befreiung ist missglückt. Auch hier haben wir es also mit dem Traum einer gescheiterten Rückkehr bzw. eines gescheiterten Entkommens aus dem KZ zu tun. Die Träumer – auch dieser Traum scheint, das legt die durchgängige Formulierung in der ersten Person Plural nahe, ein kollektiver zu sein – integrieren gewissermaßen die Vergeblichkeit der Rettung in das Traumerleben selbst.89 Die kompensatori88 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 20. 89 Als Beispiel einer kompensatorischen Imaginationstätigkeit, welche es dem Inhaftierten erlaubt, in seiner Vorstellung tatsächlich der Lagerwirklichkeit zu entkommen, wäre hingegen Imre Kertész’ berühmter Roman eines Schicksallosen zu nennen, der 1975 erstmals unter dem Titel Sorstalanság im Budapester Verlag Szépirodalmi erschienen ist und ebenfalls Auschwitz und Buchenwald zum Thema hat. Er erzählt von der Deportation und der Lagerhaft aus der homodiegetischen Perspektive György Köves’, eines 15-jährigen Jungen, der versucht, sich weitestgehend an die Bedingungen des Lagers anzupassen. Er nimmt diese mit dem naiven und objektiven Blick des Unschuldigen wahr, der bemüht ist, in der Shoah eine logische und sinnhafte Dimension zu erkennen. Der Inhaftierte erzählt im sechsten Kapitel von „Arten und Wegen, einem Konzentrationslager zu entkommen. Ich selbst lebte mit der ersten und, von mir aus, bescheidensten Möglichkeit. […] Ich brachte es zum Beispiel so weit, während meine Hände mit Schaufel oder Hacke beschäftigt waren  […] einfach gar nicht zugegen zu sein. Aber auch die Phantasie ist nicht völlig unbegrenzt, zumindest gab es da – wie ich erfahren habe – Schranken. Denn eigentlich hätte ich ja mit der gleichen Anstrengung überall sein können, in Kalkutta, in Florida, an den schönsten Orten der Welt.

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sche Funktion des Träumens, nämlich dass der Traum einen Ausweg aus dem Lager bieten könnte, der in der Wachwirklichkeit verwehrt bleibt – eine Traumfunktion, die bereits bei Levi, Delbo und Antelme ausgehebelt war  –, versagt auch hier. Dieses Phänomen lässt sich ebenfalls in einem autobiographischen Roman von Anna Langfus erkennen.

Häftlingsträume bei Anna Langfus Die Erzählerinnen und Erzähler aus Anna Langfus’ Romanen, die entweder der Shoah ausgesetzt sind oder als Überlebende zeitlebens damit konfrontiert bleiben, kämpfen durchgehend mit körperlichen Beschwerden wie Erstickungsanfällen, Atemlosigkeit und damit, dass ihnen die Worte im Halse stecken bleiben. In auffälliger Weise erinnern die Motive, die Anna Langfus verwendet, an unsere anderen Traumbeispiele: Der Hals ist ausgetrocknet, wenn die Erzählerin mit ihren Erinnerungen konfrontiert wird. Das Essen breitet sich unangenehm in ihrem Mund aus, wie die fauligen Blätter im Traum von Charlotte Delbo.90 Ein bestimmtes tröstliches Wort soll in Les bagages de sable [1962] die eisige Kugel, die den Hals verstopft, zum Schmelzen bringen (vgl. Kapitel VI).91 Und auch bei Langfus findet sich mehrfach das von Sarah Kofman evozierte Bild eines erstickten Schreis. Der Schrei der Gefolterten, welchen die Überlebenden „auf immer in ihrem Körper tragen werden“,92 ist beispielsweise derselbe, den das Ich unvermittelt auf offener Straße ausstößt – auch und gerade, wenn dieser Schrei von niemandem gehört wird.93

Und doch, das war nicht ernst genug, ich vermochte – um es so zu sagen – nicht daran zu glauben, und so fand ich mich dann meistens einfach zu Hause wieder. Ja, natürlich, das war nicht weniger tollkühn, als wenn ich mich zum Beispiel nach Kalkutta versetzt hätte; nur konnte ich darin doch etwas finden, eine gewisse Bescheidenheit, sozusagen eine Art Arbeit, die meine Anstrengung sofort richtig machte und damit irgendwie beglaubigte.“ Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh, Berlin: Rowohlt 1996, S. 172–173. 90 Beide Beispiele in Anna Langfus: Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1962, S. 17. 91 Langfus: Bagages, S. 14 und S. 24. 92 Langfus: Bagages, S. 40. 93 Langfus: Bagages, S. 20. In Le sel et le soufre findet sich das Motiv des erstickten Schreis auch in einem weniger übertragenen Sinne: Die Inhaftierte schreit in ihrer Zelle aus vollem Halse und zwingt sich mit aller Kraft zu verstummen, weil sie weiß, dass sie, wenn sie ihren Schrei nicht unmittelbar stoppt, nie wieder mit dem Schreien wird aufhören können. Vgl. Anna Langfus: Le sel et le soufre, Paris: Gallimard 1960, S. 223.

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Die autobiographische Erzählung Le sel et le soufre [1960] der jüdisch-polnischen Schriftstellerin, die den Auftakt einer Romantrilogie über den Terror des Nationalsozialismus bildet, berichtet zwar nicht von der Inhaftierung in einem Konzentrationslager. Der Roman erzählt vielmehr davon, dass die Protagonistin, wie auch die Autorin selbst, deren Eltern in Polen durch die Nationalsozialisten ermordet werden, zusammen mit ihrem Ehemann als Widerstandskämpferin verhaftet, interniert und in den Kellern der Gestapo gefoltert wird. Nach der Hinrichtung des Mannes erlebt das erzählende Ich im eiskalten Gefängnis, in dem es immer wieder das Bewusstsein verliert, jedoch einen Alptraum, der in seiner Struktur einer gescheiterten Rückkehr mehrere auffällige Parallelen zu den bereits untersuchten Träumen aufweist. Wie bereits zu Beginn dieses Kapitels dargelegt, integriert Anna Langfus vielfach Traumerzählungen, Erlebnisse von Halluzinationen oder Visionen und nicht zuletzt traumhafte Wahrnehmungen innerhalb der Wachwirklichkeit in ihre Romane. Dies tut sie u. a., um mittels des Traum-Modus eine Erfahrung zu artikulieren, die ihr auf anderem Wege nicht vermittelbar scheint. Ein Schrei, sagt sie, ließe sich nicht auf realistische Weise erzählen, sondern kann allenfalls in Form eines Traumerlebnisses ausgedrückt werden. So auch in Le sel et le soufre, wo Traumberichte ganz besonders als „zentrale Elemente der Narration“ erscheinen, wie Judith Klein feststellt, die alle vier Traumdarstellungen dieses Romans untersucht und aus psychologischer Perspektive interpretiert.94 Die Idee eines Ausbruchs aus dem Gefängnis („s’évader“) bildet im letzten Drittel des Romans bereits das entscheidende Moment, mit dem der Übergang von der Wach- in die Traumwirklichkeit rhetorisch gestaltet wird; das erzählende Ich entkommt im übertragenen Sinne. Nachdem die gefolterte Protagonistin vergeblich versucht, sich auf den Beinen zu halten, um nicht einzuschlafen und zu erfrieren, bricht sie zusammen und verliert das Bewusstsein. Sie driftet dabei in eine Traumwelt ab: Et je m’évade. Je saute dans le premier tramway qui passe. Je cligne des yeux aux lumières ; une agréable chaleur se dégage des corps voisins. Le contrôleur me regarde. ‚Deux billets jusqu’au terminus.‘ ‚Pourquoi deux‘ me demande-t-il avec soupçon. ‚J’ai besoin de deux billets.‘ Je m’entête, j’élève la voix. ‚Prends un seul, me dit Jacques [der Ehemann] debout près de moi. ‚J’ai déjà le mien.‘ Le contrôleur me tend un petit livre. ‚Voici votre billet, Madame.‘ ‚Je veux un billet comme tout le monde‘, dis-je, fâchée. Il se fait aimable et m’explique  : ‚Je n’ai plus de billet aujourd’hui. Prenez donc ce livre. Un billet, on le jette à la fin. Tandis qu’un livre … On est bien content d’avoir quelque chose à lire, parfois, quand on s’ennuie  …‘ Jacques sourit au contrôleur. Il me semble qu’il est avec lui, contre moi, et cela me met en colère. Le tramway s’arrête. ‚Terminus !‘, crie le contrôleur. Il n’y a plus per94 Klein: An unseren Schläfen, S. 512.

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sonne autour de nous. ‚Êtes-vous bien sûr que ce soit le terminus ?‘ lui demandaije. Lorsqu’il se tourne vers moi je reconnais mon père. ‚Papa … Que fais-tu donc ici ?‘ ‚Je suis contrôleur, dit-il, il faut bien gagner sa vie.‘ Et de sa voix de contrôleur il crie de nouveau : ‚Terminus !‘ Je descends. A peine ai-je mis pied à terre que le tramway démarre et me heurte. Je reprends mon équilibre pour le voir, lumineux, s’éloigner tandis que mon père et Jaques me font des signes en riant. Tant d’injustice et de méchanceté m’accablent. J’avance dans le noir et je bute contre un obstacle. Je tombe.95

Der Traum endet damit, dass die Träumerin sich selbst laut befiehlt, aufzustehen, weil sie fühlt, dass ihre Glieder allesamt abgestorben sind und sie sich nicht mehr bewegen kann. Das Erwachen aus einer mit Hindernissen versehenen Dunkelheit, in der sich die Träumende immerhin noch mühsam wegschleppen kann, bedeutet eine körperliche Starre, die als todesähnlich erlebt wird. Die Träumerin besteigt zunächst also eine Straßenbahn, um in Richtung Endstation zu fahren. Da sie die Wärme der anderen Fahrgäste als angenehm empfindet, liegt es zunächst nahe, dieses Traumerlebnis als eine Kompensation der eisigen Kälte zu lesen, die sie in ihrer Zelle spürt. Ein Gefühl der Geborgenheit stellt sich ein. Im Kontext der zahlreichen Heimkehrerträume ließe sich damit auch dieser Traum als ein Erlebnis des Entkommens aus der Haft auffassen, zumal die Träumende von ihrem Ehemann begleitet wird. Doch nach und nach ergeben sich im Laufe des Traumgeschehens Hindernisse und Irritationen. Statt eines Fahrscheins wie jeder andere, erhält die Träumerin ein Buch.96 Die anderen Fahrgäste verschwinden, es stellt sich zunehmend eine Atmosphäre der Verunsicherung und des schwindenden Vertrauens ein: Offensichtlich hat sich der Ehemann, der bereits im Besitz einer gültigen Fahrkarte ist, mit dem Schaffner gegen sie verbündet. Dieser wiederum verwandelt sich nun plötzlich in den eigenen Vater, der das Ich zum Aussteigen zwingt. Die Träumende verlässt alleine die Straßenbahn, wird von dieser angefahren, taumelt und bewegt sich strauchelnd im Dunkeln fort, während Vater und Ehemann lachend davonfahren. Übrig bleiben nicht nur die Einsamkeit und die Verletzungen der Träumenden, sondern das untrügliche Gefühl, verraten worden zu sein.97 95 Langfus: Le sel et le soufre, S. 192–193. 96 Judith Klein versteht dies als eine ungewollte Auszeichnung der Träumerin als Jüdin, als die sie dem Volk der Bücher zugerechnet wird. Vgl. Klein: An unseren Schläfen, S. 515. 97 Ein anderer, ebenfalls autobiographisch geprägter und zugleich hochgradig fiktionaler Roman, der von Flucht, Verhaftung, Verhör und Deportation aus der Sicht einer jungen Frau erzählt, nämlich Ilse Aichingers Die größere Hoffnung [1948], weist gegen Schluss ein Traumkapitel auf, in welchem ganz ähnliche Motive vorkommen wie bei Langfus: eine Zugfahrt mit einer uneindeutigen Endstation, Verhaftung, Verhör, Verrat und das plötzliche Auftauchen einer geliebten Person. Allerdings präsentiert dieses „Flügeltraum“ überschriebene Kapitel, anders als die hier analysierten Beispiele, eine positive Umkehrung der bedrohlichen Realität. Damit kommt dem Traum eine kompensatorische Funktion zu. Die verfolgte Protagonistin wird selbst zur Verfolgerin der Täter, die Rollen zwischen Verhörenden und Verhörter kehren

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Wie bei Levi und Antelme geht es auch in diesem Traum um ein Fahrzeug, mit dem die Träumende aus der Haft entkommen könnte. Und wie bei allen anderen Rückkehrerträumen, beinhaltet der Traum in seiner „Ambivalenz von Erfüllung und Vernichtung“, wie Judith Klein es formuliert, eine Kippfigur, „in der Rettung und Verrat sich ablösen“.98 Das Entkommen steht zwar unmittelbar bevor, doch es gelingt nicht. Im letzten Moment entpuppt sich die ersehnte Rettung als Illusion. Die auffälligste Parallele zu den bislang präsentierten Träumen besteht vielleicht hinsichtlich Robert Antelmes Traum von der Heimkehr, bei der die Begegnung mit dem Gegenüber in eine zunehmende Verfremdung mündet, das Vertraute irritierend und bedrohlich wird. In beiden Fällen ist es das Lachen einer geliebten Figur, mit dem zunächst Irritation und sodann Distanz und Desillusionierung hergestellt werden.99 Damit lässt sich für die hier aufgeführten Träume im Konzentrationslager zusammenfassen, dass es sich zumeist um Träume von einer gescheiterten Rettung handelt, die – wie Judith Klein feststellt, „als Wunschträume beginnen […], um dann umzukippen und tödliche Bedrohung oder absolute Verlassenheit auszudrücken“, „selten bieten sie Kompensation und Erfüllung“.100 Eine solche Gleichzeitigkeit von Wunschtraum und Alptraum betont auch Renate Lachmann in ihrer Studie Lager und Literatur.101 Für ihre Lektüren der GULAG-Literatur über

98 99

100 101

sich um, und die Verhaftete entkommt auf wundersame Weise ihrem Gefängnis. Vgl. Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung, Frankfurt am Main: Fischer 1991. Der „Flügeltraum“ (S. 128–149) stellt den am eindeutigsten markierten Traum des Romans dar, welcher darüber hinaus von zahlreichen Visionen, Prophezeiungen und märchenhaften Elementen durchzogen ist. Klein: An unseren Schläfen, S. 518. Ein direkter Zusammenhang zwischen Lachen und Traum findet auch in dem autobiographischen Roman Bränt barn söker sig till elden (Stockholm: Bromberg 1984) der deutschschwedisch-israelischen Schriftstellerin Cordelia Edvardson, der unehelichen Tochter von Elisabeth Langgässer, die als ‚Dreivierteljüdin‘ 14-jährig zunächst nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz deportiert wird. In diesem Roman kehrt sich allerdings das Verhältnis zwischen Heimkehrsehnsucht und einer vertrauten Figur, die durch ihr Lachen verfremdet wird, um. Das Kind erlebt, wie eine ‚Freundin‘ im Lager sie lächelnd und sensationslüstern in eine tödliche Falle locken will. An den Bericht über das Gefühl von Verstörung und Verrat schließt die Erzählerin eine knapp dreiseitige Traumerzählung an. Der Traum handelt von der Heimkehr in ein zunächst zwar verlassenes Zuhause. Nach und nach aber stellen sich die Gerüche und Geräusche eines erinnerten Weihnachtsfestes ein. Der Traum kulminiert darin, dass die Träumende einen verwahrlosten Pudel rettet, der sich sodann mitsamt seiner Kinderschar im heimischen Wohnzimmer niederlässt. Dieser Traum kompensiert also, in seiner Struktur ähnlich wie der „Flügeltraum“ Aichingers, eindeutig die Erfahrung von Verlassenheit, Verlust und Verrat in Auschwitz. Vgl. Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky, München: dtv 2010, S. 89-95, für den Traumbericht, S. 92–95. Klein: An unseren Schläfen, S. 520. Renate Lachmann: Lager und Literatur. Zeugnisse des GULAG, Konstanz: Konstanz University Press 2019, S. 227–230. Lachmann erkennt in der Lagerliteratur über den stalinistischen Terror drei heterotopische Momente: den Traum, die Natur und die Dichtung als Räume einer ästhetischen Erfahrung. Vgl. Lachmann: Lager und Literatur, S. 227–241. Für alle drei Bereiche

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den stalinistischen Lagerterror dienen Lachmann oftmals die Lager-Texte der Shoah (v. a. diejenigen von Primo Levi und Jorge Semprún) als Vergleichs- und Beschreibungsfolie. So gelangt sie zu der auch für die Texte dieses Kapitels zutreffenden Feststellung, dass „der Traum […] das Wiedererscheinen der verlassenen Welt zu[lässt] und […] zugleich den Kontakt mit ihr [vereitelt]“.102 Gemeinsam haben die Lagerträume darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit den höchst prekären Bedingungen des Schlafens während der Haft. Vor allem von den Körpern der Mithäftlinge wird erzählt, die den Schlaf stören oder bis in das eigene Traumerleben vordringen. Kennzeichnend ist zudem die Feststellung, dass Schlafen und Träumen im Lager nicht der Erholung dienen, sondern mit einer existenziellen Gefahr verbunden sind, weil sich die Alpträume des Tages im nächtlichen Erleben fortsetzen. Ferner wird das Aufwachen stets als ein erneutes Eintauchen in den Alptraum des Lagers erlebt und die nach dem Aufwachen notwendige Anpassungsleistung an die Wachwirklichkeit übersteigt die Kraft der Träumenden. Darüber hinaus beinhalten die Träume das akustische Eindringen der Lagerrealität in das Traumerleben, das sich zumeist in Form fremdsprachiger Befehle vollzieht, welche sich in ihrer stimmlichen Beschaffenheit in die Wahrnehmung und den Körper der Träumenden eingraben. Eine Parallele bildet ferner die Tatsache, dass sämtliche Traumpassagen von den durchlässigen Grenzen zwischen Wachwirklichkeit, Schlaftraum und anderen onirischen Zuständen wie Todesangst, Delirium oder Halluzination handeln. „Der Traum wird“, so fasst es Renate Lachmann, „wie ein Zögern zwischen vermuteter und entzogener Wirklichkeit erlebt, als Grenzbereich, der sich zwischen […] innen und außen, Realität und dem Imaginären auftut“.103 Dieser Grenzbereich wird bewusst als solcher wahrgenommen, von Momenten des luziden Traumbewusstseins begleitet und entsprechend klarsichtig reflektiert.104 Während einerseits das Lager als unwirklich wie ein Traum erlebt wird, verketten sich andererseits im nächtlichen Erleben verschiedene macht sie eine Erfahrung der Heterotopie im positiven wie im negativen Sinne aus: Der Traum ist Wunschtraum und Alptraum zugleich, die Natur wird gleichermaßen als rauschhaftes Entrücktsein wie als Bedrohung wahrgenommen, ebenso wie die Literatur, vor allem die Lyrik „in besonderer Weise das Phantasma einer verlorenen Welt hervorbringt“ und Erschütterung wie Begeisterung auslösen kann (S. 237). 102 Lachmann: Lager und Literatur, S. 229. „Der affektiv besetzte Traum-Raum“, so Lachmann weiter, „bedeutet ein temporäres Verlassen des Macht-Raums des Lagers (schafft eine Anderszeitlichkeit), lässt den Wunschort nostalgisch-qualvoll erleben“ (Lachmann: Lager und Literatur, S. 229). 103 Lachmann: Lager und Literatur, S. 230. 104 Zu dieser Gleichzeitigkeit von Wach- und Traumbewusstsein vgl. auch Benedikt Friedman: „Ich träumte. Ich träumte, daß keine Deutschen mehr da wären und ich ein freier Mensch wäre, ein Mensch wie andere Menschen. Mir war halb bewußt, daß es ein Traum, nur ein Wunschtraum war. Mein Begehr, der Traum wäre Wirklichkeit, war so stark, daß ich es bestätigt haben wollte.“ Friedman: Ich träumte von Brot und Büchern, S. 85.

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Träume oftmals zu einer endlos scheinenden Alptraum-Serie, wenn nicht gar, wie dies bei Semprún und Delbo der Fall ist, mehrere Traumebenen ineinander verschachtelt werden. Was die Traumvergleiche dieses Kapitels damit vor Augen geführt haben, benennen die Träumenden in ihren autobiographischen Texten auch selbst: dass die Träume zwar subjektiv und individuell erlitten werden, es sich jedoch oftmals um kollektive Phänomene handelt. Es ist, um die Formulierung Renate Lachmanns zu verwenden, „eine nächtliche Traumgemeinschaft entstanden“.105 Dieses kollektive Traumerleben kreist in verschiedenen Variationen um drei Formen der Nicht-Erfüllung.106 Primo Levi fasst sie zusammen als den Traum von der verweigerten Nahrung, den Traum von der vereitelten Heimkehr und den Traum vom verhinderten Erzählen. Eine andere Variante der Kollektivität von Konzentrationslagerträumen wird uns im folgenden Kapitel beschäftigen: Die Träumenden erfahren den Raum, der sich in ihrem nächtlichen Erleben entfaltet, oftmals auch als einen Raum der Begegnung mit den anderen KZ-Häftlingen, und zwar vor allem mit denen, die unausweichlich dem Tod geweiht sind. Auf diese Weise kommt den Traumerzählungen, die im Zentrum des nächsten Kapitels stehen, die Aufgabe zu, von all denjenigen zu zeugen, die ihre Erfahrungen nicht mehr selbst artikulieren können, die als Opfer der Shoah verstummt sind.

105 Lachmann: Lager und Literatur, S. 229. 106 Von Zukunftsträumen im Lager, die sich jeden Moment verflüchtigen können, erzählt neben vielen anderen etwa auch François Wetterwald: Les morts inutiles. Un chirurgien français en camp nazi, Paris: L’Harmattan 2009, S. 17.

V. Traumsprachen des ‚Muselmanns‘: Charlotte Delbo, Vercors und Elie Wiesel

Traum und Tod Es ist kaum verwunderlich, dass Traum und Tod in der Shoah-Literatur auf das Engste miteinander verbunden sind. Dies ist besonders in Erzähltexten der Fall, wo Ermordete den überlebenden Figuren immer wieder im Traum begegnen – und zwar nicht als noch Lebende oder wieder Auferstandene. Sie erscheinen als Tote, mit denen die Protagonistinnen und Protagonisten in Dialog treten, von denen sie heimgesucht werden, die sie mit dem eigenen Überleben konfrontieren.1 Solche Begegnungen im Traum widerfahren z. B. den Figuren aus Anna Langfus’ Les bagages de sable oder Aharon Appelfelds Ha’ish she’lo pasak lishon (Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen).2 Sie sind ferner durchgängig präsent in den Memoiren Elie Wiesels, in denen der in Auschwitz ermordete Vater dem Erzähler regelmäßig im Traum erscheint.3 Die Gespräche der nochmal davon Gekommenen mit den ermordeten Eltern bilden in diesen drei Texten das entscheidende Strukturprinzip. Im Traum werden hier regelmäßig die Grenzen zwischen Leben und Tod überschritten. Oder anders gesagt: Träumend treten die Figuren in einen gemeinsamen Raum ein, in dem diese Grenzen nicht existieren.4 1

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Sara Ferrari zeigt allerdings, dass das Thema der im Traum erscheinenden Toten auch in der modernen hebräischen Lyrik eine zentrale Rolle spielt. Hierfür analysiert sie einschlägige Traumgedichte u. a. von Uri Zvi Grinberg, Amir Gilboa, Oded Peled, Rachel Farchi und Hava Nissimov (vgl. dazu ausführlich Kapitel XIV). Sara Ferrari: „‚Allora dischiusi gli occhi al sogno‘. L’incontro con i defunti nella poesia ebraica della Shoah“, in: Erica Baricci (Hrsg.): Sogno e surreale nella letteratura e nelle arti ebraiche, Milano: Ledizioni 2017, S. 53–76. Anna Langfus: Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1962 und Aharon Appelfeld: Ha’ish she’lo pasak lishon, Jerusalem: Kinneret Zmora-Bitan Dvir 2010. Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012. Elie Wiesel: Tous les fleuves vont à la mer. Mémoires, Bd. 1, Paris: Seuil 1994 und Elie Wiesel: … Et la mer n’est pas remplie. Mémoires, Bd. 2, Paris: Seuil 1997. Shoah-Träume, die auf der Grenze zwischen Leben und Tod angesiedelt sind, finden sich aber auch in Romanen, die das Traumerleben der Täter fokussieren (vgl. Kapitel XIII). In solchen Romanen werden die Täter zumeist in das Reich des Todes hineingezogen und damit

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Das vorliegende Kapitel rückt nun eine bestimmte Facette dieser breiten Thematik ins Zentrum der Analyse: Es geht um das Verhältnis von Traum, Tod und Erzählung, das sich oftmals in Träumen vom Sterben als körperlicher Grenzerfahrung und der onirischen Begegnung mit den Todgeweihten äußert. Solche Traumbegegnungen zeugen meist von großen Gefühlsambivalenzen und schmerzvollen Kommunikationsschwierigkeiten. Damit geht es immer auch ganz grundsätzlich um die Grenzen der Artikulation und Vermittlung von Shoah-Erfahrungen. Mit dieser Zuspitzung bewegen sich meine Überlegungen direkt hinein in die komplexe Problematik, die sämtliche Auseinandersetzungen mit der Shoah umtreibt – und das relativ unabhängig von ihrer Disziplin und ihrer Perspektive auf das historische Ereignis. Im Zentrum der Debatten steht zumeist die kontrovers diskutierte These von der ‚Unsagbarkeit‘ der Shoah.5 Diese These bezieht sich auf mindestens eine zweifache Grenze des Sagbaren: Die eine Grenze betrifft die grundsätzliche sprachliche, bildliche oder dokumentarische Darstellbarkeit von Erfahrungen und Ereignissen, deren Faktizität die menschliche Vorstellungskraft überschreitet. Die andere zielt mitten in die eigentliche Aporie der Shoah: Diese besteht darin, dass die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsindustrie selbst nicht sprechen, nicht erzählen, nicht zeugen können.6

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selbst zu Opfern. Ein Beispiel ist der Alptraum aus Marcel Beyers Flughunde. Hier wird die Hauptfigur zum Opfer jener Menschenexperimente, die sie im Namen der NS-Medizin selbst durchgeführt hatte. Marcel Beyer: Flughunde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 198–201. Zu nennen wäre darüber hinaus der Sterbetraum des Massenmörders Max Schulz aus Hilsenraths Der Nazi & der Friseur. Dieser wird gezwungen, die Angst seiner Opfer kurz vor der Erschießung am eigenen Leib zu erfahren. Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur, München: dtv 2006, S. 462–465. Auch der Täter aus Romain Garys La danse de Gengis Cohn träumt von der eigenen Erschießung, weil er von einem Dibbuk besessen ist: Der Geist, der revenant eines einst erschossenen Juden, erscheint ihm unaufhörlich, ergreift von ihm Besitz und macht ihm das Leben zur Hölle. Romain Gary: La danse de Gengis Cohn, Roman, Paris: Gallimard 2014, z. B. S. 11–13 und S. 19–20 (vgl. hierzu ausführlicher Kapitel XI und XIII). Besonders kritisch äußert sich hierzu Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998, S. 141. Zur Zeugenschaft der Shoah vgl. für den französischen Kontext auch Silke Segler-Meßner/Monika Neuhofer/Peter Kuon (Hrsg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, und hier insbesondere die Beiträge von Aurélia Kalisky und Silke Segler-Messner. Pointiert zusammengefasst werden die Argumente der ‚Unsagbarkeitsdebatte‘ von Barbara Mahlmann-Bauer, die sich v. a. an den Studien Judith Kleins orientiert und auf eine Einschreibung der Geschlechterdifferenz in den literaturwissenschaftlichen Shoah-Diskurs drängt. Barbara Mahlmann-Bauer: „Die Shoah aus weiblicher Sicht. Überlebensberichte von Frauen“, in: Konrad Feilchenfeldt/Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Autobiographische Zeugnisse der Verfolgung, Heidelberg: Synchron 2005, S. 147–177, hier v. a. S. 158–159. Jenni Adams hat gezeigt, dass – zum Teil ebenfalls mittels literarischer Traumdarstellungen – dieser Aporie in jüngster Zeit zunehmend durch phantastisches Erzählen begegnet wird und nennt hierfür zahlreiche Beispiele. Jenni Adams: „The Dream of the End of the World: Magic Realism and Holocaust History in Jonathan Safran Foer’s Everything is Illuminated“, in: Clio 39/1 (2009), S. 53–77.

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Bekanntlich hat Primo Levi, neben vielen anderen, dieses Paradox eindrücklich formuliert. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade seine autobiographischen Texte von Traumberichten und Traumreflexionen durchzogen sind, die gewissermaßen zum Modell für zahlreiche Traumerzählungen späterer Shoah-Literatur werden:7 Lo ripeto, non siamo noi, i superstiti, i testimoni veri … Noi sopravvissuti siamo una minoranza anormale oltre che esigua: siamo quelli che […] non hanno toccato il fondo. Chi lo ha fatto […] non è tornato per raccontare, o è tornato muto […]. La demolizione condotta a termine, l’opera compiuta, non l’ha raccontato nessuno, come nessuno è mai tornato a raccontare la sua morte.8

Unmittelbar anschließend bezieht sich Levi in seiner Argumentation auf ein Phänomen, das uns im Folgenden näher beschäftigen wird: das des ‚Muselmanns‘ im Lager;9 jene Gestalten, die Jean Améry als „wankende Leichname“ bezeichnet, die „ziellos im Lager umherirren wie Gespenster“:10 I sommersi […] non avrebbero testimoniato, perché la loro morte era cominciata prima di quella corporale. Settimane e mesi prima di spegnersi, avevano già perduto la virtù di osservare, ricordare, commisurare ed esprimersi. Parliamo noi in loro vece, per delega.11

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Am offensichtlichsten sind solche Gemeinsamkeiten, im ersten Falle bewusst, im zweiten, ohne dass sich ein kausalgenetischer Bezug nachweisen ließe, zwischen Primo Levi und Jorge Semprún bzw. zwischen Levi und Charlotte Delbo. Vgl. Jorge Semprún: L’écriture ou la vie, Paris: Gallimard 1994, S. 269–278 und das in diesem Beitrag zitierte Kapitel „La nuit“ aus dem ersten Band der Trilogie Auschwitz et après: Aucun de nous ne reviendra, Paris: Minuit 1970, S. 86–92. 8 Primo Levi: I sommersi e i salvati, Torino: Einaudi 1986, S. 64–65. 9 Zur historischen und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem ‚Muselmann‘, die hier noch nicht einmal in Ansätzen rekonstruiert werden kann, vgl. aus dokumentarischhistoriographischer Perspektive u. a. Zdziław Ryn/Stanisław Kłodziński: „An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des ‚Muselmanns‘ im Konzentrationslager [1983]“, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, in: Die Auschwitz-Hefte. Bd. 1. Texte der polnischen Zeitschrift „Przegląd Lekarski“ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Herausgegeben vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Weinheim/Basel 1987, S.  89–154. An Studien mit literaturwissenschaftlichem Fokus wäre v. a. zu nennen Mona Körte: „Stummer Zeuge: Der ‚Muselmann‘ in Erinnerung und Erzählung“, in: Silke Segler-Messner/Monika Neuhofer/Peter Kuon (Hrsg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: Peter Lang, 2006, S. 97–110. Körte rekonstruiert hier zudem sehr pointiert die Debatte um die (Un-)Darstellbarkeit der Shoah, v. a. S. 99–102. 10 Vgl. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München: Szcesny 1966, S.  21–22. Ich zitiere nach Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 36 und S. 44. 11 Primo Levi: I sommersi, S. 65.

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In seinem Buch Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone beleuchtet Giorgio Agamben, der sich intensiv mit Primo Levi beschäftigt, das Konzentrationslager und den ‚Muselmann‘ im Lager aus einer ethisch-philosophischen Perspektive. Für Agamben ist die Shoah in Anlehnung an Levi „in doppeltem Sinne ein Ereignis ohne Zeugen“: La so’ah è un evento senza testimoni nel duplice senso che di essa è impossibile testimoniare tanto dall’interno – perché non si può testimoniare dall’interno della morte, non vi è voce per lo svanire della voce  – quanto dall’esterno  – perché l’outsider è escluso per definizione dall’evento.12

Der ‚Muselmann‘, als der einzige „vollständige Zeuge“, befindet sich an der Schwelle des Todes, kann aber nicht davon sprechen. Der Überlebende hingegen verfügt über eine Stimme, ohne selbst „den tiefsten Punkt des Abgrunds“ berührt zu haben.13 Es ist daher laut Agamben nicht möglich, den ‚Muselmann‘ vom Überlebenden zu trennen. Sie bilden eine Art Paar, das nur gemeinsam Zeugnis von der Entsubjektivierung ablegen kann: „[I]l musulmano è veramente il testimone integrale, per questo è non possibile recidere il musulmano dal superstite.“14 Einen expliziten Zusammenhang zwischen Traumerleben im Lager und dem Phänomen des ‚Muselmanns‘ stellt der spanische Philosoph Pablo Lópiz Cantó her, indem er auf die paradoxe Funktion des Träumens verweist: Zwar dienten, sagt er, Traum und Schlaf dem Überleben im Konzentrationslager. Aufgrund ihrer zugleich schwächenden Funktion trügen sie aber auch zur Entstehung des ‚Muselmanns‘ bei, sie näherten den KZ-Häftling also dem Nicht-Menschen an.15 Eine solche als Oxymoron formulierte Denkfigur gilt es im Folgenden an literarischen Texten über die Shoah genauer herauszuarbeiten. Vor diesem theoretischen Hintergrund möchte ich die Grundthese dieses Buches, nämlich, dass der Traum in literarischen Texten über die Shoah einen ganz eigenen Erzähl- und Erfahrungsmodus für diese Aporie darstellt, nun mit dem besonderen Fokus auf das Problem der Zeugenschaft näher ausführen. Erzählte 12 Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998, S. 32–33. 13 Agamben: Quel che resta, S. 33. 14 Agamben: Quel che resta, S. 147. Zur Kritik an Agambens ‚Sakralisierung‘ des ,Muselmanns‘, insbesondere im Zusammenhang mit Primo Levis traumatischem Schlusstraum in La tregua, vgl. Jean-Jacques Blévis: „Remains to be transmitted. Primo Levi’s traumatic dream“, in: Psychoanalytic Quarterly LXXIII (2004), S.  751–770, und die Kontextualisierung der Debatte durch Richard B. Simpson: „Introduction to Jean-Jacques Blévis’s: ‚Remains to be transmitted. Primo Levi’s traumatic dream‘, in: Psychoanalytic Quarterly LXXIII (2004), S. 737–750. Zum ‚Muselmann‘ als dem „eigentlichen Zeugen“ vgl. auch Mona Körte: Der ‚Muselmann‘, v.  a. S. 103–105. 15 Pablo Lópiz Cantó: „Wstawać. El sueño en los campos de concentración“, in: Revista Laguna 25 (2009), S. 79–92, hier S. 86.

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Shoah-Träume können den aufgezeigten Widerspruch zwar nicht auflösen. Weder entgehen die Träumenden so der „Schuld“ des eigenen Überlebens und des Sprechens auf „fremde Rechnung“ (wie Levi es in der genannten Textpassage formuliert), noch können sie die traumatisch wiederkehrende Erfahrung der eigenen brüchigen Existenz auf dem Grat zwischen Leben und Tod durch das Träumen überwinden. Sie öffnen jedoch einen Raum, in dem dieses Erfahrungsspektrum reflexiv ausgelotet und anhand körperlicher Grenzerfahrungen in Szene gesetzt werden kann. Auf diese Weise bildet die erzählte Traumerfahrung einen entscheidenden Beitrag zur Vermittlung der Shoah als kollektive Erinnerung, und damit zu ihrer Einschreibung in das kulturelle Gedächtnis. Dies soll anhand von drei Beispielen erörtert werden. Zunächst geht es um die autobiographischen Traumtexte von Charlotte Delbo. Diese werden ergänzt durch eine fiktionale Traumerzählung Vercors’, bevor abschließend die Träume aus den Memoiren Elie Wiesels einer näheren Betrachtung unterzogen werden. In der direkten Gegenüberstellung dieser Werke drängen sich folgende Fragen auf: Wie nutzen diese ästhetischen Texte den Modus des Traums, um den eigenen körperlichen Zustand an der Grenze des Todes in Worte zu fassen? Wie nutzen sie ihn aber vor allem auch, um das Sterben der Anderen, die über keine Stimme mehr verfügen, zu bezeugen? Lässt sich der Tod der Anderen überhaupt von den Grenzerfahrungen des eigenen Ich unterscheiden? Inwiefern dient der Traum außerdem dazu, den traumatischen Zustand der Überlebenden nachvollziehbar zu machen, der in dem paradoxen Eindruck besteht, gar nicht am Leben zu sein, stets von Neuem zu sterben oder den bzw. im Tod der Anderen zu leben?

Traum und Zeugenschaft bei Charlotte Delbo Die Schriften von Charlotte Delbo, einer zunächst nach Auschwitz und anschließend nach Ravensbrück deportierten Widerstandskämpferin, geben auf solche Fragen sehr eindringliche Antworten. Delbo findet für diesen paradoxen Zustand des gestorbenen Überlebens, der auch das Schreiben von Jorge Semprún grundlegend prägt (vgl. Kapitel IV und X), in einem Gedicht aus dem zweiten Band ihrer Trilogie Auschwitz et après: Une connaissance inutile ein Oxymoron: „re-mourir“16. Nochmals oder mehrmals zu sterben  – dieses Verb drückt eine biologische Unmöglichkeit aus. Während das Gedicht (ich gebe hier nur einen 16 Es bildet gewissermaßen die Opposition von „re-susciter“ (wiederauferstehen). Während diese Erfahrung ungeachtet ihrer physischen Unmöglichkeit die Basis des christlichen Den-

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kurzen Ausschnitt wieder) zunächst scheinbar das Lager – „un autre monde“, „là-bas“ – dem Hier und Jetzt gegenübergestellt, überlagern sich jedoch letztlich beide Welten im Eindruck, zwischen Traum und Wachwirklichkeit nicht mehr unterscheiden zu können.17 Vom „revenir“ in Vers eins und vier leitet Delbo sehr häufig – wie andere Shoah-Überlebende auch – den doppeldeutigen Begriff des „revenant“ ab, ein Rückkehrender, der zugleich Wiedergänger ist; ein Gespenst, weder tot noch lebendig.18 Das Wort bezeichnet dabei genau jene Erfahrung des Grenzübertritts zwischen Leben und Tod, den sie auf das Engste mit der Traumerfahrung verbindet: Je reviens d’un autre monde […] et je ne sais lequel est vrai dites-moi suis-je revenue de l’autre monde ? Pour moi je suis encore là-bas et je meurs là-bas chaque jour un peu plus je remeurs la mort de tous ceux qui sont morts et je ne sais plus quel est vrai du monde-là de l’autre monde là-bas maintenant je ne sais plus quand je rêve et quand je ne rêve pas.19

„Je remeurs“: Die Bedeutung dieser Formulierung wird in Delbos Gedicht durch die etymologische Figur („remourir la mort de tous ceux qui sont morts“) noch potenziert: Nicht nur der eigene Tod wird immer wieder aufs Neue erlebt. Vor kens bildet, scheint dem „re-mourir“ vielmehr jegliche metaphysische Sinndimension entzogen. 17 Eine sehr ähnliche Erfahrung findet sich auch bei Anna Langfus: „[I]l y a longtemps que je ne distingue plus entre ce que j’imagine et ce que je fais.“ Anna Langfus: Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1962, S. 13. 18 Dieser Aspekt des Gespenstischen, der nicht nur in der Forschung zu Delbo, sondern in den Holocaust Studies insgesamt eine wichtige Rolle spielt, wird mit Blick auf das Schreiben Delbos besonders akzentuiert in Maurice Bridel: DELBO: Spectres, mes compagnons, Lausanne: Berg International 1977 und David Caron/Sharon Marquart (Hrsg.): Les Revenantes. Charlotte Delbo, la voix d’une communauté à jamais deportée, Toulouse: Presses Universitaires du Mirail 2011. 19 Charlotte Delbo: Une connaissance inutile, Paris: Minuit 1970, S. 179–180.

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allem spricht das Ich davon, zugleich den Tod der Anderen zu sterben. Darüber hinaus wird ein solches Sterben als ebenso wirklich erlebt wie das eigene Überleben. Anne Martine Parent beschreibt dieses gespenstische Oszillieren zwischen Tod und Leben mit einer chiastischen Formulierung: „Déjà morts et encore vivants, ni vraiment vivants, ni vraiment morts, les témoins sont renvoyés à leur spectralité, condamnés à errer entre le rêve d’une vie qu’ils n’arrivent pas à vivre et la réalité d’une mort passée mais qui les hante toujours.“20 Dies ist keine Erfahrung, die sich realistisch oder mimetisch erzählen ließe. Als Traumerfahrung aber erlangt eine solche traumatisierte Wahrnehmung der Wirklichkeit eine ganz eigene Logik und Authentizität. Diese onirische Dimension des Überlebens wird daher zum Ausgangspunkt für theoretische Auseinandersetzungen mit dem Status des Zeugnisses und dem Erinnerungsvermögen von Shoah-Überlebenden. So bezieht sich etwa Lawrence Langer in seiner bedeutenden Studie Holocaust-Testimonies. The Ruins of Memory21 explizit auf das Traumerleben Charlotte Delbos.22 Von ihren autobiographischen Traumberichten ausgehend, entwickelt er seine Theorie der Unvereinbarkeit zweier verschiedener Formen des Erinnerungsvermögens: eine Kluft zwischen „mémoire profonde“ („deep memory“, oder auch eine „mémoire des sens“) und der „mémoire de la pensée“, einer „ordinary“, „external“ oder „intellectual memory“ von Shoah-Traumatisierten.23 Nur die „mémoire profonde“, aus der das Traumerleben entspringt, verbindet dabei laut Langer die Überlebende mit ihrem eigenen Körper, der für die Wahrheit der durchlittenen Erfahrung zeugt. Versuchen wir dies anhand der Texte Delbos selbst nachzuvollziehen. In ihrem Bericht La mémoire et les jours beschreibt die Auschwitz-Überlebende ihr Dasein nach Kriegsende als das einer Sterbenden, die – wie im Traum – stets ihr früheres (Lager-)Leben noch einmal vorüberziehen sieht.24 Das körperlich-sinnliche Erleben des Sterbens im Traum ist dabei so unmittelbar und einschnei-

20 Anne Martine Parent: „Communautés spectrales“, in: David Caron/Sharon Marquart (Hrsg.): Les Revenantes. Charlotte Delbo, la voix d’une communauté à jamais deportée, Toulouse: Presses Universitaires du Mirail 2011, S. 127–145, hier S. 129. 21 Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven/London: Yale University Press 1991, Kapitel „Deep Memory“, v. a. S. 1–9. 22 Vgl. Anke Gladischefski: „‚Le dédoublement de la mémoire et des mots‘. Traumatische Erinnerung und Sprache“, in: Silke Segler-Messner/Monika Neuhofer/Peter Kuon (Hrsg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, S. 113–124, hier S. 114–116. 23 Lawrence Langer: Holocaust Testimonies, Kapitel „Deep Memory“, alle Begriffe finden sich auf S. 7. 24 Charlotte Delbo: La mémoire et les jours, Paris: Berg International 2013, S. 9–12.

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dend, dass es auch im wieder erwachten Körper tiefe und nachhaltige Spuren hinterlässt:25 Et dans ces rêves-là, je me revois, moi, oui, moi, telle que je sais que j’étais : tenant à peine debout, la gorge dure, le cœur dont le battement déborde la poitrine, transpercée de froid, sale, décharnée, et la souffrance est si insupportable, si exactement la souffrance endurée là-bas, que je la ressens physiquement, je la ressens dans tout mon corps qui devient un bloc de souffrance, et je sens la mort s’agripper à moi, je me sens mourir. Heureusement, dans mon agonie, je crie. Le cri me réveille et je sors du cauchemar, épuisée. Il faut des jours pour que tout rentre dans l’ordre, que tout se refourre dans la mémoire et que la peau de la mémoire se ressoude. Je redeviens moi-même, celle que vous connaissez, qui peut vous parler d’Auschwitz sans marquer ni ressentir trouble ou émotion.26

Nur im Traum ist also die Erfahrung eines Zustandes auf der Grenze zum Tod für die Erzählerin tatsächlich körperlich spürbar. Das aus der rationalen Erinnerung sprechende Ich der Wachwelt hingegen ist gänzlich von dieser leiblichen Erfahrung abgetrennt. Lawrence Langer konstatiert diesbezüglich sehr treffend, es handle sich um „[t]wo voices, […] each honest, each incomplete“.27 Auf der einen Seite findet sich das abgeklärte Sprechen über die Fakten der eigenen Vergangenheit, die jedoch gar nicht als die eigene erlebt wird: „C’est une grande chance, sans doute, que ne pas me reconnaître dans ce moi qui était à Auschwitz. En revenir était si peu probable, qu’il me semble n’y être pas allée […] c’est trop incroyable.“28 Auf der anderen Seite steht das paradoxe Erleben, das sich gegen die einfache Mitteilung sperrt und den Regeln klassischen Erzählens widerstrebt. Wir haben es laut Langer mit A-Linearität und Kontextlosigkeit zu tun, mit der Aufhebung physischer und physikalischer Gesetzmäßigkeiten, der Abwesenheit jeglicher Logik und Kausalität im Lager, der konstatierten Unwahrscheinlichkeit des Überlebens und der Transgression biologischer Grenzen.29

25 Delbo: Mémoire, S. 11. Vgl. auch „Soif est redevenu un mot d’usage courant. Par contre, si je rêve de la soif dont j’ai souffert à Birkenau, je revois celle que j’étais, hagarde, perdant la raison, titubante ; je ressens physiquement cette vraie soif et c’est un cauchemar atroce.“ Dass es demgegenüber möglich gewesen sei, im Lager träumend in eine andere Welt zu gelangen, streitet sie ab: „A Auschwitz, on ne rêvait pas, on délirait.“ „Au camps, on ne pouvait jamais se réfugier dans l’imaginaire : impossible, on ne peut s’imaginer, ni être autre, ni être ailleurs. A Auschwitz : aucune énergie de reste pour cet effort de dédoublement.“ Delbo: Mémoire, S. 10. 26 Delbo: Mémoire, S. 11. 27 Langer: Holocaust Testimonies, S. 3. 28 Delbo: Mémoire, S. 11. 29 Lawrence Langer sagt, es sei nicht möglich, die Erfahrungen auf der Folie einer konventionell gestalteten „story“ zu erzählen oder zu verstehen. Langer: Holocaust Testimonies, S. 18–19, hier S. 19.

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Die Traumerzählungen Delbos verstehe ich vor diesem Hintergrund als ein Schreiben, das diese Kluft zwischen den beiden Stimmen umkreist: Nicht die Erfahrung des Traums selbst, aber deren Erzählung, in der das Traumerleben auch immer wieder reflektiert wird, wäre dann ein Versuch, die Unvollständigkeit des Zeugnisses traumpoetisch aufzuheben. Giorgio Agamben spricht bezüglich einer solchen Unvollständigkeit der Stimmen von einer „Lücke im Zeugnis“.30 Wie drückt sich in den Träumen Delbos eine derartige unvollständige Stimme aus? Wie wird das Problem des Überlebens und Sprechens „für fremde Rechnung“,31 wie Levi es formuliert, erzählt?32 Zu den auffälligsten Eigenheiten des Delbo’schen Schreibens gehören die poetische Zerstückelung des Erzählflusses in Verse, dichte Wiederholungsstrukturen und eine Syntax, die das erzähllogische Satzgefüge auflöst, indem sie es mitunter über Seiten hinweg in die Form eines poème en prose überführt. Artikuliert wird all dies von einer Erzählstimme, die in programmatischer Weise nicht – jedenfalls nicht nur – für sich selbst spricht: Sehr häufig verwendet sie ein kollektives „nous“ oder sie spricht als Ich ein „vous“ an.33 Dieses „vous“ bezeichnet entweder die mitleidenden Freundinnen, oder aber, zumeist, die bereits gestorbenen Häftlinge. Ganze Kapitel sind einzelnen getöteten oder als ‚Muselmänner‘ bzw. ‚Muselfrauen‘ dahinvegetierenden Anderen gewidmet. Immer wieder werden fast mantraartig ihre Eigennamen wiederholt; zweifellos Versuche, die Stimme für diejenigen zu ergreifen, die selbst nicht mehr sprechen können. Insofern bezeichnet Kathryn Robson das Delbo’sche Schreiben für Andere als ein „ghost-writing“ im doppelten Sinne:34 Sie schreibt im Namen der Anderen und unternimmt damit ein Gedenken an die „spectres“, die im Lager zu ihren Gefährtinnen geworden sind.35 Selbst wenn das Ich sich ausdrücklich auf die eigenen, individuellen Erfahrungen konzentriert – das Erschütternde dieser Shoah30 Agamben: Quel che resta, S. 75–76. Auch er spricht von einem Zeugnis, das im Wesentlichen auf dem beruht, was ihm fehlt. Agamben: Quel che resta, S. 31–32. 31 It.: „per conto di terzi“. Primo Levi: I sommersi, S. 65. 32 Delbo formuliert diese Aporie im dritten Band ihrer Trilogie Mesure de nos jours selbst: „Vivante ? Alors que ma voix étouffe ? Que nous soyons là pour le dire est déjà un démenti à ce que nous disons.“ Delbo: Mesure de nos jours, Paris: Minuit 1971, S. 48. 33 Zur Vieldeutigkeit des verwendeten „nous“ bei Charlotte Delbo, vgl. Silke Segler-Messner: „Le genre, le récit et le corps. Aucun de nous ne reviendra de Charlotte Delbo et L’espèce humaine de Robert Antelme“, in: Romanische Studien 2 (2015), S. 81–104, hier v. a. S. 83–88. Zum „multikulturellen Kollektiv der weiblichen Mithäftlinge“ vgl. Barbara Mahlmann-Bauer: „Die Shoah aus weiblicher Sicht. Überlebensberichte von Frauen“, in: Konrad Feilchenfeldt/Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Autobiographische Zeugnisse der Verfolgung, Heidelberg: Synchron 2005, S. 147–177, hier S. 164. 34 Vgl. auch das „Ghost-writing of the Holocaust“ überschriebene Kapitel in Kathryn Robson: Writing Wounds. The Inscription of Trauma in Post–1968 French Women’s Life-Writing, Amsterdam: Rodopi 2004, S. 157–182. 35 Charlotte Delbo: Spectres, mes compagnons. Lettre à Louis Jouvet, Paris: Berg International 2013.

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Autobiographie besteht gerade im Ausloten der sinnlichen Wahrnehmungen und körperlichen Qualen bis an die Grenzen des Erträglichen in einer hochgradig poetischen, ästhetisch konstruierten Sprache  – so stehen solche eigenen Körperbeschreibungen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem körperlichen Leiden der Anderen. Im Traum, und zwar insbesondere in den eindeutig markierten Traumpassagen, werden die Grenzen also nicht nur zwischen Leben und Tod, sondern auch zwischen dem Ich und den Mitgefangenen überschritten. In der Folge wird deren Sterben im Traum erlebt, als stürbe die Träumende selbst. Exemplarisch lässt sich dies am Beispiel der Kapitel „La nuit“ und „Un jour“ aus dem ersten Band der Trilogie zeigen.36 „La nuit“ steht in enger Verbindung mit dem zuvor als „Le jour“ überschriebenen Kapitel, das die qualvolle Zwangsarbeit in den Sümpfen und Steinbrüchen um das Lager aus radikal subjektiv-körperlicher Perspektive beschreibt. Das Alptraumkapitel setzt dieses Wacherleben, das in „Le jour“ in einem Zustand zwischen Agonie und Delirium selbst wie ein Traum erfahren wird, thematisch, motivisch und rhetorisch auf der Ebene des Traumes – als nächtliche Traumerfahrung – fort. Was genau wird geträumt? Die KZ-Häftlinge müssen Eimer voller Erde schleppen und versinken dabei zusehends im Morast. Das langsame Ersticken im Schlamm, der in Augen, Ohren und Münder eindringt, wird erlebt, als würden die Untergehenden von den Fangarmen riesiger Kraken erdrückt. Die umkippenden Eimer sind nun nicht mehr mit vereisten Erdklumpen, sondern mit Zähnen und Augäpfeln gefüllt, die sich auf die Häftlinge stürzen und nach ihnen schnappen  – unter den beständigen Befehlen „Schneller, schneller, weiter, weiter“37. Die qualvolle Erfahrung des Sterbens wird sprachlich gestaltet durch einen einzigen, sich über mehr als eine Seite hinziehenden Satz.38 Dieser besteht aus vielfachen Wiederholungen fragmentierter körperlicher und sinnlicher Eindrücke, die sich durch das gedrängte, sich steigernde Tempo zunehmend intensivieren. Entscheidend ist in dieser Traumpassage, dass der sterbende Körper nicht als einzelner erlebt und beschrieben wird; zusammen mit dem eigenen Leib, der von der Last erdrückt wird, sterben andere. Versucht die Träumerin zunächst noch, die vor ihr strauchelnde Freundin zu retten und aus dem Schlamm zu ziehen, muss sie schließlich aufgrund der gemeinsamen Last, die sie aneinander kettet, mit ihr untergehen: „[L]a trague […] est enchaînée à nos poignets, si solidement, si serrée que nous coulons toutes deux dans un corps à 36 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, „Un jour“, S. 40–49, „Le jour“, S. 72–79, „La nuit“, S. 86–92. 37 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 88. Das Einfügen deutscher Befehle und Kommandos in die Erzählung gehört, wie auch die Berichte von Robert Antelme, Jorge Semprún, Primo Levi und zahlreichen anderen deutlich machen, zu den durchgehenden Erzählverfahren der Lagerliteratur (vgl. Kapitel XIV). 38 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 87–88.

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corps mortel, liées l’une à l’autre.“39 Ab diesem Moment lassen sich einzelne Körper und Köperteile nicht mehr differenzieren: „C’est un enchevêtrement de corps, une mêlée de bras et de jambes.“40 Das eigene Traumerleben wird nun durchgängig mit dem Pronomen „nous“ fortgeführt. Die zerstückelten Körperteile im Traum verwandeln sich erst im halbwachen Zustand wieder zurück in „cette jambe qui est celle de Lulu“, „ce bras qui est d’Yvonne“, „la tête de Viva“.41 Im Aufwachen setzten sich die Körperteile wieder zusammen zu jenen Frauenkörpern, die sich in den Schlafbaracken an die Träumerin drücken. Und selbst ein solches zwischenzeitliches Aufwachen vollzieht sich nicht individuell, sondern geschieht gemeinsam. Bemerkenswert ist außerdem, dass es im Erleben der Träumerin nicht die Mithäftlinge, sondern die Alpträume selbst sind, die sich in den Schlafhöhlen erheben und im Schatten menschliche Formen annehmen. Wenn Delbo schließlich beschreibt, wie die wankenden Gestalten durch den Schlamm in der Baracke nach draußen in die Latrinen stolpern, haben sich Traum- und Wacherleben vollständig überlagert. In einer komplexen Verschachtelung mehrerer Traumebenen42 fällt das Ich sodann in einen anderen Alptraum, der offensichtlich ebenfalls kollektiv geteilt wird: Der Traum von der Rückkehr nach Hause (vgl. Kapitel X) ist ein Traum im Traum, der sich ständig wiederholt und in einen Alptraum umschlägt, weil das Heimkommen von niemandem aus der Familie bemerkt wird. Das Ende des Kapitels führt in einer Verschränkung von traumhaftem Erleben und delirierender Wachwirklichkeit sämtliche Motive der zuvor erzählten Träume zusammen. Damit erscheinen die anderen Träumerinnen schließlich als erstarrte Larven, deren qualvoller Traum von der verhinderten Rückkehr nach Hause sie tatsächlich umbringt:43 […] d’autres larves dorment et gémissent et rêvent sous les couvertures qui les recouvrent – ce sont des linceuls qui les recouvrent car elles sont mortes, aujourd’hui ou demain c’est pareil, elles sont mortes pour le retour dans la cuisine où leur mère les attend et nous nous sentons basculer dans un trou d’ombre, un trou sans fin – c’est le trou de la nuit ou un autre cauchemar, ou notre vraie mort […].44 39 40 41 42

Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 87. Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 88. Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 88. Es handelt sich hier um eine Intra- bzw. Metadiegese, die den ‚Verschachtelungsgrad‘ des ganz ähnlich konstruierten Kapitels „Le nostre notti“ aus Levis Se questo è un uomo noch übersteigt und die Thematik in die Nähe des berühmten Schlusskapitels „Il risveglio“ aus Levis La tregua rückt. Vgl. Primo Levi: „Le nostre notti“, in: Primo Levi: Se questo è un uomo. Nachwort Cesare Segre, Torino: Einaudi 2005, S. 50–55 und Primo Levi: La tregua, Torino: Einaudi 2014, S. 197–201. 43 Vgl. „Che a sopravvivere sia l’uomo o il non-uomo, l’animale o l’organico, in ogni caso si direbbe che la vita porti in se stessa il sogno – o l’incubo – della sopravvivenza.“ Agamben: Quel che resta, S. 144. 44 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 90.

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Et la nuit est plus épuisante que je jour, peuplée de toux et de râles avec celles qui agonisent solitaires, pressées contre les autres qui sont aux prises avec la boue, les chiens, les briques et les hurlements, celles que nous trouverons mortes à notre réveil, que nous transporterons dans la boue devant la porte, que nous laisserons là, roulées dans la couverture où elles ont rendu la vie. Et chaque morte et aussi légère et aussi lourde que les ombres de la nuit […]. Et quand le sifflet siffle le réveil ce n’est pas la nuit qui s’achève […] c’est un cauchemar qui se fige, un autre cauchemar qui commence […].45

Auch im bereits genannten Kapitel „Un jour“ überlagern sich Traum- und Wacherleben. Allerdings in umgekehrter Weise. Es erzählt, wie eine dem Verdursten nahe Mitgefangene auf der Suche nach Schnee vom Appellplatz flieht und von einem Wachhund der SS zerrissen wird. Wurde oben der Schlaftraum mehrfach durch Eindrücke aus der Wachwelt durchbrochen, ist es hier ein tatsächliches Erlebnis, das in seiner Grausamkeit wie ein Traum erlebt wird. Die Szene wird zudem überblendet durch mehrere flashbacks aus der Kindheit der Träumerin: Das Sterben des Hundes wird zur Wahrnehmungsfolie für das gegenwärtige Sterben im Lager. Damit überlappen sich die einzelnen Realitätsebenen, nämlich aktuelle Grenzerfahrung, traumatische Erinnerung und nächtliches Traumgeschehen.46 Darüber hinaus aber ist für die Erlebende auch nicht mehr klar, wer hier eigentlich stirbt; ob es die andere ist, der Hund, sie selbst oder die gesamte Gruppe der beobachtenden Frauen. Le chien bondit sur la femme – sans rugir, sans souffler, sans aboyer. C’est silencieux comme dans un rêve. Le chien bondit sur la femme, lui plante ses crocs dans la gorge. Et nous ne bougeons pas, engluées dans une espèce de visqueux qui nous empêche d’ébaucher même un geste – comme dans un rêve. La femme crie. Un cri arraché. Un seul cri qui déchire l’immobilité de la plaine. Nous ne savons pas si le

45 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 91–92. Der Schlamm stellt auch ein wichtiges Motiv in einem (nahezu unbekannten) Theaterstück von Charlotte Delbo dar. Und auch hier steht er in enger Verbindung mit einer alptraumhaften Erfahrung; nämlich der Angst zu ersticken: „Il me faut rendormir, sinon je ne tiendrai pas jusqu’au lendemain, mais j’ai peur. J’ai peur que cette fois ce soit la boue. La boue noire, gluante et glacée du marais. […] La boue me descend dans la gorge par la bouche et par les narines, m’emplit l’estomac d’un gargouillis fétide, m’asphyxie.“ Charlotte Delbo: Qui rapportera ces paroles ? Et autres écrits inédits, Paris: Fayard 2013, S.  33. Das Stück stellt im Wesentlichen eine Umarbeitung des dritten Bandes ihrer Auschwitz-Trilogie dar. 46 Maria Teresa De Palma sieht in einer solchen Überlagerung verschiedener Wahrnehmungsebenen eine wesentliche Funktion der Traumerzählungen Delbos: „Les rêves chez Delbo donnent un relief tout particulier à la représentation des états intellectuels, perceptifs et sensoriels“ und bieten damit „une voie d’accès à la conscience“. Maria Teresa De Palma: ‚Mi sono alzato, sono ricaduto/Nel fondo dove il secolo è il minuto‘. Rêve et onirisme dans la littérature de témoignage (Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún). DPhil thesis Università de Bologna 2017 (http://amsdottorato.unibo.it/7864/1/De_Palma_Maria_Teresa_tesi.pdf), S. 311.

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cri vient d’elle ou de nous, de sa gorge crevée ou de la nôtre. Je sens les crocs du chien à ma gorge. Je crie. Je hurle. Aucun son ne sort de moi. Le silence du rêve.47

Aus der Perspektive der Todgeweihten, die das beschreibende Ich immer wieder abrupt einnimmt, erscheinen gar alle anderen, die die Sterbende stumm – wie im Traum – beobachten, bereits tot.48 An solchen Stellen wird also nicht nur für eine Andere gesprochen, sondern auch aus dem Blickwinkel der Anderen.49 Das erzählende Ich hat sich verdoppelt: Es beobachtet die Sterbende und wird selbst als bereits Tote beobachtet. Sehr explizit berichtet Charlotte Delbo hier von jenen ‚Muselmännern‘, die Giorgio Agamben zum (leeren) Zentrum seiner Argumentation macht. Für unseren Zusammenhang gilt es hervorzuheben, dass Charlotte Delbo die Beschreibung der Muselfrauen (die allerdings nicht mehr als Frauen erkennbar sind50) vorrangig innerhalb ihrer Traumsequenzen vornimmt.51 Zu deren Eigenschaften gehört neben der Unsicherheit über den lebenden oder toten Zustand der Anderen auch die Unfähigkeit, ihn oder sie anzuschauen. Denn wer den ‚Muselmann‘ anblickt, so Agamben im Anschluss an zahlreiche Zeugenberichte, bekommt vor Augen geführt, was er selbst unwei47 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 48. Die Ästhetik, die in solchen Berichten aufscheint, bezeichnet Mahlmann-Bauer als „tableau vivant“, als „pathetische Bühnenszene“ und als „surrealistische Elemente“, mit denen alle Sinne der Leserschaft zur Möglichkeit des emotionalen Nachvollzugs angesprochen werden sollen. Mahlmann-Bauer: Die Shoah aus weiblicher Sicht, S. 165. 48 „Je sais pourquoi elles ne m’aident pas. Elles sont mortes. Elles sont mortes. Ah ! elles paraissent vivantes parce qu’elles tiennent debout appuyées les unes aux autres. Elles sont mortes.“ Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 46. 49 An anderen Beispielen, die jedoch mit den zitierten Passagen vergleichbar sind, vollzieht Judith Klein nach, wie Charlotte Delbo auch für die Beschreibung der Wachwirklichkeit „halluzinatorisch entrückte“ und „mehrfach gebrochene Bilder“ verwendet, die „ihres herkömmlichen Sinnes beraubt werden, einen neuen Sinn erhalten, der Schock auslöst, wobei der Wechsel der Personen und Perspektiven und die Verfremdung gewohnter Bilder die „Entäußerung des Ich“ widerspiegelt. Judith Klein: „Am Rande des Nichts. Autobiographisches Schreiben von Überlebenden der Konzentrationslager: Jacqueline Saveria und Charlotte Delbo“, in: Michaela Holdenried (Hrsg.): Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin: Erich Schmidt 1995, S.  278–286, hier S.  282 und S.  283. Ausführlichere Analysen der Delbo’schen Schreibweise finden sich in Judith Klein: Literatur und Genozid. Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur, Wien/Köln: Böhlau 1992, u. a. S. 82–90. 50 Es ist die Rede von einer nackten, abgemagerten Mitgefangenen, die mit grotesken Bewegungen versucht, sich gegen die Kälte zu wehren: „Une danse de méchanique. Un squelette de femme qui danse. […] Il y a des squelettes vivants et qui dansent.“ Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 44–45. 51 „Voici une morte qui s’avance vers elle. Mannequin dans le vêtement rayé.“ Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 46. Ihre Formulierungen erinnern offenkundig an die ‚Muselmann‘-Beschreibungen von Viktor Frankl, Bruno Bettelheim und Primo Levi. Zudem bewegen sie sich bildlich sehr nahe an den Augenzeugenberichten aus den eingangs genannten AuschwitzHeften oder von Aldo Carpi: Diario di Gusen, Torino: Einaudi 1993.

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gerlich sehr bald sein wird.52 Daher fragt auch das Ich in Delbos Text: „Pourquoi nous fixe-t-elle ? N’est-ce pas moi qu’elle désigne  ? Moi qu’elle implore  ? Je tourne la tête. Regarder ailleurs. Ailleurs.“53

Traum und Zeugenschaft bei Vercors Vom identifikatorischen Blick auf den ‚Muselmann‘ im Traum handelt auch ein ganz anderer Text, der nur wenige Jahre zuvor entstanden ist. In Delbos Textpassage zwingt sich das Ich wegzuschauen, um zu überleben. In der fiktionalen Erzählung „Le songe“ von Vercors hingegen54 sieht der Träumer sehr genau hin, stirbt dabei selbst und zwingt zudem seine Leserinnen und Leser, den Blick nicht abzuwenden (vgl. Kapitel  II). Dieser Text soll hier nochmals aus zwei Gründen präsentiert werden: Zum einen existieren in „Le songe“ geradezu verblüffende Gemeinsamkeiten zum Sumpftraum Delbos. Zum anderen treten durch vergleichbare Motive, Handlungsmomente und Figurenkonstellationen gerade die Differenzen besonders hervor. Damit gibt der Traum Vercors’ eine weitere wichtige Antwort auf die eingangs aufgeworfenen Fragen der Zeugenschaft und der ‚Unsagbarkeit‘. Der Autor dieses Textes ist ebenfalls in der Résistance tätig, allerdings selbst kein Shoah-Opfer. Er verfasst den Text bereits 1943 unter Pseudonym im Untergrund; zu einer Zeit also, als die Ausmaße der nationalsozialistischen Vernichtungsindustrie nicht, oder allenfalls gerüchteweise, bekannt sind.55 Dass die Erzählung zudem umfangreiches theoretisches Traumwissen enthält, hat bereits das Kapitel II dieses Buches deutlich gemacht. Für den hier vorgenomme52 Agamben: Quel che resta, S. 45–47. 53 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 44. Die „Untoten“, die „ziellos im Lager umherirren wie Gespenster“, erscheinen den noch Lebenden wie eine dritte Kategorie zwischen Leben und Tod, zwischen Mensch und Nicht-Mensch, welche die Unzulänglichkeit dieser Grenzen vor Augen führt (vgl. Agamben: Quel che resta, S. 124–125). Für Agamben ist daher die Lehre von Auschwitz, dass der Mensch derjenige ist, der den Menschen überleben kann. Und zwar erstens im Sinne des ‚Muselmanns‘: Der ‚Muselmann‘ überlebt den Menschen, er übersteigt also alles Menschliche (Agamben: Quel che resta, S. 124). Und im zweiten Sinne: Der Überlebende überlebt den ‚Muselmann‘, den Nicht-Menschen (Agamben: Quel che resta, S. 125). 54 Vercors (= Jean Marcel Bruller): „Le songe“, in: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres. Hrsg. von Alain Riffaud, Paris: Omnibus 2002, S. 177–186, hier S. 99–291. 55 Die Erzählung gilt als eine der ersten fiktionalen Auseinandersetzungen mit der Realität nationalsozialistischer Konzentrationslager. Vgl. Jean-Paul Dufiet: „Novembre 1943, Le Songe de Vercors. La littérature et le camp de concentration nazi“, in: Roman 20–50 28 (1999), S. 115– 127, hier S. 115.

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nen Vergleich zu Delbo sei ausschließlich die ‚Muselmann‘-Problematik in den Fokus gerückt. Die Intention des Textes ist eindeutig: Es handelt sich um den Versuch, die Leserinnen und Leser aufzurütteln. Nicht ganz zu Unrecht lässt sich der Erzählung, die mitunter ins Pathetische umzukippen droht, vor allem aufgrund ihrer plastischen Sprache ein voyeuristischer Aspekt zuschreiben. Denn hier spricht ein nicht direkt von der Shoah betroffener Erzähler, der sich auch in der Wachwelt eindeutig außerhalb des „univers concentrationnaire“ befindet.56 Vercors führt auf diese Weise den Rezipientinnen und Rezipienten drastisch vor Augen, wovor sie bislang die Augen verschließen und was sich als historisches Faktum (noch) nicht beweisen lässt. Der Erzähler will letztlich verhindern, dass die Lesenden sich abdichten gegen eben jene „cris d’agonie de ceux dont quelque part on brûlait les pieds et les mains“,57 die Delbo so eindringlich beschreibt. In besonderen Nächten, so der Ich-Erzähler, ereilten die Träumenden schlafend Geschehnisse, die das Fassungsvermögen der Wachwirklichkeit übersteigen und gerade darum auf eine unmittelbare Weise wahrhaftig seien: Die Ereignisse spielen sich ab innerhalb „une vaste conscience diffuse, d’une sorte de conscience universelle et flottante, à laquelle il nous arrive de participer dans le sommeil, par certaines nuits favorisées“.58 In seinem Traum gerät der autodiegetische Erzähler in eine nebelgetrübte Sumpflandschaft. Hier bewegen sich abgemagerte, verzerrte und entstellte Gestalten mit tätowierten Nummern auf den Armen qualvoll durch Schlamm vorwärts und drohen zu versinken. Den größten Raum des Textes nehmen die detaillierten Beschreibungen der einzelnen Figuren ein. Drei Viertel der sechsseitigen Erzählung sind den Körpern der Sterbenden gewidmet: der Deformierung durch schwarze, prügelnde Männer, dem undefinierbaren Zustand der Strauchelnden auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod, ihren grotesken Bewegungen, die an die tanzenden Skelette bei Delbo erinnern, ihre Monstrosität. Das Geschehen rückt immer näher an den Träumenden heran; schließlich kann er sich die Qual der Anderen nicht mehr vom Leib halten: Unwillentlich gerät er in Berührung mit einem ‚Muselmann‘. Dieser blickt ihn eindringlich an und versucht Kontakt mit ihm aufzunehmen. Doch er kann sich nicht artikulieren, weil er statt einer Zunge eine schwarze, zusammengerollte, gekochte Schnecke im Mund hat.59 Auch andere Motive und Bilder der Erzählung verweisen auf die Grenzen der menschlichen Mitteilungsfähigkeit: Der Mund eines Gefolterten ist mit einer brennenden Klammer verschlossen, vom Himmel hängen Stoffbahnen herunter, die dem Träumer wie zerfetzte Zungen erscheinen  – wobei sich das französische „langue“ ja sowohl auf das Körperorgan als auch auf 56 57 58 59

David Rousset: L’univers concentrationnaire, Paris: Éditions du Pavois 1946. Vercors: Le songe, S. 179. Vercors: Le songe, S. 180. Vercors: Le songe, S. 181.

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die Sprache selbst beziehen kann.60 Der Traumbericht schließt damit, dass der Sterbende ein letztes Lächeln auf das träumende Ich richtet, welches er mit der Hoffnung verbindet, nicht vergessen zu werden. Lässt sich hier noch von der Verbindung zweier unterschiedlicher Gestalten sprechen, dem beobachtenden Träumer, der von einem ‚Muselmann‘ angeblickt wird, so endet die Erzählung mit eben jenem Paradox, das auch Delbo in der Formulierung „je remeurs la mort de ceux qui sont morts“ zur Sprache gebracht hatte: „Maintenant, j’étais un de ces hommes. Je ne le suis pas devenu : je l’étais. Depuis toujours. Je n’étais plus ce spectateur […]. J’étais seulement un de ces hommes-là.“61 Der Träumer, so Vercors, lässt sich also vom Geträumten nicht mehr unterscheiden; im Traumerleben sind sie vollständig miteinander identifiziert. Auch in diesem Text geht das sprechende Ich daher in ein „nous“ über; ein „wir“, das allerdings, im Gegensatz zu Delbo, explizit uns Leserinnen und Leser mit einschließt. Sehr deutlich wird hier über die Figur des ‚Muselmanns‘ die Aporie der Shoah inszeniert: Für den ‚Muselmann‘ zu zeugen ist ebenso unmöglich wie notwendig. Im erzählten Traum ist es aufgrund der ungewöhnlichen narrativen Konstruktion das Ich selbst, das zugleich mit dem ‚Muselmann‘ untergeht. Einzig die Traumerzählung als Text erlaubt es, diese Erfahrung nachträglich als am eigenen Leib erlebtes Sterben zu kommunizieren. Damit versucht auch Vercors die „Lücke im Zeugnis“ zu schließen bzw. traumpoetisch zu überbrücken, von der Agamben spricht; allerdings – und das ist freilich entscheidend – als fiktionales Zeugnis. Mittels der Traumfiktion stellt er sich einer möglichen Leugnung oder Verdrängung der historischen Ereignisse ausdrücklich entgegen. Diese Haltung entspricht auch seiner im wissensgeschichtlichen Kontext höchst aufschlussreichen traumtheoretischen Argumentation zu Beginn der Erzählung, die eine Art kollektives Traumgedächtnis ins Spiel bringt. Vercors’ Text scheint also literarisch zu inszenieren, was Agamben theoretisch formuliert. Wenn es gelingt, für den ‚Muselmann‘ Zeugnis abzulegen, wenn damit die Unmöglichkeit zu sprechen zum Sprechen gebracht wird, lässt sich die Shoah nicht mehr leugnen: „Se il testimone testimonia per il musulmano, se egli riesce a portare alla parola l’impossibilità di testimoniare […], allora il negazionismo [della sh’oa] è confutato nel suo stesso fondamento.“62

60 Vercors: Le songe, S.  180. Zu diesem Aspekt vgl. auch Nadja Lux: ‚Alptraum: Deutschland‘. Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich‘, Freiburg: Rombach 2008, S. 321–358, hier S. 350. 61 Vercors: Le songe, S. 186. 62 Agamben: Quel che resta, S. 153.

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Traum und Zeugenschaft bei Elie Wiesel Von einer gescheiterten Kommunikation mit den im KZ ermordeten Anderen, vor allem dem eigenen Vater, der seinen Blick im Traum auf den Überlebenden richtet, erzählen auch die Träume, die Elie Wiesel systematisch in seine Memoiren eingeflochten hat. Solche Träume bezeugen die Existenz der ermordeten Familienmitglieder und stellen damit eine Form individuellen Gedenkens dar. Der bedeutendste Unterschied zu Vercors besteht freilich darin, dass das, was Vercors als hochgradig stilisierte Traumfiktion publiziert, für Wiesel die selbst erlebte und autobiographisch beglaubigte Wirklichkeit ist, die er in seinen zahlreichen Schriften zum zentralen Erzählgegenstand macht.63 Ganz ähnlich wie dies Charlotte Delbo in ihrem Auschwitz-Bericht beschrieben hat, erlebt auch Elie Wiesel, der als 15-Jähriger zusammen mit seiner Familie aus dem rumänischen, unter ungarischer Herrschaft stehenden Shtetl Sighet nach Auschwitz deportiert wird, die Lagerwirklichkeit als derart unfassbar, dass sie ihm wie ein Traum erscheint. Das Stehen im eisigen Wind auf dem Appellplatz beschreibt er im ersten Band seiner Trilogie La nuit beispielsweise mit folgenden Worten: „Combien de temps nous tenions-nous ainsi dans le vent glacé ? Une heure ? Une simple heure ? Soixante minutes ? C’était sûrement un rêve.“64 Eine auffällige Differenz sowohl zu Delbo als auch zu Vercors zeigt sich allerdings darin, dass die Shoah-Erfahrungen in den Schriften Wiesels – und dies gilt gerade auch für die integrierten Traumnotate – ausgesprochen konsequent in einen jüdischen Kontext eingebettet werden.65 Seine religiöse Erziehung, seine 63 Dies hat Elie Wiesel, über die vielfache Verwendung von Traumberichten hinaus, mit Primo Levi und Jorge Semprún gemeinsam. Wie ersterer erlebt er die Ankunft der Russischen Armee in Auschwitz mit, wie letzterer wird er am 11. April 1945 aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit. Und beide – Elie Wiesel wie Jorge Semprún – setzen sich in ihren Schriften explizit mit den Texten Levis und mit dem Selbstmord des traumatisierten AuschwitzÜberlebenden auseinander. Für Semprún vgl. Kapitel X, für Elie Wiesel die Zeilen über den Tod seines Freundes: Elie Wiesel: … Et la mer n’est pas remplie. Mémoires, Bd. 2, Paris: Seuil 1996, S. 471. 64 Elie Wiesel: La nuit [1958], Paris: Minuit 2007, S.  83. Die anderen beiden Bände sind mit L’aube und Le jour betitelt. Das zunächst auf Jiddisch verfasste Werk Un di velt hot geshvign (Buenos Aires: Tsentral-Farband fun Polyshe Yidn in Argentine 1956) wurde für die französische Übersetzung stark gekürzt. Die deutsche Fassung ist in einem einzigen Band erschienen. Elie Wiesel: Die Nacht zu begraben, Elischa, München: Langen Müller 1962. 65 Vgl. Byron L. Sherwin: „Wiesel’s Midrash. The Writings of Elie Wiesel and Their Relationship to Jewish Tradition“, in: Alvin H. Rosenfeld/Irving Greenberg (Hrsg.): Confronting the Holocaust. The Impact of Elie Wiesel, Bloomington/London: Indiana University Press 1978, S. 117– 132. Diese jüdische Kontextualisierung mag damit zusammenhängen, dass es zwar keine kohärente jüdische Traumtheorie gibt (vgl. Wojciech Owczarski: „Dreaming ‚the Unspeakable‘? How the Auschwitz Concentration Camp Prisoners Experienced and Understood Their Dreams“, in: Anthropology of Consciousness 31/2 (2020), S.  128–152, hier S.  280–282). Den Träumen im Judentum wird aber, wie entsprechende Traumpassagen aus der Bibel, der Kab-

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Auseinandersetzung mit dem jüdischen Glauben, etwa der Theodizee-Frage, die jiddische oder hebräische Sprache und die Traditionen des Judentums, insbesondere des Chassidismus, spielen in seinen Texten eine zentrale Rolle.66 Im Traumerleben äußert sich dieser jüdische Hintergrund etwa durch bestimmte Feiertage wie Rosh Hashanah, leuchtende Jahrzeitkerzen, verhängte Spiegel und jüdische Beileidsbekundungen, Thorarollen in der Synagoge, jiddische und hebräische Sprachfragmente, Shabbat-Kleidung, Gebete oder den Besuch eines jüdischen Friedhofs.67 In den über 1.000 Seiten umfassenden Memoiren verknüpft Wiesel seine Erfahrungen der Deportation und der Inhaftierung mit den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend, den Spuren jüdischer Kultur und Religion, die die Nazis vernichtet haben, und seinem Lebensweg als Shoah-Überlebender, nämlich als Emigrant in Frankreich bzw. den USA, als späterer Professor für Judaistik und Literatur und als Friedensnobelpreisträger. Eines der Anliegen, das den Memoiren zugrunde liegt, formuliert Wiesel folgendermaßen: „Mon intention n’est pas de répéter ce que j’ai rapporté dans La nuit, mais de revoir ce témoignage avec mes yeux d’aujourd’hui.“68 Diese zeitliche Distanz erklärt auch die zahlreichen eingefügten Zitate aus seinen früheren Schriften, die umfangreichen Überlebalah, dem Midrasch oder dem Talmud deutlich machen, generell eine wichtige Bedeutung beigemessen. Auch wenn Traumdeutungen – und damit der Autorität des Traumdeuters – innerhalb der jüdischen Tradition eine besondere Rolle zukommt, so fällt doch auf, dass Elie Wiesel seine Träume selten einer ausführlichen Deutung unterzieht. Zumeist bleibt es, wie die Ausführungen in diesem Kapitelabschnitt zeigen, bei einer knappen Kommentierung. Zur Funktion des Traums in der jüdischen Kultur, vgl. Shaul Bar: A Letter That Has Not Been Read. Dreams in the Hebrew Bible, Cincinnati (OH): Hebrew Union College Press 2001, Ken Frieden: „Talmudic Dream Interpretation, Freudian Ambivalence, Deconstruction“, in: Carol Schreier Rupprecht (Hrsg.): The Dream and the Text. Essays on Literature and Language, Albany (NY): SUNY Press 1990, S. 103–11 und Solomo Zeitlin: „Dreams and their interpretation from the Biblical period to the Tannaitic time. A historical study“, in: The Jewish Quarterly Review 66 (1975), S. 1–18. 66 Vgl. insbesondere Arthur Green: „Wiesel in the Context of Neo-Hasidism“, in: Steven T. Katz/ Alan Rosen (Hrsg.): Elie Wiesel. Jewish, Literary, and Moral Perspectives, Bloomington/London: Indiana University Press 2013, S. 51–58 und Joel Rosenberg: „Alone with God. Wiesel’s Writings on the Bible“, in: Steven T. Katz/Alan Rosen (Hrsg.): Elie Wiesel. Jewish, Literary, and Moral Perspectives, Bloomington/London: Indiana University Press 2013, S. 9–20. 67 Elie Wiesel: Tous les fleuves vont à la mer. Mémoires, Bd. 1, Paris: Seuil 1994, S. 11, S. 13, und Elie Wiesel: … Et la mer n’est pas remplie. Mémoires, Bd. 2, Paris: Seuil 1996, S. 249, S. 288, S. 365, S. 414–415, 439 u. v. a. Mit der Beschreibung chassidischer Gesänge und seinem kritischen Blick auf die Betenden in den Schlafbaracken von Auschwitz, die den Glauben an Gott noch nicht verloren haben, ergibt sich eine auffällige Parallele zu den abendlichen Ritualen und den Gebeten, von denen Primo Levi in den Kapiteln „Le nostre notti“ und „Ottobre 44“ in seinem Bericht Se questo è un uomo erzählt (vgl. Kapitel IV). Wiesel selbst berichtet rückblickend davon, wie intensiv sein früheres Traumerleben von einer „ambiance hassidique“ geprägt war. Elie Wiesel: „Voici mes songes“, in: Elie Wiesel: Et où vas-tu ? Textes, essais, dialogues, Paris: Seuil 2004, S. 229–231, hier S. 229. 68 Wiesel: Tous les fleuves, S. 104.

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gungen zur Rezeption dieser Werke sowie die Auseinandersetzung mit anderen Shoah-Überlebenden und Schriftsteller-Kollegen etwa in Briefen, öffentlichen Reden oder privaten Gesprächen, die in Auszügen wiedergegeben werden. Typographisch durch Einrückungen hervorgehoben, finden sich neben diesen Zitaten, die oftmals auch Ausschnitte aus der jüdischen Bibel (v.  a. über Hiob und Jeremia), dem Midrasch oder Talmud-Geschichten umfassen, zahlreiche Traumnotate. Diese stehen an besonders markanten Stellen der Mémoires, wie beispielsweise am Anfang des ersten Bandes, zu Beginn eines neuen Kapitels oder (fast) am Schluss des zweiten Bandes. Eine solche Position kann bereits als Hinweis auf die Bedeutung gelten, die Wiesel selbst seinen Träumen als Shoah-Überlebender zuschreibt.69 Zumeist handelt es sich dabei um einzeln protokollierte Träume aus der Erzählgegenwart des autobiographischen Ich.70 Mitunter werden Träume aber auch iterativ wiedergegeben, indem der Erzähler etwa resümiert, dass er augenblicklich besonders häufig von seinem Vater träumt oder immer wieder von Alpträumen zermürbt erwacht.71 Auffällig ist insgesamt, dass diese Träume nur selten vom Erzähler selbst gedeutet oder reflektiert werden. In manchen Fällen dienen sie zwar indirekt als Erzählanlass für Erinnerungen an das orthodoxe Judentum, das die Kindheit Wiesels geprägt hat (stellvertretend hierfür steht der chassidische Großvater), oder sie werden als Hinweis auf die zerstörte jüdische Tradition verstanden (etwa, wenn der Träumende sich angesichts des erscheinenden Vaters fragt: „Voulait-il me conduire quelque part ? Là où seule la mémoire est encore vivante ? Dans notre ville morte peut-être ?“72). Meist aber erfahren die Traumberichte keinerlei Einbettung in den Erzählfluss und keine tiefere Auseinandersetzung mit dem im Traum erzählten Geschehen. Damit bilden sie einen weitgehend eigenständigen Erzählstrang innerhalb der Mémoires, der das insgesamt chronologisch angelegte Fortschreiten der Zeit von der Kindheit bis zur erzählten Gegenwart in den 1990er Jahren durchbricht. Ellen S. Fine stellt zur Funktion der integrierten 69 Diese Bedeutung ist in der Forschung bislang, soweit ich sehe, nur von Ellen S. Fine erkannt worden, die selbst wiederum im Jahr 2013 feststellt, dass das Thema weitgehend unbeachtet geblieben ist. Fine untersucht die Traumnotate aus Wiesels Memoiren im Zusammenhang mit seinen Dialogen, die Wiesel als eine eigene literarische Textsorte versteht und ebenfalls ausführlich in seine Memoiren integriert. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Träume und Dialoge von denselben Motiven durchzogen sind (nämlich vor allem von der Abwesenheit der geliebten Familie), sich jedoch gegenseitig ergänzen: Während in den Träumen Sprachlosigkeit vorherrsche, dienten die Dialoge dazu, den Toten ihre Stimme zurückzugeben. Vgl. Ellen S. Fine: „Dreams and Dialogues. Wiesel’s Holocaust Memories“, in: Steven T. Katz/Alan Rosen (Hrsg.): Elie Wiesel. Jewish, Literary, and Moral Perspectives, Bloomington/London: Indiana University Press 2013, S. 137–145, hier S. 138. 70 Sie sind entweder mit konkretem Datum oder einer allgemeinen, unbestimmten Zeitangabe versehen (z. B. „Cette nuit encore – 10 juillet 1991 –, j’ai revu ma mère en rêve“, „Hier soir, j’ai vu mon père en rêve“). Wiesel: Tous les fleuves, S. 183, S. 11, ähnlich auch S. 29. 71 Z. B. Wiesel: Tous les fleuves, S. 288 und Wiesel: Et la mer, S. 13. 72 Wiesel: Tous les fleuves, S. 29.

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Träume fest: „By observing Wiesel’s dreams and dialogues, we catch a glimpse into the author’s inner landscape, his deep memory and private revelations that have been mainly hidden from the reader.“73 In Relation zur Linearität der autobiographisch rekonstruierten Ereignisse sticht die zirkuläre Struktur der wiedergegebenen Träume besonders ins Auge: Sie zeichnen sich durch eine derart große thematische und motivische Homogenität aus, dass sie sich geradezu als ein einziger, stets wiederkehrender, in unterschiedlichen Varianten erzählter Traum verstehen lassen. In fast jedem Traum erscheinen dem Träumer sein in Buchenwald verstorbener Vater oder – seltener – Mutter, Großvater und die kleine Schwester, die jeweils versuchen, mit dem Träumer in Kontakt zu treten.74 Ob die Träume Elie Wiesels ausschließlich von den verstorbenen Familienmitgliedern handeln oder ob er einzig solche Traumerlebnisse in seine Memoiren aufnimmt, ist weniger entscheidend als die Wirkung, die dadurch erzielt wird: Die Toten sind allgegenwärtig, sie suchen den Träumer heim, sie verweisen auf die Unabgeschlossenheit der Shoah und auf das schuldbehaftete Schicksal des Sohnes und Bruders als Überlebender.75 Denn in fast allen Fällen ist das Erscheinen der Ermordeten mit einem vergeblichen Versuch der Kommunikation verbunden, den der Träumer zugleich als eine unausgesprochene Forderung erlebt. Die Figur des Vaters versucht etwa zu sprechen und wird nicht gehört, macht sich mit Gesten bemerkbar, die nicht gedeutet werden können, artikuliert mimisch eine stumme Aufforderung, der der Träumende nicht nachkommen kann. Ähnliches gilt für die anderen im Traum erscheinenden Figuren: Auch Großvater, Mutter oder Schwester können nicht sprechen, sich nicht bemerkbar machen oder verweigern eine Antwort auf die Fragen des Träumers, sodass sich dieser verzweifelt fragt: „Que faut-il faire pour que les morts consentent enfin à parler dans mes songes ?“76 73 Fine: Dreams and Dialogues, S. 139. 74 Mitunter tauchen auch mehrere Familienmitglieder gleichzeitig auf, etwa im letzten Traum seiner Mémoiren, in dem der Vater und die kleine Schwester gemeinsam erscheinen und in der der Träumer die rituelle jüdische Beileidsformel verwendet, bevor der Vater leuchtend am Horizont verschwindet. Wiesel: Et la mer, S. 414–415. 75 Mit Blick auf Wiesels La nuit und seine „unreal reality“, die mitunter phantastische Züge annehme und seine Leser damit den Alptraum der Shoah nacherleben lasse, betont Lawrence Langer die Allgegenwart des Todes folgendermaßen: „[D]eath has replaced life as the measure of our existence, and the vision of human potentiality nurtured by centuries of Christian and humanistic optimism has been so completely effaced by the events of the Holocaust that the future stretches gloomily down an endless vista into futility.“ Lawrence Langer: The Holocaust and the Literary Imagination, New Haven/London: Yale University Press 1975, S. 76–82; „unreal reality“ S. 78, „fantastic irreality“, S. 80. 76 Wiesel: Tous les fleuves, S. 76. In einem anderen Traum belauscht der Träumer seine Großmutter und seine kleine Schwester auf einem jüdischen Friedhof, kann ihre Worte aber nicht verstehen. Er erkennt allerdings, dass sich die Toten durch die Geräusche des raschelnden

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Beispielhaft für viele andere ist etwa der Traum, mit dem Wiesel seine Memoiren beginnt: Hier soir, j’ai vu mon père en rêve. Son visage mal rasé restait pareil à lui-même, figé dans la même expression, mais à chaque instant il changeait d’habit. Tantôt il portait son costume de Shabbat, tantôt il était revêtu des loques rayées des êtres maudits et laminés. D’où venait-il cette nuit ? De quel paysage s’était-il échappé ? De qui était-il l’émissaire ? Le lui ai-je demandé ? Je ne me le rappelle plus. Je me souviens seulement de son air triste, résigné. Il voulait me confier quelque chose, c’était clair à la façon dont ses lèvres remuaient. Mais aucun son n’en sortit. Soudain, dans mon sommeil – ou était-ce dans le sien ? – je me surpris à douter de mes sens : était-ce mon père ? Je n’en étais plus sûr. Certes ce visage lui ressemblait, mais cela ne signifiait pas grand-chose. En rêve, toutes les certitudes, à peine ébauchées, finissent par se brouiller et s’estompent. Aube et crépuscule, réalité et fantasmes se confondent. Et pourtant. C’est bien mon père qui apparut devant moi hier soir. Porteur d’un message ? D’un avertissement peut-être ? Le cœur battant, je me suis réveillé en sueur. Une idée folle et angoissante me traversa l’esprit : il est venu me chercher.77

Geradezu programmatisch eröffnet der Erzähler also seine Lebensgeschichte mit einem Traum und einer an diesen Bericht angefügten Aussage darüber, dass im Traum alle Sicherheiten verlorengehen, die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Einbildung verschwimmen. Auffällig und repräsentativ für nahezu sämtliche integrierte Traumnotate ist die ausgeprägte Dimension eines traumspezifischen Nicht-Wissens mit allen damit einhergehenden Ambivalenzen: Es werden zahlreiche unbeantwortete Fragen aneinandergefügt, es bestehen Unsicherheiten hinsichtlich der Identität der geträumten Figuren, es finden sich Wissens-, Erinnerungs- und Wahrnehmungslücken. Auch mehrfache Gleichzeitigkeiten, die nur im Traumerleben möglich sind, weisen die Wiesel’schen Notate auf. Im Falle dieser Traumerzählung ist es zunächst einmal das traumtypische plötzliche Hinund Herspringen zwischen verschiedenen Zuständen („à chaque instant“, „tantôt … tantôt“, „je me surpris“). Im Traum ist der Vater beides abwechselnd und beides zugleich: mit seinem Shabbat-Gewand der autoritäre Vertreter jüdischen Glaubens78 und im zerlumpten Häftlingsanzug der KZ-Gefangene. Und in beiden ‚Rollen‘ hat er etwas Wichtiges zu sagen, das nicht gehört oder verstanden wird. Laubs äußern. Wenn dieses nicht zu hören ist, „c’est que les morts n’ont pas envie de parler“. Wiesel: Et la mer, S. 288. 77 Wiesel: Tous les fleuves, S. 11. 78 Dass Vater und Großvater als Autoritäten des Judentums erscheinen, zeigt sich an vielen Stellen. U. a. erwarten sie von dem Träumenden immer wieder, Gebete und Gesänge zu rezitieren. Dieser muss jedoch erschrocken feststellen, den Text vergessen zu haben. U. a. Wiesel: Et la mer, S. 13 und S. 439.

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Noch eine andere Unterscheidung hat sich für den Träumer verflüchtigt: Abgesehen von der Unsicherheit über die Identität des Gegenübers, ist er sich im Schlaf nicht einmal mehr sicher, ob er sich überhaupt in seinem eigenen Traum oder nicht vielmehr im Traum des Vaters befindet. Mit der Überlappung zwischen verschiedenen Träumen gehen sodann weitere Grenzüberschreitungen einher. Unabhängig davon, ob mit dem französischen Verb „chercher“ „suchen“ oder eher „holen“ gemeint ist: Der Vater übertritt in der Wahrnehmung des Träumers die durch den Tod gezogene Trennlinie zwischen ihm und dem Sohn. Immer wieder erzählen die Träume von solchen Identitätsverwirrungen und Identitätsüberschneidungen, in denen die Grenzen zwischen träumendem Ich und geträumter Figur zerfließen. So wird etwa zu Beginn des Kapitels „Action et actualité“ ein Traum erzählt, in dem Vater und Sohn plötzlich auftauchenden Gespenstern in die Synagoge folgen. Als die Kerzen ausgelöscht werden, ist der Vater nicht mehr zu sehen, der Sohn fühlt aber dennoch seine Anwesenheit. Er ist sich zwar sicher, dass es sich um den Vater handelt, weiß aber nun plötzlich nicht mehr, wer er selbst eigentlich ist.79 An anderer Stelle greifen phantomartige Gestalten den Vater an, wobei der Sohn nicht unterscheiden kann, ob es der Andere oder er selbst ist, der im Traum misshandelt wird.80 Einerseits sind in den Erinnerungen Wiesels die Welten des Traums und des Todes nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Andererseits wird damit die nächtliche Traumwelt selbst zu einem diffusen Bereich zwischen Leben und Tod. Es handelt sich hier um eine Zwischenwelt, der sich der Träumende offensichtlich unwillkürlich zugehörig fühlt; jedenfalls erscheint ihm das Erwachen mit seinen verzweifelten Versuchen der Traumrekonstruktion – und dies ist ein weiteres Element der vielen paradoxen, ja geradezu als Oxymora konstruierten Traumerfahrungen in Wiesels Werk – wie eine Flucht wider Willen: „J’essaie de saisir un mot, un appel de ce monde d’où, à contrecœur, je me suis évadé.“81 Diese Beobachtung lässt sich auch auf zahlreiche andere Träume übertragen, insbesondere solche mit luziden Anteilen: etwa wenn der Erzähler innerhalb des Traumes selbst zunehmende Angst verspürt, aufzuwachen oder sich danach sehnt, weiterschlafend in der Traumwelt zu verbleiben.82 Doch bevor solche weiteren Traumnotate einer näheren Betrachtung unterzogen werden, soll zunächst der biographische Zusammenhang zwischen den Shoah-Erfahrungen des Erzählers und seinem Traumerleben geklärt werden. 79 80 81 82

Wiesel: Et la mer, S. 117. Wiesel: Tous les fleuves, S. 365. Wiesel: Tous les fleuves, S. 288. Wiesel: Et la mer, S. 63. Dieser interessante Traum führt einen Konflikt zwischen Handlung und Träumen vor Augen, der vom Erzähler als spezifisch jüdisches Thema diskutiert wird: Er hört im Traum eine Stimme, die ihm sagt, er solle aufhören zu träumen und stattdessen lieber beginnen zu handeln. Im Fortgang der autobiographischen Erzählung führt Wiesel diesen Traum auf eine Passage des Talmud zurück, in der es um das Problem des Handelns geht.

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Die von Wiesel erzählten Träume können als traumatische im eigentlichen Sinne gelten, denn sie führen dem Erzähler in einer geradezu kreisförmig wiederkehrenden, teils hochgradig verdichteten, teils verschobenen Struktur stets von Neuem vor Augen, was er im Konzentrationslager erlebt hat. Im Mai 1944 wird er zusammen mit seinen Eltern und der kleinen Schwester Tzipora nach Auschwitz deportiert, wo Mutter und Schwester unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet werden. Es gelingt dem Jugendlichen über Monate hinweg, allen Misshandlungen durch die SS, Selektionen, Übergriffen von Mithäftlingen und den vorübergehenden Trennungen innerhalb des chaotischen, kontingenten Lageralltags zum Trotz, mit dem Vater zusammenzubleiben und diesen in seinem Überlebenskampf zu stärken. Selbst auf dem Todesmarsch nach Buchenwald, auf dem andere getrennt werden oder sich im Kampf um ein Stück Brot gegenseitig umbringen, bewegen sich Vater und Sohn in einem tranceartigen Zustand zwischen Leben und Tod Seite an Seite vorwärts.83 Doch Schlomo Wiesel stirbt schließlich Ende Januar 1945, also wenige Monate vor der Befreiung Buchenwalds am 11. April 1945, nach weiteren Misshandlungen an Entkräftung, ohne dass der um das eigene Überleben ringende Sohn ihn hätte retten können. Die konkreten Umstände des Todes (etwa, dass der Sohn den Vater vergeblich vom Einschlafen im Schnee abhalten will oder der Vater umgekehrt den Sohn um Wasser anfleht und seinen Namen ruft), die in La nuit ebenso ausführlich wie unpathetisch beschrieben werden, sind mit schweren Schuldgefühlen für den Erzähler verbunden und lassen ihn sein Leben lang nicht mehr los. In Wiesels Erzählungen zeigt sich: Der Vater ist während seiner Inhaftierung im Konzentrationslager zum ‚Muselmann‘ geworden, von dem sich nicht mehr sagen lässt, ob er überhaupt noch lebt. So heißt es gegen Ende des autobiographischen Berichts La nuit: 28 Janvier 1945 : Mon père vivait encore. Je m’éveillai le 29 janvier à l’aube. À la place de mon père gisait un autre malade. On avait dû l’enlever avant l’aube pour le porter au crématoire. Il respirait peut-être encore […]. Il n’y eut pas de pierre sur sa tombe. Pas de bougie allumée pour sa mémoire. Son dernier mot avait été mon nom. Un appel, et je n’avais pas répondu.84

Im Traum werden diese traumatischen Erlebnisse, insbesondere die letzte Erinnerung an den Vater, durch Mechanismen der Wiederholung, Verdichtung und Übertragung kontinuierlich aktualisiert, versetzen den Träumenden in Angst oder lassen ihn panisch erwachen. Eine besondere Gefühlsambivalenz geht mit einer Art Rollentausch einher, die der Erzähler sowohl im KZ erlebt hat als auch im Traum stets von Neuem wieder durchlebt: Nicht nur sucht der Vater den Sohn auf, auch der Sohn sucht seinen Vater, der in seinem desolaten Zustand 83 Wiesel: La nuit, S. 158. 84 Wiesel: La nuit, S. 194.

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wie ein Kind empfunden wird und damit zwischen Autoritätsfigur und regrediertem Schutzbedürftigen oszilliert.85 Zugleich erweist sich der Traum – und hier zeigt sich ein weiteres emotionales Paradoxon – aber auch als ein Ort der positiven Erfahrung: Er ist der Raum, in dem eine Begegnung mit den Familienmitgliedern möglich ist, die Vermissten sichtbar werden, die Verlorenen wiedergefunden werden, die unterbrochene Genealogie vorübergehend wieder instand gesetzt wird und für einen kurzen Moment so etwas wie Erlösung möglich scheint.86 Diese Tatsache allein besitzt für den Träumer eine tröstliche Dimension, auch wenn die Kommunikation immer wieder scheitert, der Kontakt brüchig ist. Während er in der Wachwelt kein Grab aufsuchen kann, um dem Vater nahe zu sein, fühlt er sich im Traum mit ihm vereint: „Désormais, c’est en songe seulement que nous serons ensemble, unis. Souvent, je ferme les yeux, uniquement pour te voir.“87 Ihm träumend nahe zu sein – und sei es auch nur in dessen Tod – sieht er als notwendige Voraussetzung an, um selbst überhaupt weiterleben zu können.88 Im Traumerleben wird die Trennung überwunden, die zeitliche Differenz eingeebnet, die Verstorbenen und die Überlebenden treten hier zeitweise in einen gemeinsamen Begegnungsraum ein: „J’ai revu ma mère en rêve. […] Nous étions tous là. Ceux d’autrefois et ceux de maintenant.“89 Einerseits gerät der Erzähler in seinen Träumen also selbst in die Nähe des Todes und lotet die Grenzen zu diesem Bereich so intensiv wie möglich aus. Er fragt beispielsweise seinen Vater nach seinen Erfahrungen im Himmel, überlegt, was die Toten untereinander besprechen und möchte wissen, ob die vielen umherirrenden Seelen dazu dienen, ihm, dem Träumenden, seinen eigenen (Lebens-)Weg zu beleuchten.90 Auch lässt er sich von den Traumgestalten in Räume begleiten, die er aus der Wachwelt nicht kennt. Auf der anderen Seite allerdings erfährt er träumend, dass er selbst die Grenze zu diesen Räumen nicht überschreiten kann. Die Toten beginnen zu leuchten, verschwinden im Schatten, verlieren ihre Konturen oder übertreten eine Linie am Horizont  – und lassen den Träumer alleine zurück. Diese Traumerkenntnis, dass der Träumende sich zwar in unmittelbarer Nähe des Todes befindet, aber selbst nicht stirbt oder gestorben ist, erweist sich für den Erzähler als ausgesprochen schmerzvolle Erfahrung. Es finden sich in den Memoiren zwar durchaus auch Träume, die nahelegen, dass der Träumende 85 Vgl. u. a. Wiesel: Et la mer, S. 117. In dieser Hinsicht erinnert das erzählte Traumerleben Wiesels auffällig an die onirische Erzählung „Das Urteil“ von Franz Kafka. 86 Einen Traumbericht verbindet das erzählende Ich etwa mit der Frage, ob der auftauchende Vater womöglich einen kleinen jüdischen Jungen oder Jugendlichen sucht, der sich nach Erlösung sehnt. Elie Wiesel: Tous les fleuves, S. 34. 87 Wiesel: Tous les fleuves, S. 128. 88 Wiesel: Tous les fleuves, S. 76. 89 Wiesel: Tous les fleuves, S. 183. 90 Wiesel: Tous les fleuves, S. 76 und Wiesel: Et la mer, S. 365.

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selbst betrauert wird.91 Häufiger allerdings sind die Unerreichbarkeit einer geliebten Person, eine Trennung, die nicht verhindert werden kann, oder eine Verbindung zu Verstorbenen, die gekappt zu werden droht: „On l’allume [la bougie Yahrzeit] pour commémorer les morts“, schreibt Wiesel in einem Traumnotat. Auf die Frage, wer denn gestorben sei, antwortet die Mutter nicht, sondern verschwindet, „je me retrouve seul, seule bougie éteinte au milieu de mille flammes clignotantes“.92 An anderer Stelle heißt es – und dieser Traum unterstreicht die gesamte kreisförmige Struktur der erzählten Träume innerhalb der Memoiren nochmals en miniature: „En rêve, je les accompagne [die Großmutter und die kleine Schwester] jusqu’au point au-delà duquel les vivants n’ont plus le droit d’avancer. Je reviens sur mes pas. Et je recommence.“93 Solche ambivalenten und paradoxen Erfahrungen, die im Traum als logisch erlebt werden, übersetzen das Trauma der Shoah in eine unmittelbar nachvollziehbare Bildersprache: Die Toten erscheinen auch im Traum als Verstorbene. Aber im Moment des Traumerlebens werden sie zugleich als lebendig wahrgenommen. Dieses Phänomen formuliert Elie Wiesel immer wieder durch eine chiastische Konstruktion. Der Traum von einer Sintflut beispielsweise, in dem der Sohn den Vater aus dem gefährlich anschwellenden Wasser, das sich in Blut verwandelt hat, rettet, obwohl er nicht schwimmen kann, endet damit, dass er dem schwindenden Atem des Vaters (wie seinerzeit im KZ) lauscht und ungläubig feststellt: „J’écoutais sa respiration. Dans mon rêve il vivait. Et ma mère aussi. Elle vivait dans mon rêve.“94 Über die onirische Verbindung von Ermordeten und Davongekommenen entsteht eine geradezu unentwirrbare Verflechtung von Tod und Leben, mit der der traumatisierte Zustand des Überlebenden pointiert in Worte gefasst wird. Nachdem der Erzähler sich im Traum an die Aufforderung der Mutter kurz vor der Deportation erinnert („ne pas se séparer“), wendet er sich mit einem ganz ähnlichen Satz an seinen Vater: „Ne plus se séparer“, und betont abschließend: „Loin de lui, même mort, je ne pourrai vivre.“95 Insofern artikuliert der folgende Traum konsequenterweise den Wunsch, mit und in den Eigenschaften der Verstorbenen weiterzuleben, die Erinnerung an die Toten über den eigenen Tod hinauszutreiben und zugleich aus sich selbst hinauszutreten, um den Tod der Anderen zu leben, ja sich in deren Tod aufzulösen:

91 Wiesel: Tous les fleuves, S. 439. Hier handelt es sich um eine Art Tagtraum des Erzählers am Schreibtisch. 92 Wiesel: Tous les fleuves, S. 249. 93 Wiesel: Tous les fleuves, S. 288. 94 Wiesel: Tous les fleuves, S. 183. Ellen S. Fine interpretiert diesen Traum psychoanalytisch und sieht in ihm den Versuch einer Wunscherfüllung. Vgl. Fine: Dreams and Dialogues, S. 141. 95 Wiesel: Tous les fleuves, S. 76.

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En rêve, je rêve. J’aimerais vivre la sagesse de mon père, la sérénité de ma mère, la grâce naïve et pure de ma petite sœur, j’aimerais vivre la colère du résistant, la souffrance du rêveur mystique, la solitude de l’orphelin dans un wagon plombé, la mort de chacun et de tous, j’aimerais pouvoir sortir de moi-même pour me fondre en eux. J’aimerais maintenir ma mémoire ouverte, la repousser au-delà de l’horizon, la garder vivante même après ma mort. Je sais que ce n’est pas possible. Et après ? En rêve, l’impossible n’est pas juif.96

Im Traum wird es für den Erzähler also möglich, sich vollständig mit den Opfern der Shoah zu identifizieren – und zwar mit ganz bestimmten, einzelnen, besonders geliebten Opfern ebenso wie mit den Opfern insgesamt („la mort de chacun et de tous“).97 Zugleich wird damit die Erinnerung an sie wachgehalten. Hier scheint verwirklicht, was Vercors (der im Übrigen ja ebenfalls das Bild des „wagon plombé“ verwendet) in seiner Traum-Erzählung an einer fiktiven ‚Muselmann‘-Figur durchgespielt hatte: das Sterben der Anderen erzählend zu bezeugen. Der Traum in den Mémoires von Elie Wiesel artikuliert dabei in verdichteter Form besonders das Dilemma des überlebenden Sohnes: Die schmerzliche Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit des Vaters, von Wissen und Nicht-Wissen über die genauen Umstände seines Todes, das Gefühl von Verbindung und gleichzeitiger Trennung sowie die brüchigen Grenzen zwischen Tod und Leben – dem eigenen wie dem des Anderen – werden im nächtlichen Traum erinnert, wiedererlebt und stets von Neuem durchlebt. Ohne das Widersprüchliche und Ambivalente der Situation aufzulösen oder zu ignorieren, wird dieses Phänomen in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit im Traum bzw. als Traum erfahren. Mittels der Traumgestalten, die sich vergeblich bemerkbar zu machen versuchen oder zu denen die Worte des Träumers nicht durchdringen, gelingt es Elie Wiesel, die Schwierigkeiten in der Kommunikation und Vermittlung der Shoah zum Ausdruck zu bringen. Der Traum vom verhinderten Erzählen, der so viele Lagerhäftlinge heimgesucht hatte (vgl. Kapitel IV), findet in den Traumberichten Elie Wiesels also seine beredte Fortsetzung und Eingang in ein schriftstellerisches Werk, das sich dieser Aporie stellt. Vater und Sohn, stummer Zeuge und Überlebender, der das Verstummen der väterlichen Stimme beglaubigt, bilden damit, ganz wie es Giorgio Agamben fordert, ein Paar, das nur gemeinsam von der Shoah erzählen kann. In der spezifisch jüdischen Dimension des erzählten Traumgeschehens zeigt sich zudem, dass mittels des Traums einem weiteren Dilemma der Shoah Ausdruck verliehen werden kann. Für Elie Wiesel besteht es, wie für so viele Überle96 Wiesel: Tous les fleuves, S. 13. 97 Wenn Wiesel, der innerhalb der kontroversen Erinnerungspolitik um die Shoah bekanntlich die Position einnimmt, dass das Holocaustgedenken ausschließlich den Juden vorbehalten sei, sich hier ebenso mit dem „Leid des mystischen Träumers“ wie mit dem „Zorn des Widerstandskämpfers“ identifiziert, scheint sogar angedeutet, dass im Traum die ‚Konkurrenz‘ verschiedener Opfergruppen überwunden werden kann.

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bende (vgl. etwa André Schwarz-Bart in Kapitel VIII),98 in folgendem Zwiespalt: Angesichts der Shoah hat er sich vom Glauben abgewendet und weigert sich radikal, der Shoah irgendeinen metaphysischen Sinn oder eine religiöse Bedeutung zuzuschreiben.99 Zugleich verortet er sich aber innerhalb der familiären religiösen Traditionen und fühlt sich dem jüdischen Erinnerungsgebot verpflichtet (vgl. Kapitel XIV).100 In den Traumerzählungen Elie Wiesels verschmelzen die ‚Schuld‘ des eigenen Überlebens, die Allgegenwart des Lagers, Totenklage und Totengedenken zu einem eindrücklichen Bild des „lebendigen Zerfließens im Tod der Anderen“.

‚Muselmann‘-Träume In allen drei Werken, bei Delbo, Vercors und Wiesel, wird das Bild des Gespenstes als Figur zwischen Leben und Tod aufgerufen („revenant“, „fantôme“), von dem die Träumenden heimgesucht werden. Damit komme ich auf die These zurück, die ich eingangs im Anschluss an die Reflexionen von Giorgio Agamben aufgestellt hatte. Für Agamben ist der ‚Muselmann‘ ein Gespenst, mit dem wir weiterhin zu rechnen haben: Egli è veramente la larva che la nostra memoria non riesce a seppellire, l’incongelabile col quale dobbiamo deciderci a fare i conti. In un caso, infatti, egli si presenta come il non-vivo, come l’essere la cui vita non è veramente vita; nell’altro, come colui la cui morte non può essere detta morte, ma soltanto ‚fabbricazione di cadaveri‘ [Arendt]. Cioè, come l’inscrizione nella vita di una zona morta, e, nella morte, di una zona viva.101 98 Mit Schwarz-Bart ist Elie Wiesel gut bekannt und wird in Israel offenbar mit ihm verwechselt. Vgl. Wiesel: Tous les fleuves, S. 512. 99 Vgl. u. a. Wiesel: Tous les fleuves, S. 409 und S. 453. 100 Auch Sarah Kofman, deren Vater, wie Wiesels Großvater, Rabbiner war und ebenfalls – an einem Schabbat betend – in Auschwitz erschlagen wird, drückt die Erinnerung an den Ermordeten mittels eines Traums aus. In ihrem letzten Buch erscheint ihr der Vater im Traum als ein Betrunkener, der im Zickzack durch die Straßen irrt: „Plus tard, dans un rêve, je me représentai mon père sous la figure d’un ivrogne qui traversait la rue en zigzaguant.“ Sarah Kofman: Rue Ordener, rue Labat, Paris: Galilée 1994, S. 18. Sharon Sliwinski hat diesen Traum sehr überzeugend mit den erzählten Erinnerungen der Autorin in Verbindung gebracht, um auf diese Weise das politische Potenzial des Träumens zu betonen, das in einer spezifischen agency angesichts der ‚Unsagbarkeit‘ der Shoah besteht. Vgl. Sharon Sliwinski: Dreaming in Dark Times. Six Exercises in Political Thought, Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2017, S. 184–195. 101 Agamben: Quel che resta, S. 78.

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Das „re-mourir“ des Wiedergängers im autobiographischen Schreiben von Charlotte Delbo, Vercors’ „être l’autre“ sowie die Identität zwischen Träumer und geträumtem ermordetem Vater bei Elie Wiesel oder seine Sehnsucht, den Tod der Anderen am eigenen Leib zu erfahren, hatten sich als Oxymora erwiesen: Das Sterben in seiner Endgültigkeit und seine permanente Wiederholung schließen sich gegenseitig aus; eine das Sterben bis zum Ende beobachtende Erzählinstanz und der sterbende Andere können nicht identisch sein. Ebenso wenig scheint es möglich, dass der Träumer oder die Träumerin zugleich im eigenen Traum und dem der geträumten Toten präsent sind oder den Tod der Ermordeten (nacher)leben können. Darüber hinaus aber verweist das Oxymoron in allen drei Fällen auf einen Chiasmus. Es handelt sich hier um eine Überkreuzungsfigur, die in einer ganz ähnlichen rhetorischen Konstruktion bei Agamben auftaucht. Denn auch dieser formuliert das Paradox mithilfe eines chiastischen Satzes: Dove, cioè, colui che è senza parole fa parlare il parlante e colui che parla porta nella sua stessa parola l’impossibilità di parlare, in modo che il muto e il parlante, il non-uomo e l’uomo entrano – nella testimonianza – in una zona d’indistinzione in cui è impossibile assegnare la posizione di soggetto, identificare la ‚sostanza sognata’ dell’io e, con essa, il vero testimone.102

Die träumenden Erzählfiguren sprechen also für die sterbenden Anderen; die Erfahrungen der Anderen wiederum artikulieren sich in der Stimme der Träumenden. Im Falle von Delbo legt eine Überlebende ein autobiographisches Zeugnis ab: Ihre Traumepisoden artikulieren eine Erfahrung, die die Grenzen des rationalen Fassungsvermögens überschreitet. Zugleich dienen sie als Zeugnis für das Sterben der Anderen. Im Falle von Vercors ersetzt ein politisch engagierter Außenstehender das fehlende historische Zeugnis durch die literarische Traumfiktion, eine Fiktion, deren Traumcharakter für eine Wahrheit bürgen soll, die das Wachbewusstsein nicht fassen kann oder will. Und in den Mémoires von Elie Wiesel werden die nächtlichen Traumwelten des traumatisierten Überlebenden zu einem Ort der wiederkehrenden Begegnung mit den im Lager ermordeten Familienmitgliedern. So legen die bei Delbo, Vercors und Wiesel erzählten Träume in dreifacher Weise Zeugnis ab für die Verstorbenen: Die Traumerfahrungen bewahren erstens die Opfer vor dem Vergessen, indem sie innerhalb der Traumwelt immer wieder verlebendigt werden. Die systematische Integration der Träume in die eigenen Erinnerungen eröffnet, zweitens, einen zusätzlichen Raum erzählten Gedenkens, der besonders in den Schriften Wiesels stets als Eingedenken formuliert und explizit innerhalb des jüdischen Erinnerungsgebotes situiert wird. Und dieses Gedenken wiederum erhält, drittens, durch die Veröffentlichung der 102 Agamben: Quel che resta, S. 112.

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Erzählungen, Memoiren und Berichte – also in der intensiven Rezeption durch ihre Leserinnen und Leser – eine kollektive Dimension. In allen drei Fällen wohnt der ästhetischen Eigenlogik des Traums dabei eine „dichterische Geste“ inne; eine Stimme, bei der es – hier stimmt Agamben mit den Holocaust-Theoretikern Langer und Young überein – auf das ‚Wie‘ der Artikulation ankommt und deren poetischer Sprache man sehr aufmerksam zuhören muss, um erahnen zu können, was Auschwitz heißt.103 Zu welchen ästhetischen Mitteln der Traumdarstellung Autorinnen und Autoren in einem politischen, sozialen und kulturellen Kontext greifen, in dem ein solches Zuhören verweigert wird, ist das Thema des folgenden Kapitels.

103 Sowohl Lawrence Langer als auch James E. Young und Giorgio Agamben betonen, dass ein solches Sprechen ein besonderes Zuhören bzw. ein Lesen erfordert, das neben dem Gesagten auf das Wie der Stimme achtet und dieses Wie der Darstellung ernst nimmt – auch jenseits der dokumentarischen Fakten und gerade als Literatur. Denn das dichterische Wort, die „Geste des Dichters“ ist nach Agamben, der sich am Schluss seines Buches mit Hölderlins berühmter, der Hymne „Andenken“ [1803] entnommener Verszeile „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ auseinandersetzt, dasjenige, „was jedesmal die Position des Rests einnimmt und auf diese Weise Zeugnis ablegen kann. Die Dichter – die Zeugen – stiften die Sprache als das, was übrig-bleibt [sic], was aktuell die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – zu sprechen überlebt.“ Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 141.

VI. Alpträume der Nachkriegswirklichkeit: Günter Eich, Primo Levi und Anna Langfus

Traum und Nachkriegsliteratur In den vorangegangenen Kapiteln hat sich gezeigt, dass Träume in ihrer Vielschichtigkeit und Ambivalenz ein häufig eingesetztes Erzählverfahren sind, um die individuellen Erfahrungen, die unmittelbar vor der Shoah, in großer Nähe zur Shoah oder im Angesicht der Shoah selbst gemacht werden, zum Ausdruck zu bringen und ihnen zugleich eine kollektive Dimension zu verleihen. Aber auch im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg und während der ersten beiden Dekaden der Nachkriegszeit wird der Traum auffällig oft zur Thematisierung und Erinnerung der Shoah verwendet. Es handelt sich hier um eine historische Phase, in der die systematische Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden und zahlreicher weiterer Opfergruppen noch weit entfernt davon ist, Teil des kollektiven Gedächtnisses zu werden. Ja mehr noch: in der die Shoah in weiten Teilen der Gesellschaft kollektiv verdrängt oder gar verleugnet wird und die Stimmen der Betroffenen daher nur schwerlich Gehör finden.1 Ob in der Literatur der Überlebenden, der Zeuginnen und Zeugen oder in fiktionalen Auseinandersetzungen mit der Shoah, die vorrangig der Vermittlung eines kollektiven Wissens über die Gräuel des Nationalsozialismus dienen; der Traum fungiert offensichtlich als ein Erzählmodus, mit dem das zeitliche Verhältnis zwischen der aktuellen Nachkriegswirklichkeit und der erlebten Vergangenheit irritiert oder infrage gestellt wird. Damit lässt sich jene Erschütterung der Wirklichkeitswahrnehmung formulieren, von der das Überleben zahlreicher Betroffener fundamental geprägt ist. Die gänzlich unwahrscheinliche Tatsache, überlebt zu haben und weiterzuleben, führt dazu, dass die Erfahrung der Deportation immer wieder unmittelbar und unkontrollierbar in die Wahrnehmung der Gegenwart einbricht. In diesem Zusammenhang bildet der Traum 1

Die ‚Popularisierung‘ eines allgemeinen Wissens über den Holocaust und eine individuelle, auch emotionale Auseinandersetzung mit seinen Details innerhalb einer breiten Öffentlichkeit wird gemeinhin erst mit der Erstausstrahlung der u. a. von Elie Wiesel harsch kritisierten, vierteiligen Mini-Serie Holocaust im Jahre 1978 in Verbindung gebracht, die ein Jahr später unter dem Titel Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss auch im deutschen Fernsehen gezeigt wird. Marvin J. Chomsky: Holocaust, Drehbuch Gerald Green, USA 1978.

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häufig eine Erzählstrategie für die subjektive Wahrnehmung einer vollständigen Ent-Realisierung der Welt, die, wie Judith Klein vor dem Hintergrund der kulturwissenschaftlichen Traumaforschung feststellt, mit einer Zerstörung der zeitlichen und räumlichen Ordnung einhergeht.2 Nach Judith Klein sind es der Bruch einer chronologischen Zeiterfahrung in ihrer Linearität, das Zerfallen kausallogischer Zusammenhänge und die unmittelbare, den Körper affizierende Wucht der onirischen Bilder, die den Traum als narratives Mittel für die Shoah-Literatur so produktiv machen. Wo die traumatischen Erfahrungen einem realistischen oder mimetischen Erzählverfahren zuwiderlaufen, bietet der Traum jedenfalls – zumal in seiner selbstreflexiven Dimension – das Potenzial einer komplexen Auseinandersetzung mit der Frage der Darstellbarkeit und ihren Grenzen. Dies gilt jedoch nicht nur für die Literatur der Überlebenden, sondern auch für Texte, die von Autorinnen oder Autoren stammen, welche selbst keineswegs Holocaust-Opfer sind. Dies ist etwa bei Günter Eich der Fall, oder bei Schreibenden, die den Krieg nicht bewusst miterlebt haben und sich als Angehörige der nachfolgenden Generation mit der Shoah auseinandersetzen, wie dies etwa W. G. Sebald in seinem Roman Austerlitz von 2001 tut, der ebenfalls zahlreiche Traumpassagen enthält (vgl. Kapitel X).3 Was nun die Situation der 1950er und 60er Jahre angeht, so ist festzustellen, dass die sogenannte Zeugnisliteratur zunächst einmal sehr wenige Spuren im kollektiven Gedächtnis der europäischen Nachkriegsgesellschaften hinterlassen hat. Die ‚Ent-Nazifizierung‘ in Deutschland gelingt nicht, die erbitterten Debatten um Kollektivschuld und die Notwendigkeit der Aufarbeitung der historischen Vergangenheit treten hinter Wiederaufbaubestrebungen und einen auf Eskapismus und Verdrängung angelegten Kulturbetrieb zurück, den etwa W. G. Sebald in Luftkrieg und Literatur massiv kritisiert.4 Die Zeugnisse der La2

Judith Klein: „‚An unseren Schläfen perlt die Angst.‘ Traumberichte in literarischen Werken über das Grauen der Ghettos“, in: Psyche 45/6 (1991), S. 506–521, hier S. 520. Auch die Verfasserin beschäftigt sich in ihrem Artikel u. a. mit Texten von Primo Levi und Anna Langfus. Jedoch stellt sie Langfus’ Roman Le sel et le soufre ins Zentrum und lässt Les bagages de sable unberücksichtigt. 3 W. G. Sebald: Austerlitz, Frankfurt am Main: Fischer 2001. Wichtige, in die Erzählung integrierte Traumberichte finden sich etwa auf S. 203–209 und S. 286–298. 4 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Züricher Vorlesungen. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, Frankfurt am Main: Fischer 1999. Für die Rekonstruktion des kulturellen Nachkriegskontextes beziehe ich mich auf Holger Gehle: „Schreiben nach der Shoah. Die Literatur der deutsch-jüdischen Schriftsteller von 1945 bis 1965“, in: Daniel Hoffmann (Hrsg.): Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn: Schöningh 2002, S. 401–440, Stefan Braese: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, München: text + kritik 2010, und Katja Schubert: Notwendige Umwege. Voies de traverse obligées. Gedächtnis und Zeugenschaft in Texten jüdischer Autorinnen in Deutschland und Frankreich nach Auschwitz, Hildesheim: Olms 2001. Speziell zur französischen Nachkriegssituation vgl. Georges Bensoussan (Hrsg.): Revue d’histoire sur la Shoah, Paris: Centre de Documentation Juive Contemporaine 2002, v. a. S. 176, und Merete Stistrup Jensen: „Genre litté-

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gererfahrung sind, wie u. a. Annette Wieviorka feststellt, nicht mehr so unmittelbar präsent wie nach dem Krieg, viele Zeugenstimmen verstummen und lassen sich daher einfacher ignorieren als noch zehn oder zwanzig Jahre zuvor.5 Somit kommt die Literaturkritik selbst in den 1990er Jahren noch zu dem Schluss, dass eine breite und ernsthafte Erforschung der Shoah-Literatur kaum existiere.6 Gleichwohl wird mitten in diese Situation hinein im Jahre 1953 erstmals das Radiohörspiel Träume von Günter Eich ausgestrahlt.7 Dieses zutiefst ambivalente, symbolisch hoch aufgeladene Hörspiel, das zwar Assoziationen an die Shoah programmatisch mit einkalkuliert, sich allerdings ebenso als eine Relativierung der nationalsozialistischen Gräueltaten lesen lässt, besteht aus fünf in Dialogform inszenierten Träumen. Die einzelnen Episoden bilden eine Folge von unverbundenen Alpträumen, die emblematisch für die gesellschaftspolitische Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stehen. Zentrale Themen sind Erinnern und Vergessen, Verdrängung und Verantwortung, Feindschaft und Solidarität, Flucht und Resignation. Gerahmt werden sie durch zwei Gedichte Eichs über das Verhältnis von Traum, traumlosem Schlaf und wacher Anteilnahme am Weltgeschehen. Vom deutschen Publikum sofort als bevormundende Kritik an der Haltung der Deutschen und als Zumutung, sich mit dem Thema beschäftigen zu müssen, aufgefasst, ziehen besonders der erste und der zweite Traum der Serie massive Proteste und wüste Beschimpfungen durch

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raire et récits issus de l’expérience concentrationnaire. L’exemple d’Anna Langfus“, in: Merete Stistrup Jensen u. a. (Hrsg.): Frontières des genres. Migrations, transferts, transgressions, Lyon: PUL 2005, S. 157–172, hier S. 156–157. Annette Wieviorka: Déportation et génocide. Entre la mémoire et l’oubli, Paris: Plon 1992, S. 167. Z. B. Bryan Cheyette: „Appropriating Primo Levi“, in: Robert S. C. Gordon (Hrsg.): The Cambridge Companion to Primo Levi, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 67–85 und Clara Lévy: „La guerre dans les textes littéraires d’Anna Langfus. La mise à distance de l’expérience“, in: L’Esprit Créateur 40/2 (2000), S. 52–60, hier S. 52. Annette Wieviorka liefert in ihrer Studie exakte Zahlen über die Menge an Zeugenaussagen der Nachkriegszeit und ihre Rezeption. Annette Wieviorka: Déportation et génocide, S. 167–169. Nach seiner Erstsendung wurde das Hörspiel allerdings 15 Jahre lang nicht mehr gesendet. Demgegenüber erfährt die gedruckte Fassung, die erstmals 1953 erschien, eine deutlich positivere Resonanz. Vgl. Marlies Goß: Günter Eich und das Hörspiel der fünfziger Jahre, Frankfurt am Main: Peter Lang 1988, S. 160–163. Im November 1954 fügt Eich seinen fünf Träumen noch einen sechsten hinzu. Dieser ersetzte in späteren Hörspiel-Sendungen oftmals den wegen eines kannibalischen Kindermordes besonders umstrittenen zweiten Traum der Urfassung. Vgl. Karl Karst: „‚Alles, was geschieht, geht dich an.‘ Zur Wirkungsgeschichte der Träume von Günter Eich“, in: Sprache im technischen Zeitalter 30 (1992), S. 474–483, hier S. 481. 1966 wurde der Alptraum-Zyklus in Eichs Sammlung 15 Hörspiele aufgenommen. Ich zitiere im Folgenden aus der Druckfassung der Gesamtausgabe. Günter Eich: „Träume“, in: Günter Eich: Die Hörspiele I. Gesammelte Werke. Herausgegeben von Karl Karst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, Bd. II, S. 349–390.

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die Hörerinnen und Hörer nach sich.8 Gerade die ersten beiden Träume wurden unmittelbar auf den Genozid und die Euthanasie der Nationalsozialisten bezogen. Die Traumszenen selbst stellen allerdings keine explizite Verbindung zum nationalsozialistischen Terror her, sondern legen diese allenfalls symbolhaft nahe.9 Mit seiner programmatischen Kritik an einem selbstzufriedenen ‚Dämmerzustand‘ der Nachkriegsbevölkerung, welche die Augen vor der eigenen Verstrickung in den Nationalsozialismus verschließt, hat Eich jedenfalls ganz offensichtlich einen Nerv der Zeit getroffen. Zehn Jahre später, 1963, veröffentlicht Primo Levi sein Buch La tregua, eine Fortsetzung seines berühmten, allerdings zunächst von mehreren Verlagen abgelehnten Auschwitz-Berichtes Se questo è un uomo. La tregua beschreibt in 17 chronologisch angeordneten Kapiteln die monatelange Irrfahrt des Erzählers quer durch Europa nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, bevor er schließlich in seine Heimatstadt Turin zurückkehrt. Beide autobiographischen Berichte Levis sind von der existenziellen  – und, wie sich zeigen wird, durchaus berechtigten – Furcht durchdrungen, dass die Erzählungen der Rückkehrer über die Gräuel im Lager nicht auf Interesse stoßen könnten oder nicht geglaubt werden. Wie das Traumkapitel aus Se questo è un uomo eindrücklich vor Augen führt (vgl. Kapitel IV), gehörte ja bereits während der Lagerhaft der Traum vom verwehrten Erzählen – neben dem von der verweigerten Nahrung und von der verhinderten Heimkehr – zu den schlimmsten kollektiven Alpträumen der Häftlinge. Nur ein Jahr zuvor, nämlich 1962, schreibt und publiziert Anna Langfus den Roman Les bagages de sable10, der zusammen mit Le sel et le soufre [1960] und 8

Marlies Goß: Günter Eich, S.  149–159 und Ruth Schmitt-Lederhaus: Günter Eichs Träume. Hörspiel und Rezeption, Frankfurt am Main: Peter Lang 1989, S. 27–48. 9 Was die Wirkung der Träume selbst angeht, so bemerkt Karl Korn anlässlich der Buchausgabe enthusiastisch: „Wer die […] Traumspiele gelesen hat, der fühlt sich wie von Magie angerührt.  […] Traumgestalten werden leibhaftig, betrachtet mit dem Tiefsinn verschütteter Kindheitsträume. Traumdeutung ist Günter Eichs Gedicht, und man kann zu seinem Ruhme wohl nicht mehr sagen, als daß er unser aller Träume dichtet.“ Korn zitiert nach Karl Karst: Alles, was geschieht, geht dich an, S. 482. Gleichwohl steht das spezifisch Traumhafte der einzelnen Alpträume bislang nicht im Zentrum der Forschung. Eine Interpretation auf der Grundlage der Freud’schen Traumdeutung liefert allerdings Schmitt-Lederhaus: Günter Eichs Träume, v. a. S. 76–117. Jörg Döring hat anhand des ersten Traums die einzelnen Phasen der Rezeption in Deutschland untersucht und nachgewiesen, wie dieser Traum „auf je zeitbedingte Weise einer kreativen Fehllektüre unterzogen wird“. Jörg Döring: „Mit Günter Eich im Viehwagen. Die Träume der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft“, in: Carsten Dutt/Dirk von Petersdorff (Hrsg.): Günter Eichs Metamorphosen. Marbacher Symposium aus Anlass des 100.  Geburtstags am 1.  Februar 2007, Heidelberg: Winter 2009, S.  141–161, hier S.  142. Diese reicht von der vehementen Abwehr des ‚Unzumutbaren‘ über kollektives Beschweigen und das ignorierte Angebot, sich in die Opfergemeinschaft des Zweiten Weltkriegs zu integrieren, bis hin zur undifferenzierten Vereinnahmung durch die 1968er Bewegung. Döring: Mit Günter Eich, S. 160–161. 10 Anna Langfus: Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1962.

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Saute, Barbara [1965] eine Art Trilogie über die Shoah und den Zweiten Weltkrieg bildet. In jedem der drei Romane geht es um Shoah-Überlebende, die ihr Weiterleben als eine unerträgliche Qual empfinden. Während die Hauptfigur von Le sel et le soufre persönlich der Judenverfolgung im Warschauer Ghetto und in den Gefängnissen der Gestapo ausgesetzt ist, handelt Saute, Barbara von einem Mann, der in den Ruinen Berlins ein Kind entführt, das ihn an seine getötete Tochter erinnert. Auch der Roman Les bagages de sable, der aus einer radikal subjektiven Perspektive erzählt wird, stellt, ähnlich wie die Texte von Levi und Eich, die unüberwindliche Kluft, die Sprach-, Empathie- und Verständnislosigkeit, die zwischen der Protagonistin, einem unmittelbaren Shoah-Opfer, und dem ignoranten Rest der Welt herrscht, in den Mittelpunkt des Geschehens. In diesem Kapitel sollen nun die Traumpassagen der drei genannten Texte im Hinblick auf die Frage verglichen werden, wie sich mittels des Traums die kaum erzählbare Erfahrung an andere vermitteln lässt – an die Zeitgenossinnen und -genossen, aber auch an nachfolgende Generationen –, das System der industriellen Massenvernichtung überlebt zu haben; ein System, das, wie der Begriff Holocaust (‚vollständig verbrannt‘) bereits deutlich macht, auf eine vollkommene Auslöschung nicht nur der Menschen selbst, sondern auch all ihrer Spuren und Erinnerungen abzielte. Doch bevor die jeweiligen Traumdarstellungen im Hinblick auf ähnliche Strukturen miteinander verglichen werden können, müssen die Texte vor allem hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Autorschaft und Werk unterschieden werden. Günter Eich gilt, insbesondere aufgrund seiner zahlreichen Gedichte, in denen er sich mit dem Krieg auseinandersetzt, als einer der bekanntesten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsperiode. Seine berufliche Laufbahn ist direkt mit der nationalsozialistischen Kulturpolitik und der Wehrmacht verknüpft; insofern muss seine Rolle während des ‚Dritten Reiches‘ zumindest als problematisch eingestuft werden.11 Folgt man der Argumentation von W. G. Sebald in Luftkrieg und Literatur, so ließe sich die Selbstpositionierung Eichs als politisch engagierter Nachkriegsschriftsteller gar als eine Verdrängung seiner eigenen politischen Vergangenheit bezeichnen. Seine NS-kritischen Schriften dienten ihm, so Sebald, regelrecht zur „Begradigung des eigenen Lebenslaufs“.12 Selbst also weit davon entfernt, ein Opfer zu sein, so stellt er die Shoah doch ins Zentrum seiner Hörspielserie Träume; allerdings ohne sie jemals explizit zu benennen. Der jüdisch-italienische Chemiker und Autor Primo Levi ist der Verfas11

Vgl. insbesondere Klaus Briegleb: Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift zur Frage: ‚Wie antisemitisch war die Gruppe 47?‘, Berlin/Wien: Philo 2003, S. 4 und Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933–1945, Eggingen: Isele 1993. Zur Debatte um die politische Haltung Günter Eichs im Allgemeinen, vgl. auch Axel Vieregg (Hrsg.): ‚Unsere Sünden sind Maulwürfe‘. Die Günter-Eich-Debatte, Amsterdam u. a.: Rodopi 1996. 12 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Züricher Vorlesungen. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München: Hanser 1996, S. 123–160, hier S. 157.

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ser des vielleicht bekanntesten autobiographischen Augenzeugenberichts über die Shoah – die Rekonstruktion seiner elfmonatigen Inhaftierung in AuschwitzMonowitz zählt unbestreitbar zu den wichtigsten Vertretern der Shoah-Literatur und sein Werk, das in der Forschung ohne zu zögern als Weltliteratur klassifiziert wird,13 zu den am besten erforschten auf diesem Gebiet.14 Die jüdisch-polnische Schriftstellerin Anna Langfus wiederum ist, zusammen mit Charlotte Delbo, eine der wenigen und vor allem eine der ersten weiblichen Autoren, welche sich dezidiert literarisch mit der Shoah auseinandersetzen.15 Obwohl Les bagages de sable 1962 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, ist Langfus allerdings bis heute fast unbekannt; und das selbst in Frankreich, wo sie von 1946 bis zu ihrem Tod im Jahre 1966 lebt.16 Die drei für den Vergleich ihrer Traumpassagen ausgewählten Werke widmen sich der Shoah nicht auf direkte Weise. Sie situieren ihre Handlung eindeutig in der Zeit nach der Befreiung. Erzählt werden daher nicht die Träume im Lager, sondern jene Alpträume, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit zutragen, 13 Christoph Miething: „Primo Levi: Se questo è un uomo“, in: Manfred Lentzen (Hrsg.): Italienische Erzählungen des 20. Jahrhunderts in Einzelinterpretationen, Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 141–160, hier S. 149. 14 Vgl. Vanna Zaccaro: Dire l’indicibile: Primo Levi fra testimonianza e racconto, Lecce: Penso Multimedia 2002, S.  9, Robert S.  C. Gordon (Hrsg.): The Cambridge Companion to Primo Levi, S. 14 und Brigitta Elisa Simbürger: Faktizität und Fiktionalität. Autobiografische Schriften zur Shoah, Berlin: Metropol 2009, S.  13. Speziell zur Auseinandersetzung mit Träumen in Levis Werk vgl. Cesare Segre: „I sogni. Auschwitz, orribile laboratorio sociale“, in: Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 179–209, hier S. 195–196, und Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin: De Gruyter 2016, v. a. S. 84–95. 15 Vgl. Joë Friedemann: Langages du désastre. Robert Antelme, Anna Langfus, André SchwarzBart, Jorge Semprún, Elie Wiesel, Saint Genouph: Nizet 2007, S. 107–141, hier S. 112. Was die Shoah-Literatur von Frauen angeht, so lässt sich immer noch ein auffälliges Desinteresse vonseiten der Forschung feststellen. Auf dieses Desiderat reagieren ausdrücklich die Studien von Lillian Kremer: Women’s Holocaust Writing: Memory and Imagination, Lincoln/London: University of Nebraska Press 1999, Elizabeth R. Baer/Myrna Goldenberg (Hrsg): Experience and Expression. Women, the Nazis and the Holocaust, Detroit: Wayne State University Press 2003, Silke Segler-Meßner: „Le genre, le récit et le corps. Aucun de nous ne reviendra de Charlotte Delbo et L’espèce humaine de Robert Antelme“, in: Romanische Studien 2 (2015), S. 81– 104 und das Kapitel „Generationen und Genealogien“ von Katja Schubert: Notwendige Umwege, S. 355–408. 16 Anna Langfus, geb. Szternfinkiel, wächst in einer assimilierten jüdischen Familie in Polen auf, studiert Mathematik in Belgien und wird kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei einem Ferienaufenthalt in Polen zusammen mit ihrem Ehemann in das Ghetto Lublin deportiert. Es folgen weitere Verhaftungen und Internierungen. Als einzige Überlebende ihrer Familie lässt sie sich ab 1946 in Frankreich als Mathematiklehrerin nieder. Vgl. Jean-Yves Potel: Les Disparitions d’Anna Langfus. Essai biographique, Paris: Les Éditions Noir sur Blanc 2014, v. a. S. 8 und Philippe Mesnard: „Écritures d’après Auschwitz“, in: Vox Poetica. Lettres et Sciences humaines, o.  J. (www.vox-poetica.org/t/articles/mesnard.html). Für einen ersten Überblick über das Romanwerk von Anna Langfus, vgl. Judith Schaneman Clark: „Writing to Survive. The Novels of Anna Langfus“, in: Women in French Studies 9/1 (2001), S. 92–105.

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als das Alltagsleben der Protagonisten nach und nach wieder an ‚Normalität‘ gewinnt oder gewinnen sollte. Die Alptraumthematik durchzieht allerdings jedes der Werke auf geradezu programmatische Weise. Les bagages du sable erzählt vom Überlebenskampf der Protagonistin, die als einziges Mitglied ihrer Familie die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie überlebt hat. Ihr Traumerleben stellt die einzig mögliche Verbindung zwischen ihr selbst und ihren ermordeten Familienangehörigen dar. Die Träume, Halluzinationen oder traumatischen flashbacks der Hauptfigur handeln u. a. von den Schuldgefühlen, die untrennbar mit dem eigenen Überleben verbunden sind, von verzweifelten Vorwürfen an ihre Nächsten, sie als Davongekommene mit ihrem Tod im Stich gelassen zu haben, von der Angst, die Namen und Orte der einzelnen Konzentrationslager zu vergessen, von Gebäuden, in denen Menschen und Tiere verbrennen, oder von der Folter eines Kleinkinds durch einen deutschen Soldaten. Solche Traumpassagen sind für die Protagonistin also direkt mit ihren eigenen Erfahrungen der Shoah oder mit ihrem Wissen über die Shoah assoziiert.17 Darüber hinaus aber wird auch die Wahrnehmung des Alltags zunehmend traumhaft: Ihr eigenes Dasein erscheint der jungen Frau gänzlich wirklichkeitsentleert; sie hat den Eindruck, an ihrem Leben überhaupt nicht teilzunehmen. In diesem Zusammenhang stellt die Erzählerin nüchtern fest, dass ihr die Unterscheidung von Traum und Wachwirklichkeit bereits vor geraumer Zeit abhandengekommen sei: „Il y a longtemps que je ne distingue plus entre ce que j’imagine et ce que je fais.“18 Der Traum, den Primo Levi in La tregua erzählt, ist zwar der einzige des Buches; er kann aber sowohl in inhaltlicher als auch in struktureller Weise als ausgesprochen bedeutsam gelten. Er bildet das Ende des gesamten autobiographischen Berichts; und diese Traumerzählung lässt die Befreiung aus dem Lager wie eine idyllische Illusion erscheinen. Wenngleich sich der Körper und das Verhalten des Rückkehrers auch Schritt für Schritt an die Nachkriegsrealität anzupassen vermögen, so zeigt der Schlusstraum, der sich offensichtlich viele Male in unterschiedlichen Variationen wiederholt, dass es für den AuschwitzÜberlebenden auch nach der Befreiung unmöglich ist, der Lagererfahrung seelisch zu entkommen. Demgegenüber besteht der Hörspieltext von Günter Eich ausschließlich aus Träumen. Er umfasst sechs Nachkriegsalpträume, die von den unterschiedlichsten, überall auf der Welt verstreuten Personen geträumt werden.19 Besonders 17 Die ausgesprochen überzeugende Analyse von Judith Klein widmet sich unter diesem Aspekt vier Traumdarstellungen der Autorin, jedoch ausschließlich innerhalb des Romans Le sel et le soufre. Vgl. Judith Klein: An unseren Schläfen, S. 512–518. 18 Langfus: Bagages, S. 13. 19 Der zweite Traum handelt von einem Paar, das sein Kind an eine reiche Dame verkauft. Diese schlachtet es und weidet es aus, um es schließlich ihrem kranken Ehemann als Medizin zu verabreichen. Thema des dritten Traumes ist der Fluchtversuch einer glücklichen Familie vor

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der erste steht in offensichtlicher Weise mit der Shoah in Verbindung: Der Eingangstraum handelt von einer aus drei oder vier Generationen bestehenden Familie, die in der Dunkelheit eines Zugwagons eingeschlossen ist. Nur die beiden ältesten Passagiere erinnern sich noch an ihr früheres Leben, das sie geführt haben, bevor sie mitten in der Nacht verhaftet und deportiert wurden. Die Eingeschlossenen diskutieren nun erbittert über die Existenz einer Wirklichkeit außerhalb des Wagons, während der Zug immer schneller auf ein unbekanntes Ziel zurollt. Diese drei so unterschiedlichen Traumtexte zueinander ins Verhältnis zu setzen, liegt nicht zuletzt auch deshalb nahe, weil jeder Text, wie sich im Laufe des Vergleichs zeigen wird, eine Frage aufzuwerfen scheint, auf die die beiden anderen eine Antwort zu geben versuchen. Die Analyse beschränkt sich ausschließlich auf die Traumpassagen  – im Falle von Eich auf den ersten Traum  – und untersucht die jeweiligen narrativen, motivischen und rhetorischen Verfahren, mit denen hier eine subjektive Erfahrung inszeniert wird, die auf rationale Weise kaum zu vermitteln ist. Sie fragt ferner nach der komplexen Beziehung zwischen Traum und Wirklichkeit im Anschluss an die Lagerinhaftierung und zielt schließlich auf die Merkmale einer Poetik des Shoah-Traums in der europäischen Nachkriegsliteratur ab. Unter den vielen Parallelen, die zwischen den Texten bestehen, sind für diese Fragen gleich mehrere auffällige Gemeinsamkeiten bedeutsam: Allen drei Erzählungen ist, bevor die eigentlichen Träume berichtet werden, ein Gedicht als Motto vorgeschaltet, in dem das Motiv des Traums bereits programmatisch vorweggenommen wird. Und jede Erzählung wird durch einen lyrischen Text zusätzlich gerahmt. Bei Anna Langfus wird ein Gedicht von André Breton, das als Eingangsmotto fungiert, zum Schluss innerhalb der Erzählung wieder aufgenommen. Was den Bericht Levis angeht, so taucht das Gedicht (vgl. ausführlicher Kapitel X) nicht nur zu Beginn von La tregua auf, sondern es erscheint auch in anderen Texten, etwa in Se questo è un uomo oder I sommersi e i salvati.20 einem unbekannten Feind, der eine gesamte Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Der vierte Traum handelt von zwei Forschern auf Urwald-Expedition. Die Suppe, die ihnen von dem einheimischen Koch vorgesetzt wird, bewirkt, dass sie ihr Gedächtnis verlieren und alleine orientierungslos im Wald zurückbleiben. Im fünften Traum sind alle Menschen und Behausungen innerlich von Termiten zerfressen und bereits derart ausgehöhlt, dass sie jeden Moment zusammenzubrechen drohen. Der von Eich 1954 hinzugefügte sechste Traum, der in späteren Sendungen den zweiten ersetzte, führt einen Beamten vor, der in einem Hotelzimmer immer wieder nach einem Angestellten klingelt und erfahren muss, dass jedes Klingeln ein Fallbeil in Gang gesetzt hat. Sämtliche Träume steuern also auf eine Katastrophe zu und enden mit einem Schreckensszenario, das gerade in seiner Offenheit besonders alptraumhaft anmutet. 20 Die enge Verbindung zwischen sämtlichen Texten Levis, in denen ein „rêve concentrationnaire“ vorkommt, ist eines der zentralen Themen von Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin: De Gruy-

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Zudem stellt der Ausruf „Wstawać“, das polnische Wort für ‚Aufstehen‘, eine direkte Verbindung zwischen Eingangsgedicht und Schlusstraum her. Und Günter Eich wiederum platziert nicht nur ein Gedicht zwischen dramatis personae und erstem Traum, sondern im Anschluss an die einzelnen Träume folgt jeweils ein weiterer lyrischer Text mit einer Referenz auf die politische Dimension menschlicher Traumtätigkeit. Das Schlussgedicht in Günter Eichs Hörspiel stellt wiederum auf programmatische Art den „angenehmen Schlaf“ und das „Träumen“ einem für „das Entsetzliche“ empfänglichen Wachzustand gegenüber.21 Damit plädiert Eich für ein Bewusstsein, das den Skandalen, Verbrechen und Ungerechtigkeiten des Weltgeschehens wach und kritisch begegnet. Dem in den 1950er Jahren vorherrschenden Bedürfnis, vor politischer Gewalt und den zurückliegenden Verbrechen die Augen zu verschließen, setzt der Autor damit einen eindeutigen Aufruf an seine Rezipientinnen und Rezipienten entgegen, sich in das Weltgeschehen einzumischen, sich also in seinem „Nachmittagsschlaf“ „auf den Kissen mit roten Blumen“ ausdrücklich stören zu lassen.22 Doch noch weitere Gemeinsamkeiten lassen sich feststellen: In allen drei Fällen, sowohl bei Eich als auch bei Levi und Langfus, stellt die Frage der Zeitlichkeit das entscheidende Verbindungsglied zwischen dem einführenden Gedicht und dem wiedergegebenen Traum dar. Wie die einzelnen Verse in den lyrischen Beispielen, so kondensiert auch der Traum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Maße, in dem der beschriebene Augenblick zwar äußerst intensiv und komplex, jedoch zugleich auch gänzlich irreal wirkt. Darüber hinaus ist jeder der erzählten Träume mehr oder weniger direkt an das Motiv des Zuges gebunden. Jeder Traum birgt darüber hinaus in sich einen weiteren Traum, womit eine komplexe Verschachtelungsstruktur mehrerer traumhafter Ebenen entsteht. Und schließlich erscheint in jedem der Beispiele die Nachkriegswirklichkeit in ihrer Alltäglichkeit wie eine Illusion, während das Grauen des Lagers oder der Deportation als die einzige Wirklichkeit präsentiert wird.

ter 2016, hier S. 81–126 und Maria Teresa De Palma: ‚Mi sono alzato, sono ricaduto/Nel fondo dove il secolo è il minuto‘. Rêve et onirisme dans la littérature de témoignage (Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún). DPhil thesis Università de Bologna 2017 (http://amsdottorato. unibo.it/7864/1/De_Palma_Maria_Teresa_tesi.pdf). 21 Günter Eich: Träume. Regie: Fritz Schröder-Jahn, Musik: Siegfried Franz, ausgestrahlt vom Nordwestdeutschen Rundfunk Hamburg am 19. April 1951 (= Ursendung). 22 Eich: Träume, S. 350.

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Der erste Traum in Günter Eichs Hörspiel Träume [1953] Die Träume in Günter Eichs Hörspiel sind allesamt sehr eindeutig als solche markiert; und zwar durch Titel, Untertitel, einführende Passagen zur Traumsituation und durch eine meta-onirische Dimension, also durch eine Reflexion über das Träumen, die während des Träumens selbst stattfindet. Den Prolog und den Epilog aller fünf bzw. sechs Alpträume bildet jeweils ein Mahngedicht, das sich u. a. mit der eskapistischen Funktion des Schlafs und des Träumens auseinandersetzt. Das Eingangsgedicht warnt explizit vor der gesellschaftlichen Gefahr, die von einem traumlosen Schlaf ausgeht: „und ich zweifle an der Güte des Schlafs, in dem wir uns alle wiegen“.23 Im Falle des ersten Traums beschreibt die Einleitung kurz und objektiv den Träumer selbst – allerdings wird diese Objektivität zugleich ironisch gebrochen. Die Erklärung stellt die Bedeutung des Traums bereits infrage, noch bevor der Traum selbst überhaupt erzählt wird.24 Indem der Traum in den wissenschaftlichen Kontext der Leibreiz-Theorie gestellt wird, sollen eine symbolische oder eine politische Deutung von vornherein ausgeschlossen werden:25 In der Nacht vom 1. zum 2. August 1948 hatte der Schlossermeister Wilhelm Schulz aus Rügenwalde in Hinterpommern, jetzt Gütersloh in Westfalen, einen nicht sonderlich angenehmen Traum, den man insofern nicht ernst nehmen muss, als der inzwischen verstorbene Schulz nachweislich magenleidend war. Schlechte Träume kommen aus dem Magen, der entweder zu voll oder zu leer ist.26

Der darauffolgende Traum erstreckt sich über sieben Druckseiten, er wird hier also mit umfangreichen Kürzungen wiedergegeben:

23 Eich: Träume, S. 351. 24 Lothar Schröder: „Körperloser Schmerz und die Angst, die das Leben meint. Vor 40 Jahren wurden Günter Eichs Träume urgesendet“, in: Literatur für Leser 4 (1991), S.  211–224, hier S. 222. 25 In der Einführung zu einem anderen Traum heißt es: „Vermutlich werden die angenehmen Träume dieser Welt von den Schurken geträumt“ (Eich: Träume, S. 351 und 359). Was die Gesamtstruktur all dieser einleitenden Passagen angeht, so zeigt sich: Jeder Ort, an dem die einzelnen Alpträume stattfinden, liegt auf einem anderen Kontinent; die Träumer sind ein Deutscher, eine Chinesin, ein Australier, ein Russe und eine Amerikanerin. Sie alle werden von Alpträumen heimgesucht. Die Figuren wiederum, die den Träumern erscheinen, werden meist nur durch ihr Geschlecht („Frau“), ihre Familienposition („Enkel“) oder ihren Beruf („Koch“) eingeführt. Damit spinnen die inszenierten Träume ein globales Netz aus alptraumhaften Szenarien, von denen jeder Durchschnittsmensch unmittelbar betroffen sein könnte. 26 Eich: Träume, S. 351. Es handelt sich hier freilich um eine Anspielung an die tatsächliche, äußerst mangelhafte Ernährungssituation der Nachkriegsjahre.

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Ein langsam fahrender Zug. Die Stimmen im Wagon. URALTER Es war vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten. Die Standuhr schlug vier. ENKEL Du erzählst immer dasselbe. Das ist langweilig, Großvater. […] URALTER Mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Das Leben, das wir bis zu jenem Tag geführt hatten, war viel merkwürdiger. […] Am Ende ist das Dasein im Güterwagen das gewöhnliche? URALTE Kannst Du Dich erinnern: Es gab etwas, was wir Himmel nannten und Bäume. URALTER Hinter unserm Haus stieg der Weg etwas an bis zum Waldrand. Auf den Wiesen blühte im April der Löwenzahn. […] ENKEL Nicht nur die Kinder, uns alle machst Du verrückt mit deinen Erzählungen. Wir wollen diese Märchen nicht kennen, wollen nicht wissen, was du dir Tag und Nacht zusammenträumst. URALTER Man muss es wissen, man kann nicht aufwachsen ohne eine Ahnung von der wirklichen Welt. […] FRAU Wir glauben nicht an diese Welt, von der ihr immer redet. Ihr habt sie nur geträumt. […] URALTER Wenn sie nun Recht hätten? Mein Gott, es ist lange her. Vielleicht habe ich wirklich alles geträumt, den blauen Anzug, die Ziege, den Löwenzahn. […] Aber wie kamen wir in diesen Wagen? War es nicht vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten? […] Pause. Das Rollen der Räder beschleunigt sich weiter. URALTER flüsternd Es wird immer schneller […]. Ich glaube, es geschieht ein Unglück. Hilft uns denn niemand? ENKEL Wer?27

Entscheidend ist, dass dieser Traum eine absolute Gegenwärtigkeit inszeniert, die sämtliche anderen Zeitdimensionen überlagert und in sich aufnimmt.28 Diese Gegenwärtigkeit zeigt sich durch das gemeinsame Eingeschlossensein in einem Zugwagon,29 bei dem jede der anwesenden Figuren eine Familiengene27 Eich: Träume, S. 352–359. 28 Zur zeitlichen Dimension des Traums vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit Eichs Hörspiel von Anne D. Peiter: „Zeit als Tortur“ in: Anne D. Peiter: Träume der Gewalt. Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus – Kolonialismus – Kalter Krieg, Bielefeld: transcript 2019, S. 50–60. Peiter stellt hier der fiktional inszenierten Zeiterfahrung bei Eich die literarischen und wissenschaftlichen Quellen zur ‚tatsächlichen‘ Zeiterfahrung der Opfer während der Deportation kritisch gegenüber und zieht hierfür auch Texte von Charlotte Delbo, Jorge Semprún, Saul Friedländer, David Rousset, Ruth Klüger und anderen heran  – ohne allerdings deren Traumpassagen eine gesonderte Aufmerksamkeit zu widmen. Ausnahmen bilden einige punktuelle Auseinandersetzungen mit den Traumberichten von Primo Levi (S. 59, S. 76 und S. 256), Charlotte Delbo (S. 195, S. 341–342 und S. 346–348) und Robert Antelme (S. 254). 29 Auffällig ist also, dass Eich eines der zentralen ikonographischen Motive der Shoah, den Zugwagon, verwendet; eben jenes Bild, das bereits Vercors in seiner Erzählung „Le songe“ zum Gegenstand der Traumreflexion gemacht hat: „Vous vous sentez enfermé dans votre peau comme dans un wagon plombé. Impossible d’en sortir“ (Vercors: „Le songe“, in: Vercors: Le

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ration repräsentiert (bzw. bilden der und die „Uralte“ ein Paar). Die Fahrt des Zuges, die sich auf beängstigende Weise beschleunigt, führt die Passagiere offensichtlich einer grausigen Bestimmung entgegen – ein Ziel, das umso schrecklicher wirkt, je weiter die Ankunft herausgezögert wird. Die universalisierende und ent-historisierende Dimension dieser Traumerzählung ist nicht zu übersehen. Sie wird durch das einführende Gedicht verstärkt, in dem auf ausgesprochen allgemeine, geradezu vage Weise von „Gefängnis und Folterung, Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt“ die Rede ist.30 Die Shoah stellt für Günter Eich also offensichtlich ein Ereignis unter vielen Gewalthandlungen im Kontext des Zweiten Weltkriegs dar. Die Schuldigen werden nicht benannt, die Opfer generalisiert. Diesen Eindruck unterstreicht nicht zuletzt auch die Rede des Autors „Der Schriftsteller vor der Realität“, in der er pauschal behauptet, „Kommissare und Manager [seien dabei], die Erde endgültig zum Konzentrationslager zu ordnen“.31 Halten wir zudem fest, dass der erste Traum aus dem Hörspielzyklus von einem Kriegsvertriebenen erzählt wird, und nicht von einem Opfer der Shoah. Zu seinem Konstruktionsprinzip gehört, dass diese nie benannt, jedoch durch zahlreiche, nur lose miteinander verknüpfte Motive, wie den Wagon, das Rattern und Rangieren des Zuges, die unangekündigte Verhaftung und Deportation, die Internierung, die mangelhafte Ernährung und den verstellten Blick nach draußen, recht unmissverständlich assoziiert wird. Eine derartige Verallgemeinerung scheint uns aus heutiger Perspektive freilich problematisch. Sie wiegt umso schwerer, als dem Traum im größeren Zusammenhang mit den darauffolgenden Träumen und den zwischengeschalteten Gedichten zusätzlich eine deutliche Tendenz zur Relativierung der Shoah bescheinigt werden muss.32 Zumindest erklären lässt sie sich aber wohl durch silence de la mer et autres œuvres, Paris: Omnibus 2002, hier S. 179, vgl. Kapitel II). Was diese beiden sehr unterschiedlichen Werke miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass sich das Bild der im Zug Eingeschlossenen hier nicht auf die Opfer der Shoah bezieht, sondern auf die Überlebenden, die behaupten, von der Shoah nichts gewusst zu haben, bzw. auf die Nachgeborenen, die argumentieren, sie hätten mit dieser vergangenen historischen Epoche nichts (mehr) zu tun. 30 Eich: Träume, S. 351. 31 Günter Eich: Vermischte Schriften. Gesammelte Werke. Hrsg. von Axel Vieregg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, Bd. IV, S. 613. Vgl. auch Gerhard Hay: „Günter Eichs Träume als Einmischung in die Realität“, in: Günter Häntzschel/Adrian Hummel/Sigrid Nieberle (Hrsg.): Weiter schreiben. Wieder schreiben. Deutschsprachige Literatur der fünfziger Jahre, München: Iudicium 2004, S. 321–331. 32 Andere kollektive Bedrohungen und Szenarien politischer Gewalt wie Kolonialismus und Kalter Krieg bilden den Assoziationsraum für die späteren Träume des Hörspiels. Die problematische Seite dieser Tatsache nimmt Anne D. Peiter in ihrer Studie Träume der Gewalt kritisch in den Blick, indem sie das Eich’sche Hörspiel zum Ausgangspunkt für eine mehr als 1.000 Seiten umfassende, methodisch ebenso gewagte wie faszinierende medien- und kulturwissenschaftlich orientierte Studie nimmt: Sie befragt jeden Traum des Hörspiels zunächst für sich genommen auf seine (oftmals verdeckten und wohl teilweise auch unbewusst einge-

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die programmatische Intention des Autors, all jene wachzurütteln, die bislang die Shoah als ein historisches Faktum ignorieren, verdrängen oder gar leugnen. Jörg Döring kommt in seinem Beitrag über die Rezeptionsgeschichte der Träume zu dem Schluss, der erste Traum sei „einerseits Literarisierung der Shoah, andererseits scheint das historische Geschehen auf spezifisch nicht-jüdische Weise umgedeutet, angeeignet“.33 Das Konzentrationslager würde somit zu einer „Totalisierungsfigur, die sich auch als Abwehr von Auschwitz lesen ließe“.34 Das auffälligste narrative und stilistische Verfahren, mit dem dieses TraumHörstück die Deportationserfahrung inszeniert, ist sicherlich die selbstreflexive und metaliterarische Dimension, die das Gespräch der Zuginsassen begleitet. Diese entsteht durch mehrere gerade für die Traum-Thematik relevante Intertexte, auf die sich Eich mehr oder weniger explizit bezieht. Ins Auge fällt beispielsweise die häufige Nennung der zugleich anwesenden und abwesenden „gelben Blume“, die als Objekt einer diffusen Sehnsucht erscheint. Ihre Existenz wird von den nachfolgenden Generationen grundsätzlich angezweifelt und explizit als Lüge bezeichnet: „Sie sprechen immer von gelben Blumen“, „Es gibt keine gelben Blumen, mein Kind“.35 Hier drängt sich ein Bezug zur Epoche der Romantik geradezu auf: Die Blume lässt sich im Zusammenhang mit der Hauptfigur aus Novalis’ Romanfragment Heinrich von Ofterdingen verstehen, nämlich mit der Suche des Protagonisten nach der „blauen Blume“, die um 1800 zum Sinnbild romantischer Sehnsucht wird.36 Bei Eich allerdings wird sie aufgrund der auffälligen Form- und Farbsymbolik in einen spezifisch jüdischen Kontext versetzt, sodass es naheliegt, diese, wie auch Schmitt-Lederhaus vorschlägt, mit dem gelben ‚Judenstern‘ zu assoziieren.37 Dass die gelbe Blume für die Nachkriegsgeneration abwesend oder erlogen ist und der Gedanke daran die beiden Uralten frösteln lässt,38 rückt das Traumerlebnis zusätzlich ins Licht der Shoah. Zwei weitere intertextuelle und selbstreflexive Momente der Traumerzählung seien noch genauer betrachtet: Der Urgroßvater erzählt fortwährend dieselbe Geschichte: „[Es] war […] vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten. Ja, die Standuhr schlug vier“, „Jetzt fängst du die Geschichte von vorn an, setzten) Motive, Wortverwendungen und Bilder, um damit die blinden Flecken in Eichs Werk aufzuzeigen. So setzt sie der fiktionalen, nicht nur als Provokation, sondern auch als Entlastung der Täter fungierenden Inszenierung der Gewalt bei Eich eine minutiös rekonstruierte „Studie der Unverhältnismäßigkeit“ entgegen, welche die Stimmen der realen, autobiographisch oder historiographisch beglaubigten Gewalterfahrungen der Opfer zu Gehör bringt. 33 Döring: Mit Günter Eich, S. 149. 34 Döring: Mit Günter Eich, S. 155. 35 Eich: Träume 1991, S. 354 und 354. 36 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Romanfragment [posthum 1802], Stuttgart: Reclam 2007. 37 Vgl. Schmitt-Lederhaus: Günter Eichs Träume, S. 103–104. 38 Eich: Träume 1991, S. 357. Anne D. Peiter widmet den mit der gelben Blume verbundenen Assoziationen, blinden Flecken und Motivketten gleich mehrere Kapitel ihrer Arbeit über Günter Eich. Vgl. Anne D. Peter: Träume der Gewalt, S. 76–93.

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Großvater“.39 Dieses biographische Ereignis wird von den anderen Anwesenden als „langweilig“, als „Märchen“ oder aber als Traum (innerhalb des Traumes) abgewertet. Was die Frage der Vermittlung dieser Erfahrung angeht, so zeigen sich zwei Auffälligkeiten: Zum einen versuchen die beiden Alten gar nicht, ihr traumatisches Erlebnis als solches zu kommunizieren. Es bleibt bei der verwunderten Frage, wie sie in den Wagon hineingeraten konnten, während für alle anderen Zuginsassen das „Dasein im Güterwagon das gewöhnliche“ ist.40 Mehr noch: Die Idee, dass eine Wirklichkeit außerhalb des Zugwagons überhaupt existieren könnte, erscheint ihnen ganz und gar unwahrscheinlich. Zum anderen sind es ausgerechnet die Alten, also Zeuge, Zeugin und Opfer, die beginnen, an der wirklichen Welt zu zweifeln: Sie stellen sich selbst die Frage, ob ihre Vorstellung der Außenwelt womöglich keine realistische sei, sondern einem Traum entstamme. Diese Umkehrung von Illusion und Wahrheit, von Phantasmagorie und Erfahrung, wird in Eichs Hörspiel nach dem Modell des Platonischen Höhlengleichnisses gestaltet. Sobald das Sonnenlicht von draußen durch einen schmalen Spalt in den Wagon eindringt, fühlen sich alle Insassen geblendet. Die Furcht vor der Außenwelt ist so groß, dass das Loch mit vereinten Kräften verschlossen wird. Sämtliche Insassen ziehen die Gefangenschaft in der Dunkelheit der äußeren Wirklichkeit vor, deren grelles Licht schmerzt. Das, was sich jenseits des Zuges befindet, wird zum Ende des Traums hin nur für die ältesten Passagiere erkennbar: Die tatsächliche Welt in ihrer scheinbaren Normalität löst Angst aus, wirkt auf groteske Weise verzerrt bzw. überdimensioniert und ähnelt eher einer Gruselgeschichte als einem bewohnbaren Ort („Es sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten“)41. Die Kluft zwischen drinnen und draußen sowie zwischen vorher und nachher erweist sich als unüberbrückbar. Die Erinnerungen an die Wirklichkeit sind beängstigender als die Dunkelheit, die Wörter, mit denen gelbe Blumen, Bäume, Betten oder der Wein bezeichnet werden, haben ihren Sinn verloren; Worte und Dinge stimmen nicht mehr überein: „Es gab etwas, was wir Himmel nannten und Bäume“, „Löwenzahn – was du für merkwürdige Wörter gebrauchst!“, „Alles Wörter, Wörter, – was sollen wir damit?“42 Während Kind und Enkel kurz vor dem Ende des Traums, als der Lichtspalt im Wagon wieder verstopft ist, beruhigt darüber sind, „daß es wieder ist wie vorher“43, stellen Uralter und Uralte abschließend fest, dass keine Rückkehr in den vorherigen Zustand mehr möglich ist, bevor der Zug unaufhaltsam auf die Katastrophe zurast. Während der Hilfeschrei der Deportierten („Hilft uns denn keiner?“) ungehört ver39 40 41 42 43

Döring: Mit Günter Eich, S. 155. Eich: Träume, S. 352. Eich: Träume, S. 356. Eich: Träume, S. 353 und 356. Eich: Träume, S. 357.

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hallt, die Außenwelt sich also scheinbar ungerührt weiterdreht, haben sie ein Wissen erlangt, hinter das die Nachkriegsgesellschaft nicht mehr zurückgehen kann. In diesem Zusammenhang resümiert Lothar Schröder optimistisch: „Der Blick [aus dem Wagon] ist ein existenzieller Schock, ist ein Blick hinter die Kulisse der Welt […] Dieser Riss reicht aus, um das bis dahin geführte Leben als reine Staffage zu entlarven. So unerträglich jene Erkenntnis auch sein mag, so unauslöschbar ist ihre einmal gemachte Entdeckung.“44 Bemerkenswert ist für den Traum Günter Eichs folglich eine geradezu programmatische Umkehrung von innerer (Traum-)Erfahrung und äußerer Realität: Während die alltägliche Wirklichkeit einem grundsätzlichen Zweifel unterzogen und als Traumgespinst klassifiziert wird45  – sie also den Status eines Traumes im Traum erhält  –, stellt die gänzlich unrealistische Erfahrung, sich über mehrere Generationen-Zeiträume hinweg in einem Güterwagon zu bewegen, für die Betroffenen die einzige Realität dar, die nicht infrage gestellt werden kann. Eine irritierende Verkehrung von Traum und Wachwirklichkeit im Zusammenhang mit einer Zugfahrt, gleißendes Sonnenlicht, der Eindruck einer irreal gewordenen Normalität, eine Landschaft und ein Alltag, die sich als Täuschung erweisen; all das taucht auch in den Traumpassagen der Texte von Primo Levi und Anna Langfus wieder auf.

Der Schlusstraum in Primo Levis La tregua [1963] Das gut vier Seiten umfassende Schlusskapitel von La tregua46 setzt sich in mehrfacher Hinsicht mit der Shoah als individuellem und kollektivem Trauma auseinander. Zum einen wird, Bezug nehmend auf den Titel des Werkes, die Rückkehr als ein Aufschub („una tregua“) charakterisiert; eine Atempause zwi44 Lothar Schröder: „Körperloser Schmerz und die Angst, die das Leben meint. Vor 40 Jahren wurden Günter Eichs Träume urgesendet“, in: Literatur für Leser 4 (1991), S.  211–224, hier S. 214. 45 Dem Verhältnis von Traum und Wirklichkeit in seiner auditiven Dimension, nämlich als akustische Erfahrung eines Traum-Hörspiels, in dem die Träume „szenisch nachgespielt“ werden, widmet sich Romana Weiershausen. Sie kommt zu dem Schluss, dass hier, „anders als beim Lesen eines Textes […] die flüchtigen akustischen Signale den Eindruck unmittelbarer Teilhabe am Geschehen“ erwecken (Romana Weiershausen: „Traum im Hörspiel. Gehörte Träume bei Borchert, Eich, Bachmann und von Wysocki“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Mediating the Dream/Les genres et médias du rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2020, S. 449–466, hier S. 465 und S. 466. 46 Primo Levi: La tregua, Torino: Einaudi 2014, S. 197–201.

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schen Lagerterror und Normalität. Zum anderen durchquert das autobiographische Ich hier das Land der Täter: In Deutschland stellen sich die grundsätzlichen Fragen, wer in welchem Maße von den Verbrechen Kenntnis hatte, wie sich das Erlebte vermitteln, welcher Umgang sich zwischen Tätern und Opfern finden lässt.47 Zugleich rückt die Ankunft in der Heimat näher  – und damit schiebt sich auch die Angst in den Vordergrund, die sämtliche KZ-Häftlinge in ihren Träumen umgetrieben hatte: dass Haus und Familie verschwunden sein könnten, dass die Sehnsucht nach einer Welt jenseits des Lagers und einer Fortführung des früheren Lebens also keine Erfüllung findet. Dieses Schlusskapitel endet auf vielsagende Weise mit einem Traumbericht. Bemerkenswert ist im Zusammenhang mit dem zu untersuchenden Verhältnis von Traum und Wachwirklichkeit, dass das Kapitel ausgerechnet „Il risveglio“ („Das Erwachen“) überschrieben ist. Denn das Buch beschreibt am Ende mitnichten das Erwachen des Erzählers aus einem Traum; der Traum liefert vielmehr eine Erkenntnis, welche die Wachwirklichkeit als Täuschung entlarvt, er erzählt also vom Erwachen des Auschwitz-Rückkehrers aus einer Illusion48 und verweist damit auf das Unabschließbare der zurückliegenden Lagererfahrung.49 Auch diese Traumdarstellung ist, wie diejenige von Eich, in eine allgemeine Reflexion über den Alptraum eingebettet; allerdings entbehrt sie in diesem Fall nachvollziehbarerweise jeglicher ironischen Distanzierung. La tregua umfasst die einzelnen Stationen der Rückreise Levis aus Auschwitz, die das autobiographische Ich – zumeist per Zug  – durch sieben osteuropäische Länder über Deutschland und Österreich zurück nach Italien führt. Diese literarische Rekonstruktion ist eng verbunden mit den Portraits seiner ehemaligen Mitgefangenen und grundsätzlichen Reflexionen des Erzählers über seine Erfahrung als KZ-Überlebender. Im Zentrum stehen der durch die Shoah verursachte Zivilisationsbruch, Probleme der Differenzierung in Täter und Opfer, die Bedingungen und Konsequenzen des Überlebens, die Notwendigkeit der Zeugenschaft, welche sich aus der Ausnahmesituation als ehemaliger Auschwitz-Häftling ergibt, und schließlich die Frage, ob bzw. wie sich das erlittene individuelle Trauma kollektiv vermitteln lässt, angesichts der Tatsache, dass die eigentlichen Opfer der Shoah keine Stimme haben.50

47 So wird es zusammengefasst von Jo-Ann Cannon: „Storytelling and the Picaresque in Levi’s La tregua“, in: Modern Language Studies 31 (2001), S. 1–10, hier S. 9. 48 Dies ist auch das zentrale Argument von Jonathan Druker: „Trauma and Latency in Primo Levi’s The Reawakening“, in: Risa Sodi/Marcus Millicent (Hrsg.): New Reflections on Primo Levi. Before and After Auschwitz, New York: Macmillan 2011, S. 63–77. 49 Vgl. auch De Palma: Rêve et onirisme, S. 387. 50 Die ersten beiden Kapitel des Werkes wurden bereits 1947 und 1948 verfasst; Kapitel drei und vier stammen von 1961 und die verbleibenden acht aus dem Jahre 1962. Der Bericht wurde 1963 mit dem Premio Campiello ausgezeichnet und 1997 von Francesco Rosi in einer italienisch-deutsch-französisch-schweizerischen Gemeinschaftsproduktion verfilmt.

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Der Kontext des Schlusstraums aus La tregua erinnert in bitterer Weise an den Zugtraum von Günter Eich: Während seiner Odyssee hält der Zug in München und der Erzähler steigt aus, besessen von dem Wunsch, die Deutschen nach ihrer Vergangenheit zu befragen und ihnen von seinen eigenen Lagererlebnissen zu berichten: Ci sembrava di avere qualcosa da dire, enormi cose da dire, ad ogni singolo Tedesco, e che ogni Tedesco avesse da dirne a noi: sentivamo l’urgenza di tirare le somme, di domandare, spiegare e commentare, come i giocatori di scacchi al termine della partita. Sapevano, ‚loro‘, di Auschwitz, della strage silenziosa e quotidiana, a un passo dalle loro porte? Se sí, come potevano andare per via, tornare a casa e guardare i loro figli, varcare le soglie di una chiesa? Se no, dovevano, dovevano sacramente, udire, imparare da noi, da me, tutto e subito: sentivo il numero tatuato sul braccio stridere come una piaga.51

Auf diese Idee eines Dialogs folgt allerdings ein böses Erwachen – auch hierauf könnte sich der Titel des Kapitels beziehen: Der Auschwitz-Rückkehrer muss feststellen, dass das Leben in Deutschland offensichtlich seine alltägliche Routine wieder aufgenommen hat, dass allenthalben Normalität herrscht, dass ein Austausch zwischen Tätern, Mitläufern und Opfern nicht möglich ist. Die Deutschen erscheinen genauso, wie Eich sie in seinem Hörspiel beschrieben hatte: blind, taub und stumm. Sie wehren jegliche Wahrheit ab und weigern sich, „von [ihm] zu lernen“. Außerdem erweist sich auch hier, ganz wie bei Eich, gerade die Normalität als bedrohlich und unheimlich.52 Dem anschließenden Alptraumbericht, der das Ende des Kapitels und damit des gesamten Buches darstellt, geht die einigermaßen geglückte Eingliederung des Erzählers in den Familienalltag voraus: Das erzählende Ich berichtet von „amici pieni di vita“, dem Einfinden der Familie am Tisch, befriedigenden Alltagsarbeiten und der befreienden Freude des Erzählens.53 Dennoch wird das abendliche Zubettgehen als sich stetig wiederholender Moment des Schreckens erlebt. Auch in die Bewegungen des Körpers hat sich das Trauma eingeschrieben: Der Erzähler bewegt sich noch immer mit zum Boden gesenktem Kopf vorwärts, als suche er nach etwas Essbarem, mit dem sich der Tod für einen Moment aufschieben lässt. An diese Selbstbeobachtung schließt sich nun der eigentliche Traumbericht an: [N]on ha cessato di visitarmi, ad intervalli ora fitti, ora radi, un sogno pieno di spavento. È un sogno entro un altro sogno, vario nei particolari, unico nella sostanza. Sono a tavola con la famiglia, o con amici, o al lavoro, o in una campagna 51 Levi: La tregua, S. 197. 52 Sie wird zudem auf ähnliche Weise evoziert: Die Landschaft erscheint saftig grün, die Familie wieder vereint, das Leben schön. 53 Levi: La tregua, S. 200.

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verde: in un ambiente insomma placido e disteso, apparentemente privo di tensione e di pena; eppure provo un’angoscia sottile e profonda, la sensazione definita di una minaccia che incombe. E infatti, al procedere del sogno, a poco a poco o brutalmente, ogni volta in modo diverso, tutto cade e si disfa intorno a me, lo scenario, le pareti, le persone, e l’angoscia si fa piú intensa e piú precisa. Tutto è ora volto in caos: sono solo al centro di un nulla grigio e torbido, ed ecco, io so che cosa questo significa, ed anche so di averlo sempre saputo: sono di nuovo in Lager, e nulla era vero all’infuori del Lager. Il resto era breve vacanza, o inganno dei sensi, sogno: la famiglia, la natura in fiore, la casa. Ora questo sogno interno, il sogno di pace, è finito, e nel sogno esterno, che prosegue gelido, odo risuonare una voce, ben nota: una sola parola, non imperiosa, anzi breve e sommessa. È il comando dell’alba in Auschwitz, una parola straniera, temuta e attesa: alzarsi, ‚Wstawać‘.54

Die Traumerzählung beginnt mit einer einleitenden Reflexion, die das Erzählte eindeutig als Traum markiert: Der Alptraum wiederholt sich unablässig in unterschiedlichen Variationen („vario nei particolari“) und besitzt eine in sich verschachtelte Struktur („un sogno entro un altro sogno“). Er weist jedoch ein identisches Muster auf („unica nella sostanza“), das der Erzähler schließlich in seiner Grundstruktur wiedergibt: Der Träumende befindet sich in einer friedlichen, geradezu idyllischen Situation. Diese bricht schrittweise in sich zusammen und entpuppt sich im Verlauf des Traums als Täuschung. Die Rückkehr an den heimischen Esstisch wird mit einem Mal als unheimlich, unwirklich und brüchig erlebt. Überlagert wird sie von einem untrüglichen Wissen, das der Auflösung dieses glücklichen Szenarios vorausgeht. Hier setzt der Traum im Traum ein; das plötzliche Bewusstsein, dass die Befreiung aus dem Lager nur ein Traum oder eine Sinnestäuschung gewesen sein kann. Der Träumer sieht sich ins Lager zurückversetzt. Als eindeutigen Hinweis auf die Allgegenwart von Auschwitz vernimmt er den gefürchteten polnischen Befehl zum Aufstehen („Wstawać“), mit dem die Lagerwirklichkeit unvermittelt in den Traum einbricht. Auffällig an diesem Traumbericht ist die Vermischung von Traumreflexion und Traumerzählung. Es handelt sich hier um eine iterative Traumnarration, in der zahlreiche Variationen desselben Alptraums gleich mit enthalten sind. Auch die Konstruktion eines Traums im Traum wird vom Erzähler bereits während der Erzählung des Trauminhalts offengelegt. Mit der Differenzierung in „sogno interno“ und „sogno esterno“ werden mehrere Ebenen der Traumerfahrung hierarchisch geordnet und in eine irritierende Beziehung zur Wachwirklichkeit gesetzt. Denn der innere Traum, der eindeutig als Schlaftraum markiert wird, lässt sich von der unmittelbar zuvor beschriebenen Situation der Wachwelt kaum unterscheiden. Doch auch der äußere Traum, der Traum von den Schrecken des Lagers, entspricht den tatsächlichen Erfahrungen des Träumers, die in der

54 Levi: La tregua, S. 200–201.

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Traumerinnerung vergegenwärtigt werden.55 Beide Traumebenen weisen also ausschließlich Elemente auf, die Leserinnen und Leser bereits aus der Wachwelt des Träumers kennen. Seine besondere Wirkung erzielt der Bericht, wie auch Carlo Prosperi konstatiert, durch die spezifisch literarisch-ästhetische Dimension, die sowohl TraumReflexion als auch Traum-Erzählung kennzeichnen:56 Durch verschiedene rhetorische Gestaltungsverfahren und die schlichte Bildlichkeit werden die Scheinhaftigkeit und Instabilität des alltäglichen Erlebens eindringlich, jedoch ohne jedes Pathos in Szene gesetzt. Mehrfach verbundene Reihungen mit „oder“ bzw. „und“ sowie Einschübe der sich anbahnenden Bedrohung unterstreichen den Prozess, der die ‚heile Welt‘ des Träumers zusammenbrechen lässt: Die Umgebung wird zunehmend als unwirklich erlebt. Die Normalität wirkt wie eine illusorische, artifizielle Theaterkulisse („tutto cade e si disfa intorno a me, lo scenario, i pareti“), die sich angesichts der unmittelbaren Gewissheit der Lagererfahrung auflöst. Auch die Wahrnehmung von Farben und Umrissen („campagna verde“, „nulla grigio“) sowie die sinnlichen Eindrücke der Traumerfahrung („calore“, „gelido“, „voce sommessa“) verstärken das immer näher rückende Grauen, das in dem fremdsprachigen Befehl zum Aufstehen kulminiert. Der Imperativ „Wstawać“ steht metonymisch für den gesamten Lagerterror, in dem Erinnerung an Vergangenes und gegenwärtiges Erleben, Träumen und Wachen, Einbildung und Wirklichkeit zusammenfallen. Das mit „Erwachen“ überschriebene Kapitel endet also programmatisch mit einem Traum, dem der Erzähler nicht entkommt.57 Dies führt Cesare Segre zu der Schlussfolgerung: „Quasi sempre il sogno costituisce un passaggio, fittizio, della barriera tra Lager e vita normale, tra vita normale e Lager.“58 Primo Levi zeigt damit paradigmatisch auf, wie sich für das traumatisierte Individuum die Wahrnehmung von Traum und Wirklichkeit verkehren. Die Erfahrung der Shoah hat sich derart in das Bewusstsein des Überlebenden eingegraben, dass sich vergangene Erlebnisse, wahrgenommene Gegenwart und bevorstehende Zukunft nicht voneinander trennen lassen. Im Traum werden sowohl die zeitlichen als auch die räumlichen Grenzen aufgehoben; sie weichen einer leiblich erfahrenen, überzeitlichen und omnipräsenten Gewissheit. Damit 55 Vgl. auch Anne Boulé: „La tregua, ou l’infini retour“, in: La Licorne 33 (1995), S. 155–172, hier S. 171. 56 Vgl. Carlo Prosperi: „La gioia liberatrice del raccontare: una lettura de La tregua di Primo Levi“, in: Giovanna Ioli (Hrsg.): Primo Levi: Memoria e invenzione, San Salvatore Monferrato: Ed. della Biennale „Piemonte e Letteratura“ 1995, S. 85–101, hier S. 90. 57 Vgl. ganz ähnlich auch Jonathan Druker: „Trauma and Latency in Primo Levi’s The Reawakening“, in: Risa Sodi/Millicent Marcus (Hrsg.): New Reflections on Primo Levi. Before and After Auschwitz, New York: Macmillan, S. 63–77, hier S. 75. 58 Cesare Segre: „Auschwitz, orribile laboratorio sociale“ [= Nachwort], in: Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 179–199, hier S. 195.

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bringt, so Annika Nickenig, der „Traum ein Wissen über die Konzentrationslager zum Ausdruck […], das über die bewusste Gedächtnisarbeit hinausgeht“.59 Das Grauen des Lagers erweist sich als die einzige unhintergehbare Realität des Träumers. Auf dem Grund dieser Erfahrung wird die Nachkriegswirklichkeit als irreal und traumhaft erlebt. Der prekäre Status dieser Normalität innerhalb der Wachwelt bildet eine ständige Bedrohung und damit für den Überlebenden den eigentlichen Alptraum, weil er, so Nickenig, „die Evidenz von Wirklichkeit grundsätzlich in Frage stellt“.60

Träume in Anna Langfus’ Les bagages de sable [1962] Der für den Vergleich ausgewählte Traumbericht aus Langfus’ Roman fügt sich in einen Erzählrahmen ein, der dem von Primo Levi durchaus ähnlich ist (vgl. Kapitel  IV): Auch hier wird die Nachkriegsnormalität ‚entrealisiert‘, während der Alptraum der Shoah als allgegenwärtige Wirklichkeit wahrgenommen wird. Und auch hier erweist sich das Moment der (Zug)-Reise als zentral. Die erzählten Träume sind in Les bagages de sable allerdings selten eindeutig als solche markiert. Jedoch werden sie zumeist gerahmt, etwa durch die Situation des Einschlafens,61 eine nachträgliche Fieberdiagnose62 oder den Anbruch eines neuen Tages.63 Zudem legen es der Bericht von zunehmender Müdigkeit oder die direkte Verbindung mit Tagesresten zuvor erzählter Ereignisse64 nahe, bestimmte Passagen als Träume zu lesen. So auch der Ausschnitt, um den es hier gehen soll. Der knapp fünfseitige Traum, der aus mehreren unverbundenen Sequenzen besteht, wird im ersten Drittel des Romans erzählt65 und schließt direkt an einen Ausflug der Hauptfigur mit ihrem neuen Bekannten an. Diese Fahrt ins Grüne ist die bisher einzige Episode des gesamten Romans, in der die Protagonistin ihr Leben für einen kurzen Moment nicht als Qual erlebt. Die Ich-Erzäh59 Annika Nickenig: „‚Arrach[é] au rêve de la vie‘. Häftlingsträume und Lagertrauma in literarischen Texten über die Shoah (Levi, Antelme, Semprún)“, in: Susanne Goumegou/Marie Guthmüller (Hrsg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen  & Neumann 2011, S.  285–300, hier S. 288. 60 Nickenig: Arrach[é], S. 287. 61 Langfus: Bagages, S. 36 62 Langfus: Bagages, S. 67. 63 Langfus: Bagages, S. 85. 64 Wie etwa Langfus: Bagages, S. 37. 65 Langfus: Bagages, S. 62–66.

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lerin kehrt erschöpft nach Hause zurück, legt sich angekleidet ins Bett und nimmt im Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf eigenartige Körpersymptome und sich merkwürdig verschiebende Objekte in ihrer Umgebung wahr: Der Klang aus dem Bett fallender Schuhe dröhnt schmerzlich im Kopf, der Leib zittert trotz der Sommerhitze, im Kiefer haben sich zu viele Zähne ausgebreitet, die Glühbirne im Zimmer verwandelt sich in eine schrille Feuerglocke. Der Mann, der plötzlich an ihrer Bettkante sitzt und von dem der nun einsetzende Traum handelt, entpuppt sich während des späteren Aufwachens als Arzt, der eine schwere Erkrankung seiner Patientin feststellt. Als die Erzählerin vollständig erwacht ist, hat sich die Gestalt des Arztes in diejenige ihres Bekannten verwandelt, der sie darüber aufklärt, wie lange sie geschlafen hat.66 Der eigentliche Traum setzt mit dem Anblick des unbekannten Mannes an der Bettkante der Erzählerin ein, der zugleich das Hinübergleiten von der Wachin die Traumwelt kennzeichnet.67 Als sie vergeblich versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, bemerkt sie, dass an ihrem Rücken ein schwerer Stein hängt, dessen Gewicht sie nach unten zieht. Dieser Stein ist mit einem Seil an ihrem Hals befestigt und nimmt ihr die Luft zum Atmen. Auf den Vorwurf, dass das Gegenüber sie derart gefesselt habe, reagiert der Mann, indem er ihr zeigt, dass er seinerseits unter derselben Last leidet. Es folgt ein Disput darüber, wer wem dieses Leid zugefügt habe, bevor die Träumerin versucht, den Anderen, der plötzlich Ähnlichkeit mit ihrem Vater aufweist, mit einem Messer zu befreien. Doch die Träumerin muss feststellen, dass es sich bei dem Seil um eine lebendige, pulsierende, beide miteinander verbindende Vene handelt, die sich schließlich in die Schnur der im Zimmer baumelnden Alarmglocke verwandelt. Zentrales Thema dieser Traumepisode ist die Last der Vergangenheit, die hier als ein Stein erscheint, der mit einem Nabelschnur ähnlichen Seil am Körper fixiert wurde. Der subjektive Eindruck schuldhafter Verstrickung der Überlebenden in den Genozid wird in Szene gesetzt, indem die Träumende nicht nur selbst an der Belastung zu ersticken droht, sondern zugleich untrennbar an die deportierte Vater-Figur gebunden bleibt. Die gegenseitigen Vorwürfe zweier unschuldig Verfolgter und im Leid aneinander geketteter Opfer kulminieren in der Behauptung des Gegenübers, Stein und Seil existierten in Wirklichkeit gar nicht: Die Shoah ist also zugleich an- und abwesend, sichtbar und unsichtbar, real und irreal. In ihrer lähmenden Wirkung wird sie jedoch als lebensbedrohlich erlebt. In einer zweiten, direkt anschließenden Traumsequenz wechselt die Szenerie in ein Klassenzimmer, in dem die Träumerin in eine bedrohliche Prüfungssituation versetzt wird.68 Sie soll die Namen von Konzentrationslagern aufsagen, während sie bemerkt, dass sie mit unziemlichen Schuhen bekleidet ist, die ihre 66 Langfus: Bagages, S. 67. 67 Langfus: Bagages, S. 63. 68 Langfus: Bagages, S. 64.

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Verhaltensnote herabsetzen könnten. Obwohl sie gut vorbereitet und sich keiner Schuld bewusst ist, wird sie von ihrem Lehrer vor der Klasse bloßgestellt: Es sind alleine die Namen und Zahlen der Konzentrationslager gefragt, sie hingegen möchte sämtliche Details nennen, die „keinen Menschen interessieren“.69 Ihr fehlerhaftes Betragen wird mit den unerlaubten Schuhen erklärt, und sie selbst weiteren Vorwürfen ausgesetzt; etwa sich im Konzentrationslager falsch verhalten zu haben oder den Namen eines geflohenen Häftlings zu verschweigen. Die Traumepisode endet mit einer zusätzlichen Demütigung: Als der deutsche Lehrer sie ohrfeigt, bittet sie ihn unterwürfig um eine gute Zensur.70 Während die erste Traumepisode durch einfache, symbolisch allerdings hoch aufgeladene Bilder konstruiert ist, erzählt die zweite von einer schulischen Alltagssituation, in der Schuld und Versagen sehr viel konkreter zur Sprache gebracht werden. Es handelt sich hier insofern um einen Meta-Traum über das Trauma der KZ-Erfahrung, als die Erinnerung an den Genozid Thema einer Schulstunde ist. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenüber: Der Lehrer, der offensichtlich der Täterseite angehört („l’Allemand“), verlangt allgemeine Daten und Fakten und lässt keine Antworten jenseits der „règlements“ zu. Das detailreiche Shoah-Wissen der Schülerin, das sich aus persönlicher Erfahrung speist, findet demgegenüber kein Gehör. Im Raum steht dabei die ambivalente Forderung „de savoir sa leçon“:71 Die Formulierung kann das Konzentrationslager als abstrakten Schulstoff meinen oder aber das Gebot, die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und das Wissen über die Shoah damit im kollektiven Gedächtnis zu verankern. In jedem Falle haben wir es hier mit der onirischen Inszenierung verschiedener Formen des Wissens zu tun – ein historiographisches Wissen und ein subjektives Erfahrungswissen. Innerhalb der narrativen Auseinandersetzung mit der Shoah bzw. mit ihren nachhaltigen Erschütterungen werden im Roman von Anna Langfus beide im Modus eines literarischen Wissens miteinander kontrastiert. Zahlreiche Motive des Traumes spielen auch in der Wachwelt der Protagonistin eine wichtige Rolle und bilden insgesamt eine weitläufige Verweisstruktur innerhalb des Romans: Dazu zählen etwa das diffuse Schuldgefühl, am ‚normalen‘ Leben teilzuhaben, der schmerzende Strahl der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, der wie ein Alarmsignal empfunden wird, das mühselige Treppensteigen oder der Eindruck, unter zu schwerem Gepäck zu ersticken. Besonders die beiden letzten Motivkomplexe sind in auffälliger Anlehnung an die antike Mythologie gestaltet: Auch bei Anna Langfus lässt sich ein Verweis auf Platons Höhlengleichnis erkennen. Anders als bei Günter Eich wird hier aber nicht auf 69 Langfus: Bagages, S. 65. 70 Langfus: Bagages, S. 66. 71 Alle drei Zitate Langfus: Bagages, S. 65.

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die vielen Unwissenden angespielt, welche die Dunkelheit der Erkenntnis vorziehen, sondern von einem Menschen erzählt, der die blendende Helligkeit nicht scheut. Das Gleichnis handelt von der Mühe und der Qual desjenigen, der sich, einsam die Höhle verlassend, ans Licht bewegt, um einer schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu blicken, die bei allen anderen auf Ablehnung und Unglauben stößt. Die Unmöglichkeit, diese Erfahrung zu vermitteln, wird bei Anna Langfus zum zentralen Thema des Romans. Die unerträgliche Last wiederum, die immer wieder von Neuem gestemmt werden muss und das Leben der Protagonistin zu einer quälenden Abfolge sich stets wiederholender entsetzlicher Tage macht,72 erinnert darüber hinaus an die Figur des Sisyphos: Zum ewigen Lastenschleppen verdammt, kann er sich seinem Schicksal nicht entziehen, selbst wenn er, wie die Protagonistin des Romans, den Tod vorziehen würde. Das schmerzende Licht der Sonne, der Transport von Gepäck und der vergebliche Gedanke an Selbstmord spielen nun auch in jener Passage eine wichtige Rolle, die von der Ankunft des ungleichen Paares in ihrem Ferienort erzählt und die sich an die zuvor präsentierte Traumdarstellung anschließt.73 Eingerahmt wird sie von scheinbar eindeutigen Traummarkierungen; zu Beginn durch das Einschlafen im Zug, der gen Süden rollt, sowie durch den Eindruck der Ich-Erzählerin, im Schlaf die bislang bekannte Welt zu verlassen: „Mon sommeil m’a fait glisser hors du monde que j’ai jusqu’ici connu.“74 Am Schluss der Episode erkundigt sich der Begleiter bei der Protagonistin, ob sie gut geschlafen habe.75 Rückwirkend allerdings, wenn die Erzählung nämlich mit dem Aufenthalt im Ferienhaus und einem Restaurantbesuch fortfährt, lässt sich erkennen, dass das Geschehen nicht geträumt war: Der Zug ist inzwischen tatsächlich angekommen, die beiden Figuren sind wirklich ausgestiegen und haben den Weg vom Bahnhof zu ihrem Domizil zurückgelegt, wo die Erzählerin erschöpft ins Bett fällt. Ein weiteres wichtiges Moment der Situierung dieser Episode ist der Beginn der Zugreise, von dem unmittelbar zuvor berichtet wird. Hier werden offensichtlich traumatische Erfahrungen der Protagonistin evoziert: die halluzinierte Begegnung mit dem ermordeten Geliebten, der ihr Vorwürfe angesichts der bevorstehenden Reise macht, ein anschließender Weinkrampf, die Angst vor der Kontrolle durch Bahnbeamte und einer möglichen Verhaftung oder vor dem Signal und dem Rauch der Züge, die wie träumende Tiere wirken.76 All diese 72 73 74 75 76

Vgl. auch Langfus: Bagages, S. 47 und 49. Langfus: Bagages, S. 77–81. Langfus: Bagages, S. 77. Langfus: Bagages, S. 81. Langfus: Bagages, S. 75. Auch für Primo Levi stellt das nächtliche Pfeifen der Züge ein beängstigendes Element seiner Lagerträume dar. Primo Levi: Se questo è un uomo, S. 53 und dazu Kapitel IV dieses Buches.

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Elemente stellen die folgende Traumepisode in den motivisch-assoziativen Kontext der Deportation: Mon sommeil m’a fait glisser hors du monde que j’ai jusqu’ici connu. Je marche sous un globe bleu incroyablement uniforme. Ce ne peut être le ciel, le vrai ciel. Cette couleur intense sans faille, sans faiblesse, elle ne peut appartenir qu’à une matière synthétique de fabrication humaine, et j’ai vraiment l’impression d’avoir tout à coup pénétré dans une serre immense où toutes les rêveries accumulées depuis des siècles au-dessus d’images enfantines, aux couleurs naïves et tout d’une pièce, ont été ingénieusement matérialisées. On a déposé là, à l’abri, une végétation imaginaire, des arbres de songe, des plantes engendrées par le caprice. Les hommes et les femmes d’ici, avec leur jambes nues et bronzées, avec leurs vêtements de fantaisie, leurs coiffures bizarres, ont visiblement décidé de s’intégrer au décor et, donnant libre cours à leur goût du travesti, jouent à l’enfance retrouvée. Et je comprends que, pour pouvoir rester ici, il me faut également jouer le jeu. Bien sûr, je ferai semblant de croire que ce ciel est un vrai ciel, que cette lumière qui blesse mes yeux est la seule et véritable lumière de soleil […]. Mais tout ce bruit ne peut être qu’une illusion. Les habitants de cette maison sont morts depuis des siècles ; le vieil homme et moi, nous n’existons pas. À moins que simplement nous ne soyons les rêves des morts qui trompent l’ennui de l’éternité en peuplant leur maison d’êtres fictifs, curieux, cocasses. Allongée, je regarde les poutres. De bonnes vieilles poutres, solides, pour y planter un clou et se pendre.77

Die Passage fährt mit einem abrupten Szenenwechsel fort, der eine traumhafte Landschaft präsentiert. Das erzählende Ich durchquert eine Idylle, die als gänzlich irreal erlebt wird. Alle Elemente der Umgebung scheinen künstlich und einer auf Illusion angelegten Theaterszenerie anzugehören: Die Kleidungsstücke der Passanten wirken wie Kostüme, Sonne, Himmel und Landschaft wie gemalte Kulissen, die Häuschen, als seien sie aus Pappmaschee angefertigt.78 Auch Formulierungen wie „décor“, „travesti“, „figurants“, „scène géante“ und „spectateurs“ unterstreichen den theaterhaften Eindruck.79 Das erzählende Ich entscheidet sich, selbst zur Mitwirkenden an diesem „recht lustigen Stück“80 zu werden. Auch wenn ihr die Rolle fremd bleibt, versucht sie, diese möglichst gut zu spielen. Zugleich nimmt sie aber die konventionelle Rolle der Zuschauerin ein: Einerseits erliegt sie der Illusion des Theaters, andererseits weiß sie genau, dass es sich dabei um eine Illusion handelt: „Bien sûr, je ferai semblant de croire que ce ciel est un vrai ciel.“81 Über die Theatermetapher hinaus werden auch andere Formen des Ästhetisch-Künstlerischen mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit in Ver77 78 79 80 81

Langfus: Bagages, S. 77–81. Langfus: Bagages, S. 79. Langfus: Bagages, S. 78. Fr.: „une pièce plutôt gaie“, Langfus: Bagages, S. 78. Langfus: Bagages, S. 78.

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bindung gebracht: Sie erscheint wie ein gemaltes Bild („une belle toile peinte“82) oder ein Film, der von einem monströsen Projektor abgespielt wird.83 In dieser Passage wird also die Umgebung wie ein Traum erlebt. Darüber hinaus aber wird auch das Wahrgenommene zugleich als traumhaft reflektiert: Die Bäume werden als „arbres de songe“ bezeichnet, die „végétation“ als „imaginaire“84 und die Umgebung als ein Treibhaus, in dem sich Jahrhunderte alte, von Kinderbildern überlagerte Träume angesammelt haben. Das erzählende Ich hat darüber hinaus den Eindruck, sich durch die Verdichtung unzähliger bereits zuvor geträumter Träume zu bewegen. Damit wird vor allem der Schluss der Passage bedeutsam. Die Erzählerin ist von der Wirklichkeit derart entfremdet, dass sie sich letztlich selbst als unwirklich erlebt: Weil ihr beim Einschlafen die Geräusche im Haus irreal vorkommen, erwägt sie die These, dass auch sie selbst gar nicht wirklich existiert, sondern nur eine Gestalt aus den Träumen der Toten ist. Im Bett liegend, nimmt sie allerdings noch die Decken-Balken des wirklichen Schlafzimmers als gute Möglichkeit war, um sich daran aufzuhängen, bevor sie tatsächlich einschläft. In mehrfacher Hinsicht können die Träume im Werk von Anna Langfus als paradigmatisch für die literarische Auseinandersetzung mit einer traumatischen Erfahrung, genauer: dem Überleben der Shoah, gelten. Die präsentierten Traumpassagen sind Beispiele dafür, wie in Langfus’ Roman das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit umgekehrt wird: Was Wirklichkeit ist, wird erlebt wie ein Traum; die Träume selbst hingegen erscheinen ausgesprochen realistisch und sind für die Träumende auch nachträglich nicht von der Wachwelt zu unterscheiden. Für die Figur sind, wie auch Judith Klein bemerkt, Schlafträume, traumatische Erfahrung, traumhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit und Selbstentfremdung untrennbar miteinander verflochten.85 Die Protagonistin selbst hat den Eindruck, nur in den Träumen Verstorbener zu existieren. Als „être fictif“86 geistert die Überlebende durch die Häuser der Opfer und wird so zu einer Art Gespenst; einem „revenant“ im wörtlichen Sinne: einer Wiedergängerin, die sich, wie Manfred Weinberg es formuliert, zwischen den Welten und Zeiten bewegt.87 Die Erfahrung, die Shoah überlebt zu haben, 82 83 84 85

Langfus: Bagages, S. 79. Langfus: Bagages, S. 78. Langfus: Bagages, S. 78. Vgl. Klein: An unseren Schläfen, S. 517. Eine solche Verflechtung wird zusätzlich auf der formalen Ebene des Textes erreicht, und zwar durch die zahlreichen Traum-Motive, den Titel, das Ende und das Motto des Romans, die sich jeweils auf das Gedicht La mort rose aus der surrealistischen Gedichtsammlung Le Revolver aux cheveux blancs von André Breton aus dem Jahre 1932 beziehen. 86 Langfus: Bagages, S. 81. 87 Manfred Weinberg: „Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur – und Gedächtnis“, in: Elisabeth Bronfen/Birgit Erdle/Sigrid Weigel (Hrsg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln: Böhlau 1999, S. 173–206, hier S. 175.

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lässt sich, so formuliert es auch Langfus selbst in einem autobiographischen Zeugnis, nicht vermitteln – zumindest nicht als linearer, rational nachvollziehbarer Erfahrungsbericht: „[P]eut-être étais-je assez naïve pour penser que le poids d’un livre suffirait à rétablir l’équilibre entre le passé et le présent. Plus tard, je me suis rendu compte combien il était illusoire de penser que j’allais me délivrer une fois pour toute de ce fardeau.“88 In ihren Romanen schweigen die Protagonistinnen und Protagonisten daher zumeist.89 In Alpträumen, flashbacks und dem Eindruck traumhafter Wahrnehmung der Wirklichkeit hingegen – also jenseits einer ‚realistischen‘ Darstellung90 – ist diese Erfahrung über den gesamten Roman hinweg präsent.

Traumpoetiken der Nachkriegszeit Durch welche ästhetischen Strategien sind die hier untersuchten Alpträume der Nachkriegszeit also gekennzeichnet? Zunächst einmal erlauben die erzählten Träume den jeweiligen Autorinnen und Autoren, die Erinnerung an die Vergangenheit, den gegenwärtigen Schmerz und eine unzugänglich gewordene Zukunft narrativ miteinander zu verknüpfen.91 Die Wahrnehmungsdimensionen sind im Traum derart verdichtet, dass die zeitliche und die räumliche Orientierung, die durch das Trauma beschädigt wurden, hinter die Omnipräsenz der Lagererfahrung zurücktreten.92 Was Judith Klein für Anna Langfus’ Roman Le sel et le soufre feststellt, gilt auch für das gesamte, in diesem Kapitel präsentierte Textkorpus, wenn nicht für nahezu alle Texte des vorliegenden Buches: „Durch 88 Anna Langfus: „Un cri ne s’exprime pas“, in: Les Nouveaux Cahiers 115 (1993/1994), S. 42–43. 89 Wie die Protagonistin des Romans „schweigend von sich selbst erzählt“, ist das Thema von Joë Friedemann: „Anna Langfus et les figures du silence“, in: Friedemann: Langages du désastre, S. 107–141, hier S. 109. 90 Vgl. Katja Schubert: Notwendige Umwege, S. 343. 91 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang vor allem folgende Textpassagen: „Je suis réellement malade“, „J’ai contracté la maladie de la guerre“, „Je suis incurable“ (Langfus: Bagages, S. 52), „Sentivamo fluirci per le vene, insieme col sangue estenuato, il veleno di Auschwitz“ (Levi: La tregua, S. 199) und „‚Wir wollen das Loch verschließen. […]‘/‚Gott sei Dank, daß es wieder so ist wie vorher.‘/‚Es ist nichts wie vorher.‘/‚An was können wir jetzt noch denken?‘“, „Die Erinnerungen machen mir Angst.“ (Eich: Träume, S. 357). 92 „La liberté recouvrée ne signe pas pour autant l’achèvement de l’expérience concentrationnaire, ce qui là encore contrevient à l’attente consolatrice du public – attente qui, sur ce planlà, n’a guère changé. Il n’y a pas pour le rescapé d’achèvement de l’expérience, mais une autre manière de la vivre avec son histoire mémorielle en train de se faire, cette fois en tant que survivant investi de la tâche de témoigner.“ Philippe Mesnard: „Écritures d’après Auschwitz“, in: Vox Poetica. Lettres et Sciences humaines, o. J. (www.vox-poetica.org/t/articles/mesnard.html).

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die Verfremdung der Realität und die Vermischung der Zeiten vergegenwärtigen die Traumberichte ein mehr an Realität, als es der linearen Erzählung äußerer Ereignisse gelingt, oder [sic] stellen sogar den einzig möglichen Zugang zum grauenvollen Geschehen dar.“93 Der Eindruck einer Entwirklichung der gegenwärtigen Realität, eine fundamentale Selbstentfremdung und eine unüberbrückbare Kluft zwischen subjektiver Wahrnehmung und der Außenwelt werden hier durch Traumberichte inszeniert, die zudem den Eindruck von einer künstlichen, unechten Beschaffenheit der Wachwirklichkeit metareflexiv ausstellen.94 Dieses erschütterte Verhältnis zwischen Wachwelt und Traumwelt geht oftmals mit mehr oder weniger expliziten Überlegungen zur Funktion des Traums innerhalb der Traumerzählung selbst einher. Auf diese Weise setzen sich die Schreibenden in ihren Texten kontinuierlich mit den Grenzen des Sagbaren bzw. Unsagbaren auseinander, mit der Frage nach der Darstellbarkeit bzw. Undarstellbarkeit der Shoah.95 Das Reich des Traums erzählerisch auszuloten, wird für Eich, Levi und Langfus damit zu einer Form der poetologischen Reflexion. Annika Nickenig zufolge lässt sich der Traum in der Shoah-Literatur als ein Vermittlungsverfahren verstehen, mit dem eine Verbindung zwischen der zurückliegenden Erfahrung und der Gegenwart der Überlebenden hergestellt werden kann, selbst wenn sich der Kern der traumatischen Erfahrung gegen eine traditionelle Erzählweise sperrt. Der Konzentrationslagertraum, le „rêve concentrationnaire“, von dem Jean Cayrol in seiner Typologie der Shoah-Träume gesprochen hatte (vgl. Kapitel II), kann also ein Wissen über die Shoah beinhalten, das die bewusste Erinnerung der Betroffenen übersteigt. So erlaubt die Verwendung des onirischen Modus es den Erzählerinnen und Erzählern, gerade die Problematik einer narrativen Unzugänglichkeit der traumatischen Erfahrung in den Erzählprozess selbst zu integrieren. Damit kommt dem Shoah-Traum in den untersuchten Beispielen keinerlei eskapistische oder rettende Funktion zu; eine Erkenntnis, die auch zahlreiche weitere Nachkriegsträume im Kontext der Shoah belegen (vgl. Kapitel IV und X). Die Traumerlebnisse artikulieren keineswegs die Sehnsucht nach einer anderen Welt. Ganz im Gegenteil: Anstatt eine Fluchtmöglichkeit zu eröffnen, versperren sie den Ausgang aus einem traumatischen Gefängnis, den eine intakte Vorstellungskraft womöglich hätte eröffnen können. Der eigentliche Alptraum besteht darin, dass es für die träumenden Figuren kein Erwachen aus dieser „expérience 93 Klein: An unseren Schläfen, S. 518–519. 94 Vgl. auch den Ausdruck „notre film d’épouvante“. Langfus: Bagages, S. 144. 95 Beispielsweise „Allora per la prima volta ci siamo accorti che la nostra lingua manca di parole per esprimere questa offesa, la demolizione di un uomo“ (Primo Levi: Se questo, S. 23), „Les mots pour moi n’ont pas de sens“ (Langfus: Bagages, S. 14), „Elle dit quelque chose dont le sens m’échappe“ (Langfus: Bagages, S. 15) oder „‚Ich sehe Dinge, die ich nicht verstehe.‘/‚Beschreib sie.‘/‚Ich weiß nicht, welche Wörter dazugehören.‘“ (Eich: Träume, S. 356).

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concentrationnaire“ gibt.96 Damit werden auch wir Leserinnen und Leser dazu gezwungen, anzuerkennen, dass eine Welt ohne die Realität der Konzentrationslager nicht mehr existiert. Für die Träumenden ist die Wirklichkeit in ihrer ‚Normalität‘ unbewohnbar geworden. Wenn es auch kaum möglich ist, diese Erfahrung logisch und kohärent zu vermitteln, so führt der Shoah-Traum mittels seiner literarischen Verfahren doch eben diese Unmöglichkeit eindrücklich vor Augen. In welchem Zusammenhang diese Überlegungen mit dem Problem der Geschichtsschreibung der Shoah stehen und sich für die Überlebenden in einer onirischen Form der Zeiterfahrung historischer Ereignisse niederschlagen, ist das Thema des folgenden Kapitels.

96 Ich verwende hier die französische Formulierung von Michael Pollak: L’expérience concentrationnaire, Paris: Métailié 2000, v. a. S. 12–13, weil dieser in seiner Studie seine Aufmerksamkeit vor allem der literarischen Form der erzählten Shoah-Erfahrung widmet.

VII. Traumzeit und Geschichtserfahrung: Anna Seghers und Lenka Reinerová

Traumerfahrung und Geschichtsschreibung Wie lassen sich geschichtliche Ereignisse in ihrer unmittelbaren Wirkung auf das Leben einzelner Individuen erzählen, ohne damit ihre historische Tragweite auf eine rein subjektive Dimension zu reduzieren? Sowohl in den Geschichtsals auch in den Literaturwissenschaften wird spätestens seit den Arbeiten Hayden Whites eine intensive Debatte darüber geführt, wie mit dem Problem umzugehen ist, dass Historie grundsätzlich nur rückwirkend, von ihrem Ende her, verstanden werden kann.1 Für ihre schlüssige Darstellung müssen die ausgewählten Fakten und Ereignisse chronologisch angeordnet und kausallogisch verknüpft werden, damit eine kohärente, auf ein bestimmtes Ziel oder Ende hin ausgerichtete Geschichte entsteht. Eine solche historiographische (Re-)Konstruktion entspricht nicht der subjektiven Geschichtswahrnehmung der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. In der Wucht unmittelbarer Erfahrung lässt sie sich zudem kaum an nachfolgende Generationen vermitteln. Sie kann also nur schwerlich zeigen, wie es sich – um eine Formulierung von Hayden White aufzunehmen  – „anfühlt, den Fakten der Geschichte ausgesetzt zu sein“.2 Der oder die Einzelne findet sich selbst in der Geschichte kaum wieder bzw. vermag 1

2

Die diesbezüglich einschlägigsten Positionen stammen von Hayden White. Sie werden pointiert zusammengefasst in Robert Doran (Hrsg.): The Fiction of Narrative. Essays on History, Literature, and Theory, 1957–2007, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2010 sowie in Kuisma Korhonen (Hrsg.): Tropes for the Past. Hayden White and the History/Literature Debate, Amsterdam: Rodopi 2006. Darüber hinaus wären zu nennen Ansgar Nünning: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. 2 Bde. Bd. I: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 1995, Lionel Gossman: Between History and Literature, Cambridge: Cambridge University Press 1990 und Stephanie Catani: Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen: Narr Francke Attempto 2016. So stellt White in seiner Auseinandersetzung mit Primo Levis Se questo è un uomo fest, dass die Kraft dieses Werkes weniger aus den Tatsachen der Zeugenschaft resultiere, sondern vielmehr aus der poetischen Inszenierung „of what it felt like to have had to endure such ‚facts‘“. Hayden White: „Figural Realism in Witness Literature“, in: Parallax 10/1 (2004), S. 113‒124, hier S. 123.

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in der historiographischen Darstellung kaum die eigene Geschichte zu erkennen.3 Denn das Widerfahrnis eines einschneidenden historischen Ereignisses geht zumeist mit dem Eindruck von Kontingenz, Gleichzeitigkeit, Unordnung und Unabgeschlossenheit einher. Diese Problematik fordert Schriftstellerinnen und Schriftsteller seit jeher zu ungewöhnlichen literarischen Strategien heraus. Im Falle der Shoah, welche nicht nur die Vernichtung unzähliger Menschenleben, sondern auch die systematische Auslöschung ihrer Spuren, Erinnerungen und Traditionen zur Folge hat, erfährt dieser Widerspruch eine besondere Zuspitzung: Er wird zur Aporie insofern, als die Ermordeten, Vernichteten, Vergessenen selbst nicht von der Geschichte und nicht von ihrer eigenen Auslöschung zeugen können, dass also andere für sie sprechen und an sie erinnern müssen.4 Wenn sie einen solchen Widerspruch auch vielleicht nicht auflösen können, so gelingt es zahlreichen fiktionalen Werken doch, ihn erzählend eindrücklich inszenieren.5 Und Anna Seghersʼ „Der Ausflug der toten Mädchen“ (1946) ist zweifellos ein originelles Beispiel für dieses literarische Anliegen. Der Traum bietet als ein besonderer Modus der Wirklichkeitserfahrung dem literarischen Erzählen weitreichende Spielräume, um dieses Darstellbarkeitsproblem auszuloten. Gerade mittels literarischer Traumdarstellungen lassen sich Individuelles und Kollektives, Körperlich-Emotionales, unmittelbar Gegenwärtiges und Historisches oder Überzeitliches, Eigenes und Fremdes, Tatsächlich-Faktisches wie Fiktional-Erfundenes komplex miteinander verschränken. Im Traum können sie gar bis zur Untrennbarkeit zusammenfallen, um auf diese Weise dem viel – und äußerst kontrovers – diskutierten Phänomen der ‚Unsagbarkeit‘ und seinen Aporien zu begegnen (vgl. Kapitel  V).6 In einem solchen Rahmen untersucht dieses Kapitel erzählte Träume, die genutzt werden, um die 3 4

5 6

Hans-Jürgen Goertz: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität, Stuttgart: Reclam 2001, v. a. S. 103‒118. Der Stand der Forschung lässt sich in seiner Komplexität hier nicht hinreichend wiedergeben. Als die meistdiskutierten Beiträge zu dieser Problematik können nach wie vor James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation, Bloomington/London: Indiana University Press 1988, Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven: Yale University Press 1991, v. a. Kapitel 2, und Hayden White: „Historical Emplotment and the Problem of Truth“, in: Saul Friedländer (Hrsg): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ‚Final Solution‘, Cambridge (MA): Harvard University Press 1992, S. 37–53 gelten. Einer der konsequentesten Ansätze ist sicherlich das philosophische Projekt von Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998. Vgl. hierzu besonders einschlägig Sara R. Horowitz: Voicing the Void. Muteness and Memory in Holocaust Fiction, New York: New York University Press 1997 und Lawrence Langer: The Holocaust and the Literary Imagination, New Haven: Yale University Press 1975. Besonders prägnante Beispiele hierfür wären etwa die autobiographischen Texte von Charlotte Delbo, Primo Levi und Jorge Semprún oder das fiktionale Erzählen von Anna Langfus und W. G. Sebald.

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Erfahrung von Geschichtlichkeit in ihrer historischen Tragweite, aber auch als subjektives Wahrnehmungsphänomen zu inszenieren. Am Beispiel der Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ von Anna Seghers möchte ich nachvollziehen, wie die historischen Ereignisse der beiden Weltkriege und der Shoah in die zeitliche Wahrnehmung einer Geflüchteten einbrechen; und zwar in einer Weise, welche die Logik der Geschichte als chronologische Abfolge von Ereignissen nachhaltig erschüttert. Wie genau dieser Traum für die Vermittlung von Geschichtserfahrung genutzt wird, soll eine Analyse der Erzählung zeigen, die sich auf narratologische, motivische und stilistisch-rhetorische Besonderheiten der Zeitdarstellung fokussiert – auch wenn sich zahlreiche weitere Aspekte für die Interpretation anbieten.7 Abschließend sollen die Ergebnisse zumindest schlaglichtartig in Bezug zu weiteren Traumerzählungen gesetzt werden, deren Zeitkonstruktionen auf eine ähnlich paradoxe Weise funktionieren. Besonders eindrücklich ist die Strategie, im Traum die individuelle mit einer historischen Zeiterfahrung zu verknüpfen, in zwei Erzählungen von Lenka Reinerová nachvollziehbar. Im Vergleich tritt sowohl das Originelle der Seghers’schen Erzählung hervor als auch das Repräsentative der Verwendung einer fingierten Traumerzählung für die Vermittlung historischer Erfahrung.

Traumzeit in Anna Seghers’ „Der Ausflug der toten Mädchen“ [1946] Anna Seghers, die als Jüdin und Kommunistin vor den Nationalsozialisten über Frankreich nach Mexiko flieht, verfasst die Erzählung bereits zwischen 1943 und 1944 im mexikanischen Exil.8 Die zahlreichen autobiographischen Elemente 7

8

Etwa die transkulturelle Rezeptionsgeschichte der Erzählung, welche besonders von Hélène Roussel und Klaus Schulte untersucht wird, die Ambivalenz zwischen jüdischer und christlicher Motivik, die einen wichtigen Fokus in Frank Schlossbauers und vor allem Anthony Grenvilles Studien darstellt, oder die autobiographische Dimension des Textes. Vgl. Hélène Roussel/Klaus Schulte: „Exil, Textverfahren und Übersetzungsstrategie. ‚Der Ausflug der toten Mädchen‘ von Anna Seghers im Prisma verschiedener Übertragungen, vornehmlich ins Französische“, in: Claus-Dieter Krohn u.  a. (Hrsg.): Exilforschung. Bd.  25: Übersetzung als transkultureller Prozess, München: text + kritik 2007, S.  90–111, hier S.  90‒93, sowie Frank Schlossbauer: „Schreiben als Erinnern. Sehen als Schau. Zu Anna Seghersʼ Der Ausflug der toten Mädchen zwischen Requiem und Utopie“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 578–597, hier S. 591, Anthony Grenville: „Anna Seghers Confronts the Holocaust. The Jewish Dimension to Der Ausflug der toten Mädchen“, in: Ian Wallace (Hrsg.): Anna Seghers in Perspective, Atlanta: Rodopi 1998, S. 117–134. Ich stütze mich insbesondere auf die Studie von Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, S. 578.

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sind ebenso offensichtlich wie (im Gesamtkontext des Seghers’schen Werkes) ungewöhnlich.9 Der Text, der sich mit guten Gründen als Novelle charakterisieren lässt,10 kontrastiert auf das Schärfste gegensätzliche Welten und verschiedene Zeiten, die über ein Traumerlebnis miteinander verbunden werden:11 die gegenwärtige desolate Exilsituation, aus der das Ich die Kriegsgräuel in der fernen Heimat wahrnimmt, sowie die glücklichen Kindheitserinnerungen an einen sonnig-unbeschwerten Schulausflug vor dem Krieg. Den Rahmen der Geschichte bildet ein Spaziergang der Ich-Erzählerin. Diese ist von einer langen Krankheit noch kaum genesen und wandert durch eine unheimliche, bereits auf dieser extradiegetischen Ebene als traumhaft markierte Wüstenlandschaft Mexikos.12 Das Ich lässt sich erschöpft in einer Pulqueria nieder. Dort erlebt es – als Tag- oder Schlaftraum, jedenfalls in „flimmrigem Dunst“, der „alles vernebelte, so dass die Nähe entwich und die Ferne sich klärte wie eine Fata Morgana“ und wie „in die Innenseiten der Augenlider geritzt“13 –, die Erinnerung an einen Schulausflug kurz vor dem Ersten Weltkrieg; und zwar in all der damals erlebten sinnlich-körperlichen Unmittelbarkeit. Der „schwere Druck von Trübsinn, der auf jedem Atemzug gelegen hatte, [verflüchtigt sich]“,14 9

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Vgl. v. a. Kurt Batt: Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke, Frankfurt am Main: Röderberg 1980. Den detailliertesten und überzeugendsten Vergleich zwischen den Zeitangaben der Erzählung und den biographischen Daten der Autorin unternimmt Hans Mayer: Ansichten. Zur Literatur der Zeit, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1962, S. 85–92. Birgit Maier-Katkin: „Debris and Remembrance. Anna Seghers’s ‚Ausflug‘ and Walter Benjamin’s ‚Engel der Geschichte‘, in: The German Quarterly 79/1 (2006), S.  90–108, hier S. 94–97, und Robert Cohen: „Die befohlene Aufgabe machen. Anna Seghers’ Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen“, in: Monatshefte für Deutschen Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur 79/2 (1987), S. 186–198, v. a. S. 192‒195. Zum Dingsymbol als Charakteristikum der Novelle vgl. Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, S. 590. In der Forschung ist die Rede von „dream“ und „dreamlike recollections and memories“ (Maier-Katkin: Debris and Remembrance, S. 91 u. ö.), von „mental travel“, „dreamlike state“ und „imagined journeys“ (Birgit Maier-Katkin: „‚Kahl und wild wie ein Mondgebirge‘. Exile and Mind Travel in Anna Seghers’ The Excursion of the Dead Girls“, in: Johannes F. Evelein (Hrsg.): Exiles Traveling. Exploring Displacement, Crossing Boundaries in German Exile Arts and Writings 1933–1945, Amsterdam: Rodopi 2009, S. 297–311, hier S. 298), „Vision“ (Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, S. 581) sowie von „Tagtraum“, „Halluzination“ bzw. „surrealistischer Traumerfahrung“ (Frithjof Trapp: „Anna Seghersʼ Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen. Eine surrealistische Komposition aus Traum und Wirklichkeit“, in: Exil 15 (1995), S. 65–74 hier S. 65 und 67). Vgl. u. a. „Mir kam es plötzlich genauso phantastisch wie ihm vor, dass ich von Europa nach Mexiko verschlagen war“, „auch die Bäume schienen eher zu brennen als zu glühen“, „obwohl die Augen vor Müdigkeit und Hitze brannten, konnte ich einen Teil des Weges verfolgen“, „Ich stand auf, da mir meine Müdigkeit schon zuwider war, wodurch der Dunst vor meinen Augen ein wenig verrauchte“. Ich zitiere hier und im gesamten Kapitel nach der Ausgabe Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen und andere Erzählungen, Berlin: Aufbau 2017, S. 7–38. Für das obige Zitat S. 7. Seghers: Ausflug, S. 8. Seghers: Ausflug, S. 14.

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vor dem inneren Auge erscheint die rheinische, heitere, in milde Sommersonne getauchte Landschaft der Kindheit; also die Heimat der Erzählerin im emphatischsten Sinne. Der Übergang von der gegenwärtigen Wachwirklichkeit in eine visionsartig sich eröffnende Traumwelt und wieder zurück in die öde Fremde Mexikos gestaltet sich in verschiedenen Etappen, die für Traumerzählungen durchaus als konventionell gelten können. Diese sind ausgesprochen symmetrisch angeordnet: Zu Beginn erscheint dem von Müdigkeit übermannten Ich aus der Ferne eine weiße Mauer. Es bewegt sich auf einem hellen Weg an dieser Fläche entlang – einer Wand, die gewissermaßen zur Projektionsfläche für die eigenen inneren Bilder wird.15 Als die Erzählerin den Eindruck hat, durch ein Tor in einen tiefen Abgrund hinabzusteigen, nimmt sie „inwendig“ ein knarrendes Geräusch wahr.16 Dieses schwappt offensichtlich bereits aus der Traumwelt in das dahindämmernde Bewusstsein der Erzählerin herüber und entpuppt sich als das Knarzen einer Schaukel oder Wippe, auf der sich die besten Schulfreundinnen niedergelassen haben. Sie erscheint zunächst hinter einer dicken Wolke verschwommen, welche sich aber sogleich teilt. Der erschallende Ruf des Namens „Netty“ verbindet zu Beginn noch Wach- und Traumwelt miteinander:17 Die Erzählerin wird abrupt in ihre Schulzeit zurückversetzt, denkt aber zugleich darüber nach, wie lange sie schon niemand mehr bei diesem Namen gerufen hat, „von dem [sie] in Selbsttäuschung glaubte, er könne [sie] wieder gesund machen, jung, lustig“.18 Der unvermittelte Griff an die eigenen Zöpfe und die Erkenntnis, dass man sie ihr nun doch nicht abgeschnitten hatte,19 liest sich wie ein literarisch inszenierter reality check luziden Träumens, welcher der Träumerin ihr Eintauchen in die erträumte Erinnerung beglaubigt.

15 Eine interessante Verbindung zwischen dem mexikanischen Entstehungskontext der Erzählung und dem Motiv der Mauer als Projektionsfläche stellt Achim Buschendorf her, der auf die Darstellungstechnik der mexikanischen Muralisten verweist, welche zum Ziel hat, die Geschichte synoptisch abzubilden. Er beruft sich hierfür auf einen Aufsatz von Anna Seghers über die muralistische Kunst (Die gemalte Zeit. Mexikanische Fresken) von 1947. Achim Buschendorf: „Epische Architektur und Geschichtlichkeit in Anna Seghersʼ Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen“, in: Germanistisches Jahrbuch DDR-UVR 6 (1987), S. 111‒125, hier S. 113. 16 Seghers: Ausflug, S. 9. Mit dem Durchqueren des Tors, das eine ausgeblichene Inschrift ziert und vor dem ein Hund, „wie ein Kadaver, völlig reglos, mit Staub bedeckt“ schläft (Seghers: Ausflug, S.  9), entsteht eine deutliche Referenz auf den Eintritt in die Unterwelt, mit der Dante Alighieris, in der Forschung ebenfalls vielfach als Traumerlebnis verstandene Commedia (verfasst 1307–1321, Erstdruck 1472) beginnt. Zur Katabasis, dem Eintritt in den Hades und der insgesamt ausgeprägt mythologischen Dimension der Erzählung vgl. Trapp: Anna Seghersʼ Erzählung, S. 67‒70. 17 Da Netty Reiling der Mädchenname von Anna Seghers ist, bildet diese Textstelle meist den Ausgangspunkt für autobiographische Interpretationen der Erzählung. 18 Seghers: Ausflug, S. 10. 19 Seghers: Ausflug, S. 10.

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Auch der Übergang zurück in die Wachwirklichkeit am Schluss der Erzählung wird durch eine sinnliche Überlappung beider Welten inszeniert, die haptischtaktile und akustische Wahrnehmungen miteinander verbindet: Dem vom Ausflug heimkehrenden Kind im Traum gelingt es nicht, die Treppe emporzusteigen, an deren Ende die Mutter wartet. Während es vergeblich versucht, die ferne Gestalt zu erreichen, nimmt es die klopfenden Geräusche von Händen auf Teig wahr.20 Diesen hält die Erzählerin unwillkürlich (und aller Zubereitungslogik zum Trotz) für Pfannkuchenteig, bevor sie gewahr wird, dass in der mexikanischen Pulqueria, in der sie nun erwacht, Tortillas zubereitet werden. Doch was sich auf der Ebene der geträumten Erinnerung an den Schulausflug abspielt, hat ebenfalls einen doppelten Boden. Der als Oxymoron konstruierte Titel der Erzählung weist von Anfang an darauf hin: Innerhalb der Traumerzählung, die den erinnerten Ausflug wiedergibt, stellt sich heraus, dass kaum eines der Schulmädchen und der Jungen einer weiteren Schulklasse die Kriege überlebt. In das Wiedererleben der glücklich-unbeschwerten Klassenfahrt brechen abrupt die Ereignisse des Ersten und des Zweiten Weltkriegs ein. Aus der zeitlichen Perspektive des Ausflugs selbst können diese allerdings noch gar nicht stattgefunden haben. Sie werden sich erst in der Zukunft abspielen, nämlich in einem Zeitraum von 32  Jahren nach dem evozierten Kindheitserlebnis. Und dennoch ist bereits auf dieser Erzählebene von Soldaten und Geschossen des Ersten Weltkriegs die Rede, von bombenzerfetzten Menschen, von der Wehrmacht, von antisemitischer Hetze, von Verhaftungen, SS-Führern, Menschentransporten im verplombten Viehwagon nach Osteuropa, vom Tod im KZ. Entscheidend ist nun die Art und Weise, wie diese unterschiedlichen Zeitebenen kombiniert und montiert werden. Soll eine solche zeitliche Überlappung und gegenseitige Durchdringung von unterschiedlichen Epochen und Ereignissen einigermaßen authentisch wirken und zugleich intersubjektiv nachvollziehbar sein, so bietet sich ihre narrative Gestaltung als Traum in besonderem Maße an. Die Chronologie der Historie in einzelnen Etappen vom Ersten Weltkrieg bis zur Shoah wird nämlich keineswegs so wohlgeordnet wiedergegeben, wie sie oben dargestellt wurde. Beispielsweise werden die Ereignisse nicht etwa an die Erzählung des Schulausflugs angefügt, um damit die Linearität der Geschichte ungebrochen fortzuführen. Vielmehr durchdringen sich mehrere Zeitebenen von Beginn an auf radikale Weise. Dies illustriert bereits der erste Eindruck des wiedergegebenen Traums: Auf jedem Ende der Schaukel ritt ein Mädchen, meine zwei besten Schulfreundinnen. Leni stemmte sich kräftig mit ihren großen Füßen ab, die in eckigen Knopfschuhen steckten. Mir fiel ein, daß sie immer die Schuhe eines älteren Bruders erbte. Der Bruder war freilich schon im Herbst 1914 im ersten Weltkrieg gefallen. 20 Seghers: Ausflug, S. 37.

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Ich wunderte mich zugleich, wieso man Lenis Gesicht gar keine Spur von den grimmigen Vorfällen anmerkte, die ihr Leben verdorben hatten. Ihr Gesicht war so glatt und blank wie ein frischer Apfel, und nicht der geringste Rest war darin, nicht die geringste Narbe von den Schlägen, die ihr die Gestapo bei der Verhaftung versetzt hatte, als sie sich weigerte, über ihren Mann auszusagen.21

Die einzelnen Ereignisse aus Lenis Leben lassen sich historisch korrekt, konkret und unmissverständlich verorten; auch in der ‚richtigen‘ Reihenfolge werden sie präsentiert: Das Kind schaukelt vor dem Krieg, der Bruder fällt als junger Mann im Ersten Weltkrieg, daraufhin folgt die Misshandlung durch die Gestapo einer während des Zweiten Weltkriegs verheirateten Frau. Worin besteht dann das Irritierende dieser Szene? Es liegt nicht in der inhaltlich-historiographischen, sondern in der grammatikalischen Konstruktion der Zeit und wird verstärkt durch bestimmte zeitspezifische Signalwörter, mit denen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Traumerleben als Gleichzeitigkeit inszeniert werden. Die Ereignisse hängen nämlich, wie Robert Cohen feststellt, nicht mehr „logisch zusammen, sondern nur noch syntaktisch“.22 Die Begriffe „Spur“, „verdorben“, „Narbe“ oder „Rest“ weisen auf eine Nachträglichkeit hin: Es sollte doch im blühenden Gesicht des Mädchens noch etwas erkennbar sein, das zuvor stattgefunden hat, nicht hingegen etwas, das sich erst 30 Jahre später zutragen wird. Auch die Tempusverwendung zwingt zu einer umgekehrten Perspektive: Das Plusquamperfekt bezieht sich auf eine Zeit vor dem Präteritum („ritt“, „steckte“, „war“). Der grammatikalischen Konstruktion nach müsste „war schon vor dem Ersten Weltkrieg gefallen“, „hatte ihr die Gestapo versetzt“, „hatte ihr Leben verdorben“ zeitlich vor dem Reiten auf der Schaukel liegen. Das tut es aber nur, wenn man die Gegenwart nicht im Traumerleben selbst ansetzt, sondern im mexikanischen Exil; das heißt, wenn man sodann von dort direkt in die Erinnerung des Kinderausflugs eintaucht und die Kriegsereignisse erst als danach ins Bewusstsein gelangende, gewissermaßen als tief darunter liegende Schicht der Erinnerung betrachtet, die alles andere prägt oder gar erst hervorbringt.23 Die Kindheit lässt sich also gar nicht anders wahrnehmen, als durch die brutalen Narben der Geschichte hindurch. Sie sind hier gewissermaßen als Abwesende präsent und lassen damit ein glattes, frisches Mädchengesicht umso verwunderlicher – und umso verwundbarer – erscheinen. Gleichwohl ist die Wiedergabe 21 Seghers: Ausflug, S. 10f. 22 Cohen: Die befohlene Aufgabe machen, S. 191 und S. 195. 23 Eine genauere Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Nachträglichkeit, traumatischer Erfahrung und Traumerlebnis böte sich besonders in Auseinandersetzung mit dem Freud’schen Konzept der Nachträglichkeit an, das dieser im Zuge seiner Hysterie-Studien entwickelt hat. Heike A. Doane spricht in diesem Kontext von einem „Zustand der gleichzeitigen Erfahrungsweise“. Heike A. Doane: „Die wiedergewonnene Identität. Zur Funktion der Erinnerung in Anna Seghersʼ Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 54 (2003), S. 287–300, hier S. 294.

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der Szene nicht unrealistisch: Deutlich ist das Bewusstsein der Träumenden zu erkennen, die „erstaunt“ ist, der „etwas einfällt“. Hier zeigt sich die Perspektive der erzählenden Instanz, die träumt, während am anderen Ende der Welt ein Krieg tobt, den sie selbst im Traum nicht ausblenden oder ungeschehen machen kann. Die Träumerin nimmt also die unüberbrückbare historische Kluft, den nicht mehr zu schließenden Riss wahr, welcher zwischen dem Zeitpunkt des Träumens und dem Erlebnis aus der Kindheit liegt. An dieser Stelle lässt sich noch annehmen, dass die Träumerin im Exil in irgendeiner Weise Kenntnis von Ereignissen in Lenis Leben erlangt hat, die damals, in der Schulzeit, erst noch bevorstanden. Der Schluss dieser Szene zeigt aber, dass die erzählende Instanz im Traum auch Dinge sieht, von denen sie im Exil eigentlich nichts wissen kann: etwa, dass Lenis Stirnfalte im Frauenkonzentrationslager zum ständigen Merkmal wurde und dass sie „selbst im Tod ihr Apfelgesicht mit der eingekerbten Stirn behalten hatte“.24 Auch dass eine andere Freundin sich später an denselben Ausflug erinnern sollte, als „Nora, die Leiterin der Nationalsozialistischen Frauenschaft geworden war, sie dort [im Lager] als Volksgenossin und ehemalige Schulkameradin begrüßte“,25 kann die Erzählerin nicht wissen – es sei denn, es handelte sich um ein intuitiv im Traum gewusstes Wissen, nämlich das Wissen um die Erinnerung, die eine andere hat. Inszeniert wird hier also ein Wissen, das sich nicht realistisch-kausallogisch, sondern nur mit der Logik des Traums erklären lässt.26 Im Verlauf der Erzählung rücken die reflektierenden Äußerungen, die auf das Bewusstsein des träumenden Ich schließen lassen, zunehmend in den Hintergrund. Stattdessen lässt sich eine gesteigerte Unmittelbarkeit beobachten. Diese ist vor allem auf der stilistisch-rhetorischen Ebene zu erkennen: Die Kriegsereignisse schieben sich auch syntaktisch brutal in das Kindheitserlebnis hinein, ja sie scheinen die Erinnerung an die Idylle regelrecht zu zersprengen. So heißt es etwa: „Jetzt kam Otto Fresenius, dem ein Geschoß im ersten Weltkrieg den Bauch zerreißen sollte, von seiner Liebe angespornt, als erster über den Landungssteg.“27 Besonders deutlich wird dieses Erzählverfahren, wenn das Leben der Schulfreundin Else wie im Zeitraffer vor dem inneren Auge der Träumenden abgerollt wird: 24 Seghers: Ausflug, S. 11. 25 Seghers: Ausflug, S. 15. 26 „Das Wissen der Erzählerin geht in wachsendem Maße über das hinaus, was sie von irgendjemand erfahren haben könnte.“ Die Erzählerin kann nicht wissen, „was mit Ida dreißig Jahre später geschehen würde. Die erwachsene Erzählerin aber kann davon nicht im Futurum sprechen. Und beide, die erwachsene und die jugendliche Erzählerin, können nicht wissen, was Ida im Moment des Todes gedacht hat. Das kann nur die Schriftstellerin wissen, die frei und schöpferisch über ihre Figuren verfügt.“ Cohen: Die befohlene Aufgabe machen, S. 189. 27 Seghers: Ausflug, S. 21.

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[S]ie konnte mit ihren glitzernden Kinderaugen Neebs Gedanken viel besser entziffern als mit erwachsenen, durch Erfahrung getrübten Augen  […]. Denn ihr künftiger Mann, der Schreiner Ebi, ging erst noch in den Krieg. […] Der Schreiner pflegte später zu sagen, für ihn laufe sein Handwerk gleich, ob in Darmstadt, der Provinzialhauptstadt, großherzogliche oder sozialdemokratische Ministerialräte säßen. Auch Hitlers Macht und den Ausbruch des neuen Krieges sah er wie eine Art böses Naturereignis an, wie ein Gewitter oder einen Schneesturm. Er war damals schon ziemlich gealtert. Auch in Elses buschigen Zöpfen gab es manche graue Strähnen. Seine Meinung zu ändern fand er wohl auch keine Zeit, als bei dem englischen Fliegerangriff auf Mainz innerhalb fünf Minuten seine Frau Else, er selbst, seine Kinder und seine Gesellen das Leben verließen, mit seinem Haus und seiner Werkstatt in Staub und Fetzen verwandelt. Während die Else, fest und rund wie ein Knödelchen, durch nichts anderes zu zersplittern als durch eine Bombe, in ihre Mädchenreihe hineinsprang, nahm Marianne ihren Platz in der äußersten Ecke ein, wo Otto noch immer neben ihr stehen konnte, ihre Hand in seiner.28

Interessant ist nun, dass das Wissen der Träumerin offensichtlich nicht nur bis an den Moment des Träumens heranreicht, sondern ein kleines Stück weit darüber hinaus in die Zukunft ragt. Hier ein Beispiel: Runde Kulleraugen der Buben und der schräge, behagliche Blick des Lehrers ruhen auf dem niedlichen Lockenkopf [Idas], um den ein Samtband gedreht war. Einmal, im russischen Winter 1943, wenn ihr Spital unerwartet unter dem Bombardement liegt, wird sie genauso klar wie ich jetzt an das Samtbändchen in ihrem Haar denken und an das weiße, sonnige Wirtshaus und den Garten am Rhein […].29

Das Tempus ist das Futur – und dieses verweist auf eine doppelte Zukünftigkeit. Diese Zukunft ist noch weit entfernt vom ‚jetzigen‘ Kinderausflug, aber offensichtlich fällt sie auch nicht mit dem Jetzt des Träumens im Exil zusammen. Denn an das Samtbändchen zurückdenken tun beide: die Träumerin „jetzt“ im Traum, und die Freundin wird es im Bombenhagel tun. Für die Erzählerin ist es ein rückwirkendes, erinnerndes Gedenken. Die Formulierung („sie wird einmal, so wie ich jetzt“) legt aber nahe, dass die Todgeweihte selbst sich erst später erinnern wird. Die verwendeten „Zeitstufen sind damit ihres temporalen Charakters völlig entkleidet“, sie dienen, wie Werner Zimmermann es formuliert, nicht „der Orientierung, sondern sind Ausdruck einer bestimmten Sehweise“.30

28 Seghers: Ausflug, S. 24–25. 29 Seghers: Ausflug, S. 27. 30 Werner Zimmermann: Deutsche Prosadichtungen unseres Jahrhunderts. Interpretationen für Lehrende und Lernende, Bd. 2, Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann 1970, S. 329‒343, hier S. 336.

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Noch irritierender ist die Zeitkonstruktion am Schluss der Traumerzählung. Denn hier imaginiert sich die Träumende nicht nur als diejenige, die als Kind von ihrem Ausflug nach Hause kommt und, auf den Treppenstufen festgefroren, zur unerreichbaren Mutter hinaufsieht – Treppenstufen, die, wie M. C. Eschers Zeichnungen oder die im 18. Jahrhundert entstandenen Carceri d’invenzione von Giovanni Battista Piranesi, traumhaft verschachtelt anmuten. Das erzählende Ich ist zugleich auch die unendlich müde, erschöpfte Exilantin, deren einziges Ziel die „Heimfahrt“ ist31, diejenige, die „nicht nach dem Ausflug, sondern nach jahrelanger Reise [heimkehrt]“, im Gefühl, „als ob etwas Böses bevorstand, eine heillose Nachricht oder ein Unheil, das ich auf dem sonnigen Ausflug bloß vergessen hatte“.32 Unterschiedlichste biographische Zeiträume sind hier in einer einzigen Traumsituation verschmolzen: Das Kind auf der Treppe, welches das drohende Unheil erst ahnt, die erwachsene Frau, die doch erst nach dem Traum im Exil nach Deutschland zurückreist, und die Träumende, die, liest man den Text autobiographisch,33 bereits weiß, dass die Mutter zwischenzeitlich im KZ getötet wurde, dass die ersehnte Umarmung daher nie wird stattfinden können. Es ließen sich zahlreiche weitere Varianten der sprachlich-rhetorischen wie narrativen Verflechtung unterschiedlicher Zeitebenen herausarbeiten. Sehr häufig wird diese Gleichzeitigkeit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft über Vergleiche, etwa aus dem Bereich der Natur34 oder mit Figuren aus Sagen und Märchen,35 erreicht. Durch dieses „Übermaß an Stilisierung“ des Textes entsteht eine verfremdende Wirkung, mit der das Idyllisch-Utopische der verlorengegangenen Welt als märchenhaft-literarische Konstruktion ausgestellt und auf diese Weise, wie Frank Schlossbauer überzeugend festhält, bereits im Erzählen selbst entwirklicht wird.36 Ein weiteres auffälliges Gestaltungsverfahren ist die gehäufte Verwendung und Verflechtung von bestimmten Motiven, vor allem dem der Haare. Die temporären Verwirrungen lassen sich gerade anhand dieses Motivs in besonders eindrücklicher Weise nachvollziehen, weil hier die symbolische wie materielle Verbindung zum Nationalsozialismus und zur Shoah ausgesprochen naheliegt:37 Fast jedes der Mädchen wird anhand der Eigenheiten 31 Seghers: Ausflug, S. 8. 32 Seghers: Ausflug, S. 31. 33 Wie etwa, neben vielen anderen, Christa Wolf dies tut, allerdings ohne die literarische Distanz zwischen Erzählstimme und Autorin zu nivellieren. Vgl. Christa Wolf: „Fortgesetzter Versuch [1975]“, in: Christa Wolf: Lesen und Schreiben. Neue Sammlung. Essays, Aufsätze, Reden, Darmstadt: Luchterhand 1980, S. 151–157. 34 Vgl. Doane: Die wiedergewonnene Identität, S. 295. 35 Vgl. Trapp: Anna Seghersʼ Erzählung, S. 66–67. 36 Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, S. 587–588 (das Zitat findet sich auf S. 587). 37 Im erinnerungskulturellen Kontext der Shoah drängen sich, neben dem Motiv der Haare in Mahnmalen und Filmen, besonders Paul Celans „Todesfuge“ [1952] (in: Paul Celan: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 40–41) sowie die äußerst komplexe Motivverbindung von Haar, Asche, Rauch und Schnee

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seiner Haare eingeführt, deren Beschaffenheit oder seiner Frisur. In der Erzählung ist von blonden Zöpfen die Rede, die etwa zu Schnecken gedreht hochgesteckt werden oder lustig umherspringen. Damit wird, auf den ersten Blick jedenfalls, eine typische Mädchenklasse des Jahrhundertbeginns evoziert. Doch bei genauerem Hinsehen zeigen sich bereits an den Kindern die Spuren der Gewalt und der späteren Vernichtung. Der erschrockene Griff der Träumerin an die eigenen Haare zu Beginn verweist unmissverständlich auf die später abgeschnittenen Zöpfe.38 Selbst sich unschuldig kringelnde Kinderlöckchen wirken „ein wenig grau, wie mit Asche bestreut“.39 Die Mutter im Traum hat erstaunlich dunkle Haare, jedenfalls verglichen mit dem eigenen Kinderhaar, „das schon bald grau wurde, während durch ihres noch keine sichtbaren grauen Strähnen liefen“.40 Das Haar der Lehrerin, die später als „Judensau“ von der Parkbank vertrieben wird  – dies versucht sich die Träumende innerhalb des Traums ganz bewusst zu merken –, sei „keineswegs von jeher schneeweiß gewesen“, wie sie es in Erinnerung hatte.41 Und Sophies Haar, jetzt noch „so schwarz wie Ebenholz“, „sollte wie das Haar der Lehrerin über und über weiß sein, als sie zusammen im vollgepferchten Wagen von den Nazis nach Polen deportiert wurden“;42 jenem verplombten Wagon, in den die Träumerin offensichtlich hineinblicken kann, wenn sie wissend erklärt, dass Sophie dort „völlig verhutzelt und gealtert in den Armen der Lehrerin überraschend abstarb“.43 Fassen wir abschließend einige besonders onirisch anmutende Elemente des erzählten Traumerlebnisses zusammen: Im Traum drängen sich bestimmte Motive in aller Symbolkraft in den Vordergrund. Erzählt wird von intensiven sinnlich-körperlichen Wahrnehmungen und einem alptraumhaften Gefühl von Druck, Last oder Schwere bzw. einer traumtypischen Lähmung der Glieder, die jegliche Fortbewegung verhindert.44 Die räumliche Orientierung verflüchtigt sich, die Träumerin besitzt ein intuitives Wissen von bevorstehendem Unheil,

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in den Texten von Jorge Semprún auf (v. a. Jorge Semprún: L’écriture et la vie, Paris: Gallimard 1994). Zweifellos ein intertextueller Verweis auf die Figur der Dido aus der Vergilʼschen Aeneis, welche so lange nicht wirklich tot ist, wie ihr die Haarlocke noch nicht abgeschnitten wurde. Vgl. auch Trapp: Anna Seghersʼ Erzählung, S. 69. Seghers: Ausflug, S. 17. Seghers: Ausflug, S. 36. Seghers: Ausflug, S. 16. Seghers: Ausflug, S. 28. Seghers: Ausflug, S. 28. Vgl. „Geruch“, „Geschwank“ (Seghers: Ausflug, S.  28), „Gesumm“ (S.  14), „Knarren“ (S.  9), „Klang“ (S. 10), „Klatschen“ und „Schreien“ (S. 37) oder folgende Passage: „Je mehr und je länger ich um mich sah, desto freier konnte ich atmen, desto rascher füllte sich mein Herz mit Heiterkeit. Denn fast unmerklich verflüchtigte sich der schwere Druck von Trübsinn, der auf jedem Atemzug gelegen hatte. Bei dem bloßen Anblick des weichen, hügeligen Landes gedieh die Lebensfreude und Heiterkeit statt der Schwermut aus dem Blut selbst, wie ein bestimmtes Korn aus einer bestimmten Luft und Erde“ (Seghers: Ausflug, S. 14).

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von erst später eintretenden Ereignissen. Durchgängig präsent ist die Erfahrung von Kontingenz und die damit einhergehende Auflösung kohärenter Erzählstrukturen. All diese Elemente stehen in Anna Seghersʼ Erzählung in unmittelbarem Zusammenhang mit einem Zeiterleben, das eine nachhaltige Erschütterung erfährt. Diese Erschütterung wird auf vier verschiedenen Ebenen literarisch inszeniert: der narrativen Konstruktion von Ordnung und Dauer, der grammatikalischen Konstruktion des Tempus, der historiographischen Konstruktion von Geschichte und der subjektiven Wahrnehmung von historischen Ereignissen. Indem die „Erinnerungsfähigkeit zum visionären Erlebnis stilisiert [wird]“, konstatiert Frank Schlossbauer, „schafft Anna Seghers einen literarischen Fiktionsraum, in dem die Eindimensionalität der Realzeit aufgehoben und durch eine polyphone Zeitstruktur ersetzt ist“.45 Die Vergangenheit, welche hier so unmittelbar gegenwärtig erscheint, ist also nur aus der rückwirkenden Perspektive der politischen und individuellen Katastrophe wahrnehmbar. Diese gräbt sich von Anfang an unauslöschlich in die Gesichter der Kinder ein – und sei es nur, indem ihre Unberührtheit einzig auf der Folie der späteren Zerstörung als solche wahrgenommen werden kann.46 Zugleich, und ohne zwangsläufig im Widerspruch dazu zu stehen, führt das Traumerlebnis vor Augen, dass der Eindruck des ursprünglich Ungetrübten etwas Unauslöschliches an sich hat; insofern nämlich, als er auch das spätere Erleben nachhaltig prägt, ja geradezu relativiert: Verglichen mit der Klarheit der Erinnerung aus der Kindheit und den damit verbundenen, „wirklichkeitstreu[en]“47 sinnlichen Eindrücken, kommt der Erzählerin nämlich ihre spätere Odyssee, die Flucht vor den Nazis „über unendliche Meere von einem Kontinent zum anderen“, wie ein Kindertraum vor, der allmählich verblasst und unwirklich wird.48 Ein solches erinnerndes Festhalten des unwiederbringlich Verlorenen, gewissermaßen das träumende Wieder-Auferstehen-Lassen der beschädigten Vergangenheit, ist, dies zeigt sich erst ganz am Schluss des Textes, auch das zentrale Thema der gesamten Erzählung. Wie die Konstruktion des Traumerlebens eine zirkuläre Struktur besitzt, so schließt auch das Ende der Erzählung wieder an den Anfang an  – und zwar in einer metareferenziellen Schleife: Die geliebte Lehrerin hatte der Erzählerin während des Ausflugs aufgetragen, einen Schul-

45 Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, S. 581. 46 Dies zeigen übrigens auch ironische Färbungen, mit denen explizit ausgestellt wird, dass die Wahrnehmung der eigenen Vergangenheit geschönt, euphemisiert ist (etwa Seghers: Ausflug, S. 20). Werner Zimmermann spricht in diesem Zusammenhang von einem „ironischenverklärenden Rückblick auf ein entschwundenes Märchenland“. Zimmermann: Deutsche Prosadichtungen, S. 339. 47 Seghers: Ausflug, S. 28. 48 Seghers: Ausflug, S. 28.

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aufsatz über dieses Erlebnis zu verfassen.49 Das Aufwachen aus dem Traum fällt in der Erzählung mit dem Entschluss der Träumerin zusammen, diese Aufgabe nun endlich zu erledigen.50 Damit wird das bereits geschilderte Erlebnis im Traum gleichzeitig zur erst noch zu erfüllenden Erinnerungspflicht. Und da die Lehrerin später als Jüdin ermordet wird, ist hiermit unweigerlich auch der gesamte Kontext jüdischer Erinnerungstradition, vor allem das Kaddisch, aufgerufen.51 Die „befohlene Aufgabe“52 erscheint als „Antwort auf die omnipräsenten Schreckbilder der Vernichtung und des Todes“, die „schreibend vollzogene Erinnerungsarbeit wird im Exil zur gesellschaftlichen Verpflichtung“.53 In ihrer verspäteten, aufgeschobenen Verschriftlichung ist die Erinnerung bewahrt; aber sie ist eben nicht mehr als solche, in ihrer in kindlicher Unschuld erlebten, unmittelbaren Wirklichkeit lesbar, sondern immer schon vermittelt, auf der Folie des späteren Verlusts und der uneinholbaren Zerstörung.

Traumzeit bei Lenka Reinerová Betrachtet man nun literarische Traumerzählungen über das Trauma politischer Gewalterfahrung im Kontext der Shoah aus einer größeren Distanz, so fordert Anna Seghersʼ Novelle zum intertextuellen Vergleich heraus. Ohne einen solchen hier umfassend realisieren zu können, seien doch einige Erzähltexte, 49 Sonja Hilzinger verdanke ich den Hinweis, dass die jüdische Lehrerin Anna Seghersʼ (bzw. der damaligen Schülerin Netty Reiling) tatsächlich Johanna Sichel hieß und von den Nationalsozialisten ins KZ deportiert wurde. Insofern verschmelzen die im Text thematisierte Erinnerungspflicht der Ich-Erzählerin, die autobiographisch motivierte Intention der Autorin und die Realisierung des Andenkens in Form der vorliegenden Novelle miteinander. Vgl. Sonja Hilzinger: „Anna Seghers. Der Ausflug der toten Mädchen“, in: Interpretationen. Erzählungen des 20. Jahrhunderts, Bd. 2, Stuttgart: Reclam 1997, S. 30–40, hier S. 38. 50 Diese Stillstellung der Zeit im Traum deutet Birgit Maier-Katkin vor dem Hintergrund des mystisch-philosophischen Zeitbegriffs von Walter Benjamin als „awareness of the looming danger regarding historical representation“ (Maier-Katkin: Debris and Remembrance, S. 101). „Incorporated into her narrative style is Seghers’s awareness that historical events can only be told from the temporal position of the present, that history is a construct, a selection of historical fragments reassembled by the storyteller“ (S. 102). Mit ihren Erzählverfahren zur Darstellung der Zeit trägt Seghers ihr zufolge also der Einsicht Rechnung, dass Geschichte stets von den Siegern geschrieben wird und das literarische Erzählen daher die Aufgabe hat, den Verlierern, Stummen und Vernichteten eine Stimme zu verleihen (S. 101–104). 51 Vgl. hierzu die Überlegungen zum Kaddisch und zum messianischen Weltbild von MaierKatkin: Debris and Remembrance, S. 99. 52 Seghers: Ausflug, S. 38. 53 Schlossbauer: Schreiben als Erinnern, S. 583.

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die ebenfalls den Traum als zentralen Erzählmodus für die Darstellung von Geschichte als subjektiver Erfahrung wählen, unter dem Aspekt ihrer Zeitdarstellung in Beziehung zu „Der Ausflug der toten Mädchen“ gesetzt. In diesem Kontext drängen sich zunächst einmal mehrere Erzählungen einer Mit-Exilantin von Anna Seghers auf; nämlich der tschechisch-deutschen Schriftstellerin Lenka Reinerová. Die Autorin, die sich auch als Journalistin antifaschistisch betätigt und als – womöglich letzte – Vertreterin der deutschsprachigen Literatur in Prag gelten kann, ist nicht nur eine Shoah-Überlebende, die ihre gesamte jüdische Familie verloren hat. Sie wird nach dem Krieg auch ein Opfer des stalinistischen Terrors. Zunächst exiliert sie nach Paris und wird anschließend in verschiedenen Lagern im Süden Frankreichs interniert, bevor sie  – wie Anna Seghers – nach Mexiko fliehen kann. In den 1960er Jahren nach Tschechien zurückgekehrt, wird sie im Zuge stalinistischer Säuberungsaktionen nach der Niederschlagung des Prager Frühlings abermals inhaftiert und mit einem Publikationsverbot belegt. Ihre Schriften werden daher erst seit 1989 veröffentlicht. Aufgrund der typologischen Gemeinsamkeiten – wenn nicht gar hinsichtlich kausalgenetischer Bezüge54  – zwischen Seghers und Reinerovás Erzähltexten bieten sich vor allem „Der Ausflug zum Schwanensee“ (1983) und „Das Traumcafé einer Pragerin“ (1996) für einen Gegenüberstellung an.55 In beiden Erzählungen kommt Anna Seghers übrigens explizit als Figur vor.56 Bislang noch kaum zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Auseinandersetzung gemacht,57 weisen diese Erzähltexte doch ähnliche Themen, Motive und Rahmungen des Traumgeschehens auf, wenngleich die narrativen Verfahren zur Darstellung historischer Ereignisse hier sicherlich als weniger radikal oder innovativ gelten können. So nimmt etwa das Motiv der Haare in „Das Traumcafé einer Pragerin“ ebenfalls einen zentralen Raum ein. Und es wird auch hier vor54 Die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen dem Schreiben beider Autorinnen werden – allerdings mit einem anderen Vergleichstext – von Wiebke von Bernstorff untersucht: „Erträumte und erschriebene Orte der Kommunikation. Das Traumcafé einer Pragerin von Lenka Reinerová und Die Reisebegegnung von Anna Seghers“, in: Argonautenschiff 14 (2005), S. 216–225. 55 Lenka Reinerová: „Der Ausflug zum Schwanensee“, in: Lenka Reinerová: Das Traumcafé einer Pragerin. Erzählungen, Berlin: Aufbau 1996, S. 115–198 und Lenka Reinerová: „Das Traumcafé einer Pragerin“, in: Lenka Reinerová: Das Traumcafé einer Pragerin. Erzählungen, Berlin: Aufbau 1996, S. 7–47. 56 Reinerová: Traumcafé, S. 40 und Reinerová: Ausflug, S. 121. 57 Ich stütze mich für den biographischen Kontext auf Gudrun Salmhofer: ‚Was einst gewesen ist, bleibt in uns.‘ Erinnerung und Identität im erzählerischen Werk Lenka Reinerovás, Wien/ Innsbruck: Studienverlag 2009 und für einen Werküberblick auf Corinna Schlicht: Lenka Reinerová. Das erzählerische Werk, Oberhausen: Laufen 2003. Zudem existiert ein informativer, von Studierenden verfasster Sammelband. Viera Glosíková/Sina Meißgeier/Ilse Nagelschmidt (Hrsg.): ‚Mir hat immer die menschliche Solidarität geholfen‘. Die jüdischen Autorinnen Lenka Reinerová und Anna Seghers, Berlin: Frank und Timme 2016.

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rangig zur Charakterisierung der Figuren und ihrer biographischen Veränderungen eingesetzt. Das autobiographisch erzählende Ich der letztgenannten Erzählung Reinerovás erträumt sich zur Verarbeitung seiner Trauer über die im Krieg, im Exil oder der Shoah verlorenen Prager Schriftstellerinnen und Künstler ein Kaffeehaus, in dem sich die Toten versammeln und mit der Überlebenden in Kontakt treten. Im Traumerlebnis der Erzählerin, das durch Anfang und Ende des Textes deutlich als solches markiert wird, kommentieren all diese Persönlichkeiten aus ihrer „einzigartigen Weit- und Übersicht“58 heraus die „oft kaum faßbaren sturzartigen Veränderungen“59 der Kriegs- und Nachkriegsjahre, an denen das erzählende Ich zu zerbrechen droht. Gegenstand des Textes ist – über das Totengedenken als zentrale Intention hinaus – die Wucht der historischen Ereignisse vom Beginn des Faschismus bis zum Prager Frühling bzw. dessen gewaltsamer Niederschlagung, die im Traum in geraffter, anachronischer Ordnung wiedergegeben werden. Die Erzählung reflektiert aber auch den grundsätzlichen Unterschied zwischen unkontrollierbaren Alpträumen, die das Ich etwa in der Einzelhaft und anderen „katastrophalen Umständen“ heimsuchen, und den bewusst herbei imaginierten „Gefilde[n] des Träumens“.60 In einem solchen Gefilde ist das Traumcafé der Pragerin angesiedelt, für dessen Evokation der Erzählerin zufolge bereits ein gewisses Maß persönlicher Freiheit und Stabilität vonnöten sei, um seine tröstende und schützende Funktion entfalten zu können. Ganz anders in „Der Ausflug zum Schwanensee“: Hier werden die historischen Ereignisse zunächst nicht bewusst imaginiert, sondern brechen als traumatische Erfahrung in das gegenwärtige Erleben ein. Sie überfallen die Erzählerin unwillkürlich als Alptraum während einer Autofahrt zur Gedenkstätte Ravensbrück, bevor die Träumende allmählich eine gewisse Kontrolle über das Geschehen erlangt und die Erinnerungen in ihrem Sinne in die Zukunft hinein fortspinnt. Auslöser des Traums ist der Anblick eines schwarzen Schwanenpaares. Dieses setzt eine Assoziationskette in Gang, in der sich – hier sind die Parallelen zu Anna Seghersʼ Erzählung besonders offensichtlich – die Erinnerung an das mexikanische Exil, der gegenwärtige Besuch des Konzentrationslagers und der mythologische Raum des Hades in vielschichtiger Weise überlagern. Mahnender Rückblick und visionäres Traumerlebnis zugleich, wird hier die Begegnung mit der historisch realen Gestapo-Agentin und KZ-Blockältesten Carmen Maria Mory evoziert, die für den Tod der kleinen Schwester Reinerovás in Ravensbrück verantwortlich war. Mit der Aussage, dass das Träumen in Ravensbrück unmöglich gewesen sei, die „Zauberformeln [der] Träumereien“ im KZ

58 Reinerová: Traumcafé, S. 42. 59 Reinerová: Traumcafé, S. 14. 60 Reinerová: Traumcafé, S. 14–15.

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keine Macht mehr hätten,61 reiht sich die Erzählung in den Kontext zahlreicher weiterer Shoah-Texte ein, allen voran jenen von Jean Cayrol, Charlotte Delbo und Primo Levi, in denen über das Potenzial des Träumens bzw. die Ohnmacht gegenüber dem Traumgeschehen im Konzentrationslager reflektiert wird. Eine erzählstrategisch interessante Wendung erhält die Erzählung von Lenka Reinerová zum Ende des Textes hin: Die Erinnerung an eine tatsächliche Begegnung zwischen der Erzählerin und Carmen Mory im Frauengefängnis La Petite Roquette, die Flucht der verurteilten Agentin, die Vermutung ihres unbehelligten Weiterlebens und schließlich ihre imaginierte Enttarnung im Traum werden zu einer stringenten, aber im Irrealis erzählten Ereigniskette kombiniert. Das Ich träumt hier geradezu trotzig und über sechs Seiten hinweg durchgehend im Konjunktiv II gegen den tatsächlichen Verlauf der historischen Ereignisse an. Es sucht die Mörderin in deren Wohnung auf und konfrontiert sie mit ihrer Schuld, bevor die Träumende im letzten Absatz erwacht: Mit einemmal war ich sehr müde. Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück und schloß die Augen. Gab es die Mory noch, oder gab es sie nicht mehr? […] Falls die Mory noch lebt, möchte ich ihr noch einmal begegnen. Ich würde in die Schweiz fahren. […] Die dunkelbraune Wohnungstür, vor der ich stehenbliebe, wäre oben und an beiden Seiten mit massiven Holzornamenten verziert  […]. Ich würde schellen  […]. Ich würde ihr unentwegt ins Gesicht blicken, meine Kaffeetasse ganz langsam und ohne das geringste Klirren zurückstellen und sehr leise sagen: ‚Ich war vor kurzem in Deutschland. Es gibt dort einen Schwanensee, Madame, an dem sehr viele Frauen gestorben sind. Meine kleine Schwester war darunter. Aber viele von ihnen würden vielleicht noch leben, wenn man Sie 1940, als ich Ihnen in Paris begegnet bin, nach Ihrer Verurteilung erschossen hätte.‘ Ein Ruck. Ich öffnete die Augen.62

Einmal abgesehen davon, dass das erzählende Ich in diesem Traum – wenn es schon den Tod der ermordeten Schwester nicht rückgängig machen kann – ein Stück an Handlungsmacht zurückgewinnt, indem es die Täterin ausdrücklich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, entpuppt sich auch hier die Traumerzählung, wie bei Anna Seghers, als jenes Totengedenken, das sich in der historischen Realität und ihrer historiographischen Rekonstruktion als so problematisches Unterfangen erweist. Darüber hinaus existieren weitere Erzähltexte, die mithilfe des Traums eine paradoxe Form historisch-traumatischer Zeiterfahrung inszenieren, ja diese noch weiter radikalisieren zu einer regelrecht vorausgeträumten Erinnerung an die Shoah (vgl. Kapitel VIII). In Vercorsʼ Erzählung „Le songe“ von 1943/44 wird die Existenz nationalsozialistischer Konzentrationslager zu einem Zeitpunkt als vorausahnender Traum formuliert, zu dem das historisch-propositionale Wis61 Reinerová: Ausflug, S. 141. 62 Reinerová: Ausflug, S. 190 und S. 197. Kursivsetzung im Original.

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sen um die systematische Massenvernichtung noch nicht verbreitet oder gar öffentlich zugänglich ist (vgl. Kapitel II).63 Bei André Schwarz-Bart wird die untrügliche Gewissheit des Protagonisten, des Letzten der Gerechten [1959], um seine erst noch bevorstehende Deportation ins KZ in Form zweier Träume in die Erzählung eingefügt: eine visionäre Prophezeiung am Anfang und ein Alptraum gegen Ende des Textes.64 In Jonathan Safran Foers Roman Everything is Illuminated [2002]65 wiederum ist die uralte Geschichte der (ukrainischen) Juden und ihre spätere Auslöschung in einem Traumbuch, dem „Book of Recurrent Dreams“,66 aufgehoben, ganz als wüssten die Bewohner des Shtetls bereits im 18. Jahrhundert in ihren Träumen von der Vernichtung künftiger Generationen. Und in D. M. Thomasʼ Roman The White Hotel [1981]67 steht gar die Fähigkeit der Protagonistin, sich selbst als Opfer der Shoah vorauszuträumen, im Zentrum einer komplexen psychoanalytischen Reflexion über die traumatische Erfahrung, in der Vergangenes, bevorstehende Bedrohung und Allgegenwärtigkeit der Katastrophe nicht mehr voneinander zu trennen sind (vgl. zu allen drei Romanen Kapitel VIII). Es handelt sich hier offensichtlich um einen regelrechten Typus literarischen Traumerzählens, in dem Traum, Trauma und politische Gewalt eine unauflösliche Verbindung eingehen. Diese lässt sich als ein ästhetisches Ringen mit dem Problem der ‚Undarstellbarkeit‘ verstehen; einem Paradox, das in einer realistisch-mimetischen Erzählung nicht aufzulösen ist. Anna Seghers begegnet ihm, indem sie eine aufgeschobene Schulaufgabe, mahnendes Erinnern, Evokation einer glücklich-ungetrübten Vergangenheit, Totengedenken und womöglich immer wieder von Neuem bevorstehende politische Gewalt in einer einzigen Traumerzählung zusammenführt. Lenka Reinerová setzt sich mit dieser Problematik auseinander, indem sie die autobiographische Erfahrung der Ohnmacht gegenüber der Geschichte im Modus einer Traumerzählung so umgestaltet, dass das erzählende Ich eine eigene Handlungsmacht erlangt. Damit zeigt Reinerová, inwiefern dem erzählten Traum auch ein Moment des Widerstands gegen die Faktizität der Geschichte innewohnt. So schreibt sie dem Traum letztlich auch ein politisches Potenzial zu.

63 Vercors (=Jean Marcel Bruller): „Le Songe [1944]“, in: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres, Paris: Omnibus 2002, S.  177–186. Für Seghers’ Novelle äußert sich Sonja Hilzinger ganz ähnlich, was den Zeitpunkt der Kenntnis von der Ermordung der Mutter in Auschwitz und später das öffentliche Wissen um das Ausmaß der Massenvernichtung angeht. Hilzinger: Anna Seghers, S. 36. 64 André Schwarz-Bart: Le dernier des Justes, Paris: Seuil 1996. 65 Jonathan Safran Foer: Everything is Illuminated, New York: Penguin 2003. 66 Foer: Everything, S. 36. 67 D. M. Thomas: The White Hotel, New York: Penguin 1981.

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Wie die mit einem solchen, oftmals paradoxen onirischen Zeiterleben verbundene literarische Strategie, die kollektiv-historische Dimension der Shoah als individuelle Erfahrung zu vermitteln, in fiktionalen Erzähltexten erfolgt, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.

VIII. Vorausgeträumte Erinnerung: André Schwarz-Bart, D. M. Thomas und Jonathan Safran Foer

Shoah, Traum und Erzählen Erzählte Träume, die häufig als narratives Verfahren für die ‚Undarstellbarkeit‘ der Shoah eingesetzt werden, inszenieren mitunter eine paradoxe Form der Zeiterfahrung, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf irritierende Weise zusammenfallen. Besonders offensichtlich ist dies etwa in Primo Levis Traumgedicht „11  gennaio 1946“ oder in Anna Seghers’ Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ von 1946 (vgl. Kapitel  VII).1 Eine solche ‚Sonderform‘ literarischer Traumdarstellung, mit der die Erinnerung an die Shoah präsent gehalten und zugleich die Aporien ihrer narrativen Darstellung inszeniert werden, findet sich in unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen und über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren hinweg. Ungeachtet ihrer Verschiedenheit in der ästhetischen Ausgestaltung scheinen solche Traumnarrationen  – so meine Hypothese  – einen gemeinsamen, textübergreifenden Typus von Träumen zu bilden. Diesem lässt sich auch eine vergleichbare Funktion zuordnen: Es geht um eine geträumte Vorwegnahme der bevorstehenden Katastrophe, und zwar sowohl der geschichtlich-kollektiven Ereignisse als auch individueller Erfahrungen. Die Shoah tritt damit als ein historisches Phänomen in Erscheinung, das sich – wie, neben vielen anderen, etwa Lawrence Langer, Hayden White und James E. Young gezeigt haben2  – 1

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In diesen beiden Texten wird das Phänomen bis in die feinsten grammatikalischen und syntaktischen Verästelungen hinein geradezu programmatisch ausgestaltet. Primo Levi: „11 gennaio 1946“, in: Primo Levi: La tregua, Torino: Einaudi 2014, S. 1 sowie Anna Seghers: „Der Ausflug der toten Mädchen“, in: Anna Seghers: Erzählungen, Berlin: Aufbau 2017, S. 7–38. Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven: Yale University Press 1991, v. a. Kapitel 2 („Acquainted with the Night“, v. a. S. 43–55), Hayden White: „Historical Emplotment and the Problem of Truth“, in: Saul Friedländer (Hrsg.): Probing the Limits of Representation. Nazism and the ‚Final Solution‘, Cambridge (MA): Harvard University Press 1992, S. 37–53, Hayden White: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1987 und James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation [1988], Bloomington/London: Indiana University Press 1990.

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nicht realistisch, mimetisch oder ‚authentisch‘ erzählen lässt und daher, so die Schlussfolgerung von Giorgio Agamben, auf paradoxe bzw. aporetische Erzählverfahren zurückgreifen muss.3 Inwiefern Shoah-Literatur immer auch eine Auseinandersetzung mit der Erzählbarkeit traumatischer Erfahrung ist, haben Trauma-Theoretikerinnen und -Theoretiker wie Dominick LaCapra, Cathy Caruth oder Sara Horowitz ausführlich reflektiert.4 Und ganz grundsätzlich gilt natürlich: Sowohl das Faszinosum empirischer Traumerfahrung5 als auch dessen Produktivität für die Fiktion in Literatur und Film6 haben zu einem beträchtlichen Teil mit der komplexen und oft paradoxen zeitlichen Dimension des Träumens zu tun. All dies sind gut erforschte Phänomene, auf deren theoretischer Basis ich nun untersuchen möchte, wie sich literarische Träume nutzen lassen, um das Phänomen einer vorausgeträumten Erfahrung bzw. einer erinnerten Vorahnung zu erzählen. Dieses Erkenntnisinteresse liegt insofern nahe, als im Bereich der kulturwissenschaftlichen Traumaforschung immer wieder die traumatische Zerstörung zeitlicher Orientierungsmöglichkeiten in den Fokus gerückt wird; vor allem die Aufhebung von Chronologie, Linearität und Kausalität zugunsten von zirkulären, sich wiederholenden, immer wieder von Neuem als gegenwärtig erlebten Wahrnehmungsstrukturen.7 In diesem Zusammenhang haben u.  a. Michael Rothberg, Dori Laub und Lawrence Langer die Bedeutung des Traums als Er3 4

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Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998, hier v. a. S. 105–112 und S. 141–144. Dominik LaCapra: Representing the Holocaust. History, Theory, Trauma, Ithaca: Cornell University Press 2014 und Dominick LaCapra: Writing History, Writing Trauma, Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001, Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1996 und Sara R. Horowitz: Voicing the Void. Muteness and Memory in Holocaust Fiction, New York: State University of New York Press 1997. Mit einer Perspektive auf die nachfolgenden Generationen sind die Arbeiten von Marianne Hirsch: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust, New York: Columbia University Press 2012, Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 2006, v.  a. Kapitel „Trauma“, S. 258–264 und Anselm Haverkamp: Latenzzeit, Berlin: Kadmos 2004 grundlegend. Ich beziehe mich auf Michael Schredl: Traum, München: Reinhardt 2008, Inge Strauch/Barbara Meier: Den Träumen auf der Spur. Ergebnisse der experimentellen Traumforschung, Bern: Huber 1992, J. Allan Hobson: The Dreaming Brain, New York: Basic Books 1988, S. 268 und Deirdre Barrett: Trauma and Dreams, Cambridge: Harvard University Press 2001. Vgl. die Zeitgestaltung als durchgehende Analysekategorie für ästhetische Traumdarstellungen bei Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Kunst und Film, Paderborn: Fink 2014, aber auch Burkhard Schnepel (Hrsg.): „Einleitung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Traumforschung“, in: Hundert Jahre Die Traumdeutung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven in der Traumforschung, Köln: Köppe 2001, S. 7–30, hier v. a. S. 10. Dies erörtern u. a. Angela Kühner: Trauma und kulturelles Gedächtnis, Gießen: PsychosozialVerlag 2008, v.  a. S.  60–70, S.  197–200, S.  223–232 und Hannes Fricke: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie, Göttingen: Wallstein 2004, v. a. Kapitel: „Trauma und Bewältigungsmöglichkeiten in der und durch die Literatur“, S. 223–258.

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zählverfahren des Traumatischen erkannt und an zahlreichen Beispielen vor Augen geführt.8 Welches Potenzial birgt also der Traumtypus vorweggenommener Geschichte für die Vermittlung traumatischer historischer Erfahrung? Dieser Frage soll in einer vergleichenden Analyse dreier Romane nachgegangen werden, die repräsentativ für ein solches Erzählverfahren sind: Es geht um André Schwarz-Barts Le dernier des Justes von 1959, The White Hotel [1981] von D. M. Thomas und um Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated [2002].9 Damit umfasst das Korpus nicht nur Beispiele aus dem französischen, britischen und US-amerikanischen Raum; wir haben es zugleich auch mit drei verschiedenen Generationen der Shoah-Literatur zu tun: Die Autorschaft reicht vom unmittelbaren Zeitgenossen und Résistance-Mitglied Schwarz-Bart über D. M. Thomas, der seinen Roman 1981 publiziert, bis zum erst 1977 geboren Safran Foer, der zur Enkel- bzw. Urenkelgeneration einer Familie von Holocaust-Überlebenden zählt.

Historiographie, Biographie und Traumerfahrung Bei allen drei Romanen haben wir es mit ausgesprochen komplexen Erzählformen zu tun: Sie verweben jeweils mehrere verschiedene Erzählstränge miteinander, sie schließen große, oft nur schwer zu überblickende Zeiträume in einer einzigen Erzählung zusammen und sie setzen sich mit unterschiedlichsten Gattungsmustern und Erzähltraditionen auseinander. Es handelt sich um ausgesprochen hybride Werke, die zu einem nicht unerheblichen Teil mit intertextuellen Verweisen und interdisziplinär bedeutsamen Referenztexten arbeiten.10 Dies 8

Michael Rothberg: Traumatic Realism. The Demands of Holocaust Representation, Minneapolis: University of Minnesota Press 2000 (v. a. Kapitel „Unbearable Witness“ und „Reading Jewish“) und Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: Stanford University Press 2009, Dori Laub: „Eros oder Thanatos. Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas“, in: Psyche 54/9–10 (2000), S. 860–894 und Lawrence Langer: The Holocaust and the Literary Imagination, New Haven: Yale University Press 1975, v. a. Kapitel 7 „Of time and atrocity“, S. 249–296. 9 Ich zitiere nach den folgenden Ausgaben: André Schwarz-Bart: Le dernier des Justes, Paris: Seuil 1996, D. M. Thomas: The White Hotel, London: Penguin 1981, Jonathan Safran Foer: Everything is Illuminated, London: Penguin 2003. 10 Zur Intertextualität bei Schwarz-Bart vgl. Franziska Louwagie: „Die Suche nach Einheit und Identität in Zeugnissen der Shoah: Elie Wiesels La nuit und André Schwarz-Barts Le dernier des Justes“, in: Silke Segler-Meßner/Monika Neuhofer/Peter Kuon (Hrsg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, S. 261–273 und Susanne Zepp: „‚Da war nur eine Gegenwart‘. Figurationen der Zeit im französischen Roman am Ende der IV. Republik“, in:

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hängt auch damit zusammen, dass wir in allen drei Fällen mit unzuverlässigen Erzählerfiguren konfrontiert sind. Zu all diesen Beobachtungen ließe sich für jeden einzelnen Roman eine detaillierte Analyse durchführen. Halten wir an dieser Stelle nur fest, dass Intertextualität und Metafiktion  – oder, allgemeiner, selbstreferenzielle, das eigene Erzählen ausdrücklich problematisierende Passagen – eine entscheidende Dimension aller drei Romane ausmachen. Die fiktionalen Traumberichte innerhalb der Texte und die damit einhergehenden Traumreflexionen erweisen sich dabei jeweils als signifikante Knotenpunkte der Erzählungen. Gemeinsam ist den drei Werken darüber hinaus, dass sie ausgesprochen kontroverse Reaktionen hervorgerufen haben. Le dernier des Justes, The White Hotel und Everything is Illuminated wurden jeweils mit hochkarätigen Preisen ausgezeichnet ebenso wie mit harscher Kritik bedacht.11 Diese Ambivalenz findet in entsprechend kontroversen Forschungsdiskussionen ihre Fortsetzung. Ein beträchtliches provokatives Potenzial bietet dabei zweifellos die im Traumerleben besonders exzessive Verbindung aus Sexualität und Gewalt; mehr noch: die Einbettung solcher Gewaltdarstellungen in religiöse Sinnkontexte mit ihrem spezifischen Spannungsverhältnis zwischen jüdischen und christlichen Deutungsmustern, welches für das ausgewählte Textkorpus eine wichtige Rolle spielt.12 Eine weitere Gemeinsamkeit der Romane ist für die skizzierte Fragestellung entscheidend: Es geht jeweils zentral um die Lebensgeschichte einzelner Figuren, die – das wird explizit formuliert – stellvertretend für sechs Millionen Opfer und ihre verlorengegangenen Träume stehen.13 Die Bemühungen, eine solche Susanne Zepp u. a. (Hrsg.): Konstellationen. Über Geschichte, Erfahrung und Erkenntnis. Festschrift für Dan Diner, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2011, S. 383–401, die den Roman als Parodie auf Roger Ikors Les Eaux mêlées liest (v. a. S. 398). Zur Reflexion theologischer und philosophischer Referenztexte in Schwarz-Barts Roman vgl. auch Beate Wolfsteiner: Untersuchungen zum französisch-jüdischen Roman nach dem Zweiten Weltkrieg, Tübingen: Niemeyer 2003, S. 212–214. Für The White Hotel vgl. den Forschungsüberblick in Sue Vice: Holocaust Fiction, New York: Routledge 2000, S. 31–49. Die jüdischen Prätexte bei Foer untersucht Ulla Haselstein: „‚Rücksicht auf Darstellbarkeit‘. Jonathan Safran Foers Holocaust-Roman Everything is Illuminated“, in: Bettine Menke/Christoph Menke/Eva Horn (Hrsg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München: Fink 2006, S. 193–210, hier S. 201. 11 Le dernier des Justes wurde im Jahr seines Erscheinens mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, The White Hotel gewann 1981 den Cheltenham Prize und stand im selben Jahr auf der Shortlist für den Booker Prize. Everything is Illuminated erhielt den National Jewish Book Award und den Guardian First Book Award. Zur Rezeption von Le dernier des Justes vgl. ausführlicher Judith Klein: „Archetypen der Katastrophe: Le dernier des Justes“, in: Judith Klein: Literatur und Genozid, Wien: Böhlau 1998, S. 96–108 und grundlegend Francine Kaufmann: Pour relire Le dernier des Justes. Réflexions sur la Shoah, Paris: Klincksieck 1987, S. 215–232. Die Polemik um D. M. Thomas’ Roman rekonstruiert Sue Vice: Holocaust Fiction, S. 31–49. 12 Judith Klein merkt allerdings zu Recht an, dass eine strikte Unterscheidung zwischen jüdischen und christlichen Symbolen und Überlieferungen nur schwer möglich ist (Klein: Literatur und Genozid, S. 99). 13 Thomas: Hotel, S. 250.

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Einzelbiographie zu rekonstruieren, erweisen sich als Versuche der Spurensuche, mit der die Geschichte der Hauptfiguren jeweils in eine sehr umfangreiche Vorgeschichte eingebettet wird.14 Zugleich aber steuern die drei Romane narrativ unausweichlich auf die Shoah zu. Am Ende steht die systematische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, die jeweils exemplarisch anhand eines ganz bestimmten, historisch belegten Massenverbrechens erzählt wird. Bei Schwarz-Bart begleitet der Protagonist Ernie Lévy einen Kindertransport aus dem Sammellager Drancy nach Auschwitz, der direkt in die Gaskammer führt. In The White Hotel verläuft der Weg der Protagonistin Lisa Erdman über zahlreiche Stationen Europas nach Kiew und endet in Babi Yar15, jener Schlucht, in der Ende September 1941 mehr als 33.000  Menschen ermordet werden. In Foers Roman wiederum erzählt die diegetische Schriftstellerfigur Jonathan Safran Foer von der Spurensuche nach Augustine, die seinen Großvater am 18. März 1942 vor dem Massaker im ukrainischen Shtetl Trachimbrod durch die SS bewahrt haben soll. Auffällig ist aber auch, dass die histoire zwar mit diesen Vernichtungsszenarien endet; sie bilden jedoch nicht den tatsächlichen Schluss der Romane. Nach der Ermordung wird mit unterschiedlichen Mitteln jeweils aus dem Jenseits, gewissermaßen mit der und stellvertretend für die Stimme der Toten, weitererzählt: Foer beschließt sein Werk mit einem Brief des Täters, der eigentlich selbst ein Opfer ist. Seine Erzählstimme im Brief berichtet und rechtfertigt nachträglich seinen Selbstmord, mit dem er den Weg für die nächsten Generationen freimachen will. Schwarz-Barts Roman endet mit einer Passage des homodiegetischen Erzählers, der sich hier nach langer Zeit wieder in Erscheinung ruft und über die abwesende Präsenz der toten Hauptfigur reflektiert, die wie das Licht lange erloschener Sterne auf der Erde noch oder erst mit großer zeitlicher Verzögerung wahrnehmbar ist. Und D.  M.  Thomas fügt an das Massaker eine utopische Vision an, die das Leben der Protagonistin gewissermaßen als Erfüllung des Wunschtraums der Ermordeten im Jenseits fortsetzt: als Ankunft in Eretz Israel. In diesem Zusammenhang ist noch eine weitere Parallele bedeutsam: Alle drei Autoren erzählen den Genozid zwar schockierend explizit: Vergasung, Erschießung, Verbrennung, Ertrinken werden in aller Brutalität beschrieben. Dabei sprechen die Erzählerstimmen allerdings nicht selbst; sie greifen für eben

14 Bemerkenswert ist neben der hier erörterten zeitlichen Dimension aber auch die räumliche Ausdehnung der jeweiligen histoires. In allen Romanen durchqueren die Figuren mehrere Länder Europas. Sie markieren damit zum einen das geographische Ausmaß der historischen Katastrophe, und zum anderen die odysseehaften Flucht- und Suchbewegungen, die mit dem individuellen Erleben der Shoah und den Versuchen der Rekonstruktion verbunden sind. 15 Hier und im Folgenden verwende ich die (englische) Schreibweise des Namens von D. M. Thomas.

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diese Szenen jeweils auf dokumentarisches oder anderweitig historiographisch bzw. autobiographisch vermitteltes Material zurück.16 Die offensichtlichste Gemeinsamkeit der drei Romane aber besteht in der Weise, wie die Episoden der gewaltsamen Vernichtung, auf die sich die Erzählungen unaufhaltsam zubewegen, in umfangreiche Vorgeschichten eingebettet werden: Sie werden nicht nur als Ereignisse erzählt, sondern sie werden zudem vorausgeträumt. In Anbetracht der großen erzählten Zeiträume, die dem Tod durch das nationalsozialistische Vernichtungssystem vorausgehen, nimmt die Shoah selbst, wiewohl von Anfang an motivisch, thematisch und symbolisch präsent, nur wenig Raum ein. Im Falle von André Schwarz-Barts Lebensgeschichte des Rabbinerenkels Ernie Lévy beginnt die Geschichte im Jahre 1185 mit dem ersten antisemitischen Pogrom in York.17 Die Abfolge von christlich legitimierten Diskriminierungen, Ausschreitungen, Folterungen und Morden, die sich von Generation zu Generation bis zur Verfolgung Ernies durch die Nationalsozialisten fortsetzt, wird verknüpft mit einem metaphysischen, nämlich jüdisch-religiös motivierten Erzählmuster: der talmudischen Legende der Lamed-Waf.18 Diese 36 Gerechten bewahren durch ihre Güte, Aufrichtigkeit und Opferbereitschaft die Menschheit vor der Vernichtung, indem sie das Leid der gesamten Welt tragen. Dass bzw. ob Ernie Lévy der letzte dieser Gerechten ist oder ob er die Legende, die ihm der Großvater erzählt, nur identifikatorisch versteht, um die Qualen, die sein Leben wie einen roten Faden durchziehen, in einen übergeordneten Sinnhorizont zu stellen, wird vom Autor systematisch in 16 André Schwarz-Bart verweist am Ende seines Romans auf die Quellen, die in das Werk eingegangen sind, v. a. auf Léon Poliakovs Bréviaire de la haine von 1951. Zu weiteren, am Schluss des Textes eingefügten Zitaten aus Briefen, Tagebuchauszügen und Gedichtfragmenten von Augenzeugen vgl. Klein: Literatur und Genozid, S. 103. D. M. Thomas verwendet für sein Kapitel „The Sleeping Carriage“ den Roman Babi Yar. A Document in the Form of a Novel von Anatoly Kuznetsov aus dem Jahr 1966, der wiederum auf den Augenzeuginnenbericht der Überlebenden Dina Pronicheva zurückgeht (und selbst aufgrund der sowjetischen Zensur in mehreren Fassungen existiert). Vgl. u. a. Hülya Yildiz: „Can the living ever speak for the dead? The White Hotel and fictionalizing the Holocaust“, in: Pamukkale Üniversitesi Sosyal Bilimler Enstitüsü Derigisi 33 (2018), S. 181–187, hier S. 185 und v. a. D. M. Thomas’ eigene Aussage: „[In „The Sleeping Carriage“] my heroine, Lisa Erdman, changes from being Lisa an individual to Lisa in history – an anonymous victim. It is this transition, reflected in style as well as in content, which has moved and disturbed many readers. From individual self-expression she moves to the common fate. From the infinitely varied world of narrative fiction we move to a world in which fiction is not only severely constrained but irrelevant“ (zitiert nach Vice: Holocaust Fiction, S.  31–49, hier S.  34). Zur Problematik fehlender Referenzialität und dem selbstreferenziellen, metafiktionalen Umgang mit den historiographischen Lücken in Foers Roman vgl. Mara Maticevic: „Fiktionalisierung des Holocaust“, in: Thomas Erthel u. a. (Hrsg.): Spannungsfelder: Literatur und Gewalt, Berlin: Peter Lang 2013, S. 241–249, hier S. 247. 17 Dieses verweist, u. a. durch die Formulierung „l’holocauste de la tour“, bereits deutlich auf die Shoah (Schwarz-Bart: Justes, S. 12). 18 Vgl. Kaufmann: Schwarz-Bart.

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der Schwebe gehalten.19 Am Schluss des Textes zeigt sich jedenfalls: Die Deutungsangebote, welche die jüdische Märtyrergeschichte für den Verfolgten bereithält, werden durch die Shoah vernichtet.20 Am Anfang und am Ende des Romans steht jeweils ein Traum; zwei Träume also, die sowohl auf die historiographisch rekonstruierbare Geschichte als auch wechselseitig aufeinander verweisen; Träume, mit denen die sinnstiftende Legende begründet und zugleich zerstört wird. Auch Jonathan Safran Foer bettet die Auslöschung des Shtetls in dessen legendäre Geschichte ein: Diese Legende allerdings erfindet eine der Hauptfiguren, der Schriftsteller Foer, mangels verwertbarer Fakten aus verlässlichen Quellen selbst: Seine Geschichte des Shtetls von der Gründung bis zu seiner Auslöschung bildet einen von drei Erzählsträngen des Romans. Auch diese histoire beginnt also mit einer sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Vorgeschichte: mit der Gründung von Trachimbrod im Jahre 1791. Als der Pferdewagen des Juden Trachim in einen Fluss stürzt und im Zuge dieses Unfalls im Wasser ein Kind geboren wird, gibt man ihm den Namen des Flusses Brod. Dieses Mädchen ist zwar einerseits eine individuelle Figur des Shtetls, deren Leben sich als eine einzige Gewalt- bzw. Vergewaltigungsgeschichte darstellt. Zugleich aber ist ihm eine allegorische, kollektive Dimension eingeschrieben: Brod repräsentiert das Leben des gesamten Shtetls mit all seinen grotesken religiösen und gesellschaftlichen Konflikten; sie steht für eine jüdische Gemeinschaft, die dem grausamen Schicksal ihrer Vernichtung nicht entgehen kann. Dieses Schicksal ist bereits als Metadiegese in der Legende aufgehoben: Die Shtetl-Bewohner verfassen gemeinschaftlich ein Book of Recurrent Dreams. Diese Träume werden erzählt und niedergeschrieben, von der letzten Überlebenden des Massakers wie ein Schatz gehütet, von den Nachfahren gefunden und im vorliegenden Roman selbst abgedruckt. Der „Dream of the End of the World“ nimmt die Shoah dabei als mise en abyme vorweg. Bei D. M. Thomas reicht die erzählte Vorgeschichte, in der die Shoah ebenfalls von Anfang an präsent ist, historisch weniger weit zurück; dafür wird sie in biographischer Hinsicht umfangreich entfaltet. Lisa Erdman ist nicht nur eines der Opfer von Babi Yar, sondern zu Lebzeiten vor allem ein ‚pathologischer Fall‘ des Psychoanalytikers Sigmund Freud. Dieser rekonstruiert ihre Familien- und Kindheitsgeschichte, um die zahlreichen rätselhaften Symptome der Protagonistin zu erklären. Er tut dies, indem er sie in ein ebenfalls Einzelschicksale übergreifendes Narrativ überführt, das kollektive Deutungsmuster bereitstellt: 19 Vgl. Josh Cohen: „No room for truth. On the precariousness of life and narrative in Le dernier des Justes“, in: European Judaism 47/1 (2014), S. 15–25, hier S. 15. Die verschobene Zeitdimension des Romans, mit der die Tradition „aufgenommen und zugleich beendet“ wird, analysiert auch Zepp: Da war nur eine Gegenwart, S. 388–392. 20 Vgl. Langer: Holocaust Testimonies, S. 263.

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die Psychoanalyse. Und auch dieses Narrativ erweist sich einerseits als sinnstiftend – Lisas Leid lässt sich weitgehend in das Krankheitsbild der Hysterikerin einpassen. Andererseits muss es, wie die Legende der 36 Gerechten, an der übermächtigen Faktizität der Shoah scheitern.21 Die Romanfigur Freud liegt mit ihren Deutungen nicht falsch. Aber ihr psychoanalytischer, einzig auf die Vergangenheit gerichteter Blick erfasst eben nur einen kleinen, individualgeschichtlichen Ausschnitt des Problems. Die historisch-politische Tragweite des Antisemitismus und des Nationalsozialismus, die sich aus den Symptomen Lisas bereits ablesen lassen, entgeht ihm.22 Träume spielen in diesem Roman durchgehend eine Rolle: als alptraumhafte Heimsuchungen, die die Protagonistin notiert und ihrem Therapeuten übermittelt, als Gesprächsgegenstand der psychoanalytischen Kur oder als Material, aus dem Freud seine Theorien entwickelt. Und immer nehmen auch sie die Shoah bereits vorweg.

Träume in André Schwarz-Barts Le dernier des Justes [1959] Der erste Traum, der im Roman von André Schwarz-Bart wiedergegeben wird, befindet sich bereits im zweiten Absatz des Textes. Er erscheint als wörtliche Rede und ist metadiegetisch eingebettet in eine Wundererzählung, eine „fantaisie italienne“ aus dem 12. Jahrhundert, mit der die Legende von den 36 Gerechten begründet wird. Dass André Schwarz-Bart damit weit von der jüdischen Überlieferung der Lamed-Waf abweicht, soll uns hier nur am Rande interessieren.23 Wichtiger ist, dass in diesem Traum die Heiligsprechung des Märtyrers Salomon Lévy als dem ersten der 36 Gerechten aus dem Munde Gottes erfolgt:

21

Vgl. Paul Weibel: Reconstructing the Past. G. and The White Hotel. Two Contemporary ‚Historical‘ Novels, Berlin: Peter Lang 1989, S. 81. 22 Vgl. auch Vice: Holocaust Fiction, S. 45–47. 23 Sie spielt aber in der Forschung eine herausragende Rolle, weil sich an den Veränderungen der Legende für den Roman die grundsätzliche Problematik einer Übertragung jüdischer Traditionen in christliche Deutungsmuster entfaltet, die wiederum die zentrale Kontroverse um Schwarz-Barts Œuvre ausmacht. Ausführlich rekonstruiert wurden die Differenzen zwischen den jüdischen Überlieferungen der Zaddikim und der Lamed-Waf mit Blick auf die Verwendung durch Schwarz-Bart von Kaufmann. Die Diskussion wird später unter der Wiederaufnahme ihres Begriffs der „affaire Schwarz-Bart“ weitergeführt. Kaufmann: Schwarz-Bart, v. a. S. 24–27.

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Et voici enfin  : Quand Salomon eut atteint l’âge de raison, l’Éternel lui vint en songe et dit : Écoute, Salomon, prête l’oreille à mes paroles. Le dix-septième jour du mois de Sîvan 4945, ton père rabbi Yom Tov a été pitoyable à mon cœur. Il sera donc fait à sa descendance, et dans les siècles des siècles, la grâce d’un Lamed-waf par génération. Tu es le premier, tu es celui-là, tu es saint.24

Direkt im Anschluss an die Wiedergabe des Traums heißt es, dass es sich hier um eine „vision“ Salomons handle, von der sich zwar nicht genau sagen lässt, ob sie „véridique“ oder „trompeuse“ ist, dass sie aber bei den Zeitgenossen „dans l’enfer  […] des ghettos“ auf allergrößtes Interesse gestoßen sei.25 Dies ist also das als Traum und im Traum übermittelte Deutungsmuster, mit dem die nun folgende alptraumhaft geschilderte Verfolgung der Juden über 36 Generationen hinweg bis zu Ernie Lévy und seinem Tod in der Gaskammer nachverfolgt und in einen größeren religiös-metaphysischen Sinnzusammenhang eingeordnet wird. Der von Anfang an ambivalente Wirklichkeitsstatus zwischen wahrhaftig, sinn- und damit troststiftend auf der einen, und illusionär, eskapistisch auf der anderen Seite bleibt über die gesamte Erzählung hinweg bestehen. Gegen Ende des Romans, als der Zug die Deportierten ins Vernichtungslager bringt, wird dieses Spannungsverhältnis nochmals auf die Spitze getrieben, wiederum ohne, dass es eine Auflösung erfährt: Ernie erklärt den verdurstenden und erfrierenden Kindern im Wagon, dass sie nun einschlafen und den kollektiven Traum von ihrer Fahrt ins gelobte Land träumen, mit dem er die unerträgliche Wirklichkeit umdeutet.26 Der entscheidende Traum aber, den die Hauptfigur Ernie als der letzte der Gerechten erlebt, wird im vorletzten Kapitel erzählt. Er trägt sich im Sammellager Drancy zu, von dem die Massendeportation aus Frankeich ihren Ausgang nimmt. Ernie, der sich ‚freiwillig‘ in das Durchgangslager begeben hatte, um seiner Geliebten zu folgen, wird von der SS gefoltert. Während er in Bewusstlosigkeit fällt, träumt er einen Traum, der die Kippfigur zwischen religiösem Deutungsmuster der metaphysischen Rettung aus allem Leid und historisch-faktualer, beispielloser Realität ohne jegliche Sinnhaftigkeit selbst schon in sich trägt. Zu Beginn heißt es: „[I]l s’endormit […]. [I]l rêva qu’il se mariait, cependant que dans l’air sonnaient les trompettes de l’allégresse :“27 Es folgt, deutlich markiert durch Doppelpunkt, neuen Absatz, drei Auslassungspunkte und einen Tempuswechsel ins Präsens eine ca. zehnseitige Traumerzählung, die hier in stark gekürzter Version wiedergegeben wird. Sie endet damit, dass Ernie im Traum lauthals schreit, bevor 24 Schwarz-Bart: Justes, S. 14. 25 Schwarz-Bart: Justes, S. 15. 26 Auf den hasserfüllten Vorwurf einer mitfahrenden Ärztin: „Comment pouvez-vous leur dire que c’est un rêve  ?“ antwortet dieser, dass hier im Wagon kein Platz für die Wahrheit sei (Schwarz-Bart: Justes, S. 414). Als der Mitgefangenen klar wird, dass nicht einmal Ernie selbst an den erzählten Traum glaubt, bricht sie in irres Lachen und bitteres Weinen aus. 27 Schwarz-Bart: Justes, S. 384.

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anschließend das letzte Kapitel vom tatsächlichen Transport in die Gaskammer folgt.28 Ce matin, avant l’aube, alors que la première étoile n’a pas encore fait son apparition, il est allé prendre un bain d’une minutie telle que jamais être humain (ni spirituel) ne fut aussi pur dans sa chair qu’Ernie Lévy ne l’est, dans cet instant présent, unique, où le rêve est promesse autorisée de bonheur. Mon Dieu, conduit par l’esprit, la savonnette de cristal glissait sur sa peau sans qu’il fît un mouvement, sauf celui de se soulever, fort gracieusement, quand la savonnette manifestait l’intention de parcourir son dos. (De sa barbiche rousse, le portier du hammam indique le chemin de la synagogue.) ‚Ne croyez pas‘, lui dit Ernie Lévy, ‚que ma reconnaissance s’arrête à la sortie du bain […] A quoi vous servirait de vendre des savonnettes, si nul au monde ne vous retient dans sa mémoire ?‘ […] Comme le portier du hammam lui adresse ce vœu yiddish : Mazel Tov, deux étoiles de David illuminent ses paupières et Ernie connaît que le portier est un Juste. ‚Ainsi donc‘, pense-t-il, ‚mes ancêtres se réjouissent avec moi et j’en déduis que je suis le juste héritier des Justes et qu’il m’appartient d’être heureux pour tous auprès de ma bien-aimée‘. […] ‚En avant la musique‘, dit le rabbin, ‚cérémonions.‘ […] Et comme la procession arrive à hauteur de la Riggenstrasse, exposée à tous les vents, bien qu’il fasse un gai soleil teinté de bleu et de cette verdure des marronniers, Mutter Judith ramène davantage sur elle le manteau de sa perruque […]. Derrière Mutter Judith, la bien-aimée avance au bras de M. Lévy […]. Puis vient la mère de la bien-aimée […]. Et toute la noce se range instantanément derrière la grosse femme […]. Puis dans le couloir qui mène à la chambre du couple, la bien-aimée murmure : ‚Mes pieds me portent à l’endroit que j’aime.‘ La chambre de noce est si petite […]. Cependant Ernie et Golda s’y avancent, et, comme sous la pression de leurs calmes respirations, la chambre se distend, s’épanouit, épouse les dimensions du bonheur du couple. […] Mais lorsqu’Ernie attire vers lui le corps de Golda, subitement glacé, il ouvre les yeux et constate qu’il serre dans ses bras une mince poignée d’herbes fanées. Que s’est-il passé ? De telles choses peuvent-ils arriver sur les rives de la Seine ? Et la noce, qu’en est-il advenu ? Laissant tomber la poignée d’herbes, Ernie se précipite dans le couloir en gémissant tristement : ‚Où êtes-vous ? Où êtes-vous ?‘ […] Le petit train patiente dans une gare à l’intérieur de la gare, une sorte de gare clandestine ; Ernie n’a pas atteint le quai que le train s’ébranle avec fougue, crachotant et tonitruant de ses deux étages. Ernie saute sur la dernière marche, pousse une porte : toute la noce est dans le compartiment. ‚Nous t’attendions‘, s’écrie la noce enthousiasmée. ‚Nous pensions que tu ne viendrais plus …

28 Der Ausruf „Où êtes-vous ?“ stellt dabei, repetitiv und auf mehreren Erzählebenen wiedergegeben, die Verbindung zwischen Traum- und Wachwelt her. Schwarz-Bart: Justes, mehrfach auf S. 391 und zuvor bereits auf S. 383.

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‚Resterai-je seul Juif ?‘ soupire Ernie […]. ‚Et si vous prenez le petit train, ne suis-je pas du voyage ?‘ ‚Tu l’es, tu l’es‘, s’écrient tous les participants de la noce, sauf Mlle Blumenthal, toute tassée dans un angle, avec un nouveau-né à la mamelle et son baluchon timidement coincé entre ses genoux. […] A cet instant le violoneux lance un coup d’archet qui fait pleurer toute la noce : et sa voix s’élève avec une amplitude qu’on ne lui avait jamais connue jusqu’alors : Oh ! Peut-on monter jusqu’au ciel Demander à Dieu pourquoi les choses sont telles ? Le train disparaît au bout de la voie ; mais la musique du violon s’élève comme une fumée dans le ciel. Brusquement renvoyé à sa solitude, nu et sanglant sur le ballast, les jambes écartées entre les rails, et ce vent fouillant chacune des fibres découvertes de son corps, Ernie pense que la séparation d’avec un être aimé donne l’avant-goût le plus rigoureux de la mort. La fumée du violon disparaît elle aussi, et Ernie se met à crier en son rêve. A crier. A crier. A crier.29

Der Traum handelt also von der glücklichen Hochzeit Ernies: Detailliert werden die jüdischen Rituale von der Mikwe, dem reinigenden Tauchbad, über das Zerbrechen des Weinglases, das masel tov und die Gebete der Gäste bis zum Eintritt des Paares in das Hochzeitsgemach wiedergegeben. Im Moment der bevorstehenden Vereinigung bricht der Glückstraum ab: Die Braut erstarrt zu Eis und Ernie findet sich alleine zwischen leeren Bahngleisen wieder. Nimmt man zunächst an, dieses Ereignis markiere das Aufwachen, zeigt sich rasch, dass der Glückstraum in einem Alptraum seine Fortsetzung findet: Der letzte Teil des Traums, der sich über knapp zwei Seiten erstreckt, erzählt nun davon, wie Ernie die verlorene Hochzeitsgesellschaft in leeren Straßen sucht, zum Bahnhof von Drancy rennt und die Gäste eingepfercht in einem Wagon wiederfindet. Er versucht zu den Seinen zu gelangen, die über Ziel und Zweck der Reise spekulieren. Zwischen ihnen findet er auch seine Braut wieder, die ihre Hand unter seine Weste gleiten lässt – ganz wie im geträumten Hochzeitsgemach – und wie sie es ein Kapitel später im tatsächlichen Wagon nach Auschwitz wieder tun wird. Der Traum endet damit, dass der Zug ohne Ernie davonfährt und dieser schreiend erwacht. Dieses Traumerlebnis fungiert als ein Vorausträumen der Shoah.30 Eine solche Vorwegnahme entfaltet sich auf drei Ebenen. Zum einen erkennt der Bräutigam bei der Vorbereitung der Hochzeitszeremonie an den Augen des Wächters in der Mikwe, die sich in gelbe Davidsterne verwandeln, dass es sich bei diesem Mann um einen der Lamed-Waf handelt: „Ernie connaît que le portier est un 29 Schwarz-Bart: Justes, S. 384–393. Kursivsetzung im Original. 30 Judith Klein stellt fest, dass immer dann, wenn (mittels des Traums) das Grauen der Konzentrationslager in die traditionelle Form des Romans hineinragt, „Chronologie, Kohärenz und Linearität“ der Familiengeschichte „aufgesprengt“ würden, Klein: Literatur und Genozid, S. 104.

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Juste.“ Er schließt daraus, dass er selbst tatsächlich der letzte der Gerechten ist („que je suis le juste héritier des Justes“)31, mit dem sich alle früheren LamedWaf zusammen über sein Hochzeitsglück freuen. Damit bildet der Traum in Drancy die Fortsetzung der im Eingangstraum eröffneten Prophezeiung.32 Die Legende erfüllt sich – und ist mit dem Nationalsozialismus an ihr Ende gelangt. Auf einer zweiten Ebene birgt der Traum die eigene Vernichtungs-Geschichte bereits in sich, die ja in der Wachwelt erst noch auf ihren Höhepunkt zusteuert; und zwar in extrem verdichteter Form. Er träumt die Deportation, bevor sie stattfindet, und erlebt dabei, wie es im Traum heißt, den unerbittlichsten Vorgeschmack des Todes.33 Nicht nur eine rückwirkende Selbstverortung in der Legende der 36 Gerechten bietet also der Traum, sondern er nimmt auch das Bevorstehende vorweg.34 Es lässt sich nachverfolgen, wie Motive, Ereignisse und Wahrnehmungen aus dem Traum später in die individuelle Wachwelt und in die historiographische Kollektiv-Wirklichkeit überführt werden: Die blutenden Augen der Mutter im Traum korrespondieren mit den späteren Bluttränen in der Gaskammer, die Klänge des Hochzeitsgeigers, die wie Rauch in den Himmel aufsteigen, werden abgelöst von der grotesken Musik des KZ-Orchesters, die sich umschlingenden Hände finden sich in der Liebesbegegnung ebenso wie im Sterben, die Hochzeitsliturgie, die immer wieder unterbrochen wird, korrespondiert mit dem Sh’ma Jisrael, dessen Rezitation durch die Sterbenden der Erzähler unterbricht, indem er die Namen von Vernichtungslagern in die Verse des Gebets hineinmontiert. Der Traum nimmt also die bevorstehende Katastrophe durch das abrupte Umkippen vom Glücks- in den Alptraum vorweg. Aber nicht nur das. Bereits die Schilderung des glücklichen Traumerlebens selbst, der erste Teil des Traums, ist voller Motive und Anspielungen auf das Bevorstehende: Auch auf einer dritten Ebene wird die Shoah vorausgeträumt; jedoch in einer irritierenden zeitlichen Konstruktion.35 Dafür muss man die Ereignisse des Hochzeits-Traums rückwärts lesen: Der Weg in die Ehe zeichnet, umgekehrt zurückverfolgt, den Weg in die Gaskammer nach. Die Ereignisse führen dann nämlich von der gleichgültigen oder feindlichen Bevölkerung über die Bahngleise, lange Prozessionen aus mit Gepäck beladenen Jüdinnen und Juden und ihre gemeinsamen Gebete sowie den Rauch, der zum Himmel aufsteigt, bis direkt vor die Tür des Gemachs, vor der die Menschen sich wartend aufreihen und in dem das Brautpaar so eingepfercht ist, dass es kaum noch Luft bekommt, bevor 31 32 33 34

Schwarz-Bart: Justes, S. 385. Vgl. Langer: Holocaust Testimonies, S. 261. Schwarz-Bart: Justes, S. 393. Das Motiv der erlöschenden, aber noch lange leuchtenden Sterne, das Anfang und Ende des gesamten Romans markiert, findet sich auch innerhalb dieser Traumerzählung wieder. 35 Vgl. Lawrence Langer: „The novel […] dramatizes the need for fresh examination of temporal reality that the Holocaust has imposed on the human imagination.“ Langer: Holocaust Testimonies, S. 265.

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sich der Himmel weitet und der Atem bis zu den Sternen aufsteigt. Nachdem das Gesicht der Braut sich auflöst, endet das Geschehen, so gelesen, schließlich mit dem Tauchbad des Bräutigams in der Mikwe. Vor dem Eintauchen müssen Kleidung, Schmuck und alles andere, was nicht zum Körper gehört, vollständig abgelegt werden – unter dem Blick des Wärters, der in diesem Zusammenhang sogar den Handel mit reinigenden Seifenstücken zum Gesprächsthema macht. Somit entsteht durch Wiederholungen, Umkehrungen, Spiegelungen und Variationen von Motiven, die eindeutig im Zusammenhang mit der Shoah stehen, eine irritierende Vieldeutigkeit des Traums.36 Dieser kann oder muss in mehrere Richtungen gelesen werden, er weist ebenso voraus wie zurück und schließt darüber hinaus die gegenwärtige Situation im Lager mit ein, in der Ernie träumt.37 Allen drei zeitlichen Dimensionen kommt derselbe Wirklichkeitsstatus zu. Dieser bewegt sich zwischen göttlicher Prophezeiung, traumatischer Wiederholung, Vorahnung der bevorstehenden Katastrophe und Widerspiegelung der gegenwärtigen Realität.38

Träume in D. M. Thomas’ The White Hotel [1981] In The White Hotel spielen Träume eine derart zentrale Rolle, dass sie hier nicht einzeln analysiert und interpretiert werden können. Sie erweisen sich als durchgehender Handlung-, Wahrnehmungs- und Reflexionsstrang des gesamten Romans. Im Grunde handelt es sich dabei stets um dasselbe, wiederkehrende Traumerlebnis der Hauptfigur.39 36 Nach Judith Klein gilt dies nicht nur für die Traumerzählungen, sondern für den Roman als Ganzen: „In jeder Situation ist künftiges Leiden angedeutet und vergangenes Leid aufgehoben. Reaktualisierung von Archetypen und Präfiguration kommender Verfolgung verbinden alle Episoden. Durch Wiederholung bestimmter Schlüsselworte, durch mehrfache Wiederkehr oder Spiegelung von Situationen und Reaktionen […] verkettet André Schwarz-Bart die historisch unterschiedlichen und, so legt er nahe, doch immer gleichen Erfahrungen.“ Klein: Literatur und Genozid, S. 100. 37 Ich schließe hier an das Konzept der „multidirectional memory“ von Michael Rothberg an, der sich mit den Anachronismen und den „dilemmas of chronology and tradition provoked by a millennium of Jewish history“ auseinandersetzt. André Schwarz-Barts Roman bezeichnet er als Verbindung aus „a strong drive forward of historical continuity“ und „a ghostly discontinuity“. Rothberg: Traumatic Realism, S. 105–196, hier S. 107 und S. 105. 38 Zum Traum im Roman Schwarz-Barts zwischen „documented fact, fictive material and metaphor“, vgl. auch Neil R. Davison: „Inside the Shoah: Narrative, Documentation, and SchwarzBart’s The Last of the Just“, in: Clio 24/3 (1995), S. 291–322, hier S. 315–316. 39 Vgl. Marc Ledbetter: „The Body Human and the Body Community: Getting the Story Write/ Right in D. M. Thomas’s The White Hotel“, in: Marc Ledbetter: Victims and the Postmodern

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Es findet sich im ersten Kapitel etwa als 14-seitiges Gedicht, mit dem die Protagonistin einen Traum wiedergibt, der in provozierend-pornographischer Weise zwischen rauschhafter Lust- und brutaler Gewaltphantasie schwankt. Zentrale Motive sind etwa das Fallen von sterbenden, in sich verknäuelten Menschen, Schmerz- und Lusterleben sexueller Penetration, Vater-, Mutter-, Zwillings- und unterschiedlichste Liebhaberfiguren, fragmentierte, sich verselbstständigende Körperorgane, wie die linke Brust und die Gebärmutter der Träumenden. Das zweite Kapitel stellt die Umformung dieses Eingangstraums von der lyrischen in eine narrative Form dar: Die Protagonistin folgt hier der Aufforderung ihres Analytikers Sigmund Freud, den Traum zu erklären. Während einzelne Episoden des Traums zunächst tatsächlich in ein realistisches Setting überführt werden, nimmt auch diese Erzählung im Verlauf des Kapitels immer onirischere und halluzinatorischere Züge an.40 Der dritte Teil schließlich behandelt dieselbe Traumthematik gewissermaßen wissenschaftlich; nämlich aus der Perspektive des professionellen Traumdeuters: Das Leiden der Protagonistin Lisa Erdman – ihre Schmerzen in Brust und Unterleib – wird hier von Sigmund Freud selbst als Fallgeschichte der „Frau Anna G.“ präsentiert. Damit führt er zugleich sein Verfahren der Traumdeutung vor. Bezeichnenderweise macht Freud dabei auch seine frühe Traumatheorie des „shell-shocks“ zum Thema41, die er am Beispiel der „Kriegsheimkehrer-Neurosen“ entwickelt hatte, weil ihn der Gesichtsausdruck seiner Patientin an traumatisierte Soldaten erinnert. Kurz erwägt er auch die Möglichkeit von „proleptic dreams“ oder „second sight“.42 Letztlich jedoch fügt er das (Traum-)Verhalten in sein bereits bestehendes Konzept des „universal struggle between life instinct and death instinct“ ein.43 Im darauffolgenden Kapitel erzählt die Hauptfigur Lisa ihre Träume in Briefen an Freud noch einmal neu, mit größerem zeitlichem Abstand. Indem sie

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Narrative or Doing Violence to the Body. An Ethic of Reading and Writing, New York: Palgrave Macmillan 1996, S. 72–87. David Cowart spricht von einer „strategy of doubling, mirroring and paralleling of narrative details“, die zu einem „effect of infinity“ führe, „like a narrative box with several peepholes, extra mirrors, and a large number of objects for multiple reflection“. David Cowart: „Being and Seeming. The White Hotel“, in: Novel. A Forum on Fiction 19/3 (1986), S. 216–231, hier S. 221. Thomas: Hotel, S. 118. Thomas: Hotel, S. 111. Einer eingehenderen Erörterung bedürfte in diesem Zusammenhang Freuds Konzept der Nachträglichkeit, das er im Zusammenhang mit seiner Traumatheorie v. a. auf der Grundlage des Traumes vom Wolfsmann entwickelt. Jedenfalls spielt das Prinzip der Nachträglichkeit im Roman eine Rolle (z. B. White: Hotel, S. 99–100). Lisa berichtet Freud etwa, dessen Fallgeschichte des Wolfsmanns gelesen zu haben, und sie begegnet dem Patienten sogar kurz im Treppenhaus von Freuds Praxis (White: Hotel, S. 113). Vgl. auch Vice: Holocaust Fiction, S. 36–37. Thomas: Hotel, S. 129.

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eingesteht, das Traumgeschehen in der Kur falsch, verzerrt oder lückenhaft wiedergegeben zu haben, erscheint es rückwirkend in einem neuen Licht.44 Eine zusätzliche Traumpointe erhält dieses Briefkapitel dadurch, dass einer von Lisas Träumen auch den bevorstehenden Tod von Freuds Tochter Sophie vorwegnimmt. Damit verkehren sich zwischenzeitlich die Rollen: Die Hauptfigur sieht oder ahnt im Traum etwas voraus, das Freud noch nicht begreifen kann (oder will) und logischerweise auf seine Patientin und deren familiäre Vergangenheit bezieht. Das fünfte Kapitel des Buches erweist sich als das zentrale: In einer Erzählhaltung, die sich zwischen dokumentarisch-sachlichem Tatsachenbericht und interner Fokalisierung des Geschehens auf die Protagonistin bewegt, wird der tödliche Weg von Lisa und ihrem Stiefsohn aus dem Kiewer Ghetto in die Schlucht von Babi Yar beschrieben, und zwar in allen entsetzlichen Details. Diese kommen der Hauptfigur allerdings vor, als geschähe ihr das Unheil nicht wirklich, sondern als erlebe sie einen Alptraum, derart unvorstellbar erscheint ihr das Massaker: Lisa remembered a prayer her nurse had taught her, to protect her from nightmares: ‚You who are Saviour …‘ There are things so far beyond belief that it ought to be possible to awake from them. But, although the prayer helped her a little, the nightmare continued. The world was a world of little children being hurled over a wall like sacks of grain being thrown on to a waggon; of the soft flesh being flailed as peasant women flailed drying clothes; the shiny black boot tapped by the black whip of the bored officer standing in front of the knoll. ‚You who are Saviour.‘ She felt helpless to help Kolya. There was nothing to do but to pray selfishly that the other might be killed, with merciful speed. She prayed this selfish prayer continuously. […] She passed into a trance, in which everything that was being enacted before her happened slowly and without sound. Perhaps she had literally become deaf. It was quieter than the quietest night. And the clouds drifted across the sky with the same terrible, icy, inhuman slowness. Also, there where changes of colours. The scene became tinted with mauve.45

Auch Lisa erzählt, wie Ernie aus Le dernier des Justes, dem Kind unmittelbar vor der Ermordung vom Ende aller Qual im Jenseits. Mit dem gewichtigen Unterschied allerdings, dass diese jenseitige Welt in einem an das Massaker anschließenden letzten Kapitel auch tatsächlich als traumhafte Vision vom gelobten Land, gewissermaßen als Wunsch- und Sterbetraum, erzählt wird. In dieser Jenseits-Utopie wird Lisa von ihren Schmerzen geheilt, trifft ihre Mutter wieder, ja sie begegnet sogar dem von Kieferkrebs entstellten Freud, dessen Krankheit bereits in ihren Träumen vorgekommen war. Und wie bei Schwarz-Bart überlagern sich Traum- und Wachwelt im Erleben der Gewalt. Eines der bekanntesten 44 Thomas: Hotel, S. 83. 45 Thomas: Hotel, S. 245.

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Traummotive, das des Fallens, wird hier in die historische Wirklichkeit des Genozids überführt: It seemed to her that she fell for ages—it was probably a very deep drop. When she struck the bottom, she lost consciousness. She was at home, at night, lying on her right side, half dreaming, and the cockroaches were rustling on the walls and underneath the bed. The rustle of the cockroaches filled her mind. Then she started to understand that the sound came from the mass of people moving slightly as they settled down and were pressed tighter by the movements of the ones who were still living. She had fallen into a bath of blood. She lay on her right side, and her right arm lay under her, at an unnatural angle. It did not hurt. She could not move or turn, because something else, presumably another body (perhaps Kolya), was trapping her right hand. She felt no pain anywhere. Apart from the rustling, there were other strange subterranean sounds, a dull chorus of groaning, choking and sobbing. She tried to call her son’s name, but no voice would come.46

Dieses fünfte Kapitel bildet den eigentlichen Knotenpunkt des Romans, weil hier die Träume Lisas in einen logischen Erklärungszusammenhang überführt werden. Die Shoah entschlüsselt rückwirkend das lebenslange Leid Lisa Erdmans und liefert die nachträgliche Übersetzung der zahlreichen Symptome in die historische Realität:47 Lisa fällt, als sie von der SS beschossen wird, in die Schlucht, wird dort, noch lebendig, von ukrainischen Soldaten in die Brust getreten und mit einem Gewehr vergewaltigt, bevor sie schließlich stirbt. Spätestens an dieser Stelle des Romans zeigt sich also: Das Traumerleben Lisas speist sich weniger aus der familiären Geschichte, denn aus ihrem bevorstehenden Schicksal. Diese Zukunft offenbart sich allerdings nicht in Form einer Prophezeiung, wie sie der erste der Gerechten bei Schwarz-Bart erfährt. Das Vorausträumen der Shoah nimmt hier eine sehr viel konkretere, körperliche Form an. Die Figur erlebt sie bereits im Voraus am eigenen Leib:48 Lisas Leben scheint aus einer einzigen Wiederholungsschleife der Gewalt zu bestehen. In ihren Träumen werden Motive, Figuren, körperliche Empfindungen und sinnliche Erfahrungen immer wieder neu kombiniert, aneinander gespiegelt und vervielfacht, ineinander verschachtelt, umgekehrt oder umgedeutet.

46 Thomas: Hotel, S. 247–248. 47 Vgl. hierzu die überzeugende Analyse der zeitlichen Dimensionen im Roman, die in den jeweiligen Variationen der Traummotive aufscheinen, in Weibel: Reconstructing the Past, v. a. S. 55–61. 48 Zum Körperwissen Lisas, das Freuds Theorie der Psychoanalyse weitgehend ignoriere, weil es die Symptome in Worte übersetzt, vgl. auch Ledbetter: The Body Human, S. 81.

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Am Schluss des Babi-Yar-Kapitels zeigt sich die doppelte Funktion der Träume, in denen die Shoah bereits enthalten ist:49 Zum einen nehmen die Alpträume das Bevorstehende vorweg und lassen es – zumindest für die Erlebende selbst  – als etwas Unausweichliches erscheinen. Zum anderen wird deutlich, dass es sich offensichtlich nicht nur um ein individuelles Traumerleben handelt.50 Es steht darüber hinaus für die Träume all jener, die nicht überliefert und vermittelt werden, die den Genozid nicht mehr bezeugen können: The soul of man is a far country, which cannot be approached or explored. Most of the dead were poor and illiterate. But every single one of them had dreamed dreams, seen visions […]. If a Sigmund Freud had been listening and taking notes from the time of Adam, he would still not have explored even a single group, even a single person. And this was only the first day [of the Babi Yar massacre]. A woman did scramble up the ravine side, after dark. It was Dina Pronicheva. And when she grasped hold of a bush to pull herself over, she did come face to face with a boy, clothed in vest and pants, who also had inched his way up. He scared Dina with his whisper: ‚Don’t be scared, lady, I’m alive too!‘ Lisa had once dreamt those words, when she was taking the thermal springs at Bad Gastein with Aunt Magda. But it is not really surprising, for she had clairvoyant gifts and naturally a part of her went on living with these survivors. Dina, and the little boy who trembled and shivered all over. His name was Motya. Motya was shot by the Germans while shouting a warning to the lady, whom he now looked upon and loved as his mother, because she was kind to him. Dina survived to be the only witness, the sole authority for what Lisa saw and felt. Yet it had happened thirty thousand times, always in the same way and always differently. Nor can the living ever speak for the dead. The thirty thousand became a quarter of a million. A quarter of a million white hotels in Babi Yar.51 49 „By directing the reader through various revisions, [the dream] traces the traumatic resonance of what it means to be Jewish before and after World War II.“ Yildiz: Can the living, S. 186. 50 Dieses Problem steht im Fokus der Analyse von Larisa Muraveva: „Mise en abyme as a representation of trauma. The White Hotel by D. M. Thomas“, in: The New Philological Bulletin 39/4 (2016), S. 37‒45, hier S. 40–41. 51 Thomas: Hotel, S.  250–251. Kursivsetzungen im Original. Der Augenzeuginnenbericht der vermutlich einzigen Überlebenden des Massakers, Dina Pronicheva, ist die Grundlage für Anatoly Kuznetsovs Roman Babi Yar. A Document in Form of a Novel aus dem Jahr 1966. Zur problematischen Frage der Vereinnahmung autobiographischer Zeugnisse für die fiktionale Shoah-Darstellung hat sich eine breite Debatte um Thomas’ Roman entsponnen, in die sich der Autor auch selbst rechtfertigend eingebracht hat. Die differenzierteste Auseinandersetzung mit dieser Plagiat-Frage unternimmt James E. Young. Er kritisiert zum einen, dass sich The White Hotel auf Zeugnisse zweiter Hand stützt, zu denen nicht nur Opfererzählungen, sondern auch fotografische Zeugnisse der Mörder zählen. Zum anderen zeigt er, inwiefern sich der Autor bei seinem Versuch, das Problem der Nicht-Zeugenschaft zu umgehen, die Stimme Dina Pronichevas lediglich als Stilmittel angeeignet habe, was Young zufolge einem „rhetorischen Trick“ gleichkomme. James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Nar-

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Freud liegt mit seinen Deutungen also nicht unbedingt falsch – die Träume lassen sich innerhalb seines Erklärungssystems aus sexuellen und ehrgeizigen Wünschen, schmerzlichen Mutterkomplexen, der Urszene, der Spannung zwischen Eros und Thanatos und hysterischen bzw. anorektischen Symptomen tatsächlich relativ konsequent aufschlüsseln. Doch die Shoah sprengt als historisches Ereignis, als individuelle Erfahrung und als kollektives Trauma dieses Narrativ auf:52 Sie stellt kausallogische Zusammenhänge infrage, ersetzt Chronologie und Linearität durch traumatische Wiederholungsstrukturen, hebt zeitliche und räumliche Koordinatensysteme aus den Angeln und zerstört sämtliche Trennlinien, mit denen sich inneres und äußeres, subjektives und objektives, wahres und falsches, wirkliches und geträumtes Erleben unterscheiden lassen.53

Träume in Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated [2002] Motive in zahllosen Variationen, diegetische Verschachtelungen, Verflechtungen mehrerer Erzählstränge und verdoppelte, sich gegenseitig spiegelnde Figuren kennzeichnen auch Everything is Illuminated, den Erstlingsroman von Jonathan Safran Foer. Auch hier gehen Sexualität und Gewalt eine unauflösliche Verbindung ein, weil die Vergewaltigung zur Metonymie für den Genozid wird; eine auffällige Parallele zu The White Hotel, welche die Leserin aufgrund der zahlreichen voyeuristischen Passagen der Romane einigermaßen konsterniert zurücklässt. Auch hier wird das Spannungsverhältnis zwischen Fakt und Fiktion rative and the Consequences of Interpretation, Bloomington/Indianapolis 1990, S. 51–63, zum „rhetorical move“ vgl. S. 56. 52 „It is the presentiment of a future trauma that brings Lisa’s sufferings, which might signal for a new understanding of trauma where one can be affected from it without actually experiencing it personally, different from the traditional understanding of trauma where the victim’s reaction to a past psychic or physical wound, a reaction that s/he may not be aware of is under concern.“ Yildiz: Can the living, S. 186. Marc Ledbetter stellt die These auf, dass der Roman im Grunde Freuds blinde Flecken gegenüber dem Judentum vor Augen führe, welches dieser vor allem mit Blick auf die eigene jüdische Identität verdränge. Ledbetter: The Body Human, S. 82–85. 53 Auf der Basis der Traumastudien von Lars Ole Sauerberg, Dori Laub und Cathy Caruth erklärt Cates Baldridge die „proleptic stigmata“ in Thomas’ Roman mit der von Freud noch verkannten kollektiven Dimension des Traumas. Er interpretiert sie im Zusammenhang mit den aktuellen Diskursen zur Posttraumatischen Belastungsstörung. Dabei weist er dezidiert auf „the Holocaust’s uniqueness“ hin, welche die wissenschaftlichen Diskursgrenzen überschreite. Cates Baldridge: „The White Hotel: trauma recovery, and the question of the Holocaust’s uniqueness“, in: Holocaust Studies 24/4 (2018), S. 488–502.

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programmatisch ausgestaltet. Und auch hier lässt sich am Beispiel der vielen im Roman notierten Träume, besonders eines Traums, zeigen, wie die Shoah als Vorausdeutung, Rückgriff, Wiederholung und stets von Neuem bevorstehendes Hereinbrechen der Katastrophe in Szene gesetzt wird. Der Roman besteht aus mehreren Erzählsträngen. Sie alle kreisen um das Problem der Spurensuche, der nicht rekonstruierbaren Quellen, des fehlenden Ursprungs und der Shoah als blindem Fleck. Die jugendliche Schriftstellerfigur Jonathan Safran Foer begibt sich von den USA aus auf die Suche nach dem vernichteten Shtetl Trachimbrod, in dem sein Großvater gelebt hat. Begleitet wird er auf seiner Reise von Alex, einem ukrainischen Dolmetscher, der ein sehr brüchiges und höchst eigenwilliges Englisch spricht. Mit von der Partie ist außerdem Alex’ angeblich blinder Großvater, der selbst aus der Nähe von Trachimbrod stammt. Dass er, um dem Tod zu entgehen und seine eigene Familie zu schützen, den besten Freund an die SS-Schergen verraten hat, gibt der holperige, von krassesten Idiosynkrasien durchzogene Reisebericht Alex’ nach und nach preis. Das bisher unter Verschluss gehaltene Geschehen tritt in dem Maße zutage, in dem den Reisenden ihr eigentliches Ziel immer mehr abhandenkommt. Denn letztlich werden weder das Shtetl noch die Retterin des Großvaters gefunden, dafür allerdings eine andere Überlebende. Diese erzählt ihre eigene Geschichte, in die auch der ukrainische Großvater involviert ist. Die sprachliche und narrative Unzulänglichkeit, mit der Alex diese Reise wiedergibt, steht für das grundsätzliche Problem der Übermittlung – einer stets misslingenden Übersetzung der Ereignisse in eine gemeinsame Sprache. Linguistische Idiosynkrasien des Erzählers, syntaktische und  – wie in Foers Werk so häufig  – typographische Auffälligkeiten machen die grundsätzliche Sprachlosigkeit bzw. die unmögliche Wiedergabe des Genozids deutlich. Träume sind auf dieser Erzählebene insofern ein Thema, als der Großvater im Traum offensichtlich Dinge wahrnimmt, die er im Wachleben verdrängt oder verleugnet und die sich alle anderen Beteiligten nicht vorstellen können.54 Der zweite Erzählstrang besteht aus den Briefen, die Alex nach der Reise an den in die USA zurückgekehrten Foer schreibt. Sie unterstreichen die grundsätzliche Subjektivität, Perspektivengebundenheit und Distanz der Nachgeborenen. In diesen Briefen spielen Träume nur indirekt eine Rolle; etwa, indem Alex’ pubertäre Wunschträume zutage treten oder er den Freund daran erinnert, dass es die Pflicht der Träumenden sei, besonders wichtige Träume sorgfältig zu deuten. Den dritten Erzählstrang bildet die von der Schriftstellerfigur Foer erdachte Legende des Shtetls Trachimbrod, die sich zwischen Magischem Realismus, Groteske, Picaro-Roman, fiktiven Dokumenten der jiddischen Gemeinschaft

54 Foer: Everything, S. 114.

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und talmudischer Gelehrtenweisheit bewegt.55 Das Scheitern, zu den Wurzeln der eigenen Familie zurückzukehren, kompensiert die Schriftstellerfigur also mit einer erfundenen Ursprungslegende. Zu den intradiegetischen ‚Geschichten in der Geschichte‘, aus denen sich die Legende von Trachimbrod zusammensetzt, gehören auch diverse Bücher, die von den Shtetl-Bewohnern gemeinschaftlich verfasst werden, etwa The Book of Occurences. Dieses gibt einzelne Episoden des Shtetls wieder, welche im Laufe der Generationen zu Traditionen und Ritualen geworden sind; vor allem das Trachimfest mit seiner Goldsuche im Wasser. Bei diesem Fest wird in einer aufwendigen Inszenierung Trachims Unfall im Fluss von 1791, die mysteriöse Wassergeburt des Mädchens Brod und das Eintauchen der Shtetlbewohner in den Strom alljährlich spielerisch-rituell wiederholt. Die jüdische Bevölkerung stürzt sich johlend ins Wasser, um zwischen den Überresten des Unfalls nach Schätzen zu suchen und damit die Gründung des Shtetls zu feiern. Ein anderes Werk innerhalb dieses Erzählstrangs ist das neunbändige Book of Recurrent Dreams: In diesem Buch wird seit 1791 aufgeschrieben, was die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner über Generationen hinweg immer wieder träumen.56 Die Nummerierung der Einträge weist auf Tausende von wiederkehrenden Träumen hin. Zahlreiche davon werden, typographisch deutlich markiert, im Roman selbst wiedergegeben. Der Großteil dieser Träume steht, so scheint es, in irgendeiner Verbindung zur Shoah; sei es durch Assoziationen und Symbole, sei es durch traumrelevante Intertexte oder durch die apokalyptische Vorwegnahme der gewaltsamen Auslöschung des Shtetls. Hier einige Beispiele: Auch bei Foer finden sich, wie bei D. M. Thomas, das Motiv der fallenden Bäume oder Vergewaltigungs- und Sterbeträume.57 Erzählt wird aber auch eine Art umgekehrter Traum von der Jakobsleiter, in dem die schlafwandelnden Engel von den Menschen träumen, statt Jakob von den Engeln: 4:513—The dream of angels dreaming of men. It was during an afternoon nap that I dreamt of a ladder. Angels were sleepwalking up and down the rungs, their eyes closed, their breath heavy and dull, their wings hanging limp at the sides. I bumped into an old angel as I passed him, waking and startling him. He looked like my grandfather did before he passed away last year, when he would pray each night to die in his sleep. Oh, the angel said to me, I was just dreaming of you.58

55 Zu diesen literarischen Schreibweisen und Gattungen vgl. Jenni Adams: „The Dream of the End of the World: Magic Realism and Holocaust History in Jonathan Safran Foer’s Everything is Illuminated“, in: Clio 39/1 (2009), S. 53–77. 56 Ulla Haselstein zufolge ist Foers „Book of Recurrent Dreams“ eine Anspielung auf Edmond Jabès’ Buch der Fragen, in dem es um das rituelle Erinnern an ein immer wieder von Neuem Vergessenes geht. Haselstein: Rücksicht auf Darstellbarkeit, S. 203. 57 Z. B. Foer: Everything, S. 272. 58 Foer: Everything, S. 37–38. Kursiv- und Fettsetzung im Original.

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Besonders vielsagend ist der „Dream of disembodied birds“, weil er deutliche Parallelen zu Freuds „Traum vom brennenden Kinde“ aufweist, der in der Forschung mit einiger Berechtigung auch als proleptischer Shoah-Traum gedeutet wurde.59 Eine herausragende Stellung nehmen Träume ein, die von paradoxer Zeitwahrnehmung handeln. Sie kehren also nicht nur als Träume immer wieder und finden darum Eingang in The Book of Recurrent Dreams, sondern sie stellen selbst zeitliche Kategorien wie Chronologie oder Linearität infrage: beispielsweise der Traum, dass sich im Sterben der eigene Tod unzählige Male wiederholt, dass der Träumer im Wasser nicht das eigene Gesicht erblickt, sondern das des Vaters, der seinen eigenen Vater sieht; eine mise en abyme, die sich „backward to the beginning of time“ fortsetzt.60 Daher ist es nur folgerichtig, wenn auch die zahlreichen Gespräche, welche zwischen den Shtetl-Bewohnern unter der Leitung des Rabbiners geführt werden, komplizierte Traumreflexionen zum Gegenstand haben. Etwa, dass man, um neue Träume notieren zu können, zunächst in der Lektüre der Traumbücher rückwärts gehen müsse,61 oder dass der Unterschied zwischen Erinnerung, Traum- und Wachwelt durch einen stetigen Kreislauf der Träume aufgehoben wird: „Memory and reproduction. And dreams, of course“, sagt der Rabbi, „What is being awake if not interpreting our dreams, or dreaming if not interpreting our wake? Circle of circles! Dreams […].“62 Während eine Erzählrichtung also von der Gegenwart in die Familien-Vergangenheit verläuft, bis zurück zur Auslöschung des Shtetls, bewegt sich die Trachimbrod-Legende in die umgekehrte Richtung: von der Gründung des Shtetls bis zu seiner Vernichtung. Aber immer laufen die Erzählfäden auf die Shoah zu, ohne diese jedoch selbst direkt und unmittelbar wiedergeben zu können. Die entscheidende Verbindung zwischen allen narrativen Strängen stellt der „Traum vom Ende der Welt“ dar, weil er quer zu den sich überlagernden zeitlichen Ebenen verläuft.63 Bezeichnenderweise wird auch er, wie der ‚Traum 59 Der Traum umfasst eine knappe Druckseite und wird hier nur resümierend wiedergegeben: Ein Vater wacht trauernd über den toten Sohn. Ein herabstürzender Vogel hinterlässt im Trauerzimmer einen Abdruck an der Scheibe. Dieser „negative bird“, sein Schatten, sein leerer Umriss verletzt alle, die seine Konturen nachzuzeichnen versuchen, und wird zum Sinnbild für Leere, Unerreichbarkeit und die schmerzliche Präsenz des Abwesenden. Foer: Everything, S. 38. Zu Freuds Traum vom brennenden Kinde vgl. die Überlegungen im gleichlautenden Kapitel von Judith Kasper: Der traumatisierte Raum, S. 57–77. 60 Foer: Everything, S. 40–41. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang auch der Traum der Babys, die von der Zeit vor ihrer Geburt träumen und das gesamte Wissen der Welt als Schlagzeilen aus Zeitungen auf ihre Haut tätowiert haben, und der Traum der Alten, die von der Zeit nach ihrem Tod träumen. 61 Foer: Everything, S. 37. 62 Foer: Everything, S. 36. Kursivsetzung der direkten Rede im Original. 63 „The magical and the traumatic coincide in ways which at once problematize the availability of extreme experience to conventional modes of historical knowledge and underscore the relevance of alternative modes of knowledge and representation in the attempt to articulate such experience.“ Als doppelte Vorausahnung sei daher der Holocaust in der Legende immer

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vom ersten der Gerechten‘ bei Schwarz-Bart, metadiegetisch in den Roman eingefügt, als Erzählung aus einem Buch im Buch. Er findet sich im Anschluss an die Stelle, an der Alex seinen Reisebericht abbricht: „(Here it is almost impossible to go on, because we know what happens, and wonder why they don’t. Or it’s impossible because we fear that they do.)“64 In der histoire folgen der Bombenhagel über Trachimbrod, im discours zwei Seiten mit leeren Zeilen, zwischen denen nur ein paar Satzfetzen zu erkennen sind. Anschließend übernehmen Fragmente aus dem Augenzeugenbericht der letzten Überlebenden von Trachimbrod den Fortgang der Erzählung – ein auffällig ähnliches (hier allerdings fiktionalisiertes) Verfahren, wie das Einfügen des Berichts von Dina Pronicheva bei D.  M.  Thomas. Schließlich wird der zitierte „Dream of the end of the world“ wiedergegeben:65 After the bombing was over, the Nazis moved through the shtetl. They lined up everyone who didn’t drown in the river. They unrolled a Torah in front of them. ‚Spit,‘ they said […]. Then they put all the Jews in the synagogue. (It was the same in every shtetl. It happened hundreds of times. It happened in Kovel only a few hours before, and would happen in Kolki in only a few hours.) A young soldier tossed the nine volumes of The Book of Recurrent Dreams onto the bonfire of Jews, not noticing […] that one of the pages fell out of one of the books and descended, coming to rest like a veil on a child’s burnt face: 9:613—The dream of the end of the world. bombs poured down from the sky exploding across trachimbrod in bursts of light and heat those watching the festivities hollered ran frantically they jumped into the bubbling splashing frantically dynamic water not after the sack of gold but to save themselves they stayed under as long as they could […] my safran picked up his wife and carried her like a newlywed into the water which seemed amid the falling trees and hackling crackling explosions the safest place hundreds of bodies poured into the brod that river with my name I embraced them with open arms […].66

Dieser Traum umfasst insgesamt ungefähr zwei Druckseiten, verzichtet auf Satzzeichen, stellt einzig die wörtliche Rede – das Bitten und Schreien der Sterbenden – mit Großbuchstaben heraus und endet mitten in der Zeile. Von den jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern des Shtetls wurde der Trauminhalt schon enthalten. Adams: Dream of the end, S. 70–71. Das Erzählen des Traumas als „entstellte Wiederholung und in der Nachträglichkeit seiner phantastischen Besetzungen“ vor dem Hintergrund „traumatischer Latenz der Historie“ analysiert Ulla Haselstein im Anschluss an Cathy Caruth und Anselm Haverkamp. Haselstein: Rücksicht auf Darstellbarkeit, S. 195. 64 Foer: Everything, S. 270. Klammern im Original. 65 „Eine mit dem Fortschreiten der erzählten Zeit zunehmend experimentelle Schreibweise hebt durch Techniken der Visualisierung die Synchronizität der Darstellung im Sinne einer doppelten zeitlichen Perspektivierung des Erinnerns und Vergegenwärtigens hervor.“ Haselstein: Rücksicht auf Darstellbarkeit, S. 202. 66 Foer: Everything, S. 272–273. Interpunktion und Hervorhebungen wie im Original.

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als immer wiederkehrend bezeichnet und schriftlich festgehalten. Nun, kurz vor dem Ende des Romans, wird er aus dem Book of Recurrent Dreams zitiert und macht so deutlich, dass die Shoah bereits über Generationen hinweg vorausgeträumt wurde. Erzählt wird der Traum von Brod selbst. Sie ist der Fluss und zugleich die mythologische Figur, welche die Verfolgten mit offenen Armen in sich aufnimmt. Die Shtetl-Bewohner stürzen sich auf der Flucht vor ihrer Erschießung also ins Wasser. Damit wiederholen sie das jährliche Trachimfest-Ritual und beenden es zugleich für immer. Eine der zahllosen Ertrinkenden ist die hochschwangere Frau des Schriftsteller-Großvaters Safran, die im Sterben noch ihr Kind zur Welt bringt. An diesem Punkt fallen Traumerlebnis, fiktional-legendenhafte Rekonstruktion und historisches Geschehen zusammen.67 Einerseits inszeniert der „Traum vom Ende der Welt“ das Grauen in apokalyptischen Bildern. Andererseits schließt er in seiner kreisförmigen Struktur  – genau wie der Traum im Roman von Schwarz-Bart und wie das selbstreferenzielle Erzählverfahren des gesamten Foer’schen Buchs – an den Ursprung der Legende an. Der Traum trägt Anfang und Ende der Geschichte des Shtetls in sich.68 Die Nabelschnur, die das Kind wieder auf den Grund des Flusses zurückzieht, bildet ein zentrales Motiv dieses Traums; die unauffindbare Nabelschnur Brods (und damit ihre ungeklärte Herkunft) stellt aber auch das entscheidende Thema der Ursprungslegende dar und kann als Leitmotiv des gesamten Romans gelten: ein sich endlos fortsetzender, sich immer weiter verschiebender Verweis auf das Unerreichbare, Nichterzählbare. Darauf machen auch Kapitelüberschriften wie „The end of the moment that never ends, 1941“, „The beginning of the world often comes“ und Rückwärts-Chronologien, die von 1941 bis 1791 verlaufen, aufmerksam.69 Somit werden kausallogische und teleologische Verknüpfungen von Ereignissen der Geschichte in einen immerwährenden Kreislauf überführt: In einen solchen „circle of circles“ ist das Schicksal des jüdischen Volkes eingebunden, in dem das Vergangene immer auch das Bevorstehende ist. Das, was sich ereignen wird, ist im Traum vorweggenommen, als Traum über

67 „Leben, Schreiben, Träumen, Erinnern, Wiederholen werden eins: die einzelnen Figuren treten immer wieder in das aus Traditionen und privaten Obsessionen gewirkte Muster der zerstörten Alltagswelt des Shtetls zurück. Auf diese Weise wird der Holocaust nicht als einmaliges Ereignis eines Zivilisationsbruches historisiert, sondern als Realisierung der Alpträume von Generationen erinnert: als ein Ereignis mit einer langen Vorgeschichte antisemitischer Gewalt, als ein Ereignis auch, mit dessen Wiederholbarkeit gerechnet werden muss.“ Haselstein: Rücksicht auf Darstellbarkeit, S. 203. 68 Mara Maticevic analysiert den Roman daher auf der Grundlage des „Postmemory“-Konzeptes von Marianne Hirsch; nämlich der ästhetischen Repräsentation und Wissensvermittlung von Trauma-Strukturen der Nachfolgegeneration als mehrfach vermittelt und dezentriert, indem der unmögliche Rückgriff durch eine proleptisch nach vorne gerichtete Erzählbewegung ersetzt wird. Maticevic: Fiktionalisierung, S. 245. 69 Foer: Everything, S. 253, S. 8, S. 267.

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Generationen hinweg schriftlich festgehalten und in der traumatischen Erfahrung stets gegenwärtig.70

Träume zwischen historischem Gedenken, Prophezeiung und flashback Die präsentierten Traumerzählungen weisen also alle dieselbe Ambivalenz auf: Sie schillern zwischen Schreckens-Vision und historischem Gedenken, zwischen Prophezeiung und traumatischem flashback. Selbstreferenzielle Passagen der Romane, typographische Lücken, multiperspektivisches, unzuverlässiges und elliptisches Erzählen führen vor Augen: Dem, was sich nicht direkt sagen lässt, nähern sich die Romane durch vielfältige Verfahren der Vermittlung, Übertragung, des Aufschubs oder durch zirkuläre Erzählstrategien an. Augenzeugenberichte, historiographische Fakten und Fiktion, Legenden, der Tanach und weitere grands récits werden jeweils zu einem einzigen Roman montiert. Ihre Form bildet kein organisches Ganzes, sondern stellt vielmehr die eigene Unvollständigkeit und den fragmentarischen Charakter des Werks explizit aus. Hier zeigt sich also jene unaufhebbare „Lücke in der Zeugenschaft“ der Shoah, von der Giorgio Agamben vorgeschlagen hat, ihr mit einem a-mimetischen und mehrstimmigen, gemeinsamen Erzählen zu begegnen.71 Vor diesem Hintergrund lassen sich die Traumerzählungen als Brücke zwischen verschiedenen Erzählmodi lesen; vor allem zwischen Dokumentation und Legende, die sich doch eigentlich gegenseitig ausschließen. Im Traumerleben verbinden sich individuelle Erfahrung und kollektive Vermittlung, mystische bzw. mythische und historiographisch verbürgte Ereignisse, historische Distanz und unmittelbare Gegenwärtigkeit. Die Aporien der Shoah lösen auch sie damit nicht auf. Aber sie können diese zumindest insofern narrativ ausloten, als sie der traumatischen Erfahrungsstruktur Rechnung tragen, die mit der erinnernden Rekonstruktion der Shoah notwendigerweise verbunden ist.

70 Francisco Collado-Rodriguez sieht in Foers Everything is Illuminated demnach, ganz ähnlich wie es in Le dernier des Justes der Fall ist, zwei verschiedene Geschichtskonzeptionen inszeniert: Während die mythische dazu beiträgt, das Ereignis als bereits vorweggenommenes und damit als unausweichlich zu betrachten, widme sich die realistisch-dokumentarische dem Erzählen von Singularität. Franciso Collado-Rodriguez: „Ethics in the Second Degree: Trauma and Dual Narratives in Jonathan Safran Foer’s Everything is Illuminated“, in: Journal of Modern Literature 32/1 (2008), S. 54–68, hier S. 57–58. 71 Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 32–33, S. 112 und S. 147.

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Wie breit die textuelle Basis ist, auf die sich dieser Traumtypus stützen kann, wäre an weiteren Primärtextanalysen zu untersuchen. Hier können etwa der sogenannte „Flügeltraum“ aus Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung oder die Traumpassagen aus Jorge Semprúns L’écriture ou la vie (vgl. Kapitel X) zusätzliche Erkenntnisse zutage fördern.72 Ob auch faktuale Traumberichte diesem Typus zugeordnet werden können, wäre freilich eine ganz andere Frage. In diesem Zusammenhang sei zumindest daran erinnert, dass Charlotte Beradt die von ihr protokollierten „Träume des Dritten Reiches“ als „seismographische Aufzeichnungen“ des beginnenden nationalsozialistischen Terrors bezeichnet hat (vgl. Kapitel  III).73 Gerade durch Traumdarstellungen in literarischen Texten, die sehr viel eindeutiger autobiographisch geprägt sind, als dies bei Schwarz-Bart, Thomas und Foer der Fall ist, ließe sich die Problematik noch sehr viel eingehender erörtern. So schlägt sich etwa bei Primo Levi die zeitliche Überlappung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem stets wiederkehrenden Alptraum nieder, der zudem durch seine Form der Einbettung in die Erzählung die zirkuläre Struktur seines autobiographischen Berichts in besonderem Maße hervorhebt (vgl. Kapitel X). In den Erzählungen „Der Ausflug der toten Mädchen“ von Anna Seghers und „Le Songe“ von Vercors lässt sich darüber hinaus feststellen, dass die komplexe Zeitgestaltung geradezu programmatisch dazu beiträgt, die Kluft zwischen historischem Ereignis und der erzählenden Wiedergabe dieses Ereignisses aufzuheben und dem Traumerlebnis damit eine überzeitliche Gültigkeit zuzusprechen (vgl. Kapitel VII und II). Gleichwohl liegt das eigentliche Potenzial der hier präsentierten fiktionalen Traumerfahrung in der komplexen literarischen Ausgestaltung und der narrativen Funktion innerhalb des Romanganzen. Kollektives Wissen über das geschichtlich Zurückliegende, das stets von Neuem drohende Hereinbrechen eines künftigen Ereignisses und die subjektiv erlebte Allgegenwärtigkeit des traumatischen Ereignisses lassen sich im erzählten Traum auf verdichtete Weise 72 Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung [1948], Frankfurt am Main: Fischer 1991 und Jorge Semprún: L’écriture ou la vie, Paris: Gallimard 1994. Weitere Beispiele bietet auch Rudolf Leonhards In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils, Berlin: Aufbau 2001. In traum- und traumatheoretischer Hinsicht legt Judith Kasper eine Studie zu diesem Problem vor, die gerade in ihrem erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Potenzial als bahnbrechend gelten kann: Mit äußerster literaturwissenschaftlicher Konsequenz liest sie u. a. Freuds „Traum vom brennenden Kinde“ als vorweggenommenen Shoah-Traum. Daraus entwickelt sie ihr Konzept eines „traumatisierten Raums“, mit dem sie zeigt, inwiefern die Geschichte der Zerstörung nie an ein Ende kommt und darum das „Unbewältigte“ nicht als logische zeitliche Abfolge, sondern als deren „Zersprengung“, als „unheimliche Ausdehnung“ gedacht werden müsse. Judith Kasper: Der traumatisierte Raum, v. a. S. 57–79. 73 Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 10. Vgl. auch Nadja Lux: ‚Alptraum: Deutschland‘. Traumversionen und Traumvisionen im ‚Dritten Reich‘, Freiburg: Rombach 2008, S. 12.

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inszenieren. Der Typus vorausgeträumten Shoah-Erlebens in fiktionalen Erzählungen kann diese zeit- und kausallogischen Verrücktheiten, die freilich historisch-politische und psychische Realitäten sind, in einen einzigen, subjektiv nachvollziehbaren Erfahrungsmodus überführen und damit zugleich ein kollektives Erkenntnismedium74 bereitstellen.

74 Reinhart Koselleck bezeichnet den Traum als ein „Erkenntnismedium der Struktur totalitärer Herrschaft“, und zwar in seinem Nachwort zu Beradt: Drittes Reich, S. 127.

IX. Unheimliche Traumschriften: Paula Ludwig und Philip Larkin

Lesen und Schreiben im Traum Lesen ist im Traum „äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich“, stellt Barbara Hahn fest.1 Demgegenüber hat die experimentelle Traumforschung gezeigt, dass Lesen und Schreiben im Traum zwar durchaus möglich sind.2 Sie spielen im Traumerleben jedoch, gemessen an ihrer Bedeutung in der Wachwelt, eine sehr untergeordnete Rolle.3 Zudem werden kaum jemals längere oder komplexe Texte verfasst oder entziffert.4 Solche Befunde zeigen: Die empirisch-psychologische und die kognitionswissenschaftliche Traumwissenschaft interessiert vor allem die Frage, ob und in welchem Umfang sich Lesen und Schreiben in der nächtlichen Traumaktivität niederschlagen. Das Geschriebene selbst rückt dabei selten in den Fokus. Die Psychoanalyse hingegen nähert sich dem Verhältnis von Schrift und Traum auf zwei anderen Ebenen: dem Traum als Sprache und der Sprache im Traum. Auf der ersten Ebene geschieht dies mit der Erkenntnis, dass der Traum insgesamt wie eine Sprache organisiert ist. So geht etwa Freuds Traumdeutung davon aus, dass der Traum eine Grammatik hat, dass er aus einem Netz an Buchstaben besteht, dass er wie ein Rebus, ein Buchstabenrätsel, funktioniert.5 Eine 1 2 3 4

5

Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 18. Inge Strauch/Barbara Meier: Den Träumen auf der Spur. Ergebnisse der experimentellen Traumforschung, Bern: Huber 1992, S. 93. Michael Schredl: Traum, München: Reinhardt 2008, S. 44. Allan Rechtschaffen: „The Single-Mindedness and Isolation of Dreams“, in: Sleep 1/1 (1978), S. 97–109, hier S. 107. Zu diesem Problem in der experimentellen Traumforschung vgl. zusammenfassend Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst, München: Fink 2014, S. 40–41. „Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe etwa ein Bilderrätsel (Rebus) vor mir  […].“ Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 284. Vgl. auch S. 112: Hier spricht Freud vom Traum als „Geheimschrift“, „in der jedes Zeichen nach einem feststehenden Schlüssel in ein anderes

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solche Perspektive hat zunächst nicht die Schrift als Trauminhalt im Blick.6 Auf der zweiten Ebene aber sind geträumte Worte im psychoanalytischen Traumdiskurs von herausragender Bedeutung, auch wenn es vergleichsweise selten um die graphische Gestaltung selbst oder um das Hervorbringen und Entziffern von materiell vorhandener Schrift geht.7 Der Entzifferungsprozess bewegt sich in der Psychoanalyse weniger auf die Materialität der Buchstaben zu; er nimmt diese eher zum Anlass, um in ganz andere Deutungssphären vorzudringen. In Ereignissen und Situationen liest Freud beispielsweise Begriffe, die selbst gerade nicht als Signifikanten in Erscheinung treten; Traumerfahrungen werden in sprachliche Bilder übertragen.8 Und konkrete Worte wiederum sind, gerade wo sie wörtlich genommen werden, vor allem in der Dimension uneigentlichen Sprechens von Belang.9 Freuds Deutung des Traums vom Buchstaben J macht den Umgang der Psychoanalyse mit der Zeichenhaftigkeit der Schrift beispielhaft deutlich:10 Der Vorname Josef eines im Traum erschienenen Freundes und ein Satz des Träumers, der die lateinischen Worte non vixit enthält, erinnert ihn an eine im Traum nicht selbst vorkommende Inschrift auf dem Kaiser-Josef-Denkmal der Wiener Hofburg. Diese wiederum führt den Analytiker auf verzweigten Wegen in ein kompliziertes Beziehungsverhältnis aus seiner Kindheit: Über das J des JosefDenkmals gelangt er zum Shakespeare’schen Julius Caesar und so zum Monat Juli, von hier aus zu Brutus als einer als Kind übernommenen Theaterrolle, die in Verbindung damit steht, dass er sich damals im Sommer mit seinem Cousin John geprügelt hat. Darüber wiederum kommt ihm das sexuell zweideutige Zeichen von bekannter Bedeutung übersetzt wird“. Zur Traumdeutung als „Chiffriermethode“ vgl. Sigmund Freud: Traumdeutung, S. 118. 6 Auch in der Psychoanalyse Lacans geht es ja weniger um Schrift im Traum bzw. um Schrift als Trauminhalt, sondern vielmehr um den Traum als Anlass zum Sprechen und um die Tatsache, dass der Traum als Ganzes, wie auch das Unbewusste, analog zu sprachlichen Prozessen strukturiert ist und das Subjekt vom Signifikantennetz der Sprache abhängt. Vgl. Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch  XI, Weinheim/Berlin: Quadriga 1987, S. 70–80 und 213. 7 Freud: Traumdeutung, S. 284–340. So tritt in der psychoanalytischen Traumforschung die Orthographie meist zurück hinter den Klang. Die Zeichenhaftigkeit des Traums ist in Freuds Traumdeutung aber freilich durchgängig Thema: In Verschiebungen, Ersetzungen oder Ergänzungen von Buchstaben, Wörtern oder ganzen Sätzen spielen die Signifikanten eine entscheidende Rolle. 8 Z. B. verweist ein deformierter, eingedrückter Säuglingsschädel darauf, dass etwas beim Träumer einen besonders tiefen „Eindruck“ hinterlassen hat. Freud: Traumdeutung, S. 405. 9 Wenn Freud etwa in der Nacht vor dem Begräbnis seines Vaters „von einer bedruckten Tafel, einem Plakat oder Anschlagzettel“ träumt, auf dem entweder zu lesen ist „Man bittet, die Augen zuzudrücken“ oder „Man bittet, ein Auge zuzudrücken“, so verweist die Unleserlichkeit der geschriebenen Worte aus der Sicht Freuds auf den unbewussten Wunsch des Sohnes, die Verwandtschaft möge Nachsicht üben angesichts des puritanischen Beerdigungszeremoniells. Freud: Traumdeutung, S. 321. 10 Freud: Traumdeutung, S. 418–422.

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Wort „Schlagen“ in den Sinn, das ihn zurückbringt zu dem im Traum gesprochenen non vixit. Denn hieraus leitet er nun den Begriff „Wichsen“ ab, der die emotionale Ambivalenz zwischen Feindschaft und Begehren gegenüber dem Freund zum Ausdruck bringt, von dem er geträumt hat. Man sieht: Nicht nur ist der Traum insgesamt ein Rebus; auch Worte im Traum funktionieren wie Rätsel mit einer Lösung, die erst durch eine komplexe Übertragungsleistung herausgearbeitet werden muss.11 Dort, wo die geträumte Sprache in ihrer Materialität sicht- oder hörbar wird, ist sie, wie die Traumdeutung zeigt, Objekt des interpretierenden Zugriffs durch den Analytiker; Sprachmaterial, das fest in Verweisungszusammenhänge und Bedeutungszuschreibungen eingewoben wird. Was geschieht nun aber, wenn solches Schriftmaterial aufsässig wird; wenn es sich der fixierenden Vereinnahmung durch Schreibende, Lesende oder Deutende entzieht? Davon handeln zwei literarische Traumtexte, die in diesem Kapitel miteinander verglichen und in einen wissenspoetologischen Kontext der Shoah gerückt werden sollen: ein Traumgedicht von Philip Larkin und ein Traumnotat von Paula Ludwig. Um das Gemeinsame dieser Traumtexte im Hinblick auf die Materialität der Schrift und ihre Funktion für die Artikulation von nur schwer kausal-logisch darstellbaren Erfahrungen herausarbeiten zu können, muss man die Aufmerksamkeit von der Materialität des Textes und dem Material im Text auf die Frage verschieben, wie diese Materialität des Textes im Text in Szene gesetzt ist.12 Mit Strässle und Torra-Mattenklott etwa lässt sich fragen, wie die Materialität der Schrift in erzählten Welten fingiert, thematisiert und reflektiert wird.13 In Anlehnung an wissenspoetologische Ansätze führt dies weiter zu der Überlegung, inwiefern literarisch inszenierte Materialität zudem ein eigenes Wissen hervorbringen kann, also am Prozess der Wissensgenerierung beteiligt ist.14 Und hieraus ergeben sich schließlich einige traumspezifische Fragen: Welche Formen des Wissens werden gerade durch die Traumgestalt der Texte eröffnet, weshalb wird die Schrift also gerade im und als Traum 11

„Nicht die stets identischen Buchstaben aus dem Arsenal elementarer Bausteine“, sagt PeterAndré Alt insofern über die Traumdeutung, „sondern die besonderen Strukturen ihrer Verknüpfung im Rahmen spezifischer Erzählmuster bilden den Gegenstand der psychoanalytischen Entzifferungsarbeit“. Peter-André Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München: Beck 2002, S. 323. Zur Entzifferung des Traums bei Freud bzw. dem Traum als „Hieroglyphenschrift“ vgl. ausführlicher Susanne Goumegou: Traumtext und Traumdiskurs. Nerval, Breton, Leiris, München: Fink 2007, S. 221–225. 12 Diesen Fragen hat Marcel Beyer einen Essay mit eigenen Traumaufzeichnungen gewidmet. Marcel Beyer: „Schreiben im Traum“, in: Christian Klein (Hrsg.): Marcel Beyer. Perspektiven auf Autor und Werk, Stuttgart: Metzler 2018, S. 1–7. 13 Vgl. Thomas Strässle/Caroline Torra-Mattenklott (Hrsg): Poetiken der Materie. Stoffe und ihre Qualitäten in Literatur, Kunst und Philosophie, Freiburg: Rombach 2005. 14 Yvonne Wübben: „Ansätze“ und „Forschungsskizze: Literatur und Wissen nach 1945“, in: Roland Borgards u. a. (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 3–16.

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inszeniert, und wie hängt diese Traumform mit dem historisch-politischen Kontext der Shoah zusammen?15

Materialität geträumter Schrift Thema der folgenden Überlegungen sind zwei literarische Träume, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft stehen und explizit von geschriebenen Wörtern oder Sätzen handeln. Bevor diese im Einzelnen analysiert werden, sei kurz der traumkulturelle Kontext umrissen. Bereits in den berühmten Traumprotokollen aus Charlotte Beradts Sammlung Das Dritte Reich des Traums (vgl. Kapitel III) finden sich in großer Zahl Träume von Schrift und graphischen Phänomenen: von unheimlichen Spruchbändern und Lautsprecherparolen, von sich aufdrängenden Zeitungsbalkenüberschriften und Plakaten, von gefährlichen Worten auf Notizzetteln, in Briefen und verdächtigen Büchern.16 Auch in Rudolf Leonhards Traumbuch des Exils, 2.500 Traumaufzeichnungen, in denen sich Verfolgung, Flucht, Internierung und Bedrohung durch die Nationalsozialisten unmittelbar niederschlagen, spielen geträumte Buchstaben, Worte und Sätze eine herausragende Rolle. Ihre Materialität und Medialität stechen hier noch sehr viel mehr ins Auge als in Beradts Notaten: Wir lesen beispielsweise von Worten auf eingeknickten Buchseiten, von lebendigen und plötzlich verschwindenden Buchstaben, sich veränderndem Schriftbild, verzerrten Satzspiegeln, getippten Worten auf widerspenstigen Schreibmaschinen oder von der Decke herabbaumelnden Satzfahnen.17 Einige Passagen dieser 15 Es ist auffällig, wie viele literarische Träume mit der Materialität der Zeichen spielen und ihnen dadurch eine besondere Rolle zuweisen. Dies gilt, über die in diesem Beitrag behandelten Texte hinaus, für zahlreiche weitere Traumtexte, die im selben Zeitrahmen entstanden sind. Vgl. Christiane Solte-Gresser: „Alptraum mit Aufschub. Ansätze zur Analyse literarischer Traumerzählungen“, in: Susanne Goumegou/Marie Guthmüller (Hrsg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 239–262. Dass sich diese Materialität nicht nur auf das lateinische Alphabet bezieht, sondern dass gerade auch hebräische Buchstaben in Zusammenhang mit Traumerfahrung oder kreativer Imagination gebracht werden, zeigt ein Roman von Aharon Appelfeld über die Traumerfahrung der Shoah. Aharon Appelfeld: Ha’ish she’lo pasak lishon, Jerusalem: Kinneret Zmora-Bitan Dvir 2010. Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2012. 16 Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S.  20, S. 32–33, S. 37, S. 42 u. a. 17 Rodolf Leonhard: In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils, Berlin: Aufbau, 2001, S. 72, S. 107, S. 171.

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Traumnotate, die zwischen Protokoll und Literatur oszillieren (vgl. Kapitel III), weisen, was ihre Themen, Motive, Situationen und die Atmosphäre existenzieller Bedrohung angeht, geradezu verblüffende Parallelen zu den folgenden Träumen von Philip Larkin und Paula Ludwig auf. Nur zwei Beispiele seien hier genannt: Eine Frau […] bekreuzigt sich […]. An der weissen Wand des gegenüberstehenden Hauses lehnt eine Leiter. Ein Pferd steigt einige ihrer Sprossen hinauf und zeichnet mit den beiden Vorderhufen links die Buchstaben I – E, rechts die Buchstaben S – U – S; ein Maler zeichnet rechts daneben sofort die Inschrift nach.18 Auf einer Liste werden Abschüsse und Initialen gesetzt […]; 20 und 21 repräsentieren wohl meine Initialen R und L. Ich habe recht gehabt mit der Behauptung, dass auf der Liste ‚die einzelne Wirkung‘ verfolgt wird. […]. Ich gebe an – beinahe gebe ich es zu – dass ich Schriftsteller bin. Auf der Strasse sage ich, ich wisse nun, dass ich heute Nacht nicht in den Kanal gestürzt werde! Die Vorstellung der glatten Kanalwand und des Gleitens ins Wasser ist schrecklich deutlich.  […] Ich muss unter Faschisten sehr vorsichtig sein.19

Für solche Texte scheint wiederum die berühmte Erzählung „Ein Traum“ von Kafka den entscheidenden Intertext zu bilden, in welchem  – genau wie bei Freuds Traum vom Freund Josef – der Buchstabe J eine zentrale Rolle spielt.20 Was sich bei Leonhard bereits zeigt, tritt in Träumen derselben Zeit, die dezidierter ästhetisch gestaltet sind, noch offensichtlicher zutage: Geträumte Buchstaben, Zeichen und Wörter literarischer Werke haben keine derart eindeutige Referenz in der Wachwelt, wie Reinhart Koselleck dies beispielsweise für die Beradt-Protokolle aus der nationalsozialistischen Diktatur angenommen hat.21 Sie sind auch nicht, wie in der psychoanalytischen Traumdeutung, auf eindeutige Enträtselung angelegt. Sie funktionieren vielmehr jenseits des individuellen, von den Träumenden, ihren Assoziationen und ihrem biographischen Kontext abhängigen Gehalts als ästhetische Artefakte. Aber auch sie fordern zur Interpretation heraus. Nicht als reale Träume – auch wenn sie sich zum Teil als solche geben –,22 sondern als Literatur. Und als solche stehen sie mit der Realität, etwa der historisch-politischen Wirklichkeit der NS-Gewaltherrschaft, wiederum in einem poetisch vermittelten und äußerst ambivalenten Zusammenhang. 18 19 20 21

Leonhard: In derselben Nacht, S. 4–5. Leonhard: In derselben Nacht, S. 38–39. Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main: Fischer 1970, S. 145–147. Reinhart Koselleck: „Nachwort“, in: Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 117–132, hier S. 121. 22 Paula Ludwig: Träume. Aufzeichnungen aus den Jahren zwischen 1920 und 1960, Ebenhausen bei München: Langewiesche-Brandt 1962, S. 5–8.

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Wenn Schrift stets auf etwas Abwesendes verweist, so gilt dies für die beiden ausgewählten Texte dieses Kapitels gleich in doppelter Weise: Es geht bei Paula Ludwig und Philip Larkin nämlich um Worte, die selbst wiederum etwas Abstraktes, Unfassbares, Metaphysisches bezeichnen. Der buchstäblich springende Punkt ist aber darüber hinaus, dass einzelne Lettern innerhalb des Traumgeschehens ein Eigenleben entfalten, dass sie etwas anderes tun als das, was man von ihnen erwartet. Sie werden, um Bruno Latour zu bemühen, mit Handlungsmacht ausgestattet, zu Akteuren in einem Netzwerk; insofern nämlich, als sie sich nicht in den ihnen zugedachten Raum einfügen mögen und die Handlungen und Gefühle derjenigen, die sie schreiben oder lesen, entscheidend beeinflussen, wenn nicht überhaupt erst hervorbringen.23 Betrachten wir also vergleichend das Gedicht Träumerei von Philipp Larkin und einen Text aus den Träumen von Paula Ludwig, der sich gattungspoetisch wohl am ehesten als ein poème en prose mit märchenhaften Zügen bezeichnen ließe. Beide sind mehr oder weniger gleichzeitig – in der unmittelbaren Nachkriegszeit  – entstanden, in beiden geht es um das Schreiben und Entziffern eines Wortes, das mit dem Großbuchstaben D beginnt. Eine interessante Querverbindung ergibt sich anlässlich des geträumten Buchstabens D damit übrigens auch zu Walter Benjamin. In einem Traum, den er am 11./12. Oktober 1939 in einem Brief an Gretel Adorno aus dem Lager Nevers wiedergibt, spielt die spezifische Stofflichkeit der Schrift – namentlich des Buchstabens D – eine besondere Rolle: Was ich erblickte, war ein mit bildlichen Zeichnungen gemustertes Stück Stoff. Hinsichtlich schriftgraphischer Elemente konnte ich einzig die oberen Partien des Buchstabens ‚d‘ genau erkennen. Sie verrieten in ihrer Langgezogenheit einen extremen Hang zur Spiritualität. Dieser Teil des Buchstabens war darüber hinaus mit einem kleinen blaugesäumten Segel ausgestattet, und dieses Segel blähte sich über dem Stoffmuster, als sei es von einer Brise erfaßt. Das war das einzige, was ich ‚lesen‘ konnte – das übrige bestand aus undeutlichen Wellen- und Wolkenmotiven. Das Gespräch konzentrierte sich für kurze Zeit auf diese Handschrift. Ob es hierzu klare Meinungen gab, habe ich nicht in Erinnerung. Demgegenüber ist mir ganz gewiß, daß ich unvermittelt dazu wörtlich auf Französisch sagte: ‚Il s’agissait de changer en fichu une poésie.‘24

In den Texten von Paula Ludwig und Philip Larkin werden die Träumenden schließlich durch das jeweilige Wort mit dem Buchstaben D von einer existen23 Vgl. Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. 24 Walter Benjamin: Träume, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 60–66, hier S. 65. Vgl. Burkhardt Lindner: „Nachwort“, in: Walter Benjamin: Träume, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 135–168, hier S. 149–150.

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ziellen Bedrohung erfasst. Sie laufen beide Gefahr, ganz wie in Rudolf Leonhards Traum, in einem unterirdischen Kanal weggespült oder erdrückt zu werden. In beiden Texten erweisen sich die Signifikanten zudem als widerspenstig und eigenwillig: Die graphische, lineare Darstellung des geträumten Wortes wird unterbrochen, verweigert, gestört; und eine solche Widerständigkeit löst eine Katastrophe aus. Diese selbst ist allerdings nicht näher greifbar; deutlich wird nur, dass sie weit über ein individuelles Schicksal hinausreicht.

Erscheinende Buchstaben bei Philip Larkin In this dream that dogs me I am part Of a silent crowd walking under a wall, Leaving a football match, perhaps, or a pit, All moving the same way. After a while A second wall closes on our right, Pressing us tighter. We are now shut in Like pigs down a concrete passage. When I lift My head, I see the walls have killed the sun, And light is cold. Now a giant whitewashed D Comes on the second wall, but much too high For them to recognise: I await the E, Watch it approach and pass. By now We have ceased walking and travel Like water through sewers, steeply, despite The tread that goes on ringing like an anvil Under the striding A. I crook My arm to shield my face, for we must pass Beneath the huge, decapitated cross, White on the wall, the T, and I cannot halt The tread, the beat of it, it is my own heart, The walls of my room rise, it is still night, I have woken again before the word was spelt.25

Philip Larkins Gedicht Träumerei von 1946 beschreibt einen Traum, in dem das lyrische Ich Teil einer anonymen Menschenmenge ist, die in unterirdischen, immer enger werdenden Gängen bestialisch zusammengepfercht wird. Auf einer Betonwand erblickt es weiß getünchte Buchstaben: Wie auf einer Kinoleinwand erscheinen und verschwinden gespensterhaft groß ein D, ein E, ein A und ein T – wobei das T als ein geköpftes Kreuz bezeichnet wird. In panischer 25 Philip Larkin: The Complete Poems, London: Faber & Faber 2012, S. 260.

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Erwartung des letzten Buchstabens erwacht das Ich in seinen eigenen vier Wänden. Der Text liefert mehrere Hinweise darauf, dass es sich um einen wiederkehrenden Alptraum handelt.26 Auch wenn der Bezug auf die Shoah vielleicht nicht ganz so eindeutig sein mag, wie Barbara Hahn dies annimmt,27 so liegt die Assoziation doch ausgesprochen nahe: „A second wall closes on our right,/Pressing us tighter. We are now shut in/Like pigs down a concrete passage“ (Verse 6–7).28 Zwar können die offensichtlichen intertextuellen Referenzen hier nicht im Einzelnen herausgearbeitet werden; angemerkt sei jedoch, dass sich zahlreiche Parallelen und Umkehrungen zu bekannten Traumtexten finden: Neben Kafkas Erzählung „Ein Traum“ entstehen beispielsweise Bezüge zum gleichnamigen Klavierstück aus Schumanns Kinderszenen, auf das bereits der deutsche Titel verweist, und zum Gedicht „A Dream of Death“ von William Butler Yeats. Darüber hinaus aber stechen die biblischen Verweise hervor, und zwar in einer eigentümlichen Mischung aus Altem und Neuem Testament, aus jüdischen und christlichen Referenzen.29 Ein Menschenzug kämpft sich, vom Tode verfolgt, wie durch ein Meer voran – doch kein Weg öffnet sich in die Freiheit. An der Wand erscheint menetekelhaft ein Schrecken verkündender Schriftzug, ein Buchstabenspiel, das nur der Träumer, nicht die Masse der Menschen als das drohende Ende entziffern kann. Eine Parallele entsteht hier zum Buch Daniel des Tanach, wo der Traumdeuter Daniel gebraucht wird, um die BuchstabenDrohung gegen Belsazar, den Sohn des Nebukadnezar, zu entschlüsseln (Dan 5,28). Deutlicher aber noch ist die Kreuzigung Jesu präsent: Der Himmel verdunkelt sich, die Verse „I see the walls have killed the sun,/And light is cold“ lassen sich aufgrund der Homophonie wohl nicht zufällig auch als „they have killed the son“ lesen (Verse 8–10).30 In der Traumwelt selbst werden die Buchstaben also einerseits als Signifikantenkette präsentiert, deren Elemente sequenziell, das heißt syntagmatisch gelesen werden: Das Signifikat wird, um mit Lacan zu sprechen, durch die unvollständig bleibende Buchstabenfolge endlos aufgeschoben,31 erlangt in dieser abwesenden Fast-Präsenz jedoch eine besonders bedrohliche Dimension. Ohne eine lacanianische Lesart konsequent zu Ende führen zu wollen, liegt es doch 26 „In this dream that dogs me“ (Vers 1), „I have woken again“ (Vers 22). 27 Barbara Hahn: Endlose Nacht, S. 159. 28 Man liest diese Zeilen geradezu unwillkürlich als „we are now shot down like pigs“ (Hervorhebung der Verfasserin). 29 Vgl. auch Hahn: Endlose Nacht, S. 160. 30 Bei Matt 23,27 heißt es außerdem in der englischen Version: „You pharisees are like white washed sepulchers, which indeed appear beautiful outward, but are within full of dead men’s bones, and of all uncleanness.“ 31 Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XI, Weinheim/ Berlin: Quadriga 1987, S. 207–208.

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nahe, den Tod, der auch hier symbolisch nicht repräsentierbar ist, in die Nähe des Lacan’schen Realen zu rücken.32 Denn dieses steht in unauflöslicher Verbindung mit Traum und Trauma, also etwas nicht zu Benennendem, welches das Ich imaginär zu beherrschen sucht. Zum anderen versteht der Träumer die Zeichen aber auch symbolisch  – bzw. zunächst einmal ikonisch. So gelesen erscheint nicht nur das gesamte Wort, sondern auch der einzelne Buchstabe unvollständig: Das große T ist einerseits arbiträres Zeichen, andererseits ein verstümmeltes christliches Kreuz. Damit ist nicht nur der Menschenmenge in der Traumdiegese der rettende Aufstieg versperrt; auch die biblische Geschichte ist unterbrochen, ein metaphysischer Trost nicht in Sicht. Vollends als Bild erscheint das T darüber hinaus übrigens, wenn man auch das Partizip „decapitated“ (Vers 18) wörtlich nimmt und in ein Bild des zeitgenössischen kulturhistorischen Kontextes zurückführt: Acéphale, die Kopflosen, sind nicht nur ein mythologisches Kriegervolk, welches das Christentum angreift und (wie es in der Bibel heißt), „dem Bauch das Denken überlässt“ (Phil 3,19), sondern auch der Name jener (post-)surrealistischen Geheimgesellschaft um Bataille,33 der auch Lacan und Walter Benjamin zeitweise angehörten. Ihr Opferkult versteht sich als ausdrückliches Gegenritual zu nationalsozialistischer Ideologie und christlich-religiöser Tradition.34 Das Aufwachen aus dem Alptraum, das Aufstehen, bedeutet für das träumende Ich bei Larkin also nicht Auferstehen oder Erlösung; ein metaphysischer Trost ist nicht in Sicht. „I woke up before the word was spelt“ (Vers 22): Auch in der Wachwelt bleibt das Ich in einem Zustand des auf unbestimmte Zeit aufgeschobenen Sterbens.35

32 Zumal Lacan das Reale ja ebenfalls mit dem „Namen des Vaters“ in Verbindung bringt. Vgl. Jacques Lacan: Namen-des-Vaters, Wien: Turia + Kant 2006, S.  11–63 und Jacques Lacan: „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse“, in: Jacques Lacan: Schriften I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 71–169. 33 Bzw. deren Zeitschrift, die auf dem Cover tatsächlich einen Geköpften mit ausgebreiteten Armen zeigt, sodass visuell der Buchstabe T entsteht. 34 Vgl. Rita Bischof: Tragisches Lachen. Die Geschichte von Acéphale, Berlin: Matthes & Seitz 2010 und Stephan Moebius: Die Zauberlehrlinge. Soziologiegeschichte des Collège de Sociologie (1937–1939), Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2006. 35 Dieser Zustand der existenziellen Angst jenseits eines alltäglichen Wissens um den allgemeinen Tod, in dem der eigene Tod unmittelbar erwartet wird, erinnert auffällig an Heideggers „Vorlaufen“ bzw. sein „eigentliches Sein zum Tode“. Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2001, S. 264–266.

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Verschwindende Buchstaben bei Paula Ludwig Nicht die syntagmatische, sondern vielmehr die paradigmatische Ebene des Wortes prägt das Traumerleben in Paula Ludwigs „Buchstabe D“.36 Zwar ist auch hier das entscheidende Wort zunächst unvollständig; es geht jedoch um die Ersetzungsfunktion der Lettern: Ein Wort wird, zumindest im Kopf der Träumenden, durch andere überschrieben. Auch hier droht dem träumenden Ich eine nicht weiter fassbare, jedoch darum umso beängstigender wirkende Katastrophe. Am Schluss des Traumes steht allerdings, geradezu als Gegenentwurf zu Larkin, eine wundersame und beglückende Vollendung: die Rettung des einzelnen Signifikanten und der Träumenden selbst  – und darüber hinaus die perfekte Vervollständigung des verstümmelten Wortes. Damit rückt das spielerische Moment der Schrift hier sehr viel mehr in den Vordergrund als bei Larkin. Während das träumende Ich an seinem Schreibtisch „mit zierlicher Schrift“ das Wort DEUS schreiben will,37 entspringt plötzlich das D und löst damit Schrecken und Verzweiflung von katastrophalem Ausmaß aus. In Gedanken spielt die Träumerin sämtliche Wörter durch, die sie ohne das verflüchtigte D nun nicht mehr ausdrücken kann.38 Doch die Buchstaben lassen sich zunächst nicht zähmen, schreibend auf Distanz oder in die richtige Ordnung bringen: Das Alphabet rollt sich vor ihr auf, ja das Schrifttum insgesamt („Fibel, Literatur, Presse“) stürzt auf sie ein.39 Die Buchstaben kommen ihr also entweder zu nah oder sie entwinden sich ihr. Auf der panischen Suche nach dem entlaufenen Buchstaben erklärt ihr eine hexenartige Gestalt schließlich, das D in eine Kloake gefegt zu haben. Nadja Lux hat die Aufzeichnungen Paula Ludwigs kenntnisreich und differenziert als Alpträume des Nationalsozialismus analysiert.40 Und in der Tat, liest man den kurzen Traumtext im Zusammenhang mit ihren anderen Notaten,41 so scheinen die Assoziationen Deportation, Euthanasie und Massenvernichtung offensichtlich, wenn nicht gar deutlich kalkuliert (vgl. Kapitel  XII).42 Die offenkundigste Parallele  – interessanterweise auch zu Larkins 36 Ludwig: Träume, S. 147–149. 37 Ludwig: Träume, S. 147. 38 Indem sie die entstandene Lücke füllt und die ursprünglich intendierten Buchstaben durch andere ersetzt, imaginiert sie „Dank“, „Demut“, „Du“ – übrigens genau die Worte, die in Larkins lyrischem Werk und seiner Weltsicht fast vollständig fehlen. 39 Ludwig: Träume, S. 147. 40 Nadja Lux: ‚Alptraum: Deutschland‘. Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich‘, Freiburg: Rombach 2008, S. 359–391. 41 Vgl. das Notat „Sanitätsstation“, in der Menschen gefoltert werden, „Campo de Gurs“, ein Traum über das berüchtigte NS-Lager, ein bedrohlicher „Transport“ in einem Viehwagon oder den Text „Das Tier“, den Nadja Lux am ausführlichsten analysiert. 42 Vgl. Barbara Hahn: Endlose Nacht, S. 161–162.

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Gedicht  – tut sich zum Traum „Die Kloake“ auf, in dem aufgedunsene Menschen, in einem überschwemmten Talkessel eingeschlossen, wie Ungeziefer von dreckigem Spülwasser ertränkt werden, ohne sich an den glatten Wänden aus der Grube herausretten zu können.43 In der Offenheit dieser Traumerzählung bleibt das Grauen bestehen. In „Das Tier“, dem, wie Ludwig selbst sagt, „düstersten Kapitel meiner Erinnerung“, stört das gequälte, um Rettung flehende Wesen vor dem Fenster der Träumerin den Schreibprozess nachhaltig und bis zum Ende.44 Im Notat „Buchstabe“ D hingegen haben wir es mit einem geradezu übertriebenen Happy End zu tun. Dieses wird in seiner märchenhaften Auflösung und dem stilisierten Selbstlob der letzten Zeile allerdings ironisch gebrochen. Die Träumerin stürzt sich bedenkenlos ins Wasser und fischt das D heraus, bevor sie selbst von Anglern aus dem Kanal gerettet wird. Der Traum endet damit, dass der Buchstabe, zurück auf den heimischen Schreibtisch gelegt, selbstständig an die Stelle zurückhüpft, der er entsprungen war. Indem die Träumerin das Wort DEUS endlich ausschreibt, ist der Buchstabe „für alle Zukunft“ „gebannt“45  – der bei Larkin inszenierte Aufschub, der den Träumer endlos quält, bei Ludwig also schlagartig stillgestellt.

Geträumte Schrift als körperlich-sinnliche Erfahrung Auch in Ludwigs Traum ist, wie in Larkins Träumerei, die Verselbstständigung und Verlebendigung der Schrift für das träumende Ich körperlich-sinnlich erfahrbar. Für die Rettungsaktion in Paula Ludwigs Text gilt gar im wörtlichen Sinne, was Werner Kogge für die Widerständigkeit der Schrift insgesamt feststellt: In ihrer Materialität wird sie zum Ding, und in dieser Dinghaftigkeit körperlich greifbar.46 Mit dem unterbrochenen Schreibgestus oder der gestörten Entzifferungsarbeit gehen zudem intensive Affekte einher: Die sich bewegenden Buchstaben stehen in unauflöslicher Verbindung mit Angst, Schrecken, Unglück, Katastrophe, sowie mit Eindrücken, die – geradezu systematisch angeordnet  – sämtliche Sinne betreffen: die visuelle, akustische, taktile, sogar die olfaktorische Wahrnehmung. Die Schrift hinterlässt also in beiden Fällen Spu43 44 45 46

Ludwig: Träume, S. 107. Ludwig: Träume, S. 142–144, hier S. 144. Ludwig: Träume, S. 149. Vgl. Werner Kogge: „Die Materialität der Sprache und warum ihr die Philosophie nicht entkommt. Merleau-Ponty und Wittgenstein“, in: Margot Brink/Christiane Solte-Gresser (Hrsg.): Écritures. Denk- und Schreibweisen jenseits der Grenzen von Literatur und Philosophie, Tübingen: Stauffenburg 2004, S. 195–214.

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ren im Körpergedächtnis, sie produziert, wie Roland Barthes sagt, Affekte; sie provoziert Gesten, Bewegungen und Kontakte, sie schreibt sich in den Körper ein.47 Damit scheinen in den beiden untersuchten Texten alle vier Themenbereiche der Materialität von Schrift in Szene gesetzt, die Barsch und Gätje unterscheiden: Schriftbildlichkeit, die instrumentell-mediale Bedingtheit von Schrifttexten, die Körperlichkeit jeden Schreibhandelns und die Bedeutungsebene von Schrift jenseits des sprachlichen Sinns.48 Die in den Traumtexten inszenierte Materialität der Buchstaben ist also offensichtlich. Freilich nimmt eine solche Materialität auch jenseits des Geträumten, auf der Ebene der Materialität des Textes, eine wichtige Rolle ein: Beide Texte spielen mit Buchstaben nicht nur innerhalb der Traumdiegese, sie zeichnen sich auch auf der Darstellungsebene durch besondere Poetizität aus. Diese wird vorrangig durch Wortspiele, Laute und die typographische Gestaltung des Schriftbilds erreicht. Lässt sich die Materialität der Schrift schließlich auch als eine Form der Wissensproduktion verstehen? Und welche Funktion käme hierbei dem Traum zu? Innerhalb der Verfahren, mit denen Wissen generiert wird, nehmen gerade solche Praktiken einen zentralen Raum ein, die der Literatur besonders nahestehen.49 In erster Linie wären hier Schreiben und Lesen zu nennen: Im Kontext des practical turn erscheinen sie nach Rheinberger als ein experimenteller, kreativer, erkenntnisoffener Prozess, der sich nur bedingt kontrollieren lässt.50 Das heißt, die Schrift oder das gesprochene Wort bergen in ihrer Bildlichkeit bzw. in ihrer materiellen Beschaffenheit eine Bedeutungsebene, die über den sprachlichen Sinn selbst hinausweist.51

47 Roland Barthes: Variations sur l’écriture/Variationen über die Schrift, Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2006. Roland Barthes verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der scription. Diese verbindet das Subjekt körperlich mit den Dingen und verortet es auf diese Weise innerhalb der Lebenswelt. Vgl. auch Vittoria Borsò: „Der Körper der Schrift und die Schrift des Körpers. Transpositionen des Liebesdiskurses in europäischer und lateinamerikanischer Literatur“, in: Vittoria Borsò u.  a. (Hrsg.): Schriftgedächtnis  – Schriftkulturen, Stuttgart: Metzler 2002, S. 323–342, hier S. 324. 48 Achim Barsch/Olaf Gätje (Hrsg.): Materialität und Medialität von Schrift und Text. Jahrbuch Medien im Deutschunterricht 2012, München: Kopaed 2013, S. 13. 49 Vgl. die Verfahren in Roland Borgards u. a. (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, v. a. S. 229–298 und Margarete Vöhringer: „Praktiken“, in: Roland Borgards u. a. (Hrsg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 46–50. 50 Dies legt u.  a. Hans-Jörg Rheinberger nahe. Hans-Jörg Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge, Marburg: Natur & Text 1992. 51 Vgl. Erika Greber/Konrad Ehlich/Jan-Dirk Müller (Hrsg.): Materialität und Medialität von Schrift, Bielefeld: Aisthesis 2002, S. 9–15.

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Die Materialität ästhetischer Artefakte erzeugt zudem, folgt man dem wissenspoetischen Ansatz von Vittoria Borsò,52 auch einen Bedeutungsüberschuss.53 Vor diesem Hintergrund wird ein Text nicht in erster Linie als fertiges Produkt betrachtet, sondern vielmehr als ein Ereignis, das Prozesse der Selbstreflexion in Gang setzt.54 Wenn die Schrift durch den materiellen Fluss fremd wird, treten in ihr, so Borsò, ethische Impulse zutage.55 Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass in beiden Traumtexten mit dem Eigenleben der Signifikanten eine Wissensdimension transportiert wird, die jenseits des rational Verstehbaren liegt: Die Katastrophe, die der eigensinnige Buchstabe bei Ludwig „unvernünftigerweise“56 auslöst, und deren Bedrohung so dringend gebannt werden muss, werden nicht beschrieben oder erklärt. Sie werden im Traum „sogleich“ intuitiv „erfasst“.57 Selbst die rettenden Angler verstehen unmittelbar die Bedeutung des Buchstabens, den die Träumerin nicht aus der Hand lässt.58 Sie tun dies jedoch nicht rational, diskursiv, sondern sie „begreifen im Nu“.59 In Larkins Gedicht ist ein ähnliches Phänomen erkennbar. Im Traum, der den Träumer heimsucht und derart angreift, dass er vom Lärm seines eigenen Herzschlags aufwacht, geht gerade mit dem Erscheinen des gigantischen, weiß getünchten Buchstabens D ein Wissen einher, das nicht intellektuell verstanden, sondern geschaut, erkannt werden muss („recognise“, Vers 11). Dass nur der Träumer selbst es erkennt, nicht aber die anderen Gestalten im Traum, könnte ein weiterer Hinweis darauf sein, dass gerade die Sprache des Traums Zugang zu einem Wissen ermöglicht, das auf anderem Wege verstellt ist. In beiden Fällen also wird, wie so häufig in der Literatur, die in mehr oder weniger direktem Kontext der Shoah entstanden ist, die Traumform genutzt. Damit geben sie dem „Grauen“,60 das sich innerhalb der symbolischen Ordnung 52 Vittoria Borsò: „Materialität und Unbestimmtheit(en) im Neorealismo. Offenheit zum Leben“, in: Claudia Öhlschläger/Lucia Perrone Capano/Vittoria Borsò (Hrsg.): Realismus nach den Europäischen Avantgarden. Ästhetik, Poetologie und Kognition in Film und Literatur der Nachkriegszeit, Bielefeld: transcript 2012, S. 261–290, hier S. 265. 53 Vittoria Borsò: „Audiovisionen der Schrift an der Grenze des Sagbaren und Sichtbaren. Zur Ethik der Materialität“, in: Sebastian Donat u. a. (Hrsg.): Poetische Gerechtigkeit, Düsseldorf: Düsseldorf University Press 2012, S. 163–188, hier S. 169. 54 Borsò: Audiovisionen der Schrift, S. 218. 55 Borsò: Audiovisionen der Schrift, S. 169. 56 Ludwig: Träume, S. 147. 57 Ludwig: Träume, S. 147. 58 Die Hand spielt als Verbindungsglied zwischen Subjekt, Schreibwerkzeug, Text und den im Text eröffneten Welten eine besondere Rolle. Vgl. Sybille Krämer/Gernot Grube/Werner Kogge (Hrsg.): Schrift: Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München: Fink 2005. Deren Bewegung folgt oftmals einer ganz eigenen Logik oder entzieht sich der rationalen Kontrolle. Damit führt sie das Prozesshafte, Eigendynamische und Kreative der Wissensproduktion besonders vor Augen. 59 Ludwig: Träume, S. 149. 60 Ludwig: Träume, S. 147.

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nicht sprachlich abbilden oder fixieren lässt, einen eigenen, offenen Raum.61 Gerade die Störung des schriftlichen Fixierungsprozesses setzt das Verstörende der Erfahrung besonders eindrücklich in Szene. In der befremdlichen Logik des Traums wird es unmittelbar körperlich erfasst. Ein solches Traum-Wissen auf der Grenze zwischen literarischer Inszenierung und Traumerleben bezieht sich – das zeigen die beiden Beispiele deutlich – nicht allein auf ein individuellsubjektives Wissen, sondern eröffnet zugleich eine kollektive Dimension. Dass es gerade in der Traumerfahrung bzw. als Traumerfahrung mit anderen geteilt werden kann, darauf machen auch zahlreiche andere Shoah-Texte aufmerksam, insbesondere diejenigen von Primo Levi, Emil Szittya, Charlotte Delbo, Vercors und Jorge Semprún (vgl. Kapitel  IV, II und X).62 In vielen Beispielen geht es dabei ebenfalls in auffälliger Weise um die Materialität der Zeichen und weiterer graphischer Phänomene, wie sich dies beispielsweise anhand der Traumsammlungen von Rudolf Leonhard, Jean Cayrol oder Charlotte Beradt ausführlicher zeigen lässt. Vor diesem Hintergrund führen die Traumtexte von Philip Larkin und Paula Ludwig besonders eindrücklich vor Augen, wie weit solche (Buchstaben-)Zeichen jenseits ihrer traditionellen Funktion als konventionalisierte Bezeichnungen einer außersprachlichen Wirklichkeit eine ganz eigene Sinndimension eröffnen. Als Akteure mit einer eigenen Handlungsmacht ausgestattet, dringen die Buchstaben in die sinnlich-körperliche Wahrnehmung der Träumenden ein, um sich dort zu verselbstständigen und ihre unheimliche Wirkung zu entfalten.

61 Damit ist indirekt auch auf das Darstellungsproblem, die Aporie von Sprechenwollen bzw. Sprechenmüssen und nicht Sprechenkönnen verwiesen, welche die gesamte Shoah-Literatur grundsätzlich prägt. Vgl. Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven: Yale University 1991 und James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation [1988], Bloomington/London: Indiana University Press 1990. 62 Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005 und Primo Levi: La tregua, Torino: Einaudi 2014, Charlotte Delbo: Auschwitz et après, 3 Bde., Paris: Minuit 1970–1971, Vercors (= Jean Marcel Bruller): „Le Songe“, in: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres, Paris: Omnibus 2002, S. 177–186 und Jorge Semprún: L’écriture ou la vie, Paris: Gallimard 1994.

X. Der Traum von der Lagerrückkehr: Primo Levi, Charlotte Delbo, Werner Fritsch, Jean Cayrol, Georges Perec und Jorge Semprún

Traumgattung und Traumreflexion Im Jahr 1981 schreibt der britische Autor D. M. Thomas sein berühmtes Werk The White Hotel, das er selbst als „novel“ bezeichnet.1 Will man überhaupt an der Gattungsbezeichnung Roman festhalten, so gilt es allerdings zu präzisieren, dass der Text aus sechs Teilen besteht, von denen sich jeder einem anderen Genre zuordnen lässt. Kapitel eins ist ein Gedicht – welches die Protagonistin zugleich als ein neues Libretto zur Oper Don Giovanni versteht. Kapitel zwei besteht aus einer phantastischen, autodiegetisch erzählten Vision – die aber eigentlich die Selbst-Analyse des Gedichts durch seine Verfasserin hätte sein sollen (welche zudem als Tagebuch deklariert wird). Das dritte Kapitel ist eine fiktive Fallstudie Sigmund Freuds über den pathologischen Seelenzustand der Protagonistin, Kapitel vier eine heterodiegetische Erzählung mit partieller Innensicht in die Hauptfigur – ergänzt durch ausführliche Briefe, die zu einer Art Briefroman im Roman kombiniert werden. Das fünfte, alle anderen Teile zusammenführende Kapitel beschreibt das Massaker von Babi Yar aus der Perspektive der ermordeten Protagonistin, das nach deren Tod von einer tatsächlichen Überlebenden weitererzählt wird. Der letzte Teil schließlich berichtet von der Ankunft der Hauptfigur in Eretz Israel und stellt eine Art Utopie in Form einer Jenseitserzählung dar. In jedem dieser sechs Kapitel wird mehr oder weniger dieselbe Geschichte erzählt. Lediglich die Form, die Möglichkeiten und Begrenzungen, die sich durch die jeweiligen Gattungen und Untergattungen ergeben, treiben die Handlung, von Kapitel zu Kapitel jeweils um mehrere Jahrzehnte versetzt, voran. Die Besonderheit des Textes liegt in seiner zeitlichen Struktur: Die Protagonistin, so zeigt sich im Laufe der Zeit, sieht im Traum hellsichtig ihre Zukunft voraus. Ihre Träume sind also weniger durch die Vergangenheit geprägt, wie die Romanfigur Sigmund Freud dies freilich annimmt  – und mit seinen durchaus plausiblen Deutungen zu demonstrieren versucht (vgl. Kapitel VIII). Sie nehmen vielmehr 1 D. M. Thomas: The White Hotel, New York/London: Penguin 1993.

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Der Traum von der Lagerrückkehr

die Shoah vorweg; genauer: Das Massaker von Babi Yar in Kiew, verübt durch die Waffen-SS, dem 1941 mehr als 33.000 Juden zum Opfer fielen. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun, dass es in jedem der einzelnen Teile von The White Hotel in ebenso expliziter wie bedeutsamer Weise um Träume geht. Das Gedicht stellt in Gänze ein Traumerlebnis dar, das zwischen Pornographie und rauschhafter Gewaltvision oszilliert.2 Die Erzählung nimmt diese Traumvisionen wieder auf, integriert sie aber in ein zunächst realistisch anmutendes Setting, das von der unzuverlässigen Erzählerin zunehmend traumhaft – grotesk, halluzinatorisch – verzerrt wird. Die Fallgeschichte berichtet aus der wissenschaftlichen Distanz des Analytikers heraus von den Träumen der Patientin und entwickelt im Rahmen einer psychoanalytischen Kur immer komplexere Deutungen ihrer Traumerfahrungen. Die Briefe aus der darauffolgenden Erzählung korrigieren und ergänzen diese Traumdeutungen aus der zeitlichen Distanz heraus durch die Träumerin selbst. Diese nimmt nicht nur gewichtige Umdeutungen vor, sondern weist den Psychoanalytiker auch auf die eigenen Projektions-Anteile in seinem Fallbericht hin, bevor sie ihre Fähigkeit des Vorausträumens ins Spiel bringt. Das Massaker als zentrales Ereignis schließlich wird in seiner unbeschreiblichen Grausamkeit selbst wie ein Alptraum wahrgenommen und entsprechend traumhaft dargestellt, bevor sich im Schlusskapitel Sterbetraum, Wunschtraum, Jenseitsvision und Utopie endgültig zu einer eigenen Textsorte vermengen. Noch komplizierter wird der Text durch die Tatsache, dass D. M. Thomas Teile aus Anatoly Kuznetsovs Babi Yar: A Document in the Form of a Novel verwendet;3 ein Prätext, der also selbst programmatisch zwischen faktualem und fiktionalem Schreiben angesiedelt ist.4 Das breite Gattungsspektrum, das Thomas zu einem hybriden Textgebilde verschränkt,5 verleiht dem Umgang mit dem Thema etwas Tentatives. Solche 2 3

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Der Text beginnt mit der Zeile „I dreamt of falling trees in a wild storm“. Thomas: Hotel, S. 15. Der Autor benutzt vor allem den berühmt gewordenen Überlebendenbericht von Dina Pronicheva, die ihrer Erschießung entkommen konnte, indem sie sich inmitten der Leichenberge in der Schlucht totstellte. Ich verwende die Schreibweise, mit der der Autor Thomas selbst auf diese Anleihe verweist: Anatoly Kuznetsov: Babi Yar. A Document in the Form of a Novel, New York: Dell Publishers 1967; die deutsche Übersetzung orientiert sich an der unzensierten Ausgabe von 1970: Babi Jar. Ein dokumentarischer Roman, Berlin: Volk und Welt 1968. Neu ediert und übersetzt aus dem Russischen von Irina Nowak. Mit einem Nachwort von Benjamin Korn, Berlin: Matthes & Seitz 2001. Wobei Kuznetsov betont, wie der Beginn des Textes zeigt: „Everything in this book is true. When I recounted episodes of this story to different people, they all said I had to write the book. The word ‚document‘ in the subtitle of this novel means that I have provided only actual facts and documents without the slightest literary conjecture as to how things could or must have happened.“ Kuznetsov: Babi Yar, S. 3. Auf der Folie des britischen Gegenwartsromans liefert Klaudia Seibel einen strukturalistischnarratologischen Ansatz zur Analyse des jeweiligen Grades an Hybridisierung bzw. Kontaminierung, bei dem sich besonders die Genre-Indikatoren Marie-Laure Ryans als produktiv erweisen. Vgl. Klaudia Seibel: „Mixing Genres: Levels of Contamination and the Formation of

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verschiedenen Annäherungsversuche an die Shoah mittels des Traums – Auseinandersetzungen, die im Text selbst immer wieder metareferenziell reflektiert werden6  – verweisen unmissverständlich auf die Frage, wie sich überhaupt von der nationalsozialistischen Massenvernichtung erzählen lässt. In den Holocaust Studies spielt, weitgehend unabhängig von der jeweiligen Disziplin, die Frage der Darstellbarkeit eine zentrale Rolle.7 Diese ist aufs Engste mit der Problematik der Zeugenschaft verbunden. Folgt man etwa Giorgio Agamben, James E. Young oder Lawrence Langer, so haben wir es mit einer doppelten Aporie zu tun: Weder lassen sich das historische Ereignis selbst, die damit verbundenen traumatischen Erfahrungen und seine Überlieferung innerhalb einer klassischen Erzählstruktur vermitteln, noch sind die Überlebenden überhaupt die eigentlichen Zeugen.8 Die Toten selbst haben keine Stimme, die Überlebenden müssen für sie, wie Primo Levi es formuliert hat, „auf fremde Rechnung“ sprechen (vgl. Kapitel  V).9 Für die Literaturwissenschaften besitzt der Topos der ‚Unsagbarkeit‘ der Shoah – mit all seinen problematischen Implikationen10 – freilich eine besondere Relevanz; ist in der Literatur doch das Was Generic Hybrids“, in: Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hrsg.): Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2007, S. 137–150. 6 Etwa im Rahmen der psychoanalytischen Dialoge, der Selbstzweifel an der eigenen Wahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit, die die Protagonistin artikuliert oder in den Briefen Freuds an seine Kollegen, in denen er sie um einen kritischen Blick auf die eigenen Interpretationen bittet. 7 Vgl. Dominick LaCapra: Representing the Holocaust. History, Theory, Trauma, London: Cornell University Press 1994, Dominick LaCapra: Writing History, Writing Trauma, Baltimore/London: John’s Hopkins University Press 2001 und Philippe Mesnard: „Écritures d’après Auschwitz“, in: Vox Poetica: Lettres et Sciences humaines, o.  J. (http://www.vox-poetica.org/t/art icles/mesnard.html). 8 Vgl. Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The Ruins of Memory, New Haven: Yale University Press 1991, v. a. S. 3–37, James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation, Bloomington/London: Indiana University Press 1990 sowie Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998. Sowohl Lawrence Langer als auch James E. Young und Giorgio Agamben betonen, dass ein solches Sprechen ein besonderes Zuhören bzw. ein Lesen erfordert, das neben dem Gesagten auf das Wie der Stimme achtet und dieses Wie der Darstellung ernst nimmt – auch jenseits der dokumentarischen Fakten und gerade als Literatur (Langer: Holocaust Testimonies, S. 19–21). Ähnlich äußert sich auch Agamben: „Es überrascht nicht, daß die Geste des Zeugnisses auch die Geste des Dichters ist, des auctor schlechthin. Hölderlins These ‚Was bleibet aber, stiften die Dichter‘ darf nicht in dem trivialen Sinn verstanden werden, daß das Werk des Dichters von Dauer sei, daß es zeitlich fortbestehe. Sie besagt vielmehr, daß das dichterische Wort dasjenige ist, was jedesmal die Position des Rests einnimmt und auf diese Weise Zeugnis ablegen kann. Die Dichter – die Zeugen – stiften die Sprache als das, was übrig-bleibt [sic], was aktuell die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit – zu sprechen überlebt“ (Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 141). 9 „[P]er conto di terzi“, in: Primo Levi: I sommersi e i salvati, Torino: Einaudi 1991, S. 64. 10 Vgl. James E. Young: Writing, v. a. S. 1–11, aber auch nochmals Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 28–29. Entscheidend ist, dass nicht nur Theoretiker, sondern vor allem auch Autobiographen selbst sich intensiv mit dem Topos des Unsagbaren auseinandersetzen. Vgl. stell-

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des Gesagten ohnehin nicht von der Form seiner Präsentation zu trennen. Das Ringen mit der literarischen Form lässt sich daher stets auch als (selbst-)reflexive Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Fragen der Darstellbarkeit verstehen. Solchen Fragen möchte ich nun nachgehen, indem ich mich dem Gattungsspektrum literarischer Shoah-Träume widme. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welches Potenzial mit welcher Textsorte für welche Erfahrungen der Shoah verbunden ist. Die Grundannahme, die sich durch dieses Buch zieht, ist, dass literarische Traumdarstellungen einen ästhetischen Raum eröffnen, in dem die Möglichkeiten und Grenzen des Sagbaren auf besonders komplexe Weise ausgelotet werden können. Welche Konsequenzen hat diese These für die Frage nach bestimmten literarischen Gattungen? Durch den Eigensinn des Traums lassen sich sowohl die Erfahrungsmodi der alltäglichen Wachwirklichkeit als auch deren ästhetische Darstellungskonventionen überschreiten oder unterlaufen. Mittels literarischer Träume wird also auch die Problematik der Sagbarkeit oder Unsagbarkeit reflektiert, die sich stets zwischen Verstummen und Vereinnahmen, zwischen Verschweigen und Geschwätzigkeit, zwischen Pathos und Trivialisierung bewegt. So ist es kaum verwunderlich, dass eine große Zahl an Texten über die Shoah den Traum als poetisches, narratives oder dramatisches Gestaltungsverfahren nutzt. Dieses Kapitel versucht nun, die Bandbreite der literarischen Gattungen auszuschreiten, innerhalb derer solche Träume wiedergegeben werden. Der Fokus liegt dabei zum einen auf der Funktion der Gattung für die Traumdarstellung, und zum anderen auf der Funktion der Gattung für die Auseinandersetzung mit der Shoah. Verschiedene, jeweils für ihr Genre repräsentative Konzentrationslager-Träume werden u. a. mit Blick auf folgende Fragen untersucht: Welche ästhetischen Eigenheiten von Shoah-Träumen sind typisch für das Gedicht oder das poème en prose? Wie lassen sie sich von Alptraumdarstellungen in fiktionalen Romanen und autobiographischen Berichten abgrenzen und inwiefern unterscheiden sich diese wiederum von geträumten Shoah-Erfahrungen in Traumnotaten und -protokollen? Wie wäre demgegenüber die Funktion von Shoah-Träumen im Drama, insbesondere im Traumspiel, zu beschreiben? Um eine möglichst große Vergleichbarkeit herzustellen, beschränken sich meine Überlegungen allein auf solche literarischen Träume, die die Träumerinnen und Träumer nach der Shoah unvermittelt ins Konzentrationslager zurückversetzen – und damit unmittelbar der Erfahrung nationalsozialistischer Bedrohung und Gewalt aussetzen. Das Geträumte, der Trauminhalt selbst, wiederholt sich also stets mehr oder weniger bzw. um es genauer zu sagen: Er variiert doch zumindest lediglich in einem bestimmten Maße innerhalb eines vergleichsvertretend für zahlreiche andere Überlebende Jorge Semprún: L’écriture ou la vie, Paris: Gallimard 1994, v. a. das erste Kapitel „Le regard“, S. 13–36.

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weise engen thematischen und motivischen Rahmens. Diese Traumsituation ist einem traumatischen flashback nicht unähnlich, eine Erfahrung, die D. M. Thomas in The White Hotel so provokativ wie produktiv in ein flash forward verwandelt hat.11 Ich berücksichtige in diesem Kapitel ausschließlich solche Alpträume, die im Text sehr eindeutig als Traum markiert oder deklariert sind. In einer derartigen Beschränkung des literarischen Materials wird der Blick gelenkt auf die Frage, in welcher literarischen Gattung es auf welche Weise gelingt, eine solche Traumerfahrung zu vermitteln und schließlich als historische Erfahrung zu kommunizieren. Je umfassender mit einem solchen Zugriff das gattungstheoretische Spektrum ausgeschritten werden soll, desto systematischer, reduzierter und exemplarischer müssen die Analysen der Traumdarstellungen selbst ausfallen. Es geht in diesem Kapitel um die Textsorten Gedicht, poème en prose, autobiographischer Bericht, dramatisches Traumspiel und das literarische Traumprotokoll als (Unter-)Gattungen literarischer Konzentrationslagerträume.12 Methodische Analyseansätze der jeweiligen Einzelgattungen spitze ich dabei so weit wie möglich auf den Fokus des Traums und seine Analyse innerhalb der jeweiligen Gattung zu, soweit diese bereits systematisch erforscht sind. Hier wären etwa die erzählte Traumdarstellung zu nennen, die u.  a. Stefanie Kreuzer definiert und differenziert hat,13 sowie die Traumdarstellung im und als Gedicht, wie sie Bernard Dieterle und Hans-Walter Schmidt-Hannisa untersuchen.14 Für das Traumspiel verwende ich die gattungstheoretischen Vorarbeiten von Kristina

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Dieses Phänomen des Vorausträumens der Shoah findet sich auch in André Schwarz-Bart: Le dernier des Justes, Paris: Seuil 1996, vor allem im Alptraum des vorletzten Kapitels. Eine interessante Ergänzung liefert in diesem Zusammenhang die Interpretation des Freud’schen Traums vom brennenden Kind von Judith Kasper: Der traumatisierte Raum: Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin: De Gruyter 2016, S. 57–79. 12 Für den Zugang zu diesen Textsorten wähle ich die neueren begriffs-, gattungsgeschichtlichen und gattungstheoretischen Definitionen, die Dieter Lamping aus dezidiert komparatistischer Perspektive systematisiert hat. Dieter Lamping (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Kröner 2009. 13 Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Kunst und Film, Paderborn: Fink 2014. 14 Bernard Dieterle: „Traumgedichte, träumerische Gedichte, Gedichte über das Träumen“, in: Bernard Dieterle/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hrsg.): Der Traum im Gedicht, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 9–22, und Hans-Walter Schmidt-Hannisa: „Zur Affinität von Traum und Lyrik“, in: Bernard Dieterle/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hrsg.): Der Traum im Gedicht, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 23–33.

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Höfer und Monika Schmitz-Emans,15 für Traumnotat und Traumprotokoll beziehe ich mich auf die einschlägige Forschung von Manfred Engel.16 In der Bandbreite der generischen Möglichkeiten zeigt sich, dass ShoahTräume vom Zurückversetzwerden ins Lager gewissermaßen von Genre zu Genre wandern.17 Mag man zunächst beispielsweise Traumprotokolle und Notate in historiographisch-faktualen Dokumentationen und darüber hinaus Traumerzählungen in einem ausschließlich autobiographischen Kontext für die angemessenste Form der Darstellung halten, so finden sich Shoah-Träume mit dem Abstand einiger Jahrzehnte auch im Theater. Dies ist besonders der Fall im Traumspiel; einer Dramenform, in der dargestellte Träume auf der Bühne vom gesamten Handlungsgeschehen des Dramas als Traum kaum noch zu unterscheiden sind. Vollends fraglich wird das Konzept einer „inneren Form“, demzufolge bestimmte Themen auch bestimmten Genres zugeordnet sind,18 wenn man bedenkt, dass Konzentrationslagerträume auch in fiktionalen Texten eine herausragende Rolle spielen, und hier insbesondere in der Satire oder Groteske.19 In der Folge solcher Beobachtungen stellt sich zudem die Frage, ob sich die in der traditionellen Gattungssystematik doch recht klare Trennlinie zwischen faktualen und fiktionalen Textsorten aufrechterhalten lässt. Dass es sich hier weniger um ein theoretisches Problem als eines der sozialen Praxis handelt, hat bereits Michael Scheffel angesichts der Polemik um Binjamin Wilkomirskis 15 Kristina Höfer: Gespielte Träume und Traumspiele. Traumdarstellungen in der Dramatik des 20. und 21.  Jahrhunderts, Paderborn: Fink 2019; Monika Schmitz-Emans: „The Dream Play (Shakespeare, Calderón, Strindberg, Handke)“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Mediating the Dream/Les genres et médias du rêve, Würzburg: Königshausen  & Neumann 2020, S. 405–427. 16 Manfred Engel: „Traumnotate in Dichter-Tagebüchern (Bräker, Keller, Schnitzler)“, in: Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hrsg.): Writing the Dream/Écrire le rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 211–238. 17 Was die theoretische Verortung meiner Überlegungen im Rahmen der aktuellen komparatistischen Gattungstheorie Rüdiger Zymners betrifft (Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003 und Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2010), so lässt sich festhalten, dass dieses Vorhaben etwas aus dem Rahmen komparatistischer Forschungsansätze herausfällt: Wissenschaftshistorisch gesehen, stehen in der Komparatistik gattungsgeschichtliche, rezeptionsästhetische und gattungstheoretische Ansätze im Vordergrund. Mir hingegen geht es nicht um eine diachrone Untersuchung, sondern um einen synchronen gattungstypologischen Blick. 18 Zur idealistischen Vorstellung von literarischen Gattungen, die mit bestimmten Themen korrelieren, vgl. Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers, Tübingen: Niemeyer 1981. 19 Dies geschieht oftmals mit einer besonderen Berücksichtigung der Täterperspektive. Als Grotesken wären in diesem Zusammenhang insbesondere die Romane Der Nazi & der Friseur [1977] von Edgar Hilsenrath und Romain Garys La danse de Gengis Cohn [1967] zu nennen, die im Kapitel über Täterträume eine ausführliche Auseinandersetzung erfahren (vgl. Kapitel XIII).

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Bruchstücke erörtert.20 Diese fingierte Autobiographie macht deutlich, wie groß gerade angesichts der Shoah das Bedürfnis ist, faktuale und fiktionale Texte sowie authentische und fingierte Erfahrungen eindeutig voneinander zu unterscheiden. Bei aller gattungsbedingten Unterschiedlichkeit der einzelnen Werke scheinen die Gemeinsamkeiten sämtlicher Träume vom unwillkürlichen Zurückversetztwerden ins Konzentrationslager gegenüber den Differenzen zu überwiegen; und zwar eben nicht nur thematisch und motivisch  – dies tun sie ja ohnehin –, sondern vor allem auch in struktureller und wirkungsästhetischer Hinsicht. Damit scheint der Traum von der Lagerrückkehr selbst so etwas wie ein literarisches Unter-Genre darzustellen, dessen besondere Merkmale dieses Kapitel nachvollziehbar machen möchte. Beginnen wir, angelehnt an die Gattungsentwicklung, die sich in D. M. Thomas’ The White Hotel vollzieht, mit dem Gedicht und dem poème en prose, um über verschiedene erzählende Gattungen zu autobiographisch-dokumentarischen Textsorten zu gelangen. Damit entsteht zugleich eine Bewegung von innen nach außen bzw. von subjektiven hin zu eher objektiveren Darstellungsversuchen von Konzentrationslagerträumen.

Der Traum von der Lagerrückkehr im Gedicht (Primo Levi) Sognavamo nelle notti feroci Sogni densi e violenti Sognati con anima e corpo: Tornare; mangiare; raccontare. Finché suonava a breve sommesso Il comando dell’alba: ‚Wstawać‘; E si spezzava in petto il cuore.

20 Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1995, Michael Scheffel: „Faktualität/Fiktionalität“, in: Dieter Lamping: Literarische Gattungen, Stuttgart: Kröner 2009, S. 29–31.

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Ora abbiamo ritrovato la casa, Il nostro ventre è sazio, Abbiamo finito di raccontare. È tempo. Presto udremo ancora Il comando straniero: ‚Wstawać‘. 11 gennaio 194621

Dieses Gedicht bildet das Motto des autobiographischen Textes La tregua [1963] von Primo Levi; ein Bericht von der Rückkehr aus Auschwitz, der als Ganzer selbst wiederum mit einer Traumdarstellung abschließt. Deren letztes Wort lautet zudem ebenfalls „Wstawać“; der polnische Befehl zum Aufstehen, mit dem die Lagerhäftlinge allmorgendlich aus den nächtlichen Alpträumen gerissen wurden (vgl. Kapitel IV und VI). Es handelt sich hier, der gattungstypologischen Differenzierung Bernard Dieterles zufolge, um ein Traumgedicht: Auf engstem Raum gibt der Text das eindeutig als solches markierte Traumerleben der Lagerhäftlinge wieder („sognavamo“). Entscheidend ist aber, dass es sich bei den Traumdarstellungen nicht um eigentliche Schilderungen handelt, sondern dass der Trauminhalt schlicht mit drei unverbunden aneinandergereihten Infinitiven benannt wird. Die radikale Reduktion des Traumgeschehens auf einen Vers aus drei Verben korrespondiert mit der äußersten Verdichtung der gesamten Lagerrealität im Traum. Zugleich haben wir es jedoch mit einem Gedicht über das Träumen zu tun. Traumdarstellung und Traumreflexion werden vermengt, insofern das Gedicht von der Allgegenwart des Lagertraums handelt, der auch nach der Rückkehr nicht endet bzw. stets unmittelbar bevorsteht. An der besonderen „Schnittstelle zwischen Traum und Lyrik“, der es, Bernard Dieterles Überlegungen folgend, nicht um die genaue Aufzeichnung einzelner Träume geht, sondern um „die sprachliche Verwandlung einer Erfahrung“, wird versucht, den Leserinnen und Lesern die Allgegenwart des Alptraums in seiner traumatischen Struktur nachvollziehbar zu machen. Die Nähe, die laut Dieterle grundsätzlich zwischen lyrischem Ich und der Instanz des Träumers besteht und eine besondere Authentizität erzeugt, lässt sich auch hier erkennen. Allerdings wäre zu präzisieren, dass in Levis Gedicht nicht ein lyrisches Ich, sondern ein lyrisches Wir spricht, welches die individuelle Erfahrung in eine kollektive Erinnerung überführt. Das Gedicht besteht aus zwei parallel konstruierten, jedoch unterschiedlich langen Strophen: Die erste, längere bezieht sich auf die Träume im Lager, die zweite, kürzere auf deren Fortsetzung nach der Rückkehr. Geht man davon aus, dass die beiden Strophen jeweils durch den Befehl „Wstawać“ mit einer Art Refrain beendet werden, entsteht ein zusätzlicher Vers in der Mitte, der beide Teile 21 Primo Levi: La tregua, Torino: Einaudi 2014, S. 1.

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des Gedichts voneinander trennt und zugleich miteinander verbindet.22 Dieser achte Vers handelt davon, dass der Befehl das Herz der Träumenden allmorgendlich in Stücke zerreißt. Die Lagererfahrung spaltet die individuelle Existenz unwiederbringlich in ein früheres Leben und ein späteres Über-Leben. Damit reißt der Vers nicht nur das Gedicht selbst in zwei Teile. Er schließt zugleich die Vergangenheit des Lagers mit der traumatischen Erinnerung in der Gegenwart kurz: In der erste Strophe fasst der Sprecher in mehreren, zu einer etymologischen Figur angeordneten Versen („sognavamo … sogni … sognati …“) die Alpträume der KZ-Häftlinge als kollektive Traumerfahrungen zusammen.23 Wie die Träume selbst, welche Leib und Seele gleichermaßen erfassen, als „densi“ und „feroci“ charakterisiert werden, so finden sie sich auch auf der stilistischen Ebene verdichtet und syntaktisch zertrümmert als reine Aufzählung. Die zweite Strophe wechselt nun in die Gegenwart der Überlebenden („ora“). Sie wiederholt alle drei Träume aus dem Lager, indem sie diese in je einzelnen Versen in die Wachwirklichkeit überträgt: Die Sehnsucht nach Rückkehr ist erfüllt („abbiamo ritrovato la casa“), der Hunger gestillt („nostro ventre è sazio“) und das Erlebte „zu Ende erzählt“ („abbiamo finito di raccontare“). Anstatt jedoch mit dieser Situation zu schließen, nimmt das Gedicht eine Wendung, welche Gegenwart („è tempo“) und bevorstehende Bedrohung („presto udremo“) direkt mit der vergangenen Lagererfahrung verknüpft.24 Eine solche Verknüpfung wird bereits klanglich vorbereitet: Die lautliche Nähe zwischen „sognare“, das sich auf die Träume, und „suonare“, das sich auf das Erklingen des Befehles bezieht, versetzt schon in der Mitte der ersten Strophe die nächtlichen Träume nicht nur thematisch, sondern auch phonetisch an die unmittelbare Grenze zum Erwachen. Im Schlussvers, dem abschließenden Imperativ, lassen sich die einzelnen Zeitebenen schließlich nicht mehr unterscheiden.25 Durch das letzte Wort werden somit rückwirkend auch die positiven Erfahrungen des Heimkehrens als mögliche Träume bzw. als trügerische Einbildung präsentiert und in ihrem Realitätsstatus infrage gestellt. Der zweifache Imperativ „Wstawać“ führt uns vom geträumten Befehl im Gedicht zur Funktion des Gedichts innerhalb eines narrativen Kontextes, nämlich des autobiographischen Berichtens insgesamt. Levi konstruiert mit dem „Wstawać“ -Traum, wie bereits erwähnt und wie sich gleich noch genauer zeigen wird, zum einen den thematischen und formalen Rahmen seines Heimkehrerberichts La tregua. Zum anderen wird durch dieses Wort die entscheidende Verbindung zu Se questo è un uomo, Levis Erzählung aus dem Inneren des Lagers, 22 Vgl. die detaillierte Interpretation von Judith Kasper: Der traumatisierte Raum, S. 112. 23 Dass diese Träume im Lager unablässig wiederkehren, also unabgeschlossen sind, wird durch die verwendete Zeitform des imperfetto hervorgehoben. 24 Vgl. Federica Sossi: „L’oblio del ricordo. La scrittura sognata di Primo Levi“, in: Nuova corrente XLVII (2000), S. 227–244, hier S. 241–242. 25 Vgl. auch Kasper: Der traumatisierte Raum, S. 105 und S. 116.

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hergestellt. Es findet sich nämlich ebenso im Zentrum des fünften Kapitels über den Bericht vom Grauen in Auschwitz: Der Abschnitt „Le nostre notti“26 handelt von den Bedingungen des Schlafes in den Lagerbaracken, den Alpträumen der KZ-Häftlinge und dem Befehl im Morgengrauen, mit dem die Lagerrealität unausweichlich ins Bewusstsein der Träumenden eindringt (vgl. Kapitel IV).27 Kommen wir also nochmals auf den erwähnten, berühmten Schlusstraum aus La tregua zurück. Hier erscheint die Befreiung aus dem Lager als Traum und die Internierung im Lager als die einzige, unhintergehbare Realität; alles Überleben verflüchtigt sich zur geträumten Illusion. Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, wie konsequent Primo Levi mit seinem Gedicht durch Verkürzung, elementare Überstrukturiertheit und erhöhte sprachliche Artifizialität bei besonderer struktureller Einfachheit das lyrische Prinzip der Verdichtung verfolgt:28 Ein einziges geträumtes Wort fasst nicht nur Lagerrealität, Lagerträume und Überlebenden-Träume auf engstem Raum zusammen. Es stellt darüber hinaus auch eine radikale Konzentration des gesamten autobiographischen Lagerberichts und der Levischen Rückkehrer-Erzählung dar.

Der Traum von der Lagerrückkehr im autobiographischen Bericht (Primo Levi) […] non ha cessato di visitarmi, ad intervalli ora fitti, ora radi, un sogno pieno di spavento. È un sogno entro un altro sogno, vario nei particolari, unico nella sostanza. Sono a tavola con la famiglia, o con amici, o al lavoro, o in una campagna verde: in un ambiente insomma placido e disteso, apparentemente privo di tensione e di pena; eppure provo un’angoscia sottile e profonda, la sensazione definita di una minaccia che incombe. E infatti, al procedere del sogno, a poco a poco o brutalmente, ogni volta in modo diverso, tutto cade e si disfa intorno a me, lo scenario, le pareti, le persone, e l’angoscia si fa piú intensa e piú precisa. Tutto è ora volto in caos: sono solo al centro di un nulla grigio e torbido, ed ecco, io so che cosa questo significa, ed anche so di averlo sempre saputo: sono di nuovo in Lager, e nulla era vero all’infuori del Lager. Il resto era breve vacanza, o inganno dei sensi, sogno: la famiglia, la natura in fiore, la casa. Ora questo sogno interno, il sogno di 26 Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 50–57. 27 Auch der erzählende Bericht ist durchzogen von poetischen Mitteln wie Metaphern, rhetorischen Figuren, einer auffälligen Rhythmisierung der Sprache und phonetischen Gestaltungsverfahren, die dem Text eine besondere klangliche Dichte verleihen. 28 Zu diesen Merkmalen des Lyrischen vgl. Rudolf Brandstetter in Lamping: Handbuch, S. 485– 497, hier S. 492.

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pace, è finito, e nel sogno esterno, che prosegue gelido, odo risuonare una voce, ben nota: una sola parola, non imperiosa, anzi breve e sommessa. È il comando dell’alba in Auschwitz, una parola straniera, temuta e attesa: alzarsi, ‚Wstawać.‘29

Der Traumbericht aus Levis La tregua beinhaltet also dieselbe Problematik wie das Gedicht: die Allgegenwart traumatischer Erinnerung im Traum, die das Wacherleben gänzlich überlagert.30 Die Möglichkeiten des narrativen Genres werden vom Autor hier jedoch genutzt, um andere Facetten dieses Erlebens zu betonen und damit eine andere Wirkung zu erzielen. Die Traumdarstellung beginnt mit einer einleitenden Reflexion, die das Erzählte eindeutig als Traum markiert: Der Alptraum wiederholt sich unablässig in unterschiedlichen Variationen („vario nei particolari“) und besitzt eine in sich verschachtelte Struktur („un sogno entro un altro sogno“). Er weist jedoch ein identisches Muster auf („unica nella sostanza“), welches der Erzähler schließlich in seinem Grundschema wiedergibt: Der Träumende befindet sich in einer friedlichen, geradezu idyllischen Situation. Diese bricht schrittweise in sich zusammen und entpuppt sich im Verlauf des Traums als Täuschung. Die Rückkehr an den heimischen Esstisch wird mit einem Mal als unheimlich, unwirklich und brüchig erlebt. Überschattet wird sie von einem untrüglichen Wissen, das der Auflösung dieses glücklichen Szenarios vorausgeht. Hier setzt der Traum im Traum ein; das plötzliche Bewusstsein, dass die Befreiung aus dem Lager nur ein Traum oder eine Sinnestäuschung gewesen sein kann. Der Träumer sieht sich ins Lager zurückversetzt. Als eindeutigen Hinweis auf die Allgegenwart von Auschwitz vernimmt er den gefürchteten Befehl zum Aufstehen („Wstawać“), mit dem die Lagerwirklichkeit unvermittelt in den Traum einbricht. Auffällig an diesem Traumbericht ist die Vermischung von Traumreflexion und Traumerzählung, die in dieser strukturellen Komplexität, der Detailliertheit des Traumerlebens und in dessen schockierender Wirkung nur mittels einer narrativen Form erreicht werden kann. Es handelt sich hier um eine iterative Traumerzählung, in der zahlreiche Variationen desselben Alptraums gleich mit enthalten sind.31 Auch die Konstruktion eines Traums im Traum, also einer 29 Primo Levi: La tregua, Torino: Einaudi 1989, S. 200–201. 30 Dass sich die unstabile Verbindung von Traum und Wachwirklichkeit durch das gesamte Schreiben Primo Levis zieht („an unresolved oscillation between hope and despair, dream and awakening“), sieht Margery Sabin u. a. anhand der Art und Weise belegt, wie Levi den polnischen Befehl zum Aufstehen in sein Werk integriert. Margery Sabin: „Memory, Story, Dream in Primo Levi’s Auschwitz Writings“, in: Raritan. A Quarterly Review 36/2 (2016), S. 120–143, hier S. 132–133 (das Zitat findet sich auf S. 132). 31 Da Levi selbst dieser Traumerfahrung nicht nur eine serielle, sondern auch eine kollektive Dimension zuschreibt, und weil die folgende Passage sich explizit mit dem autobiographischen Schreiben Primo Levis auseinandersetzt, sei zusätzlich eine vergleichbare Erfahrung aus einem anderen autobiographischen Bericht angeführt. Hier ist es nicht das Motiv des Nebels, sondern das des Fallens, durch das sich das träumende Ich ins Lager zurückversetzt sieht, genauer: auf die Rampe von Auschwitz. So schreibt Ruth Klüger: „Primo Levi hat das

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intradiegetischen Traumstufe, wird vom Erzähler bereits während der Erzählung des Trauminhalts selbst offengelegt. Mit der Differenzierung in inneren und äußeren Traum („sogno interno“, „sogno esterno“)32 werden mehrere Ebenen der Traumerfahrung hierarchisch geordnet und in eine irritierte Beziehung zur Wachwirklichkeit gesetzt. Die komplexe narrative Konstruktion dieser Traumdarstellung zeigt also: Der innere Traum, der eindeutig als Nachttraum markiert wird, lässt sich von der unmittelbar zuvor beschriebenen Situation der Wachwelt kaum unterscheiden.

Der Traum von der Lagerrückkehr im poème en prose (Charlotte Delbo) Einer vergleichbaren Struktur der Verschachtelung verschiedener Wirklichkeitsebenen im Traum, in der sich das gewohnte Verhältnis zwischen Traumund Wacherleben geradezu umkehrt, folgt auch eine andere Überlebenden-Erzählung: Charlotte Delbos Trilogie Auschwitz et après (vgl. Kapitel  IV und V). Besonders pointiert tritt dies in einem Abschnitt des zweiten Bandes, Une connaissance inutile [1970], zutage, in dem eine solche Verwirrung von Traum- und Wachwelt durch eine „abundante Steigerung rhetorischer Wirkmittel“ zum Ausdruck gebracht wird, wie sie laut Albertsen für das poème en prose charakteristisch ist.33 In Parallelismen, Chiasmen und unter Verwendung eines Oxymorons wird das Paradox des Überlebens phonetisch verdichtet in folgende Worte ge[die Ablehnung der menschlichen Existenz als Häftling] in seinem Buch […] beschrieben: Der aber kam mit dem Selbstgefühl eines erwachsenen, fertigen Europäers dahin [nach Auschwitz], geistig als Rationalist und geographisch als Italiener beheimatet und gefestigt. Für ein Kind war das anders […], so daß Birkenau für mich einer gewissen Logik nicht entbehrte. […] Nun hatte sich das Zahnrad weiter gedreht, und der Boden, auf dem du stehst, will, daß du verschwindest. Auf diese Rampe fall ich immer noch. Aus einer Narkose erwachend, fall ich. Erleichtert und entsetzt zugleich, aus der aufgerissenen Tür des bislang versiegelten Wagens auf diese seither berühmt gewordene Rampe, damals noch unberühmt, Sackgasse im Amoklauf einer besessenen Kultur. Unvergessener Augenblick, verhärtet und verknöchert in ein Lebensgefühl. Vom Regen in die Traufe, vom Viehwagon auf die Rampe, vom Transport ins Lager, aus einem geschlossenen Raum in die verpestete Luft. Fallen.“ Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen: Wallstein 1992, S. 122. Auf S. 140 berichtet sie von derselben Erfahrung, verdeutlicht zusätzlich, dass das Phänomen sich auch im Schlaf einstellt und relativiert dieses zugleich ausdrücklich im Hinblick auf die traumatischen Traumwiederholungen anderer Überlebender. 32 Levi: La tregua, S. 201. 33 Vgl. Albertsen in Lamping: Handbuch, S. 74.

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fasst: „chaque jours un peu plus/je remeurs/la mort de tous ceux qui sont morts/ et je ne sais plus quel est vrai/du monde-là/de l’autre monde-là-bas/maintenant/ je ne sais plus/quand je rêve/et quand/je ne rêve pas“.34 Wie bei Levi, so liegt uns auch hier eine autobiographische Erzählung vor, in welche einzelne Gedichte eingefügt sind. Allerdings nehmen lyrische Passagen in Delbos Schreiben insgesamt einen weitaus größeren Raum ein als in Levis Werk: Gedichte in freien Rhythmen, die zum Teil mehrere Seiten umfassen, unterbrechen den Erzählfluss an vielen Stellen bereits durch die auffällige typographische Gestaltung. Bedeutsamer ist jedoch ein anderer Unterschied zu Levi: Auch die „berichtenden“, „erzählenden“ Teile ihrer dreibändigen Autobiographie sind – im Gegensatz zu Levis betont nüchternem, sachlichem Stil35 – in einer Weise erzählt, die eher an ein einziges großes poème en prose erinnert als an eine rekonstruierte Lebensgeschichte. Allerdings handelt es sich, der Gattungsdefinition Bunzels zufolge, bei einem Prosagedicht ja stets um eine Form der Kurzprosa (auch wenn einzelne Prosagedichte oftmals zu einer größeren Sammlung zusammengefügt werden).36 Doch selbst wenn man die Trilogie nicht als Gesamttext der Gattung des poème en prose zuschlagen will,37 so stechen doch einige Abschnitte aufgrund ihrer rhythmisierten Sprache und einer radikalen lyrischen Subjektivität hervor.38 Sie sind „musikalisch“, aber ohne festen „Rhythmus und Reim“, und können sich so in besonderer Weise den „Erschütterungen des Bewusstseins anpassen“, wie Baudelaire bereits 1869 in seiner Vorrede zu Spleen de Paris über das ästhetische Potenzial des Prosagedichtes schreibt.39 Nicht immer sind allerdings auf den insgesamt fast 600 Seiten von

34 Charlotte Delbo: Une connaissance inutile, Paris: Minuit 1970, S. 180. 35 Das Verhältnis zwischen Levis Selbstaussagen zu seinem Schreiben und der rhetorischen Komplexität seiner Texte ist indes widersprüchlich. 36 Vgl. Wolfgang Bunzel: „Prosagedicht“, in: Lamping: Handbuch, S. 587–592, hier S. 587. 37 Diese erhält laut Wolfgang Bunzel unmittelbar nach 1945 einen besonderen Auftrieb. Bunzel: Prosagedicht, S. 591–592. 38 Vgl. hierzu die Gattungsmerkmale, die Ingenschay herausgearbeitet hat. Dieter Ingenschay: Die Modernität des poème en prose, Bochum: ohne Verlagsangabe 1986. 39 Charles Baudelaire: Le Spleen de Paris, in: Charles Baudelaire: Œuvres complètes, Bd. I, Paris: Gallimard 1974. Vgl. auch das traumhafte poème en prose Delbos, das direkt an das Traumkapitel „L’enterrement“ anschließt und damit fast am Schluss der gesamten Trilogie steht. Delbo: Mesure de nos jours, Paris: Minuit 1971, S.  200–201. Baudelaires „A une passante“ scheint hier den entscheidenden Prätext zu bilden, was besonders im Hinblick auf Bunzels Betonung der intertextuellen Komponente der Gattung Prosagedicht interessant ist (Bunzel: Prosagedicht, S. 590): Wie bei Baudelaire, doch mit umgekehrten Geschlechterrollen, begegnet das Ich einem Unbekannten flüchtig in der Stadt, ohne ihn wirklich treffen zu können. Während aber bei Baudelaire der Flaneur die potenzielle Geliebte nicht sucht, sondern – wenngleich auch flüchtig – findet, so sucht die Passantin bei Delbo in den Gestalten der Vorübergehenden den ermordeten Geliebten, ohne ihn freilich finden zu können.

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Auschwitz et après rhythmisch akzentuierte Prosa, auf Reim und Metrum verzichtende Lyrik und poème en prose klar zu differenzieren.40 Die seitenlangen Alpträume der Erzählerin, etwa im Kapitel „La nuit“ aus dem ersten Band Aucun de nous ne reviendra,41 zu denen auch der stets wiederkehrende Traum von der gescheiterten Heimkehr zählt, die sich als Illusion entpuppt, lassen sich kaum lesen, ohne den fortlaufenden Text automatisch in einzelne Verse zu segmentieren. Nicht nur angesichts der quälenden Träume selbst, vor allem aufgrund der dichten und ausgesprochen bildhaften Sprache gerät man beim Lesen ins Stocken. Man wird gezwungen, auch jenseits der Satzgrenzen nach Luft zu schnappen wie die erstickenden, im Sumpf untergehenden Träumerinnen selbst: Der Schlamm in den Sümpfen um Auschwitz, der Ort der Zwangsarbeit, verwandelt sich des Nachts in Greifarme, welche die Träumerinnen erdrosseln. Die aus den Eimern fallenden Steine und Erdklumpen werden zu Augen und Zähnen. Auffällige Kennzeichen eines Prosagedichtes wären zudem einerseits der Verzicht auf strukturierende Absätze,42 oder aber, andererseits, die Aufsplitterung eines Gedankens in zahllose einzelne Zeilen, ohne dass es sich darum tatsächlich um lyrische Verse handeln dürfte.43 Hinzu kommen die schier endlosen Sätze mit einer zum Teil über die Seiten hinweg drängenden Syntax, die grammatikalisch-hierarchische Ordnungsstrukturen aufsprengt.44 Zu nennen wären aber auch die auffällige rhetorische, fast refrainartige Wiederholungsstruktur bestimmter Formulierungen wie „Quand le sifflet siffle le réveil“,45 „ce n’est pas la fin de la nuit“,46 mit denen besonders schmerzhafte Eindrücke wiedergegeben werden. Stilistisch auffällig sind auch die vielfachen Parallelismen und Geminationes, die die erinnerten Erfahrungen noch potenzieren („Schneller, schneller, weiter, weiter“)47, und die extreme Körperlichkeit, die in den verwendeten Bildern zum Ausdruck kommt („la boue entre dans les yeux, dans le nez, dans la bouche, suffoque“, „nous coulons toutes deux dans un corps à corps mortel, liées l’une à l’autre“).48 Eine solche Zwischenposition zwi40 Die poetischen Anteile in Charlotte Delbos Sprache werden besonders detailliert von Maria Teresa De Palma untersucht. Sie sieht die Segmentierung der Syntax in kleinere lyrische Einheiten vor allem im Zusammenhang mit der Erfahrung einer Fragmentierung des (geträumten) Körpers. Vgl. Maria Teresa De Palma: ‚Mi sono alzato, sono ricaduto/Nel fondo dove il secolo è il minuto‘. Rêve et onirisme dans la littérature de témoignage (Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún). DPhil thesis Università de Bologna 2017 (http://amsdottorato.unibo. it/7864/1/De_Palma_Maria_Teresa_tesi.pdf), S. 336. 41 Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra, Paris: Minuit 1970, S. 86–92. 42 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 86–91. 43 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 91–92. 44 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 87–88. 45 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 91. 46 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 92. 47 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 88. 48 Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 87.

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schen Narrativik und Lyrik scheint sich insbesondere für traumartige Assoziationsketten zu eignen, die in der Art eines stream of consciousness das Hinübergleiten von einem Bewusstseinszustand in den anderen ausdrücken. Die Inszenierung eines subjektiv erfahrenen Deliriums bei gleichzeitiger Abbildung der äußeren Ereignisse erreicht im poème en prose eine ungewöhnliche Intensität. Dies ist etwa der Fall, wenn in der nächtlichen Wahrnehmung des Ich unmerklich die Wirklichkeitsebenen überschritten werden, der markierte Traum in die Halluzination übergeht, die Wunschphantasie vom Alptraum eingeholt wird oder das Bewusstsein die als irreal erfahrene Lagerwirklichkeit im nächtlichen Traumerleben fortsetzt.49 Widmen wir uns, um die Auseinandersetzung mit Delbos Trilogie abzuschließen, noch jenen Traumerfahrungen, die am Ende des dreibändigen Werkes erzählt werden.50 Auch hier finden sich deutlich an das poème en prose angelehnte Passagen. Genutzt werden sie jedoch vor allem, um das zwischenzeitlich abdriftende Bewusstsein der autodiegetischen Erzählerin innerhalb einer konkreten Handlung zu verorten und damit den Bruch zwischen der Alltagsnormalität nach Auschwitz und der stets präsenten Vergangenheit in Szene zu setzen. Eine kleine Gruppe von Überlebenden trifft sich im Zug, um gemeinsam an der Beerdigung einer ehemaligen Mitgefangenen teilzunehmen. Was die Handlungsstruktur dieses Kapitels angeht, so bewegt sich das Geschehen immer unaufhaltsamer auf das Traumerleben der reisenden Frauen zu: Einzelne Mitreisende berichten ausführlich von ihren Alpträumen; etwa davon, dass ihnen im Traum die Toten begegnen und ihnen das Überleben vorwerfen.51 Eine andere Figur erzählt, dass sie, um solche Träume zu vermeiden, gar nicht mehr schläft,52 die Erzählerin selbst hat den Eindruck, ihr gesamtes Leben nach dem Lager als Schlafwandlerin zu verbringen: „Je vis en somnambule que rien de réveillera.“53 Zu den eindrücklichsten Shoah-Träumen überhaupt zählt der Traum von der freiwilligen Rückkehr ins Lager nach der Befreiung, der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Wachtürme und des Stacheldrahts. Diese Sogbewegung kann nur durch die Schreie der Träumerin beendet werden, welche sich beim nächtlichen Hochschrecken aus dem Traum selbst hört.54 Ähnlich wie bei Levi, handelt es sich auch hier um einen iterativen Traumbericht: Dasselbe Geschehen wiederholt sich in verschiedenen Traum-Variationen. Poetische Verdichtungen, die sich wie in einem geflochtenen Zopf durch die Erzählung des Kapitels ziehen, konzentrieren die große Bandbreite des Erlebens und Erinnerns der einzel49 50 51 52 53 54

Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 90–92. „L’enterrement“. Delbo: Mesure de nos jours, S. 183–207. Delbo: Mesure de nos jours, S. 198. Delbo: Mesure de nos jours, S. 196–197. Delbo: Mesure de nos jours, S. 207. Delbo: Mesure de nos jours, S. 197–198: „Tu imagines cela, sortir d’Auschwitz et y retourner de soi-même ?“

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nen Figuren: Durch eine chiastische Formulierung, wie etwa „Quand j’étais làbas, je rêvais que j’étais à la maison et, depuis que je suis rentrée, je rêve que je suis là-bas“,55 bei der einzig der fehlende Zeilenumbruch den Satz von der Strophe eines vierzeiligen Gedichtes unterscheidbar macht, wird das paradoxe Traumerleben der Shoah-Traumatisierten in besonderer Weise pointiert. Was aber ist die Funktion des narrativen Kontextes, in den solche Passagen eingebettet sind? Die Präsentation der gesamten Zug-Episode in Form einer autobiographischen Erzählung ermöglicht es, äußeres Geschehen, inneres Erleben, Figurenrede und Gedankenrede, gemeinsame Erinnerungen und die Irritation über Erinnerungslücken, das Scherzen über verpasste Züge und einen einzigen, unglücklicherweise rechtzeitig erreichten Transport sowie traumatische flashbacks auf derselben narrativen Ebene zu kombinieren. Ungeachtet der radikalen Subjektivität der Erzählstimme können sie damit als gleichwertige Erfahrungsmomente nebeneinander bestehen. Auf diese Weise bietet die Erzählung neben eigenen Traumerfahrungen zugleich eine profunde Reflexion über verschiedene Formen der Erinnerung und des Erinnerungsverlusts, über das Vergehen und Erleben von Zeit jenseits von Chronologie und Linearität, über die Möglichkeit und Unmöglichkeit, das Erlebte an Außenstehende zu vermitteln, und über die grundsätzlich unsicheren Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben. Die Narration, hierin treffen sich die Autobiographien von Levi und Delbo, erlaubt also eine komplexe Verschachtelung mehrerer Traumebenen, die Konfrontation verschiedener Figurenperspektiven, die den Austausch von Argumenten, Erfahrungen und Erinnerungen möglich macht, sowie das erzählende Umgreifen großer räumlicher und zeitlicher Distanzen. Die Traumdarstellungen werden damit, ganz anders als in Gedicht oder poème en prose, in einen umfassenden historischen, sozialen, kollektiven Kontext eingebettet, der sich in seiner Komplexität nur narrativ vermitteln lässt. Eine besondere Wirkung der spezifisch narrativen Konstruktion von Levis und Delbos autobiographischem Werk bedarf abschließender Erwähnung: Bei beiden steht am Schluss eines umfassenden Erzählwerks eine erschütternde Traumerfahrung. Halten wir uns vor Augen, dass Levi und Delbo jeweils mehrere Hundert Seiten darauf verwenden, um zu erzählen, wie sie ins KZ deportiert, von der SS entwürdigt und gefoltert wurden, wie sie unter den Lagerbedingungen gelitten, ums Überleben gekämpft haben und schließlich von den Alliierten befreit wurden, wie sie sich daraufhin mühsam in der Normalität der Nachkriegszeit eingerichtet haben und versuchen, die Unwahrscheinlichkeit des eigenen Überlebens und die damit einhergehenden Schuldgefühle zu verarbeiten. Angesichts dieser Ereignisse ist es eben die narrative Kategorie der Zeit – das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit, von iterativen und repetitiven 55 Delbo: Mesure de nos jours, S. 199.

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Momenten und die zertrümmerte Chronologie der Narration –, mit der das Unfassbare und kaum angemessen Erzählbare der Shoah vermittelt wird: Der sowohl bei Levi als auch bei Delbo am Schluss der Erzählung platzierte Traum macht innerhalb weniger Zeilen die zuvor ausführlich erzählte Überlebensgeschichte zunichte. Eben dieselbe Erfahrung wird uns in einer vergleichbaren narrativen Konstruktion als Traumerzählung bei Jorge Semprún am Ende dieses Kapitels begegnen. Der Traum katapultiert die für die Überlebenden nicht fassbare Realität mit einem einzigen Handstreich ins Unwahrscheinliche, Irreale und zwingt damit auch seine Leserinnen und Leser, das unvermittelt und abrupt in Erscheinung tretende illusionäre Moment eines Lebens nach der Shoah als wirklich anzuerkennen.

Der Traum von der Lagerrückkehr im Traumspiel (Werner Fritsch) Zwei Eigenschaften des Schreibens von Charlotte Delbo, die im untersuchten Begräbnis-Kapitel bereits erkennbar wurden, verweisen indirekt auf eine andere Gattung von Shoah-Träumen, nämlich auf die dramatische Gestaltung des Traumerlebens. Es sind dies zum einen die besondere Körperlichkeit, die in den Texten Delbos eine ganz eigene Präsenz erlangt,56 und zum anderen die Verselbstständigung der Figurenrede in besagtem Kapitel: Hier fallen die verba dicendi zunehmend weg, die Figuren werden in ihrer Individualität immer unwichtiger („[q]uelqu’un reprenait“, „répondait une autre  …“), selbst der ausführliche Traumbericht von der freiwilligen Rückkehr ins Lager hat eigentlich gar kein eindeutig zuzuordnendes Sprechersubjekt mehr. Die Rede verselbstständigt sich, wobei wörtliche und Gedankenrede sich vermischen, das Geschehen immer szenischer präsentiert wird, ja zum Ende hin fast ausschließlich aus Figurenrede besteht. Solche Momente der Vergegenwärtigung des Vergangenen treten in einem Theaterstück, das auf eine erzählende Instanz gänzlich verzichtet, noch unmittelbarer hervor. Im Falle von Aller Seelen, einem explizit als Traumspiel bezeich-

56 Vgl. Silke Segler-Messner: „Le genre, le récit et le corps: Aucun de nous ne reviendra de Charlotte Delbo et L’espèce humaine de Robert Antelme“, in: Romanische Studien 2 (2015), S. 81– 104, und zum Körper bei Fritsch Anna Opel: „Der Sprache einen Körper zurückgeben“, in: Werner Fritsch: Aller Seelen. Golgatha. Stücke und Materialien, Frankfurt am Main, Suhrkamp 2000, S. 124–129.

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neten Dramentext von Werner Fritsch aus dem Jahr 2000,57 wird die Nähe zu Delbo zusätzlich noch dadurch unterstrichen, dass die Figuren über weite Strecken hinweg ebenfalls in Versen sprechen und diese gebundene Sprache mit alltagssprachlicher Rede kombiniert wird.58 Bei diesem Beispiel aus dem Bereich der Dramatik haben wir es nun erstmals mit einem zeitgenössischen Werk zu tun; und zwar einem Werk, das nicht nur mit mehreren Jahrzehnten Abstand zum historischen Geschehen entstanden ist, sondern zugleich auch von einem Autor stammt, der selbst kein Shoah-Überlebender ist. Das inszenierte Geschehen weist allerdings deutliche autobiographische Bezüge auf, nämlich zur Ermordung der eigenen Großeltern.59 Der „unmittelbare Wirklichkeitsraum“,60 der auf der Bühne entsteht und den das Theaterpublikum mit den Figuren auf der Bühne teilt, vermag, zusammen mit der Absolutheit des Dramas, gespielten Träumen eine ausgesprochen eindringliche Wirkung zu verleihen: Zum einen sind die Figuren während der Aufführung in ihrer Körperlichkeit tatsächlich anwesend, zum anderen hat aber auch das Publikum in anderer Weise am Geschehen teil, als dies bei allein schriftlich vorliegenden Texten der Fall ist. Es kann sich den Figuren und ihrem Erleben nicht entziehen, es ist, wie Müller-Wood dies formuliert, „passiv der illusionären Wirklichkeit ausgeliefert“.61 Die Nutzung verschiedener medialer Kanäle, die Manfred Pfister als Hauptcharakteristikum der dramatischen Gattung ansieht,62 bewirkt zudem eine besondere emotionale und sinnliche Qualität der Darstellung, die sich auch jenseits des sprachlich Vermittelten vollzieht. Mit Blick auf die Shoah-Thematik kommt dieser Dimension allein dadurch eine 57 Werner Fritsch: „Aller Seelen. Traumspiel“, in: Werner Fritsch: Aller Seelen. Golgatha. Stücke und Materialien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 7–67. 58 Darüber hinaus existiert die Thematik aus dem dritten Band der Auschwitz-Trilogie auch in einer dramatisierten Form, nämlich in „Qui rapportera ces paroles  ?“ [1974], in: Charlotte Delbo: Qui rapportera ces paroles ? Et autres écrits inédits, Paris: Fayard 2013, S. 16–46. Vgl. hierzu auch Marianne Closson, die feststellt, dass das Theater innerhalb der „littérature concentrationnaire“ eine relativ selten verwendete Gattung ist, auf eine mimetische Annäherung an die Gräueltaten grundsätzlich verzichtet und stattdessen auf Monologe zurückgreift, die Erinnerungen von Überlebenden wiedergeben. Marianne Closson: „Qui rapportera ces paroles ? de Charlotte Delbo. Le Théâtre peut-il ‚représenter‘ Auschwitz ?“, in: Christiane Page (Hrsg.): Écritures théâtrales du traumatisme. Esthétiques de la résistance, Rennes: Presses universitaires de Rennes 2012, S. 33–45, hier S. 33–34. Eine vergleichbare These verfolgt, allerdings ohne Fokus auf die Traumthematik, auch Françoise Heulot-Petit in: „Le monologue théâtral face au dédoublement de la mémoire dans Une scène jouée dans la mémoire, Les Hommes, et Qui rapportera ces paroles ? de Charlotte Delbo“, in: Christiane Page (Hrsg.): Écritures théâtrales du traumatisme. Esthétiques de la résistance, Rennes: Presses universitaires de Rennes 2012, S. 69–84. 59 Vgl. Bernhard Setzwein: „Wondreb-Kosmos“, in: Werner Fritsch: Aller Seelen. Golgatha. Stücke und Materialien, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 131–133. 60 Anja Müller-Wood: „Drama“, in: Lamping: Handbuch, S. 143–157, hier S. 143. 61 Müller-Wood: Drama, S. 145. 62 Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse [1977], München: Fink 2001, S. 24–30.

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große Bedeutung zu, dass die Aufführung des Stückes selbst zu einer gemeinsamen Erfahrung wird:63 Das intersubjektive Mit-Erleben des Traums beinhaltet auch eine unmittelbarere Form der Gewaltdarstellung, die für das Publikum zu einer Art kollektiv geteilter Gewalterfahrung wird. Freilich gilt es methodisch Inszenierung, Aufführungsgeschehen und dramatischen Prätext64 zu unterscheiden. Die Wirkung dieser plurimedialen ästhetischen Form tritt jedoch erst in Gänze zutage, wenn alle drei Dimensionen des Theatralen zusammenspielen. Bei Fritschs Traumspiel handelt es sich eindeutig um ein Drama mit offener Struktur. Vieles spricht zudem dafür, dass wir es mit einem postdramatischen Stück zu tun haben.65 Und hier wird die genuine Verbindung zwischen Gattung und Traum besonders offensichtlich: Die Identität der Figuren ist nicht eindeutig geklärt bzw. verschwimmt, verdoppelt oder zersplittert sich, die Zeit ist durch Sprünge, zyklische Strukturen, überzeitliche Momente und flashbacks geprägt, Räume überlagern und verschachteln sich, biologische und physikalische Grenzen werden überschritten, etwa indem Tote auftreten oder Figuren zugleich alt und jung sind. Die drei Teile des Dramas spielen jeweils an Allerseelen, also dem Totengedenktag der Jahre 1943, 1944 und 1945 an unterschiedlichen Orten: in einem Bauernhaus an der slowenischen Grenze, im Konzentrationslager Flossenbürg sowie in einem Nachkriegshaus in der Nähe des Lagers.66 Das Stück besteht, wie es in der Vorbemerkung ausdrücklich heißt, aus den Erinnerungen und Träumen der sterbenden Christa.67 Diese beobachtet zunächst, das ist der erste Teil des Traumspiels, wie ihr als Partisan verdächtigter Vater von Soldaten der Wehrmacht erschossen wird. Im zweiten Teil wird sie selbst ins Konzentrationslager deportiert und erlebt dort Folter und Tod der Mitgefangenen. Im dritten Teil schließlich sieht sie nach der Befreiung aus dem Lager, selbst zu Tode erstarrt, wie nun ehemalige, plündernde KZ-Häftlinge ihrerseits einen Mord (offensichtlich an Christas Mann, den sie im KZ geheiratet hat) begehen. Damit kann das gesamte Bühnengeschehen als ein Sterbetraum Christas aufgefasst werden. Für unsere Ausgangsfrage, wie welche Gattung mit 63 Vgl. Hans-Thies Lehmann: „Der Körper, das Opfer, der Voyeur“, in: Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 1999, S. 379–399. 64 Ich verwende die Terminologie Manfred Pfisters. 65 Zu analysieren wären hier im Einzelnen die „postdramatische Zeitästhetik“, die „postdramatische Raumästhetik“ sowie „Text, Stimme, Subjekt“; Kategorien, die Hans-Thies Lehmann als wichtige postdramatische Kategorien anführt. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 327– 345, S. 291–307, S. 271–283. 66 Nobert Otto Eke bemerkt dementsprechend zu Fritschs Traumspielen, sie seien ein „versetzter Spiegel der Welt, in dem die Zeit als Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihre ordnende Funktion verloren hat, Tote und Lebende zugleich auf der Bühne agieren können“. Norbert Otto Eke: „Werner Fritsch: ,Theater gegen alles Theater‘“, in: Alo Allkemper/ Norbert Otto Eke/Hartmut Steinecke (Hrsg.): Poetologische-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben, München: Fink 2012, S. 371–387, hier S. 378. 67 Fritsch: Aller Seelen, S. 11.

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dem Problem der ‚Unsagbarkeit‘ umgeht, ist die Vorbemerkung, mit der Fritsch sein Stück beginnen lässt, besonders aussagekräftig, weil hier das Sprechen ausdrücklich durch die Trauminszenierung ersetzt wird: „[D]ie alte [Christa] liegt im Todeskampf, will immer wieder über ihre Vergangenheit sprechen, aber immer wieder näht ihr ein anonymer Herr die Lippen zu.“68 Darüber hinaus finden sich innerhalb der drei Teile des Dramas zusätzliche Träume weiterer Figuren. Vor allem gibt es mehrere durch den Nebentext eindeutig markierte Träume im Traum, die selbst wiederum Sterbeträume sind. Integriert werden aber auch flashbacks, Visionen, Halluzinationen und Obsessionen. In Aller Seelen werden also nicht nur Träume gespielt, es wird auch mit dem Traum gespielt. Werner Fritsch erhebt ihn, so Kristina Höfer, „als Form, Funktion und Modus der Wahrnehmung“ zum „zentralen Konstruktionsprinzip“. Der Differenzierung Höfers zufolge ist Fritschs Stück damit Traumspiel und gespielter Traum zugleich.69 Traumhafte Qualitäten bietet das Drama, wie erwähnt, bereits vielfach auf der Ebene des dramatischen Prätextes. Intensiviert bzw. geradezu potenziert werden sie jedoch in der performativen Dimension des Stückes: In der Uraufführung am Hamburger Thalia Theater unter der Regie von Johann Kresnik aus dem Jahre 2000 scheint das Theaterpublikum selbst zu Träumenden zu werden. Die Inszenierung des Traumhaften entsteht etwa durch die besonders verzerrte Akustik und den irritierenden Einsatz von Musik (der allerdings auch schon im Dramentext eine wichtige Rolle spielt), die Beleuchtung und damit verbundene Kontraste (das Dunkel ist derart vorherrschend, dass das Bühnengeschehen mitunter kaum zu erkennen ist) und eine ausgeprägte Körperlichkeit der geträumten Erfahrung: Der Tod der Neugeborenen wird beispielsweise inszeniert, indem eine schwarze Gestalt Kinder/Puppen aus dem Kinderwagen heraus, von Säuglingsschreien begleitet, immer wieder gewaltsam auf die Bühne schleudert – die dumpfen Geräusche, die diese Gewaltakte hervorrufen, intensivieren die Unheimlichkeit und Abscheulichkeit des Geschehens noch zusätzlich.70 Gerade das Zusammenspiel der unterschiedlichen medialen Kanäle für die ästhetische Traumgestaltung bewirkt also, dass das Theatererlebnis auch für das Publikum am eigenen Leib und mit allen Sinnen erfahrbar wird. „Ist Theater 68 Fritsch: Aller Seelen, S. 11. Die biologische Doppeldeutigkeit der „Lippen“ als Körperorgane ist sicherlich kein Zufall in einem Stück, das eindringlich den Zusammenhang zwischen Folter im Konzentrationslager, mehreren inszenierten Geburten und Fehlgeburten und dem Thema des sprachlichen Versagens, wenn es um die Kommunikation traumatischer Gewalterfahrung geht, herstellt. 69 Kristina Höfer: Traumspiele, S. 120. Höfer grenzt hiervon zusätzlich auf der Bühne erzählte Träume als eine Art Zwischenkategorie ab, die Pfister als Traummonologe bezeichnet. 70 Diese Beobachtungen werden allerdings nur aufgrund eines zehnminütigen und zudem technisch nicht optimalen Videomitschnitts der Uraufführung getätigt und müssen aufgrund dieser methodischen Problematik daher unter Vorbehalt stehen (https://www.you tube.com/watch?v=S1ga2KpcxH8&t=167s).

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nicht immer Traum?“ fragt Fritsch, für den die Theateraufführung die Aufgabe hat, „der Sprache einen Körper zurückzugeben“. Die Bühne ist nach Fritsch der Ort, „wo alle diesseits und jenseits der Rampe trotz oder dank der gleichen Luft in der Lunge, bei offenen Augen ganz eigene Träume in den Dunkelkammern ihrer Köpfe entwickeln können“.71 Damit bietet das Traumspiel für die Thematik des Konzentrationslagertraums ein besonderes Potenzial. Im Anschluss an die Befunde, die Kristina Höfer für diese dramatische Untergattung sowohl in historischer als auch synchroner Perspektive herausgearbeitet hat,72 und an Monika Schmitz-Emans, die im Traumspiel eine angemessene Gattung für die Vergegenwärtigung von vergangenen Ereignissen und individuellen wie kollektiven Erinnerungen sieht,73 lässt es sich folgendermaßen zusammenfassen: Das Stück folgt als Ganzes einer spezifischen Traumlogik, integriert aber zusätzlich gespielte Träume auf der Bühne. Diese werden zu einem Raum der Vergegenwärtigung verdrängter, unaussprechlicher, nicht als kohärente Geschichte erzählbarer Erinnerungen, die mithilfe intensiver intertextueller Bezüge sagbar werden. Im Falle von Aller Seelen sind dies vor allem Bibeltexte, aber auch Kirchenlieder und völkisches bzw. nationalsozialistisches Liedgut. Über die Inszenierung traumatischer Erfahrungen hinaus stellt der Traum einen Begegnungsraum mit den Toten dar, in dem der Dialog zwischen Überlebenden und Ermordeten (weiter-)geführt werden kann, welcher in der Wachwirklichkeit gewaltsam abgerissen, unterbrochen wurde. Der Traum widersetzt sich in seiner Eigenlogik also dem gewaltsam verweigerten Aussprechen der Erinnerungen, indem er diese auf der Bühne im wörtlichen wie zeitlichen Sinne ‚wieder-holt‘. Damit verschafft er der Vergangenheit den Raum, aus dem sie verdrängt wurde. Auf diese Weise wird in Aller Seelen sowohl das gesellschaftskritische und geschichtsreflektierende Potenzial des Traums selbst als auch das der Gattung Traumspiel vor Augen geführt.

71 Werner Fritsch: „Jenseits dieses Jahrtausends  – Furcht und Hoffnung, die Welt betreffend und das Theater“, in: Frisch: Aller Seelen, S. 135–138, hier S. 137. Die Auschwitz-Konnotation des Begriffs „Rampe“ dürfte kein Zufall sein. 72 Höfer: Traumspiele, S. 253–261. 73 Monika Schmitz-Emans: „The Dream Play (Shakespeare, Calderón, Strindberg, Handke)“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Mediating the Dream/Les genres et médias du rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2020, S. 405–427, hier v. a. S. 417 und S. 427.

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Der Traum von der Lagerückkehr im faktualen Traumbericht (Jean Cayrol) Widmen wir uns schließlich dem Traumprotokoll bzw. dem Traumnotat als eigene Textsorte. Wie werden Konzentrationslagerträume nach der Shoah dargestellt, wenn sie in ihrer schlichten Faktizität weder in einen größeren narrativen oder dramatischen Kontext eingebettet werden noch eine besondere poetische Überformung erfahren? Zu unterscheiden wären hier zunächst einmal autobiographisch-dokumentarische Traumnotate Überlebender von literarisierten Traumprotokollen, die Nachgeborene zu ganzen selbstständigen Textsammlungen zusammengefügt haben. In beiden Gruppen finden sich auffällig viele Konzentrationslagerträume; ihnen scheinen jedoch unterschiedliche Funktionen zuzukommen. Die größte Sammlung an Konzentrationslagerträumen findet sich in den Auschwitz-Heften unter dem Titel „Die Nächte gehörten uns nicht“ (vgl. Kapitel I).74 Vorrangig publizieren die Verfasser hier erinnerte Träume im Lager; es finden sich aber auch Träume, die nach der Befreiung geträumt wurden.75 Weil es in dieser Studie um den Zusammenhang zwischen Traum und Lagerhaft geht, stellen die Trauminhalte eindeutige Indikatoren für die Holocaust-Erfahrungen der Träumer dar, die weder bewertet noch erklärt werden. Nicht von Interesse sind zudem sprachliche Darstellung oder Erzählformen; nicht angemessen scheinen Deutungsversuche oder traumtheoretische Einordnungen seitens der

74 Zenon Jagoda/Stanisław Kłodziński/Jan Masłowski: „‚Die Nächte gehören uns nicht‘. Häftlingsträume in Auschwitz und im Leben danach“, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg): Die Auschwitz-Hefte 2 (1987), S. 189–239, hier S. 191. Da die Autoren nur eine kleine Auswahl der Traumberichte publiziert haben, hat der Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau das Material nochmals umfassender veröffentlicht und kommentiert: Piotr Cywiński: Sny obozowe w pamięci ocalałych z Auschwitz [Lagerträume in der Erinnerung von Auschwitz-Überlebenden]. Oświęcim: Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau 2016. Erwähnenswert ist allerdings, dass in Cywińkskis Buchausgabe auch ein kleines „Wörterbuch der Lagertraumdeutungen“ integriert ist, das die Überlebenden aus ihrer Erinnerung zusammengestellt haben. Dies verweist auf eine gewisse Praxis der Traumdeutung unter den Auschwitz-Häftlingen. Aufgeführt werden etwa Traumsymbole wie Äpfel, Wälder, Keller oder tote Menschen, die in den Augen der Häftlinge zumeist den bevorstehenden eigenen Tod oder den Tod eines nahestehenden Menschen bedeuten. Cywiński: Sny obozowe w pamięci ocalałych z Auschwitz, S. 76. Zur Praxis des Traumdeutens in Auschwitz vgl. auch Wojciech Owczarski: „The Ritual of Dream Interpretation in the Auschwitz Concentration Camp“, in: Dreaming 27/4 (2017), S. 278–289. Dieser situiert die Interpretation von Lagerträumen konsequent in einem kulturellen Raum zwischen jüdischer Traumkultur und den Traumdiskursen Polens. 75 Jagoda: Die Nächte, S. 191.

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Herausgeber. Das Traummaterial soll in seiner rein dokumentarischen Funktion als authentisches Zeugnis gewissermaßen für sich selbst sprechen.76 Genau umgekehrt verhält es sich mit Jean Cayrols 50-seitigem Essay Lazare parmi nous. Auch dieser Text ist eine Sammlung von Konzentrationslagerträumen (vgl. Kapitel II). Cayrol hatte sie, selbst im Lager Mauthausen inhaftiert, zusammengestellt, systematisiert und, ergänzt durch umfangreiche eigene Traumberichte, bereits 1949 erstmals publiziert. Hier jedoch ist der narrativ ordnende, systematisierende und vor allem deutende Eingriff des Autors nicht zu übersehen. Die Sammlung stellt eine regelrechte Typologie von KZ-Träumen dar, wobei Träume im Lager im Vergleich zu denjenigen, die im Schlusskapitel „Les rêves post-concentrationnaires“ präsentiert werden, den weitaus größten Raum einnehmen. Welche Funktion haben diese Nachkriegsträume als dokumentarisches Material innerhalb einer philosophisch-ästhetischen Argumentation über das Phänomen des Shoah-Alptraums? Zu den auffälligsten und folgenreichsten Merkmalen dieser faktualen Traumberichte gehört, dass sie stets in eine deutende Reflexion eingebettet sind, dass einzelne Traumdarstellungen also gerade nicht für sich stehen; und zwar tun sie dies in zweifacher Hinsicht nicht: Zum einen werden sie von Cayrol durchgängig kontextualisiert und interpretiert als authentische Zeugnisse, die das zum Ausdruck bringen, was die körperlich und seelisch schwer beschädigten Träumerinnen und Träumer selbst anders nicht in Worte fassen können. Traumberichte Dritter, eigene autobiographisch beglaubigte Träume und systematisierende Trauminterpretation des Autors gehen dabei oftmals Hand in Hand. Und zum anderen werden hier die einzelnen Träume meist gar nicht als individuelle Traumerfahrungen präsentiert, sondern stets in ihrer Repräsentativität für das traumatische Erleben einer ganzen Generation aufgefasst. Dies ist umso irritierender, als gerade diese post-konzentrationären Traumbespiele auf Leserinnen und Leser besonders individuell und originell wirken: Le premier [rêve] décrit le couple victime-bourreau et en donne les plus terribles transformations, les plus subtiles combinaisons. Un homme vient d’être tué  ; il est sur le plancher, couvert de sang. L’assassin s’approche de lui, se penche sur son visage et, de ses mains patientes, commence à le défigurer ; il travaille ses traits, creuse ses rides, agrandit sa bouche afin que la

76 Dem oben beschriebenen Desiderat einer dezidiert kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Material hat unlängst Wojciech Owczarski mit einer Verortung der Träume in ihrem diskursgeschichtlichen Kontext und der Untersuchung der begleiteten Berichte von Überlebenden im Hinblick auf die jeweils geäußerten Traumerfahrungen entgegengewirkt. Vgl. Wojciech Owczarski: „Dreaming ‚the Unspeakable‘? How the Auschwitz Concentration Camp Prisoners Experienced and Understood Their Dreams“, in: Anthropology of Consciousness 31/2 (2020), S. 128–152.

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victime puisse avoir la tête même de son assassin et supporter dans sa mort tout le poids du crime.77

Auch ein zweiter Traum wird einleitend situiert und gedeutet: Le deuxième rêve rejoint, peut-être inconsciemment, quelques concentrationnaires qui considèrent avoir été ‚privilégiés‘ en passant par un camp, persuadés que c’est une ‚initiation‘ nécessaire aux épisodes successifs d’une vie humaine. Le voici. Pour devenir un homme et être accepté comme tel dans la société moderne, chacun doit passer par une sorte de travaux forcés et supporter certaines dégradations corporelles. C’est ainsi que l’homme en revient avec des morceaux de visage en moins qu’on remplace par des bouts de carton rose.78

Wie in zahlreichen anderen Beispielen sind wir mit einer posttraumatischen Potenzierung des Leides konfrontiert: Zur Folter und Ermordung der Mithäftlinge hinzu kommt die Schuld des Täters, die hier vom Träumer zusätzlich ertragen werden muss, oder das Schuldgefühl, womöglich auf Kosten anderer überlebt zu haben. Einen weiteren Traum bezeichnet Cayrol explizit als „un rêve traditionnel, du plus pur concentrationnaire“: „Le rêveur“ „se trouvait brusquement couvert de poux d’un jaune d’or, il s fourmillaient son corps et il se débattait pour que sa femme, endormie près de lui, n’en fût pas atteinte“.79 Einmal abgesehen davon, dass Cayrol solche Träume als Auslöser und Symptome eines schweren körperlichen Leidens erkennt,80 weist er ausdrücklich und unmissverständlich darauf hin, dass es sich bei den Beispielen zwar um „un genre nouveau“ handle; vor allem aber seien es Träume, „qui valent pour tous“.81 Vergleicht man diese hier aufgeführten, von Cayrol als „klassisch“, „traditionell“ oder „allgemeingültig“ bezeichneten Traumbeispiele jedoch mit all jenen, die uns bislang in autobiographischen Berichten begegnet sind (und die ja durchaus vergleichbare Strukturen und ähnliche Motive aufwiesen), so sticht eher das Besondere daran hervor. Denn man wird nur schwerlich zugestehen können, dass es sich bei den goldgelben Flöhen, der handwerklichen Umgestaltung eines Mundes oder dem rosafarbenen Pappkarton, der fehlende Partien des Gesichts ersetzt, um ebenso typische Träume handelt wie etwa den Traum von der gescheiterten Heimkehr oder dem unmittelbaren Zurückversetztwerden der Überlebenden hinter den Stacheldraht. Natürlich geht es hier nicht 77 78 79 80

Jean Cayrol: Lazare parmi nous, Neuchâtel: La Baconnière 1950, S. 65. Cayrol: Lazare, S. 65–66. Kursivsetzung im Original. Cayrol: Lazare, S. 65. „Les rêves […] font mal, ils coupent le souffle, le cœur est atteint“, „Ces rêves font pression sur l’état mental de certains et réagissent sur le physique.“ Cayrol: Lazare, S. 64. 81 Cayrol: Lazare, S. 64.

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darum, die Glaubhaftigkeit der Cayrol’schen Thesen zu überprüfen, sondern darum, nach der damit verbundenen Intention und Wirkung des Essays zu fragen. Die Gattung des faktualen Traumberichts unterstreicht in besonderem Maße die autobiographische Authentizität, das dokumentarisch Beglaubigte der einzelnen Notate („on m’avait rapporté que“). Doch je individueller ein einzelner Traum zu sein scheint, desto vehementer betont Cayrol gerade dessen Repräsentativität und Kollektivität. Ähnlich wie in den autobiographischen Berichten von Levi, Delbo und anderen wird hier also am Einzelbeispiel das Überindividuelle der Traumerfahrung als authentisch betont. Und so verwundert es kaum, dass auch Cayrol seine Träume häufig in Iterativen erzählt: als ein in der Struktur oder Motivik oftmals wiederholtes Traumgerüst mit unterschiedlichen Variationen und Ausprägungen. Damit thematisiert die Traumsammlung Cayrols nicht nur die unerträgliche Last des Überlebens, die sich für die einzelnen Träumerinnen und Träumer vorrangig in Form von Schuld- oder Täterträumen artikuliert. Mit der Zusammenstellung zahlreicher einzelner Träume zu ganzen Klassen oder Typen soll zugleich die Stimme für diejenigen ergriffen werden, die im Lager zwar noch ihre Träume erzählt haben, die Shoah aber nicht überlebt haben und somit von ihren Erfahrungen selbst nicht mehr zeugen können.82 Der Differenzierung Manfred Engels zufolge, der sich ausführlich mit Traumnotaten von Dichtern beschäftigt hat, haben wir es im Falle des Schriftstellers Cayrol allem Anschein nach mit symbolorientierten Kurznotaten zu tun. Die Untergattung des empirischen Traumprotokolls jedenfalls, der man die historiographischen Traumdokumentationen in den Auschwitz-Heften eindeutig zuschreiben würde, gilt für Cayrol nicht.83 Auch im Essay Lazare parmi nous „wird der Traum auf wenige klar gefügte Grundmotive reduziert“, auch hier stehen Lexik und Motive im Vordergrund, weniger eine traumhafte Syntax.84 Und auch Cayrol geht es, dies machen vor allem seine Ausführungen zu den Träumen innerhalb des Lagers deutlich, um eine symbolische Deutung der Träume. Sie fungieren etwa als „Heilsbringer“, als Todeswarnungen, als religiös aufgeladene Trostspender oder dienen in ihrem rein abstrakten Trauminhalt auch als Kraftquelle, die vor der allmorgendlich neu anbrechenden Lagerqual schützen soll.

82 „Les morts ne peuvent plus parler“, sagt Cayrol. Diejenigen hingegen, die mit ihren Nachkriegsträumen das erlebte Grauen zu bezeugen vermögen, seien aber eben nicht, wie es bei Cayrol heißt, „am Ende des Leids angelangt“, um „die ganze Wahrheit zu schauen“. Cayrol: Lazare, S. 15 und S. 27 (Übersetzungen der Verfasserin). 83 Manfred Engel: „Traumnotate in Dichter-Tagebüchern (Bräker, Keller, Schnitzler)“, in: Manfred Engel/Bernard Dieterle (Hrsg.): Writing the Dream/Écrire le rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 211–237, hier S. 236. 84 Engel: Traumnotate, S. 237.

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Der Traum von der Lagerrückkehr im literarischen Traumnotat (Georges Perec) Der Textsorte der literarisierten Traumaufzeichnung hingegen, Engels dritte Traumberichts-Kategorie, wären die Traumprotokolle von Georges Perec, Hélène Cixous, Wolfgang Bächler, Andreas Okopenko oder Antonio Fian zuzuordnen. Diese zeichnen sich in erster Linie aus durch ihre „intensive und einheitliche poetische Durchgestaltung“.85 Alle fünf Traumsammlungen bergen explizite Konzentrationslagerträume.86 Beispielhaft sei hier ein Traum aus Georges Perecs La Boutique obscure. 124 rêves untersucht. Als eigenes literarisches Genre erhalten die Träume, wie Hans-Walter Schmidt-Hannisa für die Entwicklung des Genres seit Beginn des 20. Jahrhunderts gezeigt hat, „selbst den Status von Literatur“, und zwar durch bewusste Auswahl, Einordnung, literarische Gestaltung, mithin durch die „auktoriale Kontrolle über das Material“, und indem sie auf Erklärungen oder Rechtfertigungen verzichten.87 All dies ist in Perecs Traumsammlung zweifellos der Fall: Die 124 Träume sind durchnummeriert, folgen mit ihrer Datierung einer chronologischen Ordnung, sind mit Titeln versehen und in einem recht eigenwilligen Register am Ende des Buches verschlagwortet. Ausgerechnet der erste und der letzte Traum der Sammlung sind Konzentrationslagerträume. In Auseinandersetzung mit Wolfgang Bächler hat Bernard Dieterle festgestellt: „La langue du protocole tente justement d’être en prise directe sur l’imaginaire onirique“, „L’écriture protocolaire s’efforce d’enregistrer le rêve brut, de restituer l’authenticité d’expériences nocturnes personnelles.“88 Ein solches Bemühen ist auch bei Perec deutlich zu erkennen. Im ersten Traum der Sammlung sieht sich der Träumer in mehreren Sequenzen in ein Konzentrationslager versetzt und damit dem sicheren Tod ausgelie85 Engel: Traumnotate, S. 237. 86 Antonio Fian: „Interniert“, in: Antonio Fian: Im Schlaf. Erzählungen nach Träumen, Wien/ Graz: Droschl 2009, S. 22–23, Wolfgang Bächler: Traumprotokolle. Ein Nachtbuch, München: Hanser 1972, S. 71–72 und S. 108–109, Hélène Cixous: „Visite du Camps de concentration“, in: Hélène Cixous: Rêve, je te dis, Paris: Galilée 2003, S. 65–66, Georges Perec: La Boutique obscure. 124 rêves, Paris: Denoël 2015, „No 1, Mai 1968, La taille“ und „No 124, Août 1972, La dénonciation“, o. S., und Andreas Okopenko: „Das Halo“, in: Andreas Okopenko: Traumberichte, Linz/ Wien: Blattwerk 1998, S. 150–151 (zu Cixous vgl. Kapitel XII). 87 Hans-Walter Schmidt-Hannisa: „Nazi‐Terror and the Political Potential of Dreams. Charlotte Beradts ‚Das Dritte Reich des Traums‘“, in: Gert Hofmann u. a. (Hrsg.): German and European Poetics after the Holocaust, New York: Camden House 2011, S. 109–121, hier S. 109. 88 Bernard Dieterle: „Rêves, sciences du rêve et poésie lyrique“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Writing the Dream/Écrire le rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 45–56, hier S. 55 und S. 49.

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fert. Das Notat zeichnet sich durch zahlreiche gängige Aufzeichnungskonventionen der protokollarischen Traumdarstellung aus:89 Wir finden Fragezeichen hinter Begriffen, die das Geträumte nur undeutlich wiedergeben, eine Syntax, die passagenweise aus grammatikalisch verkürzten Sätzen oder aus Stichworten besteht, erklärende und präzisierende Zusätze in Klammern, Auslassungen oder die versuchsweise Verwendung mehrerer Begriffe in einer mit „oder“ versehenen Aufzählung. Auch das vielfach verwendete „vielleicht“ inszeniert das Flüchtige, Uneindeutige, Unfassbare des Phänomens Traum, das sich nur schwer in die sprachlich-narrative Ordnung übersetzen lässt. Insgesamt haben wir es hier aber mit einer eigentümlichen Mischung aus Traumnotat und Traumreflexion zu tun: Einerseits ist der Aufzeichnungsgestus ein tentativer, tastender, der das Unmittelbare und Ungeordnete des Traumerlebens festzuhalten versucht. Roger Bastide schreibt hierzu: „G. Perec a découvert, quant à lui, des solutions originelles, de façon, à sauvegarder l’authenticité des processus du rêve, et non point les enchaîner à un système pour ‚communiquer‘ avec les autres.“90 Doch dabei gehen Erinnern, Aufschreiben, Lesen, Modifizieren, Wiederlesen und Korrigieren offensichtlich Hand in Hand. Damit entsteht neben der unmittelbaren Wiedergabe des Geträumten auch eine beträchtliche Distanz zwischen Träumer und Traum. Ins Auge springt nämlich ein ausgesprochen systematischer Zugriff auf das Material: Nicht nur die Titelgebung weist darauf hin; vor allem geht der Verfasser auch abstrahierend und resümierend vor. Er benennt zentrale Motive und übergeordnete Themen als solche („Die Demütigung. Die Willkür. Der Schrank (die beiden Verstecke)“), fügt Begriffserklärungen ein (etwa, was im Traum unter „Reichtümer“ der Deportierten zu verstehen ist) und liefert die (unvollständige – und zudem fingierte oder falsch erinnerte) Quellenangabe für ein Theaterstück nach. Vor allem aber kommentiert und interpretiert er den Traum bereits im Zuge seiner Präsentation. Während für Engel und Dieterle das Traumprotokoll eine solche Auseinandersetzung mit dem eigenen Traum eigentlich eher ausschließt, scheint es für Perecs Sammlung geradezu konstitutiv zu sein. Und eben diese Deutung des Traummaterials bringt wesentliche Merkmale dessen zum Vorschein, worum es in diesem Beispiel geht: Konzentrationslagerträume von nicht unmittelbar Überlebenden, sondern mittelbar in die Shoah involvierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern der zweiten oder dritten Generation in Form literarischer Traumprotokollsammlungen.91 89 Engel: Traumnotate, v. a. S. 232–235. 90 Roger Bastide: „Postface“, in: Georges Perec: La Boutique obscure. 124 rêves, Paris: Denoël 1973, o. S. Das Zitat findet sich auf der dritten Seite des Nachworts. 91 Im Falle Perecs bedeutet das Zurückversetztwerden hier also weniger ein traumatisches flashback als vielmehr das Traumerleben eines „Opfers der zweiten Generation“. Geboren 1936, fällt Perecs Vater als Soldat, seine Mutter wird in Auschwitz ermordet.

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Eine der zentralen Eigenheiten solcher Träume ist die Selbstverständlichkeit des Lagers, das im Traum selbst weniger in seiner konkreten Ausgestaltung als vielmehr in seiner metaphorischen Dimension zutage tritt – jedoch ohne, dass es darum den Charakter existenzieller Bedrohung und unfassbaren Schreckens verlöre: Comme de bien entendu, je rêve et je sais que je rêve comme de bien entendu que je suis dans un camp. Il ne s’agit pas vraiment d’un camp, bien entendu, c’est […] un camp-métaphore, un camp dont je sais qu’il n’est qu’une image familière, comme si je refaisais inlassablement le même rêve, comme si je ne faisais jamais d’autre rêve, comme si je ne faisais jamais rien d’autre que de rêver de ce camp. Il est bien évident que cette menace de la toise suffit d’abord à concentrer en elle toute la terreur du camp. […] je suis entièrement soumis à son arbitraire [celui du tortionnaire] (exactement de la même façon que je suis soumis à ce rêve : je sais que ce n’est qu’un rêve, mais je ne peux échapper à ce rêve).92

Die Verschränkung der etymologischen Figur („den Traum träumen“) in chiastischen Wiederholungen und in jeweils dreifacher Verbindung mit dem geträumten „Lager“ in seiner „Selbstverständlich[keit]“ verdichtet das eigentlich nur als Bild vorhandene Lager, das der Träumer in der Wachwirklichkeit nicht aus eigener Erfahrung kennt, zu einer eigentümlichen und unheimlichen Präsenz. Den Gegenstand des Messholzes, mit dem das Häftlings-Ich schikaniert und gefoltert wird, benennt der Träumer selbst recht explizit in seiner Funktion der Verdichtung: In diesem Objekt ist der gesamte Lagerterror kondensiert. Darüber hinaus wird die Analogie zwischen Lager und Traum nicht nur erlebt, sie wird zudem als solche reflektiert. Der Träumer fühlt sich der Lagerwirklichkeit ausgesetzt, wie er seinem Traum ausgesetzt ist: Beides widerfährt ihm, beides unterliegt einer eigenen Stringenz und Logik, beides ist mit ohnmächtigem Erleben verbunden, beides birgt eine Unausweichlichkeit im doppelten Wortsinne. Damit ist auch die vom Träumer so betonte Selbstverständlichkeit des Lagers eine doppelte: Im Lager selbst weiß der Träumer, dass vom Offizier ergriffen zu werden und fliehen dasselbe bedeutet und beides gleichermaßen unnütz ist, weil es direkt in den Tod führt. Aber auch der Traum selbst birgt dieses Wissen um seine eigene Ausweglosigkeit: Indem er sich stets wiederholt und indem er stets dieses eine Lager, ‚das‘ Lager wiederholt, erlangt die Shoah auch für die Nachgeborenen im Traum eine unhintergehbare Allgegenwart. Interessant ist an Perecs Traumnotat diesbezüglich insbesondere der Schluss: Hier nimmt der Träumer wiederum eine Deutung vor, indem er zugleich auf andere – ältere, frühere – Träume verweist. Dabei bleibt offen, ob es sich um vergangene eigene (Lager-)Träume handelt oder um Konzentrationslagerträume 92 Perec: Boutique, N°1, „La taille“, o. S.

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anderer Überlebender. Aus seiner Traumepisode versucht er eine „Moral“ herauszulesen: La troisième séquence aurait sans doute pu, si je ne l’avais presque complètement oubliée, donner un nom à ce camp : Treblinka, ou Terezienbourg [sic], ou Katowicze [sic]. La représentation théâtrale était peut-être le ‚Requiem de Terezienbourg‘ (Les Temps modernes, 196, no., pp. … – …). La morale de cet épisode effacé semble se référer à des rêves plus anciens : On se sauve (parfois) en jouant …93

Im Traum hat der Träumer also die Möglichkeit, in sein Erleben eine Art doppelten Boden einzuziehen, die Unentrinnbarkeit gewissermaßen zu fiktionalisieren: Das Spiel, die Lagererfahrung als Theaterstück, bietet einen möglichen Weg nach draußen. Konzentriert man die Lektüre des Traumprotokolls auf diese Dimension der medialen Vermittlung der Shoah, so fallen zahlreiche weitere Verweise auf, sowohl in Perecs Lagerträumen als auch beispielsweise in den KZTräumen von Hélène Cixous (vgl. Kapitel XII) oder Antonio Fian. Bei ersterer wird das Lager als Dokumentationsstätte im Rahmen einer Führung erlebt; bei letzterem spielt der Träumer selbst in einem Dokumentarfilm über Konzentrationslager mit.94 Und auch bei Wolfgang Bächler wird das Konzentrationslager in einem Falle von einer geträumten Figur erzählt; im anderen geht es um eine Besichtigung von KZ-Baracken, die im Traumerleben selbst etwas Kulissenhaftes haben. Im Falle von Perec ist nicht nur ausdrücklich die Rede von einer „Theateraufführung“; auch das Requiem, der kulturwissenschaftliche Aufsatz oder, nimmt man seinen anderen KZ-Traum hinzu, das Theaterprogrammheft, das Erinnerungsalbum, die Dramenszene, die Zeitschrift oder die Vignette werden als Textsorten und Medien genannt, mit denen die Lagerwirklichkeit sprachlich oder visuell inszeniert wird. Als Traum wird sie über diese Medien zugleich sowohl unmittelbar erfahren als auch spielerisch auf Distanz gebracht. Auf diese Weise wird im Traum eine Gleichzeitigkeit erreicht, die im Wacherleben nicht möglich ist: Zum einen werden Angst, Folter, Terror und Tod in ihrer unmittelbaren Präsenz als unausweichlich erlebt; zum anderen erscheint dieses Erleben selbst „joli comme un programme de théâtre, avec de la publicité à la fin“.95 In seiner paradoxen Logik als selbstverständlich erzählen lässt sich eine solche Traumerfahrung im Grunde nur in der Form eines Protokolls. In dieser nackten, von allen Kontexten bereinigten Textsorte tritt die Fraglosigkeit des immer noch Präsenten, jederzeit Wiederholbaren besonders eindringlich hervor. Das Vergangene wird im Traum zur Gegenwart, zugleich aber auch zu dem, 93 Perec: Boutique, N°1, „La taille“, o. S. 94 Vgl. Wolfgang Bächler: Traumprotokolle. Ein Nachtbuch, München: Hanser 1972, S. 71–72 und S. 108–109. In einem Traumbericht „über KZ-Erlebnisse“ von Andreas Okopenko geht es um Fotos mit Hitler und weitere „Photocollagen aus der Nazizeit“ (Okopenko: Traumberichte, S. 151). 95 Perec: Boutique, N°124, o. S.

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was ständig neu bevorsteht und nur durch ein Wunder einen nicht tödlichen Ausgang nehmen kann: „Je sais ce qui nous attend. Je n’ai pas d’espoir. En finir au plus tôt. Ou alors, un miracle … Un jour, apprendre à survivre ?“96 Die mit dem Protokoll verbundene Unmittelbarkeit und Kontextlosigkeit, die offen lässt, wer hier in welcher Situation weshalb träumt, bewirkt nicht nur, dass der historische Abstand zur Shoah aufgehoben wird, sondern auch, dass Leserinnen und Leser des Protokolls in besonderer Weise involviert sind. Auch für sie ist das Erlebte gegenwärtig präsent, sie werden aufgefordert, die Lücken der Darstellung zu schließen – und dies womöglich gar durch die unwillkürliche Erinnerung an eigene Traumfragmente, von denen Perec so selbstverständlich annimmt, dass sie immer und überall vom Lager handeln. Im Grunde sind sie nichts anderes als immer neue Variationen ein und desselben Lagertraums.

Der Traum von der Lagerrückkehr in der metareflexiven, intertextuellen Autobiographie (Jorge Semprún) Abschließend sei hier noch die wichtige – und nach Primo Levi vielleicht bekannteste – Traumvariante vom Zurückversetztwerden ins Lager untersucht. Sie spielt für die Thematik dieses Kapitels eine besondere Rolle, weil sie in unmittelbarem Zusammenhang mit Primo Levi steht: Es geht um die Traumreflexionen von Jorge Semprún, die einen zentralen Erzählstrang vor allem seines späten autobiographischen Werks L’écriture ou la vie [1994] darstellen.97 Damit schließen die Überlegungen dieses Kapitels wieder an seinen Beginn an: Hatte Levi in seinem Schlusstraum aus La tregua von der trügerischen Illusion eines freien Lebens nach Auschwitz erzählt, so liefert er damit nicht nur einen eindrücklichen autobiographischen Traumbericht. Wie seine damit einhergehende traumtheoretische Reflexion deutlich macht, bildet er zugleich auch das Erzählmodell 96 Perec: Boutique, N°124, o. S. 97 Diesen komplexen Verbindungen zwischen L’écriture et la vie und den autobiographischen Schriften von Primo Levi widmet sich ausführlich Jaime Céspedes Gallego: La obra de Jorge Semprún. Claves de interpretación. Bd. 1: Autobiografía y novela, Bern u. a.: Peter Lang 2012, S. 99–104. Mit einem Fokus auf die Traumthematik liefert Maria Teresa De Palma die detaillierteste Studie zu den intertextuellen Referenzen auf Primo Levi, die sich in Semprúns Text finden. De Palma: Rêve et onirisme, S. 430–447. Beide sehen in den expliziten Bezugnahmen Semprúns auf die Levi’schen Intertexte das entscheidende Moment der Selbstkonstitution Semprúns als Schriftsteller. Céspedes Gallego: La obra, S. 102 und De Palma: Rêve et onirisme, S. 442. Dass das gesamte Schreiben Semprúns sich in kulturellen wie historischen Analogien, Anspielungen und Referenzen vollziehe, stellt Gérard de Cortanze fest. Gérard de Cortanze: Jorge Semprún, l’écriture de la vie, Paris: Gallimard 2004, S. 95.

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eines Traums, der in seiner Struktur mit unzähligen anderen Rückkehrerträumen vergleichbar ist, auch wenn sich die Details der einzelnen Traumerlebnisse unterscheiden mögen. Eben diese Traumsubstanz („la sostanza“), die Vorstellung, dass die Wirklichkeit nach dem Konzentrationslager nur geträumt sein könnte, macht Jorge Semprún zum grundlegenden Erzählprinzip seines autobiographischen Textes. Was er damit zusätzlich wieder aufnimmt, ist die bereits bei Levi vorhandene Verschachtelung, in der der Traum vom Zurückversetztwerden ins Konzentrationslager als Traum innerhalb eines weiteren Traums erscheint, welcher zugleich alles andere Erleben überlagert und erstickt. Eine solche verstörende Form der Wirklichkeitswahrnehmung, in der sich mehrere Traumebenen überlagern oder ineinander verschachteln, hat Semprún mehrfach auch in seinem autobiographischen Roman Quel beau dimanche ! von 1980 verarbeitet. Dort erscheint diese Realitätsverunsicherung allerdings weniger in Form von tatsächlichen Traumdarstellungen; die Erzählung des Traumerlebens tritt hinter die Reflexion des Traums zurück. So fragt sich der Erzähler relativ zu Beginn des Romans: „Avais-je rêvé ma vie à Buchenwald ? Ou bien, tout au contraire, ma vie n’était-elle qu’un rêve, depuis mon retour de Buchenwald ?“98 Diese Überkreuzung von mehreren Traumebenen – dem eigenen Träumen und dem Traum eines im KZ Ermordeten –, führt er an anderer Stelle weiter aus: C’est ma mémoire qui m’enracinait dans l’irréalité d’un rêve. La vie n’était pas un songe, ô non ! c’est moi qui l’étais. Et davantage : le songe de quelqu’un qui serait mort depuis longtemps. J’ai déjà nommé, malgré son innommable indécence, cette sensation qui m’a parfois assailli au cours des ans. Cette certitude sereine et totalement désespérée de n’être que le fantasme rêveur d’un jeune mort d’autrefois.99

Zudem lässt sich erkennen, dass das Semprún’sche Traumerleben im Abgleich mit einer ähnlichen Erfahrung, die Eduard Kusnezow viele Jahre später im Anschluss an seine Inhaftierung in einem sowjetischen Lager gemacht hatte, von Semprún in Quel beau dimanche ! deutlich als Symptom einer traumatischen Erfahrung konfiguriert wird. Das erzählende Ich stellt ausdrücklich fest, dass die realitätserschütternden Nachwirkungen der Lagerhaft, unabhängig davon, ob es sich um ein nationalsozialistisches Konzentrationslager oder um ein stalinistisches Straflager handelt, „unzweideutig“ dieselben Symptome hervorbringen: Ainsi, il semblait bien que tu n’avais pas été le seul à faire ce rêve, à rêver de vivre en rêve, à rêver d’être le rêve d’un mort d’autrefois. […] Il semblait donc bien que ton cas n’était pas désespéré, puisqu’il n’était pas unique. Une maladie de l’âme qui n’aurait atteint que toi, toi seul, aurait sans doute été inguérissable : il n’y a pas de 98 Jorge Semprún: Quel beau dimanche ! Paris: Gallimard 1980, S. 58. 99 Semprún: Quel beau dimanche ! S. 138.

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thérapeutique de l’extrême singularité, du cas unique. La science ne s’y intéresse pas. Ainsi, si ton cas n’était pas unique, si Kouznetsov avait bien ressenti – et le fragment de sa lettre que tu viens de citer le prouve sans équivoque – les mêmes symptômes que toi, au moins pourriez-vous un jour en parler ensemble.100

Semprún geht nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald davon aus, dass er während seiner Inhaftierung den Tod bereits erlebt habe, gewissermaßen durch den Tod hindurchgegangen sei und nun die Existenz eines „revenant“ im doppelten Sinne – also eines Rückkehrers, eines Wiedergängers, eines Gespenstes  – führe.101 Diese Todeserfahrung, so glaubt er zunächst während der ersten Nachkriegsmonate, könne er durch eine schreibende Auseinandersetzung mit den traumatischen Erlebnissen seiner Vergangenheit auf Distanz bringen. Er muss jedoch bald feststellen, dass jeder Versuch einer Verarbeitung durch das autobiographische Schreiben ihn dieser Erfahrung unweigerlich wieder von Neuem aussetzt. Durch die bewusste Konfrontation mit seinen Erinnerungen wird er unwillkürlich in die unmittelbare Nähe des Todes zurückversetzt. Daher versagt er sich über fast 20 Jahre hinweg das Schreiben und entscheidet sich stattdessen, wie er es formuliert, für das Leben: À Ascona, sous le soleil de l’hiver tessinois, à la fin de ces mois du retour dont j’ai fait ici un récit plutôt elliptique, j’avais pris la décision d’abandonner le livre que j’essayais en vain d’écrire. En vain ne veut pas dire que je n’y parvenais pas : ça veut dire que je n’y parvenais qu’à un prix exagéré. Au prix de ma propre survie, en quelque sorte, l’écriture me ramenant sans cesse dans l’aridité d’une expérience mortifère.102

Diese Entscheidung, sich dem Leben zuzuwenden, soll ihm helfen, gewissermaßen von den Toten wieder aufzuerstehen. Doch ein solches Unterfangen scheitert ebenfalls; Semprún erkennt, dass er, auch ohne sein autobiographisches Schreibprojekt zu realisieren, den Erinnerungen nicht entkommen kann. Vermag er diese auch rational auf Distanz zu halten, so brechen sie doch unwillkür100 Semprún: Quel beau dimanche ! S. 262. 101 Er schreibt, „la sensation […] très forte, de ne pas avoir échappé à la mort, mais de l’avoir traversée. D’avoir été, plutôt, traversé par elle. De l’avoir vécue en quelque sorte.  […] Car je n’avais pas vraiment survécu la mort, je ne l’avais pas évitée. Je n’y avais pas échappé. Je l’avais parcourue, plutôt, d’un bout à l’autre. […] J’étais un revenant, en somme. Cela fait toujours peur, les revenants.“ Semprún: L’écriture ou la vie, S. 25. Vgl. auch „La mort était une expérience vécue dont le souvenir s’estompait. Je vivais dans l’immortalité désinvolte du revenant.“ Semprún: L’écriture ou la vie, S. 283. Vgl. auch Avril Tynen: „‚Que peut la fiction ?‘ Storying the Unexperienced Experience in Jorge Semprún’s Fiction“, in: The Modern Language Review 115/1 (2020), S. 46–62, hier v. a. S. 57. 102 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 259 (Kursivsetzung im Original). Vgl. auch „La vie était encore vivable. Il suffisait d’oublier, de le décider avec détermination, brutalement. Le choix était simple : l’écriture ou la vie. Aurais-je le courage – la cruauté envers moi-même – de payer ce prix ?“ Semprún: L’écriture ou la vie, S. 241.

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lich und unwillentlich in das Bewusstsein ein. Hier fällt eine entscheidende Parallele zum autobiographischen Schreiben von Charlotte Delbo auf, die ja ihr Überleben ebenfalls keineswegs als ein ‚Wiederauferstehen‘ erfährt. Stattdessen bezeichnet sie das abrupte Auftauchen ihrer traumatischen Vergangenheit als ein sich stets neuerlich vollziehendes ‚Wieder-Sterben‘ („je remeurs“, vgl. Kapitel V).103 Semprún veröffentlicht daher 18 Jahre nach der Befreiung, im Jahr 1963, seinen ersten Roman, Le grand voyage, der den Beginn einer ganzen Serie an autobiographischen Texten markiert, welche stets um die Erlebnisse in Buchenwald kreisen.104 Auch in dieser Hinsicht stellt sein Schreiben also eine Umsetzung des Levi’schen Traumdiktums von der Wiederholung immer desselben Alptraums in verschiedensten Variationen dar. In Le grand voyage macht er seine Deportation in das KZ Buchenwald zum Gegenstand: Erzählt wird der fünftägige Eisenbahntransport, in den u. a. Erinnerungen an seine Kindheit in Spanien vor dem Exil, seine Tätigkeit in der Résistance in Frankreich, aber auch Erlebnisse, die zeitlich der Deportation nachgeordnet sind, etwa die Inhaftierung im KZ, eingearbeitet werden. Es handelt sich hier um ein geradezu onirisches Konstruktionsprinzip, das den sprunghaften Assoziationen des Überlebenden während des nachträglichen Schreibprozesses geschuldet ist.105 Eben solche Strukturen des Erinnerns, des Vergessens, des unwillkürlichen Überschwemmtwerdens durch die zurückliegenden Erlebnisse  – vor allem durch körperlich-sinnliche Reize wie Gerüche oder visuelle Eindrücke  – und das Gefühl einer alptraumhaften Ent-Realisierung der erlebten Gegenwart, werden nun zum zentralen Programm seines späten autobiographischen Textes 103 Beiden gemeinsam ist darüber hinaus die körperliche Dimension, die für die literarische Gestaltung der Todeserfahrung eine herausragende Rolle spielt. Zum „désarroi charnel“ bei Jorge Semprún, der auch die körperliche Erfahrung des Todes eines Anderen umfasst (wie im Falle des Sterbens von Maurice Halbwachs in Buchenwald, Semprún: L’écriture et la vie, v. a. S. 55–58), vgl. Élisabeth Conesa: „Jorge Semprún: L’écriture ou la vie“, in: Cahiers jungiens de psychanalyse 119–120/3 (2006), S. 99–112, hier S. 103. 104 Dieser durchgehenden thematischen Grundstruktur seines Gesamtwerks widmet sich differenziert die Untersuchung von Monika Neuhofer: ‚Écrire un seul livre, sans cesse renouvelé‘. Jorge Semprúns literarische Auseinandersetzung mit Buchenwald, Frankfurt am Main: Klostermann 2006. Die erzählten Träume im Werk Semprúns beschreibt Maria Teresa De Palma daher treffend als ein „tissage narratif, discursif et intratextuel“. De Palma: Rêve et onirisme, S. 430. 105 Insofern werden hier auch bereits die Alpträume vorweggenommen, die sich später in Buchenwald zutragen: „C’est la nuit qui tombe, la quatrième nuit, qui réveille les fantômes. Dans la cohue noire du wagon, les types se retrouvent tout seuls, avec leur soif, leur fatigue, leur angoisse. Il s’est fait un silence lourd, coupé par quelques plaintes indistinctes, continues. Toutes les nuits, c’est pareil. Plus tard, il y aura les cris affolés de ceux qui croient mourir. Des cris de cauchemar, qu’il faut arrêter par n’importe quel moyen.“ Jorge Semprún: Le grand voyage [1963], Paris: Gallimard 2016, S. 34. Vgl. Rita Rodríguez Varela: „Trauma y testimonio. La experiencia de Jorge Semprún“, in: Thélème. Revista Complutense de Estudios Franceses 33/1 (2018), S. 85–97, hier S. 91.

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L’écriture ou la vie. Ein durchgehendes Reflexionsmoment ist die unüberbrückbare Kluft, die der Autor zwischen Leben und Schreiben wahrnimmt und die er in immer wieder neuen Verschachtelungen und Assoziations-Serien durcharbeitet. Insofern ist L’écriture et la vie nicht nur der Bericht eines Überlebenden, sondern vor allem auch eine Auseinandersetzung mit den existenziellen Schwierigkeiten der Realisierung dieses Berichts selbst. So gehen autobiographisches Erzählen, erinnerungstheoretische Auseinandersetzungen und poetologische Reflexionen zum Entstehungsprozess des Werkes eine untrennbare Verbindung ein. Es entsteht eine Art Meta-Autobiographie, welche die selbstreflexive Dimension des Schreibens in den Vordergrund rückt. Damit ist auch eine intensive intertextuelle Arbeit verbunden. Es finden sich, über Primo Levi hinaus, auch zahlreiche weitere Autoren, Politiker, Philosophen und deren Texte, die oftmals in Form von Zitaten in den eigenen Reflexionsprozess einbezogen werden.106 Insofern jedes Kapitel des Textes wieder aufs Neue von einem traumatischen Einbrechen der Lagererfahrung in die Erzählgegenwart handelt, muss das um diese flashbacks herum organsierte autobiographische Schreibprojekt Semprúns als unabschließbar gelten. Vom Eindruck einer Entwirklichung der Gegenwart durch den Traum berichtet Semprún an verschiedensten Stellen seines Buches. Zur narrativen und poetologischen Eigenart des Semprún’schen Traumerzählens gehört, dass die Träume oft nicht eindeutig als Schlafträume markiert und selten linear in den Erzählvorgang eingebunden sind. Sie wiederholen sich, finden Eingang in unterschiedliche Erzähl- und Reflexionsebenen, werden mehrfach von Neuem evoziert oder weitergeschrieben. Damit entsteht der Eindruck, sie bildeten einen eigenen, selbstständigen Erzählstrang. Dies führt Annika Nickenig zu einer wichtigen Schlussfolgerung über die Funktion der Träume bei Semprún. „Die Rhetorik des Traums“, so stellt sie fest, wird zu einem stilistischen Mittel, um die Durchlässigkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und unmittelbarem Erleben darzustellen. Die Erinnerungen und Assoziationen, die sich auf die Zeit im Lager beziehen, sind in die gegenwärtige Gedankenwelt und in das Schreiben nicht integrierbar, sondern bilden ein zweites, konkurrierendes Leben.107 106 Vgl. neben vielen anderen etwa Léon Blum (S.  16–17), Michail Alexandrowitsch Bakunin (S.  227–241), Emmanuel Levinas und Martin Heidegger (S.  110–114), Daniel Cohn-Bendit (S. 319), Marcel Proust (S. 269, S. 173 u. a.), John Keats (S. 224), Franz Kafka (u. a. S. 302–304), Heinrich Heine (S.  54–55), César Vallejo (S.  227), Maurice Halbwachs (S.  270 u.  v.  a.) und immer wieder Goethe bzw. die Weimarer Kultur, die dem Autor nicht zuletzt deshalb in den Sinn kommt, weil er intensiv über den minimalen geographischen Abstand zwischen Weimar und Buchenwald nachdenkt. Vgl. v. a. das letzte Kapitel „Retour à Weimar“, in Semprún: L’écriture ou la vie, S. 316–350. 107 Annika Nickenig: „‚Arrach[é] au rêve de la vie‘. Häftlingsträume und Lagertrauma in literarischen Texten über die Shoah (Levi, Antelme, Semprún)“, in: Susanne Goumegou/Marie

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Wobei anzumerken bleibt, dass Semprún die Träume ja letztlich sehr wohl in das Schreiben integriert (ein Großteil der Traumpassagen findet sich vielsagenderweise innerhalb des Kapitels „Le pouvoir d’écrire“108) – eben als Erschütterungen und kontinuierliche Infragestellungen eines linearen oder ‚realistischen‘ autobiographischen Erzählens. So findet sich auch der Traum vom Zurückversetztwerden ins Lager an mehreren Stellen, auf unterschiedlichen Ebenen und zudem zerstückelt, als eine Art Traumserie, die den Erzählfluss chronologischer Ereignisse jäh durchbricht. Er ist beispielsweise eingebettet in den Bericht der ersten Nachkriegsjahre, in denen Semprún versucht, sich ins Leben zu stürzen, seinen „appétit de vivre“ auszukosten („Tout s’annonçait bien, cette soirée était une fête de plus“109). Eine unheimliche Vorahnung und die Gewissheit als KZ-Überlebender gänzlich wurzellos zu sein, suchen ihn bereits heim, als er, der Wiedergänger „sans domicile fixe“,110 mit seiner Freundin in einer leerstehenden Wohnung übernachtet. Es folgt eine Reflexion aus der Erzählgegenwart, die das, was im Folgenden erst berichtet wird, bereits als ein wiederkehrendes Gefühl der Wirklichkeitserschütterung charakterisiert. Sodann gibt Semprún seine Erinnerungen an frühere Begegnungen mit der Freundin wieder: Aus ihnen entwickelt sich eine intensive Liebesbeziehung, welche den Erzähler Schritt für Schritt ins Leben zurückführt, bevor in diese Situation der Heilung und Vitalität abrupt die Vergangenheit einbricht. Das autodiegetische Ich erzählt von seinem Traum, in dem es sich wieder ins Lager zurückversetzt sieht, und dem nächtlichen Hochschrecken aus diesem Alptraum. Entscheidend ist, dass der Bericht dieser Erfahrung sich über fünf Seiten erstreckt und von weiteren Erinnerungen und Reflexionen durchzogen ist. Der Augenblick des erschreckten Erwachens wird mehrmals erzählt, als handle es sich um ein Immer-Wieder-Erwachen aus immer demselben Traum: Je m’étais réveillé en sursaut, à deux heures du matin. ‚Réveillé‘ n’est d’ailleurs pas le terme le plus approprié, même s’il est exact. Car j’avais effectivement quitté, dans un soubresaut, la réalité du rêve, mais ce n’était que pour plonger dans le rêve de la réalité : le cauchemar plutôt. Juste avant, j’étais égaré dans un univers agité, opaque, tourbillonnant. Une voix, soudainement, avait retenti dans ces parages confus, y mettant bon ordre. Une voix allemande, chargée de la vérité toute proche encore de Buchenwald.

Guthmüller (Hrsg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen  & Neumann 2011, S.  285–299, hier S. 297. 108 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 169–227. 109 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 176. 110 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 182.

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Krematorium ausmachen ! disait la voix allemande. ‚Crématoire éteignez !‘ Une voix sourde, irritée, impérative, qui résonnait dans mon rêve et qui, étrangement, au lieu de me faire comprendre que je rêvais, comme il arrive habituellement dans des cas semblables, me faisait croire que j’étais enfin réveillé, de nouveau  – ou encore, pour toujours –, dans la réalité de Buchenwald : que je n’en étais jamais sorti, malgré les apparences, que je n’en sortirais jamais, malgré les simulacres et les simagrées de l’existence. Pendant quelques secondes – un temps infini, l’éternité du souvenir – je m’étais retrouvé dans la réalité du camp, une nuit d’alerte aérienne.111

Auf die erneute Situation des panischen Aufwachens und die Vergewisserung, dass der Eindruck des Träumers, im Schlaf geschrien zu haben, offensichtlich trügt, folgen in Semprúns Traumpassage mehrere Reflexionen: Es geht um das nochmalige nachträgliche Bereuen, durch das unheimliche Gefühl tags zuvor nicht rechtzeitig gewarnt gewesen zu sein, und weitere Erinnerungen aus der glücklich-verliebten Zeit vor dem Einschlafen. Sodann trübt die Wahrnehmung von Schneeflocken die Erinnerung des Erzählers; von Flocken, die ebenso weißer Schnee wie Flocken grauen Rauchs aus den Krematorien sind. Diese schneeartige Asche, die sich in der Vorstellung des autobiographischen Ich nicht nur über die eigene Wahrnehmung, sondern über die gesamte Außenwelt legt – und zudem aufs Engste mit dem Prozess des Schreibens verbunden wird112 –, bildet auf die gesamte Autobiographie bezogen eine Art Leitmotiv des Textes. Hinsichtlich der konkreten, hier berichteten Situation bildet es den Übergang zu einer erneuten Traumreflexion: Je m’étais réveillé en sursaut,

wiederholt der Autor nochmals, bevor er fortfährt: Mais le réveil ne tranquillisait pas, n’effaçait pas l’angoisse, bien au contraire. Il l’approfondissait, tout en la transformant. Car le retour à l’état de veille, au sommeil de la vie, était terrifiant en lui-même. C’était que la vie fût un songe, après la réalité rayonnante du camp, qui était terrifiant.113

111 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 180–181. U. a. nimmt er diesen Traum zum Ende der Autobiographie hin nochmals wieder auf, führt ihn dort aber anders weiter: Die Stimme, die den Befehl „Krematorium ausmachen!“ ruft, verwandelt sich in diejenige von Zarah Leander, mit deren Schlagern in Buchenwald sonntags das Konzentrationslager beschallt wurde. Dass ihm diese Stimme im Traum begegnet, wertet er als ein Zeichen, „das er im Traum an sich selbst gesandt“ hat, eine Reise nach Weimar zu unternehmen und damit auch, sein Buchprojekt L’écriture ou la vie zu realisieren. Semprún: L’écriture ou la vie, S. 317–318. 112 Vgl. u. a. Semprún: L’écriture ou la vie, S. 275–277 und besonders S. 309–315. 113 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 183.

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Hier zeigen sich deutlich sowohl die serielle als auch die verschachtelte Traumstruktur dieses nächtlichen Erlebens: Einerseits wiederholen sich Traumerlebnis und Aufwachen offensichtlich mehrfach. Andererseits erweist sich das Erwachen aus dem Traum nicht als Übergang in den Wachzustand, sondern als Schritt in eine weitere Traumebene, welche die gesamte Wirklichkeit ent-realisiert. Ohne dass der Autor dies an dieser Stelle bereits explizit macht, springen damit die Parallelen zu Primo Levis Traum vom Zurückversetztwerden ins Lager ins Auge: Hier stellt ebenfalls die Stimme aus dem Lager, die in ihrer speziellen Beschaffenheit in aller Deutlichkeit wahrgenommen wird, die Verbindung zwischen Traum und Wachwelt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Darüber hinaus dringt nicht nur die vormals erlebte Lagerwirklichkeit in den Traum ein. Es sind zudem die Träume, die Semprún bereits im Lager geträumt hatte (vgl. Kapitel IV), welche ihn nach der Rückkehr von Neuem heimsuchen. Wie bei Levi der Befehl „Wstawać!“ bereits während der Inhaftierung im Konzentrationslager in das Traumerleben eindringt und als solcher auch die Alpträume nach der Rückkehr durchzieht, so ist es in Semprúns Autobiographie das nächtliche Erleben aus der Lagerzeit – das Erlebnis des Fliegerangriffs und die bis ins Traumerleben vordringende Lautsprecherdurchsage des Lagerkommandanten –, das für den Träumenden die Gewissheit herstellt, dass das Leben nach dem Lager nur geträumt sein kann.114 Die Gegenwart des Lagers stellt also die einzig mögliche, unhintergehbare Realität dar.115 Wie bei Levi bricht zudem ein solches Traumerleben ausgerechnet in jenem Moment als Nebel bzw. als Strudel in die Gegenwart ein, in dem diese in ihrer Friedlichkeit und Harmonie ‚zu schön scheint, um wahr zu sein‘. Das Leben nach dem Lager wird durch die Erfahrung des Lagers regelrecht zersetzt. Und wie in Levis Gedicht schließlich, das zu Beginn dieses Kapitels analysiert wurde, verbinden sich auch in der rhetorischen und narrativen Gestaltung dieser Traumpassage von Jorge Semprún unauslöschliche Vergangenheit, erschütterte Gegenwart und unzugängliche Zukunft. Eine derart intensive Verflechtung von Träumen im Lager mit den Träumen nach dem Lager hebt das Traumerleben der Traumatisierten also auf eine meta-onirische Stufe: Es handelt sich gewissermaßen um Träume zweiten Grades. Diese überziehen die Wirklichkeit, um das Bild Semprúns zu verwenden, mit Metastasen oder verschlingen diese vollständig.116 114 In dieser zeitlichen Differenz zwischen präsentischem Lagererleben und nachträglichem Aufblitzen der Lagererfahrung im Alptraum sieht Dorota Glowacka in Anknüpfung an die Traumatheorie von Cathy Caruth ein Element traumatisierten Schreibens, mit dem sich die zirkuläre Erzählstruktur des Textes („circular narrative“) erklären lasse. Dorota Glowacka: „‚Don’t leave me, pal‘. Witnessing Death in Semprún’s Buchenwald Narratives“, in: Ofelia Ferrán/Gina Herrmann (Hrsg.): A Critical Companion to Jorge Semprún. Buchenwald, Before and After, New York: Palgrave Macmillan 2014, S. 91–106, hier S. 102. 115 Diese Beobachtung macht auch Annika Nickenig: Arrach[é], S. 296. 116 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 269.

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Dass die Traumberichte Semprúns nie einfache Traumdarstellungen sind, sondern stets intensiv mit Traumreflexionen verbunden werden, zeigt das Kapitel „Le jour de la mort de Primo Levi“. In diesem Kapitel werden zudem die Aporien der Realisierung seiner Autobiographie insoweit aufgelöst, als sie als solche in den Erzählprozess integriert sind.117 Hier stellt der Erzähler selbst die enge Verbindung zu Primo Levi her – und zwar über die Ähnlichkeit ihrer Träume. Anlass für das erneute Nachdenken über den Traum vom Zurückversetztwerden ins Lager bildet die im Radio gesendete Nachricht vom Tod Primo Levis. Für Semprún verbindet der Tod des Auschwitz-Überlebenden zwei eigentlich unvereinbare Einsichten: Zum einen scheint der Selbstmord Levis Semprúns bitterer Erkenntnis recht zu geben, das Lager ließe sich nicht überleben, die Begegnung mit dem Tod sei unauslöschlich. Insofern vollziehe Levi mit seinem Selbstmord den eigenen Tod ein zweites Mal.118 Zum anderen trägt die Nachricht dazu bei, den eigenen Tod als weniger unmittelbar zu erfahren – sie verschafft dem Erzähler einen Aufschub, transferiert das eigene Sterben erneut in die Zukunft, vermittelt ihm, dass er noch am Leben ist.119 Auch in diesem Kapitel verläuft die Traumreflexion über viele Seiten hinweg und ist aufgesplittet in mehrere Passagen, die sich wörtlich wiederholen. Hier allerdings sind es die Traum-Zitate aus Levis La tregua, die das Erzählen strukturieren.120 Über ganze 19 Seiten hinweg zitiert Semprún, durch Anführungszeichen und Kursivsetzung doppelt hervorgehoben, immer wieder einzelne Sätze aus Levis Schlusstraum. Hieran hangelt sich in zyklischen Bewegungen der Gedankengang des Erzählers entlang:121 Zwischen die Zitate fügt er in assoziativer Abfolge ausführliche Paraphrasen zu Levis Traumerlebnis, analysierende Kommentare zu dessen Struktur, rückblickende Erinnerungen an den Tag, an dem er von seinem Tod erfahren hat, sowie poetologische Bemerkungen zum Verhältnis zwischen Leben und Schreiben ein. Und immer wieder werden die Sätze aus La tregua fortgesetzt durch die Erzählung eigener Traumerfahrungen, die denen Levis ähnlich sind oder diese ergänzen. 117 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 257–287. Hier kommt das Buch gewissermaßen bei sich selbst an: „J’écrivis au feutre gras : L’ÉCRITURE OU LA MORT“ (Semprún: L’écriture ou la vie, S. 266, Großschreibung im Original). 118 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 282. 119 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 282–283. 120 Das intertextuelle Verhältnis zwischen La tregua und L’écriture ou la vie ist bereits detailliert erforscht. Vgl. dazu exemplarisch Javier Sánchez Zapatero: „Jorge Semprún y Primo Levi. Escritura y memoria de los campos de concentración“, in: Revista de Filología Románica 33 (2016), S. 179–189 und Greg Herman: „Exploring the Canon: Jorge Semprún and the Legacy of Primo Levi“, in: Journal of War & Culture Studies 10/4 (2017), S. 356–369. 121 Eva Raynal bezeichnet dieses zirkuläre, oftmals proleptische Erzählen als ein „va-et-vient continuel [permettant] d’apporter un éclairage nouveau, qui conduit à une lecture différente d’un événement passé ou future“. Eva Raynal: „Le déporté chez Semprún et Vercors, figures de la zone grise“, in: Littera Incognita 8 (2017), o. S.

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Eröffnet wird diese Passage übrigens durch die These, dass der Traum vom Zurückversetztwerden ins Lager eben kein individueller, sondern ein kollektiver sei. Nicht nur Levi und der Erzähler selbst erleben ihn auf nahezu identische Weise, sondern er sucht sämtliche Shoah-Überlebende heim; mehr noch: Er generiert und strukturiert gar ihre Erinnerungen, unabhängig davon, ob sie ihre Erlebnisse sofort und in großer Eile in Form von Zeugenberichten aufschreiben oder sie mit großem zeitlichem Abstand in eine dezidiert literarische Form gießen. All den zahlreichen Beispielen zum Trotz, von denen einige ja eben den Gegenstand des vorliegenden Kapitels bilden, trifft Semprún jedoch abschließend die lakonische Feststellung: „On ne saurait mieux dire que Primo Levi.“122

Der Traum von der Lagerrückkehr als eigener Traumtypus Was ergibt sich über die gattungsspezifischen Besonderheiten, Funktionen und Wirkungsweisen von literarischen Konzentrationslagerträumen hinaus an resümierenden Überlegungen, die die Form der Traumdarstellung betreffen? Was die für die Shoah-Literatur lange Zeit entscheidende Differenzierung von faktualen und fiktionalen Texten angeht, haben die untersuchten Texte gezeigt, dass die literarischen Traumdarstellungen sich mitunter quer zu dieser Grenze bewegen: So haben wir es etwa mit Träumen in fiktionalen Autobiographien zu tun, mit als Traumprotokollen deklarierten Erzählungen, mit intertextuellen Traumverflechtungen zwischen verschiedenen autobiographischen Texten, mit einem sich aus Notaten und kollektiven Beobachtungen speisenden Essay, der sich als eine der subjektivsten Wahrnehmungen der Shoah überhaupt erweist, oder mit einem gänzlich irreal anmutenden Traumspiel, das sich durchaus an historisch nachweisbare Fakten hält.123 In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass die vielleicht individuellsten, ungewöhnlichsten Träume, die die Träumerinnen und Träumer ins Konzentrationslager (zurück-)versetzen, ausdrücklich als kollektive verstanden und als repräsentativ deklariert werden. Diese finden vorrangig in verschiedenen Typen 122 Semprún: L’écriture ou la vie, S. 270. 123 Ja selbst die Groteske stützt sich, wie Kapitel XIII zeigt, noch auf vielfältige Referenzen der historischen Wirklichkeit. Marcel Beyer hingegen stuft gerade in seinem eng am historischen Material orientierten Roman Flughunde ausgerechnet den durchaus realistisch anmutenden Alptraum als hochgradig konstruiert und gänzlich unwahrscheinlich ein, wie er anlässlich einer Diskussion nach seiner Lesung am 4. Oktober 2017 im Saarländischen Künstlerhaus erklärt (vgl. Kapitel XIII).

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des Protokolls ihren Ausdruck. Diejenigen Träume hingegen, die in ihrem Grundmuster nahezu alle Überlebenden umtreiben, wie die gescheiterte Heimkehr, die unfreiwillige Rückkehr, die Ununterscheidbarkeit von Traum und Nachkriegswirklichkeit oder Szenen des (unmittelbar bevorstehenden) Sterbens, werden besonders eindringlich als individuelle, subjektive Erfahrungen dargestellt. Dies geschieht entweder in komplexen fiktionalen oder autobiographischen Narrationen,124 in der dramatischen Inszenierung oder aus der radikalen Innenperspektive eines lyrischen Ichs im Gedicht oder im poème en prose. Um die eingangs formulierte These noch einmal aufzunehmen, dass der Traum vom Zurückversetztwerden ins Konzentrationslager gewissermaßen Dibbuk-artig von Gattung zu Gattung wandert und hier jeweils eine eigene Gestalt annimmt,125 sei abschließend nochmals auf einige thematische und motivische Verknüpfungen zwischen den Texten dieses Buches verwiesen. Versucht man eine solche Wanderbewegung einzelner Motive nachzuvollziehen, entstehen schließlich zahlreiche Gattungsgrenzen überschreitende Verbindungen untereinander. Eine solche Verbindung ist am deutlichsten und explizitesten im Falle der Autobiographie von Jorge Semprún nachzuvollziehen, weil der Autor hier Primo Levis Traum vom Zurückversetztwerden ins Lager wörtlich zitiert und autoreflexiv weiterschreibt. Diese explizite intertextuelle Auseinandersetzung führt vor Augen, dass und inwiefern der Traum Levis als Erzählmodell fungiert, nach dem auch andere, vergleichbare Traumerlebnisse strukturiert und narrativiert werden. Sämtliche Träume eröffnen zudem einen Dialograum mit den Toten. Entweder treten Tote auf oder die Träumenden selbst sterben, oder die Geträumten befinden sich auf einer uneindeutigen Grenze zwischen Leben und Tod. Cayol hatte den Essay, in dem er seine Typologie von KZ-Träumen entwirft, „Lazare parmi nous“ genannt, offensichtlich nach der Lazarus-Figur des Johannesevangeliums (Joh 11), die, bereits tot, von Jesus wieder aufgeweckt wird und noch mit Grabtüchern umwickelt in die Welt der Lebenden zurückkehrt. Die Träume der 124 Ein besonders einschlägiges Beispiel liefert auch Anna Langfus’ Roman Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1962 (vgl. Kapitel VI). 125 Er findet sich u. a. auch in Benedikt Friedmans Zornige Erinnerungen eines jüdischen Österreichers, allerdings ist hier die in anderen Beispielen typische Verkehrung von Traum- und Wachwirklichkeit weniger ausgeprägt: „Ich sah sie [die SS-Männer] das letzte Mal in meinem Leben, in wachem Zustand. Sie und der Pfuhl, in dem Menschen geschunden, gefoltert, gehenkt wurden, verfolgen mich in den Träumen. Ich kann diesen Alpträumen nicht entgehen, kann sie nicht unterdrücken, kann sie nicht ‚verdrängen‘, immer wieder kommen sie auf, nach Jahrzehnten, ich kann mich von ihnen nicht losmachen. Sie setzen mir zu, in Schweiß gebadet schrecke ich auf und bin heilfroh, daß es nur ein Traum war. Im Konzentrationslager Zborow und in den unzähligen Zborows war der Spuk Wirklichkeit, deutsche Wirklichkeit.“ Benedikt Friedman: Ich träumte von Brot und Büchern. Zornige Erinnerungen eines jüdischen Österreichers, Wien: Promedia 1992, S. 79.

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KZ-Häftlinge nennt er daher „Rêves lazaréens“, Lazarusträume, die zu einer Art eigener Untergattung der Lagerträume werden. Daher ist es wohl kein Zufall, dass Werner Fritsch den ermordeten Vater in seinem Traumspiel ausgerechnet Lazarus nennt. Dieser wird dann im zweiten, im KZ spielenden Teil des Dramas folgerichtig auch als „Lazarus – in Wirklichkeit tot“ bezeichnet.126 Von Fritsch ausgehend, ergibt sich über das Bild der Dunkelkammer zudem eine Verbindung zu Perec: Beide bezeichnen als Dunkelkammer (bzw. „boutique obscure“127) den Ort, an dem sich die Träume abspielen. Dieser ist sowohl ein individueller als auch ein kollektiver Raum, in dem verborgene Bilder entwickelt und sichtbar gemacht werden können. Das Motiv des zerbrechenden Herzens taucht in der Traumliteratur der Shoah ebenfalls mehrfach auf; und zwar keineswegs allein in symbolischer Bedeutung: Es bildet den entscheidenden Vers in Levis Gedicht, es wird vom Gewicht des Gary’schen Dibbuk nachts zerdrückt (vgl. Kapitel XIII), die überlebenden Träumer erleiden bei Cayrol einen Kollaps oder andere „symptômes cardiaques“, das Herz der Protagonistin im Roman von Anna Langfus droht bei der geringsten Anstrengung zu zerspringen (vgl. Kapitel VI). Bei Delbo wird es von geträumten Greifarmen bedroht, auch bei Gary ist von einer „crise cardiaque“ infolge der Alpträume die Rede,128 der Protagonist aus Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur muss sich im Traum einer Herztransplantation unterziehen, wobei das Organ ausgerechnet von einem Rabbiner gespendet werden soll (vgl. Kapitel  XIII). Das Traumerleben hinterlässt als unmittelbare körperliche Erfahrung tiefe Spuren in der Wachwelt. Schmerzen in Herz und Lunge bzw. der stockende, aus den Fugen geratene Atem lassen sich in fast allen Konzentrationslagerträumen und deren literarischer Reflexion nachweisen. In D. M. Thomas’ The White Hotel werden „breathlessness and asthma“ sowie Schmerzen in der linken Brust gar zum Hauptsymptom der Analysandin bzw. zum Leitmotiv des gesamten Romans.129 Das Motiv der Atempause, die nur einen kurzen Aufschub bedeutet, findet sich ebenfalls in mehreren Traumtexten: Bei Levi im Titel seines Berichts, bei Delbo in den Momenten zwischen Wachen und Träumen, bei Gary als Foltermethode und rhetorischer Effekt.130 Auch Befehle als einzelne fremdsprachige Wörter, die metonymisch für die gesamte schockhaft wieder erlebte Lagerwirklichkeit stehen, ziehen von Traum zu Traum. Hierzu zählen, unter vielen weiteren Beispielen, das „Wstawać“ aus Levis Gedicht, seinem Schlusstraum aus La 126 Fritsch: Aller Seelen, S. 10. 127 Vgl. Jürgen Ritte: „Traum und Trauma. Über Georges Perecs Dunkle Kammer“, in: George Perec: Die dunkle Kammer. 124 Träume, Zürich: Diaphanes, ohne Seitenzahlen. Die Auseinandersetzung mit dem Bild der Dunkelkammer, in welcher die Traumbilder erst noch zu entwickeln sind, findet sich drei Seiten vor Ende des Textes. 128 Gary: La danse de Gengis Cohn, S. 14. 129 Beispielsweise D. M. Thomas: Hotel, S. 139. 130 Gary: La danse de Gengis Cohn, S. 15.

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tregua und seinem Traumkapitel aus Se questo è un uomo, das „schneller, weiter“, der „Zell-Appel“ (also wohl der „Zähl-Appell“) bei Charlotte Delbo,131 das „Los, los, Mensch“ bzw. das „Zaun-Kommando“ aus Robert Antelmes L’espèce humaine132 (vgl. Kapitel  IV) und der mehrfach geträumte Befehl „Krematorium ausmachen!“ bei Jorge Semprún.133 Selbst das Motiv des deformierten Gesichts, das im Traum durch Folter oder herannahenden Tod entstellt und zunehmend monströs oder von anderen Gesichtern bis zur Unkenntlichkeit überlagert wird, findet sich in mehreren Traumtexten: am explizitesten bei Jean Cayrol, aber auch in den Protokollen von George Perec und vor allem im traumhaften Delirieren der Erzählstimme von Delbos Trilogie. Die vielleicht unheimlichste Verbindung zwischen den einzelnen Träumen ergibt sich über das Motiv der Marmelade, welches im Kontext des Konzentrationslagers in hohem Maße irritiert. In Fritschs Traumspiel wird ein KZ-Häftling von den Aufsehern mit Erdbeermarmelade überschüttet, bevor er von seinen Mithäftlingen in einem kannibalistischen Akt verspeist wird.134 Der Dibbuk aus Garys Roman wiederum, der seinem Mörder, dem „Hauptjudenfresser Schatz“ regelmäßig im Traum erscheint (vgl. Kapitel XI), spricht von einer psychologischen Atempause, einem „répit psychologique“135 als einer speziellen Foltermethode der Gestapo, bei der man dem Gefangenen manchmal ein Glas Wasser und ein Marmeladenbrot reicht, um ihn zusätzlich zu quälen. Nicht zuletzt liest man in der Biographie Manfred Flügges über Stéphane Hessel von den Gesprächen der im Lager Dora internierten Häftlinge, die diese über ihre Träume führen: „Und einer von ihnen träumt von Bergen Nudeln mit viel Marmelade.“136 Und eben zwei solche Träume von süßen Nudeln und von Marmelade werden – allerdings nicht in Dora, sondern in einem französischen Internierungslager – ja auch in Emil Szittyas 82 rêves pendant la guerre erzählt (vgl. Kapitel III): Dort erlebt eine Inhaftierte, die während des Morgenappells im Lager zusammenzubrechen droht, in einem Tagtraum, wie ihr der Vater süße Marmelade in den Mund träufelt, woraufhin sie erwacht und zu neuer Stärke zurückfindet. Und ein anderer Träumer berichtet eindrücklich davon, dass er sich tagtäglich von Neuem auf den Moment des Einschlafens freue, weil er sicher sein könne, jede 131 Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra, S. 92. 132 Robert Antelme: L’espèce humaine, Paris: Gallimard 1957, S. 54 und 63. 133 Hierzu stellt Maria Teresa De Palma (allerdings am Beispiel von Delbos Aucun de nous ne reviendra) treffend fest: „Le détail plurilinguistique […] contribue à augmenter l’impression de confusion et d’étrangisation propre à la réalité hors-norme du camp.“ De Palma: Rêve et onirisme, S. 336. 134 „Geigenbauer schüttet den Krug Erdbeermarmelade Engel über den Kopf. Engel schneidet Grimassen, schleckt mit der Zunge nach dem zuckrigen Zeug […]. Die Häftlinge fallen über die Marmelade auf Engels Kopf her. Übrig bleibt Engels abgenagtes Gerippe. Ende des Traums.“ Fritsch: Aller Seelen, S. 49. 135 Gary: La danse de Gengis Cohn, S. 14. 136 Manfred Flügge: Stéphane Hessel – ein glücklicher Rebell, Berlin: Aufbau 2012, S. 106.

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Nacht von einem großen Teller voller gezuckerter Nudeln zu träumen, der niemals leer wird.137 Und schließlich findet sich Georges Perecs Schlusssatz: „Man rettet sich vielleicht, indem man [Theater] spielt“, nicht nur in den perfekt inszenierten Kabarettauftritten des Dibbuks umgesetzt, der sich mit diesen theatralen Szenen ja tatsächlich in die Welt der lebenden Täter hinüberrettet (Kapitel XI). Im zweiten Teil von Delbos Trilogie handelt das zentrale Kapitel von einer geradezu unglaublichen Theateraufführung mitten in Ravensbrück: Indem die gefangenen Frauen heimlich ausgerechnet Molières Le malade imaginaire inszenieren, retten sie sich im Spiel über die allerletzten Tage bis zur Befreiung:138 C’est magnifique parce que quelques répliques de Molière, ressurgies intactes de notre mémoire, revivent inaltérées, chargées de leur pouvoir magique et inexplicable. […] C’était magnifique parce que, pendant deux heures, sans que les cheminées aient cessé de fumer leur fumée de chair humaine, pendant deux heures, nous y avons cru.139

Mit einem solchen Spiel verbunden ist eine traumübergreifende Gemeinsamkeit, die vehement ins Auge sticht: das vorherrschende Sprechen für ein „Wir“, das mit einiger Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass Träume kollektiv geträumt, von zahlreichen Träumerinnen und Träumern geteilt werden. Hier wäre das „sognavamo“ des Gedichts von Levi zu nennen, aber auch sein Kapitel „Le nostre notte“: Dieses weist zahlreiche Ähnlichkeiten zu Delbos Alptraumschilderungen auf, in denen nicht nur die Trauminhalte repräsentativ für das Traumerleben sämtlicher Häftlinge sind, sondern in denen sich auch die einzelnen Figuren im Traum zu einem einzigen großen Körper verschlingen. Auch Perecs gewissermaßen traumübergreifender KZ-Traum, der Traum von dem Lager schlechthin, stützt diese Beobachtung des überindividuellen Träumens, die von Cayrol programmatisch vor Augen geführt wird. Und in Semprúns L’écriture et la vie schließlich stellt der Erzähler ja explizit fest, dass der Traum vom Zurückversetztwerden ins Lager nicht nur ihn selbst auf vergleichbare Weise heimsucht wie Primo Levi, sondern dass es sich hierbei insgesamt um einen kollektiven Traum handle. Ein damit eng verbundenes Moment ist dem Träumen grundsätzlich eigen und spielt mithin in fast jeder literarischen Traumdarstellung eine wichtige Rolle. In der Shoah-Literatur wird es allerdings besonders eindrücklich insze137 Emil Szittya: 82 rêves pendant la guerre 1939–1945, Paris: Allary Éditions 2019, S.  167 und S. 57–58. 138 Zum Theaterspielen in Ravensbrück vgl. auch Mechthild Gilzmer: „‚Lachen trotz Tod und Teufel‘ mit einer Operette im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück“, in: Katharina Meiser/Sikander Singh (Hrsg.): Narren, Clowns, Spaßmacher. Studien zu einer Sozialfigur zwischen Mittelalter und Gegenwart, Hannover: Wehrhahn 2020, S. 243–252. 139 Charlotte Delbo: Une connaissance inutile, S. 93.

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niert: das abrupte Aufheben von räumlichen und zeitlichen Grenzen; das unmittelbare Hier und Jetzt des Lagers, das über die Grenzen des Traums hinauswirkt und auch das nachfolgende Wacherleben entscheidend prägt. Dies reicht fast immer bis hin zu einer Ununterscheidbarkeit der verschiedenen Wirklichkeitsebenen – wenn es nicht gar zu einer Überlagerung dieser Ebenen kommt –, bei der der Traum als wirklicher erlebt wird als die Wachwelt. Ob in poetischgrammatikalischer Verdichtung der Zeitformen einzelner Verben oder ganzer syntaktischen Strukturen, in der intertextuellen Verflechtung mehrerer Träume, in der diegetisch-narrativen Verschachtelung unterschiedlicher Erzählebenen, in der dramatischen Vergegenwärtigung des Vergangenen oder der auf Dauer gestellten, dem Kontext enthobenen Gegenwart im protokollierten Traumerleben: Die zerstörende Wirkung des Traums kommt stets dadurch zustande, dass Kontinuität, Linearität und Kausalität sowie die Koordinaten räumlicher Orientierung wegbrechen, die Traumerfahrung also die Logik herkömmlicher Erfahrungen aufsprengt, die sich zu einer kohärenten (Lebens-)Geschichte zusammenfügen lassen. Dass jede der präsentierten Traumschilderungen diese Problematik selbst eingehend reflektiert, schließt unmittelbar an die theoretischen Eingangsüberlegungen zur Kontoverse um die ‚Unsagbarkeit‘ der Shoah an: Mittels der erzählten Traumerfahrung wird sie in ihrer Aporie inszeniert.

XI. Alptraum und Wunschtraum unmöglicher Erzähler: Romain Gar y und Radu Mihăileanu

Shoah, Literatur und Komik Am 9. November 2018 hielt der damalige Vorsitzende der Synagogengemeinde Saar, Richard Bermann, eine Ansprache anlässlich des 80.  Jahrestages der Reichspogromnacht. Er erinnerte u. a. an den „Humor der jüdischen Opfer“, der mit ihrer Vernichtung untergegangen sei; an ihr „Lachen und Lärmen“, ihren Tanz, ihre Musik und ihren Witz, „mit deren Auslöschung die Welt ärmer geworden ist“.1 Um Lachen und Lärmen, um Tanz und Musik, um jüdischen Witz und die Auslöschung all dessen geht es auch in diesem Kapitel; genauer: Es geht um jüdischen Witz angesichts der Auslöschung. Wie aber passt dies zusammen? Inkongruenz, also die Nicht-Übereinstimmung zweier Bezugsfelder, ist seit jeher eine der ergiebigsten Quellen für Komik.2 In der Tat ist wohl kaum eine größere Unvereinbarkeit denkbar als die zwischen Shoah und Lachen. Daher sind 1

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Weg des Gedenkens am 9. November 2018, dokumentiert auf der Website der Synagogengemeinde Saar (http://www.sgsaar.de/index.php?seite=veranstaltungen–2 und http://www. sgsaar.de/includes/media/events/weg-des-gedenkens–1.jpg). Die Zitate stammen aus der Gedenkrede und werden nach eigenen Aufzeichnungen wiedergegeben. Auf eine profunde Auseinandersetzung mit Geschichte und Theorie der Komik (vgl. etwa Helmut Bachmaier: Texte zur Theorie der Komik, Stuttgart: Reclam 2005) muss hier verzichtet werden. Zur Komik durch Inkongruenz, wie sie beispielsweise Schopenhauer fasst, sei lediglich verwiesen auf Wolfgang Iser: „Das Komische, ein Kipp-Phänomen“ und Dieter Heinrich: „Freie Komik“, in: Wolfgang Preisendanz/Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische, München: Fink 1976, S. 398–402 und S. 385–389. Zu den „Inkongruenzen des Massenmords“ siehe ausführlicher Peter Herr: „Anhaftungen der Shoah. Der Dibbuk als Supplement humanistischer Ethik“, in: Lorenz Aggermann u. a. (Hrsg.): ‚Lernen, mit den Gespenstern zu leben‘. Das Gespenstische als Figur, Metapher und Wahrnehmungsdispositiv in Theorie und Ästhetik, Berlin: Neofelis 2015, S. 121–132, hier S. 125. Am Beispiel von La danse de Gengis Cohn zeigt Herr, wie Romain Gary für seinen komischen Zugang zur Shoah eine dreifache Inkongruenz inszeniert: eine sprachliche, eine ideologische und eine narrative. Festzuhalten bleibt gleichwohl, dass neben der Inkongruenz in den hier behandelten Werken auch die beiden anderen geläufigen Ansätze der Komiktheorie in Anschlag gebracht werden können: Komik durch Überlegenheit und Komik durch Entladung spielen jeweils eine wichtige Rolle.

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Auseinandersetzungen mit Deportation, Konzentrationslager und Massenvernichtung aus einer komischen Perspektive zwangsläufig irritierend und provozierend. Wird damit der Genozid nicht relativiert, verharmlost, instrumentalisiert?3 Einigkeit besteht weitgehend darin, dass sich der industrielle Massenmord durch die Nationalsozialisten der Darstellung entzieht; einer Darstellung jedenfalls, die als realistisch gelten kann.4 Was aber wäre stattdessen ein ‚angemessener‘ Umgang mit der Shoah?5 Je weiter die historischen Ereignisse zurückliegen, je weniger Zeitzeugen noch am Leben sind, desto größer ist nicht nur die Gefahr des Vergessens und Verfälschens, sondern auch das Risiko einer problematischen Ästhetisierung der Vergangenheit. Imre Kertész traf bereits vor mehr als zehn Jahren die bittere Feststellung: „Ein Holocaust-Konformismus entwickelt sich, ein Holocaust-Sentimentalismus, ein Holocaust-Kanon, ein Holocaust-Tabusystem  […]; Holocaust-Produkte für Holocaust-Konsumenten wurden entwickelt.“6 Die sehr komplexen Debatten zu dieser Problematik können hier nicht ausführlich rekonstruiert werden;7 doch mit Blick auf das Thema dieses Kapitels lässt sich festhalten: Auch im Jahr 2019 wurde zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar wieder Spielbergs Film Schindler’s List in diverse Kinoprogramme aufgenommen. Der Philosoph Slavoj Žižek bezeichnet den Film als Tiefpunkt des Holocaust-Kinos: Geradezu exemplarisch führe er vor Augen, dass der Holocaust nicht als Tragödie erzählt werden kann.8 Die Gründe hierfür sind zahlreich, und es sind letztlich dieselben, die der 2018 verstorbene Claude Lanzmann kritisch benennt, der in seinem neunstündigen Film Shoah auf die Bebilderung

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Vgl. ausführlicher Judith Kauffmann: „Horrible, humour noir, rire blanc. Quelques réflexions sur la représentation littéraire de la Shoah“, in: Dominique Bertrand (Hrsg.): L’horrible et le risible, Paris: Editions de l’éclat 2001, S. 207–217. Vgl. besonders dezidiert Elie Wiesel: „Art and Culture after the Holocaust“, in: Eva Fleischner (Hrsg.): Auschwitz: Beginning of a New Era? Reflections on the Holocaust, New York: Ktav 1974, v. a. S. 405. Zum Forschungsstand vgl. zusammenfassend Judith Klein: Literatur und Genozid. Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur, Köln: Böhlau 1992, S. 43–61. Zum Widerstreit zwischen verbotenem Schweigen und unmöglichem Sprechen Jorge Semprún/Elie Wiesel: Se taire est impossible, Paris: Gallimard 1995. Vgl. James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust, Bloomington/London: Indiana University Press 1990 und Sarah Kofman: Paroles suffoquées, Paris: Galilée 1987. Spezifisch ästhetische, vorrangig fiktional-literarische Darstellungsformen der Shoah fasst Judith Klein pointiert zusammen in Klein: Literatur und Genozid, v. a. S. 185–190. Imre Kertész: „Wem gehört Auschwitz?“, in: Die Zeit 47 vom 19. November 1998. Verwiesen sei stellvertretend auf Dominik LaCapra: Representing the Holocaust: History, Theory, Trauma, Ithaca: Cornell University Press 1994, Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1996 und Sara R. Horowitz: Voicing the Void. Muteness and Memory in Holocaust Fiction, New York: State University of New York Press 1997. Slavoj Žižek: „Camp Comedy“, in: Sight and Sound 4 (2000), S. 26–29.

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durch Archivmaterial verzichtet.9 Beide stimmen darin überein, dass der absolute Horror nicht vermittelbar ist. Aber Žižek zieht daraus eine andere Konsequenz als Lanzmann: „[Schindler’s List is] the obvious failure of the holocaust tragedy […]. So why not turn to comedy, which at least accepts in advance its failure to render the horror of the holocaust?“10 Die Beispiele dieses Kapitels verzichten ebenfalls auf die Tragödienform und eröffnen stattdessen einen komischen Zugang zur Thematik der Shoah. Sie sind also nicht „Holocaust konform“, sie brechen vielmehr mit Tabus, und „Holocaust-Sentimentalismus“ ist genau das, was sie vermeiden wollen. Gleichwohl zählen sie inzwischen zum Holocaust-Kanon.11 Damit setzten sie sich dem Vorwurf aus, die Shoah für eine ‚gute Geschichte‘ zu vereinnahmen. Entscheidend ist jedoch, dass Autor und Regisseur jeweils selbstkritisch über eben diesen Widerspruch nachdenken. Das Problem, wie und ob Shoah und (Erzähl-)Kunst überhaupt vereinbar sind, wird in den Werken ausdrücklich zum Thema gemacht und insofern auch Teil der folgenden Argumentation sein. Den Gegenstand der vergleichenden Auseinandersetzung bilden ein grotesker Roman und eine Filmkomödie: Romain Garys La danse de Gengis Cohn von 1967, und Train de vie, ein Film des Regisseurs Radu Mihăileanu aus dem Jahr 1998. Beide sind auf Französisch verfasst beziehungsweise gedreht; beide verwenden aber auch zahlreiche Elemente und Fragmente des Jiddischen. Beide stammen von jüdischen Autoren, deren Familiengeschichten eng mit der Shoah verknüpft sind, und beide verbinden biographisch jeweils Frankreich und Osteuropa, genauer: Rumänien, Litauen und Polen, miteinander. An diesen Beispielen soll nun eine Reihe von Fragen erörtert werden, die mit der Figur des Narren und den mit ihm verbundenen Traumwelten einhergehen: Weshalb, auf welche Weise und mit welchem Effekt rufen der Roman und der Film ein Lachen hervor, das uns im Halse stecken bleibt; ein Lachen, das sich mitunter an der Grenze zum Schreckensschrei oder auch zum Weinen bewegt? Im Roman und im Film begegnen uns zwei sehr unterschiedliche, ja geradezu konträre Formen des Humors. Beide Erzählungen aber brauchen eine Mittlerfigur; eine Stimme, die ihre sehr ungewöhnliche Perspektive auf die Shoah vermittelt. In beiden Fällen handelt es sich dabei um klassische Narrenfiguren spe9

Claude Lanzmann in Le Monde, 3. März 1994. Zu seiner Kritik vgl. ausführlicher die schon viel früher formulierten Argumente in Claude Lanzmann: „De l’Holocauste à Holocauste ou comment s’en débarrasser“, in: Les Temps Modernes 395 (1978/1979), S. 1897–1909. 10 Žižek: Camp Comedy, S. 29. 11 Auch wenn die Forschung noch überschaubar ist, so wurden die Werke beziehungsweise ihre Autoren doch beispielsweise mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Zur Rezeption des Romans von Gary vgl. ausführlich Astrid Poier-Bernhard: Romain Gary im Spiegel der Literaturkritik, Bern u. a.: Peter Lang 1999. Zur Rezeption des Films von Mihăileanu vgl. das Filmheft von Michael Kleinschmidt: Zug des Lebens, Wiesbaden: Institut für Kino und Filmkultur 2001.

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ziell der jüdischen Kulturgeschichte: In Romain Garys Groteske ist der Erzähler Moishe Cohn ein Dibbuk, der Geist eines in Auschwitz ermordeten Komikers, der in einen Lebenden fährt. Er besetzt das Unterbewusstsein seines Mörders, des ehemaligen SS-Offiziers Schatz, und treibt dort mit bösen Scherzen und schlimmem Spuk sein Unwesen. Doch ob wirklich eindeutig Cohn, der Dibbuk, die Geschichte erzählt – und ob er überhaupt seine eigene Geschichte erzählt –, wird im Laufe des Romans zunehmend fraglich. Im Falle der Komödie ist die erzählende Instanz der Narr seines osteuropäischen Shtetls. Schlomo kann als ein typischer ‚Dorftrottel‘ gelten: Er redet zwar oft wirres, unverständliches Zeug; weil er aber mehr sieht und hört als die anderen und keine Scheu hat, die irrwitzigsten Ideen auszusprechen, rettet er sein gesamtes Dorf in einem spektakulären Abenteuer vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Doch ob eine solche Rettung nach biblischem Vorbild nicht zu schön ist, um wahr zu sein, lässt sich erst am Ende des Films sagen. Diese beiden Narrenfiguren vermitteln die Shoah aus einer höchst eigenwilligen Erzählperspektive; einer Perspektive nämlich, die im mehrfachen Wortsinn unmöglich ist. Doch sind die Geschichten damit auch unrealistisch oder unglaubhaft? Im Traum oder als Traum verstanden, erlangen diese Erzählpositionen jedenfalls nicht nur ihre Glaubwürdigkeit; sie machen das Geschehen für das Film- oder Lesepublikum auch immersiv besonders gut nachvollziehbar. Im Falle des Romans geschieht dies, indem die erzählende Instanz ihre onirische Sprecherposition von Anfang an offenlegt; im Falle des Films durch einen Twist, wie er für die Inszenierung von Träumen oder traumähnlichen Bewusstseinszuständen im Filmgenre typisch ist.12 Dem folgenden Vergleich liegt die These zugrunde, dass gerade die ausgewählten Beispiele sehr viel tiefgründiges Wissen über die Shoah in sich bergen – nämlich grundsätzliche Erkenntnisse über ihre Abgründe und ihre Aporien. Der komische Zugang über eine Trauminstanz bietet also jeweils eine sehr ernstzunehmende Antwort auf die Frage, wie dieses Wissen vermittelt werden kann. Dies hat mit dem grundsätzlichen Potenzial von Literatur zu tun. Uns begegnet hier ein Geschichtenerzählen, das die Spielräume der Fiktion mit großer Konsequenz auslotet. Leidenschaftlich erzählen die beiden Narrenfiguren gegen alle historische Wahrscheinlichkeit an, sie kehren vermeintlich allgemeingültige Blickrichtungen um oder verschieben sie, stellen stereotype Rollen infrage, sie bürsten die Geschichtslogik gegen den Strich. Doch gleichzeitig schmälern die Geschichten das Grauen der Shoah nicht. Sie instrumentalisieren keineswegs 12 Vgl. Matthias Brütsch: Traumbühne Kino. Der Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv, Marburg: Schüren 2011, S. 182–210. Zur Umdeutung der Filmgeschichte als Traum, die durch eine spätere subjektive Perspektivierung des Geschehens entsteht, vgl. auch Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst, Paderborn: Fink 2014, u.  a. S. 201.

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die Opfer des Genozids; eher ist das Gegenteil der Fall: Sie ergreifen die Stimme für die Ermordeten, ja mehr noch; sie bringen sie selbst zum Sprechen. Wie kann dies gelingen; und noch dazu auf eine komische Art und Weise? Die vielfach formulierte und sehr kontrovers diskutierte These von der ‚Unsagbarkeit‘ des Holocaust13 bezieht sich auf eine zweifache Grenze des Sagbaren: Die eine Grenze betrifft die sprachliche, bildliche oder dokumentarische Darstellbarkeit von Erfahrungen und Ereignissen, die alle menschliche Vorstellungskraft überschreiten. Die andere Grenze zielt mitten hinein in die eigentliche Aporie der Shoah: Diese besteht darin, dass die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsindustrie selbst nicht sprechen, nicht erzählen, nicht zeugen können.14 Primo Levi hat dieses Paradox in seinem späten Werk I sommersi e i salvati eindrücklich formuliert: Lo ripeto, non siamo noi, i superstiti, i testimoni veri … Noi sopravvissuti siamo una minoranza anormale oltre che esigua: siamo quelli che […] non hanno toccato il fondo. Chi lo ha fatto […] non è tornato per raccontare, o è tornato muto […]. La demolizione condotta a termine, l’opera compiuta, non l’ha raccontato nessuno, come nessuno è mai tornato a raccontare la sua morte.15

Genau hier kommen nun die Möglichkeiten fiktionalen Erzählens ins Spiel: Bei Romain Gary kehrt ein Toter doch zurück und erinnert als toter Geist seinen Mörder unablässig an das Verbrechen.16 Im Film Train de vie wiederum möchte man dem liebenswerten Narren seine unglaubliche Geschichte gerne abnehmen, dass ein ganzes Shtetl, statt mit Todeszügen ins Vernichtungslager transportiert zu werden, über die russische Grenze nach Palästina entkommt. Für die Auseinandersetzung mit den beiden Beispielen konzentriere ich mich besonders auf das, was Film und Roman auf den ersten Blick gemeinsam haben und was sich dementsprechend gut vergleichen lässt: die Figurenkonstel13 Vgl. neben vielen anderen Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998, besonders S. 32–33 und S. 143–147. 14 Jenni Adams hat gezeigt, dass dieser Aporie in jüngster Zeit zunehmend durch phantastisches Erzählen begegnet wird und zeigt dies an zahlreichen Beispielen. Jenni Adams: „The Dream of the End of the World: Magic Realism and Holocaust History in Jonathan Safran Foer’s Everything is Illuminated“, in: Clio 39/1 (2009), S. 53–77. 15 Primo Levi: I sommersi e i salvati, Torino: Einaudi 1986, S. 64–65. 16 Ursprünglich sind Dibukkim (deren Wortstamm vom Verb „anhaften“ beziehungsweise „anklammern“ kommt) im jüdischen Volksglauben Dämonen, die in den Körper eines Lebenden fahren. Vgl. Leander Petzoldt (Hrsg.): „Dibbuk“, in: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, München: Beck 2003, S. 45–46. Gerschom Scholem rekonstruiert in der Encyclopaedia Judaica (Bd. 5. Hrsg. von Fred Skolnik und Michael Berenbaum, London: Macmillan 2007, S. 643–644), wie sich in talmudischer Zeit der Glaube verbreitet, dass es sich um den Geist eines Toten handelt, der mit seiner „Anhaftung“ die lebende Person, die er besetzt, auch für seine Sünden bestraft. Zur Literaturgeschichte des Dibbuks, insbesondere zu den Werken von Anski und Singer, vgl. Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Stuttgart: Metzler 2011ff., Bd. 2, S. 134–138.

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lationen, und hier vor allem das Verhältnis zwischen Tätern und Opfern, das Thema des Theaterspielens beziehungsweise der Travestie, die Verwendung der gesprochenen Sprache im Verhältnis zur Erzählstimme und das Spiel mit ihren Mehrdeutigkeiten, und nicht zuletzt die Kategorie des Traums und die damit verbundenen Möglichkeiten des Erzählens.

Alptraum in Romain Garys Roman La danse de Gengis Cohn [1967] Der Autor Romain Gary ist mit zahlreichen Pseudonymen und Namenswechseln an die Öffentlichkeit getreten: 1914 in Litauen als Roman Katsev geboren, lebt er als Kind in Warschau, geht später als Kampfflieger zur französischen Luftwaffe unter Charles de Gaulle, lässt seinen Kampfnamen legalisieren, wird nach dem Krieg Diplomat und betätigt sich als Regisseur, Übersetzer und Schriftsteller, beispielsweise unter dem Pseudonym Émile Ajar.17 Die deutsche Übersetzung des 1967 in Paris erschienenen Romans La danse de Gengis Cohn erfolgte unter dem Titel Der Tanz des Dschingis Cohn zwar recht zeitnah, nämlich 1970.18 Aber die Übertragung von Herbert Schlüter weist nicht nur einige Ungeschicklichkeiten, sondern auch mehrere nicht markierte Kürzungen und Auslassungen auf.19 Dies ist insofern bedeutsam, als der Roman in der Bundesrepublik der 1960er Jahre spielt, ein Kontext, der an vielen Stellen in die Erzählung eingeht: Der historische Hintergrund ist die Zeit der Wiederbewaffnung Deutschlands, der atomaren Aufrüstung, der gescheiterten Entnazifizierung

17 Dies führt zu der Kuriosität, dass er, gewissermaßen aus Versehen, zwei Mal den Prix Goncourt für seine Romane verliehen bekommt. Denn es stellte sich erst nach seinem Selbstmord in einem Brief an die Nachwelt heraus, dass es sich um denselben Schriftsteller handelt. Die Angaben zur Biographie entnehme ich Guy Amsellem: Romain Gary. Les métamorphoses de l’identité, Paris: L’Harmattan 2008 und David Bellos: Romain Gary. A Tall Story, London: Harvill Secker 2010. 18 Romain Gary: Der Tanz des Dschingis Cohn. Aus dem Französischen von Herbert Schlüter, München: dtv 1970. Alle Zitate, Seitenangaben, Titel und Namen in diesem Kapitel entstammen dem französischen Original, das hier in folgender Ausgabe verwendet wurde: Romain Gary: La danse de Gengis Cohn, Paris: Gallimard 2014. 19 Vgl. Hans T. Siepe: „Der Tanz des Dschingis Cohn. Yiddish Cabaret, der Dibbuk-Mythos und Auschwitz in einem Roman von Romain Gary (1967) und einem Film von Elijah Moshinsky (1993)“, in: Dieter Lamping (Hrsg.): Identität und Gedächtnis in der jüdischen Literatur nach 1945, Berlin: Erich Schmidt 2003, S. 172–185, hier S. 183. Zudem wurde das Buch bis heute nicht wieder aufgelegt.

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und des großen Zulaufs der NPD.20 Sowohl Antisemitismus als auch Rassismus im Allgemeinen gehören noch zum Alltag,21 und vehement wird die Frage der Kollektivschuld diskutiert. Diese gesellschaftspolitische Situation ist im Roman auch deshalb so präsent, weil Gary immer wieder skandalöse Zitate aus Zeitungsartikeln und politische Statements einarbeitet,22 tatsächlich existierende Fotos beschreibt,23 auf den ‚Nazi-Kanzler‘ Kiesinger verweist oder nach der Rolle von Papst Pius XII während des Nationalsozialismus fragt.24 Die Erzählung ist in der bayerischen Provinz angesiedelt und die äußere Handlung recht reduziert: Mehr als die Hälfte des Geschehens trägt sich in einem Polizeikommissariat zu, wo Inspektor Schatz vom Schreibtisch aus versucht, eine Serie merkwürdiger Morde aufzuklären. Und auf einer ersten, äußeren Ebene geschieht auf den 350 Seiten des Romans auch kaum mehr als dies. Das Wesentliche jedoch spielt sich im Inneren der Figuren ab: Die gesamte Geschichte dreht sich um die Beziehung zwischen Kommissar Schatz und Gengis Cohn. Und anhand dieser Beziehung zeigt sich, dass der Roman unterschiedlichste Zeiten und Räume überlagert, indem er sie in die Psyche des Kommissars hineinverlagert, die zum eigentlichen Schauplatz der Geschichte wird.25 Denn hier tobt Gengis Cohn,26 der Dibbuk, der die Geschichte weitestgehend selbst erzählt und von Schatz derart Besitz ergriffen hat, dass beide Figuren schließlich kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Gleich zu Beginn des Romans stellt sich Moishe Cohn als professioneller Spaßmacher vor und macht deutlich, welche Form des Humors seine Leserinnen und Leser erwartet.27 Anhand des ersten Kapitels, das hier stark gekürzt 20 Gary: Danse, u. a. S. 66, S. 70–71. Zumeist wird der Zulauf zum Rechtsextremismus kritisch mit einem bestimmten Ideal von Männlichkeit in Verbindung gebracht, wie etwa am Beispiel der Passionsspiele in Oberammergau deutlich wird (Gary: Danse, S. 95–96). 21 Z. B. Gary: Danse, S. 30, S. 46, S. 47, S. 49, S. 66, S. 70–71, S. 75 und in metareflexiver Anspielung S. 140–141. 22 Z. B. Gary: Danse, S. 42, S. 95. 23 Z. B. Gary: Danse, S. 26 und S. 51, S. 254 und S. 347. 24 Gary: Danse, S. 26. 25 Im dritten Teil des Romans wird die Handlung zunehmend halluzinatorisch und setzt sich als Alptraum der beiden Protagonisten in Vietnam, in Tahiti, in den USA und weiteren Orten fort. Dieser Teil kommt im Übrigen in der gleichnamigen britischen Verfilmung von Elijah Moshinsky aus dem Jahr 1993 nicht vor, der sich in erster Linie auf die Gestaltung des Verhältnisses von Täter und Opfer konzentriert. Vgl. Gengis Cohn. Fernsehspiel. Regie: Elijah Moshinsky. Drehbuch: Stanley Price. Großbritannien 1993. 26 Der Name ist, folgt man Judith Kauffmann, eine Verdichtung die, „dans le raccourci du calembour, Gengis (Kahn), le prototype du barbare sanguinaire“, mit Cohn verbinde, „l’incarnation traditionnelle du bouc émissaire“, der den Lebenden ebenso auf makabre Weise mit dem Toten kurzschließt, wie das Opfer mit dem Henker. Kauffmann: Horrible, humour noir, rire blanc, S. 214–215. 27 Die Bösartigkeit des Humors steigert sich allerdings im Laufe des Romans noch beträchtlich. Vgl. auch „La culture c’est lorsque les mères qui tiennent leurs enfants dans leurs bras sont dispensées de creuser leurs tombes avant d’être fusillées“ (Gary: Danse, S. 78–79) oder die

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wiedergegeben wird, lassen sich bereits alle entscheidenden Aspekte des Romans aufzeigen. Je suis chez moi, ici. Je fais partie de ces lieux et de l’air qu’on y respire d’une manière que seuls peuvent comprendre ceux qui y sont nés ou qui ont été complètement assimilés. Une certaine absence, qui a de la gueule, sans me vanter. A force de se faire sentir, elle devient une véritable présence.  […] Mon nom est Cohn, Gengis Cohn. Naturellement, Gengis est un pseudonyme : mon vrai prénom était Moïché, mais Gengis allait mieux avec mon genre de drôlerie. Je suis un comique juif et j’étais très connu jadis, dans les cabarets yiddish  : d’abord au Schwarze Schickse de Berlin, ensuite au Motke Ganeff de Varsovie, et enfin à Auschwitz. Les critiques faisaient quelques réserves sur mon humour : ils le trouvaient un peu excessif, un peu agressif, cruel. Ils me conseillaient un peu plus de retenue. Peutêtre avaient-ils raison. Un jour, à Auschwitz, j’ai raconté une histoire tellement drôle à un autre détenu qu’il est mort de rire. C’était sans doute le seul Juif mort de rire à Auschwitz. Personnellement, je ne suis pas resté dans ce camp illustre. Je m’en suis miraculeusement évadé, en décembre 1943, Dieu soit loué. Mais je fus repris quelques mois plus tard, par un détachement de SS sous les ordres du Hauptjudenfresser Schatz, que j’appelle Schatzchen [sic] dans l’intimité […]. Nous ne nous sommes plus quittés, Schatzchen et moi, depuis cette belle journée d’avril 1944. Schatz m’a hébergé : voilà bientôt vingt-deux ans qu’il cache un Juif chez lui […]. J’aime faire une entrée, comme on dit dans le métier : un vieux réflexe de cabotin. […] Il [Schatz] est, depuis quelque temps, au bord de la dépression nerveuse. Au fur et à mesure qu’il vieillit, son espoir de se libérer et de se débarrasser de moi fond à vue d’œil. Il commence à se douter que rien ne peut plus nous séparer. Il ne dort plus et je suis obligé de passer la nuit assis sur son lit, avec mon étoile jaune, à le regarder dans les yeux, affectueusement. Plus il est fatigué, et plus ma présence devient obsédante. Je n’y peux rien : c’est historique, chez moi. À la légende du Juif errant, j’ai donné un prolongement inattendu : celui du Juif immanent, omniprésent, latent, assimilé, intimement mélangé à chaque atome d’air et de terre allemands. […] Je sais qu’il va régulièrement voir un psychiatre pour essayer de se débarrasser de moi. Il s’imagine que je ne suis pas au courant. Pour le punir, j’ai trouvé un petit truc assez marrant. Je lui fais le coup de la bande sonore. Au lieu de me tenir simplement là, en silence, devant lui, avec mon étoile jaune et mon visage couvert de plâtre, je fais du bruit. Je lui fais entendre des voix. C’est surtout aux voix des mères qu’il est le plus sensible. Nous étions une quarantaine, dans le trou que nous avions creusé, et il y avait naturellement des mères avec leurs enfants. Je lui fais donc écouter, avec un réalisme saisissant – en matière d’art, je suis pour le réalisme  – les cris des mères juives une seconde avant les rafales de mitraillettes, These, dass die Juden freiwillig gestorben seien, um größtmögliche Entschädigungen zu erhalten, was die Schlangen vor den Gaskammern ja hinlänglich bewiesen hätten (Gary: Danse, S. 115–119). Die Nazis habe man nur gebraucht, um den kollektiven Selbstmord zu kaschieren und damit den größtmöglichen Profit aus dem Leid zu ziehen.

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lorsqu’elles comprirent enfin que leurs enfants ne seraient pas épargnés. Ça fait au moins mille décibels, une mère juive, à ces moments-là. Il faut voir mon ami se dresser alors sur son lit, le visage blême, les yeux exorbités. Il a horreur du bruit. Il fait une tête épouvantable. [Es folgen mehrseitige Diskussionen der im Kommissariat anwesenden Figuren über die Serienmorde und ihre Opfer.] ‚Des sacrifices humains, en Allemagne … vous voulez rire.‘ Schatz a alors une phrase que je trouve assez inouïe, lorsqu’on considère qu’il s’agit d’un ami. ‚C’est la première fois, dans mon expérience‘, dit-il solennellement, ‚que quelqu’un se livre à un massacre collectif sans trace de motif, sans l’ombre d’une raison …‘ En voilà assez. Il n’est pas question de laisser passer une telle hutzpé, sans réagir. Lorsque je l’entends affirmer que c’est la première fois dans son expérience que quelqu’un se livre en Allemagne à un massacre collectif sans l’ombre d’une raison, je me sens personnellement visé. Je me manifeste. Je me place devant le Commissaire, les mains derrière le dos. Je suis fier de constater que cela lui fait de l’effet. […] Je porte un manteau noir très long, pardessus mon pyjama rayé et, sur le manteau, côté cœur, l’étoile jaune réglementaire. Je suis, je le sais, très pâle – on a beau être courageux, les mitraillettes des SS braquées sur vous et le commandement Feuer ! ça vous fait tout de même quelque chose.28

Auch wenn der Erzähler seinen Humor und seine Haltung zur Kunst nicht bereits selbst erklärt hätte,29 wäre von Anfang an deutlich geworden: Die Komik dieses Romans ist, wenn man überhaupt darüber lachen kann, derb, brutal, fast sadistisch,30 der Humor schwarz, beißend und zynisch, der Ton scheinbar harmlos, beiläufig, lakonisch, der Witz spaltend, provozierend, schockierend. Vielleicht illustriert kein anderes Beispiel so gut, was in der Gattungstheorie als Kennzeichen der Groteske angesehen wird: Hier wird mithilfe eines „Platzhalters für das Unintegrierbare“ die Ordnung aus den Angeln gehoben, an einer „dämonischen Zersetzung der Welt“ gearbeitet, und zwar in einer literarischen Form, die irgendwann ins Maßlose kippt, die das „Grinsen neben der Leiche“ in Szene setzt und damit ein kathartisches Entsetzen hervorrufen will.31

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Gary: Danse, S. 11–22, mit umfangreichen Kürzungen wiedergegeben. Dies tut er im Roman durchgehend. Vgl. u. a. Gary: Danse, S. 49 und S. 121. Der Erzähler verweist ausdrücklich auf den Marquis de Sade (Gary: Danse, S. 49). Vgl. Gary: Danse, S. 136–137, wo von einem Lachanfall angesichts der Leichenberge von Buchenwald die Rede ist. Zur Groteske siehe Sven Hanuschek: Groteske, in: Dieter Lamping u. a. (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart: Kröner 2009, S. 346–354, hier S. 354. Weitere hier genannte und auf Garys Roman zutreffende Charakteristika wären die maßlose Übertreibung, das Ausstellen gesellschaftlicher Normen und das strafende Vorgehen einer Erzählerfigur mit besonderer Autorität. Zur „dämonischen Zersetzung der Welt“ und zum „Platzhalter für das Unintegrierbare“ vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Kröner 1989, S. 352–353, zum „Grinsen neben der Leiche“ Jens Malte Fischer: „Groteske“, in: Dieter Borchmeyer/Viktor Žmegac (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 187.

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Dies hat mit dem Prinzip der systematischen Umkehrung zu tun, welches die Erzählung prägt: Wie die Nazis ihre Opfer verhöhnt haben, wie sie Stereotype zu Rassismen steigern, wie sie Opfer zu Tätern stilisieren und die eigene Unschuld inszenieren, so verkehrt auch Cohn hier die Rollen. Er greift scheinbar beiläufig antisemitische Äußerungen auf und vermengt sie auf komplexe und verblüffende Weise mit jüdischem Witz; einem Witz, der in erster Linie sich selbst zur Zielscheibe hat und aus der grausamsten Situation noch komischen Profit zu ziehen weiß,32 um sie zu entlarven. Was sich im ersten Kapitel nur andeutet, ist das Grundprinzip des Romans: Er lebt von der Mehrdeutigkeit und dem besonderen Verdichtungspotenzial der Sprache.33 Der gesamte Text ist durchzogen von wohlkalkulierten Assoziationen; der Erzähler spielt mit schockierenden Zweideutigkeiten, platziert zynische Zuspitzungen34 und entlarvt die NS-Sprache, indem er sie einem Opfer in den Mund legt. Er nimmt Formulierungen wörtlich, die metaphorisch gemeint sind, und schreibt umgekehrt dem Wortlaut der Figurenrede einen übertragenen Sinn zu. Anhand dieser ersten Seiten lässt sich aber auch bereits recht genau die Gesamtkonstruktion des Romans nachvollziehen. Äußere Handlung und inneres Geschehen wechseln sich abrupt ab; ebenso wie in die gegenwärtige Erzählsituation regelmäßig die Vorgeschichte, allen voran, die Erschießung hineingeblendet wird. Schatz und Cohn befinden sich im ständigen Streitgespräch und versuchen wechselseitig, die Oberhand zu gewinnen.35 In dieser Situation steckt bei allem grotesken Erfindungsreichtum, allem Zynismus und aller zwischen den Zeilen durchscheinenden Schadenfreude jede Menge psychologische Wahrheit und nachkriegsdeutscher Realismus:36 Je mehr Schatz seinen Widersacher zu verdrängen und in seinem Unterbewusstsein zu vergraben versucht, desto weniger lässt er sich unter Kontrolle halten, desto mächtiger wird er, desto unerbittlicher treibt der Dibbuk sein Unwesen. Umgekehrt erfährt Cohn eine zwischenzeitliche Niederlage, als Schatz in der Psychiatrie mit Elektroschocks und

32 Vgl. die einleitenden Überlegungen in Burkard Meyer-Sickendiek/Gunnar Och (Hrsg.): Der jüdische Witz. Zur unabgegoltenen Problematik einer alten Kategorie, Paderborn: Fink 2015, S. 9–26. 33 Gary: Danse, S. 334. 34 So spricht Schatz etwa davon, dass die Massenmorde zwar ein Verbrechen gegen die Juden gewesen seien; die Fotografien der Leichenberge hingegen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Als reine Pornographie, gegen welche die Kirche versäumt habe einzuschreiten, hätten Schlimmeres angerichtet als die eigentlichen Taten. Der Anblick schade nämlich der Jugend (Gary: Danse, S. 135–136). 35 Vgl. insbesondere Gary: Danse, S. 137. 36 Auch Judith Klein stellt fest, dass der Roman eine Wirklichkeit enthält, die „erst sehr viel später von der Wissenschaft aufgedeckt wird“, dass nämlich die Verbrechen „Folgen im psychischen Geschehen der Täter und ihrer Kinder“ hinterlassen, und seien sie auch noch so verborgen. Klein: Literatur und Genozid, S. 129.

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Lachgas behandelt wird,37 um die Vergangenheit auszuradieren und Moishe Cohn vergessen zu machen. Die größte Gefahr aber besteht für den Dibbuk im Angebot, ein Mensch zu werden und sich mit den Deutschen zu verbrüdern.38 In der Versöhnung liegt eine verlockende Versuchung, und zwar dergestalt, dass Cohn selbst als Messias erscheinen soll, um die Nachwelt von der Last des Verbrechens, der schuldhaften Erinnerung, dem schlechten Gewissen und letztlich von ihrem gekränkten Narzissmus – ihrem beschädigten Größenwahn – zu befreien.39 Er weigert sich folglich, diese Rolle zu übernehmen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er klarsichtig erkennt, dass sich damit der Hass lediglich gegen eine andere Gruppe richten würde,40 die ausgegrenzt werden muss, um sich der eigenen Überlegenheit zu versichern.41 Die Figurenkonstellation spitzt sich dahingehend zu, dass später der SS-Kommandant selbst zum Erzähler der Geschichte wird.42 Letztlich lassen sich beide Instanzen immer weniger unterscheiden, Täter und Opfer bleiben ebenso unauflöslich wie unversöhnlich aneinander gekettet. Der Holocaust-Historiker Dan Diner hat für eine solche Konstellation einige Jahre später den Begriff der negativen Symbiose zwischen Juden und Deutschen geprägt.43 Als Schlusspointe stellt sich allerdings heraus, dass im Grunde beide, Täter und 37 38 39 40

Gary: Danse, S. 83–84 und S. 157–160. Gary: Danse, u. a. S. 301–311. Gary: Danse, u. a. S. 247–250. Im Roman nehmen diese Rolle wahlweise und abwechselnd ‚Schwarze‘, ‚Chinesen‘, ‚Araber‘, ‚Indianer‘, ‚Kommunisten‘ oder ‚Proletarier‘ ein. Vgl. u. a. Gary: Danse, S. 317. 41 Der Dibbuk bricht hier also explizit aus der Rolle aus, die ihm die Deutschen seit dem Nationalsozialismus als Jude vorrangig zuweisen. Wie Max Czollek in seinem polemischen Essay Desintegriert Euch! auf der Grundlage von Y. Michal Bodemanns Arbeit über das Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg: Rotbuch 1996 ausführt, sollen die Juden in Deutschland in erster Linie den Deutschen ihre gelungene Vergangenheitsbewältigung bestätigen oder in der kollektiven Vereinnahmung ihres Schicksals eine Identifikation mit den Opfern ermöglichen anstatt mit den Tätern. Max Czollek: Desintegriert Euch! München: Hanser 2018, v. a. S. 19–33. Romain Garys Roman lässt sich damit in die Kategorie der verdrängten „Rachekunst“ einordnen. Liliana Furman und Liliana Ruth Feierstein verstehen diese als eine Form der jüdischen Selbstermächtigung, mit der ein Ausbruch aus der kulturgeschichtlich zugeschriebenen Rolle des „guten Opfers“ gelingt. Vgl. Liliana Furman/Liliana Ruth Feierstein: „Die Brücke aus Papier: Jüdische Antworten auf die Zerstörung“, in: Regine Dehnel (Hrsg.): Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Zweites Hannoversches Symposium. Sonderband der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, Frankfurt am Main: Klostermann 2006, S. 176–196, hier S. 180–182, und dazu Max Czollek: Desintegriert Euch! S. 155–172. 42 Besonders offensichtlich wird dies beispielsweise in den Passagen, in denen nicht mehr klar ist, wer hier spricht und auf wen sich die verwendeten Personalpronomen beziehen, etwa Gary: Danse, S. 71, S. 80–81 und S. 161–162. 43 Dan Diner: „Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz“, in: Dan Diner (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 185–197. Vgl. auch Klein: Literatur und Genozid, S. 127–132. Der Roman ist also auch ein eindrückliches Beispiel dafür, dass in der Literatur oftmals ein Wissen ver-

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Opfer, mit der bangen Frage recht hatten, ob sie womöglich nur in den Träumen eines anderen existieren: Schatz und Cohn, so zeigt sich, tragen ihren Kampf im Kopf eines Schriftstellers aus – eines jüdischen Schriftstellers, der wahnsinnig zu werden droht.44 Würde nicht das abstruse Verbrechen, bei dem unzählige Opfer in einem Moment der sexuellen Ekstase tot aufgefunden werden und für das offensichtlich die unersättliche Baronin des Dorfes verantwortlich ist, immer mehr um sich greifen, würde diese Mordserie nicht eine immer grotesker gesteigerte Intensität erlangen, so könnte man den Roman für eine realistische Darstellung halten, die durchaus einige psychoanalytische und sozialpolitische Plausibilität besitzt:45 Ob Täter, Opfer oder nachgeborener Schriftsteller, ihr Erleben schwankt zwischen Traum und Wirklichkeit, verdrängter Schuld und Anklage, Normalität und Wahnsinn, nächtlichem Alptraum und traumatischem flashback, bei dem das Ereignis einfriert in ein einziges schockierendes Bild der Gewalt: den Moment der Erschießung, der unablässig wiederkehrt.46 Was aber hat es mit diesem Verbrechen auf sich, das Schatz aufzuklären hat und von dem bereits auf den ersten Seiten die Rede ist? Neben der psychologisch-realistischen Ebene und der grotesk-satirischen Erzählhaltung besitzt der Roman auch eine allegorische und selbstreflexive Dimension.47 Die Morde werden vom Jagdaufseher begangen, der im Roman als Allegorie des Todes fungiert; ausgeführt werden sie im Namen der mächtigen Baronin, welche sämtliche Männer der Umgebung vergeblich zu befriedigen suchen. Dies bietet unzählige provokative Möglichkeiten für mehr oder weniger offensichtliche sexuelle An-

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borgen ist, das wissenschaftlich erst später formuliert wird (vgl. Kapitel I). Die Parallele zu Diner wird auch von Judith Klein gezogen. Klein: Literatur und Genozid, S. 135. Gary: Danse, S. 352. So rät der Arzt, den Schatz aufsucht, er solle den Dibbuk nicht fesseln, sondern ab und zu freilassen, damit er weniger mächtig sei (Gary: Danse, S. 121). Man denkt hier unwillkürlich an Freuds These von der Wiederkehr des Verdrängten oder an Hannah Arendts Überlegungen zur „Organisierte[n] Schuld“ von 1945 in ihrem Buch Die verborgene Tradition, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976. Der Dibbuk bezeichnet sich gar selbst als ein psychoanalytisches Element im Unterbewusstsein eines anderen (Gary: Danse, S. 148 und S. 149) und bezieht sich ironisch auf Freud und Jung (Gary: Danse, S. 169). Vgl. Gary: Danse, S. 92. Auch Astrid Poier-Bernhard bezeichnet das Auftauchen Cohns als Traum. „La danse de Gengis Cohn – von und ‚in‘ Romain Gary“, in: Silke Segler-Meßner/Monika Neuhofer/Peter Kuon (Hrsg.): Vom Zeugnis zur Fiktion. Repräsentation von Lagerwirklichkeit und Shoah in der französischen Literatur nach 1945, Frankfurt am Main: Peter Lang 2006, S. 337–348, hier S. 340. Pierre Bayard entwickelt, ausgehend von Garys La danse de Gengis Cohn und seinem Roman Les racines du ciel, eine Theorie der phantomatischen Schreibweise, die sich jenseits des Thematischen und des Allegorischen in literarische Texte nach der Shoah einschreibt. Pierre Bayard: „Les éléphants sont-ils allégoriques ? A propos des Racines du ciel de Romain Gary“, in: Charles Dobzynski (Hrsg.): Écrire l’extrême: La littérature et l’art face aux crimes de masse. EUROPE 926/927 (2006), S.  34–47, hier S.  40. Zur Selbstreflexivität des Romans vgl. auch Klein: Literatur und Genozid, S. 135.

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spielungen und zotige Zweideutigkeiten, mit denen das aktuelle Verbrechen und die Shoah wechselseitig aufeinander verweisen. Die Baronin, der alle anderen Figuren treu ergeben sind, lässt sich als Allegorie auf die Menschlichkeit lesen, die hier als etwas Absolutes, Unerreichbares in Erscheinung tritt. Mit ihrer Legitimation und in ihrem Namen geschehen auf der einen Seite die abscheulichsten Verbrechen; auf der anderen Seite haben sich ihr alle Kulturschaffenden mit Leib und Seele verschrieben. Dies hat zur Folge, dass das Thema Kunst den Roman geradezu leitmotivisch durchzieht; etwa in Form von ästhetischen und poetischen Reflexionen, Zitaten, der Nennung von Künstlernamen und Werktiteln und Verweisen auf die Malerei, vorrangig die italienische Renaissance mit ihren vielen berühmten Kreuzigungsszenen: Die Kreuzigung Christi, die das Menschenopfer in Kunst transformiert und das damit einhergehende Leid für die ästhetische Darstellung instrumentalisiert, ist für den Erzähler – neben seinem Hass auf die Mona Lisa48 – die Zielscheibe schärfster Kritik.49 Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, weshalb sich Moishe Cohn nicht als Messias vereinnahmen lassen will, weshalb er die Rolle des Erlösers so vehement ablehnt: Er droht zum „monument au Juif comique inconnu“ zu werden, also zur erstarrten Pose zu gerinnen, mit der sich die Deutschen von ihrer Schuld freikaufen wollen.50 Damit erweist sich der Roman letztlich als eine radikale Abrechnung mit der abendländischen Hochkultur; einer Kunst, die nach Perfektion strebt und dafür buchstäblich über Leichen geht.51 Nur wenige Jahre zuvor hatte Theodor W. Adorno über diesen Widerspruch gesagt: Der Begriff einer nach Auschwitz auferstandenen Kultur ist scheinhaft und widersinnig […]. Weil jedoch die Welt den eigenen Untergang überlebt hat, bedarf sie gleichwohl der Kunst als ihrer bewußtlosen Geschichtsschreibung. Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert.52

Die ausweglose Situation, in der der Dibbuk steckt, scheint diese Thesen zu bestätigen. Das Entscheidende ist allerdings, dass Gary seinen eigenen Text von 48 Gary: Danse, u. a. S. 45 und S. 48. 49 Dies führt Cohn etwa am Beispiel von Tolstois Krieg und Frieden und Picassos Guernica aus. Gary: Danse, S. 189. An einer anderen Stelle meint Cohn, inmitten all der schönen Kunstwerke könne man seine eigene Großmutter vergewaltigen, ohne dass es jemand bemerkte. Gary: Danse, S. 48. 50 Gary: Danse, S. 325, aber auch S. 56–57: Hier befällt Cohn eine Panikattacke, weil er Angst hat, in ein Meisterwerk der Malerei verwandelt zu werden. Man könnte ihn, beklagt er sich, im Museum aufhängen und er würde unter all den edlen Farben vor lauter Perfektion verschwinden. 51 Gary: Danse, S. 78–79. 52 Theodor W. Adorno: „Jene zwanziger Jahre“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 16/167 (1962), S. 46–51, hier S. 50.

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dieser Problematik nicht ausnehmen kann.53 Das zeigt sich ebenfalls bereits im Eingangskapitel: Cohn charakterisiert seinen eigenen Humor, der auch derjenige des Romans insgesamt ist, ja bereits in den ersten Zeilen als geschmacklos und kritikwürdig. Er formuliert provokant und thesenhaft ein Kunstverständnis, mit dem er sich so weit wie irgend möglich vom klassisch humanistischen Ideal des Wahren, Schönen und Guten entfernt. Mit seinem Dibbuk fegt Romain Gary lärmend sämtliche Konventionen hinweg, wie die Shoah erzählt werden soll und darf.54 In den 1960er Jahren für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust noch höchst ungewöhnlich, werden hier zahlreiche bewusst provozierende Pointen auf engstem Raum präsentiert;55 etwa dass der ehemalige Kommandant notorisch vor einem Stück Seife zurückschreckt, denn „man weiß ja nie, mit wem man es da zu tun bekommt“.56 Indem der Roman außerdem selbst der Dramaturgie jener Kabarettdarbietungen folgt, von denen er erzählt, sind wir zusätzlich mit einer theatralen Dimension des Grotesken konfrontiert.57 Das Massaker wird zum Material für komische Auftritte, mit denen der professionelle Spaßmacher, dramaturgisch geschult, immer im rechten Moment aufzuwarten weiß.58 Unnötig zu betonen, dass es sich beim Kabarett nicht um irgendeine Form der Komik handelt, sondern um eine Kunstform mit dezidiert satirisch-politischer Stoßrichtung, die gesellschaftliche Missstände schonungslos entlarvt. Die Kritik des Romans bezieht sich also zunächst auf die skandalösen politischen Umstände im Deutschland der Nachkriegszeit. Aber eben nicht nur: Durch das Nebeneinander des Unvereinbaren entsteht zugleich eine produktive Irritation der bis dahin bekannten autobiographisch-dokumentarischen Erzählmuster der Shoah. Denn der Widerspruch bleibt bestehen. „Der 53 „Gengis macht die Ausweglosigkeit deutlich, die darin besteht, daß ein waches, ein Buch oder Kunstwerk hervorbringendes Bewußtsein eher der Auslöschung von Erinnerung dient als die unbewußten Prozesse, mögen sie auch auf Vergessen drängen. Während der Tanz im Unbewußten die Wunden offenhält, zielt das kulturelle Schaffen auf Heilung und auf Verwischung der Verbrechen“, schreibt hierzu Judith Klein: Literatur und Genozid, S. 133. 54 Vgl. Siepe: Der Tanz des Dschingis Cohn, S. 175. 55 Was die Überkreuzungen von Täter- und Opferfiguren der Shoah in Form einer Groteske betrifft, so wäre allenfalls noch Edgar Hilsenraths Roman Der Nazi & der Friseur zu nennen, der allerdings erst 1971 veröffentlicht wurde. Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur, München: dtv 2006. Auch hier spielen die Mehrdeutigkeit der Sprache, Zynismus, Ironie sowie der Traum als Erzählmodus eine wichtige Rolle (vgl. die Traumpassagen S. 324–325 und S. 462– 465 und Kapitel XIII dieses Buches). 56 Gary: Danse, S. 14. Zur Diskussion, ob die Verwertung der Leichen für die Seifenproduktion historische Realität oder ein sich hartnäckig haltendes Gerücht bzw. eine Legende ist, verweise ich auf die bereits genannten Beiträge von Hans T. Siepe und Astrid Poier-Bernhard. 57 Gary: Danse, besonders S. 28 und 29. 58 So wird der Witz stets mit maximaler Wirkung im rechten Moment präsentiert – nämlich erst nach der sogenannten psychologischen Atempause, die Moishe Cohn von den Folterungen durch die SS ebenso kennt wie als retardierendes Moment kurz vor der finalen Pointe im Kabarett.

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Dibbuk erkennt […] die Ausweglosigkeit des Dilemmas, welches darin besteht, dass Kunst über den Holocaust notwendig ist, aber nicht anders kann, als das Leiden der Vernichteten auszunutzen.“59 Daher ist der Roman auch ein Buch über eben dieses Problem, das der Dibbuk selbst zynisch und selbstreflexiv benennt: „Je ne sais pas encore comment ils vont s’y prendre : je suppose qu’ils vont faire de moi un livre, comme toujours, lorsqu’ils cherchent à se débarrasser de quelque chose qui leur est resté sur l’estomac.“60 Peter Herr stellt zum Humor in La danse de Gengis Cohn fest: „Der Dibbuk wirkt tief in die Strukturen des Romans hinein. Zum einen erzeugt er Inkongruenzen, zum anderen zerrt er Inkongruenzen, die schon da sind, auf die Bühne bzw. ins grelle Licht der rationalistischen Suchscheinwerfer“.61 In seiner Erzählhaltung zwischen gespielter Naivität und Durchtriebenheit, Sadismus und inszeniertem Wohlwollen vertauscht der Dibbuk die historischen Rollen. Nach einem besonders gelungenen Schabernack pfeift er fröhlich-provozierend das Horst-Wessel-Lied,62 und seinen Davidstern, den gestreiften Anzug und das bleiche Gesicht setzt er als effektvolle Kostümierung ein. Aber immer, wenn der Exorzismus droht, der ‚Jude‘ ausgerottet werden soll, setzt sich der Dibbuk massiv zu Wehr; und zwar, indem er seine eigene Kultur wiederauferstehen lässt: Von wilder Fiedel begleitet, führt er seinen archaischen Tanz, die Hora auf, er zwingt Schatz Jiddisch zu sprechen (bald kann er, frohlockt Cohn, Scholem Alechem im Original lesen) und lässt ihn, wenn er besonders aufgebracht ist, das Kaddisch sagen.63 Wichtig für den Argumentationsgang und den Zusammenhang zur Thematik des vorliegenden Buches ist, was hinter all den boshaften Entlarvungen des jüdischen Wiedergängers schon fast aus dem Blick zu geraten droht: Wer im Roman spricht, wer das Gesagte auswählt, ordnet und vermittelt, wer die Poin59 Mireille Sacotte: „Heisshunger auf Leben“, in: Neue Züricher Zeitung, 3. März 2006 (https:// www.nzz.ch/articleCTMQ8–1.15855). Vgl. auch Siepe: Der Tanz des Dschingis Cohn, S. 180. 60 Gary: Danse, S. 324. Der Roman ist Teil des Gary’schen Zyklus Frère Océan, der mit Pour Sganarelle beginnt, einer literaturtheoretischen Reflexion über das Verhältnis von Kunst und Leid beziehungsweise Kunst und Grauen. Gary zufolge stellt der pikareske beziehungsweise der groteske Roman die einzige Möglichkeit dar, beides miteinander zu verbinden. In einer der vielen Analepsen, mit der die Erschießungsszene wieder in Erinnerung gerufen wird, heißt es in La danse de Gengis Cohn programmatisch über die Mütter mit ihren Kindern im Arm: „[L]es mères tiennent encore leurs enfants dans le bras, ils en ont marre de garder la pose, qu’est-ce qu’elle fout, la Culture, on ne va tout de même pas rester à pourrir sur place en attendant un Goya ?“ Gary: Danse, S. 339. 61 Herr: Anhaftungen der Shoah, S. 127. 62 Gary: Danse, S. 27. 63 Gary: Danse, S. 29, 34–35, S. 161, S. 253 u. v. a. Auch Eli Pfefferkorn verweist auf die spezifisch jüdische Dimension der Heimsuchung Schatz’ durch den Dibbuk und kommt zu dem Schluss, dass schwarzer Humor und Ironie als Waffe gegen die Ohnmacht Teil des jüdischen Ethos seien. Eli Pfefferkorn: „The Art of Survival. Romain Gary’s The Dance of Genghis Cohn“, in: Modern Language Studies 10/3 (1980), S. 76–87, v. a. S. 80.

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ten kalkuliert, wer auf das Radikalste sein eigenes Erleben, seinen messerscharfen Blick und seine Erfahrungen ins Spiel bringt, ist eben derjenige, der in einer Welt außerhalb der Fiktion gerade keine Stimme mehr hat.64 Von sechs Millionen Verstummten und Vergessenen holt Gary in seinem provozierenden Kabinett- bzw. Kabarettstückchen einen Einzelnen zurück;65 einen Ermordeten, der stellvertretend für alle Opfer steht und dessen Stimme so unüberhörbar ist, dass auch wir Leserinnen und Leser uns ihr nicht entziehen können.66 Auch wir dürfen uns, um Cohns Formulierung zu verwenden, gegen das Schreien kein Wachs in die Ohren stopfen, stehen dem Lärm des Dibbuks wehrlos gegenüber. Der gesamte Roman besitzt also sowohl thematisch als auch erzähltechnisch als auch sprachlich einen doppelten Boden: An jeder Stelle kann sich unvermutet ein Abgrund auftun, der seine Rezipientinnen und Rezipienten erbarmungslos mit in die Tiefe reißt.67 Gengis Cohn hat übrigens einen Lehrmeister, einen verehrten Rabbi, den er in den Momenten der Verzweiflung um Rat ersucht, indem er sich fragt, was dieser wohl in einer bestimmten Situation getan oder gesagt hätte. Dieser Rabbi Zur von Bialystok ist selbst ein Narr; jemand der, so heißt es im Roman, so lange närrisches Zeugs spricht und tut, bis er ganz weise geworden ist.68 Damit ergibt sich eine recht offensichtliche Parallele zu Mihăileanus Film Train de vie, in dem der Rabbi ebenfalls eine tragende Rolle spielt. Der Schauplatz des Geschehens wird nicht näher definiert, aber das Shtetl, um das es geht, könnte ohne Weiteres Bialystok sein, eines der polnischen Dörfer, das 1941 von der Wehrmacht niedergebrannt wurde und deren Bewohner man nach Treblinka und Auschwitz deportiert hat. Auch diese Filmkomödie zieht Zuschauerinnen und Zuschauer 64 Peter Herr sieht diese Sprechhaltung des Dibbuks vor dem Hintergrund von Agambens These über Aporie der Shoah als eine Ergänzung des ‚Muselmanns‘: Dieser alleine „kann von der Shoah nicht zeugen; zusammen mit dem Dibbuk aber lässt sich das Nachleben der Shoah verstehen“. Insofern können Schatz und Cohn, wie es in Garys Roman der Fall ist, nur gemeinsam erzählen. Herr: Anhaftungen der Shoah, S. 130. 65 Cohn selbst sagt angesichts der Anzahl der Opfer, die Toten der Serienmorde im Wald von Geist könne man noch zählen (Gary: Danse, S. 92–93), die sechs Millionen ermordeten Juden hingegen seien ein Abstraktum, über das bald niemand mehr spreche. Auch Judith Klein hält die Figur des Dibbuk für einen „geniale[n] technischen Fund, der […] unterschiedliche Erfahrungsweisen in einem nicht endenden Delirium evoziert“, die „gesellschaftlich-kulturelle und die individuelle Verarbeitung des Todes einzubeziehen und eine Totalität von Erfahrung vorzuführen“. Damit entsteht ein imaginatives Werk über das „Grauen, dessen Nicht-Darstellbarkeit durch Ironie, allgegenwärtige Selbstreflexion und eine unendliche Kette von Identitäten“. Klein: Literatur und Genozid, S. 137 und S. 138. 66 Vgl. Timo Obergöker: Écritures du non-lieu. Topographies d’une impossible quête identitaire. Romain Gary, Patrick Modiano et Georges Perec, Frankfurt am Main: Peter Lang 2014, S. 154. 67 Timo Obergöker spricht von „expressions-choc“, die aufzeigen, dass die Sprache nach dem Genozid nicht mehr in naiver oder unschuldiger Weise verwendet werden kann. Obergöker: Écritures, S. 158. 68 Gary: Danse, S. 199–200 und S. 171.

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unweigerlich mitten in die Geschichte hinein. Auch hier spielen Musik und Tanz, untergegangene jüdische Traditionen und Rituale, die jiddische Sprache und jüdischer Witz eine zentrale Rolle.69 Und doch ist der Humor ein gänzlich anderer. Er wäre gegenüber Gary eher als jüdischer Witz in dem Sinne zu klassifizieren, wie ihn Salcia Landmann beschreibt, als ein Humor nämlich, der sich von Trauer und Melancholie kaum trennen lässt und als Haltung gegenüber den Unwägbarkeiten des Lebens und der Vergeblichkeit menschlicher Bemühungen zu verstehen ist.70

Wunschtraum in Radu Mihăileanus Film Train de vie [1998] Garys Roman stellt sich mit dem Dibbuk-Thema also in eine bekannte jüdische Tradition, nimmt zahlreiche Motive und Themen aus unterschiedlichsten anderen Texten oder Kunstwerken auf und macht doch eine ganz eigene Geschichte daraus.71 Auch Mihăileanus Film steht in einem bestimmten kulturgeschichtlichen Kontext: Andere Shoah-Texte, die ebenfalls das Motiv, genauer, die Metonymie des Zuges ins Zentrum rücken, die für die Ikonographie der Shoah zentral ist,72 aber auch das Genre des Road Movies, Form und Funktion der Komödie (vor allem die ‚Nazi-Komödie‘), verschiedenste jüdische Bezugstexte und Traditionen, vor allem der Talmud, spielen eine wichtige Rolle. All diese Einflüsse verwebt der Regisseur zu einem originellen Film. Train de vie gehört zu den wichtigsten Arbeiten von Radu Mihăileanu, der sowohl Regie geführt als auch das Drehbuch geschrieben hat.73 Mihăileanu, 1958 69 Zu diesem Phänomen bei Mihăileanu siehe den folgenden Abschnitt; zu Gary vgl. ausführlicher Obergöker: Écritures, S. 176–181. 70 Vgl. Salcia Landmann: Der jüdische Witz. Soziologie und Sammlung, Düsseldorf: Patmos 1999, vor allem S. 13–56. 71 Vgl. Klein: Literatur und Genozid, S. 141. 72 Um dies für unterschiedliche Textsorten und Medien deutlich zu machen, sei nur punktuell verwiesen auf Lanzmanns Film Shoah, Ruth Klügers Autobiographie weiter leben, Steve Reichs Different Trains für Streichquartett und electronic tape, Jorge Semprúns Roman Le grand voyage oder Günter Eichs ersten Traum aus dem Hörspiel Träume. 73 Der Film ist aber sicher weniger bekannt als eine andere Holocaust-Komödie, nämlich Benignis La vita è bella, dem Mihăileanu ausgesprochen kritisch gegenübersteht. Beide Filme sind in der Forschung mehrfach gemeinsam behandelt worden. Vgl. u. a. Peter Herr: „Neue Wege der filmischen Auseinandersetzung mit der Shoah: La vita è bella und Train de vie“, in: Gisela Febel/Natascha Ueckmann (Hrsg.): Europäischer Film im Kontext der Romania. Geschichte und Innovation, Münster: LIT 2008, und Joan Kristin Bleicher: „Zwischen Horror und Komödie: Das Leben ist schön von Roberto Benigni und Zug des Lebens von Radu Mihăileanu“, in:

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in Bukarest geboren, hatte in Rumänien Theater gespielt, regimekritische Stücke geschrieben und eine illegale Theatertruppe geleitet, bevor er 1980 vor der Diktatur Ceaușescus über Israel nach Frankreich floh, wo er seitdem lebt. Seine Biographie bleibt über die Shoah aber eng mit Rumänien verbunden, wo der Vater Mordechai Buchman, Jude und Kommunist, aus seinem Shtetl in ein Arbeitslager deportiert wurde, das er überlebt hat.74 Train de vie ist eine israelischfranzösisch-belgisch-niederländisch-rumänische Film-Produktion. Auf Französisch gedreht, halten Vater und Sohn beide die deutsche Synchronisation für die beste Fassung, die man, so sagen sie, aufgrund der Nähe des Deutschen zur jiddischen Sprache eigentlich als das Original ansehen könne.75 Auch diese Geschichte wird von einem Narren vermittelt: Schlomo erzählt von seinem Shtetl, in dem er als Narr eine feste Rolle innehat, nämlich die des Wahn- oder Schwachsinnigen, der gleichwohl ein selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft ist. Einerseits wird er für verrückt erklärt, andererseits wird er in seiner ganz eigenen Weise, die Welt zu sehen und zu verstehen, doch ernst genommen. Wie Gengis Cohn, so denkt auch Schlomo selbst über diese durchaus ambivalente Rolle nach. Dies zeigt das Gespräch mit dem Holzhändler Mordechai: Mordechai: Schlomo, wieso bist du der Verrückte? Schlomo: Durch Zufall. Ich wollte Rabbi werden, aber den gab’s schon. Und weil ein Verrückter fehlte, dachte ich mir: Bevor jemand anders verrückt wird, werde ich verrückt. Mordechai: Fühlst Du dich nicht etwas allein? Schlomo: Nein, nein, es gibt ja viele Verrückte! Mordechai: Nein, ich meine doch eine Frau. Wieso hattest du nie eine Frau? Kinder? Eine Familie?

Waltraud Wende (Hrsg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart: Metzler 2002, S. 182–198. 74 Zum spezifisch rumänischen Kontext, der sich, wie sich am Schluss dieses Beitrags zeigt, auch in der Diegese des Films selbst niederschlägt, vgl. Valentina Glajar: „Framing the Silence: The Romanian Jewish and Romani Holocaust in Filmic Representations“, in: Valentina Glajar/Jeanine Teodorescu (Hrsg.): Local History, Transnational Memory in the Romanian Holocaust, New York: Macmillan 2011, S. 225–250. 75 Daher wird hier die deutsche Synchronversion zitiert. Die Zeitangaben sind mit dem französischen Original identisch. Allerdings erweist sich das Jiddische im Film als eine künstliche Konstruktion aus Hochdeutsch mit osteuropäischem Akzent und einigen eingestreuten jiddischen Wörtern und Formulierungen. Diese werden hier nicht wiedergegeben, sondern, wo vorhanden, den Zitaten aus dem Booklet der Collector’s Edition angepasst. Sowohl die Referenzen auf den Film selbst als auch zusätzliche Aussagen des Regisseurs und Drehbuchautors Radu Mihăileanu beziehen sich auf Radu Mihăileanu: Train de vie/Zug des Lebens. 2 DVDs, Collector’s Edition. Sunfilm Entertainment 2004. Zu den verschiedensprachigen Versionen des Films vgl. Gespräch mit dem Vater, DVD Extras, Min. 0:02.

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Schlomo: Ich bin doch nicht verrückt. Ich hätte zu viel geliebt. Ich wäre vor Liebe gestorben. Oder verrückt geworden.76

Der gesamte Film beginnt mit der Stimme des Narren. Diese erzählt in den ersten Minuten aus dem Off und verwendet einen geradezu märchenhaften Auftakt, während die Kamera die Figur dabei verfolgt, wie sie panisch ins Shtetl stürzt: Es war einmal in einem kleinen Shtetl, in einem jüdischen Marktflecken im Osten Europas im Jahre 5701 oder 1941 nach dem neuen Kalender. Es war Sommer, Sommer 1941. Im Juli, glaube ich … Ich bin geflohen, weil ich dachte, man kann fliehen vor dem, was man schon gesehen hat, zu oft gesehen hat. Ich bin losgelaufen, um sie zu warnen, … die Meinen …, mein Shtetl, … mein Dorf. Das ist die Geschichte dieses Dorfes, so wie wir sie alle erlebt haben.77

Die Warnung Schlomos bedeutet also, dass das, was er anderswo mit ansehen musste, auch seinem eigenen Dorf bevorstehen könnte. Daher schlägt er dem Rat der Weisen vor, der drohenden Deportation zuvorzukommen. Allerdings spricht er nicht die Sprache der anderen; er redet in Bildern, holpernd und verdreht – und braucht daher einen Übersetzer, der seine Worte der Gemeinschaft verständlich macht. Als dieser fungiert im Film fast durchgängig der Rabbi. Sich einen ausrangierten Zug zu besorgen, ihn zu einem Deportationszug umzubauen, sich als Nazis und Häftlinge zu verkleiden, um mit diesen verteilten Rollen den Zug heimlich über die Frontlinie zu bringen, das ist der Plan des Narren. Und von diesem Plan weiß man genauso wenig, wie von dem, der ihn äußert, ob er kindisch-naiv, irrwitzig-verrückt oder genial ist: Rabbi: Wir sollen selbst einen fingierten Deportationszug organisieren? Schlomo: Wir deportieren die Ziegen, die Kühe, die Gänse  … ins Heilige Land, nach Eretz Israel. Und die Kinder! Weiser: Und wir? Warum nur die Kinder? Schlomo: Ja … wir die Kinder! Wir alle sind … die Deportierten und die Deutschen. Shtetl … Ukraine … Russland … Palästina … unser Zuhause … und frei wie die Vögel. Weiser: Oi veiz mir! Der Mann ist wirklich meschugge! Wir nehmen ihnen die ganze Arbeit ab, wenn wir uns selbst deportieren. Etwas Dümmeres gibt es gar nicht. Wenn sie uns schon deportieren, sollen sie sich wenigstens anstrengen! Anderer Weiser: Genial! Genial, die Idee! Du bist wirklich ein großer Geist!

76 Mihăileanu: Zug des Lebens, 1:02:43–1:03:17. Vgl. auch das Booklet der Collector’s Edition, S. 10. 77 Mihăileanu: Zug des Lebens, 0:00:32–0:02:12. Vgl. auch das Booklet der Collector’s Edition, S. 3.

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Schlomo … reich wirst du werden! Wie heißt Du weiter? Schlomo: Schlomo Rothschild. Weiser: Merkt Euch diesen Namen!78

Dass die Nachwelt sich diesen Namen merken soll, ist, man kann es kaum missverstehen, auch eine Aufforderung an die Rezipientinnen und Rezipienten des Films. Es wird sich noch genauer zeigen, inwiefern. Was nun folgt, ist die anderthalbstündige Fluchtgeschichte des gesamten Shtetls, die nach dem Muster eines Road Movies abläuft:79 Nicht Aufbruch und Ankunft stehen im Zentrum, sondern das Unterwegssein. Und stets müssen Hindernisse überwunden, immer wieder neue Herausforderungen bewältigt werden. Angereichert wird der Film mit allen Elementen, die eine klassische Komödie ausmachen:80 Verkleidungen und Verwechslungen, parodistische Zuspitzungen, Umkehr der Verhältnisse und konventionellen Rollen, das Spiel mit Stereotypen und Vorurteilen, Kritik an den Mächtigen, plötzliche unerwartete Wendungen, Slapstick, Situationskomik, Sprachwitz in vielerlei Hinsicht; und dies alles ist großflächig durchwoben von spezifisch jüdischem Humor. Diese Komödienstruktur lässt sich bereits an der Handlungskonstruktion nachvollziehen: Das Shtetl inszeniert also seine eigene Deportation. Doch freilich will niemand freiwillig den Nazi geben. Wer sich mit überstürzt zusammengenähten Wehrmachtsuniformen als Deutscher verkleiden muss, bestimmt der Rat der Weisen. Die deutsche Sprache soll ihnen ein ausgerechnet aus der Schweiz importierter Cousin beibringen. Mangels Lokomotivführer wird die schrottreife Lokomotive von einem Archivar des Eisenbahnarchivs gesteuert, der zwar keinerlei Erfahrung besitzt, aber immerhin ein altes, zerfleddertes Buch über Eisenbahnen. Scheint das ganze Unterfangen von Beginn an aberwitzig, spitzt sich das Geschehen gleichwohl ständig zu: Die Ereignisse überschlagen sich, die jüdische Gemeinschaft ist den Verfolgern immer einen winzigen Schritt und einen witzigen Trick voraus, und mit jeder brenzligen Situation scheint es noch ein Stück unglaublicher, dass der Zug wieder entkommt. An den Bahngleisen lauern polnische Partisanen, die mehrfach vergeblich versuchen, den vermeintlichen Zug der Wehrmacht in die Luft zu sprengen. Spätestens jedoch, als sie aus der Ferne beobachten, wie Jüdinnen, Juden und Soldaten gemeinsam beten und Schabbes feiern, ja sogar der SS-Kommandant in die Liturgie einstimmt, geben sie ihre Sabotageversuche auf.81 Im Inneren der Wagons wird derweil der Aufstand geprobt, weil sich der Sohn des Holzhändlers dem Kommunismus angeschlossen hat, zahlreiche Anhänger um sich schart, die jü78 Mihăileanu: Zug des Lebens, 0:05:11–0:05:59. Vgl. auch das Booklet der Collector’s Edition, S. 14. 79 Vgl. Norbert Grob: „Das wahre Leben ist anderswo. Road Movies als Genre des Aufbruchs“, in: Norbert Grob/Thomas Klein (Hrsg.): Road Movies, Mainz: Ventil 2006, S. 8–20. 80 Ich orientiere mich hierfür an Bernhard Greiner: Die Komödie, Tübingen/Basel: Francke 1992. 81 Mihăileanu: Zug des Lebens, 0:55–0:61.

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dische Religion als Vertuschung sozialer Ungleichheit anprangert, sich mit dem Schlachtruf „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ an die allseits begehrte Esther heranmacht und ab sofort von den ‚Nazis‘ die besseren Zugabteile fordert. Die Vorräte gehen zur Neige, mehrmals wird der Zug angehalten, der Dorfschneider von den Nazis aufgegriffen. Seine Rettung gelingt nur deshalb, weil Mordechai, dem eiligst ein paar Abzeichen mehr an die Uniform genäht werden als sein Gegenüber besitzt, den deutschen Offizier mit seinen eigenen Mitteln schlägt und ihn beschuldigt, einen Juden zu verstecken. Einen zusätzlichen Dreh ins Absurde erhält die Geschichte dadurch, dass der nun übermütig gewordene Mordechai die gesamten Essensvorräte des Kommandos einfordert und gar die Nazis zwingt, sämtliche Mahlzeiten koscher zuzubereiten.82 Deutlich stellt sich die Geschichte in die Tradition des Purim-Festes83 – allein die Namen Esther und Mordechai weisen darauf hin: Mit einem großen Fest wird gefeiert, dass man den Feinden glücklich entkommt. Gebet, Lärm der Instrumente, Tanz, Verkleidung, Umzug und Festmahl spielen durchweg eine zentrale Rolle und werden im Film aufwendig inszeniert. Allerdings ist dem Bezug auf Purim auch ein doppelter Boden eingeschrieben; und zwar dadurch, dass die Nationalsozialisten ihre Hetze gegen Juden u. a. ausgerechnet mit der PurimTradition begründeten und ihre Verbrechen oftmals gerade an diesem Tag begingen. Diese gewaltsam-zynische Umkehrung jüdischer Tradition durch die Nazis kehrt der Regisseur nun seinerseits um: „Die Barbaren bringen den Tod, wir feiern das Leben“, sagt Mihăileanu; „den Todeszügen setzen wir einen Zug des Lebens entgegen“.84 Er meint hier einen „train de vie“, wie es im Original heißt, in der ganzen Mehrdeutigkeit des Ausdrucks: einen Zug, der ins Leben führt, aber auch einen Lebensstil, eine eigene Art zu leben, die sich von der Geschichte des Judentums nicht abtrennen lässt.85 Dies führt den Regisseur zu einem grundsätzlicheren Zusammenhang zwischen Judentum und Komik: „Meine Farbe, die Farbe meines Gemäldes konnte nur die Komödie, der Humor sein … Ich bediene mich der Geschichte des jüdischen Volkes, das immer über-

82 Mihăileanu: Zug des Lebens, 1:12:00–1:13:40. Über den Vorwurf hinaus, dass der Täter einen Juden bei sich verstecke, und die schadenfrohe Forderung, dass ausgerechnet der überzeugteste Nazi koscheres Essen zubereiten solle, bestehen noch zahlreiche weitere auffällige Gemeinsamkeiten zwischen Mihăileanus Film und Garys Roman, die hier nicht alle einzeln benannt werden können. 83 Vgl. David A. Brenner: „Laughter amid Catastrophe: Train of Life and Tragicomic Holocaust Cinema“, in: David Bathrick/Brad Prager u. a. (Hrsg.): Visualizing the Holocaust. Documents, Aesthetics, Memory, New York/Rochester: Camden House 2008, S. 261–276, hier S. 209. 84 Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:04–0:05. 85 Vgl. Catrin Corell: Der Holocaust als Herausforderung für den Film. Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie, Bielefeld: transcript 2009, hier S. 356– 357.

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lebt hat mit dieser Waffe, die für mich die schönste und spontanste Waffe des Menschen ist.“86 Als Waffe wird der Humor gezielt und sehr treffsicher gegen die Deutschen eingesetzt. Weil es sich aber laut Regisseur ausdrücklich um jüdischen Humor handelt, wird stets zuerst über sich selbst gelacht, bevor sich der Witz gegen andere richtet.87 Darüber hinaus sind tatsächlich jüdische Rituale und Gebräuche, jiddische Redewendungen und Tonfall oder Zitate aus der Thora und dem Talmud im Film durchgängig präsent. Es finden sich zudem, ganz wie in Garys Roman, zahllose kleine jüdische Geschichten, Witze und Anekdoten innerhalb der Diegese. Hierdurch erlangt der Film fast schon eine didaktische Dimension, mit der das Shtetl-Leben88 – seine spezifische Ordnung, die Gemeinschaft seiner Bewohner und ihre kulturellen und religiösen Traditionen – vermittelt, und darüber hinaus sicherlich auch ein Stück weit verklärt und idyllisiert werden.89 Eine gewisse Relativierung entsteht aber schon allein dadurch, dass alle jüdischen Klischees selbstironisch aufs Korn genommen werden. Mihăileanu wurden in der Reaktion auf seinen Film mehrfach antisemitische Tendenzen vorgeworfen,90 und es verwundert kaum, dass er dieselben stereotypen Eigenschaften verwendet wie diejenigen, die auch Cohn, der Dibbuk, immer wieder zur Sprache bringt: Geschäftstüchtigkeit und Wucher, die jiddische Mamme, die fadenscheinige Kehrseite übertriebener Frömmigkeit, die verschwurbelte, pseudo-kabbalistische Argumentation, mit der noch die eindeutigste religiöse Anweisung zu den eigenen Gunsten ausgelegt werden kann … All diese Stereotype führt der Film augenzwinkernd vor.

86 Mihăileanu: Booklet, Rückseite, als Zitat des Regisseurs markiert, ohne nähere Quellenangabe. 87 Vgl. Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:19. Vgl. dazu Doru Pop: „Jewish Humor in Radu Mihăileanu’s Cinema“, in: Studia Universitatis Babes-Bolyai. Studia Dramatica 1 (2010), S. 123– 144. 88 Ausführlich beschrieben werden Kultur und Geschichte des Shtetls in Mark Zborowski/Elisabeth Herzog: Das Schtetl. Die untergegangene Welt der osteuropäischen Juden, München: Beck 1991 und Eva Hoffmann: Shtetl. The Life and Death of a Small Town and the World of Polish Jews, Boston: Houghton Mifflin 1997. 89 Dass eine solche Verklärung selbst wiederum eine lange Tradition hat, zeigen Israel Bartal: „Imagined Geography: The Shtetl, Myth, and Reality“, in: Steven Katz (Hrsg.): The Shtetl. New Evaluations, New York: New York University Press 2007, S. 179–192, und Yehuda Bauer: The Death of the Shtetl, New Haven: Yale University Press 2009. Zur Verklärung der Shtetl-Juden bei Mihăileanu vgl. auch Corell: Der Holocaust als Herausforderung für den Film, S. 361. 90 Allerdings bezeichnenderweise nicht von jüdischen Zuschauern. Vgl. Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:22–0:23.

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Narrenträume im Angesicht des Grauens Es ist offensichtlich, dass diese Form des Humors weit entfernt ist vom ätzenden Zynismus und der abgründig-schwarzen Brutalität des jiddischen Dibbuks. In der erzählten Welt des Films wird die nationalsozialistische Gewalt zwar nicht verharmlost; die Synagoge wird wirklich abgebrannt und das Dorf verwüstet, der Bürgermeister des nächsten Dorfes wird verhaftet, die Wagons sehen aus wie die Viehwagen der Deportationszüge, das Gebell der Hunde und der eiskalte Blick des ‚echten‘ Offiziers lassen einem tatsächlich das Blut in den Adern gefrieren.91 Der Witz, der diesen Film durchgängig ausmacht, ist selbst diesem Grauen gegenüber jedoch ein milder, ja mitunter gar ein freundlich-nachsichtiger. Voller Verständnis für die menschlichen Abgründe, Widersprüche und Versuchungen blickt Schlomo, der kindliche Narr, auf seine Umgebung. Harmlos oder entschuldigend ist sein Humor nicht; aber er kehrt doch stets das Menschliche im Unmenschlichen, das Komische im Ernsten, das Banale im Tragischen, das Versöhnliche im Unentschuldbaren hervor.92 Das lässt sich nicht zuletzt an den zahlreichen Überkreuzungen nachvollziehen, welche auch diese Geschichte prägen. Sie erinnern deutlich an die TäterOpfer-Verkettung bei Romain Gary, allerdings treten sie leiser und vorsichtiger hervor, weniger lärmend und bloßstellend als in Garys Roman.93 Dies können einige Beispiele verdeutlichen: Als vielschichtigste, fast schon tragische Figur des Films kann Mordechai gelten, der wider Willen den Nazi spielen muss und in einen Konflikt gerät zwischen echtem Verantwortungsbewusstsein und den Verlockungen der Macht, zwischen Autorität und Despotismus, Eigennutz und Opferbereitschaft, Judentum und Nationalsozialismus. Besten Willens, sein Dorf unter allen Umständen zu retten, kann er nicht umhin, doch selbst auch ein klein wenig zum Nazi zu werden: Der Weg dorthin ist, muss er erschrocken erkennen, sehr kurz und der Grat zwischen Gut und Böse ausgesprochen schmal. Und eben dies musste ja auch Gengis Cohn einsehen, als er sich gegen Ende des Romans Schatz immer mehr annähert, bis beide im Hass auf einen gemeinsamen Feind vereint sind, dessen Nationalität, Kultur oder ‚Rasse‘ vollkommen austauschbar ist: „[S]upposez que j’aie attrapé un dibbuk vietnamien, ou arabe, 91 Angesichts der medialen Verbreitung von sowohl dokumentarischen als auch fiktionalen Bildern der Vernichtung kann man als Zuschauerin bereits seit Einfahrt des Zuges ins Shtetl nicht umhin, die Shoah unwillkürlich mitzulesen und dem fröhlich-lärmenden, festlichen Treiben der Shtetl-Bewohner zu unterlegen. 92 Catrin Corell bezeichnet den Humor daher als ein „Lachen der Annäherung“. Corell: Der Holocaust als Herausforderung für den Film, hier S. 368–369. 93 Gegen Ende des Romans, in einer Passage, die auf der Ebene alptraumhafter Halluzination angesiedelt ist, sieht sich Cohn als Vietnamkrieger, der selbst ganz ähnliche Gräueltaten begeht wie diejenigen, denen er zum Opfer gefallen ist. Gary: Danse, S. 320.

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ou nègre, est-ce que je sais, moi, avec la fraternité, en tout cas, quelque chose de pas catholique du tout est en train de m’arriver.“94 Auch die Grenze zwischen Nationalsozialismus und einem fanatischen Kommunismus löst sich im Laufe des Films zusehends auf: In seinem blinden Kampf für Gerechtigkeit geht Yossi, dem Kommunistenführer, jenes Augenmaß verloren, das die erzählende Instanz des Films stets zu bewahren versucht. So wie bei Romain Gary unvermittelt der Antisemitismus in Rassismus gegen alle anderen ‚Fremden‘ umschlagen kann, so wird auch in Train de vie deutlich gemacht, dass die Mechanismen der Aus- und Abgrenzung, der Hierarchisierung und Erniedrigung, die Krieg und Vernichtung vorausgehen, stets dieselben sind, unabhängig davon, gegen welche Gruppe sie sich richten. Eindrücklichstes Beispiel hierfür ist die zwar relativ vorsichtig inszenierte, aber doch abwehrende Haltung der jüdischen Gemeinschaft gegenüber den Sinti und Roma des Films: Damit tut sich zunächst eine problematische Trennlinie zwischen verschiedenen Opfergruppen der Nazis auf, die hier von den Juden gezogen wird.95 Sehr schnell aber treibt Mihăileanu das Geschehen, wie der Schluss des Films deutlich macht, in eine andere Richtung. Während der Witz bei Gary spaltet und jegliche Versöhnung verhindern will, um die Erinnerung wachzuhalten, sucht Mihăileanu die Annäherung: zwischen den Opfern, zwischen den Kulturen, zwischen den Sprachen. So liegen in der filmischen Welt auch das Jiddische und das Deutsche sehr viel näher beieinander, als die Shtetl-Bewohner selbst jemals gedacht hätten. Als Mordechai sich dem Deutschunterricht des Schweizers Schmecht unterziehen muss, damit seine Tarnung der Wehrmacht nicht auffällt, kommt es zu folgendem Dialog: Mordechai: Freindschaftliche Beziehung. Schmecht: Freundschaftliche Beziehung. Mordechai: Ich schaff’s nicht. Warum ist es nur so schwer? Obwohl … es ist dem Jiddischen sehr ähnlich. Ich verstehe alles. Schmecht: Das Deutsche ist sehr hart, Mordechai, präzise und traurig. Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen. Hat jedoch obendrein Humor. Ich verlange also nur von Ihnen, wenn Sie perfekt Deutsch sprechen wollen, ohne eine Spur von jiddischem Akzent, den Humor wegzulassen. Sonst nichts. Mordechai: Wissen die Deutschen denn, dass wir ihre Sprache parodieren? Vielleicht ist das der Grund für den Krieg?96 94 Gary: Danse, S. 317. 95 Zur theoretischen Fundierung der Frage nach der (Un-)Vergleichbarkeit der Shoah und den damit verbundenen Abgrenzungsdiskursen einzelner Opfergruppen, vgl. Peter Herr: „(Un-) Vergleichbarkeit der Sho’ah? Herausforderungen für den Vergleich als Methode“, in: Christiane Solte-Gresser/Hans-Jürgen Lüsebrink/Manfred Schmeling (Hrsg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive, Stuttgart: Steiner 2013, S. 307–320, v. a. S. 311. 96 Mihăileanu: Zug des Lebens, 0:17–0:17:32.

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Es zeigt sich, dass auch dieses Werk, indem es den eigenen Humor zum Gesprächsthema macht, eine deutlich autoreferenzielle Dimension aufweist. Der Film denkt also selbst über die Art und Weise nach, wie er funktioniert und welche Wirkung er hat.97 Über diese genannte Gemeinsamkeit hinaus, seien abschließend weitere Parallelen zwischen beiden Werken zusammengefasst: Auch in Train de vie wird mit der Sprache und ihren Mehrdeutigkeiten gespielt, das Jiddische programmatisch einbezogen, werden jüdische Stereotype re-inszeniert und entlarvt, auch hier entsteht der Witz durch Überkreuzungen von Figuren und Umkehrungen von Rollen der Täter und Opfer. Und beides Mal geht es ganz entscheidend um ein Spiel im Spiel: um Verkleiden, Verstellen, Verstecken, Erscheinen und Enttarnen, um gelungene Auftritte, die im richtigen Moment den richtigen Effekt auslösen. Solche ästhetischen Konstruktionsprinzipien stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kategorie des Traums, die auf das Engste mit der jeweiligen Erzählsituation zusammenhängt. Denn mit seiner Komödie führt Mihăileanu die Geschichte dort fort, wo klassische ‚Nazi-Komödien‘ aufhören – und auf diese Weise grenzt er sich deutlich von Filmen wie Lubitschs To be or not to be [1942], Chaplins The Great Dictator [1940] oder auch Mel Brooks The Producers [1968] ab, obwohl sie mit ganz ähnlichen Strategien verfahren.98 Aber diese Filme erzählen eben nicht die Shoah, sondern die Diktatur. Und Diktatoren haftet – jedenfalls aus historischer Distanz betrachtet – in ihrer Lächerlichkeit durchaus etwas Komisches an. Wie aber lässt sich, um auf den Beginn dieses Kapitels zurückzukommen, die Massenvernichtung erzählen? Und wie lässt sie sich auf komische Weise erzählen? Wenn es gelingen kann, dann allenfalls aus einer im zweifachen Wortsinn unmöglichen Erzählperspektive, nämlich im Modus des Traums. Und dieses Erzählverfahren zeigt sich erst am Schluss von Train de vie, dessen letzte Minuten sich als twist ending erweisen. 97 Diese Metaebene belegen und reflektieren ausführlicher Géraldine Kortmann: „Das Absurde als Element der Komik. Anmerkungen zum Film Train de vie von Radu Mihăileanu“, in: Margrit Frölich/Hanno Loewy/Heinz Steinert (Hrsg): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust, München: text + kritik 2003, S. 293–314, hier S. 294, Susanne Rohr: „Subversion und Sentiment. Von den Unwägbarkeiten der KZ-Komödie“, in: Esther Kilchmann (Hrsg.): Artefrakte. Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst, Köln: Böhlau 2016, S. 109–126, hier v. a. S. 112–114, und Herr: Neue Auseinandersetzungen, S. 244–245. 98 Etwa, dass die Opfer sich als Täter verkleiden; wie überhaupt das Theaterspielen und die Travestie in Nazi-Komödien zumeist im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen. „In die Rolle des absoluten Feindes zu schlüpfen […] hatte für jüdische Komiker stets einen unwiderstehlichen Reiz“, schreibt Caspar Battegay über die oben genannten und zahlreichen weiteren Filme und Serien in seinem Essay Judentum und Popkultur (Kapitel „The Inquisition – What a Show!“), Bielefeld: transcript 2012, S. 91–116, hier S. 92. Vgl. dazu auch die gesammelten Beiträge in Frölich: Lachen über Hitler.

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Nachdem der Zug des Lebens alle Gefahren überstanden und die Frontlinie passiert hat, scheint das endgültige Happy End bevorzustehen: Die Geretteten verlassen jubelnd die Wagons und tanzen, begleitet von fröhlicher Klezmer-Musik, auf den Dächern des Zugs, der seine Fahrt Richtung Osten fortsetzt.99 In der anschließenden Überblendung wird Schlomos Gesicht fokussiert.100 Mit dieser Großaufnahme übernimmt die Stimme des Narren wieder die Erzählung und schließt damit an den Beginn des Films an, indem Schlomo das Ende der Geschichte wie ein Märchen erzählt:101 Während (ausgerechnet) die ‚Zigeuner‘ nach Palästina entkommen seien und ein Großteil der Juden sich in Indien niedergelassen habe, sei der Lokführer Schtroul Bahnwärter eines kleinen Dorfes in China geworden. Auch der angebeteten Esther ist ein märchenhaftes Ende beschieden: Sie lebe fortan in Amerika und habe zahlreiche Kinder bekommen. In dem Moment aber, in dem der Narr seine Geschichte mit folgenden Worten bekräftigt (und zugleich als Fiktion entlarvt): „Das ist sie, die wahre Geschichte meines Shtetls … Nun ja, fast die wahre“, bewegt sich die Kamera gerade so weit vom Gesicht des Narren weg, dass Stacheldraht, Baracke und Häftlingskleidung sichtbar werden.102 An dieser Stelle wird die gesamte Fluchtgeschichte zu einer intradiegetischen Erzählung Schlomos, der sich die wundersame Errettung seines Volkes nur imaginiert oder erträumt hat. Der Film ist damit, so formuliert es der Regisseur selbst, „der Traum eines Narren“;103 die erzählte Geschichte ist weder falsch noch wahr, sondern bewegt sich offensichtlich dazwischen. Die letzte Minute ist die einzige Szene, die außerhalb dieses Traums angesiedelt ist, und schließt die Klammer zum Beginn des Films mit ihrer Narren-Stimme aus dem Off: In einer hochgradig unrealistischen, künstlichen Einstellung (als sei es möglich gewesen, dass ein Häftling direkt aus dem Lager heraus sich an die Außenwelt wendet),104 zeigt sich, dass 99 100 101 102 103

Mihăileanu: Zug des Lebens, 1:33:06. Mihăileanu: Zug des Lebens, 1:33:35–1:33:49. Mihăileanu: Zug des Lebens, 1:33:49. Mihăileanu: Zug des Lebens, 1:34:03. Mihăileanu: Booklet, S. 25. Hinweise darauf, dass es sich bei der Geschichte Schlomos um den Traum eines Narren handelt, gibt es vonseiten des Regisseurs mehrere: Mihăileanu: Booklet, S. 25, Mihăileanu: DVD Extras – Making Of, 0:09:44–0:11, Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:19, 0:59–1:01. Zur Fluchtgeschichte als Traum Schlomos vgl. auch Aram Mattioli: „Train de vie (Film von Radu Mihăileanu, 1998)“, in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst, Frankfurt am Main: De Gruyter 2014, S. 498–499, hier S. 499 und Rohr: Subversion und Sentiment, S. 124–125. 104 Zur filmischen Analyse des Schlusses, vgl. ausführlicher Corell: Der Holocaust als Herausforderung für den Film, S. 365–366. Peter Herr hat diese Schluss-Szene in Verbindung mit ihrem Übergang von der intra- in die extradiegetische Erzählsituation ausführlich hinsichtlich der eingesetzten filmischen Verfahren analysiert und in diesem Zusammenhang auf die bekannten, Authentizität inszenierenden Fotografien der Roten Armee verwiesen, für die KZ-Überlebende hinter dem Stacheldraht posieren. Herr: Neue Auseinandersetzungen, S. 238–241.

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sich die wundersame Rettung des Shtetls allein in der Phantasie Schlomos abgespielt hat. Schlomo erzählt also aus einer unmöglichen Position: Er spricht, gewissermaßen wie der erschossene Cohn, als Toter. Zwar nicht als Wiedergänger nach seiner Ermordung,105 aber doch als Todgeweihter unmittelbar vor der Vernichtung. Und eine solche Perspektive scheint durchaus schon während der abenteuerlichen Flucht-Geschichte immer wieder auf. Über die Bilder der verwüsteten Synagoge und des leeren Shtetls hinaus finden sich weitere Hinweise: So weist beispielsweise Esther, in die Schlomo verliebt ist, auf den bevorstehenden Tod hin, und auch der Rabbi macht in seinen Gebeten deutlich, dass er nie wirklich an eine Rettung geglaubt hat. Auch hier wird jemand zum Sprechen gebracht, der außerhalb der filmischen Realität keine Stimme hat und mit dessen Verstummen auch die Geschichte(n) der Juden unhörbar geworden sind. Allerdings spricht Schlomo die allerletzten Worte nicht selbst. Während das Bild zum freeze frame wird, erklingen die letzten drei Worte aus dem Off, und das Lied des Narren geht über in den Sprechgesang eines Chores, der die Worte Schlomos aufnimmt und in ein imaginäres Kollektiv beziehungsweise als Kollektiv weiterträgt.106 Insofern lässt sich mit Peter Herr schlussfolgern: [Schlomo] lässt sich, vom Ende her gelesen, deuten als Toter, der mit seinem Dorf untergegangen ist, und zugleich als Überlebender, der jedoch nicht zeugen kann ohne die Toten. Der Chor, der am Schluss des Filmes einsetzt und aus dem Off den Redefluss aufnimmt und fortsetzt, verdeutlicht dies nochmals. Der erzählende Narr als Untoter bildet das Band zwischen Ermordeten und Überlebenden.107

105 Das Thema des revenant juif hätte eine ausführlichere Auseinandersetzung verdient, als dies an dieser Stelle möglich ist. Vgl. zu den hier behandelten Werken u. a. Kauffmann: Horrible, humour noir, rire blanc, besonders S.  214 und den genannten Band „Lernen, mit den Gespenstern zu leben“, in dem Peter Herr am Beispiel von Romain Garys Roman eine eigene Theorie des gespenstischen Erzählens auf der Grundlage von Derridas spectre und Agambens ‚Muselmann‘-Diskurs entwickelt. Zur allgemeineren Beziehung zwischen Gespenst, Trauma und kollektiver Geschichte vgl. Manfred Weinberg: „Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur  – und Gedächtnis“, in: Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hrsg.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln: Böhlau 1999, S. 173– 206. Ohne sich auf Train de vie zu beziehen, rekonstruiert Jean-François Hamel anhand von fantômes, spectres und revenants das ästhetische Potenzial eines melancholischen Widerstands, welches man mit gutem Grund auch für den Narren Schlomo in Anschlag bringen könnte. Jean-François Hamel: Revenances de l’histoire. Répétition, narrativité, modernité, Paris: Minuit 2006. Aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive widmet sich die Studie von Jonathan Schorsch ausführlich den „Jewish Ghosts in Germany“. Hier beschäftigt er sich u. a. auch mit literarischen Texten, beleuchtet das Phänomen der „von den Juden besessenen Deutschen“ insgesamt aber aus einem sehr viel weiteren Blickwinkel. Jonathan Schorsch: „Jewish Ghosts in Germany“, in: Jewish Social Studies 9/3 (2003), S. 139–169. 106 Vgl. Brenner: Laughter amid Catastrophe, S. 264. 107 Herr: Neue Auseinandersetzungen, S. 248.

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Train de vie ist ein Film über eine ausgelöschte Welt, eine vernichtete Kultur, eine verschwundene Sprache108 – eine Welt, die jedoch gegen alle historische Wahrscheinlichkeit Kraft der Imagination und des Traumes weiterlebt: Von der Hauptfigur des Films wird sie im Moment des Untergangs neu erfunden und erzählend am Leben erhalten, und vom Regisseur des Films für die Nachwelt wieder zum Leben erweckt. Wie bei Romain Gary die Shoah immer schon geschehen ist und das Grauen unwiderruflich präsent, so sehen wir auch hier keinen Film, der versucht, die Shoah in irgendeiner Weise ‚darzustellen‘. Das hätte, sagt Mihăileanu, zu einer Apologie des Horrors geführt, die auf spektakuläre Effekte zielt, wie dies Spielberg mit Schindler’s List tut.109 Stattdessen versucht auch er – und dies in einem ganz wörtlichen Sinne – ‚aus Auschwitz heraus‘ zu erzählen und begegnet damit auf fiktionale Weise jener Unmöglichkeit, die Primo Levi, wie der Beginn dieses Kapitels vor Augen geführt hat, so deutlich formuliert hatte. Der Tod lässt sich, Mihăileanu zufolge, am ehesten verstehen und vermitteln, wenn man das pralle, unbegreifliche, zutiefst unvollkommene Leben vor dem Tod in Szene setzt.110 Während Cohn in Romain Garys Roman gewissermaßen als eine Art Horrorclown erscheint, der nach dem Tod erzählt,111 indem er das Verbrechen immer wieder in das Unbewusstsein des Täters und nachfolgender Generationen hineinätzt, ist Schlomo der Clown mit der Träne im Gesicht:112 Catrin Corell zieht über den Namen Schlomo (der von Schlemiel abgeleitet ist) auch eine Verbindung zum „heiligen Narren“.113 Sein Witz sei voller Trauer und Melancholie, es handle sich um Humor über den verlorenen Humor. Aber in beiden Fällen ist die im Traum beziehungsweise als Traum präsentierte Komik eine Strategie des Widerstandes gegen die Faktizität der Geschichte. Und in beiden Fällen – hier zeigt sich bei aller Unterschiedlichkeit die vielleicht wichtigste Gemeinsamkeit – entpuppt sich der Schriftsteller beziehungsweise der Regisseur und Drehbuchschreiber letztlich als der eigentliche Narr:114 Er zeigt die Kehrseite der Geschichte, bringt eine Wahrheit ans Licht, die ansonsten verborgen geblieben wäre, er erzählt eine Gegengeschichte.115 Und 108 109 110 111

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Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:29. Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:35. Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:36 und 0:43. Judith Kauffmann, deren Aufsatz allerdings 14 Jahre vor dem Film erschienen ist, bringt das Clowneske der Figur des Cohn in einen direkten Zusammenhang mit dem „fou sacré“. Judith Kauffmann: „La danse de Romain Gary ou Gengis Cohn et la valse-horà des mythes de l’Occident“; in: Études Littéraires 17/1 (1984), S. 71–94. Vgl. Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 1:00–1:01. Vgl. Catrin Corell: Der Holocaust als Herausforderung für den Film, S. 362. So sagt Mihăileanu, Schlomo sei als Narr zwar der Erzähler des Films, jedoch sei er lediglich der Mittler für eine Geschichte gewesen, hinter der der Regisseur selbst als der eigentliche Narr erscheine. Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:58. Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:44–0:46.

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diese legt er einer Vermittlungsfigur in den Mund, die unablässig zwischen Lachen und Weinen oder Lachen und Schreien oszilliert, zwischen Witz und Wahnsinn, kindlich-naiver Unschuld und Weisheit. Damit zeigen der Dibbuk und der Dorfnarr, was im Grunde alle Narrenfiguren tun und was für die Shoah in besonderem Maße gilt: In einer Welt, an der man wahnsinnig werden muss, erscheint der Narr als der einzige nicht Verrückte.116 Diese Wahrheit zu bestätigen, der Gegengeschichte zu lauschen und im Komischen die Ernsthaftigkeit zu verstehen, mit der das Grauen der Shoah vermittelt werden soll, obwohl es eigentlich gerade nicht erzählbar ist, wird letztlich zur Aufgabe der Leserinnen und Zuschauer: Auf die Frage eines Journalisten, ob Schlomo die Shoah nicht vielleicht doch überlebt haben könnte, antwortet Mihăileanu jedenfalls: „Das hängt nicht von mir ab, das hängt von Ihnen und vom Publikum ab. Wenn Sie Schlomo vergessen, stirbt er, wenn Sie ihn nie vergessen, wird er nie sterben.“117 Nachdem dieses Kapitel gezeigt hat, wie sich die Möglichkeiten fiktionalen Erzählens für die onirische Auseinandersetzung mit der Shoah nutzen und bis an ihre Grenzen führen lassen, wird die Perspektive im Folgenden wieder auf die autobiographische und dokumentarische Dimension erzählter Träume gelenkt und damit auf ihr Vermittlungspotenzial für ein onirisches Wissen über die Shoah.

116 Mihăileanu: Gespräch mit dem Vater, 0:81. 117 Mihăileanu: Booklet, S. 25.

XII. Traumwissen als Traumnotat: Charlotte Beradt, Paula Ludwig, Ingeborg Bachmann und Hélène Cixous

Traumwissen, Genre und Gender Was wissen Träumende in ihren Träumen über die Shoah? Welche Formen des Wissens bergen solche Träume und wie äußert sich dieses Wissen gerade in Traumnotaten und Traumprotokollen? Und spielt hierfür das Geschlecht der Träumenden eine Rolle? Dieses Kapitel konzentriert sich auf Traumprotokolle als ein eigenes Genre. Im Zentrum stehen ausschließlich Träume von Frauen, die in Form von Notaten gesammelt und als selbstständige Werke publiziert wurden – entweder von den Träumenden selbst oder aber in der nachträglichen Herausgabe.1 Vergleichen möchte ich einen Traum aus Beradts Protokollsammlung Das Dritte Reich des Traums (vgl. Kapitel  III), ein Notat aus dem zweiten Teil von Paula Ludwigs Aufzeichnungen Träume, ein Traumnotat von Ingeborg Bachmann aus Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit sowie den Konzentrationslagertraum aus Hélène Cixous’ Traumsammlung Rêve je te dis. Die Zusammenstellung des Korpus macht bereits deutlich, dass es um eine historische Perspektivierung der Traumtexte geht. Die Textauswahl reicht vom Vorausträumen der Deportation und Vernichtung in den 1930er Jahren bei Beradt2 über ein Träumen während des Dritten Reichs, wie es Paula Ludwig auf 1

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Das bedeutet, dass hier die bekanntesten weiblichen Shoah-Träume außer Acht gelassen werden, etwa diejenigen, die Charlotte Delbo in ihre Trilogie Auschwitz et après einfügt oder Ruth Klüger in autobiographischen Texten wie weiter leben erzählt (vgl. Kapitel IV, V und I). Und das heißt auch, dass ich hier keine fiktionalisierten Konzentrationslager- oder Deportationsträume von Frauen berücksichtige, wie sie etwa Cordelia Edvardson, Ilse Aichinger und besonders Anna Langfus in ihren Shoah-Romanen verwenden (vgl. Kapitel IV und VI). Vgl. Charlotte Delbo: Auschwitz et après, Paris: Minuit 1970–1971, Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen: Wallstein 1992, Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer. Aus dem Schwedischen von Anna-Liese Kornitzky, München: dtv 1986, Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung [1948], Frankfurt am Main: Fischer 1991 und Anna Langfus: Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1962. Nadja Lux sieht die herausragende Bedeutung von Charlotte Beradts Traumsammlung u. a. in der Tatsache, dass die individuellen und kollektiven Erfahrungswelten des Nationalsozia-

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der Flucht und im Exil der 40er Jahre tut, und eine onirische Auseinandersetzung von Ingeborg Bachmann mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegsepoche bis hin zum Traum einer Nachgeborenen, die ihre Traumerlebnisse um die Jahrtausendwende publiziert. Ergeben sich durch die Konzentration auf Traumprotokolle von Frauen dabei zusätzliche Erkenntnisse? Diese Frage rührt an die theoretisch-methodischen Grundsatzdebatten der Gender-Forschung. Die Positionen bewegen sich zwischen Essentialismus („Frauen träumen anders.“; „Was sind weibliche Träume?“) und der These vom sozialen Geschlecht als diskursiver Konstruktion („Wie werden Träume in der Deutung zu weiblichen Träumen gemacht und mit welchen Zuschreibungen und Rollenmustern geht dies einher?“).3 Zunächst einmal müssen die Traumnotate natürlich vor ihrem allgemeinen kulturgeschichtlichen Hintergrund und im Kontext der Holocaust Studies betrachtet werden; einem Forschungsgebiet, in dem Stimmen von Frauen bekanntlich lange Zeit massiv unterrepräsentiert waren.4 Einige wichtige Bezugstexte, die den historischen Kontext verdeutlichen, wären, bezogen auf das Genre des Traumprotokolls, etwa Jean Cayrols Sammlung von Träumen seiner Mithäftlinge in Mauthausen, die er in seinem Werk Lazare parmi nous von 1950 zu einer regelrechten Typologie zusammenstellt (vgl. Kapitel II), die von Zenon Jagoda und anderen herausgegebene Zusammenstellung von Konzentrationslagerträumen Überlebender in den Auschwitz-Heften (1987) (vgl. Kapitel  I), des Weiteren Traumsammlungen, die während der Flucht vor den Nationalsozialisten entstanden sind, wie Das Traumbuch des Exils von Rudolf Leonhard oder die 82 rêves pendant la guerre 1939–1945 von Emil Szittya (vgl. Kapitel III). Hingewiesen sei aber auch auf die berühmten Nachkriegs-Traumnotate über die Shoah von Theodor W. Adorno, Wolfgang Bächler und Max Frisch, und schließlich auf die Traumbücher der zweiten Holocaust-Generation, wie etwa die KZ-Träume von Antonio

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lismus hier weder aus der „Perspektive des Exils, noch aus der erinnerten Rückschau innerer Emigranten nach 1945 vermittelt [werden], sondern im Spiegel zeitgenössischer Traumerzählungen aus dem Innenraum der Diktatur“ erfolgen. Die Einsichten in die „Strukturen und Funktionsweisen totalitärer Herrschaft lassen sich also explizit aus der ästhetischen Form ableiten“. Nadja Lux: ‚Alptraum: Deutschland‘. Traumversionen und Traumvisionen vom ‚Dritten Reich‘, Freiburg: Rombach 2008, S. 15. Wobei auffällig ist, dass geschlechtsspezifische Dimension des Träumens bislang nur punktuell untersucht wurde. Vgl. etwa Jacqueline Carroy: „Le sexe des rêves. La théorisation des rêves érotiques au 19e siècle“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Theorizing the Dream. Savoirs et théories du rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2018, S. 293–308 und Sigrid Ruby: „Der Traum gebiert Ungeheuerliches. Überlegungen zu einem Gemälde von Dana Schutz“, in: Mauro Fosco Bertola/Christiane Solte-Gresser (Hrsg.): An den Rändern des Lebens. Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten, Paderborn: Fink 2019, S. 81– 99. Vgl. für den Bereich der Literaturwissenschaft Silke Segler-Meßner: „Le genre, le récit et le corps. Aucun de nous ne reviendra de Charlotte Delbo et L’espèce humaine de Robert Antelme“, in: Romanische Studien 2 (2015), S. 81–104.

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Fian, Andreas Okopenko oder Georges Perec (vgl. Kapitel X).5 Die von Frauen verfassten Traumnotate sind also keineswegs Einzel- oder Sonderfälle, sondern Teil einer intensiven ästhetischen wie reflexiven Beschäftigung mit dem Phänomen des Träumens im Kontext des Nationalsozialismus. Gleichwohl erweist sich die Gender-Problematik durchaus als eine produktive Analysekategorie der folgenden Traumlektüren. Zusammenfassen lässt sie sich in der Frage, ob das Shoah-Wissen von Charlotte Beradt, Paula Ludwig, Ingeborg Bachmann und Hélène Cixous (auch) ein geschlechtsspezifisch markiertes Wissen ist. Anders als die enge Definition, die etwa Jean Cayrol vorschlägt, der mit Shoah-Träumen ausschließlich Träume bezeichnet, welche im KZ erlebt wurden (eine Einschränkung, die ich aus mehreren Gründen für problematisch halte, vgl. Kapitel I),6 lege ich – wie die Argumentation und die Beispiele des gesamten Buches deutlich machen  – eine weite Definition zugrunde. Einige Träume deklarieren sich bereits selbst als Lager-Träume; beispielsweise durch die Titelgebung: „Visite du camp de concentration“ bei Cixous7 oder „Campo de Gurs“ bei Ludwig.8 Aber auch die namentliche Identifizierung einer NSTäterfigur bei Bachmann9 oder die Nennung von Auschwitz als Ort des Traumgeschehens bei Cixous10 sind Hinweise, dass es sich hier um Träume mit einer eindeutigen Shoah-Thematik handelt. Problematisch erscheint die Bezeichnung hingegen für Träume, die zwischen 1933 und 1939 geträumt wurden – immerhin mehr als zwei Jahre vor der Wannseekonferenz. Hier ist es der Kontext, welcher den Zusammenhang deutlich macht: die Intention, eine Sammlung von 5

Vgl. Jean Cayrol: Lazare parmi nous, Neuchâtel: La Baconnière 1950, Zenon Jagoda/Stanisław Kłodziński/Jan Masłowski: „‚Die Nächte gehören uns nicht …‘ . Häftlingsträume in Auschwitz und im Leben danach“, in: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Die AuschwitzHefte 2, 1987, S. 189–239, Rudolf Leonhard: In derselben Nacht. Das Traumbuch des Exils, Berlin: Aufbau 2001, Emil Szittya: 82 rêves pendant la guerre 1939–1945, Paris: Allary Éditions 2019, Theodor W. Adorno: „Negative Dialektik“, in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 355–356, Max Frisch: „Notizen über Geträumtes“, in: Max Frisch: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, 6 Bde. Bd.2 (1944–1976), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S.  290–291, Wolfgang Bächler: Traumprotokolle. Ein Nachtbuch, München: Hanser 1972, S. 71–72 und S. 108–109, Georges Perec: La Boutique obscure. 124 rêves, Paris: Denoël 1973, Traum N°1 und Traum N°124, o. S., Antonio Fian: Im Schlaf. Erzählungen nach Träumen, Wien/Graz: Droschl 2009, S. 22–23, Andreas Okopenko: Traumberichte, Linz: Blattwerk 1978, S. 151. 6 Vgl. Jean Cayrols Kapitel „Les Rêves concentrationnaires“ in Jean Cayrol: Lazare parmi nous, die er von den „rêves cellulaires“ vor dem KZ und den „rêves post-concentrationnaires“ Überlebender unterscheidet. Cayrol: Lazare, S. 39–58. 7 Hélène Cixous: Rêve, Paris: Galilée 2003, S. 65–66. 8 Paula Ludwig: Träume. Aufzeichnungen aus den Jahren zwischen 1920 und 1960, Ebenhausen: Langenwiesche-Brandt 1962, S. 112. 9 Ingeborg Bachmann: Male oscuro. Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Hrsg. von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni, Frankfurt am Main/München: Suhrkamp/Piper 2017, S. 37. 10 Cixous: Rêve, S. 65.

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Träumen des „Dritten Reichs“ anzulegen, eine entsprechende Auswahl des Materials und Beradts klar fokussierte Kommentierung mit Blick auf den Nationalsozialismus.11 Bei Paula Ludwig und bei vielen Träumen von Ingeborg Bachmann haben wir es mit einer schwierigeren Situation zu tun: Bachmanns Traumaufzeichnungen lassen, von dem NS-Täter-Traum abgesehen, nur aufgrund der späteren literarischen Bearbeitung des Traummaterials und den poetologischen Reflexionen der Autorin die nationalsozialistische Gewalt als entscheidendes Fundament erkennen. Und ausgerechnet für den eindeutigsten Shoah-Traum, den Traum vom drohenden Erstickungstod in der Gaskammer, der sich sowohl in Der Fall Franza [Fragment, 1978] als auch in Malina [1971] findet, lässt sich, im Gegensatz zu fast allen anderen Träumen im Romanwerk, kein autobiographisches Traumnotat nachweisen.12 Für die Träume Paula Ludwigs schließlich gilt, dass uns das Vorwort der Autorin keine Auskunft über den historisch-politischen Entstehungskontext der Traumaufzeichnungen bietet, weil es eher mit dem Traum als anthropologischer Konstante argumentiert. Allerdings steht der Traum „Campo de Gurs“, der das Traumerlebnis eindeutig in jenem südfranzösischen Internierungslager verortet, von dem die Deportationen in die Vernichtungslager ausgehen (und aus dem die Autorin Paula Ludwig tatsächlich fliehen konnte), in auffälliger Nähe zu anderen Träumen mit einer ausgeprägten Shoah-Motivik.13 Solche methodischen Fragen hängen mit den Eigenheiten des Genres Traumnotat selbst zusammen. Denn die Kontextlosigkeit, das Fehlen einer narrativen, fiktionalen oder autobiographischen Einbettung der einzelnen Träume in einen größeren Deutungszusammenhang, macht die Textsorte für gewöhnlich ja gerade aus.14 Analyse und Interpretation eines einzelnen Notats bewegen sich also 11

Charlotte Beradt: Das Dritte Reich des Traums [1962], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Hierzu zählt nicht zuletzt auch das Nachwort von Reinhart Koselleck mit seinen weitsichtigen Passagen zu Konzentrationslagerträumen. Beradt: Drittes Reich, S. 117–132, v. a. S. 130f. 12 Vgl. den literaturwissenschaftlichen Kommentar von Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni in: Bachmann: Male oscuro, S. 175. Einen detaillierten Vergleich der Traumnotate Bachmanns mit den Traumdarstellungen im Roman Malina unternimmt Laura Vordermayer, die zu dem Schluss kommt, dass der Hauptunterschied in der doppelten Perspektive der Notate besteht (einer erlebenden und einer kommentierenden Sicht), die im Roman zugunsten einer Inszenierung der unmittelbaren, subjektiven Traumerfahrung aufgegeben wird. Vgl. Laura Vordermayer: „Between Factual and Fictional Narration. Literary Dream Reports in the Writings of William S. Burroughs, Georges Perec, and Ingeborg Bachmann“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Mediating the Dream/Les genres et médias du rêve, Würzburg: Königshausen  & Neumann 2020, S.  159–178, hier S.  176. Der oben genannte GaskammerTraum findet sich, neben vielen weiteren, die sich mehr oder weniger eindeutig auf die Shoah beziehen lassen, in Ingeborg Bachmann: Malina, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 182–183. 13 Ludwig: Träume, „Die Kloake“, S. 107, „Transport“, S. 112, „Sanitäts-Station“, S. 126, „Das fensterlose Gebäude“, S. 128 und „Das Tier“, S. 142. 14 Vgl. Hans-Walter Schmidt-Hannisa: „Zwischen Wissenschaft und Literatur. Zur Genealogie des Traumprotokolls“, in: Michael Niehaus/Hans-Walter Schmidt-Hannisa (Hrsg.): Das Proto-

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zwangsläufig auf dünnem Eis. Und dies umso mehr, als die Literarizität in der Forschung zum Traumnotat kontrovers diskutiert wird. Die Positionen reichen vom Traumtext als Rohmaterial in rein faktueller Sprache15 bis zu seinem Status als Literatur als konstitutives Merkmal des Genres.16 Die Gattung, deren Entstehung als eigenständige Textform Hans-Walter Schmidt-Hannisa am Beginn des 20.  Jahrhunderts verortet und deren Entwicklung er literaturgeschichtlich weiterverfolgt,17 besitzt für den hier infrage stehenden Zeitraum jedenfalls eine besondere Bedeutung. Typologisch wird das Genre von Manfred Engel differenziert in symbolorientierte Kurznotate, literarisierte Traumaufzeichnungen und empirische Traumprotokolle.18 Auf letztere konzentriert sich Bernard Dieterle offensichtlich besonders, wenn er die „écriture protocolaire“ der Texte in den Blick nimmt, die versuche, „d’enregistrer le rêve brut, de restituer l’authenticité d’expériences nocturnes personnelles“.19 Was bedeutet das für die hier zusammengestellten Texte? Während die Forschung bei Charlotte Beradt eine nachträgliche Bearbeitung des fremden Traummaterials nur vermuten kann,20 ist bei Bachmann der komplexe Prozess

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koll. Kulturelle Funktionen einer Textsorte, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2005, S. 135– 165, hier S. 154 und S. 162 und Hans-Walter Schmidt-Hannisa: „Nazi-Terror and the Political Potential of Dreams. Charlotte Beradts „Das Dritte Reich des Traums“, in: Gert Hofmann u. a. (Hrsg.): German and European Poetics after the Holocaust, New York: Camden House 2011, S. 109–121, hier S. 110. Bernard Dieterle: „Rêve, sciences du rêve et poésie lyrique“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Writing the Dream/Écrire le rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017, S. 45–56, hier S. 50. Ob die Träumenden also „Kontrolle über das Material bzw. den kreativen Prozess“ und die literarische Gestaltung besitzen, ist eine zentrale Frage der Gattungsdiskussion. Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror, S. 109. Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror, S. 109. Manfred Engel: „Traumnotate in Dichter-Tagebüchern (Bräker, Keller, Schnitzler)“, in: Engel/ Dieterle: Writing the Dream, S. 211–238. Dieterle: Rêve, S. 55. Zur Frage der Authentizität der Traumprotokolle bemerkt Beradt selbst, es sei selbstverständlich und unvermeidlich gewesen, dass die Träume in der Erzählung „retouchiert“ wurden. Beradt: Drittes Reich, S. 11. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch die Herausgeberin selbst das Material nachträglich bearbeitet hat, denn die Sammlung erscheint angesichts der Heterogenität der Träumenden stilistisch und in ihrer Erzählstruktur ausgesprochen homogen. Nachdem Das Dritte Reich des Traums über lange Zeit hinweg vergriffen war, gab Barbara Hahn im Jahre 2016 eine Neuauflage heraus, in der sich auch erstmals eine von der Herausgeberin verfasste Übersetzung des 1943 in Free World publizierten Essays findet (Hahn in Beradt: Drittes Reich, S. 137–147). In diesem Zusammenhang zeigt Hahn auch pointiert die Unterschiede zwischen der Präsentation des Materials in Essay und Buch auf: Der historische Abstand von ca. 20 Jahren führt dazu, dass die Träumenden in der späteren Ausgabe mit ihrer extremen Emotionalität, ihrer individuellen Stimme und der unmittelbaren Körperlichkeit fast vollständig zurücktreten. Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 32. Stattdessen stellt Charlotte Beradt den Traumberichten Informationen voran, die allgemeine Identitätskategorien wie Alter, Ge-

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der Literarisierung von den eigenen Aufzeichnungen hin zum Roman (Schiffermüller und Pelloni sprechen von „Übergängigkeit“21) deutlich nachvollziehbar.22 Bei Paula Ludwig zeigt gerade die relativ homogen wirkende Form der Notate, dass es der Autorin wohl weniger um die rein empirische Traumerinnerung geht als eher um ein literarisches Spiel mit motivischen und metaphorischen Bedeutungsebenen.23 Für Hélène Cixous schließlich scheint beides in eins zu fallen: In ihrer Konzeption einer écriture féminine wird der Traum zum wichtigen Bestandteil literarischen Schreibens. Der Traum in seiner unmittelbaren, formalen wie inhaltlichen Eigenlogik kann, im Halbschlaf und Halbdunkel notiert, als die eigentliche Form der Literatur gelten. Er diktiert, wie es im avertissement heißt, der Träumerin, die sich ihm vollständig überlässt, die Welt.24 Eindeutiger zu klären ist demgegenüber die Frage, von welchem Wissensbegriff ich bei meinen Traumlektüren ausgehe. Den Traumstudien dieses Buches liegt, anders als etwa den wissenspoetischen Ansätzen von Pethes, Albrecht oder Engel,25 ein ‚weicher‘ Wissensbegriff zugrunde. Er rückt damit in die Nähe dessen, was Ottmar Ette „Lebenswissen“, Vittoria Borsò ein biopolitisch fundier-

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schlecht, Beruf oder politische und religiöse Haltung der Träumenden festhalten und die Bedeutung der berichteten Träume vorwegnehmen. Schiffermüller und Pelloni in Bachmann: Male oscuro, S. 97. Ich orientiere mich hierfür am „Literaturwissenschaftliche[n] Kommentar“ von Schiffermüller und Pelloni in Male oscuro, S.  143–196 sowie am detaillierten Vergleich zwischen den Traumaufzeichnungen und dem Traumkapitel in Malina, den Natascha Denner unternommen hat. Natascha Denner: Die vier letzten Dinge in Ingeborg Bachmanns Höllentraum, Masterarbeit, Universität des Saarlandes 2019. Vgl. einen Brief Ludwigs an Waldemar Bonsels, in dem Ludwig sich folgendermaßen äußert: „Ich habe dem Traum einen neuen und viel gelösteren Schluß gegeben“, zit. nach Roswitha Hentschel: „Briefwechsel Paula Ludwig-Waldemar Bonsels“, in: Rose-Marie Bonsels (Hrsg.): Paula Ludwig – Waldemar Bonsels. Dokumente einer Freundschaft, Wiesbaden: Harrassowitz 1994, S. 183–335, hier S. 289 und S. 303–305. Lydia Marhoff zeigt an einem Vergleich zweier Fassungen des Traums „Das Weiße“, inwiefern Paula Ludwig nicht nur stilistische, sondern auch inhaltliche Veränderungen vorgenommen hat. Lydia Marhoff: Zwischen Abwehr und Anpassung. Strategien der Realitätsverarbeitung in den Texten nichtfaschistischer junger Autorinnen von 1930–1945, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2002, v. a. S. 164–165. Hélène Cixous: Three Steps on the Ladder of Writing. Aus dem Französischen von Sarah Cornell und Susan Seller, New York: Columbia University Press 1993, S. 107. Vgl. auch Marie-Dominique Garnier: „Writing dreaming. Freud, Fliess, Fluff and Cixous, in: Journal of European Studies 38/4 (2008), S. 361–372, hier S. 362. Vgl. etwa folgende Ansätze: Andrea Albrecht: „Zur textuellen Repräsentation von Wissen am Beispiel von Platons Menon“, in: Tilmann Köppe (Hrsg.): Literatur und Wissen. Theoretischmethodische Zugänge, Berlin u. a.: De Gruyter 2011, S. 140–163, Nicolas Pethes: „Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers“, in: Gabriele Brandstetter/Gerhard Neumann (Hrsg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 341–372 und Manfred Engel: „Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur. Am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt u. a. (Hrsg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 65–91.

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tes „Wissen für das Leben“ oder Roland Spiller ein „onirisches Wissen“ nennen.26 Ich gehe davon aus, dass Träume ein Erfahrungswissen bergen können, das sich in erster Linie in der sinnlichen oder körperlichen Wahrnehmung niederschlägt.27 Diese leiblich-affektive Erlebensweise28 im Traum vermag etwas auszudrücken, das nicht in logisch-diskursiver Weise erzählbar, ja oft noch nicht einmal bewusst erinnerbar ist. Hieran lassen sich auch genderrelevante Überlegungen anschließen: Gegen eine männliche Deutungsmacht kann der Traum einer anderen, auch als schizophren wahrgenommenen Erfahrungswirklichkeit Raum verschaffen, etwa indem er als ‚weibliche‘ Ausdrucksweise inszeniert wird, wie bei Bachmann oder Cixous  – vielleicht auch bei Ludwig29  –, oder indem er, wie bei Beradt, als Erfahrungsraum sich überlagernder historischer 26 Z. B. in Ottmar Ette (Hrsg.): Wissensformen und Wissensnormen des Zusammenlebens, Berlin u. a.: De Gruyter 2012 und Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“; in: Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hrsg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen: Narr 2010, S. 11–38, Vittoria Borsò u. a. (Hrsg.): Wissen und Leben – Wissen für das Leben. Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik, Bielefeld: transcript 2014 und Roland Spiller: „Prólogo“, in: Roland Spiller/Werner Mackenbach u.  a. (Hrsg.): Guatemala: Nunca más. Desde el trauma de la Guerra Civil hacia la integración étnica, la democracia y la justicia social, Ciudad de Guatemala: F & G Editores 2015, S. 1–11. 27 Reinhart Koselleck spricht im Zusammenhang mit Beradts Traumprotokollen von einer „Vernunft des Leibes“ (Koselleck in Beradt: Drittes Reich, S. 129) und von Träumen, die „in den Leib diktiert werden“ (Koselleck in Beradt: Drittes Reich, S. 127). 28 Wie sie etwa von Vivian Sobchack: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2004 oder Richard Shusterman: Thinking through the Body. Essays in Somaesthetics, Cambridge: Cambridge University Press 2012 für die Wahrnehmung und Erfahrung von ästhetischen Werken konzeptualisiert wurden. 29 Zur écriture féminine vgl. neben Hélène Cixous: Le Rire de la Méduse et autres ironies [1975], Paris: Galilée 2010 besonders Susan Sellers (Hrsg.): The Hélène Cixous Reader. With a preface by Hélène Cixous and Jacques Derrida, London/New York: Routledge 1994, u. a. ihre Auseinandersetzung mit der Geschlechterdifferenz im Rahmen der Irvine Lectures: „Three Steps on the Ladder of Writing“. Sellars: Reader, S. 197–205. Zu einem weiblichen Schreiben bei Bachmann vgl. Christine Kanz: Angst und Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns ‚Todesarten‘-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur, Stuttgart: Metzler 1999 und Jean Firges: Ingeborg Bachmann: Malina. Die Zerstörung des weiblichen Ich, Annweiler: Sonnenberg 2009. Monika Grieger attestiert den Träumen Ludwigs eine deutliche Kritik am Patriarchat: „[I]n einer patriarchal geprägten Kultur [stellt sich] nicht nur das Problem einer abgewerteten, verletzten und verdrängten Weiblichkeit für ein weibliches Ich, sondern die überlegen und wertvoll erscheinende Männlichkeit zeigt sich auch undifferenziert, partiell pervertiert, verdinglichend, abwertend, aber gut funktionierend. Der Traum entlarvt die Ideologisierung mit ihren Mechanismen, die zur Aufrechterhaltung dieses Systems beitragen, verdeutlicht aber auch die Destruktionen an allen Betroffenen.“ Monika Grieger: „Grundstrukturen der Symbolik in Paula Ludwigs Aufzeichnungen ‚Träume‘. Deutungshypothesen nach der Jungschen Schule“, in: Roswitha Hentschel (Hrsg.): Paula Ludwig – Waldemar Bonsels. Dokumente einer Freundschaft, Wiesbaden: Harrassowitz 1994, S. 149–181, hier S. 160–161. Da ihre Analyse aber eine streng jungianische ist, bleibt der spezifisch historischpolitische Kontext der Träume, anders als bei Nadja Lux, gänzlich unberücksichtigt.

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und soziopolitischer Unterdrückungsmechanismen verstanden wird.30 Den erfahrungspoetischen Eigenheiten des Traums ist es daher zu verdanken, dass Traumaufzeichnungen aus der kulturwissenschaftlichen Trauma- und Erinnerungsforschung inzwischen kaum noch wegzudenken sind.31 Aus den vielen Notaten der genannten Sammlungen wähle ich nun solche Beispiele aus, in denen die geträumte Welt vergleichbare inhaltlich-motivische Aspekte aufweist. In allen Träumen entfaltet sich eine bedrohliche, apokalyptische Weltvision. Man könnte sie daher sämtlich als Träume von der Hölle bezeichnen. Dies liegt u. a. auch deshalb nahe, weil Gaston Bachelard bereits 1938 eine grundsätzliche Analogie zwischen Höllenbeschreibung und der Struktur der Traumerfahrung festgestellt hat: „Toute description d’une décente aux enfers a la structure d’un rêve.“32 Darüber hinaus aber stehen auch Höllentraum und Shoah-Erfahrung in unmittelbarer Verbindung zueinander, gilt doch die Hölle schon früh als eines der gängigsten Bilder für das, was David Rousset 1946 „l’univers concentrationnaire“ nennt.33 Und bekanntlich bildet ja Dantes Commedia mit ihren detaillierten Höllendarstellungen34 einen entscheidenden Intertext für die Erzählungen zahlreicher Holocaust-Überlebender, allen voran Primo Levis Se questo è un uomo.35 Ich vergleiche solche Höllenträume nun im Hinblick auf folgende Fragen: Wie wird die geträumte Welt motivisch und metaphorisch evoziert? In welchem Maße ist das Ich am Traumgeschehen beteiligt 30 Einen solchen Ansatz verfolgt z.  B. Romana Weiershausen: „Das ‚Lebenerhaltendere der Lüge‘ bei Lou Andreas-Salomé. Weibliche Widersprüche gegen männliche Wahrheitsansprüche um 1900“, in: Cahiers d’Études Germaniques 68/1 (2015), S. 241–250. 31 In seinen gattungsgeschichtlichen Überlegungen zum Traumnotat hat Hans-Walter SchmidtHannisa anlässlich der Traumreflexionen von Walter Benjamin besonders die historisch-politisch bedeutsame Dimension eines Traumwissens herausgearbeitet, das sich sowohl gegen eine privat-banale als auch eine naiv überhöhte Traumpoetik richtet. Zum Traum in der Trauma- und der Erinnerungsforschung vgl. u. a. Dori Laub: „Eros oder Thanatos. Der Kampf um die Erzählbarkeit des Traumas“, in: Psyche 54/9–10 (2000), S. 860–894, Janett Reinstädler: „The Oniric and the Unspeakable. Cinematographic Representations of Dream and Trauma in Madagascar and La vida es silbar by the Cuban Director Fernando Pérez“, in: Janett Reinstädler/Oleksandr Pronkevich (Hrsg.): (Audio-)Visual Arts and Trauma. From the East to the West, Saarbrücken: universaar 2018, S. 139–166, Roland Spiller: „Solo en sueños […] nos asomamos a veces a lo que fuimos antes de ser esto que vaya a saber si somos“. Julio Cortázar y Adolfo Bioy Casares en comparación onírica, in: Roland Spiller (Hrsg.): Julio Cortázar y Adolfo Bioy Casares. Relecturas entrecruzadas, Berlin: Erich Schmidt 2016, S. 11–38 und Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München: Beck 2006. 32 Gaston Bachelard: La psychanalyse du feu, Paris: Gallimard 1949, S. 71. 33 David Rousset: L’univers concentrationnaire, Paris: Éditions du Pavois 1946. 34 Dante Alighieri: La Commedia/Die Göttliche Komödie, italienisch-deutsch, Bd.  I: Inferno/ Hölle. Aus dem Italienischen von Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2010. 35 Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005. Zur Höllenmotivik in der Lagerliteratur generell vgl. Thomas Taterka: Dante deutsch. Studien zur Lagerliteratur, Berlin: Erich Schmidt 1999.

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und wie lässt sich dies historisch erklären? Was weiß das träumende Ich innerhalb des Traumerlebens über den Nationalsozialismus und wie schlägt sich dieses Wissen als körperliche und emotional-affektive Erfahrung nieder?

Notiertes Traumwissen bei Charlotte Beradt Die Bedrohungsszenarien durch den Nationalsozialismus, die das Grauen der Lager vorweg- oder in den Traum hineinnehmen, sind in Beradts Traumsammlung höchst vielfältig.36 Besonders explizit erscheinen sie etwa in jenem Traum, in dem sich ein Träumer in der Rolle eines Lagerarztes im KZ wiederfindet.37 Eindrückliche Bilder liefern auch der Traum einer 22-Jährigen mit „jüdisch aussehender Nase“, die sich auf der Flucht unter einem großen Leichenhaufen versteckt,38 oder der Traum einer Frau, die zum ewigen Herumirren „im trüben Regen“ verdammt ist, nachdem ihr alle Türen verschlossen sind.39 Die Frau eines Untergrundkämpfers träumt im Jahr 1934: Er kommt zurück, als Soldat verkleidet – ich träume natürlich immer wieder, daß er zurück und in Gefahr ist. ‚Du wirst daran scheitern‘, sage ich ihm, ‚daß du nicht Bescheid weißt.‘ […] ich überlege, ob ich ihm Unteroffiziersstreifen an den Kragen nähen kann, damit die Gemeinen ihn zuerst grüßen müssen und er nicht wegen falschen Grüßens angehalten wird […]. Er verlacht meine Vorhaltungen, macht aber schon den ersten Gruß falsch. […] Später höre ich dann, daß das Unvermeidliche geschehen ist, daß er hochgegangen ist. Ich frage mich durch bis zu dem Ort, wo er sein soll. Ein großer Kellerraum, schon ganz leer. Alle sind schon fortgeschafft. Aber eine Gruppe von Leuten, die jemanden suchen wie ich, [… spricht] von nichts anderem, als wie furchtbar es sein soll, und als ich einmal sage, ‚so schlimm sieht es von außen gar nicht aus‘, führen sie mich zu einem Türchen […], 36 Etwas seltsam mutet es an, dass Beradt Träume von Frauen (und ihren „verhüllten Wünschen“ von Hitler als erotischem Wunschobjekt, d. h. von „Hitler als faktischem Verführer“) in einem gesonderten Kapitel aufführt, wie die Träume von Juden ebenfalls. Aber auch in anderen Kapiteln finden sich Aufzeichnungen von Träumerinnen. 37 Beradt: Drittes Reich, S. 49. 38 „Friedlicher Familienausflug.  […] Plötzlich ein Schrei: sie kommen.  […] Flucht, Flucht, Flucht. […] Plötzlich liege ich tief unter einem Leichenhaufen, von dem ich nicht weiß, wie er dahingekommen ist – endlich habe ich ein gutes Versteck. Reine Seligkeit unterm Leichenhaufen, meine Mappe mit den [Sippen-]Papieren unterm Arm.“ Beradt: Drittes Reich, S. 62. 39 In diesem Traum darf die Träumerin nicht in ihr Haus zurückkehren, muss all ihre Sachen zurücklassen und wird mit einem ahasverischen Fluch vom ewigen Umherirren belegt. Hier kondensiert sich unmissverständlich die Erfahrung nationalsozialistischer Gewalt- und Vertreibungspolitik. Das Notat endet damit, dass die Träumende mit ihrer Familie „für immer in den trüben Regen“ geht. Beradt: Drittes Reich, S. 10.

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rund wie ein Faßdeckel, darauf steht: ‚Raum 7,7  ccm, Temperatur 75  Grad.‘ Ich trete den Deckel mit dem Fuß ein. Ein andermal träume ich, daß man mich zwingt, alle bestialischen Strafen, die es gibt, aufzuzählen. Ich erfand sie im Traum.40

Dieser Traum einer Deportation bewegt sich auf eigenartige Weise zwischen Wissen und Nichtwissen, wie es von Michael Gamper und Michael Bies konzeptualisiert wird.41 Die Träumende prophezeit von Beginn an die bevorstehende Verhaftung und nennt auch den Grund für das spätere Auffliegen: nämlich das Nicht-Bescheidwissen. Dieses will sie für den Ehemann mit einer kulturgeschichtlich ausgesprochen weiblichen Strategie vertuschen, einer Art Handarbeits-Trick.42 Zwar wird die bevorstehende Deportation untrüglich gewusst  – das „Unvermeidliche“ geschieht. Der Terror selbst aber liegt im Bereich eines Gerüchts – einem Gebiet zumal, zu dem sich die Träumerin erst durchfragen muss. Dem vermeintlichen Wissen der anderen, wie „furchtbar es sein soll“, steht die Träumerin so lange skeptisch gegenüber, bis sie mittels Daten und Zahlen eines Besseren, eines Faktenwissens, belehrt wird. Der Raum, in den der Ehemann verschleppt worden sein soll, ist dabei deutlich als Hölle inszeniert. Er liegt unter der Erde, aufgrund seiner Enge von wenigen Quadratzentimetern müssten die Menschen dort auf grotesk-monströse Weise zusammengepfercht worden sein, die Hitze ist tödlich. Hier wird im Traum ein Szenario entworfen, das in der historisch-politischen Wirklichkeit der frühen 1930er Jahren noch jenseits aller Vorstellungskraft liegt. Dass das träumende Ich unmittelbar im Anschluss berichtet, wie es im Traum gezwungen wird, bestialische Strafen aufzuzählen, die es selbst gar nicht kennt, kann als weiterer Hinweis auf die Verbindung von Hölle und Holocaust gelesen werden. Wo die Vorstellungskraft der Grausamkeiten versagt, werden sie träumend erfunden und befinden sich damit in einer traumtypischen Ambivalenz zwischen Lüge und Wahrheit, zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Auffällig ist die räumliche Bewegung des Ich innerhalb des Geschehens. Seine Rolle wandelt sich von der zunächst besorgten, aber offensichtlich heimlich im Widerstand tätigen Ehefrau hin zur wütenden Aktivistin, die mit einem Fußtritt die Grenze des krematoriumsähnlichen Kellerraums einreißt. Die Distanz der Träumerin zum Ort des Grauens verringert sich buchstäblich Schritt für 40 Beradt: Drittes Reich, S. 75–76. 41 Michael Gamper/Michael Bies (Hrsg.): Literatur und Nicht-Wissen. Historische Konstellationen 1730–1930, Zürich/Berlin: Diaphanes 2012. 42 In einem anderen Traum geschieht etwas Ähnliches, geradezu Penelope-Artiges: Eine Frau trennt mit der Nadel jede Nacht von Neuem das Hakenkreuz aus dem Stoff einer Fahne heraus. Beradt: Drittes Reich, S.  74. Den Bezug zur Odyssee stellt Beradt hier selbst her. Das Traumnotat erinnert deutlich an die feministische Relektüre antiker Mythen von Adriana Cavarero: Nonostante Platone. Figure femminili nella filosofia antica, Roma: Editori Riuniti 1990, S. 23–51.

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Schritt. Doch was im Inneren des Raums vorgeht, bleibt in diesem Traum, der ein Jahr nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geträumt wird, noch verborgen. Auch die Gruppe der anderen kennt den Schrecken nur aus sicherem Abstand: Sie hält sich an Gerüchte und hockt „in Reihen zweisitziger Pulte“, fast als säßen sie im Schulunterricht oder als wohnten sie einer Theateraufführung bei, bei der der Blick auf das Geschehen (noch) nicht freigegeben wird.43 Georges Didi-Huberman sieht im Dritten Reich des Traums daher ein „geheimes Wissen in Bildern“ aufgehoben, deren widerständiges ästhetisches Potenzial er besonders hervorhebt.44 Hans-Walter Schmidt-Hannisa versteht die Traumsammlung entsprechend als „Zugangsmöglichkeit zu den nicht realistisch darstellbaren Dimensionen der Realitätserfahrung“.45

Notiertes Traumwissen bei Paula Ludwig Die Träume des zweiten Teils der Aufzeichnungen von Paula Ludwig stammen aus der Zeit ihrer Emigration nach Österreich und Frankreich, ihrer zwischenzeitlichen Inhaftierung und dem brasilianischen Exil. Die Autorin exiliert bereits 1933 nach Österreich, noch bevor sie dort als dezidierte Regimekritikerin und wegen ihres Einsatzes für deutsche Jüdinnen und Juden verfolgt wird. Als sie in den Akten der Reichschrifttumskammer als verdächtig geführt und dem jüdisch-bolschewistischen Lager zugeordnet wird, flieht sie 1938 über die Schweiz und Frankreich nach Brasilien. Sie zählt also nicht zu den „unmittelbar Gefährdeten“, ist sich aber der Gefahr durch die Nationalsozialisten bereits seit den frühen 1930er Jahren bewusst.46 Die Referenzen auf die Shoah bleiben, wie auch Nadja Lux feststellt, assoziativ.47 Gleichwohl birgt die Sammlung, die sich ansonsten vor allem durch religiös aufgeladene, oft märchenhafte, mitunter auch fabelähnliche und grotesk-humo43 Janosch Steuwer liest Beradts Träume daher als bedeutsame Quelle zur Erforschung der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus. Janosch Steuwer: ‚Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse‘. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen: Wallstein 2017, S. 536 u. 539. 44 Vgl. Georges Didi-Hubermans kunstphilosophische Perspektive auf Benjamin und Agamben: „Images: Faire apparaître des rêves. Charlotte Beradt ou le savoir-luciole. Témoignage et prévision. L’autorité du mourant“ in: Georges Didi-Huberman: Survivance des Lucioles, Paris: Minuit 2009, S. 115–120, hier S. 117 u. S. 118. 45 Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror, S. 121. 46 Nadja Lux: Alptraum: Deutschland, S. 365. 47 Nadja Lux: Alptraum Deutschland, S. 378.

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ristische Träume auszeichnet, doch zahlreiche Träume von Verfolgung, Flucht und unterweltartigen Szenarien. Oftmals geht es in solchen Träumen um die Distanz zwischen anonymen Opfern von Gewalt und einer beobachtenden Instanz, die den Gräueltaten zusieht, ohne einzuschreiten. Wir lesen etwa von der Deformierung nackter, unschuldiger Opfer durch einen Arzt, ohne dass die Beobachter sich darum kümmern,48 von einem „üble[n] Sterben“ im Lager, über das nur die Eingeweihten Bescheid wissen,49 oder von einem „fensterlose[n] Gebäude“50, in dem Menschen geschunden werden. Besonders vielsagend scheint mir ein Traum, in dem das Ich, getrennt vom eigenen Sohn, in einem Viehwagon abtransportiert wird: Transport Wir wurden in einem Viehwagen durch Grenzgebiet transportiert. Ich wußte nicht, wo mein Sohn war. Neben mir saß der Schauspieler Kalser. Aber er sprach nicht mit mir: Niemand sprach, und alle blickten zu Boden. Mir war, sie scheuten sich, mich anzusehen. Mir graute vor etwas Unbekanntem. Furchtbare Angst drehte mir den Kopf zum Offenen. In diesem Augenblick ragte über die Böschung eine Riesengestalt in Uniform empor, reckte die Arme hoch und verschwand wieder mit hämischem Grinsen. Als ich mich umwandte, starrten alle Augen mich an – und Kalser nickte.51

Auch in „Die Kloake“ befindet sich die Träumerin in einem Zug. Entscheidend für das Traumerleben ist hier eine eigenartige Ambivalenz aus Nähe und Distanz: Einerseits wird das Geschehen in einer geradezu theatralen oder filmischen Art und Weise wahrgenommen – andererseits aber herrscht das „Grauen“: Die Kloake In einem weißen, blitzsauberen Luxuszug fuhren wir durch die Schweiz. Die Alpenspitzen schimmerten auch weiß und leuchteten in ihrer Reinheit. Wir kamen über eine grandiose Brücke. Tief unten lag das Tal. Als ich hinunterblickte, eröffnete sich mir ein Anblick des Grauens: halbkreisförmig, von Felswänden eingeschlossen, war eine Art Kloake. Schmutzige Schlamm-Massen häuften sich darin. In diesem Sumpf schleppten sich menschliche Gestalten. Sie waren in Gefahr zu ertrinken. Aus einer Höhle trat ein riesenhafter Neger und bäumte seinen Leib. Er warf die Arme empor. Im Vor48 49 50 51

„Sanitätsstation“, Ludwig: Träume, S. 126. „Rasputin“, Ludwig: Träume, S. 129. „Das fensterlose Gebäude“, Ludwig: Träume, S. 128. Ludwig: Träume, S. 112. Die Traumaufzeichnungen werden, fast als handele es sich um Prosagedichte, mit zahlreichen Absätzen wiedergegeben, die ich hier getilgt habe. Zum Gedichtcharakter von Ludwigs Träumen vgl. auch Kapitel  IX. Dieses „Transport“ überschriebene Notat wurde sicherlich nicht zufällig unmittelbar vor „Campo de Gurs“ platziert, einem Traum, in dem das Ich sich durch den Stacheldraht des Lagers zwängt. So entsteht beim linearen Lesen zwangsläufig eine räumliche und kausale Verknüpfung zwischen Deportation, Lagerhaft und Flucht.

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dergrund verwesten Kadaver. Sie hatten ungeheure Dimensionen angenommen und waren ganz aufgeschwollen und von scheußlich blaugrüner Farbe. Viele Menschen versuchten, an den Mauern Schutz vor der trüben Flut zu finden. Doch es kam immer mehr Spülwasser. Sie waren verloren.52

An diesem Beispiel zeigt sich besonders die Literarizität von Ludwigs Aufzeichnungen: Es finden sich zahlreiche Assonanzen („Blitz-“, „Schweiz“ und „-spitzen“, Menschen schleppen sich durch „schmutzigen Schlamm“, das „trübe Spülwasser“ ist „blaugrün“), eine fast übersteigerte Opposition von oben und unten, von weißem Schnee und trübem Sumpf, von Berg und Brücke auf der einen, von Tal, Höhle und Morast auf der anderen Seite. Diese höllenartige Geographie wird noch verstärkt dadurch, dass der beschriebene Raum, ähnlich wie Dantes „Inferno“, geometrisch vermessen wird und als Halbkreis erscheint. Der Anblick verwesender Kadaver und das Verenden der Gestalten im Sumpf53 sind weitere Höllen-Motive, mit denen die Shoah evoziert wird. Auch über die Assoziationskette Kloake, trübe Flut und einen wegzuspülenden Sumpf wird – zumal in geradezu übertriebener Abgrenzung zur Reinheit und Sauberkeit der Außenstehenden – eine faschistisch getränkte Bildlichkeit aufgerufen. Barbara Hahn hat darauf hingewiesen, dass sich die Distanz zwischen beobachtendem Ich und den Ertrinkenden im Traumerleben offenbar verringert:54 Zunächst noch tief unten im Tal, befinden sich die Kadaver im vorletzten Abschnitt nicht etwa an der Oberfläche, sondern im Vordergrund; das Ich scheint sich also hinabbewegt zu haben. Die Träumerin rückt offensichtlich näher an das Geschehen heran. Sie nimmt, anders das Ich bei Beradt, Anteil an einem namenlosen, aber sichtbaren Unheil. Sie erlebt es jedoch lediglich als Beobachterin, nicht am eigenen Leib. Die genannten Träume tragen sich zu, während Paula Ludwig von der Reichsschrifttumskammer dem jüdisch-bolschewistischen Lager zugerechnet wird und sich als Regimekritikerin auf der Flucht zunehmend vom Ort der Verbrechen wegbewegt. Vor diesem Hintergrund stechen das Hinsehen, aber NichtEingreifen(können), die konflikthafte Ambivalenz zwischen Abwehr und Konfrontation, die Kombination aus Bedrohung und Schuld, und schließlich das nicht mehr auf Distanz-Halten-Können der Verbrechen als entscheidende Themen der Träume hervor. Es handelt sich hier um ein moralisches Dilemma, das sich in den Ambivalenzen des Traums ausdrückt, für das dieser aber, wie auch Lydia Marhoff feststellt, keine Lösung anbieten kann. Dies ist eine Problematik, die gegen Ende der Sammlung im Traum „Das Tier“ schließlich kulminiert: In 52 Ludwig: Träume, S. 107. 53 Damit entsteht eine geradezu verblüffende Parallele zum KZ-Traum „Le songe“ von Vercors. Vercors (= Jean Bruller): „Le songe“, in: Vercors: Le silence de la mer et autres œuvres, Paris: Omnibus 2002, S. 178–186 (vgl. auch Kapitel II). 54 Hahn: Endlose Nacht, S. 89.

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dem unheimlichen Wesen, welches zu Beginn des Traums mit aller Gewalt ausgeschlossen werden soll, erkennt die Träumende erschrocken sich selbst und damit, dass sie sich nicht mehr vom Leib halten kann, wovor sie die Augen verschließen wollte. Ein gequältes, um Hilfe und Einlass flehendes Wesen sitzt vor dem Fenster der schreibenden Träumerin. Diese will das Tier mit aller Gewalt draußen vor der Tür halten. Am Schluss erkennt es jedoch entsetzt, dass es damit sich selbst ausgeschlossen, vor sich selbst die Augen verschlossen, das eigene Ich auf Distanz gebracht hat: „Das bin ja ich, das bin ja ich.“55

Notiertes Traumwissen bei Ingeborg Bachmann In der Aufzeichnung, die Ingeborg Bachmann mit „Der Traum (circa 20.2.66)“ überschreibt, ist hingegen jegliche Distanz zwischen träumendem Ich und der apokalyptischen Wahnsinnswelt aufgehoben. Die Träumerin geht buchstäblich durch die Hölle. Bereits ein früheres Traumnotat handelt von der unheimlichen Nähe der NS-Verbrechen, die Bachmann sich nicht vom Leib halten kann: Großer Hof. Viele Garagen […]. Hinter mir ist ununterbrochen jemand, der sich bei jeder Drehung hinten so geschickt mitdreht, daß ich ihn nicht sehen kann. Die Verzweiflung über den Unsichtbaren. Ich frage, wer es ist, weil ich immer noch denke, es sei jemand, den ich gut kenne. Aber die Stimme ist ziemlich fremd. Er gibt schließlich zu, daß er Fritz Ertl ist …56

Dieser Traum weist eine eigenartige Unentschiedenheit zwischen Wissen und Nicht-Wissen auf. Der Täter – es handelt sich um den SS-Architekten, der „die 55 Ludwig: Träume, S. 144. Lydia Marhoff hat in ihrer Auseinandersetzung mit Ludwigs Traumaufzeichnungen herausgearbeitet, dass die Themen Bedrohung und Schuld im zweiten Teil des Bandes neue, in den Aufzeichnungen bisher so nicht kombinierte Motivkomplexe darstellen. Lydia Marhoff: Zwischen Abwehr und Anpassung. Strategien der Realitätsverarbeitung in den Texten nicht-faschistischer Autorinnen von 1930 bis 1945, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag Berlin 2002, S. 165. Den Traum „Krieg“ liest sie vor diesem Hintergrund als Anspielung auf die Situation der in Deutschland gebliebenen nicht-faschistischen Schriftsteller, die Vernichtung aus einer Nischenposition heraus beobachten. „Er spricht ambivalente Gefühle an, drückt einerseits Erleichterung aus, von den schrecklichen Vorgängen nicht betroffen zu sein, andererseits Schuldgefühle, inwieweit das verdientermaßen so ist. Und die beklemmende Unsicherheit darüber, ob diese vermeintlich unangreifbare Position auch so bleibt. Der Traum bietet für dieses moralische Dilemma keine Lösung an.“ Marhoff: Abwehr und Anpassung, S. 165–166. 56 Bachmann: Male oscuro, S. 37.

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Bauarbeiten für das KZ Auschwitz-Birkenau“57 geleitet hat – befindet sich stets in unmittelbarer körperlicher Nähe. Seine Stimme wird gehört, doch dem Blick bleibt er verborgen.58 Dem grausigen Gaskammer-Traum im zweiten Kapitel des Malina-Romans schließlich geht fast wörtlich jener Traum voraus, von dem Bachmann in ihren Aufzeichnungen sagt, dass sie seine Logik nicht beschreiben kann, sich aber auch nach einem Jahrzehnt noch an ihn erinnern wird.59 Wenn der Traum anfängt, weiß ich schon, daß ich verrückt bin. Die Welt ist nicht mehr die Welt. Es sind noch Elemente von ihr da, alle Details, aber in einer Zusammensetzung, die irre ist. Alles ist farbig. Autos rollen heran, Menschen tauchen auf, stark überfärbt, grinsen im letzten Augenblick, wenn ich an sie herankomme, fallen um, sind Strohpuppen, alles hat trotzdem eine unglaubliche Konsequenz, die Bilder, die Farben, die Gegenstände, mein Herumgehen in dieser Welt, ich gehe immerzu weiter, manchmal ist es schrecklich, dann nicht so sehr, und immerzu, wenn ich an diese Gegenstände und Personen komme, weiß ich, daß ich verrückt bin, und wenn es mich ängstigt, dann versuche ich, die Augen zuzumachen, ich will heraus aus dieser Welt, ich will unbedingt heraus. […] In der größten Verzweiflung lasse ich mich auf den Boden fallen – […] ich liege auf dem Boden und denke, ich muß die Menschen rufen, laut rufen und mit klarer Stimme, die mich retten können. […] Dann kommt ein katastrophales Fallen ins Nichts, die Irrsinnswelt ist zuende, ich komme zur Besinnung, greife mir an den Kopf, habe lauter Metalldrähte auf dem Kopf und schaue mich erstaunt um. Um mich sitzen jetzt, in schwarz-weiß einige Ärzte in weißen Kitteln, die mich freundlich ansehen. Man sagt mir, man habe einen Elektroschock gemacht. Ich sei jetzt gerettet. Ich bin noch ganz benommen von dieser Rückkehr, wache auf.60

In ihrem Kommentar rekonstruieren die Herausgeberinnen Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni einen überzeugenden Zusammenhang zwischen Bachmanns Traumaufzeichnungen „aus der Zeit der Krankheit“, den Shoah-Träumen in Der Fall Franza und Malina und den Nachforschungen der Autorin über die medizinischen Experimente an weiblichen KZ-Häftlingen.61 Sie stellen zudem eine besonders abgründige Verbindung her zwischen der Shoah-Thematik und dem Therapieansatz der „Grenzsituationserlebnisse“, dem Bachmann als Patientin ausgesetzt ist. Der Arzt Kurt Kolle, an dessen Forschung sich Bachmanns 57 Ich rekonstruiere die Fakten nach Schiffermüller/Pelloni in Bachmann: Male oscuro, S. 172. 58 Die Träumerin ist emotional-affektiv unmittelbar in das Traumgeschehen involviert, schwankt aber zwischen „gut kennen“ und „jemanden“ „nicht sehen“. Es liegt ausgesprochen nahe, hier Freuds Konzept des Unheimlichen zu bemühen, wie es auch Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni tun. Sie verweisen auf „jene Art des Grauens, welche ‚auf das Altbekannte, längst Vertraute zurückgeht“, „ein Geheimnis, das im Verborgenen hätte bleiben sollen und hervorgetreten ist“. Bachmann: Male oscuro, S. 172–173. 59 Bachmann: Male oscuro, S. 51. 60 Bachmann: Male oscuro, S. 50–51. 61 Schiffermüller/Pelloni in Bachmann: Male oscuro, S. 173.

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Therapeut Helmut Schulze orientiert, versteht Neurosen als „Bequemlichkeitshaltung“ und meint beobachtet zu haben, dass „KZ-Häftlinge deutlich seltener von Neurosen oder andern psychischen Problemen betroffen sind, ja diese bei der Einlieferung ins Lager ihre Neurosen, sogar alteingesessene Zwangsneurosen, in kürzester Zeit verloren“. Auch für diesen Zusammenhang liefern die minutiösen Rekonstruktionen der Bachmann-Herausgeberinnen wichtige Erkenntnisse: Ingeborg Bachmanns Arzt, für den die Traumdeutung eine wichtige Rolle spielt, will eine „Konzentrierung und Potenzierung der Lebenskräfte“ erreichen.62 An diesen geradezu zynisch wirkenden Ansatz fühlt man sich bei der Lektüre des Traums vom Februar 1966, der mit einem Elektroschock-Experiment endet, fast zwangsläufig erinnert. Sicher, im zweiten Kapitel von Malina, das diesen Traum literarisch verarbeitet, sind die Höllenmotive deutlich ausgeprägter als im Protokoll; ja in ihrer Explizitheit werden sie dort regelrecht zum Leitmotiv. So heißt es dort etwa: „[D]as Eis bricht, ich sinke unter dem Pol weg ins Erdinnere. Ich bin in der Hölle. Die feinen gelben Flammen ringeln sich […] ich spucke die Feuer aus.“63 Doch wie bei Beradt und Ludwig, haben wir es auch in Bachmanns Traumprotokoll mit einer apokalyptischen Welt zu tun, die deutlich von der ‚normalen Welt‘ abgetrennt ist. Auch hier herrscht ein theatrales oder filmisches Erleben vor („Menschen tauchen auf und fallen um“). Nur befindet sich die Träumerin in diesem Fall selbst inmitten eines Schreckens, vor dem sie vergeblich versucht, die Augen zu schließen – und kein Fluchtversuch oder Hilferuf führen hinaus. Bemerkenswert sind die sinnlichen Eindrücke des Traumerlebens: die besondere Farbigkeit und die groteske Nähe, in die das Ich mit Personen und Dingen gerät. Die Träumerin ist, auf dem Boden liegend, unmittelbar von ihrer Umgebung affiziert, „in größter Verzweiflung“. Die weitreichendste Verbindung zur Shoah sehe ich allerdings weniger in der Höllenmotivik als vielmehr in der irritierenden Traum-im-Traum-Struktur am Ende des Notats. Bachmann erklärt selbst, dass es dieses Erwachen im Traum ist, welches sie an dieser Traumerfahrung am nachhaltigsten erschüttert hat.64 Der Traum erzählt vordergründig von einem Happy End: Die Träumerin ist gerettet, die höllische Welt war nur geträumt. Nach dem Aufwachen hat sie zwar Metalldrähte am Kopf, aber der Wahnsinn ist verflogen. Doch der Traum hat 62 Vgl. Schiffermüller/Pelloni in Bachmann: Male oscuro, S. 123, zu Kolles Ansatz vgl. Kurt Kolle: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Stuttgart 1961, S. 35, zitiert nach Schiffermüller/Pelloni in Bachmann: Male oscuro, S. 123, Fußnote 2. 63 Ingeborg Bachmann: Malina, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016, S. 185. Natascha Denner hat in aller Ausführlichkeit die Träume aus Malina im Hinblick auf ihre Höllenmotivik untersucht und anhand vielfältiger Intertexte sowohl für das zweite Kapitel als auch für den gesamten Roman eine Konstruktion nach dem biblischen Konzept der „vier letzten Dinge“ nachgewiesen. Vgl. Denner: Die vier letzten Dinge. 64 Bachmann: Male oscuro, S. 51.

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einen doppelten Boden: Dass ausgerechnet die Erlösung durch den Elektroschock in Schwarz-Weiß erlebt wird, scheint die herbeigesehnte Rettung ein Stück weit zu ent-realisieren. Und tatsächlich zeigt sich: Auch das Erwachen in der Normalität ist nur ein Traum, womöglich eine vorübergehende Etappe innerhalb eines ewigen Alptraums. Mit dieser verschachtelten Konstruktion erinnert der Traum deutlich an die Unabgeschlossenheit, Potenzierung und Serialisierung weiterer autobiographischer Shoah-Träume, wie sie etwa von Primo Levi, Charlotte Delbo, Georges Perec oder Jorge Semprún erzählt werden (vgl. Kapitel X). Im Zusammenhang mit den Traumberichten Shoah-Überlebender sticht zudem der Begriff „diese Rückkehr“ am Schluss des Textes besonders hervor. Vor allem der berühmte Schlusstraum aus Primo Levis La tregua (vgl. Kapitel X) weist eine ganz ähnliche Traum-im-Traum-Struktur auf:65 Die Befreiung aus dem Konzentrationslager, das Weiterleben in einer Welt, die zu schön oder zu normal scheint, um wahr zu sein, entpuppt sich als nur geträumt; als ein Traum in einem Traum. Den ewigen Alptraum von der Schuld der Überlebenden hat Adorno pointiert formuliert als Heimsuchung von „Träumen wie de[m], daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren umgebrachten“.66 Eine solche schillernde Position der Bachmann’schen Träume zwischen Wahnsinn und Klarsicht beschreibt Katja Schubert folgendermaßen: Bachmanns Traum67 handelt zwar vom Irresein der Träumenden. Gleichzeitig zeichnet er sich aber durch ein äußerst klares, geradezu luzides Traumbewusstsein aus. Es sind hier ein anderer Prozess und ein anderer Modus von Erkenntnis am Werke, die auch auf eine andere Sprache als die des Herrschaftswissens zielen. Nicht das Erzählen steht dabei im Mittelpunkt, sondern eher ein Darstellen und ein Vorstellen in der Traumsprache als Sprache des Unbewussten und als Bilder-

65 Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra, Paris: Minuit 1970, S.  89–91, Jorge Semprún: L’écriture ou la vie, Paris: Gallimard 1994, S. 169–287 (hier führt er zusätzlich zum erzählten Traum eine Reflexion über Primo Levis Traum im Traum an bzw. in die Traumerzählung ein) und Primo Levi: La tregua, Torino: Einaudi 2014, S. 200–201. 66 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 355–356. In eine vergleichbare Richtung geht der Auschwitz-Traum aus Barbara Honigmanns Roman von einem Kinde: „Einmal hatte ich einen Traum. Da war ich mit all den anderen in Auschwitz. Und in dem Traum dachte ich: Endlich habe ich meinen Platz im Leben gefunden.“ Barbara Honigmann: Roman von einem Kinde, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1986, S. 28. Auch hier ‚wünscht‘ sich eine Davongekommene gewissermaßen nach Auschwitz und sieht ihren Platz bei den Opfern. Und auch dieser Traum evoziert eine irritierende Überschneidung von Leben und Tod, Traum und Wirklichkeit. 67 Schubert bezieht sich hier allerdings auf die Version des Traums in Bachmanns Malina.

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schrift, die Entstellung und Verdichtung aufzeigt und gegen die Regeln des geordneten Sprechens verstößt.68

An einer Welt, so lässt sich an Schuberts Argumentation anschließen, die in ideologischen Wahn verfallen ist und an deren traumatisierenden Zurichtungen auch die nachfolgende Generation noch zugrunde zu gehen droht, muss die Träumerin als (Täter-)Tochter und Nachkriegsautorin ihrerseits wahnsinnig werden. Hier zeigt sich deutlich der Modus eines Traumwissens, das Maria Teresa De Palma als anti-positivistisch beschreibt: ein Wissen, das auf sinnlichen und leiblichen Wahrnehmungen basiert und die rationale Logik objektiver Geschichtsschreibung unterläuft.69 Denn das onirische Wissen um Täterschaft, Gewalt und Vernichtung wird vom autobiographischen Ich der Bachmann’schen Traumnotate am eigenen Leib erfahren, ohne dass die wachwirkliche Gesellschaft es noch als ein solches anerkennen könnte.

Notiertes Traumwissen bei Hélène Cixous Der Konzentrationslagertraum von Hélène Cixous folgt unmittelbar auf einen Traum vom Reich der Toten, den sie „Chez les morts, dans le monde d’en bas“ nennt.70 In diesem Traum ist die Welt deutlich als Hölle konfiguriert: Das Ich befindet sich unter Tage, in dunklen Gängen, in einer Atmosphäre, die an das Ende der Welt erinnert. Es herrscht nicht nur „une atmosphère de fin du monde“,71 sondern der Träumerin begegnet zudem eine Person, der die Rettung gelingt, indem sie diese unterirdische Welt über einen Aufzug nach oben verlässt, während die Zurückbleibende verzweifelt. Mit der Shoah können in diesem Traumbericht nicht nur die eingepferchten Menschenmassen assoziiert werden, sondern auch die „fast verhungerten“ Säuglinge mit Nummern auf den Rücken oder

68 Katja Schubert: „Gefährdete Zeugenschaft: Träume der ‚Endlösung‘ in Werken von Jean Cayrol, Ingeborg Bachmann, Peter Weiss, Barbara Honigmann und Cécile Wajsbrot“, in: Zeitschrift für Germanistik 18/1 (2008), S. 169–183, hier S. 174. 69 Maria Teresa De Palma: ‚Mi sono alzato, sono ricaduto/Nel fondo dove il secolo è il minuto‘. Rêve et onirisme dans la littérature de témoignage (Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún). DPhil thesis Università de Bologna 2017 (http://amsdottorato.unibo.it/7864/1/De_Palma_ Maria_Teresa_tesi.pdf), S. 464. 70 Cixous: Rêve, S. 60–64. Wobei präzisiert werden muss: Nicht Cixous selbst verleiht den Träumen ihre Überschrift, sondern die Träume selbst diktieren ihr, wie sie schreibt, bereits bevor sie beginnen, den Titel. Cixous: Rêve, „Avertissements“, S. 11–21, hier S. 20. 71 Cixous: Rêve, S. 60.

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Berge von abgelegten Kleidern, unter denen Babys ersticken,72 die die Träumende retten will. Bemerkenswert ist die Zeitlichkeit dieser Traumerzählung: Die Hölle scheint aus einer früheren Epoche zu stammen,73 das Erleben hingegen ist von unmittelbarer Gegenwärtigkeit geprägt74 und wird schließlich bis in die Zukunft verlängert.75 So erscheint das Entkommen aus der Hölle als fortwährende Lebensaufgabe. Der Traum vom Besuch im Konzentrationslager, der hier im Fokus stehen soll, trägt sich in Auschwitz zu. Es handelt sich um einen Besuch des Krematoriums und der Gaskammern, der sehr deutlich als die Besichtigung einer Gedenkstätte inszeniert ist. Zu Beginn des Traums ist das Ich Teil einer größeren Gruppe von KZ-Besucherinnen und Besuchern; bald aber lassen sich die Anwesenden von den Opfern des Nationalsozialismus nicht mehr unterscheiden.76 Das Heute und das Gestern vermischen sich ausdrücklich,77 bevor sich schließlich alle gemeinsam  – „in doppelter Trauer“78  – zu einem Leichenmahl niederlassen. Aus der Gruppe der Opfer werden die Mütter mit ihren Säuglingen an der Brust besonders hervorgehoben,79 und das Ich selbst besucht das Vernichtungslager zusammen mit „Omi“. Diese Figur lässt sich als die 1890 in Osnabrück geborene aschkenasische Großmutter Cixous’ lesen.80 Die geträumten Figuren verweisen also auf eine weibliche Genealogie, die vom Moment des Träumens bis in die Zeit der Shoah zurückreicht.81 72 73 74 75 76 77 78 79 80

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Cixous: Rêve, S. 61 und S. 63. Die Kinder liegen beispielsweise schon jahrelang in den Regalen. Cixous: Rêve, S. 61. „Oh – ils sont morts […]. Quelle faim il a. Il boit, il boit, il vit, il vit.“ Cixous: Rêve, S. 62. „C‘est un commencement. J’y arriverai.“ Cixous: Rêve, S. 64. Auch hier bewegt sich das träumende Ich, wie bei Beradt und Ludwig, zunächst deutlich abseits einer Gruppe, indem es sich bei einem Fluchtversuch versteckt und nicht mit anderen nach oben zu den Vernichtungsstätten steigen will. „La foule montait, avec celle d’aujourd’hui celle d’hier.“ Cixous: Rêve, S. 65. „[D]ans un double deuil.“ Cixous: Rêve, S. 65. Cixous: Rêve, S. 66. Hiermit wirkt der Text so, als liefere der Traum die Vorgeschichte zum vorangegangenen Höllentraum der zurückgelassenen Kinder. Zu diesem Schluss gelangt man vor dem Hintergrund des Gesamtwerks von Cixous, aber auch unter Berücksichtigung des unmittelbar darauffolgenden Traumes der Sammlung. „Quant à moi, je vais chercher Omi.“ Cixous: Rêve, S. 67. Vgl. Hélène Cixous: Osnabrück, Paris: Des Femmes 1999 und Hélène Cixous/Mireille Calle-Gruber: Hélène Cixous, Rootprints. Memory and Life Writing, London/New York: Routledge 1997 (französisches Original: Photos de Racine, Paris: Des femmes 1994). „A wonderful thing: how my grandmother, a German war widow, became a French war widow […]. I have vestiges in myself of a History that still had a pre-inhuman mask. I was born in an opposite age: an age of nationalisms, of regionalisms. My life begins with graves. They go beyond the individual, the singularity. I see a sort of genealogy of graves. […] The families of my mother, very large as Jewish families often are, had two fates: the concentration camps on the one hand, on the other, the scattering across the earth.“ Cixous im Kapitel „Albums and legends“ (Cixous: Rootprints, S. 188–189 und S. 191–192), das auch ein Foto der Deportationszüge von Osnabrück zeigt sowie den Stammbaum mit den im KZ ermordeten Verwandten aufführt. Vgl. auch Anicet Modeste M’besso: „Hélène Cixous. Autobiography in

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Auch in diesem Traum sind wir mit einer auffälligen Opposition von außen und innen konfrontiert.82 Zunächst wird das Gebäude beschrieben, werden die Funktionsmechanismen der industriellen Vernichtung nachvollzogen – das historiographische Wissen der Shoah ist in den Trauminhalt eingegangen. Im Inneren dann, im „Vorraum des Grauens“,83 wird die Umgebung auch mit anderen Sinnen erfahren: Die Angst der Opfer und die eigene Bedrohung werden zunehmend nachgefühlt („la douleur d’hier revivée“84), bis die Atmosphäre schließlich „saisissante“85 wird – also atemberaubend, packend – und der Traum mit einer geradezu körperlichen Einverleibung der Umgebung im abschließenden „Leichenpicknick“86 endet.87 Auch bei Cixous birgt das Traumerleben eine performative Dimension. In ihrem Vorwort zu Rêve je te dis bezeichnet die Autorin Träume als Stücke, die nur zum Schein gespielt werden. In diese schieben sich unbemerkt andere Stücke hinein, die etwas Unsagbares hinter dem manifesten Geschehen zum Ausdruck bringen, indem sie es körperlich-emotional erlebbar machen.88 „Visite du camp de concentration“ besitzt eben eine solche Doppelstruktur: Bevor die Träumerin die Gaskammer und das Krematorium selbst erlebt, erscheinen die Gebäude wie billige Theaterkulissen. Betont werden die Künstlichkeit, das Falsche, die Rede ist von einer Rekonstruktion. Erst mit dem Eintritt ins Innere geht die distan-

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Question“, in: Lublin Studies in Modern Languages and Literature 40/2 (2016), S. 192–203, hier S. 194–198. Ganz ähnlich wie bei Ludwig wird auch hier eine räumliche Opposition konstruiert: Der Ort erscheint von außen weiß glänzend luxuriös, großartig. Dieser visuelle Eindruck steht in eigenartigem Kontrast zu den zahlreichen Begriffen des Düsteren, Tödlichen, Schwarzen, mit denen das Innere des Vernichtungslagers erfasst wird. „J’étais dans le vestibule du mystère affreux.“ Cixous: Rêve, S. 66. Cixous: Rêve, S. 65–66. Cixous: Rêve, S. 66. „[U]n pique-nique funèbre triste.“ Cixous: Rêve, S. 66. Ein Auschwitz-Traum aus einem ganz anderen Text, nämlich aus Cécile Wajsbrots Beaune la Rolande [2004], scheint exakt die komplementäre Perspektive zu inszenieren und so in einen Dialog mit Cixous’ Traumerfahrungen zu treten: In dieser autobiographischen Schrift, die Familienerzählungen von der Deportation des Großvaters nach Beaune la Rolande (und von dort aus nach Auschwitz) mit den eigenen Erinnerungen an die jährlich stattfindenden Gedenkfeiern auf dem Lagergelände verbindet, findet sich auch ein Kapitel mit notierten Träumen. Im Traum vom 6. Dezember 1995 ist das erzählende Ich selbst in Auschwitz gefangen, während es beobachtet, wie die Besucher durch die KZ-Gedenkstätte gehen. Es sieht die Möglichkeit des Entkommens unmittelbar vor sich, muss aber feststellen, dass es die zeitliche Grenze zwischen dem Nationalsozialismus und der Gegenwart der Nachgeborenen nicht überwinden kann: „J’étais à Auschwitz.  […] Des gens passaient, des visiteurs, qui étaient dans le présent tandis que nous étions dans le passé, et en danger. Il aurait suffi de se mêler à eux pour sortir, mais entre eux et nous, entre le présent et le passé, la barrière était invisible, infranchissable.“ Cécile Wajsbrot: Beaune la Rolande, Paris: Zulma 2004, S. 26 (für das gesamte Traumkapitel vgl. S. 23–27). „[D]es théâtres qui jouent des pièces d’apparence pour glisser d’autres pièces inavouables sous les scènes d’aveu.“ Cixous, Rêve, S. 65.

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zierte Beobachtung in Angst, Mitgefühl, Trauer und Andenken über. Deutlich erkennbar haben wir es hier mit dem Traum einer Nachgeborenen zu tun. Der Ort des Traumgeschehens ist der einer historisch-pädagogischen Vermittlung. Genau dies macht der Traum selbst zum Thema: Im Traumerleben findet ein Abgleich statt zwischen dem propositionalen, historiographischen Wissen der Träumenden über die Shoah und dem subjektiven, emotional-körperlichen Nachvollziehen des Grauens in seinen Details: Beim Anblick der Knöpfe an den Öfen wird das Wissen konkretisiert („C’est comme ça que ça marchait“89) und das Ich kann sich im Traum über die Eigenarten des KZs nur deshalb wundern, weil es etwas anderes kennt und erwartet hatte. Träumend bringt das Ich beide Formen des Wissens in Übereinstimmung. Es ist gleichzeitig distanzierte Betrachterin und leidendes Opfer.90 Die Angst von damals und heute werden gleichermaßen erlebt, die Trauernden sind zugleich diejenigen, um die getrauert wird.

Notiertes Traumwissen im historischen Verlauf Die untersuchten Träume in Das Dritte Reich des Traums lassen sich als ein geträumtes Vorauswissen bezeichnen. Reinhart Koselleck spricht von der frühen Wahrnehmung einer „Registratur des Terrors“, von „Warnungsträumen“ und ihrem „prognostischem Potenzial“, das die Träume zur „Quelle für eine politischhistorische Anthropologie“ macht.91 Insofern besitzen die Träume, wie es Beradt selbst formuliert, eine seismographische Dimension.92 Was im Vergleich mit anderen Traumaufzeichnungen der Zeit, etwa von Rudolf Leonhard, allerdings auffällt: Es ist weniger das rohe Traummaterial selbst, als die Auswahl, Kommentierung und kulturelle, vor allem literarische Einbettung von Charlotte Beradt, die das Traumerleben nachträglich so eindrücklich als eine vorweggenommene historisch-kollektive Erfahrung lesbar macht. Beradt interpretiert, wie Irmela von der Lühe und Barbara Hahn gezeigt haben, ihr Material rückwirkend auf der Folie der Erkenntnisse der Totalitarismus-Forschung, von der die Herausgeberin vor allem durch den engen Kontakt mit Hannah Arendt Kennt89 Cixous: Rêve, S. 65. 90 Es unternimmt in Todesangst einen Ausbruchsversuch, „une tentation d’évasion“. Cixous: Rêve, S. 65. 91 „Die Sensibilität der Juden war durch akute Bedrohung so geschärft, dass sie Bilder ihrer Situation mit naturalistischer Clairvoyance zeichneten“, konstatiert Reinhart Koselleck hier treffend. Koselleck: Nachwort in Beradt: Drittes Reich, S. 129–130. 92 Beradt: Drittes Reich, S. 10.

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nis hat.93 Die Nähe der Träume zu literarisch-ästhetischen Formen mit ihrem eigenen Erkenntnispotenzial generiert also ein spezielles Wissen über das Verhältnis von Traum, Erzählung und Totalitarismus, das keine andere Quellengattung in dieser Abgründigkeit bietet. Damit erlangen die Traumtexte Beradts eine besondere Bedeutung im Rahmen aktueller wissenspoetologischer Debatten und Diskussionen um die Funktionen und Potenziale von Literatur.94 Auch Paula Ludwig geht es in ihrem Vorwort um die fließenden Übergänge zwischen Traum- und Wachwirklichkeit. Dort heißt es: „O die Gefühle der Träumenden […]. Vergangene Geschlechter stehen in uns auf. […] Tiefer bekennen wir uns im Traum zu den Erben der alten Erde. Nicht das einzelne Herz – die Allseele ist die eigentliche Träumerin.“95 Hier tritt – wenn auch nur vorsichtig angedeutet – die Idee zutage, dass das Träumen eine kollektive, womöglich historisch-politische Dimension besitzt. Jedenfalls scheinen die Wahrheiten, die im Traum geschaut werden, über das Individuell-Subjektive hinauszugehen.96 Nadja Lux hat anhand der NS-Träume Ludwigs gezeigt, dass für sie der Traum nicht nur zum Ursprung dichterischen Schaffens und privilegierten Modus der Erkenntnis wird, sondern auch zum Motor der Politisierung.97 Dies verbindet 93 Vgl. Irmela von der Lühe: „Das Dritte Reich des Traums. I racconti onirici di Charlotte Beradt sotto la dictatura“, in: Hermann Dorowin/Rita Svandrlik/Leonardo Tofi (Hrsg.): La sfuggente logica dell’anima. Il sogno in letteratura. Studi in memoria di Uta Treder, Perugia: Morlachi 2014, S. 317–327, hier S. 323 und S. 324. Kritisch konstatiert daher Barbara Hahn in ihrer materialreichen und konsequent auf die Traumthematik fokussierten Studie über Träume im Jahrhundert der Gewalt: „Die Träume derer, die einer historisch neuen Erfahrung ausgesetzt waren, stehen im Gespräch mit literarischen und theoretischen Texten.“ „Das Dritte Reich des Traums ist 1966 zum bekannten Terrain geworden: Was den Träumern zustößt, scheint in anderen Texten bereits aufgehoben.“ Hahn: Endlose Nacht, S. 36. Wie Janosch Steuwer herausgearbeitet hat, ist Beradts 1966 veröffentlichtes Buch über das Eindringen des ÖffentlichPolitischen ins Private „nicht einfach die Verschriftlichung dieser Erfahrung, sondern bereits Teil ihrer wissenschaftlichen Deutung. Auch wenn Beradt in ihrem Buch vor allem ihre Träumer sprechen ließ und sich auf knappe Kommentierungen beschränkte, setzte sie mit Auswahl und Gliederung eine Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen  […]; nämlich die Zerstörung einer vor staatlichen Zugriffen geschützten Privatheit angesichts der Entgrenzung des politischen Systems“. Steuwer: Ein Drittes Reich, S. 528. Laut Hans-Walter Schmidt-Hannisa bringen die Träume Seiten der Diktatur zum Vorschein, die sich auf andere Weise nicht erkennen lassen. Schmidt-Hannisa: Nazi-Terror, S. 111. Zutage treten hier Dimensionen, die, wie Koselleck darlegt, durch andere Quellen nicht zugänglich gemacht werden können. Koselleck in Beradt: Drittes Reich, S. 125. 94 Sie haben auch einen wesentlichen Anteil an einem Paradigmenwechsel in den Geschichtswissenschaften, der am Beispiel des Umgangs mit unterschiedlichen Quellen zum Nationalsozialismus besonders gut nachvollziehbar wird. Vgl. Koselleck in Beradt: Drittes Reich, S. 126. 95 Ludwig: Träume, S. 8 („Vorrede“). 96 Lydia Marhoff spricht vom Konflikt zwischen Authentizität und Ludwigs Intention, „Träume von allgemeinem Interesse zu gestalten“. Marhoff: Zwischen Anpassung und Auflehnung, S. 163. 97 Lux: Alptraum Deutschland, S. 370.

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die Schriftstellerin mit der Traumkonzeption von Vercors, der seinen KZ-Traum „Le Songe“ ebenfalls als onirischen Ausdruck dessen verstanden wissen will, was das Wachbewusstsein der unmittelbaren Zeitgenossen kollektiv verdrängt (vgl. Kapitel II). Von einem „Faschismus im weiten Bachmann’schen Sinn“ spricht Renate Böschenstein, wenn sie die Träume Ingeborg Bachmanns erörtert, in denen die Grenze zwischen Metapher und Realität der Shoah fragwürdig wird.98 Das Problem der mangelnden Eindeutigkeit erweist sich dabei zugleich als das Potenzial dieser Traumtexte. Was als Ergebnis historischer Reflexion und wissenschaftlicher Recherche in einer Zeit der erst sehr zögerlich einsetzenden Aufarbeitung des Nationalsozialismus problematisch wäre – die Ineinssetzung von biographischem Vater, patriarchaler Gewalt, SS-Täterschaft und religiöser Hörigkeit – verschafft sich im Traum und seinen wahrnehmungspoetischen Eigenheiten Ausdruck als wahrhafte Erfahrung eines individuellen Subjekts.99 Es handelt sich hier um eine Erfahrung, die  – gerade in ihrer geschlechtsspezifischen Dimension – zugleich eine historisch-kollektive Tragweite besitzt.100 In den Traumtexten von Hélène Cixous erweist sich das Wissen über die Shoah, das in all seinen Details verfügbar ist, als ein mittelbares, ein vor allem medial vermitteltes Wissen. Das rückt sie in die Nähe der Traumnotate von Georges Perec, Antonio Fian und Wolfgang Bächler (vgl. Kapitel X). Die immer größer werdende Distanz zwischen Opfern und Nachgeborenen – zwischen der unmittelbaren Erfahrung des historischen Ereignisses und seinem nachträglichen Eingedenken –, erlaubt der Traum in seiner eigenen Erfahrungsweise zumindest für den Augenblick des Traumerlebens aufzuheben. Ähnlich wie dies für Bachmanns Träume gilt, so ist auch in Cixous’ Traum der Nationalsozialismus nicht Vergangenheit, sondern wird immer wieder von Neuem als gegenwärtig erlebt; „comme si mon usine à rêves avait été construite dans les années 40, sous les bombardements, pendant la guerre; et c’est sans doute le cas. […] Les Nazis sont toujours là.“101 Diese onirische Dimension des Weltverstehens bildet, hier stimmen Bachmann und Cixous überein, die Voraussetzung für ihre literarische Produktion.102 98 Renate Böschenstein: „Der Traum als Medium der Erkenntnis des Faschismus“, in: Bernhard Böschenstein/Sigrid Weigel (Hrsg.): Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Poetische Korrespondenzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 131–148, hier S. 132. 99 Vgl. Böschenstein: Der Traum, S. 141. 100 Bachmann will also „durch das Medium des Traums zu klarer Erkenntnis des Phänomens Faschismus […] gelangen“. Böschenstein: Der Traum, S. 138. 101 Cixous: Rêve, S. 19 („Avertissements“). 102 Näheres erläutert Cixous in ihrer „School of Dreams“ im zweiten Teil der „Three Steps on the Ladder of Writing“ (in Sellers: Reader, S. 201–203). Es handelt sich hier um einen Text, in dem sie Träumen und Schreiben direkt mit der Erfahrung des (weiblichen) Körpers in Zusammenhang bringt: „So perhaps dreaming and writing do have to do with traversing the forest, journeying through the world, using all the available means of transport, using our own body

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So schreibt Brigitte Heymann dem Traum bei Cixous einen „poetischen Mehrwert“ zu, „der – ohne von der konkreten Erfahrung zu abstrahieren – ein philosophischer ist“, indem er den Gegensatz von Realität und Literatur aufhebt, aber an „einen explizit autobiographischen Schreib- und Erinnerungsraum zurückgebunden [bleibt]“.103 Um ein weibliches Schreiben realisieren zu können, das die patriarchale Gewalt vor Augen führt, ohne sie selbst zu wiederholen, ist der Traum für Autorinnen wie Ingeborg Bachmann oder Hélène Cixous geradezu unabdingbar. Er gewährt Zugang zu einem Wissen, das sich von der eigenen Erfahrung nicht abtrennen lässt und eröffnet damit einen Raum für die eigene Stimme.

as a means of transport. […] But for this we have to walk, to use our whole body to enable the world to become flesh, exactly as it happens in our dreams. In dreams and writing our body is alive; we either use the whole of it or, depending on the dream, a part. We must embark on a body-to-body-journey in order to discover the body.“ Sellers: Reader, S. 202. 103 Brigitte Heymann: „Traum – Szene – Schrift. Zur Poetik des Traums bei Hélène Cixous“, in: Susanne Goumegou/Marie Guthmüller (Hrsg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 327–349, hier S. 328–329.

XIII. Täterträume zwischen Verblendung, Verdrängung und Heimsuchung: Romain Gar y, Edgar Hilsenrath, Marcel Beyer, Jonathan Littell, Martin Amis, Olivier Guez und Daša Drndić

An zahlreichen Beispielen ließ sich bisher zeigen, dass der Traum im Kontext der Shoah einen besonders häufig verwendeten Erzählmodus bildet, mit dem etwa die Darstellungsproblematik traumatischer Erfahrung oder die Möglichkeiten eines Sprechens für die Vernichteten ausgelotet werden. Aber nicht nur hinsichtlich der Perspektive der Verfolgten und Überlebenden erweisen sich literarische Träume als eine produktive Erzählstrategie. Gerade auch, was den Versuch angeht, die Stimmen der Täter und deren Weltsicht literarisch zu gestalten, bietet die Traumerzählung weite Spielräume. Solche Täterträume, in denen oft die Gespenster der Vergangenheit auftauchen, scheinen eine nächtliche Antwort darzustellen auf ideologische Verblendung, auf politisch verzerrte Wahrnehmung sowie auf ein geradezu zwanghaftes Augenverschließen vor Schuld und Verantwortung, massive Verdrängung oder Verleugnung der begangenen Verbrechen. Dieser Zusammenhang soll nun in vergleichender Perspektive anhand einer Reihe von Shoah-Romanen untersucht werden, bei denen die Stimmen der Täter im Zentrum stehen. Dabei wird der Fokus auf die narrativen, motivischen und rhetorischen Verfahren gelegt, mit denen die Täterschaft  – und hier vor allem die damit einhergehende Verblendung und Verdrängung – im Traum ästhetisch ausgestaltet wird. Leitend ist also die Frage, was sich in den Traumgesichten der Täter zeigt und wie dies als leiblich-sinnliche Traumerfahrung inszeniert wird.

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Täterträume zwischen Verblendung, Verdrängung und Heimsuchung

Perpetrator Studies und Traumerzählung Was für erzählte Träume in fiktionaler Literatur insgesamt gilt, erlangt in der Täterliteratur, besondere derjenigen über die Shoah, eine gesteigerte Intensität: Schriftsteller1 nutzen vielfach die Eindrücklichkeit des sinnlichen, vor allem des visuellen Traumerlebens, um die subjektive Weltwahrnehmung ihrer Figuren zu inszenieren. In diesem Zusammenhang sind an die filmische Darstellung angelehnte Techniken wie Blendung durch das Erblickte, Verengung oder Erweiterung des Gesichtsfeldes, Eintrübung oder Aufklarung des Gesehenen bzw. Schärfung oder Auflösung der wahrgenommenen Konturen zu gängigen Strategien der Traummarkierung geworden. Allein die Tatsache, dass ein Großteil der Shoah-Literatur, der die Täter in den Fokus rückt, überhaupt mit dem Mittel der integrierten Traumdarstellung arbeitet – darunter einige der bekanntesten Täterromane wie Jonathan Littells Les Bienveillantes, Hilsenraths Der Nazi & der Friseur oder die beiden Shoah-Romane von Martin Amis The Zone of Interest und Time’s Arrow  –, ist bereits eine auffällige Gemeinsamkeit der Texte und daher eine genauere Untersuchung wert.2 Aber noch eine weitere gemeinsame Tendenz zeichnet sich ab: Die Besonderheiten der visuellen Wahrneh1

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Dieses Genre wird fast ausschließlich von männlichen Autoren bedient; eines der wenigen Beispiele aus weiblicher Feder ist Teil der Analysen am Ende dieses Kapitels. Einen „turn to the figure of the perpetrator“ konstatiert Richard Crownshaw: „Perpetrator Fictions and Transcultural Memory“, in: Parallax 17/4 (2011), S. 75–89, hier S. 75. Laut Joanne Pettitt, die mit der Analyse eines ausgesprochen breiten Textkorpus zugleich eine Geschichte der Täterromane rekonstruiert, handelt es sich hier v. a. seit dem späten 20. bzw. dem frühen 21. Jahrhundert tatsächlich um eine eigene Gattung. Joanne Pettitt: Perpetrators in Holocaust Narratives. Encountering the Nazi Beast, London: Palgrave Macmillan 2017, S.  2. Den aktuellsten Forschungsüberblick über die Perpetrator Studies liefert Eva Mona Altmann: Das Unsagbare verschweigen. Holocaust-Literatur aus Täterperspektive. Eine interdisziplinäre Textanalyse, Bielefeld: transcript 2021, S. 117–136. In ihrer Arbeit stellt sie ein interdisziplinäres Analysemodell für Täterromane bereit, das sich besonders Unzuverlässigkeitssignalen, Techniken der Empathielenkung und den Verfahren des Verschweigens widmet. Träume spielen in ihren Analysen – wiewohl sie eine ausführliche Studie zu Littells Bienveillantes vorlegt – allerdings (mit Ausnahme einer Fußnote) keine Rolle. Umso erstaunlicher ist es, dass dieser Aspekt in der mittlerweile ausgesprochen umfangreichen Forschungsliteratur auf dem Gebiet der Perpetrator Studies so gut wie keine Berücksichtigung findet. Zu den Grundlagentexten der literaturwissenschaftlichen Täterforschung, von der ich für meine Analysen jenseits der Traumthematik profitiert habe, zählen u. a. Jenni Adams/Sue Vice (Hrsg): Representing Perpetrators in Holocaust Literature and Film, London: Vallentine Mitchell 2013 und Sue Vice: „Exploring the Fictions of Perpetrator Suffering“, in: Journal of Literature and Trauma Studies 2/1–2 (2013), S. 15–25. Marion Duval macht allerdings eine Gruppe von Romanen aus, die sich grundsätzlich durch eine halluzinatorischtraumhafte oder mythologische Schreibweise auszeichnen. Hierunter fasst sie Texte wie Michel Tournier: Le Roi des Aulnes [1970], Paris: Gallimard 1970 oder Patrick Modiano: La Place de l’Étoile, Paris: Gallimard 1968. Vgl. Marion Duval: D’un salaud l’autre. Nazis et collaborateurs dans le roman français, Tours: Presses Universitaires François-Rabelais 2015, S. 23.

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mung, die für die ästhetische Traumfingierung so typisch sind, werden im Falle der träumenden Täterfiguren in auffälliger Weise durch ein Traumerleben mit anderen Sinnen ergänzt; oftmals wird es sogar durch diese Sinne überlagert: Nicht nur Sehen, auch Hören, Schmecken, Riechen und Fühlen bringen eine Dimension des Erlebens zum Vorschein, die den Täterfiguren innerhalb ihres verblendeten Wachbewusstseins offenbar nicht zugänglich ist. Dass die Funktion solcher Traumdarstellungen allerdings nicht einfach in einer nächtlichen Einsicht in das Ausmaß der auf sich geladenen Schuld liegen kann – durch die Traumerzählung also eine Art moralische oder gar politische Umkehr in Gang gesetzt würde –, dürfte sich angesichts der historischen Realität von selbst verstehen. Nicht zuletzt widersprächen die Romane damit der geschichts- und politikwissenschaftlichen, sozialpsychologischen und kulturwissenschaftlichen Forschung zur Täterschaft des Nationalsozialismus.3 Für den Täterroman als eigenständige Gattung scheint, wie Anne-Laure Fortin-Tournès betont, vielmehr das Gegenteil zu gelten: „La plupart de ces textes  […] sont surdéterminés par les débats qui les entourent.“4 Sie erweisen sich damit als historisch und politisch ausgesprochen informiert und integrieren häufig auch wichtige Bausteine der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit NS-Tätern5 in den Roman selbst, z. B. in Form von Metareflexionen.

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Die Erkenntnis, dass nur ein Bruchteil der Täter tatsächlich Reue zeigte oder die eigene Schuld anerkannte, eint so unterschiedliche ‚Klassiker‘ der NS-Täterforschung wie Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil, New York: Viking Press 1963, Daniel Jonah Goldhagen: Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York: Alfred A. Knopf 1996 und Christopher R. Browning: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York: Harper Collins 1992. Auf die damit einhergehenden, zum Teil äußerst polemisch geführten Debatten um diese Studien kann hier nicht näher eingegangen werden. Anne-Laure Fortin-Tournès: „Politique et poétique du roman sur la Shoah: l’engagement de l’écriture contre la banalité du mal dans The Zone of Interest de Martin Amis“, in: Études britanniques contemporaines. Revue de la Société d’Études Anglaises Contemporaines 50 (2016), S. 1–14, hier S. 1 (https://journals.openedition.org/ebc/3169), 7. April 2016. So bilden u. a. Arendts Prozessberichte, ihre philosophische Untersuchung zum Bösen, Prozessaussagen von Eichmann und anderen angeklagten Tätern, aber auch die Goldhagen-Debatte, die Positionierungen von Claude Lanzmann oder historisch-biographische Intertexte wie Rudolf Höß’ Tagebuchaufzeichnungen oftmals den expliziten oder impliziten Hintergrund der Romane. Damit weisen zahlreiche Täterromane, so Fortin-Tournès, eine metatheoretische Dimension auf. Mitunter wird die verwendete (Forschungs-)Literatur sogar am Ende des Romans aufgelistet – wie dies bei Drndić, Guez und Amis der Fall ist –, wenn nicht als Diskussionskontext direkt in die Erzählung integriert (wie an mehreren Stellen bei Littell, vgl. dazu den Abschnitt zu Les Bienveillantes). Im Falle von Guez’ Mengele-Roman lässt sich aber auch die umgekehrte Bewegung beobachten. Sein minutiös recherchierter Roman gab Anlass zur Veröffentlichung eines Dossiers mit den wichtigsten Daten und Fakten zur NSMedizin: Nicolas Colin/Doan Bui: „Révélations sur les médecins Nazis“, Dossier in: Le Nouvel Observateur, Nr. 2754 vom 23. August 2017.

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Einen Sinneswandel vermag der erlebte Traum bei den Nazi-Verbrechern also nicht herbeizuführen; denn dies zeugte sowohl von einem problematischen Geschichtsbild als auch von einem naiv-simplifizierenden Literaturverständnis. Gleichwohl scheinen die in den Romanen erzählten Träume allesamt thematisch das Verhältnis des Täters zu seiner Schuld aufzugreifen. Dabei geht es stets um die Befragung der außerhalb der Traumwelt viel eindeutigeren Grenzen zwischen Täter- und Opferschaft. Dies schließt auch die Differenzierung in die zahlreichen Zwischenpositionen auf dieser Skala ein. So wird etwa die Unterscheidung in Massenmörder, Sadisten, exzessive Gewaltverbrecher, Schreibtischtäter, Befehlsempfänger, Kriegsprofiteure, Kollaborateure, Mitläufer, schweigende Beobachter, mundtot Gemachte, innere Emigranten, Kritiker, Widerständler, Ermordete und traumatisierte Überlebende6 intensiv reflektiert, wie dies besonders etwa in Jonathan Littells Les Bienveillantes [2008] oder Daša Drndićs Sonnenschein [2007] der Fall ist.7 Einmal abgesehen davon, dass einige dieser Kategorien den angeklagten oder sich rechtfertigenden Täterfiguren oftmals zur Relativierung oder gar Leugnung der eigenen Schuld dienen, geraten solche Unterscheidungen in den erzählten Träumen oftmals durcheinander; die Grenzen verschwimmen. Die Traumerzählungen in den Täterromanen stellen die in der Wachwelt eingenommenen Rollen infrage. Indem die Zuweisung von Täter- und Opferposition gerade in der fiktionalen Darstellung irritiert wird, entfalten die Texte ein beträchtliches provokatives Potenzial.8 Damit potenzieren die Träume einen Aspekt, der Täterromanen ohnehin eigen ist: Sie zwingen mitunter nicht nur die Täterfiguren zur Identifikation mit den Opfern, sondern unweigerlich auch die Leserinnen und Leser zur Identifikation mit den Tätern, obwohl die (Vor-)Verurteilung der Protagonisten bei der Lektüre doch offensichtlich von vornherein feststeht.9 Nicht zuletzt darin liegt eine zum Widerspruch herausfordernde

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Eine zu heuristischen Zwecken erstellte Typologie der NS-Täter findet sich bei Gerhard Paul: „Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ‚ganz gewöhnlichen‘ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung“, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein 2002, S.  13–90, hier S. 61–67. Paul differenziert vorläufig in Weltanschauungstäter, utilitaristische Täter, kriminelle Exzesstäter, Direkttäter und traditionelle Befehlstäter. Sein Fazit, welches auch die Argumentation meiner Auseinandersetzung mit den Romanen leitet: „Keine Alterskohorte, kein soziales und ethnisches Herkunftsmilieu, keine Konfession, keine Bildungsschicht erwies sich gegenüber der terroristischen Versuchung als resistent.“ Paul: Die Täter, S. 62. Jonathan Littell: Les Bienveillantes, Paris: Gallimard 2008, v. a. S. 26–43 und Daša Drndić: Sonnenschein. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić, Hamburg: Hoffmann und Campe 2015, S. 223–270. Vgl. Sue Vice: Holocaust Fiction, London: Routledge 2000, S. 7. Zu dieser Problematik vgl. Gillian Rose: Mourning Becomes the Law: Philosophy and Representation, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 50.

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Dimension der Romane, die auch fast alle eine entsprechend kontroverse Rezeption fanden.10 Dennoch gilt es, die einzelnen Texte differenziert zu betrachten: Je nach literarischer Ausgestaltung der Täterfiguren und in Abhängigkeit von der jeweiligen Grundkonzeption der Romane, reicht das Spektrum von einem Gestus, der sich vorrangig in der voyeuristischen Provokation durch Abscheu auslösende Figuren erschöpft, wie dies etwa bei Martin Amis’ Roman The Zone of Interest von 2014 der Fall sein dürfte, bis hin zu Daša Drndićs Sonnenschein, einem dokumentarischen Täterroman aus dem Jahre 2007, bei dem zahlreiche Figuren nicht eindeutig entweder der Täter- oder der Opferseite zugeordnet werden können und in dem bemerkenswerterweise die Perspektive der Ermordeten und Shoah-Überlebenden einen ebenso großen Raum einnimmt wie die Stimmen derjenigen, die für die Verbrechen verantwortlich sind. Durch diese Feststellung bewegen wir uns nun mitten hinein die Problematik, welche die interdisziplinäre Täterforschung vorrangig beschäftigt. Zur Aufarbeitung der Frage nach dem Warum der historischen Vergangenheit, die zugleich auf die Verhinderung ihrer Wiederholung zielt, ist eine profunde Erforschung der Täterschaft unerlässlich. Hierzu zählen, neben der notwendigen Rekonstruktion der Daten und Fakten,11 auch vielfältige Versuche, die innere Haltung, die psychische Konstitution, die subjektive Wahrnehmung und das individuelle Erleben einzelner Täter nachvollziehbar zu machen – also ein traditionelles Anliegen der literarisch-fiktionalen Gestaltung der Wirklichkeit –, 10 Vgl. u.  a. Britta Gries: Der Holocaust in deutschsprachigen publizistischen Diskursen. Eine sprachwissenschaftliche Analyse am Beispiel der Diskussion um den Roman „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell, Frankfurt am Main: Peter Lang 2017. Martin Sexl konstatiert daher, dass die Rezeption von Littells Les Bienveillantes v. a. durch die zahlreichen Interventionen des Autors und die große Anzahl von internationalen Rezeptionszeugnissen „Teil der Bedeutung des eigentlichen Textes geworden“ sei. Martin Sexl: „Von Auschwitz nach Srebrenica und zurück. Jonathan Littell und Peter Handke“, in: Torben Fischer/Philipp Hammermeister/ Sven Kramer (Hrsg.): Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Amsterdam/New York: Rodopi 2014, S. 273–292, hier S. 277. Zur Rezeption von Martin Amis’ The Zone of Interest, vgl. Paulina Kasińska: „The reception of The Zone of Interest by Martin Amis in the English, American, German and Polish literary and critical circulation“, in: Transfer. Reception Studies 3 (2018), S. 183–199 und Uwe Schütte: „Casanova im KZ. Martin Amis’ kontroversieller Roman The Zone of Interest“, in: Volltext 2 (2015) (https://voll text.net/texte/casanova-im-kz/), o. S. Zu Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur, vgl. Dietrich Dopheide: Das Groteske und der Schwarze Humor in den Romanen Edgar Hilsenraths, Berlin: Weißensee 2000 S. 269–276. 11 Wie sie etwa Eugen Kogon mit Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager [1946], München: Heyne 1988 und Raul Hilberg mit The Destruction of the European Jews [1961], New Haven: Yale University Press 2003 sowie mit Perpetrators, Victims, Bystanders. The Jewish Catastrophe 1933–1945, New York: Aaron Asher 1992 vorlegen. Für ihre Beschreibung der SS-Hierarchien oder die innere Organisation der Konzentrationslager scheinen mehrere Romanautoren auf diese Studien zurückzugreifen.

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ohne sie freilich damit zu rechtfertigen.12 Marion Duval, die mit dem Beginn des 21.  Jahrhunderts ein Zeitalter der Täter anbrechen sieht,13 stellt die entscheidende Frage an literarische Texte, wie man Täter sprechen lassen kann, ohne jedoch deren Ideologien für sich sprechen zu lassen. Wie also können Täterfiguren auf authentische, ‚wahrhaftige‘ Weise dargestellt werden, ohne dass damit zwangsläufig auch deren Weltsicht für wahr erklärt wird?14 Eine These, die es im Laufe der folgenden Textanalysen zu überprüfen gilt, ist, dass dies im Modus des erzählten Traums innerhalb der fiktionalen Täter-Literatur über die Shoah realisiert wird. Nicht, dass die Täterstimmen rekonstruiert, gehört oder fiktional ausgestaltet werden und ihnen damit ein breiter Raum zugestanden wird, ist dabei ein problematisches Unterfangen. Auch nicht die inhaltliche Fokussierung auf die Verbrechen der Täter und damit auf die nationalsozialistische Gewalt in all ihren Formen des Grauens, ist per se verwerflich. Entscheidend ist stets die Frage ihrer Darstellung – etwa die Form der Kontextualisierung und Perspektivierung bzw. der Distanzierung und Identifizierung, die Glaubwürdigkeit oder Verlässlichkeit des Erzählers, die Deutungsnotwendigkeit seiner Rede –, mithin die Gestaltung der Aussagen anhand von Kriterien, die zentrale Kategorien der literaturwissenschaftlichen Analyse sind. Duval bringt dabei ein grundlegendes Dilemma der wissenschaftlichen, wie der ästhetisch-literarischen Auseinandersetzung mit 12 Als beispielhaft hierfür kann Antonio Scurati: M. Il figlio del secolo, Milano: Bompiani 2018 gelten, der mit dem Premio Strega ausgezeichnet wurde. Der Roman stellt den ersten Teil einer Trilogie dar und erzählt auf mehr als 800 Seiten den Aufstieg Benito Mussolinis zwischen 1919 und 1925. Scurati rekonstruiert dabei detailliert die historischen Daten und Fakten, die in die Romanhandlung eingeflochten werden, verbindet diese mit einer fingierten, den Alltag darstellenden, heterodiegetisch erzählenden, aber konsequent intern fokalisierten Perspektive des Protagonisten, und integriert zugleich historische Quellen wie Zeitungsartikel, Telegramme, Briefe, politische Lieder, Strafanzeigen oder Fragmente aus Parteitagsreden in seinen historischen Roman. Das Werk weist zwar keine erzählten Träume auf; wie in zahlreichen anderen Täterromanen spielt aber auch hier das Motiv des Sehens bzw. der Blindheit eine wichtige Rolle. Vgl. dazu den Schluss: „Gridano il nome del Capo […]. Si aggirano a tentoni, tremanti, nella notte della pianura immensa, senza nemmeno potersi accodare all’istinto della lotta. Non capiscono, non capiscono … gattini ciechi avviluppati in un sacco. Mi sono giustificato dinanzi alla storia ma devo ammetterlo: è struggente la cecità della vita riguardo a se stessa.“ Scurati: M. Il figlio, S. 826–827. 13 Marion Duval: D’un salaud l’autre. Nazis et collaborateurs dans le roman français, Tours: Presses Universitaires François-Rabelais 2015, hier S. 22–23. 14 Vgl. die narratologische Studie von Erin McGlothlin: „Narrative Perspective and the Holocaust Perpetrator: Edgar Hilsenrath’s The Nazi and the Barber and Jonathan Littell’s The Kindly Ones“, in: Jenni Adams (Hrsg.): The Bloomsbury Companion to Holocaust Literature, London: Bloomsbury Academic 2016, S. 159–178, v. a.: „What happens when we read books about the Holocaust that probe the mind of the Nazi perpetrator, a figure that in the contemporary cultural imagination is often regarded as the embodiment of concrete evil? […] And how can such works render the mind of the perpetrator without either reducing him to the trope of monster or transforming him into an object of sympathy?“ McGlothlin: Narrative Perspective, S. 159.

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Täterschaft auf den Punkt, welches das Verhältnis zwischen Täter und Kritiker, zwischen Objekt und Subjekt der Auseinandersetzung betrifft: Zuzulassen, dass uns die Täter womöglich mehr ähneln, als wir wahrhaben wollen, sei schwierig zu akzeptieren.15 Forschung zur Täterschaft drängt daher besonders auf etwas, was letztlich für alle Forschung gilt: die ethische Notwendigkeit, sich als deutendes Subjekt zu seinem Forschungsgegenstand ins Verhältnis zu setzen, wie Hanno Loewy es in seiner Studie formuliert.16 Diese Feststellung ist auch der Ausgangspunkt der sozialpsychologischen Täterforschung von Harald Welzer. Die Frage nach dem Warum, sagt er, werde oft in auffälliger Weise dort angesetzt, wo man selbst nicht ist.17 Daher sei die Täterforschung traditionell durch psychologische Distanzierungsbemühungen gekennzeichnet, denen es darum zu tun ist, eine möglichst große Kluft zwischen den Verbrechern und „uns“18 zu errichten. Diese Beobachtung verbindet er mit der Forderung, die Täter „als nicht verschieden von uns“ wahrzunehmen.19 Vor diesem Hintergrund bietet sich ein näherer Blick auf die Literatur umso dringlicher an; bringt diese doch durch die Überführung der Täterfiguren in 15 Duval: D’un salaud l’autre, S. 159. 16 Hanno Loewy: „Faustische Täter? Tragische Narrative und Historiographie“, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein 2002, S. 255–264, hier S. 256. Eine solche Positionierung wird spätestens seit Donna Haraway mit dem Begriff des situated knowledge konzeptualisiert. Vgl. Donna Haraway: „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“, in: Feminist Studies 14/3 (1988), S. 575–599. Wichtige Vertreter einer solchen Position finden sich wissenschaftsgeschichtlich allerdings v. a. im Bereich der Institutionssoziologie und der Ideologiekritik schon sehr viel früher. Vgl. Peter Bürger: Aktualität und Geschichtlichkeit. Studien zum gesellschaftlichen Funktionswandel der Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, besonders die Einleitung: „Zum Problem der Aneignung literarischer Werke der Vergangenheit“ (S. 9–17). 17 Harald Welzer: „Wer waren die Täter? Anmerkungen zur Täterforschung aus sozialpsychologischer Sicht“, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein 2002, S. 237–253, hier S. 238. 18 Welzer: Wer waren die Täter, S. 238. 19 Welzer: Wer waren die Täter, S. 238. Anstatt sich auf ein abweichendes Verhalten und Handeln der Täter zu fokussieren, gehe es darum, „die biographische, subjektive, motivationale Dimension“ zu erforschen, „wo sich innerhalb dieser Rahmen Spielräume individueller Sinngebung, Handlung, Entscheidung und Verantwortung eröffnen“. Welzer: Wer waren die Täter, S.  241. Denn Geschichtsbilder und historische Erinnerungen folgen, so konstatiert Hanno Loewy, nicht nur den Ereignissen selbst, sondern auch ihren Narrativen. Loewy: Faustische Täter, S. 255. Auch Gerhard Paul stellt in seiner Rekonstruktion der wissenschaftlichen Phasen zur Erforschung nationalsozialistischer Täterschaft eine langlebige Tendenz zur „Distanzgewinnung“, etwa durch Exterritorialisierung, Kriminalisierung, Diabolisierung, Entpersonalisierung und Abstrahierung fest, die sich erst seit den 1990er Jahren durch einen Perspektivwechsel hin zum Konkreten und Alltäglichen gewandelt habe. Gerhard Paul: „Von Psychopathen, Technokraten des Terrors und ‚ganz gewöhnlichen‘ Deutschen. Die Täter der Shoah im Spiegel der Forschung“, in: Gerhard Paul (Hrsg.): Die Täter der Shoah. Fanatische Nationalsozialisten oder ganz normale Deutsche? Göttingen: Wallstein 2002, S.  13–90, hier S. 16 und S. 43.

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einen Bereich des Alltäglichen, Konkreten und in subjektive Erfahrungswelten gerade ein Wissen über Täterschaft hervor, das auf narrativ-ästhetische Weise generiert wird. Dan Diner betont in seiner Auseinandersetzung mit dem Holocaust als Geschichtsnarrativ, dass der Kluft zwischen einem gerichtsförmigen Geschichtsdiskurs, einem jüdischen sowie einem christlich-deutschen Geschichtsnarrativ methodisch durch ein besonderes Maß Introspektion und Selbstreflexion begegnet werden müsse.20 Introspektion, Selbstreflexion und die Berücksichtigung „partikulare[r] Befangenheiten“21 sind zweifellos auch zentrale Kennzeichen literarischer Täternarrative. Diese werden gestaltet, indem die Romane zwischen verschiedenen Welten und Perspektiven vermitteln, zur Distanzierung ebenso wie zur Identifizierung herausfordern, oftmals eine kritisch-selbstbezügliche Reflexion des dargestellten Problems liefern und mit der Erzählung zur Archivierung und Popularisierung von kollektivem Wissen über die Verbrechen beitragen. Doch auch die Literatur ist, so eine wichtige Argumentationslinie der literaturwissenschaftlichen Perpetrator Studies, nicht davor gefeit, die Täter als die ganz Anderen – als Monster, Bestien oder Verkörperungen des Bösen schlechthin – zu inszenieren.22 Täterschaft als Abweichung vom ‚Normalen‘, Allgemeinmenschlichen, etwa in Form negativen Heldentums oder mithilfe eines tragischen Narrativs zu erzählen, kritisiert daher auch Hanno Loewy als eine problematische Tendenz jener Literatur, die in den letzten Jahren besonders zu florieren scheint.23 Aleida Assmann führt diese Problematik aus einem Blickwinkel, der Soziologie, Kulturwissenschaft und Literaturwissenschaft miteinan20 Dan Diner: „Der Holocaust im Geschichtsnarrativ. Über Variationen historischen Gedächtnisses“, in: Stephan Braese (Hrsg.): In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, Opladen: Westdeutscher Verlag 1998, S. 13–30, hier S. 29. 21 Diner: Holocaust im Geschichtsnarrativ, S. 29. 22 Vgl. ganz ähnlich Jenni Adams/Sue Vice (Hrsg.): Representing Perpetrators in Holocaust Literature and Film, London: Vallentine Mitchell 2013, v. a. die Einleitung von Jenni Adams, S. 1–9, Robert Eaglestone: „Avoiding Evil in Perpetrator Fiction“, in: Jenni Adams/Sue Vice (Hrsg.): Representing Perpetrators, S. 13–24, Sue Vice: „Exploring the Fictions of Perpetrator Suffering“, in: Journal of Literature and Trauma Studies 2/1–2 (2013), S. 15–25, Joanne Pettitt: „Popular Psychopaths and Holocaust Perpetrators. Fiction, Family, and Murder“, in: The Journal of Popular Culture 49/6 (2016), S. 1301–1319 und Marion Duval: D’un salaud l’autre. 23 Zur Aktualität der Täterliteratur vgl. neben Loewy: Faustische Täter, auch Joanne Pettitt: Perpetrators in Holocaust Narratives, S. 2. Loewy bezieht sich etwa auf Modi der Dramatisierung wie beim Tagebuch der Anne Frank, des Abenteuers und der Romanze wie in Schindler’s List oder die komödiantische Narration wie La vita è bella und Jakob der Lügner. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stephanie Catanis Kritik daran, dass Monoperspektivik und die Darstellung der Hauptfigur als Ausnahmegestalt in der Täterliteratur oftmals einer prekären Relativierung von Schuld gleichkämen. Stephanie Catani: „Von Tätern und Opfern. NSGeschichte(n) in der Literatur“, in: Heribert Tommek/Matteo Galli/Achim Geisenhanslüke (Hrsg.): Wendejahr 1995. Transformationen der deutschsprachigen Literatur, Berlin: De Gruyter 2015, S. 50–71, hier S. 62. Auch Marion Duval fragt kritisch, wie man vor einem neuen Holocaust gewarnt sein könne, wenn man die begangenen Verbrechen auf die außergewöhnli-

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der verbindet, wieder zurück zur Frage des Verhältnisses zwischen Tätern, Opfern und Leserschaft.24 In diesem Zusammenhang versteht sie die zahlreichen neueren Shoah-Erzählungen in Form von (autobiographisch motivierten) Familienromanen als einen Beleg dafür, dass diese Problematik einer ‚Andersheit‘ der Täter inzwischen zunehmend als ein „internalized conflict“ wahrgenommen werde; „in other words, the boundaries of understanding have moved from the outside to within“.25 Gerade der Literatur schreibt Assmann das Potenzial zu, die zahlreichen Leerstellen und blinden Flecken, Überblendungen und Verzerrungen, von denen die Aussagen der Täter durchzogen sind (die „non-dits“26), in der Erzählung und als Erzählung aufzuzeigen. Auch das Anliegen der literaturwissenschaftlichen Holocaust-Forscherin Joanne Pettitt ist es, die in der Literatur inszenierte Ähnlichkeit zwischen Tätern und Rezipientinnen bzw. Rezipienten herauszuarbeiten. Dies unternimmt sie anhand bestimmter Romane, in denen die Täterfiguren radikal entmystifiziert werden. Im Grunde verfolgt sie damit einen rezeptionsästhetischen Ansatz, der anhand eines umfangreichen Textkorpus die narrativen Strategien der Empathielenkung in der Täterliteratur nachvollzieht.27 Diese machen erkennbar, wie durchlässig die Grenzen zwischen den Tätern und Leserinnen bzw. Lesern sind, die sich erwartungsgemäß doch zuallererst mit den Opferfiguren identifizieren. Die Gleichzeitigkeit von Immersion und emotionaler Distanz, die einen überzeugenden Täterroman ausmacht, verhindere eine unkritische, voyeuristische oder gleichgültige Haltung der Lesenden; die Vorstellung, man lese etwas über einen Unmenschen, der dem eigenen Ich gänzlich unähnlich sei, wird ausgehebelt. So arbeitet sie heraus, was auch Zygmunt Bauman als eine der eindringlichsten Erkenntnisse über die Shoah formuliert hat: „How could ordinary people like you and me do it? […] The most frightening news brought about the

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che Bestialität der Täter und die ungewöhnlichen Umstände zurückführe. Duval: D’un salaud l’autre, S. 159. Ihr Fokus liegt dabei auf der Generation, die auf die Täter folgt: Die Nachkommen der Opfer hätten, so sagt sie, „witnessed too much“, diejenigen der Täter hingegen „witnessed too little“. Das schlage sich in autobiographischer Literatur entsprechend nieder. Vgl. Aleida Assmann: „Limits of Understanding: Generational Identities in Recent German Memory Literature“, in: Laurel Cohen-Pfister/Dagmar Wienroeder-Skinner (Hrsg.): Victims and Perpetrators: 1933– 1945. (Re-)Presenting the Past in Post-Unification Culture, Berlin: De Gruyter 2006, S. 29–48, hier S. 45. Assmann: Limits of Understanding, S. 47. Assmann: Limits of Understanding, S. 47. Zu den wichtigsten Strategien der Leserlenkung in Täterromanen, an denen ich mich für meine Analysen orientiere, zählen nach Joanne Pettitt „establishing (un-)commonality with the reader“, „subverting connections with the reader“, „drawing the reader into the narrative“, und „metafictional methods“. Joanne Pettitt: Perpetrators in Holocaust Narratives, S. 12, S. 33, S. 53 und S. 68.

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Holocaust and by what we have learned of its perpetrators was not the likelihood that ,this‘ could be done to us, but the idea that we could do it.“28 Der Blick auf die Täter wird also in den unterschiedlichsten disziplinären Auseinandersetzungen mit der Shoah von der Forderung nach einem Wechsel der Blickrichtung begleitet; einer Perspektive, die letztlich zu der Einsicht führt, dass die Täter nicht einfach ‚die Anderen‘ sind.29 Wie literarische Texte dieses Phänomen zum Thema machen und wie erzählte Träume dazu beitragen, eine solche Haltung zu forcieren, steht im Zentrum der folgenden Auseinandersetzung mit den Täterromanen von Romain Gary, Edgar Hilsenrath, Marcel Beyer, Martin Amis, Jonathan Littell, Olivier Guez und Daša Drndić. Die Argumentation verläuft dabei vom ausgesprochen konstruierten, hochgradig unwahrscheinlichen Erzählen einer extrem fiktionalisierten histoire hin zu eher dokumentarischen Formen der Darstellung. Träume erweisen sich dabei in allen Romanen als ein zentrales Erzählverfahren.

Täterträume in Romain Gary: La danse de Gengis Cohn [1967] Als radikalster Versuch einer Entgrenzung zwischen Täter und Opfer kann wohl der bereits 1967 erschienene Roman La danse de Gengis Cohn von Romain Gary gelten. In einem früheren Kapitel habe ich gezeigt, dass der gesamte Roman als Alptraum der Täterfigur Schatz gelesen werden kann (Kapitel  XI).30 Im Anschluss an seine SS-Zeit, während der er neben Hunderten anderen auch den aus Auschwitz geflohenen Kabarettisten Moishe Cohn erschossen hat, richtet sich der Täter als Polizeikommissar einer bayerischen Kleinstadt in einem scheinbar bequemen, von allen Verfolgungen unbehelligten Leben ein. Doch dieses Dasein eines Unbelehrbaren, der in der deutschen Nachkriegswirklichkeit keine Ausnahme darstellt – Antisemitismus, nationalsozialistisches Gedankengut und eine zynische Verzerrung der Kriegsvergangenheit durchdringen in Garys Roman jeden Winkel Deutschlands  –, wirkt nur von außen wie eine bruchlose Fortführung des Nationalsozialismus. Nachts wird der ehemalige SSMann regelmäßig von einem Dibbuk heimgesucht: Der Geist des getöteten 28 Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust, Cambridge: Polity Press 1989, S. 151–152. 29 Joanne Pettitt: Perpetrators in Holocaust Narratives, v. a. S. 121–132. Auch Pettitt weist in diesem Zusammenhang dem Blick und der visuellen Wahrnehmung eine besondere Bedeutung zu: „The gaze functions as primary motif in these texts, representing judgement and guilt.“ Pettitt: Perpetrators in Holocaust Narratives, S. 122. 30 Zur Forschung über Garys Roman vgl. ebenfalls Kapitel XI.

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Cohn, dem ein würdiges Begräbnis verwehrt wurde, fährt in seinen Mörder. Er springt dem Kommissar wie ein Alp auf die Brust, führt ihm das Verbrechen seiner eigenen Erschießung in aller Grausamkeit vor Augen, bringt sich als das Verdrängte, Ausgeschlossene, Abgespaltete mit Gewalt zum Vorschein und treibt den Täter damit in den Wahnsinn. Der Täter Schatz wiederum versucht, die nächtlichen Erscheinungen, die zunehmend in Form von Visionen, Halluzinationen und flashbacks auch in seinen Alltag eindringen, zu bekämpfen: Durch einen Psychiater, mithilfe von Elektroschocks und mit exzessivem Alkoholkonsum will er sich des Gespenstes, das ihn heimsucht, entledigen. Lässt man einmal die groteske Kriminalgeschichte beiseite, die sich auf einer übergeordneten, äußeren Ebene des Textes abspielt, so erzählt der Roman vom unablässigen Kampf zwischen Täter und Opfer, bei dem über weite Strecken unklar bleibt, wer dabei die Oberhand behält. Da das Geschehen allerdings zum großen Teil von Moishe Cohn, dem Dibbuk, selbst erzählt wird, finden wir hier die originelle Situation vor, dass dem Opfer, das in der historischen Realität nicht mehr sprechen oder an das Unrecht gemahnen kann, eine schrille, unüberhörbare Stimme verliehen wird. Die meist ausgesprochen zynisch gestaltete Rede des Ermordeten verschafft sich also radikal Gehör. Dabei erweisen sich die Heimsuchungen durch den Dibbuk als höchst eindrücklich: Er inszeniert seine optische Erscheinung und vor allem seinen akustischen Auftritt minutiös,31 um dem Täter nachts in allen Details vor Augen zu führen, wovor dieser tagsüber die Augen verschließt. Umgekehrt formuliert: Dem Täter gelingt es nicht, seine Taten zu vergessen, seine Schuld zu verdrängen. Die Vergangenheit wird in seinem Unterbewusstsein versenkt, und je radikaler er sie von sich abzuspalten versucht, desto massiver kehren sie in Form eines Alptraums wieder. Was auf den ersten Blick wirken mag, als handele es sich um einen Gegensatz zwischen Täter und Opfer, der durch die körperlich-seelische Nähe beider umso radikaler inszeniert wird, erweist sich im Verlauf des Romans jedoch als zunehmend fraglich. Und darin liegt das eigentlich provokative Potenzial des Textes: Mitunter lässt sich nicht mehr unterscheiden, wer hier eigentlich spricht; die beiden Stimmen, der SS-Scherge und das jüdische Opfer, nähern sich so weitgehend an, dass am Ende des Romans gar das Opfer selbst als ein Täter erscheint. 31 „Il ne dort plus et je suis obligé de passer la nuit assis sur son lit, avec mon étoile jaune, à le regarder dans les yeux, affectueusement. Plus il est fatigué, et plus ma présence devient obsédante.“ Gary: La danse, S. 15. „Pour le punir, j’ai trouvé un petit truc assez marrant. Je lui fais le coup de la bande sonore. Au lieu de me tenir simplement là, en silence, devant lui, avec mon étoile jaune et mon visage couvert de plâtre, je fais du bruit. Je lui fais entendre des voix. C’est surtout aux voix des mères qu’il est le plus sensible […]. Je lui fais donc écouter avec un réalisme saisissant – en matière d’art, je suis pour le réalisme – les cris des mères juives une seconde avant les rafales des mitraillettes, lorsqu’elles comprirent enfin que leurs enfants ne seraient pas épargnés. Ça fait au moins mille décibels, une mère juive, à ces-moments-là.“ Gary: La danse, S. 17–18.

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Über den gesamten Romanverlauf hinweg hatte Gary bereits gezeigt, wie eng Antisemitismus und andere Rassismen beieinander liegen, ja dass sie in ihrer identischen Argumentationsstruktur kaum voneinander zu trennen sind. Damit kehren wir zum eingangs erwähnten Problem zurück, das zu entfalten ein Grundanliegen vieler Täterromane zu sein scheint: die Verstrickung eines und einer jeden Einzelnen in gewaltsame Strukturen und die Gefahr, die eigenen Gefühle auf ein Außen, einen Feind zu projizieren, mit der Folge, dass uneingestandene und unbearbeitete innere Konflikte in Krieg und Vernichtung umschlagen. Zunächst scheint die Intention des Romans eindeutig: Der erschossene Gengis Cohn lenkt das Geschehen, hält die Erzählung zusammen und gewinnt posthum die Deutungsmacht über die Wirklichkeit des Nationalsozialismus zurück. Doch auch der Dibbuk seinerseits erliegt der Versuchung, die Welt in Gut und Böse aufzuteilen, seine eigenen Ambivalenzen und Widersprüche nach außen zu verlagern, und damit der Gefahr, selbst zum Täter zu werden: In einem grotesken Alptraum findet er sich im dritten und letzten Teil des Romans in Vietnam wieder und kämpft als GI gegen den Vietcong. Hier muss er zweierlei erkennen. Erstens, wer der Feind ist, ist gänzlich austauschbar: „[…] et supposez que j’aie attrapé un dibbuk vietnamien, ou arabe, ou nègre, est-ce que je sais, moi, avec la fraternité, en tout cas, quelque chose de pas catholique du tout est en train de m’arriver.  […] Les Juifs font d’aussi bons soldats que les Allemands.“32 Und zweitens sieht er, dass auch er bei der nächstbesten Gelegenheit bereit ist, seine Werte und Ideale über Bord zu werfen, um die eigene Haut zu retten. Mit anderen Worten: Nicht nur Cohn steckt im Inneren des Nazis fest; auch in ihm selbst steckt ein kleiner Nazi. Er hat also verstanden, wie schnell das Ideal des Humanismus, dessen heuchlerische Argumentation er bei den ehemaligen Tätern gnadenlos entlarvt, in sein Gegenteil umschlagen kann – nicht nur bei den Anderen, sondern gerade auch bei ihm selbst. Dies vor Augen zu führen, scheint mir neben der radikalen Kritik am Fortleben des Antisemitismus und dem unerbittlichen Nachweis, wie reibungslos die ihm zugrunde liegenden Stereotype, Vorurteile und Entwertungen funktionieren, das zentrale, von der Forschung nur wenig beachtete Anliegen des Romans zu sein. Seine beunruhigende Wirkung entfaltet er durch das literarische Mittel des fingierten Alptraums. Er bringt die für eindeutig gehaltenen Rollenmuster und Wertezuschreibungen ins Wanken und irritiert die in seinem Urteil sicher geglaubte Position seiner Rezipienten nachhaltig. Mit Blick auf das hier nach der Relevanz des Traumaspekts ausgewählte Textkorpus lassen sich an Garys Roman sowohl untypische als auch typische Elemente erkennen, die zugleich einige grundsätzliche Charakteristika der Täterliteratur vor Augen führen. Einzigartig dürfte die Konsequenz sein, mit der hier eine unmögliche Erzählsituation inszeniert wird: Die Stimme des Opfers erhält 32 Gary: La danse, S. 244.

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im Text den weitaus größten Raum und lotet als Dibbuk zugleich das Verhalten, die Rechtfertigungsstrategien und den Geschichtsrevisionismus des Täters mit scharfem Blick aus. Damit entsteht eine höchst ungewöhnliche Figurenkonstellation, in der Rede, Gedanken und Handlungen des Täters allein aus der Perspektive des Opfers nachvollzogen werden. Eben jene von den Tätern selbst massiv ausgeblendete Sichtweise wird also in Garys Roman zur einzig möglichen für seine Leserinnen und Leser. Der Gefahr einer unkommentierten Verselbstständigung nationalsozialistischen Gedankenguts in Form einer selbstlegitimierenden Täterrede entgeht der Text dadurch gänzlich. Diese Konstellation ermöglicht es Gary auch, die Opferperspektive sprachlich, religiös und kulturell als eine spezifisch jüdische zu entfalten.33 Auch bei der literarischen Gestaltung des Traums erweist sich Garys Roman als Ausnahmeerscheinung. In allen anderen Täterromanen wird gerade nicht die gesamte Erzählung in einem traumhaften Modus präsentiert. Eindeutig als solche markierte, durch Einschlafen und Aufwachen gerahmte und in das Geschehen hinein montierte Träume sind dort vielmehr das gängige Erzählverfahren.34 Mehrere Charakteristika von La danse de Gengis Cohn finden sich allerdings auch in anderen Täterromanen wieder: Der provozierende Gestus und die entsprechend kontroverse Rezeption, die zahlreiche Täterromane eint, wurden eingangs bereits genannt. Darüber hinaus werden uns Umfang und Genauigkeit der historischen Recherchen, die als Daten und Fakten in das fiktionale Romangeschehen integriert werden, und die intensiven, an eine Lebensbeichte gemahnenden Ansprachen, mit denen die Erzählinstanz des Textes seine Leserinnen und Leser in das Geschehen zu involvieren versucht, auch in anderen Täterromanen wieder begegnen. Auffällig ist zudem ein Erzählen, das ich provisorisch als exzessiv bezeichnen würde und das sich durch die Derbheit besonders der Darstellung von Abjektem (etwa Exkremente, verstümmelte Leichen oder ‚abweichende‘, zuweilen geradezu monströse Formen von Sexualität) auszeichnet.35 Bisweilen wird diese Dimension der Täterliteratur daher auch mit dem Konzept des Abjekten von Julia Kristeva in Verbindung gebracht.36 Dieser Zusammenhang ist insofern naheliegend, als Kristeva selbst die subjektive Reaktion 33 Vgl. die Beispiele zur jüdischen Kultur, Sprache und Religion sowie zu antisemitischen Vorurteilen aus Kapitel XI. 34 Zur systematischen Unterscheidung zwischen eindeutig, uneindeutig markierten und gänzlich unmarkierten Traumerzählungen vgl. grundlegend Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst, Paderborn: Fink 2014. 35 Vgl. Anne-Laure Fortin-Tournès: „Politique et poétique du roman sur la Shoah : l’engagement de l’écriture contre la banalité du mal dans The Zone of Interest de Martin Amis (2014)“, in: Études britanniques contemporaines. Revue de la Société d’Études Anglaises Contemporaines 50 (2016), S. 1–14 (https://journals.openedition.org/ebc/3169). 36 Vgl. neben Fortin-Tournès auch Richard Crownshaw: Perpetrator Fictions, S. 75.

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auf das Abjekte (nämlich, Schrecken, Ekel oder Grauen zu empfinden) u. a. am Beispiel von Auschwitz vor Augen führt.37 Gerade für unseren Argumentationszusammenhang erweist sich dieses Konzept als aufschlussreich, stellt die Erfahrung des abgespaltenen und damit im Außen wahrgenommenen Abjekten aus Sicht der Psychoanalytikerin doch für das Ich eine Bedrohung der eigenen Identität dar; eine provozierende Grenzüberschreitung zwischen Subjekt und Objekt.38 Das Abjekte, welches das Ich an sich selbst als unerträglich und daher als sich selbst unzugehörig empfindet, spaltet es ab. Doch diese Verortung im Außen gelingt nicht; das Abjekte kann nicht auf Distanz gehalten werden, sondern befällt das Ich so, dass Körper und Sinne auf existenzielle Weise affiziert werden. Damit wird eine eindeutige Unterscheidung zwischen Identität und Alterität, dem Ich und dem bzw. der Anderen hinfällig;39 die Fragilität der Gesetze und Regeln, auf denen unsere symbolische Ordnung basiert, tritt umso deutlicher hervor: „Ce n’est donc pas l’absence de propreté ou de santé qui rend abject, mais ce qui perturbe une identité, un système, un ordre. Ce qui ne respecte pas les limites, les places, les règles. L’entre-deux, l’ambigu, le mixte.“40

Täterträume in Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur [1971] Auch beim Lesen von Edgar Hilsenraths Der Nazi & der Friseur, einem grotesken Roman – 1968/69 in deutscher Sprache geschrieben, 1971 zunächst in der englischen Übersetzung und schließlich 1977 auf Deutsch publiziert –41, wird man immer wieder einer Erfahrung des Abjekten ausgesetzt. Dazu tragen die exzessive Sexualität des Protagonisten, die extreme, bisweilen monströs entstellte Körperlichkeit der Figuren sowie umfangreiche Passagen der Gewalt und des Skatologischen bei.42 Überboten werden sie in der gesamten Täterliteratur 37 Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris: Seuil 1980, hier S. 12. Zum Verhältnis von Abjektem und Antisemitismus vgl. vor allem ihre Auseinandersetzung mit LouisFerdinand Céline. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 209–219. 38 Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 9, S. 12 u. a. 39 „[L’abject] est simplement une frontière, un don repoussant que l’Autre, devenu alter ego, laisse tomber pour que ‚je‘ ne disparaisse pas en lui mais trouve, dans cette aliénation sublime, une existence déchue.“ Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 17. 40 Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 12. Zur symbolischen Ordnung, vgl. u. a. Kristeva: Pouvoirs de l’horreur, S. 82. 41 Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur [1971], München: dtv 2006. 42 Vgl. die Rezeption von Heinrich Böll: „Ich gestehe, dass ich die Ekelschwellen in den ersten Kapiteln des Buches nur mühsam überwunden habe; erst später glaubte ich mir über deren

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wohl nur noch durch entsprechende Darstellungen in Jonathan Littells Roman Les Bienveillantes.43 Edgar Hilsenraths Roman erzählt die Geschichte des SS-Massenmörders Max Schulz. Dieser nimmt, um der Verfolgung als Straftäter zu entgegen, nach dem Krieg die Identität seines jüdischen Jugendfreundes Itzig Finkelstein an, den er als Aufseher des Konzentrationslagers Laubwalde (so legt es der homodiegetische Erzähler jedenfalls nahe) mitsamt seiner Familie erschossen hatte. Gesteigert wird die Umkehrung bzw. das Überkreuzungsverhältnis zwischen Täter und Opfer noch dadurch, dass Schulz’ Freund Itzig von auffällig ‚arischem‘ Aussehen ist, während Max Schulz stets für einen Juden gehalten wird. Hinzu kommt, dass sich der Täter selbst aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes als Opfer antisemitischer Diskriminierung und der brutalen Gewalt seines Vaters stilisiert.44 Auch in diesem Roman gehen also der Täter und sein Opfer, ähnlich radikal wie in Garys La danse de Gengis Cohn, eine unauflösliche, bis zur Ununterscheidbarkeit getriebene Verbindung ein. Nur handelt es sich hier nicht um eine Heimsuchung, die der Täterprotagonist wie einen bösen Fluch erlebt. Genau das Gegenteil ist der Fall: Der Massenmörder verwandelt sich aktiv, skrupellos und im vollen Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit seiner Tat, in sein Opfer. Er instrumentalisiert dessen Schicksal, eignet sich seine Identität an, verleibt sich den Opferstatus regelrecht ein. Nach dem Krieg lässt er sich nicht nur beschneiden, sondern auch eine AuschwitzHäftlingsnummer auf den Arm tätowieren. Mit seiner unverfrorenen, sowohl an die Leserschaft als auch an den Ermordeten gerichteten Lebensbeichte löscht er als vermeintlicher Itzig Finkelstein die Stimme des Erschossenen ein weiteres Mal aus. Allerdings ist der Roman deutlich komplexer und reflektierter, als die histoire dies nahelegt.45 Das Gattungshybrid aus Märchen-Dekonstruktion, Groteske

Funktion klar zu sein.“ Heinrich Böll: „Hans im Glück im Blut“, in: Thomas Kraft (Hrsg.): Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen, München: Piper 1996, S. 76–78, hier S. 77. 43 Auffällig ist allerdings an Hilsenraths Roman, dass der am Schluss erzählte Traum gänzlich frei von solchen monströsen oder ekelerregenden Elementen ist, die Littells Les Bienveillantes programmatisch durchziehen und gemeinhin doch als spezifisch traumhafte Charakteristika gelten können. 44 Etwa als Opfer von Missbrauch und Prügeln, wie vor allem das erste Buch des Romans deutlich macht. 45 Schulz flieht mit einem Sack voller Goldzähne der KZ-Opfer, wird zum erfolgreichen Schwarzhändler, taucht bei diversen Frauen unter und wandert schließlich nach Palästina aus, wo er in der Haganah als leidenschaftlicher Zionist für die Freiheit des jüdischen Volkes kämpft. „Die Erzählperspektive als Filter steht stärker im Vordergrund als das Erzählgeschehen selbst – also die Art, wie sein Leben, wie wichtige historische Ereignisse, wie seine eigene Identität beschrieben und gedeutet werden.“ J. P. C. Van den Berg: „Trauma in Der Nazi & der Friseur von Edgar Hilsenrath“, in: Literator 32/1 (2011), S. 21–42, hier S. 29.

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und invertiertem Bildungsroman46 erweist sich nämlich als eine ausgesprochen subtile Auseinandersetzung sowohl mit dem Anti- als auch mit dem Philosemitismus (als eine seiner perfidesten Unterformen47). Innerhalb des discours wird der ambivalente Bewusstseinszustand des Täterprotagonisten zwischen Verblendung und Erkenntnis, zwischen völliger Abspaltung der Schuld und weitestmöglicher Identifikation mit dem Opfer in allen Facetten ausgelotet. Hier finden sich über die grotesken Elemente und den provokativ-satirischen Gestus beider Romane hinaus weitere auffällige Parallelen zu La danse de Gengis Cohn. In der histoire gelingt die Usurpation also weitgehend unbemerkt und ohne Komplikationen: Max Schulz eignet sich umfangreiches Wissen über das Judentum an, lässt sich in Palästina nieder, heiratet eine Shoah-Überlebende, hat Erfolg als Friseur und kämpft engagiert für ‚sein‘ Volk. Sein innerer Zustand jedoch, so macht es seine autodiegetische, narratologisch als hochgradig unzuverlässig einzustufende Rede deutlich, nähert sich zunehmend nicht nur seiner Rolle, sondern damit zugleich auch dem Wahnsinn an.48 Der in der Wachwelt geglückte Rollenwechsel wird vor allem im Traumerleben des Täters infrage ge46 Vgl. Peter Arnds: „On the Awful German Fairy Tale. Breaking Taboos in Representations of Nazi-Euthanasia and the Holocaust in Günter Grass’s ‚Die Blechtrommel‘, Edgar Hilsenrath’s ‚Der Nazi  & der Friseur‘ and Anselm Kiefer’s Visual Art“, in: The German Quarterly 75/4 (2002), S. 422–439, hier S. 422. Fritz Rumler bezeichnet die Gattung hingegen als einen Märchenversuch, welcher als „blutiger Schelmenroman“ endet. Fritz Rumler: „Max & Itzig“, in: Thomas Kraft (Hrsg.): Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen, München: Piper 1996, S. 69–72, hier S. 69. Zur Groteske bei Hilsenrath vgl. Dietrich Dopheide: Das Groteske. Er allerdings behauptet, dass in Hilsenraths Roman „zum ersten Mal überhaupt in der HolocaustLiteratur die Täterperspektive eingenommen“ werde (Dopheide: Das Groteske, S. 115), was angesichts der langen Geschichte der Täterliteratur bereits seit den späten 1940er Jahren freilich nicht haltbar ist. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der frühen Täterliteratur vgl. Joanne Pettitt: Perpetrators in Holocaust Narratives. 47 Hilsenrath hält die in der Nachkriegszeit geheuchelte Zuneigung zum Judentum für eine „andere Art des Antisemitismus“. Vgl. Helmut Braun in seinem Nachwort zu Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur, München: dtv 2006, S. 469–477, hier S. 476. Vgl. auch Fritz Rumler: Max & Itzig, S. 70. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch folgender Traum des Täters, bei dem unklar bleibt, ob der dort auftauchende Itzig Finkelstein ‚echt‘ oder ‚gespielt‘ ist und sich kaum von der Identität des Träumers unterscheiden lässt: „Der neue Zeitgeist ist philosemitisch. Ein Schreckensgespenst mit nassen Augen, die eines Tages trocknen werden. Wann? Ich träume nicht gern. Träume erschrecken mich. Besonders im Schlaf. Träumte gestern Nacht … ich wäre im Theater. Und dort wurde Zeitgeist gespielt. Sah eine Bühne. Sah das Hotel ‚Vaterland‘. Sah die Schauspieler herumrennen. Sah auch Max Rosenfeld. Sah auch Itzig Finkelstein. Dachte: Du sitzt im Zuschauerraum  … und dabei siehst du dich auf der Bühne. Fragte mich: ‚Was ist das eigentlich?‘“ Hilsenrath: Der Nazi, S. 232. 48 „This question of the mental state of the perpetrators is made even more explicit in Hilsenrath’s narrative.“; „Nevertheless, such overt denials of psychological mitigations are rare, and the majority of fictional accounts remain problematic because of these issues, which Eaglestone refers to as textual ‚swerves‘“. Vgl. Joanne Pettitt: „Popular Psychopaths and Holocaust Perpetrators: Fiction, Family, and Murder“, in: The Journal of Popular Culture 49/6 (2016), S. 1301–1319, hier S. 1315–1316 und S. 1361.

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stellt: In den beiden gegen Schluss des Romans eingefügten, narrativ markierten Traumerzählungen wird die Verwandlung vom Täter zum Opfer wieder rückgängig gemacht, die Grenzen der Identität werden nachhaltig verwirrt.49 Bereits deutlich vor den beiden Traumerzählungen, ungefähr in der Mitte des Romans, berichtet der Protagonist von seinem schlechten, alptraumdurchsetzten Schlaf. Während der Überfahrt nach Palästina liegt er mit unzähligen weiteren Passagieren zusammengepfercht im Laderaum des Schiffes. „Und unsere Toten? Die auch. Sie stehen, liegen, sitzen oder hocken zwischen uns. Körperlose Sardinen. Hier ist kein Platz. Das ist fast so wie in euren Baracken in Laubwalde.“50 Hier wendet er sich in einem Zwiegespräch, wie so oft, an den ermordeten Itzig selbst.51 Bereits diese Sätze verwirren durch eine eigenartige Mischung aus Identifikation und gänzlicher Empathielosigkeit gegenüber den Opfern der Shoah: Ich schlafe nicht viel. Wache oft auf … werde aufgeweckt von gellenden Schreien. Was sagst du, Itzig? Was fragst du? Warum manche Leute schreien  … in der Nacht … warum sie schreien? – Das sind die Überlebenden, lieber Itzig, die aus unseren Konzentrationslagern. Ich weiß nicht, warum sie noch schreien, obwohl doch längst alles vorbei ist. Vielleicht bloß Angstträume? Ich weiß es wirklich nicht. Ja, lieber Itzig. Und die Säuglinge plärren. Die auch.52

Im Schlaf hört Max Schulz deutlich die Schreie jener, die er selbst gequält hat (aus „unseren“ Konzentrationslagern), dass er davon geweckt wird. Wovon unzählige Überlebende in literarischen und autobiographischen Zeugnissen berichten, dem nächtlichen Hochschrecken im Schlaf, weil sie sich im Traum wieder ins Lager zurückversetzt sehen (vgl. Kapitel X), davon wird hier auch der Täter affiziert. Allerdings scheint er die Tragweite der Überlebenden-Traumata gänzlich auszublenden: Die Träume werden banalisiert („bloß Angstträume“), ihre Ursachen ignoriert („Ich weiß nicht, warum sie noch schreien“) und die 49 Jennifer Taylor liest den Roman zwar als eine „Survivor’s Fantasy“, den integrierten Träumen schreibt sie gleichwohl keine Bedeutung zu. Jennifer Taylor: „Writing as Revenge. Reading Edgar Hilsenrath’s Der Nazi und der Friseur as a Shoah Survivor’s Fantasy“, in: History of European Ideas 20/1–3 (1995), S. 439–444, ebenso wenig wie J. P. C. Van den Berg, der die dem Traum naheliegende Thematik des Traumas aus psychoanalytischer Perspektive behandelt. J. P. C. Van den Berg: „Trauma in Der Nazi & der Friseur von Edgar Hilsenrath“, in: Literator 32/1 2011, S. 21–42. 50 Hilsenrath: Der Nazi, S. 258. 51 Da die Rede des Protagonisten im Laufe des Romans häufig zwischen Leseransprache und Opferansprache hin- und herspringt, lässt sich auch die Position des Rezipienten nicht immer eindeutig bestimmen. 52 Hilsenrath: Der Nazi, S. 259. Unmittelbar vor der Traumerzählung reflektiert der Protagonist über die toten Seelen, welche die Überfahrt begleiten und von denen er sich fragt, ob sie Flügel haben, welche das Schiff tragen. Hilsenrath: Der Nazi, S. 258. Damit entsteht eine deutliche Verbindung zum Schlusstraum des Romans, in dem die Toten tatsächlich Flügel zu bekommen scheinen, um den Träumer hinwegzutragen.

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Nachhaltigkeit einer Erfahrung, wie sie Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún und andere so eindringlich beschreiben, geleugnet („obwohl doch längst alles vorbei ist“). Liest man die Sätze genauer, so zeigt sich zudem eine bemerkenswerte Verflechtung von Opfer- und Täterträumen: Dass er den Traumreaktionen der KZ-Überlebenden derart verständnislos gegenübersteht, zeigt, in welchem Maße der Täter seine Gräueltaten von sich selbst abgespaltet hat. Wenn Schulz aber von den im Traum ausgestoßenen Schreien der Opfer geweckt wird, dann müssen diese zugleich bereits in seinen eigenen Schlaf eingedrungen sein. Hier scheinen die Alpträume der überlebenden Opfer die Täterträume für einen kurzen Moment zu durchdringen; in der Traumwelt berühren oder überschneiden sich beide Lebenswelten also. Und genau hiervon handeln die beiden Traumdarstellungen im fünften und sechsten Buch des Romans. Der erste, im sechsten Kapitel des fünften Buches wiedergegebene Traum löst die Opposition zwischen Täter und Opfer sogar explizit und sehr konkret auf. „Ich schlief unruhig, hatte einen seltsamen Traum, träumte  … [sic] ich hätte mich wieder verwandelt, wäre wieder Max Schulz: Und Max Schulz, der Massenmörder … der ging nach Jerusalem … um dreimal symbolisch zu pinkeln …“53 Max Schulz, der sich als Itzig Finkelstein ausgibt, wird im Traum zu dem Täter, der er in der Wachwirklichkeit tatsächlich ist. In einer eher liturgischen als in traumaffiner Sprache wird erzählt, dass der Träumer „symbolisch“ religiöse Heiligtümer des Christentums, des Islam und des Judentums mit seinem Urin befleckt: die Grabeskirche, die Omarmoschee und die Klagemauer; jene heilige Stätten, von denen er seiner Geliebten vor dem Einschlafen erzählt hatte. Doch an dieser Stelle des Traums vollzieht sich abermals ein bemerkenswerter Identitätswandel. Es ist ausgerechnet eine körperlich-sinnliche Wahrnehmung, welche die erneute Identifikation mit den Juden auslöst und den Träumer wieder zu Finkelstein werden lässt. Diese wird paradoxerweise wiedergegeben, als käme hier die wahre Identität hinter der Tarnung zum Vorschein. Als er zwischen den Juden an der Klagemauer steht, geschieht, was sich wissenschaftlich mit dem Begriff der Spiegelneuronen erklären lässt. Die Gefühle der Anderen gehen unmittelbar auf denjenigen über, der sie beobachtet. Max wird regelrecht vom Judentum affiziert. Alle Juden an der Klagemauer weinen, aber keiner hat das Pinkeln gesehen. Aber Weinen ist ansteckend […]. Und als ich die anderen weinen sah, da fing auch ich zu weinen an. Und plötzlich war ich nicht mehr Max Schulz. Ich war wieder ein Jude. Ich war Itzig Finkelstein. Und Itzig Finkelstein schämte sich, weil er gepinkelt hatte, obwohl er genau wusste, dass er nicht als Itzig Finkelstein gepinkelt hatte … sondern: als der Massenmörder Max Schulz. Und Itzig Finkelstein wischte die Flecken von der Mauer weg und weinte bitterlich.54 53 Hilsenrath: Der Nazi, S. 324–325. 54 Hilsenrath: Der Nazi, S. 325.

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Wir haben es hier zum einen mit einer typischen Traumsituation zu tun: Der Träumer unternimmt etwas Peinliches, Anzügliches, das er anschließend wieder ungeschehen machen will. Diese für den Traum einigermaßen ‚realistische‘ Situation erhält aber eine weitere realitätsnahe, durch vielfältige Erkenntnisse der Holocaust-Forschung belegte Dimension: Das Opfer schämt sich für die Taten der Anderen und wird in Anbetracht der (oder gerade trotz der) erlittenen Gewalt selbst von Schuldgefühlen geplagt. Auch das rationale Wissen um die eigene Unschuld kann dieses Gefühl nicht auslöschen: Itzig weiß im Traum, dass er die Tat nicht als Itzig, sondern als der Massenmörder Schulz begangen hat; dennoch fühlt er sich für die Tat verantwortlich und ist bemüht, ihre Spuren zu verwischen. Im Traum findet also eine vollständige Identifizierung des Opfers mit dem Täter statt – wohingegen die Wachwelt doch von einer ebenso vollständigen Identifizierung des Täters mit dem Opfer gekennzeichnet ist. Was die Funktion des Traums innerhalb der histoire angeht, so lässt er sich als ein Hinweis darauf lesen, dass der Protagonist die so erfolgreich scheinende Maskierung womöglich doch nicht lebenslang durchhalten kann. Und der Schlusstraum am Romanende wird dies bestätigen. Auf der Ebene des discours wiederum bringt der Traum die gesamte Ambivalenz zum Vorschein, die sich hinter der scheinbar eindeutigen Rollenverteilung verbirgt. Auch im Schlusstraum des Romans werden die Grenzen zwischen Max und Itzig verunsichert. Allerdings in einer anderen Weise. Dieser Traum ist sehr viel enger mit dem Geschehen innerhalb der Wachwelt verwoben, ja er bildet gewissermaßen seine logische Fortsetzung. Als ein Amtsrichter, den Schulz/Finkelstein auf dem Schiff nach Palästina kennengelernt hat, diesem anhand von Quellenmaterial den Tod des Massenmörders Schulz beweisen will, beichtet der Täter ihm in einem Anfall narzisstischer Kränkung seine Geschichte vom Überleben, Untertauchen und der erfolgreichen Verwandlung in einen Juden.55 Der Täter fordert nach seiner Beichte und Selbstanklage ein gerechtes Urteil. Der inszenierte (oder imaginierte?) Gerichtsprozess führt ihm jedoch die grundsätzliche Unangemessenheit jeglicher Strafe vor Augen: Meine Toten. Meine Opfer. […] Sie wollen nicht, dass man mich aufhängt. Oder erschlägt. Oder erschießt. Auch nicht 10 000 mal [sic]. Die wollen doch nur ihr Leben zurück. […] Und das […] kann ich, Max Schulz, ihnen nie zurückgeben. Ich kann nicht mal die Todesangst streichen, und auch nicht das Vorspiel der Todesangst. […] Es gibt keine Strafe für mich, die meine Opfer versöhnen könnte.56

55 Hilsenrath: Der Nazi, S. 450–451. 56 Hilsenrath: Der Nazi, S. 456. Diese Konfrontation mit der Todesangst der Opfer bildet eine weitere auffällige Gemeinsamkeit mit Garys Roman.

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Sicherlich ist es kein Zufall, dass bereits hier, noch in der Wachwirklichkeit des erzählten Geschehens, das Sehen in seiner Mangelhaftigkeit vor Augen geführt wird: Unsere Stimmen wurden leiser. Nur der Nachklang unserer Worte sauste im Raum herum, schwirrte verzweifelt gegen die blanken Spiegel und traf unsere Augen, die Augen im Spiegel, die suchten, was sie nicht finden konnten. […] Ich sagte: Vertagen nützt nichts. Es gibt keine Lösung.57

Im anschließenden Selbst-(Anklage-)Gespräch mit den Bäumen im „Wald der 6 Millionen“ – eine symbolische Konfrontation mit den Opfern, die halluzinatorische Züge trägt58 – imaginiert der Erzähler schließlich seinen eigenen Herzinfarkt, den er für wahrscheinlicher hält als eine Entdeckung und Verurteilung als Täter. Das unmittelbar anschließende letzte Kapitel des Romans besteht fast ausschließlich aus einem erzählten Traum, der ihn diesen Herzinfarkt tatsächlich erleben lässt. Der Erzähler selbst bezeichnet ihn als einen „Wachtraum“. Man kann ihn allerdings ebenso gut als einen aus vier Episoden bestehenden Sterbetraum lesen. Die ersten drei Traumepisoden bestehen im Wesentlichen aus wörtlicher Rede, die von eigenartigen Sinneseindrücken des Träumenden begleitet wird. Während der Erzähler mit Atembeschwerden auf dem Sofa liegt, trübt sich allmählich seine Wahrnehmung: „Durch die halboffene Tür kam Wasserdampf ins Wohnzimmer, kroch an den Wänden entlang, schlich um mein Sofa herum und hüllte mich schließlich ein. Ich hatte einen Wachtraum. Es kam mir vor, als läge ich wirklich im Sterben.“59 Das Traumerleben setzt sodann ein mit einem Notruf seiner Ehefrau, die den Herzinfarkt ihres Mannes meldet. Den ersten Teil des Traumgeschehens bilden die makaber-grotesken Worte, die an den Notarzt am Telefon gerichtet werden. Der Rede der Gattin ist zu entnehmen, dass ihr Mann durch eine Herzverpflanzung gerettet werden könnte. Allerdings akzeptiert dieser nicht die vorrätigen deutschen, englischen und schon gar nicht arabischen Organe, sondern fordert ausschließlich ein jüdisches Herz.60 Noch während 57 Hilsenrath: Der Nazi, S. 457. 58 Dieser Wald der sechs Millionen Seelen entspricht dem tatsächlichen Jaʿar ha-Qdōšīm, dem „Wald der Märtyrer“ bei Jerusalem. Joanne Pettitt konstatiert hierzu: „Israel becomes the physical representation of his [Max Schulz’s] own otherness.“ Joanne Pettitt: Perpetrators in Holocaust Narratives, S. 18. 59 Hilsenrath: Der Nazi, S. 462. 60 Das groteske Moment wird nicht nur durch diese überspitzten Rassismen erreicht, sondern vor allem über schwarzen Humor und Zynismus: Einem Juden, so heißt es während des Telefongesprächs, könne in dieser Gegend immer etwas passieren, und manchmal stürben sie sogar einfach im Bett. Hilsenrath: Der Nazi, S. 463. Zu den grotesken Elementen vgl. auch Meryem Ilknur Demir: „Gewaltige Groteske – groteske Gewalt. Begrenzung und Überschreitung bekannter Narrationsmuster der Shoah-Literatur“, in: Dagmar von Hoff/Brigitte Jirku/

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des Telefongesprächs trifft offensichtlich das Herz eines gestorbenen Rabbiners ein, die Rettung scheint in greifbare Nähe gerückt. Im folgenden Absatz findet sich das Traum-Ich auf einer Bahre wieder, es verliert das Bewusstsein, wacht wieder auf und „kann nichts sehen. Nur Nebel. Nichts als Nebel. Aber ich höre Stimmen. […] Stimmen, Stimmen, Stimmen.“61 Es erlebt sich als Gesprächsobjekt diskutierender Ärzte, die von einer missglückten Transplantation des Rabbinerherzens berichten und bestätigen, dass der Patient nun abermals im Sterben liegt. Die darauffolgende Traumsequenz thematisiert sodann eine andere, paradoxe Form des Sehens („Ich sehe nichts. Und doch sehe ich“62): Der Träumer beobachtet, wie seine „Gedanken aus der Dachschadenecke herausschlüpfen, sich befreien, um die Augäpfel herumschleichen, aus den Froschaugen quellen,  […] an der Zimmerdecke hocken, mich anstarren, mir etwas zuflüstern“.63 Diese personifizierten Gedanken führen anschließend einen Dialog mit Amtsgerichtsrat Richter, der ihm mitteilt, ihn nach dem gescheiterten Prozess nun einem göttlichen Gericht zu überantworten. Die Ankündigung führt zu einer bemerkenswerten Reaktion: ‚Wie kann mein Körper schwitzen … vor Angst … wenn meine Angst an der Zimmerdecke hockt?‘ […] ‚Schade, daß du dich nicht sehen kannst. Deine Froschaugen sind weit aufgerissen. Und auch dein Mund. […] Zuallerletzt, da stirbt ein Kerl wie du … mit ‚ihrer‘ Angst.‘ ‚Wessen Angst?‘ ‚Mit der Angst deiner Opfer, bevor sie starben.‘ ‚Soll das die gerechte Strafe sein?‘ ‚Nein.‘64

In der letzten Sequenz, mit der nicht nur der Traum, sondern zugleich auch der gesamte Roman endet, erlangt der Träumer schließlich seine Sehkraft zurück. Doch auch hier wird ein ‚anderes‘ Sehen vor Augen geführt; eines, das gewissermaßen hinter den blinden Spiegel blickt, und erkennt, was im Wachleben ausgeblendet wurde. „Und plötzlich sehe ich wieder. Ich sehe weiße Gardinen. Und ich sehe das offene Fenster. Und ich kann auch den Wind sehen. Den kann ich sehen! Und es kommt mir vor, als käme der Wind aus dem Wald der 6 Millionen.“65 Die Gardinen verdunkeln sich, verwandeln sich in schwarze Flügel, heben den

61 62 63 64 65

Lena Wetenkamp (Hrsg.): Literarisierungen von Gewalt. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2016, S. 157–179, v. a. S. 166–170. Hilsenrath: Der Nazi, S. 463. Hilsenrath: Der Nazi, S. 464. Hilsenrath: Der Nazi, S. 464. Hilsenrath: Der Nazi, S. 465. Hilsenrath: Der Nazi, S. 465.

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Körper des Träumenden auf und lassen sich vom „Wind, der aus dem Walde kam, dem Wald der 6 Millionen“66 davontragen. Im Sterbetraum des Protagonisten (der am Schluss tatsächlich wirkt, als verlasse die Seele den Körper durch das offene Fenster) vollzieht sich zunächst also der Identitätswandel, den der Täter so skrupellos vollzogen hatte, gewissermaßen nochmals im Zeitraffer, bevor der Träumer Max Schulz, der sich im Wachleben als Itzig Finkelstein ausgibt, sich träumend wieder in Max Schulz zurückverwandelt.67 Das Traumerleben scheint aber auch die Uneindeutigkeit seiner Identität in verdichteter Form wiederzugeben. Schulz soll ein jüdisches Herz eingepflanzt werden. Damit wäre der SS-Täter wohl tatsächlich zu einem ‚vollständigen‘ Juden geworden.68 Die Identifikation funktioniert nach einem vergleichbaren Muster wie im zuvor beschriebenen Traum: Wie das unwillkürliche Weinen an der Klagemauer, mit dem sich der Andere nicht mehr auf Distanz halten lässt, ist es auch hier metonymisch das Organ, dem der Sitz der Gefühle zugeschrieben wird, das die Trennlinie zwischen dem Ich und dem Anderen aufhebt. Wie im Wachleben, so gelingt allerdings das ‚Jüdischwerden‘ auch im Traum nur fast. In der Konfrontation mit dem Richter scheint sich bereits eine abrupte Rückverwandlung vollzogen zu haben: Auffälligerweise spricht dieser ihn in jedem Satz wieder von Neuem ausdrücklich mit Max an, dem eigentlichen Namen des Massenmörders, auch wenn er in der Wachwelt die Verwandlungsgeschichte des Täters ja für einen Wahn und sein Gegenüber für Itzig Finkelstein hält. Dass der Protagonist im Traum abschließend von den Geistern aus dem Wald der 6 Millionen abgeholt wird, führt die grundsätzliche Ambivalenz des Romans bis in die Schlusszeilen fort: Es mag sein, dass die Toten sich rächen und für sein Ende verantwortlich sind. Damit wäre Max Schulz am Ende des Romans endlich in umgekehrter Weise auch ihr Opfer, er würde von den Ermordeten eingeholt. Wenn man den Schluss allerdings als eine Überführung des Sterbenden in den Wald der 6 Millionen liest, so hätte letztlich doch der Täter gesiegt. Dann nämlich wäre der Massenmörder als vermeintlicher Itzig Finkelstein schließlich 66 Hilsenrath: Der Nazi, S. 465. 67 Diese ständig zwischen verschiedenen Ich-Konstruktionen oszillierende Erzählsituation sieht Erin McGlothlin als Analogie zur Handlungsstruktur des Romans, „reproducing on the text’s narrative level the interminable processes of equivocal transmutation and escape that Max undergoes as a character“. „The pathological ‚I‘ in Hilsenrath’s text is, narratively speaking, a moving target […], distorting with its perpetual motion the narrative interface between Max’s mind and the reader, who wishes to understand his autobiographical construction of his violent history.“ McGlothlin: Narrative Perspective, S. 167. 68 Denn wodurch, wenn nicht durch ein jüdisches Herz, wäre ein ‚echter Jude‘ zu identifizieren, nachdem alle äußeren, zum Stereotyp geronnenen Merkmale sich als hinfällig erweisen und der genalogische Nachweis zu einer Farce verkommt, wie der Roman mit seiner satirisch-zynischen Stoßrichtung geradezu programmatisch vor Augen führt? Vgl. hierzu vor allem das fünfte Kapitel im dritten Buch des Romans, Hilsenrath: Der Nazi, S. 225–228.

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selbst am Ort des Opfer-Gedenkens angelangt und fände hier womöglich seine ewige Ruhe. Damit wäre das Sakrileg endgültig nicht mehr zu überbieten, die Schuld gänzlich ungesühnt. Diese Kippfigur zwischen Bestrafung und Rettung, die der Traum vor Augen führt, hatte das Gespräch zwischen Richter und Täter, das offensichtlich den Tagesrest für das Traumerleben bildet, bereits vorweggenommen: „Es gibt keine Lösung.“69 Die Todesangst der Opfer unmittelbar nachempfinden zu müssen, zwingt zwar zu einem kurzzeitigen Rollenwechsel, der über die Maskerade hinausgeht. Von einer „gerechten Strafe“ kann allerdings auch hier keineswegs die Rede sein.

Täterträume in Marcel Beyer: Flughunde [1995] Ein erzählendes Täter-Ich, das sich im Traum auf einer Bahre wiederfindet und zum Gegenstand ärztlicher Besprechungen wird, bietet auch Marcel Beyers Roman Flughunde. Nur handelt es sich hier, im Gegensatz zum Traumgeschehen bei Hilsenrath, das allein durch den Erzählkontext als Shoah-Traum zu identifizieren ist, um einen tatsächlichen Konzentrationslager-Traum. Der Träumer wird nächtens zum Objekt jener grausamen Menschenexperimente, an denen er im Konzentrationslager Ravensbrück als fanatischer Stimmforscher im Dienst der nationalsozialistischen Rassenideologie selbst beteiligt war. Marcel Beyers Roman von 1995 ist ebenfalls aus einer homodiegetischen Täterperspektive erzählt, wenngleich die alternierende Fokalisierung zwischen dem erwachsenen NS-Techniker Hermann Karnau und einer unschuldigen, aber zunehmend klarsichtigen Kinderperspektive – nämlich der ältesten Tochter des Propagandaministers Goebbels  – den eigentlichen Reiz des narrativ komplex konstruierten Romans ausmacht.70 Hatten bei Romain Gary zwei Stimmen in einem Körper gesprochen und sprach bei Hilsenrath gewissermaßen eine Stimme mit zwei Körpern bzw. zwei Identitäten, wechseln sich hier also tatsächlich zwei unterschiedliche Erzählstimmen ab. Insofern Karnau immer fanatischer der NS-Ideologie anhängt, das Kind sich aber zunehmend vom Fanatismus des Vaters distanziert, findet auch auf dieser Ebene eine systematische Überkreuzung von Fragen über Schuld und Unschuld statt. Vor allem 69 Hilsenrath: Der Nazi, S. 457. 70 Stephanie Catani versteht diese „polyvalente Erzählstruktur“ als Ausdruck einer „tiefe[n] Skepsis“ gegenüber „historischem Erzählen wie Erinnern“ sowie als Problematisierung von „historische[r] Authentizität“. Damit werde die Aufmerksamkeit des Lesers weg von der histoire (den historischen Fakten) hin zum discours (also dem Umgang mit den Fakten) gelenkt. Stephanie Catani: Von Tätern und Opfern, S. 57–58.

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aber werden in diesem Roman die Stimmen der NS-Opfer von den Tätern ebenfalls skrupellos vereinnahmt, und zwar im doppelten Sinne: Zunächst werden die Verfolgten als Forschungsobjekte missbraucht und sodann in der Nachkriegszeit ein zweites Mal instrumentalisiert. Um ihre Täterschaft zu vertuschen, planen die Verbrecher nämlich, gezielt die Stimmen der KZ-Häftlinge nachzuahmen, um ihre Umwelt glauben zu machen, selbst Opfer gewesen zu sein. Genau wie Hilsenraths Massenmörder, so wird auch Beyers Protagonisten Karnau nahegelegt, sich nach dem Krieg als Opfer auszugeben, um seine Verbrechen zu vertuschen. Hierfür erhält er anlässlich der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht den zynischen Rat seines Vorgesetzten, des (an den tatsächlichen NS-Arzt Stumpfegger angelehnten) KZ-Arztes Stumpfecker: Er soll lernen, seine eigene Sprache möglichst mimetisch an die Stimmen der Opfer anzugleichen. Vordringlichste Aufgabe ist es nun, wie ein Opfer sprechen zu lernen.  […] und lassen Sie in ihrer [sic] Rede genau dieses vermeintliche grausame Geschehen aus. Verschweigen Sie ihre [sic] Tätigkeit der letzten Jahre, indem Sie diese Pausen zögerlich ansteuern in Ihrem Bericht. Verstummen Sie dann aber rechtzeitig, um nichts von Ihrer Tätigkeit preiszugeben […]. So wechseln Sie die Seite, so gleiten Sie während des Verhörs unmerklich über die Linie, hinüber zu denen, wegen deren Behandlung man Sie eigentlich anklagen wollte. Sie müssen jetzt lernen, genau das zu tun, was Sie an anderen immer angewidert hat, ein Abscheu, der überhaupt erst Anlaß Ihrer Tätigkeit gewesen ist: Sie müssen stottern, aussetzen, Worte verfehlen. Wir werden leider übergangsweise unter der Herrschaft gebrochener Stimmen stehen.71

Ähnlich konkret wie bei Gary oder Hilsenrath findet an dieser Stelle eine explizite Grenzüberschreitung statt: Es geht darum, „unmerklich über die Linie“ zwischen Tätern und Opfern auf die andere Seite zu gleiten. Was hier zudem deutlich zum Vorschein kommt – und dies ist ein weiteres wichtiges Element der Täterliteratur –, ist die Perfidie, mit der in dieser Aussage eine Umkehrung von Ursache und Wirkung der Gräueltaten vorgenommen wird. Die Opfer stottern, weil sie gefoltert werden oder wurden. Aus der Perspektive des Täters aber wird die Folter damit gerechtfertigt, dass ihr Verhalten unmenschlich wirkt, die Geschundenen sich eher tierisch als menschlich benehmen. Man behandelt den Anderen oder die Andere so, dass sie zu eben den Barbaren, Tieren oder Monstern werden, als die man sie sehen möchte („ein Abscheu, der überhaupt erst Anlaß Ihrer Tätigkeit gewesen ist“), um damit die unmenschliche Behandlung

71 Marcel Beyer: Flughunde, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 192. Das Zitat findet sich am Ende des sechsten Kapitels, S. 191–192.

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zu legitimieren.72 Diese Logik der Herabsetzung und Entmenschlichung prägt auch, wie sich zeigen wird, die Selbstrechtfertigungsstrategien der erzählenden Täterfiguren in den Romanen von Olivier Guez und insbesondere von Martin Amis. Hermann Karnau, als Akustiker für Propagandaminister Goebbels tätig, experimentiert zunächst eher zufällig mit der menschlichen Stimme und ihren technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten,73 bevor er schließlich zum (Pseudo-) Wissenschaftler74 wird, der umfangreiche medizinische Experimente am Stimmapparat von KZ-Häftlingen durchführt. Sein Ziel ist eine Kartierung sämtlicher Nuancen menschlicher Laute und stimmlicher Klangfarben. Zu diesem Zweck ‚testet‘ er, wie belastbar die Sprechwerkzeuge seiner Gefangenen sind. Größte Aufmerksamkeit wird hier einzelnen Organen gewidmet, die mit der menschlichen Artikulationsfähigkeit verbunden sind; neben dem Kehlkopf etwa Zunge, Stimmbändern, Rachen und Luftröhre. Mit brutaler Kunstfertigkeit führt Marcel Beyer das Spektrum der Wahrnehmungen menschlicher Laute auf der Grenze zwischen Leben und Tod vor, indem er den Protagonisten zynisch sinnieren lässt: Nur noch animalische Töne, sie werden jetzt nicht mehr geformt im Kehlkopf, und werden nicht gedämpft im Hals, sie erfüllen den ganzen Rachenraum. Und Lippen, Zunge, Zähne können diese ungewollten Laute auch nicht mehr im Zaum halten, aufhalten und zum Verstummen bringen noch im Mund. Welch ein Geschehen. Welch ein Panorama.75

Für die Frage, wie gerade im Traumerleben die Grenzen zwischen Tätern und Opfern, zwischen Leben und Tod und die des eigenen Körpers überschritten werden, ist die erzähltechnische Gestaltung von Beyers Roman bedeutsam, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Der Zusammenhang von Körper, Stimme und Ausdrucksfähigkeit wird hier aus der kalten, teilnahmslosen, um Objektivität bemühten Täterperspektive ausgelotet. Die Misshandlungen sind in erster Linie von außen, an den physischen Reaktionen der Opfer ablesbar; als vermeintlich 72 Zur Folter in literarischen Texten vgl. Sven Kramer: Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis ‚nach Auschwitz‘, München: Fink 2004, v. a. das Kapitel über Jean Améry und die Annihilation des Individuums, S. 437–474, und Tanja Pröbstl: Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen. Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen, Bielefeld: transcript 2015, v. a. das Kapitel über Schaulust und Scham der Öffentlichkeit, S. 91–116. 73 So konstatiert er beim Festhalten der letzten Laute von fallenden Soldaten an der Front: „[D]a hat es einen jungen Sterbenden richtig herausgehauen aus der Lautbeherrschung.“ Beyer: Flughunde, S. 111. 74 Vgl. Roman Pliske: „Flughunde. Ein Roman über Wissenschaft und Wahnsinn ohne Genie im ‚Dritten Reich‘“, in: Marc-Boris Rode (Hrsg.): Auskünfte von und über Marcel Beyer, Bamberg: Universität Bamberg 2000, S. 108–123. 75 Beyer: Flughunde, S. 106.

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wissenschaftliches Phänomen sind diese Gegenstand akustischer Aufzeichnungstechniken und sollen letztlich dem Ziel dienen, das menschliche „Ur-Geräusch“ zu entdecken und zu konservieren.76 Über die gewaltsame Zerstörung ihrer Sprechorgane hinaus werden die Opfer als menschliche Individuen also auch narrativ ausgelöscht: Sie sind namenlos, gesichtslos, geschichtslos. Hinter dem biologischen ‚Material‘ für medizinische Experimente werden für den Täter – und folglich auch für uns Leserinnen und Leser77 – lediglich schwarze Schatten, „Schemen“78 sichtbar, die weder selbst die Stimme ergreifen und für sich oder die Mitgefangenen zeugen können, noch für die jemand anderer zu zeugen imstande (oder auch nur willens) wäre.79 Der Roman bringt also nicht die Stimmen der Ermordeten im Sinne ihrer eigenen Perspektiven und Lebensgeschichten zum Vorschein. Wohl aber bilden deren Stimmen, die von dem Protagonisten minutiös registriert werden, die materiellen, an die Nachwelt überlieferten Spuren, die von den Verbrechen zeugen.80 Gerade durch diese narrative Inszenierung der Abwesenheit erlangt der Roman seine besondere literarische Wirkung. In seiner Lektüre des Leiris’schen Essays „Was Sprechen heißt“, den er als eine der wenigen poetologischen Vorgaben für seine eigene Arbeit bezeichnet,81 76 „Schallquelle, nicht etwa ein Mensch mit Schmerzen […]. Ich darf mich von einer bemerkenswerten Stimme nicht ablenken lassen durch das viehische Gebaren […] vielleicht macht ein bestimmtes Wimmern Vergleichsaufnahmen nötig, um die Nuancen dieses Klagelauts im Kartenwerk zu erfassen.“ Beyer: Flughunde, S. 30. Vgl. auch den Begriff „Resonanzkörper“ als Bezeichnung für einen Menschen, S. 61. 77 Hierin ist Beyer ausgesprochen konsequent. Es geht ihm um Reflexion, nicht um Empathie mit den Opfern, die er selbst für unzureichend hält. Denn er hat den berechtigten Verdacht, „es geh[e] uns, indem wir das historische Material vom imaginären trennen, weniger um Erkenntnis als darum, Souverän über den Bereich unserer Gefühle zu bleiben“. „Jeder einzelne Satz in ‚Flughunde‘ sollte zu erkennen geben, daß er nicht aus eigenem Erleben formuliert worden ist, ein Werk der Imagination, nicht der Erinnerung. Dies war meine Haltung denjenigen gegenüber, die sich erinnern.“ Alle Zitate aus Beyers Nachwort, in: Beyer: Flughunde, S. 289. 78 Beyer: Flughunde, S. 11. Zu derartigen Begriffen, die auf das Phänomen des ‚Muselmanns‘ im Lager zielen, vgl. Kapitel V. 79 Zur Problematik, ob und inwiefern es aufgrund der Erzählperspektive überhaupt legitim ist, von einem „Holocaust-Roman“ zu sprechen, vgl. Ulrich Simon: „Assoziation und Authentizität. Warum Marcel Beyers Flughunde auch ein Holocaust-Roman ist“, in Rode: Auskünfte von und über Marcel Beyer, S. 124–143. 80 Folgende Eingangsüberlegungen des Protagonisten können daher als programmatisch für den gesamten Roman gelten: „Geformter Atem, Hauch: Das, was den Menschen ausmacht. So bilden die Narben auf den Stimmbändern ein Verzeichnis einschneidender Erlebnisse, akustischer Ausbrüche, aber auch des Schweigens. Wenn man sie nur mit dem Finger abtasten könnte, mit ihren Fährten, Haltepunkten und Verzweigungen. Dort, in der Dunkelheit des Kehlkopfs: Das ist deine eigene Geschichte, die du nicht entziffern kannst.“ Marcel Beyer: Flughunde, S. 22–23. Vgl. auch das Nachwort von Marcel Beyer: Flughunde, S. 285–294, bes. S. 290–291. 81 Beyer: „Spucke“, Anhang in Beyer: Flughunde, S. 271–284, hier S. 272.

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setzt sich Marcel Beyer mit dem Verhältnis von Geschichte und geschichtlicher Körpererfahrung auseinander und bemerkt hierzu: „Der Körper ist nicht Gedächtnis, sondern er hat Gedächtnis: Mit dieser Vorstellung von Körpergedächtnis gelingt es mir nicht mehr, Geschichte als einen von mir abgetrennten Bereich zu begreifen, aus dem ich mich ausklammern könnte, zu dem ich mich in ein Verhältnis setze.“82 Ein solches körperliches Affiziertsein durch die NS-Geschichte inszeniert der einzige Traum aus Beyers Roman. Ist der emotionale wie politische und ethische Abgrund, der sich in Flughunde zwischen Täter und KZHäftlingen auftut, in der erzählten Wachwelt auch unüberwindlich; im fingierten Traum lassen sich die Opfer nicht auf Distanz halten. Physisch wie psychisch rücken sie dem Träumer auf die Pelle; er wird buchstäblich gezwungen, in ihre Haut zu schlüpfen. Denn aus der zunächst nur inszenierten Opferrolle nach dem Krieg wird für Hermann Karnau im Traumerleben gegen Ende des Romans ein tatsächliches körperliches Erleben der Folter. Hier erfährt der Stimmenzerstörer Karnau am eigenen Leib, wie es sich anfühlt, einem medizinischen Experiment ausgeliefert zu sein: In einem Nachkriegs-Alptraum, den er allerdings in keiner Weise mit seiner eigenen Schuld in Verbindung bringt und den Marcel Beyer selbst zwar als typischen KZ-Traum, aber zugleich als literarisch ausgesprochen konstruiert und daher hochgradig unrealistisch bezeichnet hat,83 befindet er sich mit einem Male in der Position des Patienten. Ich liege stumm, ich spüre […], wie Fingerspitzen meinen Schädel abtasten, ich höre, wie die Haut aufreißt und ein Skalpell sich mühelos ins Fleisch gräbt, aber ich spüre keinen Schmerz, ich spüre nur das helle Licht, die Strahlen brennen sich in meine Haut, […] ich will den Kopf wegziehen, kann mich aber nicht bewegen, das Skalpell schneidet weiter, zieht über meiner Stirn vorsichtig eine Linie, aber ich spüre keinen Schmerz, ich will fragen, aber auch meine Zunge spüre ich nicht, mein Gaumen, meine Lippen sind taub, das kommt von der Narkose, mein Mund, als wäre er mit einer zähen Masse ausgestopft, die sich langsam mit Speichel vollsaugt, da steckt ein Knebel, mein Mund ist fest verknebelt worden. […] ich will ein Zeichen geben, ich bewege Arme, Beine, Bauch, aber die Haltegurte spannen sich nur stärker, geben mich nicht frei, der OP-Tisch fängt an zu quietschen, man bemerkt meine Signale nicht, ich versuche ein Kehlgeräusch hervorzubringen, aber ich höre nichts, doch, da ist eine Stimme, hinter mir, da spricht jemand nicht weit von meinem Ohr: Unterbinden Sie gefälligst diese störenden Rumpfaktionen […]. Eine warme Flüssigkeit spritzt auf meine Lider, das ist mein Blut, oder es ist Stumpfeckers Speichel.84 82 Beyer: Flughunde, S. 282. 83 Vgl. die Lesung und das Gespräch mit Marcel Beyer im Rahmen der Kulturprojekte des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“ am 4. Oktober 2017 im Saarländischen Künstlerhaus Saarbrücken (https://www.traumkulturen.de/veranstaltungen/archiv.html). 84 Beyer: Flughunde, S. 198–199. Zur intertextuellen Analyse dieses Alptraums mit Blick auf Rainer Maria Rilkes Erzählung „Ur-Geräusch“ von 1919 und Herbert George Wells’ The Island of

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Es folgt eine ca. einseitige Fortführung eines wissenschaftlichen Gesprächs zwischen drei NS-Ärzten, das der Träumer zur Kenntnis nimmt, während der Traum zugleich wiedergibt, wie Karnau selbst jenes Experiment erlebt, mit dem das „Urgeräusch“ hervorgebracht werden soll:85 Diese Grammophon-Nadel hier werden wir nun die Schädelnaht entlangführen. Wir sollten die Rille noch einmal von Blut säubern, damit die Nadel nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Einen Moment feierliches Schweigen, und eine Faust stemmt sich auf meinen Mundknebel.86

Scheint das Experiment im Traum zunächst fast geglückt, bricht das Traumerleben sodann abrupt durch einen Leibreiz aus der Wachwelt ab: Das Knochensummen ist ein Geräusch menschlichen Ursprungs, das kein Mensch je zuvor gehört hat […], mein Schädel unter diesen Vibrationen, als lösten sich schon erste Knochensplitter, ein furchtbarer Ton, der mir Gänsehaut bereitet. Soll dies tatsächlich das charakteristische Lautgeben meiner eigenen Schädelnaht sein. Das Urgeräusch? Nein, dieses Kratzen kommt von Taubenkrallen, die auf dem Fensterbrett herumtrappeln […]. Aber es ist doch mitten in der Nacht, warum sitzt denn das Tier nicht still und schläft? Ich zwinge mich, die Augen zu öffnen: Dunkel. […] Solch einen zermürbenden Alptraum habe ich seit Jahren nicht mehr gehabt.87

Dr. Moreau [1896], New York: Airmont, 1966, vgl. Christian Thomas, „Marcel Beyers Flughunde (1995) als Kommentar zur Gegenwart der Vergangenheit“, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hrsg.): NachBilder des Holocaust, Köln: Böhlau 2007, S. 145–169, v. a. S. 155–157. 85 Mit diesem Begriff bezieht sich Marcel Beyer offensichtlich auf den 1919 erschienenen Essay „Ur-Geräusch“ von Rainer Maria Rilke, in dem er anlässlich seiner Erinnerung an akustische Experimente im Schulunterricht und einer Anatomievorlesung über den menschlichen Schädel eine Beziehung zwischen beiden Erfahrungen feststellt und eine damit verbundene Phantasie zum Ausdruck bringt: „Die Kronen-Naht des Schädels (was nun zunächst zu untersuchen wäre) hat – nehmen wirs an – eine gewisse Ähnlichkeit mit der dicht gewundenen Linie, die der Stift eines Phonographen in den empfangenden rotierenden Cylinder des Apparates eingräbt. Wie nun, wenn man diesen Stift täuschte und ihn, wo er zurückzuleiten hat, über eine Spur lenkte, die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tones stammte, sondern ein an sich und natürlich Bestehendes –, gut: sprechen wirs nur aus: eben (z. B.) die Kronen-Naht wäre –: Was würde geschehen? Ein Ton müßte entstehen, eine Ton-Folge, eine Musik … Gefühle –, welche? Ungläubigkeit, Scheu, Furcht, Ehrfurcht –: ja, welches nur von allen hier möglichen Gefühlen? verhindert mich, einen Namen vorzuschlagen für das UrGeräusch, welches da zur Welt kommen sollte …“ Rainer Maria Rilke: „Ur-Geräusch“, in: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, Bd.  6, Frankfurt am Main: Insel 1966, S.  1085–1093, hier S. 1088–1089. Einer solchen Versuchskonstellation, die Karnau und Stumpfecker gewissermaßen in die Tat umgesetzt haben, sieht sich der Protagonist in seinem Traum als Untersuchungsobjekt ausgeliefert. 86 Beyer: Flughunde, S. 200. 87 Beyer: Flughunde, S. 200–201.

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Wichtig für das Verständnis des Traums ist seine narrative Einbettung in den Roman: Das siebte Kapitel, in welches das Traumerlebnis integriert ist, schließt unmittelbar an die Erzählung des Kriegsendes und die unzähligen damit verbundenen Versuche an, möglichst unbemerkt die Seiten zu wechseln – jene Passage also, in der Stumpfecker Karnau empfiehlt, sich die Stimme eines traumatisierten Opfers zuzulegen. Zusammen mit einem zeitlichen Sprung in den Juli 1992 wechselt die Erzählinstanz plötzlich von der alternierend intern fokalisierten Homodiegese zu einem nullfokalisierten heterodiegetischen Erzähler. Berichtet wird in sachlich-distanzierter Weise vom späten Fund der Überreste, die von den Stimmexperimenten zeugen: einem gekachelten Operationssaal, blutigen Haltegurten88 und den auf Tonbändern und Schallplatten registrierten „Schallereignissen“.89 Die Inspektoren des Schallarchivs treffen auch auf Karnau selbst, der sich bei der Befragung als höchst unzuverlässiger Erzähler entpuppt, den Verdacht erregt, tief in die Menschenexperimente involviert gewesen zu sein und Hals über Kopf die Stadt verlässt. Es ist bemerkenswert, dass der erzählte Traum ausgerechnet auf den emotionslosen, neutralen und aus maximaler Distanz wiedergegebenen Erzählerbericht folgt. Außen- und Innenperspektive werden hier in unmittelbare Nähe gerückt. Einzelne Elemente des Berichts, wie der Operationssaal, die Haltegurte oder die blutbefleckten Instrumente tauchen zudem in der Traumdiegese wieder auf. Das auffälligste Gestaltungsverfahren dieser Traumerzählung ist zweifellos die intensive körperlich-sinnliche Wahrnehmung des Geschehens. Und auch hier ist der Sehsinn ausgeschaltet. Der Träumer vermag weder zu sprechen oder sich anderweitig Gehör zu verschaffen, noch zu sehen. Das Licht wird nicht erblickt, sondern als Brennen auf der Haut wahrgenommen, die Haltegurte spannen; die verbleibenden Sinne sind auf das Intensivste geschärft; die furchtbaren Geräusche werden weniger gehört, denn als „Gänsehaut“ erlebt. In Verbindung mit einem dreifach wiederholten „ich spüre keinen Schmerz“ ergibt sich damit eine eigenartige Kombination aus Taubheit, Blindheit und höchster sinnlichleiblicher Aufmerksamkeit. Der Träumer ist zudem Subjekt und Objekt zugleich: Als gefesseltes und geknebeltes Versuchsobjekt der Wissenschaft wird er gänzlich verobjektiviert, im Gespräch der Ärzte kommt er schlichtweg nicht vor („Ganz wüste Geschichte“, „Großartige Szene“,90 „Meine Herren, es funktioniert, das Experiment scheint zu gelingen“, „Vielleicht Parasprache, meint Hellbrandt, an niemanden direkt gerichtet“91). Und doch tritt der Träumer als erlebendes Subjekt nun genau an jene Stelle, an der sich in der zuvor geschilderten Besichtigung des medizinischen Labors die entscheidende Lücke aufgetan 88 89 90 91

Beyer: Flughunde, S. 198. Beyer: Flughunde, S. 195. Beyer: Flughunde, S. 199. Beyer: Flughunde, S. 200.

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hatte: „Woher man allerdings die Probanden bezog, welche für die zum Teil recht schmerzhafte Erhebung der entsprechenden Daten rekrutiert wurden, liegt ebenfalls außerhalb der Kenntnis der Untersuchungskommission.“92 Wo das Wissen der Institution und der überlieferten Quellen versagt, wird der Träumer zum subjektiv wahrnehmenden Ich, das sämtliche Details der qualvollen Prozedur nachempfindet. Zugleich verschwimmen die Körpergrenzen zwischen dem Opfer des Experiments und dem ausführenden Täter: Ob es sich bei den Spritzern, die der Träumer auf seinem Augenlid spürt, um die eigene Körperflüssigkeit handelt oder um die des Arztes, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Nach dem Aufwachen sinniert Karnau im Dunkeln weiter über die Eindrücke des Traums. Sie führen ihn zu einer grundsätzlichen Reflexion über die Rolle des Sehens und des Hörens in der Nachkriegszeit („Das Kriegsende markiert den Bruch: Ab diesem Zeitpunkt ist es auch mit der Akustik erst einmal vorbei“93). Während es ein Leichtes sei, sich optisch so zu verändern, dass die Täterschaft unsichtbar bleibt, man Fotos „schönigen“ oder „arrangieren“ und man sich den hasserfüllten Blick über Nacht abgewöhnen könne, sei die menschliche Stimme weniger einfach zu manipulieren: „[S]ie lässt das Ja Ja Ja, das Heil und Sieg und Ja Mein Führer noch auf Jahre durchklingen.“94 Hellsichtiger als es der Figur Karnau womöglich selbst bewusst ist, betont er damit die Kraft der optischen Manipulation, die Macht der Verblendung und die Zweifelhaftigkeit der visuellen Wahrnehmung. Demgegenüber steht die menschliche Stimme für eine untrügliche Wahrheit hinter der Ideologie.

Täterträume in Jonathan Littell: Les Bienveillantes [2006] Der Unterschied zwischen den bislang präsentierten Täterfiguren und Max Aue, dem Protagonisten aus Jonathan Littells Les Bienveillantes, liegt vor allem im Verhältnis des Täters zu sich selbst: Während sich die Täterfiguren in allen anderen Texten durch eklatante Blindheit sich selbst gegenüber, durch Selbstbetrug und durch perfide Selbstrechtfertigungsstrategien auszeichnen, sieht Max Aue 92 Beyer: Flughunde, S. 196. 93 Beyer: Flughunde, S. 202. Ein weiterer Täterroman, der, wie Beyers Flughunde, den Bereich zwischen Täterschaft und Mitläufertum auslotet, tut dies ebenfalls mittels der Opposition zwischen Hören und Sehen. In Ulla Lenzes Roman Der Empfänger, Stuttgart: Klett-Cotta 2020, geht das genaue Hinhören des Protagonisten, eines Funkers, der in den USA als Spion für die Wehrmacht tätig ist, einher mit einem Wegsehen im konkreten wie übertragenen Sinne. 94 Beyer: Flughunde, S. 202.

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sehr genau hin.95 Erin McGlothlin untersucht narratologisch präzise die verschiedenen Modi des Sehens in Littells Roman und erkennt hier eine Entwicklung vom objektiven Blick auf die historiographischen Fakten der Shoah hin zu einem zunehmend halluzinatorischen Sehen, das versucht, hinter das objektive Wissen über die Geschichte des Nationalsozialismus zu blicken.96 Auch die Rede Aues ist extrem selbstinszenierend und selbstbezogen – von den anderen, fast immer mehrstimmig inszenierten Täterromanen unterscheidet ihn nicht zuletzt seine extreme Monologhaftigkeit.97 Allerdings beschönigt Aue nichts, er verschließt weder die Augen vor seiner eigenen Schuld noch rechtfertigt er im Nachhinein explizit den Nationalsozialismus.98 Damit zwingt er auch seine Leserinnen und Leser zu unerbittlichem Hinsehen und zu mancher Einsicht, die diese vielleicht lieber ausgeblendet hätten. Einerseits sieht man sich massiven Manipulationsversuchen durch die erzählende Instanz ausgesetzt, andererseits wird man durch Aues Lebensbeichte dazu genötigt, die eigenen, womöglich vorschnellen Urteile zu Schuld (vor allem der anderen) und vermeintlicher Unschuld (vor allem der eigenen) infrage zu stellen.99 All dies zeigt sich bereits systematisch im ersten, „Toccata“ überschriebenen Kapitel des Romans. Es beginnt mit einer programmatischen Verbrüderung zwischen Erzähler und Leserschaft und nimmt sogleich deren abwehrende Reaktion vorweg: „Frères humains, laissez-moi vous raconter comment ça s’est passé. On n’est pas votre frère, rétorquerez-vous, et on ne veut pas le savoir. Et c’est bien vrai qu’il s’agit d’une sombre histoire, mais édifiante aussi, un véritable conte moral, je vous l’assure.“100 Kein anderer Täterroman verfolgt eine derart konsequente Einbeziehung seiner Leserinnen und Leser in die eigene Erzählung und 95 Erin McGlothlin stellt hierzu fest: „Because of Aue’s refusal to close his eyes to the atrocities that he observes and then later commits, he is thus able to provide for us an account of events in which there were no Jewish survivors in an eyewitness mode.“ McGlothlin: Narrative Perspective, S. 170. 96 McGlothlin: Narrative Perspective, S. 170–173. 97 Susan Rubin Suleiman sieht in der programmatischen Antwort Littells auf die Tatsache, dass „perpetrators never speak. Silence is their essence“ die zentrale Bedeutung der Täterfigur Max Aue. Der erzählerische Kunstgriff, mit dem hier ein historisch äußerst informierter Täter als Beobachter zurückblickt, „lacks plausibility historically, [but] is extremely effective as fiction“. Susan Rubin Suleiman: „When the Perpetrator Becomes a Reliable Witness of the Holocaust. On Jonathan Littell’s Les bienveillantes“, in: New German Critique 36/1 (2009), S. 1–19, hier S. 5 und S. 9. Zu Max Aue als unrealistischer Erzählerfigur vgl. auch Britta Gries, die v. a. die deutschsprachige Kritik zusammenfasst. Gries: Jonathan Littell, S. 295–304. 98 Insofern handelt es sich hier um eine deutlich zuverlässigere Erzählerfigur, als sie etwa die Protagonisten aus Flughunde oder Der Nazi & der Friseur darstellen. Vgl. Susan Rubin Suleiman: When the Perpetrator Becomes a Reliable Witness, S. 1–19, zur Zuverlässigkeit des Erzählers S. 5–11. 99 Zur Strategie, die Distanz zwischen Erzählstimme und Leserschaft so gering wie möglich zu halten, vgl. auch Liran Razinsky: „We Are All the Same. Max Aue, Interpreter of Evil“, in: Yale French Studies 121 (2012), S. 140–154, hier S. 146. 100 Jonathan Littell: Les Bienveillantes, S. 13.

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kein anderer Täterroman ist derart intensiv von in die Handlung integrierten fiktionalen Traumberichten durchzogen.101 Dass beides, Darstellung des Traumerlebens und die Haltung der Lesenden dem Protagonisten gegenüber, auf das Engste zusammenhängen, ist in der Forschung mehrfach betont worden, zumal sich der Wirklichkeitsstatus des Erzählten oftmals nicht eindeutig erschließt. Nicht nur bleibt oft unklar, ob das Dargestellte geträumt oder in der Wachwirklichkeit erlebt wurde,102 auch der Erzähler selbst kann über weite Strecken hinweg nicht zwischen Traum und Wacherleben differenzieren und delegiert das Problem der Unterscheidung damit an seine Leserschaft.103 Aues Träume verweisen auf die Kehrseite der abgeklärten, reflektierten, um Sachlichkeit und Distanz bemühten Figur: Or si l’on suspend le travail, les activités banales, l’agitation de tous les jours, pour se donner avec sérieux à une pensée, il en va tout autrement. Bientôt les choses remontent, en vagues lourdes et noires. La nuit, les rêves se désarticulent, se déploient, prolifèrent, et au réveil laissent une fine couche âcre et humide dans la tête, qui met longtemps à se dissoudre. Pas de malentendu : ce n’est pas de culpabilité, de remords qu’il s’agit ici. Cela aussi existe, sans doute, je ne veux pas le nier, mais je pense que les choses sont autrement complexes. Même un homme que n’a pas fait la guerre, qui n’a pas eu à tuer, subira ce dont je parle.104

Daher zeigt sich gerade in den Träumen des Romans, dies beobachtet auch Edith Perry, ein Bild des Protagonisten, das uns als Lesende immer wieder dazu zwingt, ihn als Opfer einer ideologischen Maschinerie zu sehen und ihn damit ein Stück weit zu entlasten.105 Dies hängt mit zwei Erzählstrategien zusammen: Zum einen verschlingen sich die Traummotive und -themen, so argumentiert Perry weiter, innerhalb dieses Romans zu einem unentwirrbaren Knäuel.106 Zum anderen ähneln sich erzählte Shoah-Träume oftmals aber auch ganz grundsätzlich, unabhängig davon, ob es sich um Täter- oder Opferträume han101 Erin McGlothlin weist der Traumdimension in Littells Roman eine besondere Bedeutung zu. Sie untersucht allerdings weniger die nächtlichen Träume, als vielmehr einige Halluzinationen und Visionen Aues, die sie als eine parodistische Strategie des Autors versteht, den dokumentarischen Charakter seines Romans zu durchbrechen. McGlothlin: Narrative Perspective, S. 173–174. Eine Erwähnung der „oneiric dimension“ von Littells Roman findet sich auch bei Robert Eaglestone: Avoiding Evil in Perpetrator Fiction, S. 20. 102 „Nous ne pouvons être sûrs de rien dans cette histoire“, schreibt Peter Tame in seinem Aufsatz über imaginäre Orte, u. a. auch über die „onirotopies“, in Littells Roman. Peter Tame: „Lieux réels et lieux imaginaires dans Les Bienveillantes“, in: Murielle Lucie Clément: Les Bienveillantes de Jonathan Littell, London: Open Book Publishers 2010, S. 213–230, hier S. 218. 103 Z. B. Littell: Les Bienveillantes, S. 702–703 oder S. 991. 104 Littell: Les Bienveillantes, S. 19. 105 Edith Perry: „Rêves et fantasmes dans Les Bienveillantes“, in: Murielle Lucie Clément: Les Bienveillantes de Jonathan Littell, London: Open Book Publishers 2010, S. 125–139, hier S. 130. 106 Sie verwendet hierfür das Bild einer „pâte onirique“. Perry: Rêves et fantasmes, S. 128.

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delt.107 Solche vom Erzähler bewusst eingesetzte Ähnlichkeiten, Überschneidungen und Verflechtungen gilt es im Folgenden näher in den Blick zu nehmen. Ein in mehrfacher Hinsicht exzessives Erzählen liegt auch in diesem Roman vor: Die Rede des Erzählers über seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg und an der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Osteuropa und anderen ‚Feinden‘ des Nationalsozialismus umfasst 1.359 Seiten; darunter nehmen Beschreibungen der Gewalttaten, extreme sexuelle Erfahrungen und eine geradezu exhibitionistische Zurschaustellung körperlicher Vorgänge, allen voran die eigene Verdauung, umfangreichen Raum ein.108 Kaum ein Täterroman ist derart ausgiebig beforscht und in seiner kontroversen Rezeption so ausführlich rekonstruiert worden wie dieses 2006 erstmals auf Französisch erschienene Werk, das mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichnet wurde.109 In seinem grundlegenden Essay über die Identifikations- und Projektionsprozesse der Leser hinsichtlich der erzählenden Täterfigur Max Aue zeigt Martin von Koppenfels, inwiefern die polemisch verlaufende Auseinandersetzung mit Littells Roman vor allem Identifikationsangst bedeutet; nämlich „Angst vor der Macht literarischer Identifizierung  – die Sorge, dass sie im lesenden Subjekt, unterhalb seiner bewussten Kontrolle, etwas anrichten könnte, was dem Subjekt auf Dauer leidtut“.110 Denn Les Bienveillantes stellt die fiktiven Memoiren eines SS-Offiziers dar, der durch emotionale Kälte, Pflichtbewusstsein und Prinzipientreue charakterisiert ist und der (u. a. deshalb) auch immer wieder in kritische Distanz zum berichteten Geschehen tritt. Seine eigene Schuld benennt er durchaus klar, ohne allerdings Reue über seine Beteiligung an den Gräueltaten zu empfinden. Seine Karriere durchläuft zahlreiche für den Zweiten Weltkrieg 107 Perry: Rêves et fantasmes, S. 130. 108 Charlotte Lacoste sieht in dieser Hinsicht Robert Antelmes L’espèce humaine als einen wichtigen Intertext an. Charlotte Lacoste: Séductions du bourreau. Négation des victimes, Paris: Presses universitaires de France 2010, S. 174. Auch David Roussets marxistische Analyse des Konzentrationslagers von 1946, L’univers concentrationnaire, sei eine intertextuelle Strategie, sich die Opfer zu Verbündeten des Erzählens zu machen. Lacoste: Séductions, S. 174. 109 So gewann er beispielsweise den Prix Goncourt und den Grand Prix du Roman de l’Académie Française. Robert Eaglestone spricht in diesem Zusammenhang von einem: „dense, highly researched masterpiece“ und führt weiter aus: „The book  […] has generated an academic mini-industry since its publication.“ Robert Eaglestone: „Avoiding Evil in Perpetrator Fiction“, in: Jenni Adams/Sue Vice (Hrsg): Representing Perpetrators in Holocaust Literature and Film, London: Vallentine Mitchell 2013, S. 13–26, hier S. 19–20. 110 Martin von Koppenfels: Schwarzer Peter. Der Fall Littell, die Leser und die Täter, Göttingen: Wallstein 2012, S. 14–19. Fundamental ist der Essay deshalb, weil es dem Verfasser mit seiner Littell-Lektüre um eine Auseinandersetzung mit den grundsätzlichen Aufgaben von Kultur und Literatur geht. Im Modus des Literarischen lassen sich ihm zufolge Einsichten zutage fördern, die sich aus der alltäglichen Interaktion nicht gewinnen lassen. Das Potenzial literarischer Fiktion sieht er u. a. in der „Regulierung von Identifizierungen“; einem phantasmatischen Vorgang, der an psychischen Realitäten ansetzt und sich der bewussten Kontrolle entzieht. Koppenfels: Schwarzer Peter, S. 22.

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und die Shoah einschlägige Stationen an entscheidenden Schauplätzen wie Berlin, Stalingrad, Babi Yar und Auschwitz, wo er mit den bekanntesten NS-Tätern zusammentrifft (u. a. zahlreichen Persönlichkeiten, die auch in den Romanen von Martin Amis, Olivier Guez und Daša Drndić vorkommen). Gegen Ende seines Lebens sieht er sich mit der abgrundtiefen Leere und Sinnlosigkeit seiner eigenen Existenz konfrontiert. Die rückblickende, von zahlreichen Anachronien durchzogene Rekonstruktion der öffentlichen Laufbahn wird kombiniert bzw. kontrastiert mit der privaten Lebensgeschichte Aues, der als promovierter Jurist und Kulturliebhaber nicht nur seine Gedanken zu historischer individueller wie kollektiver Schuld präsentiert – als brillanter Rhetoriker nutzt Aue seine umfassende Bildung zur geschickten Selbstverteidigung –, sondern zudem Einblicke in all jene Lebensumstände liefert, die seine Persönlichkeit geprägt haben. Hierzu zählen der Hass auf seine Mutter und seinen französischen Stiefvater, die er offensichtlich beide ermordet hat, die inzestuöse Beziehung zu seiner Zwillingsschwester, seine, so wird insinuiert, daraus entstandene Homosexualität, eine generelle Überheblichkeit und Empathielosigkeit seinen Mitmenschen, besonders Frauen gegenüber, wiederkehrende Alpträume und seine an Arroganz grenzende Kulturbeflissenheit. Letztere motiviert auf der Handlungsebene die ausgeprägte (und bereits gut erforschte) intertextuelle Dimension des Romans, der selbst wie eine barocke Suite konstruiert ist und zahlreiche musikalische Referenzen aufweist. Die intertextuelle Dimension speist sich nicht nur, wie der Titel bereits deutlich macht, aus der antiken Mythologie und zahlreichen Werken der europäischen Literatur, sondern auch aus anderen (historisch belegbaren) Tätererzählungen sowie der einschlägigen Forschung zur NS-Täterschaft.111 Somit haben wir es auch hier mit einem ausgesprochen gut informierten, auf sehr intensiven Recherchen basierenden Roman zu tun, dessen historische Fakten von Aue vorrangig aus einer beobachtenden Position heraus berichtet werden. Zudem betrachtet Aue seine eigene Persönlichkeit auf selbstentlarvende und mitunter selbstentwaffnende Weise. Darüber hinaus scheint der Erzähler aber auch uns selbst zu beobachten. Sein Gestus der ständigen Ansprache entlässt uns nicht aus seiner Erzählung, er zwingt uns vielmehr zur Identifikation. Wir 111 Vgl. Hannah Arendts Diktum von der Banalität des Bösen, das, zumindest indirekt, als Gemeinplatz kritisiert wird. Littell: Les Bienveillantes, S. 843–844. Aue weist Arendts Begriff von der „Banalität des Bösen“ in seiner Einschätzung von Eichmann auch direkt zurück: „il n’était pas non plus une incarnation du mal banal“, „C’était un bureaucrate de grand talent, extrêmement compétent dans ses fonctions“. Littell: Les Bienveillantes, S. 813–814. Weitere Intertexte sind Hans Frank: Im Angesicht des Galgens (Littell: Les Bienveillantes, S. 15), Zitate von Paul Carl Schmidt (Littell: Les Bienveillantes, S. 26–27) und Daniel Jonah Goldhagen Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York: Alfred Knopf 1996 sowie die durch sein Buch ausgelöste Debatte, auf die z.  B. in Littell: Les Bienveillantes, S. 38–39 und S. 81–82 angespielt wird.

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fühlen uns entlarvt, indem Aue unsere Gefühle vorwegnimmt, unsere Abwehr dem Abjekten gegenüber in die eigene Argumentation einkalkuliert, mit unserem Bedürfnis nach Abspaltung und Projektion der Schuld spielt. Repräsentativ hierfür ist die im ersten Kapitel angestellte Reflexion über Schuld im juristischen, philosophischen und moralischen Sinne. In diesem Zusammenhang stellt er auch Vergleiche zwischen Tätern unterschiedlicher historischer und politischer Kontexte, etwa von Nazitätern mit den französischen Soldaten im Algerienkrieg an – eine postkoloniale Dimension, die auch bei Romain Gary und bei André Schwarz-Bart (Kapitel XI und VIII) aufscheint. Solche Reflexionen münden in eine ausgesprochen differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Facetten von Täterschaft und (Mit-)Schuld und nähern schließlich durch die Kategorien des Zufalls und der Menschlichkeit die Täter den Opfern an: La guerre totale, c’est cela aussi : le civil, ça n’existe plus, et entre l’enfant juif gazé ou fusillé et l’enfant allemand mort sous les bombes incendiaires, il n’y a qu’une différence de moyens ; ces deux morts étaient également vaines […]. Je suis coupable, vous ne l’êtes pas, c’est bien. […] Je pense qu’il m’est permis de conclure comme un fait établi par l’histoire moderne que tout le monde, ou presque, dans un ensemble de circonstances donné, fait ce qu’on lui dit ; et, excusez-moi, il y a peu de chances pour que vous soyez l’exception, pas plus que moi. […] On se plaît à opposer l’État, totalitaire ou non, à l’homme ordinaire […]. Mais on oublie alors que l’État est composé d’hommes, tous plus ou moins ordinaires, chacun avec […] la série de hasards qui ont fait qu’un jour il s’est retrouvé du bon côté du fusil ou de la feuille de papier alors que d’autres se retrouvaient du mauvais. […] Ce parcours fait très rarement l’objet d’un choix, voire d’une prédisposition. Les victimes, dans la vaste majorité des cas, non pas plus été torturées ou tuées parce qu’elles étaient bonnes que leurs bourreaux ne les ont tourmentées parce qu’ils étaient méchants. Il serait un peu naïf de le croire.112

Diese Annäherung zwischen Täter und Opfer führt letztlich zu einer noch dezidierteren Gleichsetzung von Täterfigur und Leserin bzw. Leser. Die Erkenntnisse und Reflexionen des Erzählers, mit denen unsere Sicherheit in Zweifel gezogen wird, dass wir uns auf der Seite der „Guten“ verorten können, sind ebenso erhellend wie bestechend: Mais je ne pense pas être un démon. Pour ce que j’ai fait, il y avait toujours des raisons, bonnes ou mauvaises, je ne sais pas, en tout cas des raisons humaines. Ceux qui tuent sont des hommes, comme ceux qui sont tués, c’est cela qui est terrible. Vous ne pouvez jamais dire : Je ne tuerais point, c’est impossible, tout au plus pouvez-vous dire : J’espère ne point tuer. […] Je vis, je fais ce qui est possible,

112 Littell: Les Bienveillantes, S. 34–38.

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il en est ainsi de tout le monde, je suis un homme comme les autres, je suis un homme comme vous.113

Erzähltechnisch zeichnet sich Littells Roman durch eine programmatische Kombination aus: Er wechselt sachlich-distanzierte Erzählerrede über das faktisch Geschehene und Beobachtete mit innerem Erleben ab, mit Träumen, Phantasien und Halluzinationen. In einem Gespräch mit Pierre Nora äußert sich Littell dazu folgendermaßen: „Moi, j’essaye de serrer, de maintenir un point d’ancrage beaucoup plus fort pour tous les aspects qui révèlent des autres niveaux de réalité – le fantasmatique, l’onirique, le tragique – sur la strate historique à laquelle je colle de très près.“114 Traumberichte, Träume als Referenzgröße zur Einschätzung des Erlebten („comme d’un rêve qui ne laisse le matin que des traces vagues et aigres“115) und Erfahrungen, die, meist im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen, zwischen Traum, Phantasie und Halluzination oszillieren,116 durchziehen den gesamten Roman. Selbst wenn man allein die eindeutig als Traumerlebnisse markierten und als solche gerahmten Berichte betrachtet, so zeigt sich ein ausgesprochen breites Spektrum an Themen, Motiven und Traumtypen, die in entsprechend unterschiedlichem Sprachduktus wiedergegeben werden. Mitunter wird der Zusammenhang zum Tagesgeschehen vom Erzähler selbst reflektiert und damit eine Einbettung in die Handlung der Wachwelt vorgenommen (etwa „La nuit, l’inquiétude déteignait sur mon sommeil et infectait mes rêves“117). In anderen Fällen bleibt der Bezug zur Wachwirklichkeit jedoch unklar und von der erzählenden Instanz gänzlich unberücksichtigt.118 Insgesamt lassen sich vorrangig zwei Gruppen von Träumen erkennen, die sich vor allem im Hinblick auf die Distanz des Träumers zum berichteten Geschehen unterscheiden: Auf der einen Seiten finden sich allegorische Träume, die Einsichten oder Erkenntnisse vermitteln, indem sie den Träumenden in eine unbekannte, märchenhaft oder anderweitig irreal anmutende Welt versetzen.119 113 Littell: Les Bienveillantes, S. 43. 114 Jonathan Littell und Pierre Nora: „Conversation sur l’histoire et le roman“, in: Le débat 144/2 (2007), S. 25–44, hier S. 40. 115 Littell: Les Bienveillantes, S. 490, vgl. auch ganz ähnlich S. 848 und S. 1103. 116 So vollzieht sich etwa die brutale sexuelle Vereinigung mit der Zwillingsschwester als „souvenir ou image ou fantaisie ou rêve“ (Littell: Les Bienveillantes, S. 703) oder eine andere sexuelle Begegnung als Vermischung von „Träumen oder Gedanken“ (Littell: Les Bienveillantes, S. 1136). 117 Littell: Les Bienveillantes, S. 170. 118 Beispielsweise Littell: Les Bienveillantes, S. 165–166. 119 Vgl. auch „cette nuit-là dans ma fièvre […] stimulée par ce rêve où l’humanité succombait à un autre organisme dont la puissance de vie était plus grande que la sienne, et je comprenais bien entendu que cette règle valait pour tous, que si d’autres se révélaient plus forts que nous ils nous feraient à leur tour ce que nous avions fait à d’autres, et que devant ces poussées les frêles barrières qu’érigent les hommes pour tenter de réguler la vie commune, lois, justice, morale, éthique, comptent peu“. Littell: Les Bienveillantes, S. 1156.

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So erscheint dem Träumer etwa in wiederkehrenden nächtlichen Bildern das Lager, welches aus der Distanz in seinen ökonomischen Abläufen und seiner funktionierenden Sterilität als vollkommene Ordnung wahrgenommen wird, „une métaphore […] de la vie de tous les jours“.120 Auf der anderen Seite haben wir es mit Träumen zu tun, in denen der Erzähler sich innerhalb eines realistischen und dann zunehmend grotesker werdenden Szenarios bewegt, in dem er unmittelbar sinnlich und leiblich affiziert wird.121 Um Shoah-Träume handelt es sich in beiden Kategorien. Viele von ihnen sind wiederkehrende Träume, die Aue mehrfach in identischer oder leicht abgewandelter Form heimsuchen (vgl. „Une séquence en particulier se répétait et s’amplifiait de nuit en nuit“122). Diejenigen der ersten Gruppe werden überwiegend als positiv erlebt, die anderen bringen „comme en transparence des choses enfouies, innommables“ zum Ausdruck123 und schwemmen in der Wachwelt Kontrolliertes oder Verdrängtes an die Oberfläche, „comme de longs courants sous-marins qui remuaient la vase des profondeurs“124 oder „en vagues lourdes et noires“.125 Edith Perry nimmt eine andere Einteilung der Littell’schen Traumdarstelllungen vor, die zu den angeführten Traumtypen allerdings nicht unbedingt im Widerspruch steht: Sie unterscheidet zwischen „rêves de métro“, die ihrer Ansicht nach auf das zunehmende Chaos des Militärs und die grenzensprengende Ideologie des ‚Dritten Reiches‘ verweisen, den „rêves de souillure“ über Exkremente und andere Szenarien der Verschmutzung, die für den faschistischen Körper als Zerstörungsmaschine stehen, sowie Träumen, die den historischen Kontext integrieren.126 Dass die beiden letztgenannten Kategorien in unmittelbarem Zusammenhang gesehen werden können, sollen die folgenden Überlegungen deutlich machen. Eine vom Autor sicherlich nicht zufällig kalkulierte Nähe zwischen der traumhaften Wahrnehmung von Tätern und Opfern lässt sich bereits anhand der Motivik erkennen. Auch bei Littell finden sich immer wieder Träume von Zügen, die uns besonders eindrücklich bereits in den Traumerzählungen von Primo Levi, Jorge Semprún, Charlotte Delbo und Anna Langfus und Günter Eich begegnet waren (vgl. Kapitel IV und VI).127 Dass Traumgestalten etwa als „grob geschnitzte und nachlässig bemalte Marionetten“ erscheinen, ruft die naheliegende Assoziation an Lagerhäftlinge hervor, die entweder von den Tätern als „Figuren“ bezeichnet werden (wie bei Schwarz-Bart) oder von den KZ-Insassen 120 121 122 123 124 125 126

Littell: Les Bienveillantes, S. 888. Beispielsweise Littell: Les Bienveillantes, S. 239–240 und S. 1153. Littell: Les Bienveillantes, S. 886. Littell: Les Bienveillantes, S. 295. Littell: Les Bienveillantes, S. 261. Littell: Les Bienveillantes, S. 19. Perry: Rêves et fantasmes, S. 128. Anhand dieser Systematik werden einzelne Träume aus Les Bienveillantes im Laufe ihrer Argumentation beispielhaft interpretiert. 127 Etwa Littell: Les Bienveillantes, S. 239–240 und S. 278.

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selbst als marionettenhaft beschrieben werden, wie dies in Delbos Auschwitz et après der Fall ist. Aber auch sehr viel eindeutigere Referenzen auf die Shoah finden sich, die von einer verunsicherten Position des Träumers zwischen Täter und Opfer, zwischen Macht und Ohnmacht zeugen. Hierzu zählen etwa die Angst des träumenden Ich vor historischen Täterpersönlichkeiten wie Heinrich Himmler oder Rudolf Höß,128 ein Träumer, der der Vernichtung seiner Bücher beiwohnt und des eigenen Hauses verwiesen wird, weil alle Plätze bereits besetzt und die Ausgänge verschlossen sind,129 oder die Angst-Lust, die der Erzähler im Traum angesichts der industriellen Vernichtung von KZ-Häftlingen empfindet, „irrésistiblement attiré par les crématoriums qui vomissaient dans le ciel des volutes de fumée et des nuées d’étincelles, … like a dog, both attracted and repell’d/By the stench of his own kind/Burning“.130 Versteht man die Träume, wie der Erzähler dies offensichtlich selbst tut, als die dunklen, schmutzigen Anteile der Persönlichkeit, welche der SS-Offizier sich tagsüber so weit wie möglich vom Leib halten muss, um dem Bild des soldatisch gepanzerten Faschisten zu entsprechen, so gewinnen sie ihre Funktion innerhalb des Romans als nächtliche Heimsuchungen des Abgespaltenen. Klaus Theweleit, dessen Studien Littells Roman deutlich geprägt haben,131 hat ausführlich nachgewiesen, wie die Konstitution des faschistisch-männlichen Selbst, das sich den eigenen Schmerz abtrainiert hat, durch eine massive Projektion alles Flüssigen, Schmutzigen, Amorphen und Abjekten nach außen entsteht.132 Der durch Drill und Gewalt gepanzerte, stramme und unterkühlte Mann wird von einer ständigen Angst vor einer mit Weiblichkeit und Unordnung assoziierten Schwäche heimgesucht, die er in sich selbst abtöten muss bzw. nur in der gewalttätigen Erniedrigung oder Vernichtung des Anderen bändigen kann. Zahlreiche Träume von Max Aue lassen sich vergleichsweise eindeutig – ja mitunter geradezu schematisch – als „Männerphantasien“ im Sinne Theweleits lesen. Die „Unruhe“, die zu spüren in der soldatischen Wachwirklichkeit keinen Platz hat, färbt auf das Traumerleben ab, „elle infectait [s]es rêves“133 wie ein ansteckendes Virus, das durch den Männerpanzer tagsüber erfolgreich in Schach gehalten wird. Auf der einen Seite spielt die Sehnsucht nach Reinheit 128 Littell: Les Bienveillantes, S. 1135. Beide sind selbst ja die Protagonisten zweier weiterer bedeutsamer Täterromane, nämlich eines sehr aktuellen und eines besonders frühen Textes: Laurent Binet: HHhH, Paris: Grasset 2010 und Robert Merle: La mort est mon métier, Paris: Gallimard 1952. 129 Littell: Les Bienveillantes, S. 165–166. 130 Littell: Les Bienveillantes, S. 897. 131 Vgl. die Rekonstruktion von Klaus Theweleit: „Der belgische Hitler-Sohn und der deutsche Überleib“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 97 vom 25. April 2008, S. 40. 132 Klaus Theweleit: Männerphantasien, 2  Bde., Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1977. 133 Littell: Les Bienveillantes, S. 170.

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und Ordnung eine zentrale Rolle; der Traum vom KZ, „fonctionnant parfaitement […], avec toute la rigidité de son organisation, la violence absurde, la hiérarchie méticuleuse“, kann hierfür als sinnfälligstes Beispiel gelten.134 Auf der anderen Seite bricht sich eben das im Wachleben auf Distanz gehaltene, flüssig sich ausbreitende Schmutzige in Form gewaltsamer, sexueller und skatologischer Trauminhalte ungehindert Bahn: als „blutüberströmte Masse“, „blutige Masse“, „ein Brei von Blut und Kot“,135 als die Körpergrenzen zwischen onanierenden Tätergestalten und träumendem Ich überschwemmendes Sperma, als sich massenhaft ausbreitende Exkremente, in denen der Träumer zu ersticken droht und deren unerträglicher Gestank Erbrechen auslöst.136 Solche Traumerlebnisse gehen mit regelrecht klischeehaften, ebenfalls von Theweleit an umfangreichem Material herausgearbeiteten Frauenbildern einher. Während die Mutter für Max Aue eine Hassfigur darstellt, sieht er in der Zwillingsschwester oder anderen Frauengestalten immer wieder die Heilige bzw. die, wie Theweleit es formuliert, begehrte „weiße Krankenschwester“,137 die plötzlich in ihr Gegenteil, die sexbesessene Hure, umkippen kann, derer man sich mit Gewalt erwehren muss, um die Undurchdringlichkeit des eigenen Körpers aufrechtzuerhalten. Beide Frauentypen finden sich etwa im Traum vom verwehrten Platz im eigenen Haus, dem eine sadomasochistische Kindheitserinnerung vorausgeht.138 Nach der erfolgreichen Abwehr einer liebeshungrigen Frau sperrt sich der Träumer in der Toilette ein. Die Fortsetzung des Traumes, die vier Seiten später folgt, nachdem Aue die Gräueltaten der Wehrmacht in Kiew ausführlich beschrieben hat, ist eine einzige, sich über viele Sätze und eine halbe Seite erstreckende Darmentleerung, die in ihrer ekelerregenden Wirkung auf das träumende Ich mit sämtlichen Details der sinnlichen Wahrnehmung dargestellt wird. Ein späterer Traum von der Zwillingsschwester verknüpft geradezu programmatisch die Motive des Weißen, Unbefleckten mit Brechreiz auslösenden Fäkalien: Enfin je sombrai dans le sommeil, mais le malaise se prolongeait, teintait mes rêves de couleurs affreuses. Dans une chambre sombre, je voyais une grande et belle femme en longue robe blanche, peut-être une robe de mariée, je ne pouvais 134 Littell: Les Bienveillantes, S. 888. 135 Klaus Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1, S. 209, S. 228 u. v. a. 136 Brei und Exkremente finden sich im Übrigen auch in Amis’ The Zone of Interest, dem Roman, der im folgenden Abschnitt behandelt wird. Allerdings sind sie dort nicht Teil eines Traums, sondern der Überlegungen Paul Dolls in Bezug auf ein Massengrab: „Ach, why all der Dreck, der Sumpf, der Schleim? Why do we turn the snow brown? Why do we do that? Make the snow look like the shit of angels“ (Martin Amis: The Zone of Interest, London: Vintage 2014, S. 222). 137 Theweleit: Männerphantasien, Bd. 1, S. 121. 138 Littell: Les Bienveillantes, S. 165–166.

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distinguer ses traits mais c’était de toute évidence ma sœur, elle était prostrée au sol, sur la moquette, en proie à des convulsions et des diarrhées incontrôlables. De la merde noire suintait à travers sa robe, l’intérieur devait en être rempli. […] je me disais que ce devait être leur nuit de noces). Revenant dans la chambre, von Üxküll ordonnait au garçon […] afin de la porter dans la salle de bains pour la déshabiller et la laver. […] il paraissait indifférent aux odeurs immondes qui émanaient d’elle et me prenaient la gorge […].139

Nachdem Aue von dem im Traum empfundenen Brechreiz erwacht, geht er nach draußen und erinnert sich auf seinem Spaziergang an die Sage von Vineta, welche ihm die Zwillingsschwester einmal erzählt hatte. Nicht von ungefähr handelt sie von dem maßlosen sexuellen Verlangen einer Prinzessin, die das vom Vater sorgsam errichtete Tor öffnet, um das Meer in die Stadt eindringen und sich von ihm befriedigen zu lassen. Hierauf folgt ein erinnertes Gespräch zwischen Max und seiner Schwester Una über männliche und weibliche Sexualität und die These, dass die Ordnung der Stadt mit dem unersättlichen Begehren von Frauen unvereinbar sei und daher männlichem Maß und männlicher Moral zuwiderlaufe.140 Direkt anschließend erinnert sich Max wieder an den Traum der mit Exkrementen befleckten Schwester. Aue führt ihn unvermittelt zusammen mit seinen realen Beobachtungen bei der Evakuierung von Auschwitz, bevor diese grauenerregenden Bilder mit einer paradoxen, verstörenden Überblendung von weiblicher Reinheit, demütigender Qual der KZ-Opfer und skatologischer Lust beendet werden: Je songeais au rêve affreux de la nuit, j’essayais de m’imaginer ma sœur les jambes couvertes d’une diarrhée liquide, collante, à la puanteur abominablement douce. Les évacuées décharnées d’Auschwitz, blotties sous leurs couvertures, avaient, elles aussi, les jambes couvertes de merde, leurs jambes semblables à des bâtons ; celles qui s’arrêtaient pour déféquer étaient exécutées, elles étaient obligées de chier en marchant, comme les chevaux. Une couverte de merde aurait été encore plus belle, solaire et pure sous cette fange qui ne l’aurait pas touchée, qui aurait été incapable de la souiller. Entre ses jambes maculées, je me serais blotti comme un nourrisson affamé de lait et d’amour, désemparé. Ces pensées me ravageaient la tête, impossible de les en chasser, je peinais à respirer et ne comprenais pas ce qui m’envahissait si brutalement.141

In einem anderen Traum nimmt der Träumer tatsächlich die Rolle eines gefährdeten Juden ein und tritt so buchstäblich in eine körperliche Verbindung zwischen Täter und Opfer: Von Heinrich Himmler an die Hand genommen, fühlt er sich selbst, der inzwischen zum Juden geworden ist, beschützt, ja er könnte als

139 Littell: Les Bienveillantes, S. 1249–1150. 140 Littell: Les Bienveillantes, S. 1253. 141 Littell: Les Bienveillantes, S. 1253–1254.

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„le Judelein, le petit juif que je suis“, „même ressentir de l’amour pour cet homme étrange“.142 Einen letzten Traum aus Les Bienveillantes gilt es noch hervorzuheben, weil hier die körperlichen Grenzüberschreitungen zwischen Täter und Opfer besonders deutlich zum Vorschein kommen und in gesteigertem Maße als sinnlichleibliche Erfahrung erlebt werden. In ganz wörtlichem Sinne wird das träumende Täter-Ich von seinem Opfer – und, so legt es der Traumbericht nahe, von seinem „reinen Wissen“ – affiziert; nämlich in Brand gesteckt und vernichtet: […] mais mon sommeil était alors traversé de rêves lourds, pénibles […] Je dois noter que je retournais régulièrement assister aux exécutions, personne ne l’exigeait, j’y allais de mon propre chef. […] Dans le grand parc enneigé, derrière la statue de Chevtchenko, on menait une jeune partisane à la potence. Une foule d’Allemands se rassemblait  : des Landser de la Wehrmacht  […], mais aussi des hommes de l’organisation Todt […]. C’était une jeune fille assez maigre, au visage touché par l’hystérie, encadré de lourds cheveux noirs coupés courts, très grossièrement, comme au sécateur. Un officier lui lia les mains, la plaça sous la potence et lui mit la corde au cou. Alors les soldats et les officiers présents défilèrent devant elle et l’embrassèrent l’un après l’autre sur la bouche. Elle restait muette et gardait les yeux ouverts. […] Lorsque vint mon tour, elle me regarda, un regard clair et lumineux, lavé de tout, et je vis qu’elle, elle comprenait tout, savait tout, et devant ce savoir si pur j’éclatai en flammes. Mes vêtements crépitaient, la peau de mon ventre se fendait, la graisse grésillait, le feu rugissait dans mes orbites et ma bouche et nettoyait l’intérieur de mon crâne. L’embrasement était si intense qu’elle dut détourner la tête. Je me calcinai, mes restes se transformaient en statue de sel ; vite refroidis, des morceaux se détachaient, d’abord une épaule, puis une main, puis la moitié de la tête. Enfin je m’effondrai entièrement à ses pieds et le vent balaya ce tas de sel et le dispersa. […] Des jours durant je réfléchis à cette scène étrange ; mais ma réflexion se dressait devant moi comme un miroir, et ne me renvoyait jamais que ma propre image, inversée certes, mais fidèle.143

In diesem Shoah-Traum wird das Verbranntwerden aus der Perspektive des Opfers erlebt, dessen Überreste in alle Winde verstreut werden. Die Wahrnehmung wird dabei anaphorisch als Kombination aus Fühlen und Hören geschildert: Kleidung verbrennt knisternd, die Haut platzt, das Fett brutzelt, das Feuer faucht. Darüber hinaus fällt insbesondere die kontrastive Gestaltung von Sehen und Gesehenwerden auf. Die Täter beobachten schaulustig ihr Opfer; doch auch die zum Tode Verurteilte selbst hat die Augen weit geöffnet, einen klaren, leuchtenden Blick, der explizit mit Reinheit und Wissen in Verbindung gebracht wird. In dem Moment, in dem das Wissen auf das Traum-Ich überspringt, geht es in Flammen auf. Wie sich im Alten Testament Lots Frau nicht an das Blickverbot hält, erstarrt auch hier eine Figur zur Salzsäule, weil sie zu viel gesehen hat 142 Littell: Les Bienveillantes, S. 1135–1136. 143 Littell: Les Bienveillantes, S. 261–263.

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(Gen  19,1–29). Während in der biblischen Geschichte allerdings Sehende und Salzsäule dieselben sind, findet im Traum eine Aufspaltung von Subjekt und Objekt statt. Ist die Partisanin zunächst Objekt der Täter, wird sie in der zweiten Traumhälfte zum sehenden Subjekt, welches das Objekt seines Blicks in eine Salzsäule verwandelt, die wiederum gänzlich zu ihren Füßen zusammenfällt. Und dennoch scheint auch der Träumer für einen Moment in seinem Opfer etwas gesehen zu haben, was er nicht zulassen bzw. was er einzig im Traum zulassen kann. Erin McGlothlin bezeichnet den „discourse of dreams, hallucinations“ in Littells Roman daher als den Ausdruck von „repressed knowledge“.144 Versucht Aue sich im Wachzustand daran zu erinnern, sieht der Protagonist allerdings stets nur sich selbst; ein naturgetreues, aber seitenverkehrtes Abbild, das ihm den Blick verstellt. Die eigenen Gedanken werden zum Spiegel des monologisierenden Protagonisten, hinter den er nicht schauen kann.

Täterträume in Martin Amis: The Zone of Interest [2014] Die Spiegelmetapher bildet auch eine Art Leitmotiv in Martin Amis’ Roman The Zone of Interest von 2014. Der Spiegel wird hier zum Bild für den Versuch der Selbsttäuschung und eine erzwungene Selbsterkenntnis der Täter. Das Lager sei wie ein Spiegel, der demjenigen, dem er vorgehalten wird, sein wahres Selbst zeige, sagt Szmul Zacharias, als Sonderkommandoführer in Auschwitz eine der drei Erzählerstimmen des Romans.145 Während man außerhalb des Lagers den Blick abwenden könne, sich also nicht selbst in die Augen sehen müsse, zwinge das Lager zum Hinsehen.146 Über die Augen der Täterfiguren und der KZ-Insassen denken die Figuren des Romans entsprechend intensiv nach.147 Da Szmul in seiner Position als Sonderkommandoführer tragischerweise zugleich Opfer und Täter ist – zum tausendfachen Mord gezwungen, wird er seinerseits durch das Regime entmenschlicht und steht kurz vor der eigenen Ermordung –, sieht er sich seiner eigenen Würde doppelt beraubt. Während die anderen Täterfiguren des Romans das Grauen in Auschwitz entweder gänzlich abgestumpft und gefühlskalt oder geradezu voyeuristisch wahrnehmen, dabei aber vollständig blind für sich selbst sind, sieht Szmul sich und seine Lage sehr klar. Allerdings 144 McGlothlin: Narrative Perspective, S. 171. 145 Martin Amis: The Zone of Interest, London: Vintage 2014, S. 33. 146 „I find that the KZ is that mirror. The KZ is that mirror, but with one difference. You can’t turn away.“ Amis: The Zone, S. 33, vgl. auch S. 68. 147 U. a. Amis: The Zone, S. 63, S. 80–88 und S. 296–297.

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kann er sich vor Scham weder selbst in die Augen sehen, noch sich im Blick der anderen Häftlinge spiegeln. Daher senken er und seine Kameraden des Sonderkommandos stets den Blick, wenn sie sich begegnen.148 Der Sehsinn ist in diesem Roman für die Figuren also mit Verstellung oder Vermeidung der Wahrheit verbunden. Demgegenüber wird ein anderer Sinneseindruck zum untrüglichen Indikator für die ‚Echtheit‘ und Unausweichlichkeit des Lagergrauens: Der Geruchssinn kann von der Wirklichkeit nicht abgeschottet werden. Der unerträgliche Gestank in Auschwitz, vor allem derjenige der Krematorien und des gärenden Massengrabs, das auch das Grundwasser in der weiteren Umgebung verpestet, bildet ein weiteres Leitmotiv des Textes. Er überschreitet sämtliche Grenzen, dringt ins Innere der Figuren ein und konfrontiert sie mit dem, wovor sie die Augen verschließen.149 In The Zone of Interest berichten neben Szmul auch zwei sehr viel eindeutigere Täterfiguren von ihrem Alltag im KZ: der SS-Obersturmbannführer Golo Thomsen, Neffe des NSDAP-Funktionärs Martin Bormann, und Paul Doll, Lagerkommandant von Auschwitz.150 Wie bei Marcel Beyer haben wir es auch hier mit einem Geschehen zu tun, das in alternierender Fokalisierung wiedergegeben wird und damit die Erzählerfiguren als gleichermaßen selbstbezogen wie unzuverlässig entlarvt. Während der selbst dem Tod geweihte Szmul versucht, trotz der auf sich geladenen Schuld seinen kaum vorhandenen Spielraum an Menschlichkeit zu nutzen,151 bringen die Stimmen der anderen beiden Figuren ein zynisch-perverses Täterbewusstsein zum Ausdruck. Zwar lässt die Rede von 148 „The eyes. When you start out in the detail, you think, ‚It’s me, it’s just me. I keep my head dropped or averted because I don’t want anyone to see my eyes.‘ Then after a time you realize that all the Sonders do it: they try to hide their eyes. And who would have guessed how foundationally necessary it is, in human dealings, to see the eyes? Yes. But the eyes are the windows to the soul, and when the soul is gone the eyes too are untenanted.“ Amis: The Zone, S. 80–81. 149 Für den Lagerkommandanten Paul Doll erscheint der immer stärker werdende Geruch so unmittelbar, als erlebe er ihn ihm Traum: „I kept pulling over and sticking my head out of the window and taking a sniff. It was as bad as I’ve ever known it, and it just got worse and worse and worse … I felt as if I were in one of those cloacal dreams that all of us have from time to time – you know, where you seem to turn into a frothing geyser of hot filth, like a stupendous oil strike, and it just keeps on coming and coming and piling up everywhere no matter what you try and do.“ Amis: The Zone, S. 112 ; vgl. u. a. S. 298. 150 Hier findet sich eine auffällige Parallele zu Robert Merles La mort est mon métier, einer der ersten dezidierten Täterromane von 1957. Er ist ebenfalls aus der Innenperspektive des Kommandanten von Auschwitz erzählt und hat das Tagebuch von Rudolf Höß als Vorlage. Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß. Herausgegeben von Martin Broszat, München: dtv 1998. 151 Zudem will er den eigenen Tod hinauszögern, um die Chancen auf spätere Zeugenschaft zu erhöhen. Er beteiligt sich, wie man am Schuss des Romans erfährt, am historischen Aufstand der Sonderkommandos um Salmen Gradowski/Chaim Zalman Gradowski und ist einer der Verfasser der „rouleaux d’Auschwitz“, der seine Notizen in einer Thermoskanne für die Nachwelt vergräbt.

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Golo Thomsen durchaus Distanz dem Regime gegenüber erkennen. Mehrere Passagen des Romans machen deutlich, dass er das nationalsozialistische Projekt der Judenvernichtung infrage stellt und im Laufe des Geschehens sogar die Buna-Werke sabotiert. Arroganz, Selbstbezogenheit, Empathielosigkeit und die ausschließliche Fixierung auf seine Liebesaffären stehen in seiner Erzählung jedoch deutlich im Vordergrund. Paul Doll wird ihm gegenüber als überaus schwache, regelrecht verrottete Figur gezeichnet: Von Sadismus, Zynismus, Machtgier und Narzissmus getrieben, reibt er sich als KZ-Kommandant an den vielseitigen Anforderungen auf, wird medikamenten- und alkoholabhängig und ringt, zunehmend wahnsinnig, mit jämmerlichen Mitteln um sein bereits ruiniertes Ansehen. Zentrales Konstruktionsprinzip des Romans ist die stete Kontrastierung dieser Perspektiven und damit die provozierende Konfrontation der individuellen, oberflächlichen und egozentrischen Belange der Täter mit ihrer professionellen Verwicklung in das Lagersystem. Die Schnittstelle zwischen der privaten und der öffentlichen Welt des KZ bilden Korruption und Erpressung, sadistische Gewaltausbrüche, Nachstellungen und Vergewaltigungen sowie die Sicherung der eigenen Machtposition innerhalb der Lagerhierarchie. Kein Text aus dem Korpus der Täterromane setzt damit derart konsequent Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ um, der zufolge die Täterschaft im Nationalsozialismus nicht auf einen dämonischen Charakter, sondern, im Gegenteil, auf vollkommene innere Leere, Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit der Täter und eine entsprechend gestörte Beziehung zu sich selbst zurückzuführen sei.152 Allerdings muss sich der Roman, der vor allem in Großbritannien als Meilenstein der Holocaustliteratur gefeiert wird und mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde, auch fragen lassen, welche Erkenntniskraft mit dem Gestus der Provokation verbunden ist. Bietet er mehr als eine schockierende Inszenierung der Banalität des Bösen durch Episoden, die effektvoll das Erbauliche mit dem Abjekten,153 das Leid der Opfer mit der Ignoranz der Täter kombinieren, weil sie die Privatinteressen der Figuren vor dem besonders ‚krassen‘ Hintergrund der

152 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen [1964]. Mit einem einleitenden Essay und einem Nachwort zur aktuellen Ausgabe von Hans Mommsen, München: Piper 2011, v. a. S. 49–68. Arendt wird im Nachwort von Amis innerhalb einer umfangreichen Auflistung der „loci classici of the field“ [der Täterforschung] genannt. Amis: The Zone, S. 303. Vgl. Ahmed Badrideen: „The Banality of Good and Evil in The Zone of Interest“, in: English: The Journal of the English Association 66/255 (2017), S. 311–327. 153 Zum Abjekten in The Zone of Interest, vgl. Anne-Laure Fortin-Tournès: „Politique et poétique du roman sur la Shoah : l’engagement de l’écriture contre la banalité du mal dans The Zone of Interest de Martin Amis (2014)“, in: Études britanniques contemporaines. Revue de la Société d’Études Anglaises Contemporaines 50 (2016), S. 1–14 (https://journals.openedition.org/ebc/ 3169).

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Lagerrealität von Auschwitz platzieren?154 Den Leserinnen und Lesern wird es jedenfalls leicht gemacht, sich innerlich von den gänzlich empathielosen Täterfiguren zu distanzieren. Schwerlich jedoch gelingt es, den Voyeurismus der Täter nicht automatisch mit zu übernehmen; eine sexistische, sadistische und antisemitische Perspektive, mit der die beiden Erzählerfiguren Doll und Thomsen aus Auschwitz Profit für ihre anzüglichen Geschichten ziehen. Abscheu lösen die beiden SS-Funktionäre jedenfalls nicht weniger aus als etwa Kommissar Schatz aus Romain Garys Roman. Die Frage ist allerdings, ob die Perspektive des Lagerhäftlings Szmul und der sich emanzipierenden Ehefrau des Kommandanten ein ausreichendes Gegengewicht liefern können, um die Stimmgewalt der Täter einzuhegen,155 wie dies in Garys Roman durch die Figur des Dibbuks der Fall ist. Denn obwohl sie offensichtlich als Gegenfiguren konzipiert sind, bleibt ihre Darstellung doch vergleichsweise schematisch. Für alle drei Erzählerstimmen gilt gleichwohl: Sie berichten von ihren Träumen, denken über Träume nach und zeigen in ihren Träumen mehr von sich selbst, als sie innerhalb der Wachwirklichkeit an sich wahrnehmen können.156 Was an den Traumpassagen innerhalb der Redeanteile des Sonderkommandoführers Szmul auffällt, sind die Parallelen zu den Traumberichten und Traumreflexionen Primo Levis. Diese nennt Amis im Anhang als Quelle, ohne jedoch näher auf den wichtigen Aspekt der Lagerträume in seinen Schriften einzugehen. Ungefähr in der Mitte des Romans findet sich der Topos vom Lager als Alptraum, der die Wirklichkeit unwirklich und ihr gegenüber noch das beunruhigendste nächtliche Traumgeschehen als harmlos erscheinen lässt. Aus der Perspektive der Wachwirklichkeit betrachtet, erscheinen Szmul seine Alpträume nur noch pathetisch. So beobachtet er im Laufe seiner Inhaftierung eine Veränderung seiner eigenen Traumaktivitäten: I used to have the greatest respect for nightmares – for their intelligence and artistry. Now I think nightmares are pathetic. They are quite incapable of coming up 154 Amis, der die Lagerrealität seiner eigenen Aussage nach möglichst authentisch wiedergeben wollte, hat in seinen Roman unzählige deutsche Ausdrücke, Namen, Abkürzungen und Sätze eingefügt, die kurioserweise zum großen Teil falsch sind und deren Umlaute er grundsätzlich weggelassen hat. Vgl. Amis: The Zone: „Schreibtischtater“, S. 248, „Mitlaufer“, S. 148, „Sturmbannfuhrer“, S.  111, „Realsexuellpolitik“, S.  107, „Produciv Vernichtung“, S.  105, „Eigentlich wolte er dass ich Ihnen das antun“, S. 296, „Brustwarten“, S. 132, „peruke“, S. 169, „Ich Hatt Einen Kameraden“, S. 154, u. v. a. Obwohl er historische und sprachliche Fehler ausdrücklich von einem Experten (nämlich dem Historiker Richard J. Evans) hat korrigieren lassen, dürfte die groteske bzw. lächerliche Wirkung, die hierdurch entsteht, wohl unbeabsichtigt sein. Vgl. auch Schütte: Casanova im KZ. 155 Anders sieht dies Aída Díaz Bild: „The Zone of Interest: Honouring the Holocaust Victims“, in: Journal of English Studies 16 (2018), S. 47–68, die die Perspektive des Sonderkommandoführers im Roman stärker macht, als sie vielleicht ist. 156 Die Traumthematik ist allerdings bei Golo Thomsen sehr viel weniger ausgeprägt als bei den anderen beiden Erzählerstimmen.

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with anything even remotely as terrible as what I do all day – and they’ve stopped trying. Now I just dream about cleanliness and food.157

Auch der Traum vom Essen kann, wie wir aus den Texten von Primo Levi, Charlotte Delbo, Jean Cayrol und vielen anderen wissen, als ein typischer Konzentrationslagertraum gelten. Eine nachgerade stereotype Inszenierung eines weiteren Shoah-Traums ist Szmuls nächtliches Erleben eines verwehrten Erzählens, das offenkundig nach dem Modell Primo Levis konstruiert ist.158 Während es im fünften Kapitel von Levis Se questo è un uomo, „Le nostre notti“, die Schwester des Träumenden ist, die dem Erzählenden mitten in seinem Bericht wortlos den Rücken kehrt („Mia sorella mi guarda, si alza e se ne va senza far parola“, vgl. Kapitel IV159), nimmt in Szmuls Traum diese Rolle seine Ehefrau Shulamith ein: The thought I find hardest to avoid is the thought of returning home to my wife. I can avoid the thought, more or less. But I can’t avoid the dream. In the dream I enter the kitchen and she swivels in her chair and says, ‚You’re back. What happened?‘ And when I begin my story she listens for a while and then turns away, shaking her head. And that is all. […] That is all, but the dream is unendurable, and the dream knows this, and humanely grants me the power to rouse myself from it. By now I am bolt upright the instant it starts. Then I climb from my bedding and pace the floor no matter how tired I am, because I’m afraid to go to sleep.160

Wie bei Primo Levi handelt es sich auch hier um einen wiederkehrenden Traum,161 und auch hier wird das Ich von einer derart unerträglichen Angst ergriffen, dass es sich zwingt, aufzuwachen. Levi hatte an diesen Bericht eine Reflexion über kollektive Hungerträume im Lager angeschlossen (die Amis dem Sonderkommandoführer im Zuge seiner Erzählung über die veränderte Traumtätigkeit zugeschrieben hatte). In diesem Zusammenhang evoziert der Auschwitz-Überlebende besonders den zermürbenden Zustand zwischen Schlafen und Wachen: Insofern selbst dieser Halbschlaf unablässig vom bevorstehenden Befehl zum Aufstehen bedroht werde, gelänge es den Träumenden weder, sich vor den Alpträumen zu schützen, noch Schlaf und Traum gegen die tatsächli157 Amis: The Zone, S. 202. 158 „Damals im Lager hatte ich häufig einen Traum. Ich träumte, ich wäre heimgekehrt, zu meiner Familie zurückgekehrt, und erzählte, und man hörte mir nicht zu. Mein Gegenüber will mich nicht anhören, es wendet sich ab und entfernt sich. Ich habe diesen Traum meinen Freunden im Lager erzählt, und sie sagten: ‚Das träumen wir auch manchmal.‘ Ich suche nach einer Lösung, aber ich finde sie nicht. Primo Levi im Gespräch mit Ferdinando Camon, München: Piper 1993, S. 49–50. 159 Primo Levi im Gespräch, S. 55. 160 Amis: The Zone, S. 137. 161 „Il sogno mi sta davanti, ancora caldo, e io, benché sveglio, sono tuttora pieno della sua angoscia: e allora, mi ricordo che questo sogno non è un sogno qualunque, ma che da quando sono qui l’ho già sognato, non una ma molte volte, con poche variazioni di ambiente et di particolari.“ Primo Levi: Se questo è un uomo, Torino: Einaudi 2005, S. 54.

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chen Qualen des anbrechenden Tages abzuschotten (vgl. Kapitel  IV).162 An Amis’ Roman ist eine solche übermächtige Eigenschaft der Träume ebenfalls hervorzuheben: Sie haben ein Eigenleben, das Szmuls Bericht durch eine Personifizierung des Traums zum Ausdruck bringt („and the dream knows this“). Der Erzähler schreibt ihm, wie dies auch schon in der Bemerkung zu den verschwindenden Alpträumen der Fall war, eine eigene Handlungsmacht zu („they’ve stopped trying“). Der Traum verfügt also über ein eigenes Wissen: Er selbst besitzt Kenntnis von seiner eigenen Unerträglichkeit und daher die Menschenfreundlichkeit, dem Träumer genügend Kraft zum Aufwachen zu verleihen. Auch wenn der Traumbericht, ganz ähnlich wie bei Levi, mit der Angst endet, die das nächtliche Erleben auslöst, so fehlt bei Levi freilich die ironische Note, mit der sich die literarische Figur Szmul von ihren Träumen distanziert. Statt erzählender Distanznahme, die bei Amis auch in der oben genannten Traumreflexion zu erkennen ist, stehen in den Auschwitz-Berichten Levis vielmehr das unmittelbare körperlich-sinnliche Affiziertwerden durch den Traum und die existenzielle Erschütterung des Traumerlebens im Vordergrund. Während die Träume des Häftlings also nach einem klaren, fast prototypischen Vorbild gestaltet sind, ist das Traumerleben der Täter Golo Thomsen und Paul Doll eher auf deren individuellen Charakter hin zugeschnitten.163 Auch der Lagerkommandant hat Angst vor seinen eigenen quälenden Träumen, die in direktem Zusammenhang mit seinen Taten stehen. Nicht jedoch, dass er für den Tod Hunderttausender verantwortlich ist, martert ihn und lässt ihn das Träumen fürchten, sondern dass in die Lagerwirklichkeit, die er als lästige Routine wahrnimmt, als habe sie mit ihm selbst nichts zu tun, groteske Züge einbrechen. Was den Kommandanten bis in den Schlaf hinein verfolgt, sind etwa kranke Zwillinge, die aus einer Psychiatrie in Utrecht deportiert wurden und sich über alles im Lager zu freuen scheinen: „As I went to bed that night I prayed I wouldn’t dream about the naked twins, grinning in the Little Brown Bower.“164 Wenn Doll im Schlaf ausgerechnet von diesen beiden, als Spiegelfiguren konstruierten Zwillings-Häftlingen verschont werden will, so heißt dies, dass ihn diejenigen, die aufgrund ihres Wahnsinns das Lager für eine erfreuliche Normalität halten, am meisten umtreiben. Dies steht in direkter Korrespondenz zum Wachzustand des Träumers, der sich ebenfalls ‚wie ein Verrückter‘ freuen kann, wenn die Vernichtungsmaschinerie ungestört läuft. Paul Doll selbst nimmt zwar unbewusst 162 Primo Levi: Se questo, S. 54. 163 Auch für das Traumerleben von Golo Thomsen, das im Roman deutlich weniger ausgeprägt ist, als das der beiden anderen Erzählerfiguren, verwendet Martin Amis allerdings ein bekanntes Szenario: Den Ausbruch der Tiere aus dem Berliner Zoo in der Budapester Straße, der am 23. November 1943 von Bomben getroffen und zerstört wurde. Amis: The Zone, S. 260. Vgl. auch Durs Grünbein: Die Jahre im Zoo, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 375–376. 164 „Little Brown Bower“ fungiert im Roman als euphemistischer Begriff für das Krematorium. Vgl. Amis: The Zone, S. 186.

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wahr, dass er auf dem besten Wege ist, wahnsinnig zu werden; diese Einsicht, vor der er sich im Traum fürchtet, muss er jedoch in der Wachwelt so weit wie möglich auf Distanz halten, um sein verzerrtes Selbstbild und den reibungslosen Auslöschungsbetrieb aufrechterhalten zu können. Zudem überkommt auch Doll zuweilen der Eindruck, die Lagerwirklichkeit erscheine wie ein Traum, jene existenzielle Realitätsverunsicherung, von der zahlreiche Überlebendenberichte durchzogen sind (vgl. Kapitel IV). Die Bewertung dieser Wahrnehmung wird jedoch von der Täterfigur umgekehrt: Während in der Shoah-Literatur den Überlebenden das Lager in seiner Grausamkeit irreal wie ein Alptraum erscheint, ist es bei Doll geradezu traumhaft schön: Für einen Moment glaubt er an seine eigenen Lügenmärchen, die er den Häftlingen zur Vertuschung der bevorstehenden Gräuel erzählt, bevor die unmittelbare Wirklichkeit in seine Wahrnehmung des Lagers als Idylle einbricht.165 An der Rampe von Auschwitz sinniert er: And it was going so well, it was going so well for once, and they were all calmly undressing, and it was quite warm in the Little Brown Bower, and Szmul was there, and his Sonders were darning their way through the throng, and it was all going so beautifully, and the birds outside were singing so sweetly, and I found I even ‚believed‘ for a moist and misty interlude that we really were looking after these deeply inconvenienced folk, that we really were going to cleanse them and reclothe them and feed them and give them warm beds for the night, and I knew someone would spoil it, I knew someone would ruin it and madden my nightmares, and she did, coming at me not with violence or anathema, no, not at all, a very young woman, naked, and tensely beautiful, every inch, coming at me with a shrug, then a gesture with her slowly raised hands, then almost a smile, then another shrug, then a single word before she moved on. ‚18‘, she said.166

Er erlebt die Wirklichkeit also wie einen Traum, der zu schön ist, um wahr zu sein. Und er erzählt die Realität tatsächlich wie ein Traumerlebnis, nämlich als „moist and misty interlude“, welches durch das plötzliche Auftauchen einer Frau, die sich durch ihre Altersangabe vor der Vergasung zu retten versucht, abrupt unterbrochen wird. Einer von Dolls halluzinatorischen Zuständen – er selbst nennt sie „the fever of my ‚trance‘“167 – kann exemplarisch für andere Visionen oder onirische Wahrnehmungen innerhalb seiner Erzählung stehen. Vordergründig handelt es sich

165 Der Eindruck von Auschwitz als einer ‚perfekten‘, geradezu idyllischen Welt kennzeichnete auch einen Traum von Max Aue, dem Protagonisten aus Jonathan Littell: Les Bienveillantes, S. 888. 166 Amis: The Zone, S. 194–195. 167 Amis: The Zone, S. 191.

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um einen Zwang: In Menschenansammlungen kann er nicht anders, als sich vorzustellen, welche logistische Herausforderung es wäre, sämtliche Anwesenden zu vergasen („the logistical challenge of gassing the audience“).168 Folgender Tagtraum ist bedeutend für die Frage nach den Grenzen zwischen Tätern und Opfern, weil auch er mit einem Rollentausch einhergeht; allerdings einem, der den Haupttäter, den Träumer selbst, ungeschoren davonkommen lässt. Mehr noch, er geht geradezu als Held daraus hervor: I was soon wondering if I would ever again be able to attend a mass assemblage without my mind starting to play tricks on me. It wasn’t like the last occasion, when I became gradually immersed in the logical challenge of gassing the audience. No. This time I at once imagined that the people behind me were already dead – already dead and recently exhumed for immolation on the pyre. And how sweet the Aryans smelled! If I rendered them into smoke and flame, the burning bones (I felt confident) would not forsake that fresh aroma! And then, do you know, in the fever of my ‚trance‘ (this was during the final bit, the ballet and so) it seemed to me that the Deliverer urgently needed to be apprised of my discovery. Even as they pass through nature to eternity, the children of the Teutons do not rot and reek. We would go together, he and I, and present these findings to the bar of history, so that Clio herself might smile and hymn the courage and justice of our cause … Then, dismayingly, it was all over, and the darkness fled in a cataract of acclaim. I turned, beaming, to my wife …169

So beschreibt Doll seine Eindrücke während einer Kulturveranstaltung in Auschwitz. Sämtliche Täter und ihre Familien haben sich versammelt, um einer Ballett-Aufführung beizuwohnen. Während der Darbietung schweifen die Gedanken des Erzählers ab, der seine Wahrnehmung eindeutig als traumhaft markiert: „my mind starting to play tricks on me“, „I became gradually immersed“, „I at once imagined“, „It seemed to me“, „We would go“. In seiner Vorstellung sind es nicht – wie in der Lagerrealität – die Deportierten und Internierten, die vernichtet werden, sondern die anwesenden ‚Arier‘ sollen auf einem Scheiterhaufen geopfert werden. Und es handelt sich nicht um die übliche Zwangsvorstellung des Vergasens, welches Doll im Wachleben als unvermeidliche Alltagspflicht empfindet, sondern das Geschehen wird in einen feierlichen, geradezu sakralen Kontext überführt – gewissermaßen in einen Ausnahmezustand innerhalb des Ausnahmezustands.170 Während die Traumfiguren, die in der Wachwelt exzessive Gewalttäter, Schreibtischtäter und Mitläufer sind, hier die Rolle der Opfer einnehmen, erhöht der Träumer in der Phantasievorstellung die eigene Täterposition noch ekstatisch: Als perfekter NS-Ideologe und Auserwählter des Führers 168 Amis: The Zone, S. 191, vgl. auch S. 70. 169 Amis: The Zone, S. 191. 170 Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer, Teil II, Bd. 1. Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

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wird sein Ansehen durch das Traumgeschehen auf groteske Weise gesteigert. Amis nimmt das Leitmotiv des Romans, den Geruch der Leichen im Krematorium, hier wieder auf, verkehrt es aber ins Positive: Doll entdeckt, dass die verbrannten ‚Arier‘ einen Wohlgeruch ausströmen, was er sogleich in salbungsvollem, mit einer Alliteration versehenen Duktus („the children of the Teutons do not rot and reek“) als bahnbrechende Erkenntnis an Hitler vermeldet. Als Koryphäe der Rassenkunde geht der Lagerkommandant von Auschwitz nun in die Annalen ein und wird an der Seite Hitlers von Clio hymnisch gefeiert. Während in zahlreichen anderen Täterträumen die Verbrecher selbst zu Geschundenen werden, kann sich der Träumer hier ungebrochen seinem Größenwahn hingeben. Der Realitätsschock am Schluss – der Einbruch der Wachwirklichkeit in die Phantasie – besteht nicht in der Bestürzung über das perverse Geschehen im Traum, sondern im Sturz des eigenen Egos von seinem selbst herbeiphantasierten Thron. Damit zeigt die Episode das zentrale Provokationsprinzip des Romans auf: Die Details des Konzentrationslagers werden ins Groteske gewendet, die selbstherrliche Perspektive der Täter wird systematisch mit der Banalität des Bösen kontrastiert, das Skandalisierungspotenzial der Shoah auf diese Weise weitestmöglich ausgeschöpft. Auch eine weitere Traumpassage macht deutlich, dass das Prinzip der Rollenumkehr und der Verunsicherung der Grenzen zwischen Tätern und Opfern für den Erzähler Paul Doll nicht gilt. Das Besondere dieser Passage ist allerdings, dass sie zwar den Inhalt seines Traums wiedergibt, er selbst ihn aber gar nicht geträumt hat. Dolls Ehefrau schreibt ihm einen wiederkehrenden Traum zu und verwendet diesen als Drohung und Herabwürdigung gegen ihn. Der Traum wird in einer intimen Situation erzählt: Hannah setzt sich ihrem Mann aufreizend auf den Schoß und provoziert den Gatten, vor dem sie zunehmenden Abscheu entwickelt, in einem Anfall von Hass: ‚Do you know who you are?‘ she whispered (and I could feel her lips against the down of my ears). Do you? ‚No‘, I said. ‚Who am I?‘ […] ‚You’re a fucking chump of a Brownshirt who, tired of thinking dirty thoughts and playing with his Viper, falls asleep in his bunk and has the worst of all possible dreams. In this dream nobody does things to you. You do things to them. Terrible things. Unspeakably terrible things. Then you wake up.‘ ‚Then I wake up.‘ ‚Then you wake up and you find it’s all true. But you don’t mind. You go back to playing with your Viper. You go back to thinking dirty thoughts. Goodnight, Pilli. Kiss.‘171

Hier berichtet Lagerkommandant Doll also von der Erzählung seiner Frau, die wiedergibt, was er selbst angeblich träumt. Sie imaginiert für ihn den schlimmsten aller möglichen Träume. Und dieser hebt die Grenze zwischen Wachwelt und Traumwelt auf, nicht aber diejenige zwischen Täter und Opfern: Das 171 Amis: The Zone, S. 228–229.

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schrecklichste Traumgeschehen ist identisch mit dem Geschehen der Wachwirklichkeit. Explizit betont Hannah hier, dass der für andere Täterfiguren typische und von den Lesenden erwartbare Rollenwechsel zwischen Tätern und Opfern, wie wir ihn bereits aus den Romanen von Hilsenrath und Beyer kennen (und wie er uns auch in La disparition de Josef Mengele von Olivier Guez beschäftigen wird), nicht stattfindet. Für Dolls Traum, den zu träumen ihm seine Ehefrau unterstellt, gilt: Nicht ihm wird etwas angetan, sondern dass er anderen etwas antut und seinen Verbrechen gänzlich gleichgültig gegenübersteht,172 ist das eigentlich Unerträgliche. Der kritische Impetus ist dabei ein doppelter: Mittels einer rhetorischen Überkreuzungsfigur („Nobody does things to you. You do things to them“) spricht Hannah zum einen aus, dass der Täter für sie selbst unerträglich geworden ist. Aus dem Chiasmus in der Formulierung ist ein inhaltlicher Parallelismus geworden, was das Verhältnis von Traum- und Wachwirklichkeit angeht. Zum anderen scheint sich der suggerierte Traum auf jene kontroverse These zu beziehen, die Hannah Arendt in ihrer Philosophie, ausgehend von Platons Gorgias, über das Böse aufstellt,173 nämlich dass es aus philosophischer und ethischer Sicht besser sei, Opfer zu sein als Täter, weil dieser als dialogisches Wesen nach seinen Taten auf ewig gezwungen sei, in der unausweichlichen Konfrontation mit sich selbst mit einem Übeltäter zusammenzuleben.174 Die größten Übeltäter aber, wie sie in den hier untersuchten Täterromanen auftauchen, haben, so Arendt, eine solche innere Selbstbeziehung nicht; sie blicken sich selbst nicht in die Augen und machen sich damit zu „Nicht-Personen“. Sie sind jene, die sich nicht erinnern, weil sie auf das Getane niemals Gedanken verschwendet haben und ohne Erinnerung kann nichts sie zurückhalten. Das Denken an vergan172 Mit der im Roman mehrfach verwendeten Formulierung „playing with your/his Viper“ spielt Amis freilich auf Celans Gedicht „Todesfuge“ [1952] an. Dies macht noch einmal Amis’ Erzählprinzip der Skandalisierung deutlich. Der Autor verwendet eine Verszeile aus einem Text, der als das Holocaust-Gedicht schlechthin gelten kann („Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen“, bzw. „er spielt mit den Schlangen“. Paul Celan: „Todesfuge“ [1952], in: Paul Celan: Mohn und Gedächtnis. Vorstufen, Textgenese, Endfassung, bearbeitet und herausgegeben von Heino Schmull, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 55–57). Diese überführt er in einen Bereich des Banalen und Sexuellen, indem er die Celan’sche Bildersprache für Täterschaft mit der Praxis der Masturbation kurzschließt und dadurch auf provozierende Weise banalisiert. 173 Der Essay beginnt mit den drei Paradoxa des Sokrates, Unrecht zu leiden sei besser als Unrecht zu tun, bestraft zu werden besser, als ungestraft zu bleiben, und der Tyrann sei ein unglücklicher Mensch. Vgl. Hannah Arendt: „Über das Böse“, in: Christian Schäfer (Hrsg.): Was ist das Böse? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Reclam 2014, S. 285–299, der Text geht auf den Vortrag „On Evil“ zurück, der erstmals in: Hannah Arendt: Some Questions on Moral Philosophy, New York: Penguin 1965 abgedruckt wurde. 174 Arendt: Über das Böse, S. 290–291.

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gene Angelegenheiten bedeutet für menschliche Wesen, sich in eine Dimension der Tiefe zu begeben, Wurzeln zu schlagen und so sich selbst zu stabilisieren, so daß man nicht bei allem Möglichen – dem Zeitgeist, der Geschichte oder einfach der Versuchung – hinweggeschwemmt wird. Das große Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins Unvorstellbare entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.175

Zumindest einen ‚klassischen‘ Tätertraum weist The Zone of Interest übrigens doch auf, in dem sich die Rollen verkehren, der Täter zum Opfer wird: Golo Thomsen, der sich in der Wachwelt unangreifbarer Macht und ungebrochener Selbstgewissheit erfreut, träumt nach dem Kriegsende und der Befreiung von Auschwitz „nightmares of impotence“.176 So muss er etwa unerträglich schwere Gegenstände schleppen, wird nackt von den umstehenden Feinden verspottet und verliert seine Zähne.177 Dies führt dazu, dass er im Traumerleben aller Attribute und Eigenschaften beraubt wird, die in der Wachwelt seine Machtposition zementieren; nämlich über reichhaltige Mahlzeiten, Redegewandtheit, Verführungskünste und eine Unzahl an Frauen zu verfügen („I cannot eat, talk, smile or kiss“178).

Täterträume in Olivier Guez: La disparition de Josef Mengele [2017] Die verbreitete Strategie, im Täterroman den Verbrecher zumindest innerhalb seines Traumerlebens selbst zum Verfolgten, zum Leidenden zu machen, kennzeichnet auch La disparition de Josef Mengele. Der im Jahre 2017 veröffentlichte Text stammt von Olivier Guez, jenem Autor, der zusammen mit Lars Kraume 175 Arendt: Über das Böse, S. 296. 176 Amis: The Zone, S. 290. 177 „It seemed to be a dusk-to-dawn delirium, and of viral force – shallow, semi-conscious nightmares, nightmares of impotence. I strained to lift or shift an endless series of cumbrous and almost immovably heavy objects; then I tried and failed to force my way through thick portals made of gold and lead; in shameful incapacity I fled from or cowered before grinning enemies; naked and shrivelled to nothing, I was laughed and taunted out of bedrooms, boardrooms, ballrooms. Finally my teeth began to waltz around my jaws, changing places, hiding behind one another, till I spat them all out like a mouthful of rotten nuts and thought, It is done. I cannot eat, talk, smile or kiss. Outside the weather was neutral, only exceptionally still.“ Amis: The Zone, S.  290. Ein Shoah-Traum, in dem das träumende Ich zu viele klappernde Zähne im Mund hat, findet sich auch in Anna Langfus’ Roman Les bagages de sable (vgl. Kapitel VI). 178 Amis: The Zone, S. 290.

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das Drehbuch zu Der Staat gegen Fritz Bauer verfasst hat.179 Auch dieser Roman zeichnet sich durch umfangreiche historische Recherchen und literarische Intertexte aus, die, wie bei Martin Amis oder Daša Drndić, am Ende des Buches in Form eines Quellenverzeichnisses aufgelistet werden. Doch ist diese Geschichte mehr noch als die bisher analysierten als dokumentarischer oder historischer Roman angelegt. Es handelt sich um eine fiktive, aber streng an den historischen Fakten orientierte Biographie des Lagerarztes von Auschwitz, Josef Mengele180 – eine Täterfigur, die, wie Kai Nonnenmacher ausführlich gezeigt hat, besonders häufig zum Protagonisten von Romanen und Filmen gemacht wurde.181 Nonnenmacher sieht die Leistung des Romans vor allem darin, dass Guez aus dem berühmt-berüchtigten ‚Todesengel von Auschwitz‘ eine Figur der bloßen Mittelmäßigkeit und der Banalität macht.182 Damit trägt der Autor dem wichtigen Anliegen der Perpetrator Studies Rechnung, die Täter nicht als „verschieden von uns“,183 sondern gerade in ihrer ‚Normalität‘ zu zeichnen, um so das allgemein Menschliche an ihnen herauszustellen. Die bewusst einfache, gänzlich ohne narrative Experimente auskommende Erzählweise, in der die Daten und Fakten der Shoah mit der Innenperspektive der Täterfigur kombiniert werden, erinnert dabei an den frühesten Täterroman in französischer Sprache, nämlich Robert Merles La mort est mon métier von 1952, der ebenfalls als fiktive Biographie eines Auschwitz-Täters konzipiert ist.184 Mit seiner Schlichtheit, Transparenz und strukturellen Geradlinigkeit unterscheidet sich Guez’ Roman von den betont metafiktionalen, autoreferenziellen 179 Für den Kontext der Shoah sind weiterhin wichtig seine journalistischen Zeitzeugenbefragungen von Juden in Deutschland von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart (u. a. Edgar Hilsenrath, Imre Kertész, Maxim Biller, Micha Brumlik oder Michael Wolffsohn): Olivier Guez: L’impossible retour. Une histoire des juifs en Allemagne depuis 1945, Paris: Flammarion 2007. 180 U. a. sind sie folgenden Studien entnommen: Miklós Nyiszli: Médecin à Auschwitz, Paris: Julliard 1961, Gerald Astor: The ‚Last‘ Nazi. The Life and Times of Dr. Josef Mengele, London: Sphere Books 1986, Ulrich Völklein: Josef Mengele. Der Arzt von Auschwitz, Göttingen: Steidl 2003 sowie Gerald L. Posner/John Ware: Mengele. The Complete Story, New York: Cooper Square Press 2000. 181 Zu den bekanntesten Texten zählen Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht [1953], Zürich: Diogenes 1985 und Martin Amis: Time’s Arrow or the Nature of the Offence, London: Vintage 1991; ein Täterroman, der ebenfalls von zahlreichen Traumberichten durchzogen ist (vgl. u. a. S. 37, S. 47–48, S. 53–55, S. 63, S. 67, S. 72, S. 83–84, S. 101, S. 115–116 und S. 172). Für weitere Verweise vgl. Kai Nonnenmacher: „Mengeles Verschwinden. Olivier Guez an der Schwelle der Zeitzeugenschaft“, in: Romanische Studien 4 (2018), S. 383–397, hier S. 392–394 (http://www.romani schestudien.de/index.php/rst/article/view/589). 182 Nonnenmacher stützt sich hier auf die Argumentation mehrerer Kritiker. Nonnenmacher: Mengeles Verschwinden, S. 390. 183 Welzer: Täter, S. 238. 184 Dessen Darstellung des Protagonisten Rudolf Lang, des Lagerkommandanten von Auschwitz, orientiert sich eng an den überlieferten Selbstaussagen von Rudolf Höß – und erscheint damit wiederum um einiges authentischer und überzeugender als der Amis’sche Lagerkommandant Paul Doll aus The Zone of Interest.

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und hybriden Erzählkonstruktionen eines Littell, Gary oder Hilsenrath. Dies betrifft auch die Situierung des Geschehens. Während andere Romane oftmals die Entwicklung des Protagonisten zum Holocaust-Täter nachzeichnen, die Figur und ihre Taten im Konzentrationslager vor Augen führen oder komplexe zeitliche Verschachtelungen der Zeitebenen vornehmen, setzt Guez’ Roman mit der Flucht Mengeles von Deutschland nach Argentinien im Jahre 1949 ein und endet mit seinem Tod im Februar 1979 in Brasilien. Er erzählt also ausschließlich vom Untertauchen und der jahrelangen Verfolgung eines Täters, der zum „symbole de la cruauté nazie“ geworden ist.185 Da der Text zwar heterodiegetisch erzählt, doch konsequent intern fokalisiert ist, also das Geschehen aus der Wahrnehmungsperspektive des Lagerarztes wiedergibt, entstehen drei wichtige Erzählstrategien, die den Roman von einer rein dokumentarisch-biographischen Erzählung unterscheiden. Erstens werden so das Selbstbild und die innere Lebenshaltung der Täterfigur wirkungsvoll mit den historischen Tatsachen kontrastiert:186 Der Roman ist eine einzige Desillusionierungsgeschichte Mengeles, die eine beklemmende Wirkung entfaltet, weil dessen bornierte und lamentierende Selbsteinschätzung kaum jemals mit der Wahrnehmung durch andere oder mit den vom Erzähler kühl beobachteten und nüchtern berichteten Fakten übereinstimmt. „[O]n est dans sa tête, on suit à notre corps défendant l’entrelacs de ses pensées, ses rêves et ses cauchemars, c’est peut-être là le plus perturbant“, wie Alexandra Schwartzbrod feststellt.187 Zum Zweiten lassen erlebte Rede und autonomer innerer Monolog Raum für 185 Guez, Olivier: La disparition de Josef Mengele, Paris: Grasset 2017, S. 223. „Josef Mengele rechnet zu den Dämonen der politischen Moderne, er spukt durch die entmenschlichenden Alpträume wissenschaftlicher Rationalität.“ Nonnenmacher: Mengeles Verschwinden, S.  392. Diese Kluft zwischen der Monstrosität der Tat und der Banalität der Täterpersönlichkeit macht der Roman selbst zum Thema, indem er reflektiert, dass Mengele der Nachwelt als „monstre“ gilt. Guez: Mengele, S. 228. 186 Dies ruft allerdings auch eine grundsätzliche Kritik auf den Plan, die besonders angesichts der Holocaust-Literatur immer wieder laut wird: Die Literatur, so etwa Florent Georgesco, sei im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft oder zu Berichten von Zeitzeugen keine legitime Form, das Thema zu bearbeiten. Florent Georgesco: „Le prix Renaudot pour ‚La Disparition de Josef Mengele‘ d’Olivier Guez“, in: Le Monde, 6. November 2017 (http://www.lemonde.fr/ culture/article/2017/11/06/le-prix-renaudot-recompense-olivier-guez_5210841_3246.html). Allerdings widerlegt Georgesco im Laufe seiner Kritik dieses Argument selbst, indem er auf das Potenzial der Literatur verweist: „tout en se fondant sur la vérité objective, elle s’empare des blancs que l’historiographie laisse à l’imagination“. Guez „cristallise [la réalité historique] dans la vie individuelle, dans la chair et le sang d’un homme dont rien ne peut justifier l’existence“. Olivier Guez äußert sich zu dieser Problematik folgendermaßen: „Ce livre relate l’histoire de Josef Mengele en Amérique du Sud. Certaines zones d’ombre ne seront sans doute jamais éclaircies. Seule la forme romanesque me permettait d’approcher au plus près la trajectoire macabre du médecin nazi“, so der Autor im Anhang vor der Präsentation seiner Quellen. Guez: Mengele, S. 233. 187 Alexandra Schwartzbrod: „Mengele, ‚postillon du diable‘“, in: Libération, 15. September 2017 (https://next.liberation.fr/livres/2017/09/15/mengele-postillon-du-diable_1596691).

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Rückblenden, mit denen die begangenen Gräueltaten, wie die Selektionen an der Rampe und die grausamen medizinischen Experimente an Lagerhäftlingen, in die Erzählung hineingeholt werden können. Hier vermischen sich Erinnerungen, die als inneres Erleben Mengeles wiedergegeben werden, mit der sachlich konstatierenden Erzählerrede. Und drittens bietet die Erzählkonstruktion dem Täter die Gelegenheit, vor seinen Leserinnen und Lesern (bzw. innerhalb der Diegese vor seinem Sohn) sein Selbstverständnis als NS-Wissenschaftler auszubreiten. Als Ingenieur Hitlers188 erinnert seine ideologische Haltung in ihrer abgründigen Mischung aus Antisemitismus, Kulturpessimismus, Rassenhygiene und auf Menschenexperimenten gründenden medizinischem Fortschrittsglauben an den Toningenieur Hermann Karnau, jenen Protagonisten aus Marcel Beyers Flughunde, der Stimmexperimente an den Häftlingen aus Ravensbrück vorgenommen hatte. Was den literarischen Einsatz von Träumen als Erzählverfahren angeht, so weist der Roman zum einen zwei klassische Täterträume auf; zum anderen bilden böse Träume eine Art Motto des gesamten Textes. Betrachten wir zunächst die beiden Alpträume des Protagonisten. Sie sind durch die Rahmung eindeutig als nächtliches Traumerleben markiert und stehen mit dem jeweiligen Tagesgeschehen in enger Verbindung. Dies ist insofern interessant, als die beiden geschilderten Alpträume jeweils auf einen langen Verblendungsmonolog Mengeles folgen. Wenn der Erzähler dem Täter also breiten Raum einräumt, seine Taten zu rechtfertigen, zu leugnen oder innerhalb der nazistischen Rassenideologie zu erklären, so wird dieser kurze Zeit später im Traum von der Grausamkeit seiner Taten eingeholt; aus dem Verbrecher wird ein Gequälter, ein Bedrohter. In Kapitel 52 resümiert der Erzähler die Alpträume Mengeles in iterativer Form. Hierbei wird ausdrücklich festgehalten, dass im Traum eben jene Bilder zum Vorschein kommen, die er tagsüber verdrängt hat, aber in der Nacht nicht mehr auf Distanz halten kann: Il dort mal et peu, miné par des cauchemars, par des visions qu’il ne parvient plus à refouler, les flammes d’un four crématoire, des nourrissons agonisants dont les yeux sont épinglés aux murs de son laboratoire comme des papillons. Eichmann dans sa cage à Jérusalem, un rabbin à longues papillotes rousses qui lui disloque les os et le jette dans la graisse humaine bouillonnante. Il entend des voix, des gémissements et des pleurs, les sirènes des Stukas qui piquent sur la ferme de Santa Luzia.189

188 „Il [Hitler] était notre César et nous, ses ingénieurs, chargés de veiller à ce qu’il dispose toujours d’un nombre croissant de familles saines et racialement satisfaisantes.“ Guez: Mengele, S. 206. 189 Guez: Mengele, S. 146.

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Diese drei Sätze überführen die traumhaften Eindrücke in geradezu metonymische Bilder, die sowohl für die spezifischen Taten Mengeles stehen (die aufgespießten Augen, die getöteten Säuglinge, die ausgekochten Knochen), als auch für die Shoah insgesamt (die Flammen des Krematoriums, die Stimmen der Häftlinge, der Eichmann-Prozess). Und es ist sicherlich kein Zufall, dass auch hier, wie in so vielen anderen Täterträumen, die visuellen Wahrnehmungen zunehmend von akustischen überlagert werden. Das 49. Kapitel des Romans besteht ausschließlich aus der Erzählung eines Fiebertraums. Es wird eingeleitet durch den zermürbenden, schweißgebadeten Schlaf des Protagonisten am Ende des vorangehenden Kapitels („A l’aube, Mengele s’effondre en nage sur son lit“) und abgeschlossen mit seinem Aufwachen („Mengele se réveille, brûlant de fièvre“).190 Der Traum zeigt ein unheimliches Szenario, atmosphärisch eine Mischung aus Karneval und schwarzer Messe. Der Schauplatz des Geschehens ist eindeutig mit der Shoah assoziiert: Der Träumer befindet sich in blutgetränkter SS-Uniform zunächst in einem von fensterlosen Gebäuden und hohen Schornsteinen eingeschlossenen Hof. Er nimmt die Umgebung vor allem über Geruch, Geräusche und Körperempfindungen wahr. Es riecht nach verbranntem Fleisch, er hört Raubvögel über sich, kläffende Hunde hinter sich und das laute Klopfen seines eigenen Herzens. Durch einen dunklen Tunnel versucht er den Verfolgern zu entkommen, empfindet unerträgliche Kälte, Hunger und Durst und muss nach mehreren Stunden atemlosen Rennens feststellen, dass er sich, statt den Ausgang zu finden, im Kreis bewegt hat.191 Wieder in der Mitte des Hofes angelangt, wird er (wie Max Aue in einem Traum aus Les Bienveillantes und Golo Thomsen in The Zone of Interest) von einer Menschenmenge bedrängt und verhöhnt. Man bewirft ihn mit Gegenständen und verbrüht ihn mit siedendem Wasser, während ein Orchester musiziert, in der Ferne Saturn und Medea auf sein Wohl anstoßen und die Raubvögel sich schließlich auf ihn stürzen. Wie Beyers Hermann Karnau und wie Max Schulz aus Hilsenraths Der Nazi & der Friseur auf dem Operationstisch, kann er nicht sprechen und muss die Prozedur ohne Gegenwehr über sich ergehen lassen. Gegen Ende erfolgt ein abrupter Schnitt; jetzt tritt die visuelle Wahrnehmung in den Vordergrund: Das Blut ist verschwunden, es wird still, und in den fensterlosen Gebäuden tauchen Fernsehbildschirme auf, die dem Träumer schmerzhafte Familienszenen aus der Heimat vor Augen führen: Sein Sohn wendet sich von ihm ab, seine Frau betrügt ihn mit ihrem Liebhaber, sein Vater liegt tot in einem Sarg. Mengele versucht, Kontakt zu den fernen Personen aufzunehmen, indem 190 Guez: Mengele, S. 138 und S. 140. 191 Aufgrund dieser Motive drängt sich unweigerlich ein Vergleich zu anderen Shoah-Träumen auf. Auch bei Vercors hatte sich das Ich inmitten des Grauens im Kreis bewegt, und auch bei Philip Larkin nimmt der Träumer auf der Flucht durch einen engen Gang vor allem sein eigenes Herzklopfen wahr (vgl. Kapitel II und IX).

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er vehement gegen die Fernseher schlägt, aber bemerkenswerterweise nimmt er nur sein eigenes, gealtertes Gesicht wahr, das ihm der Bildschirm zurückspiegelt. So sehr er sich auch bemüht, in Blickkontakt mit anderen zu treten, er sieht stets nur sich selbst. Auch das 75. Kapitel besteht aus einem Traumbericht; und dieser ist ebenfalls gerahmt durch ein „Mengele rêve“ am Ende des vorigen Kapitels192 und durch Schweißausbrüche, Zittern und Herzklopfen nach dem Aufwachen.193 Es handelt sich hier um Symptome, mit denen sich für den Träumer der bevorstehende Tod ankündigt. Auch inhaltlich und motivisch finden sich zahlreiche Parallelen zum vorhergehenden Traum; nur wird der Täter, der abermals in die Rolle des Opfers hineinkatapultiert wird, nun, fast am Schluss des Romans, in sehr viel konkreterer Weise mit seinen Gräueltaten konfrontiert. Das Szenario beginnt ähnlich wie der erste Traum in einer nebelhaften Landschaft, in der nur akustische Eindrücke wahrnehmbar sind („des pleurs et des soupirs, diverses langues, d’horribles jargons“194). Auch hier ist das Szenario ein rituell-karnevaleskes, das überdies an einen Hexensabbat erinnert. Die Göttin Germania soll auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden. Während im ersten Traum jedoch Mengele von Anfang an bedrängt und verfolgt wurde, springen hier die Rollen mitten im Traum plötzlich um: Eine Menschenmenge aus nackten Männern, Kindern und Frauen wird zunächst von schwarzen Teufelsgestalten begleitet und zudem von Fliegen und Wespen belästigt. Dieses Detail ist hinsichtlich der Frage nach den Grenzen zwischen Tätern und Opfern insofern bedeutsam, als innerhalb der Diegese Mengele zuvor (vergeblich) versucht hatte, seine Taten in Auschwitz vor seinem Sohn zu rechtfertigen, und hierfür die Juden, der Rassenideologie entsprechend, mit lebensunwürdigen und bedrohlichen Insekten verglichen hatte. Im Traum werden nun die Verfolgten mit einem Mal zu Peinigern der Täterfiguren aus dem Roman: Eichmann, das NS-Helfer-Netz in Lateinamerika und ein weiterer KZ-Arzt, Ottmar von Verschuer, haben (wie bei Martin Amis) schwere Lasten zu schleppen, während das Orchester seine Instrumente stimmt, Affen und Ziegenböcke195 Karren mit Holz heranziehen und eine struppige Hexe auftritt, um eine feierliche Ansprache zu halten. Auffällig ist, dass Mengele, der selbst bislang im Traum noch gar nicht vorkam, sondern das groteske Geschehen nur beobachtet hatte, nun plötzlich ins Zentrum des Traumes rückt. Er hört seinen Namen rufen und erkennt zwei Auschwitz-Opfer, die ihn erschießen wollen: Ein buckliger Vater und sein lahmer Sohn, deren Körper er, wie der Erzähler einige Kapitel zuvor berichtet hatte, lebendig hat sezieren und anschlie192 193 194 195

Guez: Mengele, S. 214. Guez: Mengele, S. 215. Guez: Mengele, S. 214. Die Assoziation liegt nahe, dass hier die Sündenböcke sich aktiv zur Wehr setzen, indem sie die Verbrennung vorbereiten.

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ßend auskochen lassen, legen ihre Gewehre auf ihn an. Der Traum endet damit, dass Mengele auf dem Boden um sein Leben fleht, während der eine in Gelächter ausbricht und der andere eine Opernmelodie pfeift  – eben jene Arie aus Tosca, die Mengele selbst während der Selektionen an der Rampe angestimmt hatte.196 Der Traum ist eine ebenso schlichte wie wirkungsvolle Umkehrung von Täterund Opferpositionen. Doch so grotesk und apokalyptisch das Alptraumszenario auch wirken mag: Es stellt keine Steigerung, sondern eine vergleichsweise realistische Abbildung der Lagerwirklichkeit dar. Die von Mengele begangene Sezierung ist, ungeachtet ihrer alptraumhaften Dimension, ein historisch dokumentiertes Faktum. Diese Parallele zwischen Traum- und Wachwelt wird noch auf einer anderen Ebene verstärkt. Vor der Schilderung des Traumerlebnisses hatte Mengels Sohn den Vater mit seinen Taten konfrontiert. Mengele antwortet auf dessen Frage „Et les juifs alors, qu’est-ce qu’ils t’ont fait, les juifs ?“197 mit einer Umkehrung der Rollen, wie sie auch der Traum inszeniert; und zwar in Form jener typischen, geschichtsverzerrenden Argumentation, welche die Kausalität der Shoah umkehrt, die Schuld auf die Opfer selbst verlagert: Da die Juden die nordische Rasse ausrotten wollten, bliebe einem nichts anderes übrig, als sich zu verteidigen.198 Dieses Phantasma, das die Juden als Täter imaginiert, wird im Traum wahr – ohne dass allerdings eine Verteidigung möglich ist. Kurz vor dem Epilog erinnert sich der nach jahrelangem Fliehen und Verstecken zermürbte, von Schlaflosigkeit heimgesuchte, durch Alpträume gequälte199 und dem Selbstmord nahe Mengele an ein lateinisches Gebet, das ihm der Vater als Kind beibrachte, um ihn vor schlimmen Träumen zu bewahren: „procul recedant somnia, et noctium phantasmata, puissent-ils rester loin de nous, les songes et les chimères de la nuit !“200 Am Schluss des Romans, dem „Fantôme“ überschriebenen Epilog, wird der Satz noch einmal verwendet,201 sein Sinn jedoch umgekehrt, was die Rolle von Subjekt und Objekt, von Täter und Opfer angeht: Sollte anfangs Josef Mengele in der Rede des Vaters vor dem Reich der bösen Träume beschützt werden, steht das „nous“ in der heterodiegetischen Erzählerrede beim zweiten Mal nun für die gesamte Welt, die vor dem Wirklichkeit gewordenen Alptraum des KZ-Arztes bewahrt werden möge. Der chiastisch konstruierte Schlusssatz des Romans, der direkt an diesen Ausruf anschließt, führt die Argumentation explizit vom konkreten Einzeltäter weg hin zum Menschen im Allgemeinen, dem nicht zu trauen sei und von dem aufgrund seiner Ge196 197 198 199

Guez: Mengele, S. 20. Guez: Mengele, S. 207. Guez: Mengele, S. 207. Diese fühlt er, ganz wie Kommissar Schatz aus Garys La danse de Gengis Cohn, körperlich als einen Druck auf dem Brustkorb, der ihn zu ersticken droht. Guez: Mengele, S. 213. 200 Guez: Mengele, S. 213, Kursivsetzung im Original. 201 Guez: Mengele, S. 231.

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schichtsvergessenheit grundsätzlich eine Gefahr ausgehe: „[L]’homme est une créature malléable, il faut se méfier des hommes.“202 Damit macht Guez die Beschwörung, vor bösen Träumen verschont zu bleiben, zu einer Warnung vor einer Wiederholung der Geschichte, der sich auch Leserinnen und Leser des Romans nicht entziehen können.

Täterträume in Daša Drndić: Sonnenschein [2007] Eine solche Warnung bildet den Grundtenor eines Täterromans, der einerseits zahlreiche Eigenschaften aufweist, die uns in der bisherigen Auseinandersetzung bereits beschäftigt haben. Andererseits sticht er aber aus dem Korpus der bislang untersuchten Texte deutlich heraus. Die Traumberichte innerhalb dieses Romans sind nicht nur zahlreicher als in anderen Beispielen und werden typographisch besonders hervorgehoben; sie bilden einen wichtigen und durchgehenden Erzählstrang des gesamten Textes. Sonnenschein stammt von Daša Drndić, einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen aus dem südosteuropäischen Raum. Er erschien 2007 in kroatischer Sprache und wurde 2015 von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić ins Deutsche übersetzt.203 Der dokumentarische Charakter der Romane von Olivier Guez oder Robert Merle wird hier insofern noch überboten, als Drndić ihre Quellen zu einem großen Teil als Zitate direkt in die Erzählung integriert. Hierbei handelt es sich u. a. um Zeugenaussagen, Gerichtsprotokolle, Briefe und Fotoalben von Tätern und Opfern, Dokumentationsmaterial aus NS-Gedenkstätten, Landkarten, Interviewfragmente, Notizen von Überlebenden oder von den Kindern der Täter erinnerte und verschriftlichte Aussagen ihrer Väter. Die Autorin selbst sieht ihren Roman dementsprechend in „der Tradition der dokumentarischen Fiktion“.204 Über historiographische Studien und zahlreiche literarische Zitate205 hinaus, die auch schon andere Täterromane gekennzeichnet hatten (und die zusätzlich

202 Guez: Mengele, S. 231. 203 Daša Drndić: Sonnenschein, Zaprešić: Faktura 2007. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić, Hamburg: Hoffmann und Campe 2015. Zitiert wird im Folgenden aus der deutschsprachigen Ausgabe. 204 Drndić: Sonnenschein, S. 395. 205 Unter anderem von Giuseppe Ungaretti, Paul Celan, Jean Giono, Jorge Luis Borges, Ezra Pound, Eugenio Montale. Eine besondere Funktion kommt den Autoren Umberto Saba und Carlo Michelstaedter zu, weil sie selbst als Figuren Teil des Romans sind.

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in den „Anmerkungen der Autorin“ genannt und erläutert werden206), weist der Roman eine ausgeprägte intermediale Dimension auf. Nicht nur wird etwa ausführlich über Film, bildende Kunst, Architektur oder Musik nachgedacht; diese finden in Form von Zeichnungen, Fotos, Noten, Grundrissen, Filmstills oder Kinoplakaten auch direkt Eingang in den Roman. All dieses Material dient der Protagonistin des Textes Haya Tedeschi als Grundlage für ihre lebenslange Recherche über die Verstrickungen ihrer Familie in den Faschismus und zur Rekonstruktion ihrer eigenen Vergangenheit. Damit steht, wie in zahlreichen weiteren Texten der Shoah (seltener aber in Täterromanen), die grundsätzliche Schwierigkeit und persönliche Qual der Zeugen und Nachfahren im Vordergrund, zur Wahrheit der Geschichte vorzudringen: So vergeht Hayas Leben, im Nichtverstehen, im Falschverstehen, im späten Verstehen, und sie versucht dieses vermaledeite Verstehen zu enträtseln wie einen Zauberwürfel, dessen Geheimnisse sich partout nicht erschließen. Sie öffnet und seziert ihr Nichtverstehen in kleine und kleinste Teile, in jede einzelne Zelle dieser riesigen Wabe, zu der ihr Leben geworden ist, zu diesen jetzt schon leeren Kämmerchen, schrittweise, in eins nach dem anderen schiebt sie die Nadel der Vernunft, und aus ihnen kriechen Würmer, da ist nur Fäulnis.207

Über einen historischen Roman hinaus entpuppt sich Sonnenschein damit vor allem als ein Historiographie kritischer, hochgradig selbstreferenzieller und metareflexiver Text.208 Er ist eine intensive Auseinandersetzung mit der (Un-)Zuverlässigkeit der Quellen, mit vielfältigen Strategien des Verschweigens und Verdrängens, mit verlogener oder revisionistischer Geschichtsdarstellung. Die Art und Weise, in der die Betroffenen und die nachgeborenen Generationen dieses Romans sich bemühen, zu den Wurzeln der Geschichte vorzudringen und der Wahrheit auf den Grund zu kommen, ohne jemals eindeutig an die Quellen historischer Erinnerung gelangen zu können, erinnert unwillkürlich an zwei andere Romane, in denen sich die Figuren den verschütteten, vergessenen oder verleugneten Ereignissen der Shoah mittels erzählter Träume annähern. Zum einen weist Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated ähnliche Erzählverfahren auf (vgl. Kapitel VIII), zum anderen denkt man aber auch an W. G. Sebalds Roman Austerlitz von 2001.209 Wie Sebald und Foer die problematische 206 Drndić: Sonnenschein, S. 395–398. 207 Drndić: Sonnenschein, S. 59. 208 Vgl. etwa zum Zusammenhang von Krieg und Geschichtsschreibung. Drndić: Sonnenschein, S. 13–16. 209 W. G. Sebald: Austerlitz [2001], Frankfurt am Main: Fischer 2003. Zu den Träumen in diesem Roman vgl. u. a. S. 203–209. Die schrittweise Entdeckung der eigenen Vergangenheit macht Austerlitz innerhalb eines Traums („Mitten in diesen Träumen, sagte Austerlitz, habe er hinter seinen Augen gespürt, wie die Bilder, die von einer überwältigenden Unmittelbarkeit gewesen seien, förmlich aus ihm sich hervorschoben“ (Sebald: Austerlitz, S. 204–205)), nach-

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historiographische Rekonstruktion durch die Vielstimmigkeit der Erzähler und die auffällige typographische bzw. textbildliche Gestaltung ihrer Romane zur Anschauung bringen,210 so fügen sich auch in Sonnenschein zahllose Stimmen zu einem heterogenen Ganzen zusammen. Eine solche Vielschichtigkeit, Lückenhaftigkeit und Polyphonie führt das Buch durch seine eigenwillige materielle Form besonders vor Augen: Zitate, Zeugenaussagen und Träume sind kursiv gesetzt – letztere zudem in konsequenter Kleinschreibung –, bestimmte historische Fakten finden sich auf mehrspaltig gedruckten und mit ausführlichen Fußnoten versehenen Seiten wieder, die Biographien der Täter werden in der Typographie von Lexikoneinträgen gesetzt, faschistische oder patriotische Lieder als Notentext wiedergegeben und der Blattschnitt ist ausgesprochen unregelmäßig. Damit verweist diese Geschichte über den Versuch einer historischen Rekonstruktion der NS-Täterschaft auf ihre eigene Gemachtheit: An jeder Stelle des Buches wird darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht einfach ‚da‘ ist, sondern dass sich seine Existenz einem mühsamen Prozess der materiellen Herstellung verdankt. Das auffälligste buchgestalterische Mittel findet sich genau in der Mitte des Romans. Nach der Kapitelüberschrift „[H]inter jedem Namen verbirgt sich eine Geschichte“ folgen „[d]ie Namen der ungefähr neuntausend Juden, die aus Italien oder aus von Italien besetzten Ländern zwischen 1943 und 1945 deportiert

dem er sich zuvor stets bemüht hatte, „[s]ich an möglichst gar nichts zu erinnern“, das Radio auszuschalten, keine Zeitungen zu lesen und das eigene Denken zu zensieren. Sebald: Austerlitz, S. 205–206. Sehr aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang auch die traumhafte Wahrnehmung des wieder zum Leben erwachten Ghettos von Terezín/Theresienstadt, in der sich „die Folge der Bilder  […] zu einem Alptraum [verdichtet]“. Sebald: Austerlitz, S.  292. Auch stilistisch und erzähltechnisch finden sich auffällige Parallelen zwischen Austerlitz und Sonnenschein. Zum einen spielen beide Titel mit phonetischen und geographischen Assoziationen an die Shoah: Austerlitz – Auschwitz, Sonnenschein – Sonnenstein; es handelt sich hier um ein von der SS besetztes Schloss, in dem die Euthanasie-Aktion T4 vorbereitet und durchgeführt wird und in dem bis 1941 fast 14.000 Menschen mit Behinderungen ermordet werden; diese Örtlichkeit wird im Roman selbst ausdrücklich zum Thema gemacht. Drndić: Sonnenschein, S. 385–387. Zum anderen wird der hohe Grad der Mittelbarkeit, der die Rekonstruktion von historischer Erinnerung kennzeichnet, auch syntaktisch ähnlich wiedergegeben. Vgl. etwa: „Ich erinnere nur daran, schreibt Melloni, dass das Reichskonkordat […] in Deutschland noch heute in Kraft ist. […] Die katholische Kirche ist die höchste sittliche Macht auf Erden […], sagt Faulhaber, schreibt Melloni. Abe Foxman hat mir erzählt, und Foxman ist Vorsitzender der Anti-Defamation League, schreibt Melloni, dass er, Foxman, bei einer polnischen Familie versteckt worden sei.“ Drndić: Sonnenschein, S. 314–318, hier S. 318 (Kursivsetzungen im Original). Sebald allerdings wird im Anhang von Daša Drndić nicht ausdrücklich als Quelle genannt. 210 Für Foer wäre über Everything is Illuminated, Boston: Houghton Mifflin 2002, hinaus auch sein Roman-Kunstwerk Tree of Codes, London: Visual Editions 2010 zu nennen, das Bruno Schulz’ Buch The Street of Crocodiles zur materiellen Grundlage hat, aus dem so viele Wörter ausgeschnitten wurden, dass die Lücke zum zentralen Konstruktionsprinzip wird.

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oder dort ermordet wurden“.211 Damit bilden ganze 70 Seiten kleingedruckter, dreispaltig notierter Namen von Alberto Abeasis bis Jerachmil Zynger den eigentlichen Kern des Buches. Im kroatischen Original sind diese Seiten unmittelbar vor dem Falz perforiert und können dementsprechend leicht aus dem Buchkörper herausgetrennt werden, sodass die Lücke, die die ermordeten Jüdinnen und Juden hinterlassen, beim Lesen auch physisch erfahrbar wird. Dieses gestalterische Prinzip verweist auf eine wichtige Besonderheit des Romans: Wohl kein anderer Täterroman verknüpft die Stimmen von Opfern, Überlebenden, Tätern und Nachgeborenen auf derart komplexe und programmatische Weise miteinander. Und kein anderer Täterroman differenziert seine Erzählung so detailliert in verschiedene Grade und Formen der Täterschaft und des Opferwerdens. Nicht zuletzt erzählt er von der breiten und grauen Zone eines uneindeutigen Dazwischen, die zum eigentlichen Thema des Romans wird. Eine solche ‚Zwischenzone‘, in der die unterschiedlichsten Stimmen, Interessen und Geschichten aufeinanderprallen und sich überkreuzen, stellt auch der Schauplatz des Geschehens dar. Die Erzählung beginnt mit der Protagonistin Haya Tedeschi kurz vor ihrem Tod, durch die die Handlung intern fokalisiert ist: „Sie wartet seit zweiundsechzig Jahren“, ist der erste Satz des Romans.212 Der Text stellt sodann die rückblickende Rekonstruktion ihrer Verstrickungen in den Nationalsozialismus und den italienischen Faschismus dar, die in Gorizia und Triest, wo das Geschehen vorrangig angesiedelt ist, durch die Operationszone Adriatisches Küstenland weitgehend zusammenfallen. Die wechselhafte Geschichte der Städte, in denen Österreich-Ungarn, Italien, Jugoslawien, Russland und Deutschland um die politische Vorherrschaft streiten, die kulturelle Diversität und die Vielsprachigkeit der Bevölkerung, für die Triestinisch, Italienisch, Slowenisch, Kroatisch und Deutsch gleichermaßen zum Alltag gehören, bilden den historisch-kulturellen Hintergrund des Romans, der damit eine innerhalb der Literatur der Shoah und insbesondere der Täterliteratur marginalisierte Perspektive ins Zentrum rückt. So wird etwa das einzige nationalsozialistische Konzentrationslager auf italienischem Boden, die in Triest gelegene Risiera di San Sabba, zu einem zentralen Thema des Romans. In diesem Lager wurden nicht nur ca. 25.000 Häftlinge interniert, gefoltert und von dort aus in die osteuropäischen Vernichtungslager verschickt, sondern es verfügte auch selbst über Todeszellen und ein Krematorium.213 Betont werden muss noch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal: Nicht nur ist der Roman von einer Frau verfasst; er reflektiert die Themen der Täterschaft, des 211 Die Kapitelüberschrift findet sich auf S. 147, die Ankündigung auf S. 149. 212 Drndić: Sonnenschein, S. 5. 213 Der Roman gibt im Zuge der Auseinandersetzung mit zahlreichen Täterfiguren Fotos der Außenansicht und der Todeszellen, Lagepläne, Fotografien der Kommandanten und die Entwicklung vom vergessenen bzw. verdrängten Ort zum Museo della Risiera di San Sabba wieder. Vgl. v. a. Drndić: Sonnenschein, S. 223–235.

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Faschismus und der Shoah auch vorrangig aus einer weiblichen Perspektive.214 Damit werden zahlreiche Ereignisse, Motive, Einzelgeschichten und Unterthemen behandelt, die sich kaum in einem anderen Täterroman finden: Die Rolle der Täterinnen und die Konsequenzen, die ihre Töchter daraus ziehen, die Bedeutung der Sexualität im Faschismus und im Nationalsozialismus, das System der Bordelle und Prostituierten, die Funktion und Organisation der sogenannten Lebensborn-Heime, nationalsozialistische Mutterschaftskonzepte, ganze weibliche Genealogien von Täterinnen und Ermordeten oder die Prozeduren und Methoden der rassenideologischen NS-Medizin mit ihren Auswirkungen besonders auf Frauen, beispielsweise, was Reproduktion und Sterilisation angeht. Hayas persönliche Geschichte erweist sich als untrennbar verknüpft mit den historisch-politischen Ereignissen vom Ersten Weltkrieg über die Shoah und den Zweiten Weltkrieg bis hin zu den Aufarbeitungsversuchen der Nachkriegsgeneration. Insofern bildet die komplexe Familiengeschichte von der UrelternGeneration bis zu ihrem Sohn einen entscheidenden Erzählstrang des Romans. Das zentrale Ereignis dieser Geschichte, das zugleich einen jahrzehntelangen blinden Fleck im Leben der Protagonistin darstellt – eine abgründige und fast unentwirrbare Verknotung aus Vergessen, Verdrängen, Vertuschen und Nichtwissen – wird erst gegen Ende des Romans aufgedeckt: Haya Tedeschi hatte sich während des Zweiten Weltkriegs in den SS-Offizier Kurt Franz verliebt, einen der Haupttäter der Shoah (nicht nur) auf norditalienischem Gebiet,215 und sich auf eine Affäre mit ihm eingelassen, aus der ein uneheliches Kind hervorgegangen ist. Im Säuglingsalter verschwindet dieser Sohn plötzlich, „als hätte es ihn nie gegeben“.216 Jahrelange Recherchen vonseiten der Mutter und – wie sich am Schluss herausstellt – des Sohnes selbst bringen ans Licht, dass der Säugling von der SS geraubt, entführt und als eines von zahllosen ‚arischen‘ Kindern in ein Lebensborn-Heim verbracht wurde, aus dem er später von parteitreuen Pflegeeltern adoptiert wird.217 Haya Tedeschi ist damit auf komplizierte Weise zu214 Eine der wenigen Studien zum Thema der weiblichen NS-Täterschaft stammt von Simonetta Sanna. Sie untersucht u. a. Bernhard Schlinks Der Vorleser [1995], Helga Schneiders: Lass mich gehen, Mutter [2001], Stefan Hermlins Die Kommandeuse [1954] und Hans Leberts Der Feuerkreis [1971]. Vgl. Simonetta Sanna: „Nazitäterinnen in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit. Drei Thesen zu Roman und Gewalt“, in: Dagmar von Hoff/Brigitte Jirku u. a. (Hrsg.): Literarisierungen von Gewalt. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur, Berlin: Peter Lang 2018, S. 131–156. 215 Der spätere SS-Untersturmführer war an der Aktion Reinhardt und dem Euthanasieprogramm T4 beteiligt und der letzte Lagerkommandant von Treblinka. 216 Drndić: Sonnenschein, S. 138. 217 Grundlage für die Figurenzeichnung der Protagonistin ist, nach Aussagen der Autorin, Frank Gents My Mother’s Story [1996] über Fulvia Schiff; die Liebesgeschichte zwischen Haya und dem SS-Mann Kurt Franz sowie die Geburt ihres Sohnes seien hingegen „reine Fiktion“. Drndić: Sonnenschein, S. 395.

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gleich Täterin und Opfer.218 Zwar beteiligt sie sich nicht selbst an nationalsozialistischen oder faschistischen Gewalttaten und gibt jahrzehntelang vor, von den in ihrer unmittelbaren Nähe sich vollziehenden Massendeportationen, Internierungen und den Gräueltaten der SS nichts mitbekommen zu haben. Jedoch profitiert sie – wie ihre gesamte Familie, die aus Opportunisten, Mitläuferinnen und Kriegsgewinnlern besteht und ihre Kinder in den 1930er Jahren heimlich katholisch taufen lässt219 – in vielfacher Hinsicht vom Regime und lässt sich im Zuge ihrer Liebesaffäre durchaus von der SS hofieren und von der Wehrmacht begeistern. Durch diese besondere Position der Protagonistin entsteht hier eine Figur, in deren Bewusstsein sich die unterschiedlichsten Stimmen, Interessen und Geschichten überkreuzen: Sie hört Stimmen, die es nicht gibt. Die Stimmen sind tot. Trotzdem spricht sie mit den toten Stimmen, streitet mit den toten Stimmen, oder sie überlässt sich ihnen träge, und die Stimmen führen sie flüsternd in Gegenden, die sie vergessen hat.  […] Ohne Stimmen ist sie ganz allein, gefangen im eigenen Schädel, der immer weicher wird, immer verletzlicher, wie der Schädel eines Neugeborenen  […]. Ihre Geschichte ist eine kleine Geschichte, eine der unzähligen Geschichten von Begegnungen, von erhaltenen Spuren zwischenmenschlicher Kontakte, sie weiß das, doch solange sich nicht alle Geschichten der Welt zu einer gigantischen kosmischen Patchwork-Decke verbinden, die die Erde umhüllt, damit die Erde schlafen kann, wird die Geschichte, dieses Ungeheuer aus der Wirklichkeit, weiterhin die Nähte auftrennen, schnippeln, reißen, Fetzen des Universums klauen und sie in ein eigenes Leichentuch nähen.220

Als eine solche Patchwork-Decke ließe sich aufgrund der Heterogenität, Vielstimmigkeit und des fragmentarischen Charakters nicht nur Hayas Perspektive auf die Weltgeschichte, sondern auch der Roman selbst bezeichnen. Durch die Art ihrer Zusammenstellung erfahren die historischen Daten und Fakten eine subjektive Deutung, sie spiegeln sich gewissermaßen im Bewusstsein der Protagonistin. In ihrem Kopf prallen die Stimmen der Täter und die der Opfer aufeinander und werden in einer subjektiven Perspektive auf das Entstehen und auf die Folgen der Shoah gebündelt. Das Hybride des Textes überträgt sich auch auf die formale Ebene. Abgesehen von den intermedialen, intertextuellen und buchgestalterischen Mitteln, ist auch die Sprache selbst von Vielstimmigkeit gekennzeichnet. Die zahlreichen 218 Diese problematische, spezifisch weibliche Position zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit beleuchtet ausführlicher Renata Jambrešić Kirin: „Sur l’histoire, l’amour et la douleur dans les romans féminins croates“, in: Ethnologie française 43/2 (2013), S. 243–254, v. a. S. 249. 219 Vgl. u. a.: „Die Familie Tedeschi ist eine umgängliche Familie, eine Familie schweigsamer bystander, und wenn sie nicht schweigen, dann sprechen sie für den Faschismus.“ Drndić: Sonnenschein, S. 91. 220 Drndić: Sonnenschein, S. 5–7.

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Brüche und Wechsel in der Erzählung werden von Sabina Giergiel mit der Traumatisierung der Protagonistin erklärt und als eine „poetics of fragment“ bezeichnet: „The works of Drndić often have a mosaic-like, polyphonic structure with some fragments even coming close to essayist […], making it possible for the author to mix temporal planes in order to connect reflections on the past with a contemporary point of view and to include fragments of autobiographical narration interspersed with metatextual inclusions.“221 Das Spektrum verläuft, dies dürften die zitierten Textstellen bereits deutlich gemacht haben, vom Dokumentarstil über narratologisch komplexe Erzählpassagen und integrierte Traumberichte bis hin zu poetischen Sätzen, die vor allem auf einer metaphorischen Ebene funktionieren und, ähnlich wie bei Charlotte Delbo, an ein poème en prose erinnern (vgl. Kapitel X). Auch wenn Drndićs Text durch seine Protagonistin auf den ersten Blick vor allem ein Mitläuferinnenroman zu sein scheint, so wird der Täterschaft ein so umfassender, detaillierter und differenzierter Raum beigemessen wie in kaum einem anderen der bislang untersuchten Romane. Neben Täterfiguren, die Teil der Handlung sind, weil sie, wie etwa Christian Wirth, Josef Oberhauser, Franz Stangl, Odilo Globocnik und Erwin Lambert, die Operationszone Adriatisches Küstenland verwalten, an der Euthanasieaktion T4 und der Aktion Reinhardt beteiligt sind oder die Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor leiten, wird etwa eine „[u]nvollständige Liste ehemaliger Angehöriger der Aktion T4 1943, die nach Triest und Umgebung (OZAK) versetzt wurden“222, wiedergegeben, auf die ein 30-seitiges Kapitel mit Lebensläufen, Täteraussagen aus Vernehmungsprotokollen und Auszügen aus Anklageschriften von 46 SS-Tätern folgt. Dass diese Täterperspektiven stets auf das Engste mit den Stimmen der Opfer, der Überlebenden und ihrer Nachkommen konfrontiert werden, verhindert ein unkommentiertes, sich verselbstständigendes Raumgreifen der Täter-Ideologie innerhalb des Romans. Haya Tedeschi legt über all diese Täter „eine kleine, völlig sinnlose Kartothek“ an, die zu ihrer „Obsession“ wird.223 Ihre Erkenntnis über das historische Geschehen und ihre Verbindung mit einem der monströsesten Täter der NS-Geschichte vollzieht sich als eine Entwicklung von der vollkommenen Blindheit und Taubheit („Sie sieht nicht, sie schaut nicht, mit Wachs in den Ohren hört sie

221 Sabina Giergiel: „The Saving Narratives of Daša Drndić“, in: Studia Judaica 1/41 (2018), S. 97– 116, hier S. 105 und S. 102. 222 Drndić: Sonnenschein, S. 237. Die Liste selbst ist mit geschwärzten Wohnadressen auf der übernächsten Seite abgedruckt, die Lebensläufe und Zeugenaussagen umfassen die Seiten 241–270. 223 Drndić: Sonnenschein, S. 271.

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nicht“224) über das Eindringen der Wahrheit in ihre Träume225 bis hin zum klarsichtigen Durchdringen der Geschichte. Dass das Erkennen der Wirklichkeit untrennbar mit Selbsterkenntnis verbunden ist, z.  B. mit einem Erschrecken davor, wie wenig sie bisher von sich selbst weiß,226 kann als ein durchgängiges Thema des Romans gelten. „[W]ie kam es, dass ich nichts wusste, wie kam es, dass ich nichts sah?“,227 muss sie sich fragen, als sie der Wahrheit nicht mehr ausweichen kann und sich mit dem schrittweisen Verstehen, wer ihr ehemaliger Liebhaber Kurt Franz ist, „überall um sie herum der Schlund auf[tut]“ und sie „hinein[tritt] in den Vorhof der Hölle“.228 Das Sehen ist in diesem Text grundsätzlich mit Wissen verbunden, und diese Verbindung prägt auch die zahlreichen Träume, von denen der Roman durchzogen ist. Im Zusammenhang mit der Thematik des Sehens kommt Hayas geraubtem Sohn, der die Wahrheit schließlich ans Licht bringt, eine besondere Bedeutung zu. Dass das Auge, mit dem die Vergangenheit in den Blick genommen wird, verletzlich ist und das Sehen massiv behindern kann, formuliert er in einer vielsagenden Passage: Das Auge ist ein weiches Organ, das sieht oder nicht sieht, wie man es nimmt. Das Auge ist ein empfindliches Organ, es tränt oft, wenn es sich wehrt, ermüdet schnell, blinzelt, wie um zu sagen, ich will nicht sehen, gibt oft kampflos äußerem und innerem Druck nach, und außerdem ist das Auge schnell zerstört und zieht verschiedene Tiere an, die sich gern von ihm, dem Auge ernähren.229

Als Fotograf reflektiert er über die Macht der Bilder und versteht seinen Beruf als Sichtbarmachung des Verdrängten und Ausgeblendeten.230 Und so endet der Roman mit einem imaginierten intertextuellen Dialog zwischen Haya, ihrem Sohn und T. S. Eliots Langgedicht „The Waste Land“, an dem besonders die Thematik des Sehens als Erinnerung hervorgehoben wird.231 Viele Traumerzählungen des Romans – die hier aufgrund der schieren Anzahl nicht alle im Einzelnen wiedergegeben werden können – handeln von ambivalenten Mutter-Tochter-Verhältnissen. An der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit Hayas haben ihre Träume einen wesentlichen Anteil; und zwar 224 Drndić: Sonnenschein, S. 11. 225 „1976 beginnt in Triest der Prozess gegen die Männer, die man beschuldigt, in San Sabba Gräueltaten begangen zu haben. […] Auch zu Haya dringt die Nachricht vor, sie kommt in ihr Zimmer, setzte sich auf die Uhren, schleicht sich in ihre Träume. Diese Träume kreisen in ihrem Kopf […] und sie strampelt und weiß keinen Weg, die Träume zu vertreiben.“ Drndić: Sonnenschein, S. 223. 226 Drndić: Sonnenschein, S. 120–121. 227 Drndić: Sonnenschein, S. 64. 228 Drndić: Sonnenschein, S. 272. 229 Drndić: Sonnenschein, S. 331. 230 Drndić: Sonnenschein, S. 391–392. 231 Drndić: Sonnenschein, S. 393–394.

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insofern, als sie den Prozess der Wahrheitsfindung und der schonungslosen Konfrontation mit der eigenen schuldhaften Naivität bzw. der selbstgewählten Blindheit durch ausdrucksstarke Bilder, eigenwillige Dialoge, verdichtete Gestalten, intensive Körperempfindungen und eine gesteigerte sinnliche Wahrnehmung begleiten, in einigen Fällen auch vorwegnehmen. Dies führt die Protagonistin zu veränderten, sie hochgradig irritierenden Selbstansichten. Auffällig oft kommen in den Träumen Figuren vor, die zugleich tot und nicht tot sind. Hierfür ist etwa der erste Traum repräsentativ, bei dem es sich zudem um ein vielfach wiederkehrendes Traumerlebnis handelt: Manchmal träumt sie, sie zieht ihre mutter, die in einem plastiksack liegt. sie zieht sie an den füßen, will sie verstecken. sie zieht, und ihre mutter zerfällt. das bein ihrer mutter reißt ab. die mutter ist tot, sagt aber, versteck das bein, vergrab es beim schreibwarenladen an der kreuzung zwischen via seminario und via ascoli, den rest bring ins rosental, das sagt sie.232

Wenige Seiten später233 bringt die Träumerin selbst diesen und weitere erinnerte oder durch die Verwandtschaft überlieferte Träume234 mit der spezifischen Geschichte ihrer Vorfahren in Verbindung. Aufgrund der vielen Heimlichkeiten, Lügen und fluchtbedingten Zerstreuung in alle Welt,235 wurden Tote oftmals nicht begraben, stamme sie aus „eine[r] Familie ohne Spuren“.236 Diese abgründige Mischung aus Fragmentierung, Zerstreuung, Verdecken und Aufdecken zeigt sich in Hayas Traumerleben auf eindrückliche Weise. Auch ein weiterer Traum Hayas handelt von einem Toten, der nicht wirklich tot ist und dem sich die Träumerin nicht entziehen kann. Hier allerdings spricht der Leichnam nicht direkt, sondern er muss gewissermaßen gelesen, hermeneutisch erschlossen werden. Die Protagonistin erinnert sich vor dem Einschlafen an ein Ereignis aus ihrer Kindheit: Ihre Mutter soll im Rahmen einer landesweiten Sammelaktion von Gold, Silber und Edelsteinen zur Unterstützung des Faschismus ihre Ohrringe an Mussolini abgeben. Die Passage, die auf den Traumbericht folgt, erläutert diese Aktion anhand zahlreicher Daten und Fakten. Anstatt ihren Schmuck abzuliefern, sticht die Mutter Haya jedoch Löcher in die

232 233 234 235

Drndić: Sonnenschein, S. 12. Drndić: Sonnenschein, S. 28 und nochmals S. 37. Vgl. etwa die Traumerzählung Drndić: Sonnenschein, S. 31. Im Zusammenhang mit der Flucht oder der Gefangenschaft ihrer Familienmitglieder berichtet Haya übrigens auch von den überall kursierenden Essensträumen, „die einem „eine[r] Illusion von […] Rückkehr“ vorgaukeln: „Die jungen italienischen Männer träumen vor allem von Essen, so wie jeder, dem die Freiheit genommen wird, von Essen träumt.“ Drndić: Sonnenschein, S. 31–32. 236 Drndić: Sonnenschein, S. 32.

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Ohren und steckt der Tochter den Schmuck an, den sie noch 72 weitere Jahre tragen wird. Abrupt bricht Haya die Erzählung ab („genug für heute“237), legt sich schlafen und träumt: der leichnam öffnet sich wie ein buch, er öffnet sich von allein, wie eine zauberschachtel, und darin liegen winzige diamanten, unzählige winzige diamanten, wie tote hautschuppen – sie glitzern. dann fließen sie wie ein fluß. in diesem leichnam, der nicht sterben will, in diesem inzwischen geschlechtslosen toten steht alles still bis auf das flüchtende licht. geruchlos. balsamiertes verschwinden. die gesichtshaut des toten ist angespannt, die augenhöhlen trocken und leer, durch die pergamenthülle erahnt man den schädel, im geöffneten mund wachsen zähne, werden weiß und lang. haya schaut in die eingeweide des toten und in den unzähligen winzigen flächen der farblosen edelsteine sieht sie ihr gesicht, verzerrt und tausendfach gespiegelt238

Dieser Traum vom Blick in den Leichnam stellt vor allem die visuelle Wahrnehmung in den Vordergrund (Gerüche sind ausdrücklich nicht festzustellen, alles steht still, das Licht gleißt, die Zähne sind weiß). Durch die leeren Augenhöhlen des Toten kann die Träumerin in die Eingeweide sehen. Dass Innere der Leiche besteht aus glitzernden Edelsteinen – gewissermaßen dem, was Mussolini geopfert wurde, um das faschistische System am Laufen zu halten. In dieses System ist Haya auf existenzielle Weise involviert. Nicht nur trägt sie in der Wachwelt den Schmuck der faschistischen Mutter unmittelbar am eigenen Leib. Auch sie hat ja ihren Schatz, das eigene Kind, an den Nationalsozialismus verloren, nachdem sie zunächst als junge Frau persönlich vom Glanz des Regimes profitiert, sich von ihm hatte blenden lassen. Auch wenn sie zum Zeitpunkt des Träumens noch keine Kenntnis über das Schicksal ihres Sohnes besitzt, so weiß sie sehr wohl, dass sie auf ungute, unauflösbare Weise mit dem NS-Regime verbunden ist. Der Glanz der Edelsteine im Inneren des Toten spiegelt nun das eigene Gesicht verzerrt und tausendfach vervielfältigt wider. Was sich in den Eingeweiden zeigt (aus denen ja in der Antike Prophezeiungen für die Zukunft gewonnen werden, was in antiken Traumkulturen durchaus in einen Zusammenhang mit der Traumdeutung gebracht wird), ist, dass das Ich sich selbst nicht entkommen kann. Während bei Amis die KZ-Täter ihren Blick stets vom Spiegel abwenden, um ihr wahres Selbst nicht erkennen zu müssen, reflektiert hier der Blick ins Innere des Toten also gewissermaßen die eigene Leiche im Keller. Der nächste wörtlich wiedergegebene Traum des Romans ereignet sich, als 1976 in Triest der Prozess gegen die Täter von San Sabba beginnt. Während die Richter und Ankläger der historisch-politischen Wahrheit immer näherkommen, muss auch Haya im Traum ihr unschuldiges Mädchenzimmer durch eine aufgebrochene Türe verlassen und ihre ‚weiße Weste‘ ablegen: Im weißen Nacht237 Drndić: Sonnenschein, S. 51 238 Drndić: Sonnenschein, S. 51.

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hemd „rennt sie wie eine wahnsinnige ophelia“ in die Toilette, versucht sich die Hände zu waschen und muss beobachten, wie „vor hayas augen“ „das weiße nachthemd immer dunkler“ wird, bevor sich ihr schwarzes Kleid auf der geschichtsträchtigen Burg von Gorizia in einen Schwarm Raben verwandelt, der sie von den Burgmauern davonträgt.239 In verblüffender Weise ähnelt dieser Traum dem Todestraum von Max Schulz aus Hilsenraths Der Nazi  & der Friseur, in dem sich die weißen Vorhänge in schwarze Raben verwandeln und den Massenmörder durch die Lüfte tragen. Allerdings ist für Haya das Leben an dieser Stelle nicht zu Ende. Sie versucht vielmehr einen Neubeginn, nachdem sich die verschlossen Türen allmählich öffnen und sie ihr makelloses Selbstbild aufgeben muss. Dieser Traum, offensichtlich nur einer von unzähligen, die nicht eigens erzählt werden, funktioniert wie ein Scharnier zwischen zwei Phasen in Hayas Wachwelt: Insofern die Vergangenheit nicht mehr unter Verschluss gehalten werden kann, bricht sich hier die Shoah Bahn. Haya beginnt mit ihren persönlichen Recherchen („es ist Zeit“240), als die offizielle Aufarbeitung der Geschichte des Lagers San Sabba beginnt. Allerdings zeigt sich die Wahrheit nicht sofort. Es sind noch viele Jahre der Bemühungen notwendig, bevor sich die Wege Hayas und ihres Sohnes am Ende der Erzählung tatsächlich kreuzen. Im Traum jedoch taucht der Sohn (mit einem Fotoapparat und in der Gestalt eines Spions, der die Wahrheit heimlich auskundschaftet) bereits auf, und die Entdeckung des Familiengeheimnisses steht unmittelbar bevor. Sie kommt bezeichnenderweise erst ans Licht, nachdem die Träumerin den Boden unter den Füßen verliert und durch Mengen von Unrat gewatet ist.241 Eine solche Deutung kann allerdings nur aus der Perspektive derer gelingen, die den gesamten Roman kennen und die nötige Distanz zu Hayas Geschichte besitzen. Für die Protagonistin selbst handelt es sich um einen „leisen Traum, so klein und leise, dass sie nur mit Mühe etwas erkennt“:242 auf der straße, barfuß und in dunkelheit, geht haya in eine öffentliche toilette. der boden der toilette ist überflutet von urin und fäkalien, sie kann nirgendwohin, hinter ihr ist der boden weggerutscht. um zur toilettenschüssel zu gelangen, muss sie durch die ausscheidungen waten und sie blickt auf ihren eigenen bauch, der vor ihren augen wächst. ich bin ganz ruhig, sagt sie, auch wenn man nicht weiß, wer der vater ist. später geht haya in eine alte verlassene wohnung zurück, in diese wohnung kommt ein mann gerannt, mit einem fotoapparat um den hals, und sagt, ich bin ein spion. in ordnung, ich bin schwanger, sagt haya, ich lehne mich an deine brust, sagt sie, an ihren schläfen und auf der stirn bilden sich hellbraune flecken. von irgendwo239 Drndić: Sonnenschein, S. 223–224. 240 Drndić: Sonnenschein, S. 224. 241 Der Traum von Fäkalien, die sich immer mehr ausbreiten und durch die die Träumerin hindurchwaten muss, erinnert deutlich an die zahlreichen skatologischen Träume Max Aues in Les Bienveillantes. 242 Drndić: Sonnenschein, S. 320.

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her taucht ada [Hayas Mutter] auf, ganz eingenässt. haya sagt, mama, jetzt gehen wir gleich aus, aber ada lächelt nur und schüttelt den kopf. dann sagt ada, hier haya, lies, auf einer herausgerissenen seite der pravda steht, józsef nagy: ‚die wahrheit ist schwer zu finden‘243

Ein letzter Traum soll hier noch präsentiert werden, weil er gegen Ende des Romans zeigt, dass die Selbsterkenntnis, welche die Auseinandersetzung mit der Geschichte begleitet, bei allem Schmerz auch befreiend, ja regelrecht beflügelnd sein kann. Der Prozess der Wahrheitsfindung gerät in Bewegung und mittlerweile arbeiten derart viele unterschiedliche Aufklärer und Institutionen an der Sichtbarmachung der historischen Vergangenheit, dass sich der Prozess im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr aufhalten lässt. Auch hier haben wir es, wie bereits so häufig, mit einem Traum voller sinnlicher Wahrnehmungen zu tun, die den Sehsinn begleiten und ihn intensivieren und die geschichtliche Erkenntnis in intensive Körperbilder übersetzen. Als die Ereignisse der historischen Aufarbeitung sich überschlagen und sich damit auch das Rätsel um den verlorenen Sohn zu lösen beginnt, träumt Haya folgenden Traum: haya fährt fahrrad durch den wald. das grün der blätter glänzt so sehr, dass es luftig durch ihre haut dringt, unter die lider, es ergießt sich über ihre alt gewordenen organe, tränkt sie mit dem geruch der soča. die räder drehen sich immer schneller, ihre augen sind voller wind, im kopf ein seltsames lied, wie ein choral in der sonne. was für ein dummes lied, sagt haya, es gibt keine engel. sie rutscht von den pedalen, eine faust verkrampft sich in hayas brust, während sie den lenker umklammert, der weg ist weiß und uneben, die räder drehen sich schnell, noch schneller, noch. haya lässt den lenker los, haya breitet im wald die arme aus, nimmt die füße von den pedalen, streckt die beine zum wald, hebt den kopf zum himmel, fliegt, sie fliegt durch die rautenförmigen bilder eines kaleidoskops. sie blickt durch die pappröhre verflochtener magie, und dort im eck sieht haya ihr leben kauern und warten, wie es zu ihr starrt mit trockenen aufgerissenen augen (lidless eyes). jahrmarkt, in ihrem kopf ein jahrmarkt, die via aprica vereingt sich zu einem lichtpfeil. der lichtpfeil fliegt und bohrt sich in hayas auge, verwandelt sich in eine winzige kugel, in der sich eine aufschrift spiegelt: Joy244

Die Entwicklung vom blinden Mitläufertum hin zu historischem Wissen und persönlicher Klarsicht muss, so zeigt dieser Roman eindrücklich, jedes Individuum einzeln vollziehen, zugleich aber durch einen kollektiven, öffentlich-politischen Prozesses begleitet werden. Und dies aus zwei Gründen: Zum einen, weil die Täter mitten unter uns leben und sich nicht auf den ersten Blick erkennen lassen. Der Sohn Hayas, der als Sohn eines Massenmörders zunächst über den Vater nichts wissen will, weil er in ihm schlicht ein Monster, das ganze An243 Drndić: Sonnenschein, S. 320. 244 Drndić: Sonnenschein, S. 323–324.

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dere, das Böse sieht,245 das er auf Distanz halten will, setzt sich schließlich doch zunehmend intensiv mit ihm auseinander und stellt fest: Das macht mir Angst, wenn in Menschen, die Ungeheuer sind, von denen wir wissen, dass sie Ungeheuer sind, Metzger, Schlächter, perverse Sadisten, wenn wir in ihnen ein Stückchen Menschlichkeit erkennen, Sanftheit und Ohnmacht, das ist der Horror. Hans, wie sehen die Kinder von Mördern aus, fragen mich einige Kinder aus der Gruppe, wie? Wie wir, antworte ich, sie sehen aus wie wir.246

Zum anderen, heißt es in den umfangreichen Reflexionen Hayas über das Mitläufertum, seien die „blinden Betrachter“ ganz „gewöhnliche Leute“, deren Schuld vor allem darin besteht, möglichst ungestört und in Sicherheit leben zu wollen. Und zu solchen „Zuschauer[n] mit Binden über den Augen, die sich ihrer Betrachterunschuld rühmen“, können  – daran lässt der Roman keinen Zweifel – wir alle jederzeit werden: „Die bystander, das sind wir.“247 Mit einem Zitat des Dichters Carlo Michelstaedter, dem berühmtesten Einwohner von Gorizia, führt Daša Drndić diese Parallelisierung von Tätern, Mitläufern und jedem einzelnen Leser bzw. jeder einzelnen Leserin des Buches noch einen Schritt weiter. Michelstaedter setzt die Erkenntnis der Geschichte mit der Erkenntnis des Selbst gleich: Wenn die Erfahrung aller geschichtlichen Ereignisse im Grunde die Erfahrung des Selbst ist, dann ist der Besitz seiner selbst gleichbedeutend mit dem Besitzen von allem sagt Michelstaedter, und Haya stimmt zu. Doch Selbsterkenntnis ist eine Chimäre, unerreichbar und nicht zu verwirklichen.248

Die Protagonistin Haya, die sich zum Zeitpunkt dieser Reflexion noch inmitten dieses schmerzlichen Prozesses befindet, weiß aus eigener Erfahrung, dass eine solche Selbsterkenntnis leichter gefordert als tatsächlich zu erreichen ist. Doch auch wenn völlige Einsicht in das eigene Ich wohl eine Chimäre bleiben mag; ihre Träume, die intensiven Trugbilder, die ihr bei Nacht vor Augen geführt werden, bieten durch verzerrte Vorwegnahmen, verdichtete Erinnerungsbilder und durch die unmittelbare Involvierung des eigenen Körpers und der Sinne in das historische Geschehen einen entscheidenden Zugang zur Wirklichkeit. Diese gleichermaßen individuelle wie kollektive, ebenso subjektive wie auf die gesell-

245 Bei der Geschichte seines Vaters handle es sich um „eine Monstergeschichte, basta“. Drndić: Sonnenschein, S. 362. 246 Drndić: Sonnenschein, S. 366. 247 Alle drei Zitate Drndić: Sonnenschein, S. 89. 248 Drndić: Sonnenschein, S. 121.

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schaftspolitische Situation bezogene Einsicht lässt sich in der Wachwelt und einzig aus dieser Wachwirklichkeit heraus nicht erschließen.

Rückblicke und Ausblicke: Traumwissen der Shoah-Literatur und ‚Traumarbeit‘ der Nachgeborenen

Erster Rückblick: Zum Spektrum literarischer Shoah-Träume aus komparatistischer Perspektive Der Blick zurück auf das Textkorpus lässt ein weites Spektrum an Shoah-Träumen erkennen, die zunächst einmal einzeln in ihrer individuellen Dringlichkeit des Ausdrucks, in den Eigenarten ihrer ästhetischen Gestaltung und in ihrer spezifischen Erzählsituation wahr- und ernstgenommen werden wollten. Indem diese Beispiele stets im Vergleich betrachtet wurden – in einem vergleichbaren Kontext, mit Blick auf eine ähnliche Thematik, auf dieselbe Textsorte oder aufgrund struktureller Parallelen –, lassen sich allerdings weit über den Einzeltext hinausgehende Gemeinsamkeiten sichtbar machen. Die komparatistische Perspektive ist umso ergiebiger, als damit zusätzliche interdisziplinäre Ansätze der Traumforschung einbezogen werden können, etwa aus den Bereichen Psychologie, Psychoanalyse, Geschichte, Politik, Philosophie und Gesellschaftswissenschaften, die den Blickwinkel für eine Auseinandersetzung mit dem Traum-Wissen der Shoah erheblich erweitern. Gezeigt haben sich zunächst bestimmte gattungsspezifische Besonderheiten von Shoah-Träumen; etwa die ästhetischen Eigenheiten, die mit der Frage zusammenhängen, ob der Traum in Form eines Protokolls (wie bei Beradt, Leonhard, Szittya, Perec oder Cixous), eines poetischen Textes (etwa von Levi, Larkin, Ludwig und Delbo), als Teil eines autobiographischen Zeugnisses (z. B. bei Antelme, Semprún, Wiesel und Langfus) oder eines fiktionalen Erzähltexts (etwa von Vercors, Gary, Thomas, Schwarz-Bart, Hilsenrath, Drndić oder Foer) gestaltet wird. Vergleichbare Trauminhalte erhalten durch das Wie ihrer Darstellung ganz verschiedene erfahrungspoetische Akzente, neue Wissens-Kontextualisierungen und höchst unterschiedliche Wirkungen. Vor allem aber werden bestimmte Textsorten übergreifende Typen von Shoah-Träumen sichtbar, die nach einem ähnlichen Modell gestaltet sind. Dass solche Erzählmuster oftmals der Literatur entstammen, machen die zahlreichen Träume deutlich, in denen die Welt des Lagers wie die Hölle aus Dantes Commedia erscheint.

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Herauskristallisiert haben sich u. a. Träume, in denen die Shoah gewissermaßen vorweggeträumt wird. In Form von Traumnotaten geschieht dies auf eine autobiographisch beglaubigte, „seismographische“ Weise im Beradt’schen Sinne. Im Bereich der Fiktion durchbrechen geträumte Shoah-Szenarien die Erzählchronologie und betten die onirischen Erfahrungen rückwirkend in einen größeren zeitlichen, räumlichen und wissensgeschichtlichen Kontext ein. Über Gattungsgrenzen hinweg lässt sich so auch der Traum vom Entkommen aus dem Lager als ein eigenes Traumnarrativ erkennen – ein Entkommen, das letztlich scheitert, wieder rückgängig gemacht wird oder sich als Illusion entpuppt. Als weitere kollektive Lagerträume sind die zahlreichen Hunger- und Durstträume, Träume von Verlust, Verfremdung oder Verflüchtigung einer nahestehenden Person sowie vom verwehrten oder auf taube Ohren stoßenden Erzählen der erlittenen Erfahrungen auszumachen. Darüber hinaus verwischen die vielfach erzählten Schuld-Träume in irritierender Weise die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Während fiktionale Täterträume allesamt die Schuld der NSVerbrecher als leiblich-sinnliche Erfahrung der Verfolgung, Entmenschlichung und Vernichtung inszenieren und sie so in das Körpergedächtnis der Verantwortlichen einschreiben, zeichnen sich die autobiographisch geprägten Träume der nochmal Davongekommenen durch eine nicht minder große Schuldproblematik aus. Die quälende Erfahrung besteht für die Traumatisierten oftmals darin, die Shoah überhaupt überlebt zu haben. Am weitesten verbreitet und mit einer besonders eindrücklichen Wirkung verbunden ist der Traumtypus vom unwillkürlichen Zurückversetztwerden ins Lager. Er sucht Shoah-Überlebende immer wieder von Neuem heim, wird aber auch in fiktionalen Erzähltexten als Strategie eingesetzt, um die unabgeschlossene, traumatische Dimension der Shoah literarisch zu inszenieren. Zu dieser Kategorie zählt im weitesten Sinne auch die verstörende Erfahrung, dass sich die Befreiung aus dem Konzentrationslager – und damit das eigene Überleben – als Traumerlebnis entpuppt und das Lager in seiner Unentrinnbarkeit somit die einzig gültige Wirklichkeitsdimension darstellt. Überhaupt zeigt sich, inwiefern die Welt des Traums in zahlreichen Fällen zu einem gleichermaßen ersehnten wie gefürchteten Begegnungsraum mit den Ermordeten wird. Eine Erkenntnis, die in diesem Zusammenhang immer wieder in die Wahrnehmung einbricht und den geträumten Kontakt mit dem Tod noch potenziert, ist jene – das eigene Dasein gänzlich entwirklichende  – Traum-Gewissheit, im Grunde gar nicht überlebt zu haben, sondern allein in den Träumen der Toten weiterzuleben, also einzig im Bewusstsein der unzähligen Opfer zu existieren. Shoah-Träume überschreiten damit nicht nur traditionelle Gattungsgrenzen; sie verhalten sich fast durchgängig auch quer zu zeitlichen und räumlichen Ordnungen des Erzählens. Das Spektrum umfasst Träume, die während (in Einzelfällen gar vor) der Shoah, auf der Flucht oder im Exil berichtet, aufgezeichnet und publiziert wurden. Es führt sodann über Träume, die in der Gefangenschaft

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stattfinden oder die Träumenden von außerhalb der Lager (wieder) mitten in die Lagerrealität hineinkatapultieren, bis hin zu Träumen in Romanen, Dramentexten und Filmen der Nachgeborenen, die weit in das 21. Jahrhundert reichen. Allerdings stimmen die Trauminhalte und Traumsituationen oftmals gerade nicht mit der historiographischen Logik überein. Sie stellen chronologische Prozesse überhaupt infrage, kehren sie um und betonen stattdessen vorrangig intergenerationelle Verbindungen oder schichten weit auseinanderliegende Räume übereinander bzw. verschachteln sie regelrecht ineinander. Die in diesem Buch unternommenen Lektüren führen Shoah-Träume bereits hochgradig kanonisierter, unstrittig zur Weltliteratur zählender Autorinnen und Autoren (z. B. Levi, Seghers, Delbo, Bachmann, Semprún und Wiesel) bewusst mit solchen zusammen, die kaum bekannt sind oder in deren Texten die Traumthematik bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hat (etwa Szittya, Reinerová, Langfus und Drndić). Diese breite Anlage des Textkorpus macht nicht zuletzt einen Aspekt von Shoah-Träumen deutlich, der sowohl in den Holocaust Studies als auch in der interdisziplinären Traumforschung oftmals am Rande steht: Indem die Träume sich dem diskursmächtigen Herrschaftswissen und seiner Deutungsmacht immer ein Stück weit entziehen, bestimmte Formen des Körper- und Erfahrungswissens in Szene setzen und sich damit in eine eher marginalisierte kulturgeschichtliche und philosophische Tradition einschreiben, rückt u. a. eine geschlechtsspezifische Dimension der Shoah in den Blick (wie dies besonders bei Delbo, Szittya, Fritsch, Littell, Bachmann und Cixous der Fall ist). Diese betrifft – wenn nicht gerade das Obsolet-Werden oder die Nivellierung von Geschlechterkategorien im Lager betont wird  –, bestimmte Konzepte von Männlichkeit ebenso wie als weiblich markierte Erfahrungs- und Diskursräume. Die vielfältigen Bezüge der Traumtexte untereinander entstehen dabei nicht nur in der vergleichenden Lektüre. Mitunter werden sie auch von den Autorinnen und Autoren der Texte selbst hergestellt; etwa indem sie andere Träume zitieren, deren Verfasserinnen und Verfasser als Figuren in das eigene Erzähluniversum integrieren, fremde Traumtexte weiterverarbeiten oder über deren Struktur und Bedeutung für das eigene, intertextuelle Schreiben nachdenken. Solche Verflechtungen einzelner Träume zu einem letztlich kaum mehr entwirrbaren Traum-Gespinst ergeben sich allerdings auch jenseits kontaktologisch erklärbarer, explizit intendierter oder kausalgenetisch nachweisbarer Beziehungen. Bestimmte, in ihrer konkreten Bildlichkeit durchaus irritierende Motive können von Traum zu Traum wandern, ja geradezu disseminieren. Ein weit verzweigtes Rhizom von Shoah-Träumen, das sich mitunter regelrecht gespenstisch ausbreitet, fordert dazu heraus, die traditionellen Pfade des Vergleichens immer wieder zu verlassen, um andere Verfahren des In-Beziehung-Setzens und intertextueller Arbeit zu erproben. Inwiefern diese methodologischen Überlegungen sowohl mit den Eigenschaften des Traums selbst als auch mit der Prob-

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lematik der Shoah und ihrer Vermittlung in Verbindung stehen, wird im Laufe dieses Schlusskapitels noch genauer erörtert. Eng mit den Erfahrungswelten des Shoah-Traums verbunden ist zudem eine auffällige Materialität des Traumerlebens, die in der erzählenden Inszenierung bestimmter Gegenstände, aber auch dem sinnlichen Erleben von Buchstaben und anderen geträumten Zeichen ihren Ausdruck findet (etwa bei Beradt, Larkin, Ludwig, Bachmann, Delbo oder Semprún). Diese materielle Dimension geht oftmals mit einer ausgeprägten Medialität erzählter Träume einher. Sie tritt vorwiegend in Traumnarrationen der Nachgeborenen, also der zweiten bzw. dritten Shoah-Generation, in Erscheinung, beispielsweise wenn das Konzentrationslager im Traum wie ein Film, ein Theaterstück, eine Hochglanzbroschüre oder eine kulissenhaft inszenierte Gedenkstätte wirkt (wie bei Cixous, Perec, Fritsch oder Mihăileanu). Die ausgeprägten akustischen, visuellen, haptischen, olfaktorischen und performativen Aspekte, die alle untersuchten Träume in besonderer Weise kennzeichnen und damit zu einer phänomenologischen Perspektive herausfordern, legen es zudem nahe, die Auseinandersetzung mit intermedialen Traumphänomenen auf weitere mediale Formate und entsprechend andere Rezeptionsformen auszuweiten. Kamen sie in diesem Buch bereits ansatzweise im Film, im Drama, in der text-bildlichen Gestaltung zweier Romane oder im Hörspiel zum Tragen, bieten sich darüber hinaus insbesondere ShoahTräume im Bilderbuch,1 der Performance, musikalischen Inszenierungen, der Videokunst oder Gedenkstätten an.2 Shoah-Träume finden ihren Eingang in dokumentarische, zu größtmöglicher Objektivität verpflichtete Texte über die Shoah, ebenso wie in autobiographische Zeugnisse, die sich subjektiver ‚Authentizität‘ verbürgt haben. Sie stellen aber auch eine unverzichtbare narrative Strategie für fiktionale Auseinandersetzungen dar, in denen eine phantastische, ‚wahnsinnige‘ oder mystische Form des Erlebens und Erzählens in den Vordergrund rückt. Zwei Aspekte scheinen dabei für den Großteil der untersuchten Traumtexte gleichermaßen zu gelten – unabhängig von jenen Kategorisierungen, die sich für das Shoah-Wissen ja ohnehin als 1

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Lisa Winter hat unlängst einen Beitrag zu Holocaust-Träumen in der Kinder- und Jugendliteratur vorgelegt, in dem vereinzelt auch Bilderbücher und Graphic Novels eine Rolle spielen. Vgl. Lisa Winter: „Das wahre Leben? Traumdarstellungen in ausgewählten Kinder- und Jugendromanen zum Holocaust“, in: Iris Schäfer: Zur Ästhetik psychischer Krankheit in kinderund jugendliterarischen Medien. Psychoanalytische und tiefenpsychologische Analysen – transdisziplinär erweitert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, S. 219–260. Hierfür bieten sich erfahrungsästhetische Ansätze besonders an; etwa der „somaästhetische“ Zugang von Richard Shusterman, der Körpererfahrung und Ästhetik mit Blick auf die Medialität von Kunstwerken zusammendenkt, oder der Ansatz von Vivian Sobchack, die für ein „Körperdenken“ der Kunst plädiert. Vgl. Richard Shusterman: Thinking through the Body. Essays in Somaesthetics, Cambridge: Cambridge University Press 2012, und Vivian Sobchack: Carnal Thoughts. Embodiment and Moving Image Culture, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 2004.

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problematisch erwiesen haben: Kollektive, dokumentierende Traumberichte verweisen stets auf die individuelle Wahrnehmungs- und Erfahrungsdimension der Shoah, ebenso wie umgekehrt einzelne subjektive Traumerfahrungen das Erzählte in eine dezidiert kollektive Dimension überführen. Dies geschieht, indem das Erzählen von Shoah-Träumen zumeist mit einer ausgeprägten Form der Traumreflexion einhergeht. Der Traum als Medium der Wissensgenerierung wird also immer wieder eigens als ein solches thematisiert. Eben dieses Moment ist auf das Engste mit einer auffälligen Dimension der Selbstreferenzialität und Metatextualität verbunden, die in den Traumerzählungen selbst enthalten ist. Dieser wichtige Aspekt wird im letzten Teil dieses Schlusskapitels zum gesellschaftspolitischen Potenzial von Träumen wieder aufgenommen und in eine traumtheoretische Richtung weiterverfolgt. Was die sprachlichen und kulturellen Räume der auf eine Wissens- und Erfahrungspoetik des Traums hin untersuchten Shoah-Träume angeht, so stehen im vorliegenden Buch Texte aus dem französischen, deutschsprachigen, italienischen und anglo-amerikanischen Bereich im Vordergrund. Das Korpus wäre sicherlich auf mögliche Erweiterungen hin zu befragen, etwa durch den hispanophonen und osteuropäischen Raum – hier liegen zusätzliche Texte der polnischen, ukrainischen und jiddischen Literatur, vor allem aus Galizien und der Bukowina, besonders nahe. Das Textkorpus führt zudem vor Augen, dass die Shoah-Träume von ihren Erzählerinnern und Erzählern auf ganz unterschiedliche Weise und vor allem in sehr unterschiedlichem Maße in ihren jeweiligen kulturellen und religiösen Kontext eingebettet werden. Das Spektrum reicht von einer weitgehenden Aussparung der Hintergründe (und damit gewissermaßen der Betonung des Traums als anthropologische oder psychologische Konstante, die durch die Shoah besonders herausgefordert wird) bis hin zu einer intensiven Verflechtung der Traumerfahrungen einerseits mit einer Reflexion über die Sprache, in der sie verfasst sind, und andererseits mit den Traumdiskursen der antiken, jüdischen oder christlich geprägten Kultur. Die Shoah-Überlebenden, die als Jüdinnen und Juden, politische Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, Sinti und Roma oder aus anderen Gründen verfolgt werden, rekurrieren in ihrem Schreiben allesamt auf Traumerlebnisse und -erzählungen – und dies zunächst einmal unabhängig davon, ob die Texte einem betont atheistischen, einem christlichen oder jüdischen (vor allem chassidischen) Hintergrund entstammen. Dabei führen die existenziellen Erschütterungen der Shoah in zahlreichen Fällen zu einer gleichermaßen quälenden wie kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben. Bei André Schwarz-Bart, D. M. Thomas, Anna Seghers und Primo Levi werden antike, jüdische und christliche Traumkontexte ja sogar explizit miteinander korreliert oder kontrastiert. Gleichwohl fällt auf, dass die Shoah-Träume, die im Kontext des Judentums erzählt werden  – insbesondere im expliziten Zusammenhang mit dem Tanach, dem Talmud, dem Midrasch und dem jüdischen Erinnerungsgebot – aufgrund der

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inhärenten Dilemmata eine besondere Wirkmacht entfalten. Diese Problematik wird im zweiten Rückblick dieses Kapitels noch genauer erörtert. Sie führt aber zunächst einmal zu der Frage, wie sich die ‚Traumarbeit‘ der Nachgeborenen nach dem Zweiten Weltkrieg im Bereich der israelischen Gegenwartsliteratur (weiter-)entwickelt, welche Formen des Kulturtransfers sich hier ausmachen lassen und in welchem Zusammenhang diese Texte mit den bislang vorliegenden Traumlektüren stehen. Erste Einblicke liefert der folgende Abschnitt.

Erster Ausblick: Fortsetzungen literarischer Shoah-Träume Das vorangegangene Kapitel endete mit Romanen über die Alpträume von Tätern und Mitläuferinnen, in denen ein provozierender Einblick in die Innensicht der für die Shoah Verantwortlichen gewährt wird. Diese Fokussierung nimmt zunächst einmal eine wichtige Kritik der interdisziplinären Perpetrator Studies auf, nämlich an der auffälligen Tendenz, die Täter stets als möglichst verschieden von uns selbst wahrzunehmen (vgl. Kapitel XIII). Zygmunt Bauman hat diese Abwehr treffend formuliert: „How could ordinary people like you and me do it? […] The most frightening news brought about the Holocaust and by what we have learned of its perpetrators was not the likelihood that ,this‘ could be done to us, but the idea that we could do it.“3 Damit eng einher geht die Kritik an einer Gefahr der ,Mystifizierung‘ der Shoah. Dass der Verweis der Shoah in eine Sphäre der ‚Unsagbarkeit‘ zugleich die Unmöglichkeit bedeutet, sich kritisch mit ihr auseinanderzusetzen und womöglich auch die eigenen Verstrickungen in ein totalitäres Denken zu erkennen, ist eine wichtige Voraussetzung auch im Denkgebäude Giorgio Agambens: „Wir  […] scheuen uns nicht, den Blick fest auf das Unaussprechliche zu heften. Auch auf die Gefahr hin, entdecken zu müssen, daß wir das, was das Böse von sich weiß, leicht auch in uns finden.“4 Eine solche Haltung steht aber auch in engem Zusammenhang mit dem von Max Czollek kritisierten Umgang der Deutschen mit einer problematischen, auf die ‚eigenen‘ Opfer fixierten Erinnerungskultur. In seinem Essay Desintegriert Euch! schlägt er daher polemisch eine jüdisch-muslimische Leitkultur für Deutschland vor. Er stellt fest, wir befänden uns, nach dem Verschweigen und 3 4

Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust, Cambridge: Polity Press 1989, S. 151–152. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 29.

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Leugnen der Shoah in der Nachkriegszeit und der anschließenden allzu einfachen Abgrenzung von den Tätern durch die 68er-Bewegung (die vor allem dazu gedient habe, den eigenen Antisemitismus auf Distanz zu bringen),5 augenblicklich in einer Phase des identifikatorischen Opfererinnerns.6 Nicht nur werde damit die Tätererinnerung abgeschafft; diese Haltung instrumentalisiere zudem das jüdische Erinnerungsnarrativ zur Diskriminierung anderer Gruppen, wie insbesondere der in Deutschland lebenden Musliminnen und Muslime, und lenke von neuen Formen des Antisemitismus ab. Sein „Konzept der Desintegration“, das nicht „fragt, wie Gruppen mehr oder weniger gut in die Gesellschaft integriert werden können, sondern wie die Gesellschaft selbst als Ort der radikalen Vielfalt anerkannt werden kann“,7 verbindet Czollek mit der Forderung, die „Abgründe [anzuerkennen], die durch uns alle hindurchgehen“, und „uns stärker der inneren Fragmentierung bewusst [zu] werden, die jeden einzelnen Menschen ausmacht“.8 In diesem Kontext zitiert er den Beginn von Christa Wolfs Kindheitsmuster (1976): „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“9 Eben von einer solchen Forderung des Blickwechsels und dem Gemahnen an ein Fortleben und Weiterwirken der Gewaltverbrechen scheint ein Großteil der in diesem Buch präsentierten Traumtexte geleitet zu sein. Über die erzählten Täterträume beispielsweise wird eine narrative Konstellation geschaffen, in der sich die Lesenden einer kritischen Selbstbefragung nicht mehr entziehen können. Sie werden vielmehr dazu herausgefordert, ihre Verstrickungen in die Geschichte sowie die eigenen inneren Widersprüche und Brüche wahrzunehmen und anzunehmen. Denn diese verweisen darauf, dass die Grenze zur Täterschaft nicht nur jederzeit übertreten werden kann, sondern sich auch selbst als äußerst instabil erweist. Was in diesem Zusammenhang die Träume in fast allen analysierten Texten betonen: Die Geschichte ist nicht abgeschlossen, die Wunden sind nicht verheilt, die begangenen Taten noch nicht einmal wirklich als solche anerkannt, geschweige denn ‚gesühnt‘. So notwendig politische Anerken5 6 7 8

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Max Czollek: Desintegriert Euch! München: Hanser 2018, S. 51. Czollek: Desintegriert Euch! S. 96. Czollek: Desintegriert Euch! S. 73–74. Czollek: Desintegriert Euch! S. 151. In diesem Kontext sei eine anthropologische Studie von Matthew Newsom genannt, der kürzlich Berliner Studierende nach ihren Träumen befragt hat, um daraus deren Verhältnis zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust zu erschließen. Seine These lautet, dass die Träume sich zwar in das kulturelle Gedächtnis der Deutschen und ihre schuldhaften Verstrickungen in die Geschichte einschreiben, jenseits dieser kollektiven Dimension aber in erster Linie der individuellen Distanzierung von ihren eigenen Schuldgefühlen dienen. Vgl. Matthew Newsom: „Identity and Memory in Germany. The Defensive Role of Dreams“, in: Jeannette Mageo/Robin E. Sheriff (Hrsg.): New Directions in the Anthropology of Dreaming, New York: Routledge 2021, S. 72–92. Christa Wolf: Kindheitsmuster, Berlin: Aufbau 1976. Wolf zitiert selbst diesen Eingangssatz ihres Romans aus William Faulkners Requiem für eine Nonne. Roman in Szenen.

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nung, gesellschaftliche Kompensation des Unrechts und materielle Reparationen auch sind: Die Traumata werden über Generationen hinweg weitergegeben und hinterlassen tiefste Zerrüttungen bei Opfern, Tätern und ihren Nachfahren. Angesichts von nicht wieder gut zu machenden Menschheits-Verbrechen gilt es daher, „to address the irreparable“, wie es der senegalesische Philosoph Souleymane Bachir Diagne formuliert, um gemeinsam die Zukunft in den Blick nehmen zu können.10 Denn die historische Gewalt setzt sich fort oder flammt unkontrolliert wieder auf, ungeklärte innere Konflikte werden nach außen getragen und in Form von Hass auf Andere projiziert. Dies wiederum verursacht zusätzliche Verbrechen, verknüpft sich mit weiteren Gewaltgeschichten und zieht erneut verheerende Spuren – in Deutschland, in Europa, weltweit. Deutlich macht dies nicht nur der über mehrere Generationen beobachtbare Kreislauf der komplizierten Lebenswege zahlloser Überlebender, Vertriebener, Exilierter und Flüchtender, deren Schicksale gerade heute oftmals wieder eng mit Deutschland verknüpft sind.11 Die Unabgeschlossenheit der Shoah zeigt sich auch und freilich besonders in Israel, in dem James Young zufolge noch um 1990 die Hälfte der Bevölkerung Shoah-Überlebende waren und die nationalsozialistischen Verbrechen daher zum Maßstab geworden sind, an dem sich alles Katastrophale misst.12 Der amerikanische Judaist widmet ein ganzes Kapitel seines Werks über die Darstellung und die Folgen des Holocaust dem Nahost-Konflikt und seiner kulturellen Verarbeitung. Er beschäftigt sich besonders mit der Lyrik israelischer Soldaten, in der die Überlagerung jüdischer und palästinensischer Gewalt, die Wechselwirkungen zwischen vergangener und gegenwärtiger Verfolgung, das Dilemma der Pflicht der Erinnerung und der Schande zu kämpfen deutlich zum Ausdruck kommen.13 Diese Problematik ist bekanntermaßen das wichtigste Thema in den Erzähltexten und gesellschaftspolitischen Essays des Schriftstellers und Journalisten Amos Oz, dessen Positionen zwar durchaus kontrovers diskutiert werden, jedoch als zentral für eine selbstkritische und selbstreflexive Auseinandersetzung

10 Souleymane Bachir Diagne: „What is reparation?“; der Film ist Teil des Rhinozeros-Projektes von Priya Basil, Teresa Koloma Beck, Franck Hofmann und Markus Messling: Rhinozeros. Europa im Übergang, Berlin: Matthes & Seitz. Vgl. das Rhinozeros-Projekt (https://www.rhino zeros-projekt.de/zeitschrift/das-projekt). 11 Diese Dissemination von Gewalt betonen zahlreiche Autorinnen und Autoren in besonderem Maße, etwa Elie Wiesel, wenn er im zweiten Band seiner Memoiren auf den Balkankrieg und andere Völkermorde verweist. Elie Wiesel: … Et la mer n’est pas remplie, Paris: Seuil 1996, S. 513. 12 James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation [1988], Bloomington/London: Indiana University Press 1990, S. 134. 13 Young spricht von einem „reciprocal flow between past and present experiences“, „the movement between past and present persecution, between the compulsion to fight and the shame of fighting“. James Young: Writing, S. 137.

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mit der Rolle Israels im Nahen Osten und in der Welt gelten können.14 Aus der Frage, wie sich die aus Aggression und ideologischem Fanatismus entstandenen individuellen wie kollektiven Beschädigungen reparieren lassen, entwickelt er einen „Leitfaden für die Zukunft“: Angesichts der unwiederbringlichen Verluste könne man nicht in der Dimension des Raumes heilen, was in der Zeit verloren sei. Es gelte daher im Angesicht der Verletzung den Blick auf die Zukunft zu richten. Wenn Oz sich direkt auf den Nahost-Konflikt bezieht, der von den Erfahrungen der Shoah nicht zu trennen ist, lässt sich die bildsprachliche Nähe seiner Überlegungen zum Trauma und den Möglichkeiten seiner Bearbeitung nicht übersehen: „Man kann nicht auf eine Wunde immer wieder einschlagen und ihr einbläuen, dass sie aufhören soll, Wunde zu sein, und aufhören soll, zu bluten“, „man heilt sie nicht an einem Tag und nicht in einer Woche. Aber irgendwo muss man anfangen. Man sucht einen Anfang für die Heilung der Wunde. Zuallererst verwendet man eine Sprache des Heilens“. Diese Sprache solle sich direkt und in größtmöglicher Aufrichtigkeit an die Verletzten und Traumatisierten selbst wenden, ihr Leid anerkennen und es schließlich in eine kulturelle Praxis überführen; in „ein Buch  […] ein Gedicht. Ein Theaterstück. Memoiren“. Denn auf diese Weise lasse sich eine gemeinsame Zukunft entwickeln.15 Freilich lassen sich die komplexen Verkettungen der Gewalt aber nicht nur hinsichtlich ihrer weltweiten Folgen, sondern auch aus der Perspektive ihrer Vorgeschichte in den Blick nehmen, wie dies Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951)16 mit zwingender Evidenz getan hat. Hier rekonstruiert sie die Geschichte des Antisemitismus im 19.  Jahrhundert, die „vorimperialistische Erfindung des Rassebegriffs“ und dessen unentwirrbare Verflechtungen mit dem Kolonialismus, bevor sie im späteren Verlauf des Buches die „imperialistische und die totalitäre Spielart des Antisemitismus“ analy14 Vgl. hierzu etwa die Romane Black Box, Tel Aviv-Jaffa: Am Oved 1986, Black Box, aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991 und Ssipur al ahavah wechoschech, Jerusalem: Keter 2002, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, sowie exemplarisch für die gesellschaftspolitische Entwicklung des Autors die Essaybände Die Hügel des Libanon. Politische Essays. Aus dem Englischen von Christoph Groffy, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 und Shalom lekana’im, Jerusalem: Keter 2017, Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Suhrkamp 2018. 15 Amos Oz: Kol ha-cheschbon od lo nigmat. ha hartza’a ha-acharona, Jerusalem: Keter 2018, Die letzte Lektion. Ein Leitfaden für die Zukunft. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Berlin: Suhrkamp 2020, hier S. 13–15 und S. 29. 16 Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft [1951], München: Piper 1995. Eine andere wichtige Stimme, die ebenfalls schon sehr früh auf die Verflechtungen zwischen imperialistischer Gewalt, Kolonialismus und den europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts verweist, ist Frantz Fanon mit Les damnés de la terre [1961], Paris: La Découverte 2002.

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siert.17 In Camille de Toledos Essay Le Hêtre et le bouleau. Essai sur la tristesse européenne [2009] werden pointiert die gravierenden Spätfolgen dieser langen Geschichte festgehalten.18 Bis in die Erinnerungskultur hinein zeige sich, so de Toledo, wie sich das europäische Jahrhundert gegen die Welt abschottet, indem es fast ausschließlich der europäischen Opfer der von Europa ausgehenden Gewalt gedenkt, die Gewalt gegen die nichteuropäische Welt hingegen ausblendet. In einer solchen Selbstbezüglichkeit europäischer Gegenwarts- und Zukunftsentwürfe trifft sich seine Argumentation mit der Kritik von Max Czollek. Markus Messling verweist in diesem Kontext auf die immense Bedeutung solcher strukturellen historischen Zusammenhänge für die Welt nach 1989.19 In Fortführung der Argumentation de Toledos betont er, dass das Erzählen – und hier ist ausdrücklich auch das literarische Erzählen gemeint – „die Trauer und Traumata verflechten, komplex schichten und gemeinsam bearbeiten kann, ohne Hierarchien zu betonieren“, damit die „Geschichte Europas in der Welt neu erzähl[t]“ werden kann.20 Ein solches Anliegen, das die Auseinandersetzung mit der Shoah als eine kulturelle Praxis der erzählenden Reparation versteht, scheint zahlreichen der in diesem Buch untersuchten Texte zugrunde zu liegen. So stellt Maria Teresa De Palma in ihrer Studie über die Traumtexte von Primo Levi, Charlotte Delbo und Elie Wiesel ausdrücklich fest: „Si la littérature répare donc l’effacement, elle ne se soustrait jamais complètement aux ombres de l’oubli“, auch wenn sie mitunter lediglich die Schwierigkeiten und Brüche kollektiver Erinnerungsprozesse ausstellen kann.21 Denn die Träume, auf die sämtliche Autorinnen und Autoren als Erzählmodus und Wissensspeicher rekurrieren, machen in besonderem Maße auf die Unabgeschlossenheit und Nicht-Einhegbarkeit der Shoah aufmerksam. Gerade die Gegenwartsliteratur durchziehen ihre Spuren in auffälliger Weise. Sie bahnen sich als Traumgespinste und Traumgesichte ihren untergründigen Weg oder bilden den onirischen Abgrund, über dem die politischen, sozialen und kulturellen Szenarien unserer Zukunft entworfen werden. Ähnlich wie im Traumerleben Zeiten, Räume, Identitäten und Generationen verunsichert, übersprungen oder zusammengeschlossen werden, so scheint auch das Wissen über die Shoah im Modus des Traums zu diffundieren. In literarischen Texten findet dieses Phänomen einen besonders sinnfälligen Ausdruck, können 17 Arendt: Totalitäre Herrschaft, S. 267–271. 18 Camille de Toledo: Le hêtre et le bouleau. Essai sur la tristesse européenne, Paris: Seuil 2009. 19 Markus Messling: Universalität nach dem Universalismus. Über frankophone Literaturen der Gegenwart, Berlin: Matthes & Seitz 2019, S. 115. 20 Messling: Universalität, S. 116. 21 Maria Teresa De Palma: ‚Mi sono alzato, sono ricaduto/Nel fondo dove il secolo è il minuto‘. Rêve et onirisme dans la littérature de témoignage (Primo Levi, Charlotte Delbo, Jorge Semprún). DPhil thesis Università de Bologna 2017 (http://amsdottorato.unibo.it/7864/1/De_Palma_ Maria_Teresa_tesi.pdf), S. 522.

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doch mittels des poetischen Sprechens oder anderer ästhetischer Strategien solche nur schwer objektiv oder rational-logisch beschreibbaren Phänomene inszeniert und erfahrbar gemacht werden. Die Nachwirkungen der Shoah werden also im Laufe der Zeit und mit dem Sterben der letzten Zeuginnen und Zeugen kaum weniger, sie verlagern sich nur in tiefere Schichten, werden auf unterschiedliche Weise verdrängt, auf verschiedenste ‚Andere‘ projiziert, an Stellvertretern und in Fortsetzungskonflikten ausagiert. Judith Kasper beschreibt am Beispiel des nationalsozialistischen Lagersystems eine „unerhörte Ausdehnung der Lager über ihre räumlich verortbaren Grenzen hinaus“22: Das Ausgreifen des Lagers auf seine Umwelt, das historisch schon so schwer zu beschreiben ist, erweist sich […] als ein Phänomen, das sich schlechterdings der Historisierung entzieht und unsere Gegenwart unmittelbar betrifft. Damit ist nicht nur die Proliferation neuer Lagertypen gemeint, in denen die europäische Politik seit Jahren die Migrationsströme zu verwalten sucht, sondern auch die Verwandlung des Lagers in ein Phantasma, das die Räume, in denen wir leben, stets heimzusuchen droht.23

Von der These einer Dissemination des Lagers ausgehend, spricht sie literarischen Traumdarstellungen ein besonderes Potenzial zu, solche Verdichtungen, Verschiebungen, Überlappungen, Nachträglichkeiten und Gleichzeitigkeiten zum Ausdruck zu bringen, die „am Werk sind, wenn sich das Lager in ein Phantasma verwandelt, das Europa bis heute nicht nur heimsucht, sondern auch im buchstäblichen Sinne belagert“.24 In eine vergleichbare Richtung zielt auch Georges Didi-Huberman, wenn er angesichts der Unzulänglichkeit der historiographischen Dokumentation fordert, die Welt des Unbewussten, Symbolischen und Traumhaften ernst zu nehmen, um die Shoah verstehen zu können.25 Dass das Phantasma des Lagers sich in der Nachkriegsliteratur besonders untergründig ausgebreitet und in rational kaum fassbarer Weise mit anderen Formen der Gewalt, Entmenschlichung und Bedrohung verflochten hat, davon zeugen zahlreiche Traumtexte dieses Buches, u.  a. die Romane von André Schwarz-Bart, Jonathan Littell und Romain Gary sowie die Memoiren von Elie

22 Judith Kasper: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante, Berlin: De Gruyter 2016, S. 2. 23 Kasper: Der traumatisierte Raum, S. 2. Zur Dissemination vgl. u. a. S. 3. 24 Kasper: Der traumatisierte Raum, S. 4. Was die Analyse von Träumen angeht, widmet sie sich vorrangig den Traumberichten Primo Levis, setzt sich aber auch mit Freuds „Traum vom brennenden Kinde“ sowie dem traumhaften Schreiben bei Imre Kertész und W. G. Sebald auseinander. 25 „Ne serait-il pas plus juste d’observer combien la Shoah investit de part en part notre monde imaginaire et symbolique, nos rêves et nos angoisses, notre inconscience en général ?“ Georges Didi-Huberman: Images malgré tout, Paris: Minuit 2003, S. 83.

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Wiesel.26 Ausgesprochen konsequent ist Anne D. Peiter unlängst diesem unheimlichen Phänomen nachgegangen: Die Träume aus Günter Eichs gleichnamigem Hörspiel (vgl. Kapitel VI) analysiert und interpretiert sie in einer an Methoden des „illegitimen“, „instabilen“ oder „emergenten“ Vergleichens angelehnten Lektüre,27 die sämtlichen im Text vorhandenen Assoziationen, Analogien und Andeutungen nachspürt, auch und gerade um den Preis einer damit verbundenen Unverhältnismäßigkeit.28 Auf diese Weise kann sie zum einen die großflächigen blinden Flecken, Verdrängungen, Relativierungen und Abspaltungen aufzeigen, die das Hörspiel, seinen Produktions- und seinen Rezeptionsprozess kennzeichnen. Zum anderen macht sie aber auch auf die komplexen Verflechtungen von Shoah, Kolonialismus, Imperialismus und Kaltem Krieg aufmerksam, die sowohl die Träume, als auch die deutschsprachige Nachkriegsliteratur insgesamt in auffälliger Weise durchziehen. Und zum Dritten führt sie mit ihrer Studie vor Augen, inwiefern das Phänomen des Träumens die Wissenschaft immer wieder auch an ihre eigenen Grenzen führt und zur methodologischen Reflexion herausfordert. Mit einer ganz anderen methodischen Ausrichtung korreliert Barbara Hahn in ihrem Buch Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt verschiedene Formen politischer Gewalt wie Nationalsozialismus, Shoah, stalinistischen Terror und DDR-Diktatur.29 Diese chronologisch angelegte Traumstudie präsen26 Eine solche Verknüpfung zu thematisieren, heißt freilich nicht zwangsläufig, eine Relativierung, Instrumentalisierung oder Trivialisierung der Shoah vorzunehmen. In der großen wissenschaftlich wie öffentlich geführten Debatte um die ‚Einzigartigkeit‘ der Shoah nehmen die Autorinnen und Autoren dieses Buches ganz unterschiedliche Positionen ein. Und dies nicht zuletzt, weil ihre Texte verschiedenen historischen Etappen der Shoah-Aufarbeitung angehören und die Diskussionen in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich verlaufen. Weil die Debatte, die in den 1990er Jahren besonders vehement in den USA geführt wurde, hier nicht detailliert aufgearbeitet werden kann, sei auf wichtige Rekonstruktionen verwiesen: Alan S. Rosenbaum (Hrsg.): Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Boulder/Oxford: Westview Press 2001, Gavriel David Rosenfeld: „The Politics of Uniqueness. Reflections on the Recent Polemical Turn in Holocaust and Genocide Scholarship“, in: Holocaust and Genocide Studies 13/1 (1999), S. 28–61 und Alan Rosenberg/Evelyn Silverman: „The Issue of the Holocaust as a Unique Event“, in: Michael N. Dobkowski/Isidor Wallimann (Hrsg.): Genocide in Our Time. An Annotated Bibliography with Analytical Introductions, Ann Arbor: Pierian Press 1992, S. 47–65. 27 Zur Charakterisierung solcher vergleichenden und intertextuellen Verfahren vgl. Christiane Solte-Gresser: „Potenziale und Grenzen des Vergleichs. Versuch einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Systematik“, in: Christiane Solte-Gresser/Hans-Jürgen Lüsebrink/Manfred Schmeling (Hrsg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive, Stuttgart: Steiner 2013, S. 23–35. 28 Anne D. Peiter: Träume der Gewalt. Studien der Unverhältnismäßigkeit zu Texten, Filmen und Fotografien. Nationalsozialismus, Kolonialismus, Kalter Krieg, Bielefeld: transcript 2019. 29 Barbara Hahn: Endlose Nacht. Träume im Jahrhundert der Gewalt, Berlin: Suhrkamp 2016. Das Zitat findet sich im Klappentext. Renate Lachmann widmet sich in ihrer umfassenden Studie zur Lagerliteratur zwar nur sehr punktuell dem Träumen und seinen sprachlichen Aus-

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tiert nicht nur literarische Träume im engeren Sinne, sie bezieht auch konsequent philosophische und kulturtheoretische Reflexionen zum Traum mit ein, sodass insgesamt eine geschichtsphilosophisch ausgerichtete Traumgeschichte entsteht: Anhand von Träumen schreibt Hahn eine verborgene „Unheilsgeschichte“ der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Auch Sharon Sliwinskis interdisziplinäre Arbeit über das gesellschaftspolitische Potenzial des Träumens führt, u. a. ausgehend von Frantz Fanon, Träume des ‚Dritten Reichs‘, der Sklaverei und der Apartheid programmatisch zusammen.30 Ihr Ansatz wird uns am Ende dieses Buches noch näher beschäftigen. Besonders radikal werden solche Zusammenhänge, 20 Jahre nachdem der Konnex zwischen Shoah und Kolonialismus bereits ausdrücklich von Toni Morrison betont und literarisch gestaltet wurde,31 in Boualem Sansals Le village de l’Allemand ou Le journal des frères Schiller [2008] in Szene gesetzt.32 Programmatisch verbindet der Autor in diesem ungewöhnlichen Täterroman die Traumata der Shoah mit einer arabisch-muslimischen Perspektive. Der Roman, dessen Schauplätze die Pariser Banlieues, ein abgelegenes algerisches Dorf und die deutschen Orte nationalsozialistischen Terrors sind, handelt von zwei in Frankreich lebenden Brüdern, die erkennen müssen, dass ihr Vater ein ehemaliger SS-Täter war, der in Algerien untergetaucht ist. Als die Eltern der beiden Protagonisten zusammen mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern des Dorfes in einem islamistisch motivierten Terroranschlag niedergemetzelt werden und einer der Brüder sich wegen der ‚Schuld‘, Sohn eines Nazitäters zu sein, das Leben nimmt, macht sich der verbleibende Bruder an die qualvolle Aufarbeitung der Vergangenheit. Dass Kolonialismus, Nationalsozialismus und Islamismus hinsichtlich ihrer ideologisch motivierten Gewalt und ihrer Strategien der Entmenschlichung strukturelle Parallelen aufweisen, lässt ihn nicht nur die unausweichlichen Verkettungen der historischen wie gegenwärtigen Totalitarisdrucksformen, jedoch schließt auch sie Träume der Shoah mit solchen des stalinistischen Lagerterrors zusammen. Vgl. Renate Lachmann: Lager und Literatur. Zeugnisse des GULAG, Konstanz: Konstanz University Press 2019, v. a. S. 227–241. 30 Sharon Sliwinski: Dreaming in Dark Times. Six Exercises in Political Thought, Minneapolis/ London: University of Minnesota Press 2017. 31 Vgl. das in der Forschung vielbeachtete Motto „Sixty millions and more“ ihres Romans Beloved. Toni Morrison: Beloved, New York: A. Knopf 1987. Die komplexe Debatte über Potenziale und Grenzen der Auseinandersetzung mit der Shoah aus postkolonialer Perspektive kann hier nicht rekonstruiert werden. Ich verweise auf Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford: Stanford University Press 2009, Bryan Cheyette: „Postcolonialism and the Study of Anti-Semitism“, in: The American Historical Review 123/4 (2018), S. 1234–1245, Steffen Klävers: Decolonializing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin u.  a.: De Gruyter 2019 und Jürgen Zimmerer: Von Windhuk nach Auschwitz. Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster: LIT 2011. 32 Boualem Sansal: Le village de l’Allemand ou Le journal des frères Schiller, Paris: Gallimard 2008.

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men untereinander erkennen, sondern zwingt ihn auch zu Überlebensstrategien, die auf Prozesse der Reparation, der Aufklärung und der Anerkennung zielen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die entscheidenden Episoden des Romans mittels integrierter Traumberichte erzählt werden.33 Denn die subjektiven Traumerfahrungen der Figuren bringen die phantasmatische Überlagerung und Unabgeschlossenheit totalitärer, religiös oder politisch motivierter Gewalt in ihren Auswirkungen auf das Individuum besonders eindrücklich zum Vorschein. In einem Alptraum vor der Abreise nach Algerien nimmt der eine Bruder beispielsweise selbst die Täterrolle ein. Der andere sieht sich im Traum zugleich als Deportierten und väterlichen Verbrecher.34 Zudem werden die ermordeten Eltern als „créations mentales“ lebendig und erscheinen zusammen mit anderen Toten überall im Haus als Gespenster.35 Auch die autobiographischen Schriften von Delbo, Semprún und Wiesel tauchen in Sansals Roman ausdrücklich auf.36 Vor allem aber ist der Text eine explizite Auseinandersetzung mit Primo Levi und seinem Werk. Er stellt also selbst ein intertextuelles Traumgeflecht dar, wie es uns bereits bei Semprún begegnet war. Sansals Protagonist schreibt u. a. ein Gedicht Primo Levis fort, indem er es auf seine eigene Situation bezieht und die Präsenz der Shoah bis in die nächsten Generationen hinein betont.37 Dass ein solches Phantasma auch die hebräische Gegenwartsliteratur durchzieht, wird gerade an der Omnipräsenz des Traums in Romanen, Erzählungen, Dramen und Gedichten aus Israel offensichtlich. Wechselwirkungen zwischen europäischen, jüdisch-israelischen und arabischen Perspektiven kennzeichnen einige der in Europa entstandenen Shoah-Texte dieses Buches ebenso wie die hebräische Literatur nach der Staatsgründung, in der Träume eine herausragende Rolle spielen. Wie solche Texte die zurückliegenden Traumlektüren und die darin aufscheinenden thematischen, motivischen, narrativen und poetischen Konstellationen erhellen, erweitern, spiegeln oder umdeuten können, sollen einige Schlaglichter auf ausgewählte Texte verdeutlichen. Damit wird nicht nur die Traumthematik im Allgemeinen beleuchtet; in besonderem Maße wird dabei ihre Verbindung mit der Problematik der Unabgeschlossenheit, der Täter-Opfer-Überkreuzungen und der ‚Undarstellbarkeit‘ der Shoah fokussiert. Einmal abgesehen davon, dass einige Autoren der vorigen Kapitel zeitweise in Israel leben oder ihre Besuche dort als prägend für das Selbstverständnis als Schreibende erörtern, hat sich gezeigt, dass Kulturtransfers und Kulturkonflikte 33 Der Verfolgungstraum Malrichs, in dem der Protagonist selbst zum Täter wird, hat auffällige Parallelen zu den Täterträumen des Kapitels XIII. Tote suchen außerdem die Welt der Lebenden heim, und der wirkliche Mord an den Eltern wird wie ein Alptraum erlebt. 34 Sansal: Le village, S. 165–166 und S. 172. 35 Sansal: Le village, S. 23 und S. 256. 36 Sansal: Le village, S. 280. 37 Sansal: Le village, S. 78–79 und S. 289.

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im Zusammenhang mit der Shoah in mehreren der untersuchten Traumtexte ausdrücklich zum Thema gemacht werden. Etwa wenn der „Zug des Lebens“ in Mihăileanus Film Juden, Jüdinnen, Sinti und Roma sowie Mitglieder des kommunistischen Widerstands nach Palästina bringt (vgl. Kapitel XI). Am Schluss wird die Ankunft in Eretz Israel durch Schlomos aus dem KZ gesprochene Rede überblendet, der erzählt, dass ausgerechnet die „Zigeuner“ sich in Palästina niederlassen, während die meisten Juden nach Indien ausgewandert seien. Einen Schritt weiter geht D. M. Thomas in seinem Roman The White Hotel. Nachdem der Roman zuvor Träume durchgehend thematisiert, inszeniert, reflektiert und kritisiert hatte, kann das letzte, in Palästina angesiedelte Kapitel als Sterbe-, Todes- oder Wunschtraum der Protagonistin gelesen werden (vgl. Kapitel VIII): Hier erscheint das gelobte Land als eine Art Paradies, in dem sich die Opfer begegnen, sich versöhnen und ihre Verletzungen heilen. Die tatsächliche Ankunft in und die skrupellose Vereinnahmung der neuen Heimat des Protagonisten gelingt schließlich Max Schulz, der unverfrorenen Täterfigur aus Hilsenraths Der Nazi & der Friseur (vgl. Kapitel XIII). Große Teile dieses Romans spielen in Palästina, wo sich der als Jude untergetauchte Täter als radikaler Zionist und Hüter der orthodoxen jüdischen Tradition hervortut. Seine Träume thematisieren allesamt seine widersprüchliche Position dem Judentum gegenüber (etwa an der Klagemauer, im Kontakt mit einem Rabbiner oder über die Alpträume der Überlebenden, die in das eigene Traumerleben übergegangen sind). Durch das Motiv des geträumten Waldes, in dem sich der deutsche Märchenwald, der israelische Gedenkort Jaʿar Ha-Qdōšīm („Wald der Märtyrer“) und die europäischen Wälder als Orte unzähliger nationalsozialistischer Gräueltaten überlagern, entsteht darüber hinaus eine zusätzliche Verknüpfung israelischer und deutscher Motivtraditionen. Geradezu verblüffende Parallelen zu Der Nazi & der Friseur – und darüber hinaus zu Boualem Sansals Le village de l’Allemand – bestehen in einem hebräischen Text von Itamar Levy. Sein 1990 erschienener Roman Agadat ha-agamim ha-azuvim (Die Legende von den traurigen Seen) erzählt ebenfalls von einem Sohn, der der Tatsache ins Auge sehen muss, dass sein Vater ein brutaler NaziVerbrecher war und sich seit dem Kriegsende als Jude ausgibt.38 Wie in Marcel Beyers Flughunde oder in Olivier Guez’ La disparition de Josef Mengele, lehrt ein eingespieltes Netzwerk ehemaliger Nazis die Täter, sich wie Opfer zu verhalten (vgl. Kapitel  XIII).39 Und wie bei Littell, Guez und Amis, gesteht der in der Wachwelt so skrupellose Täter im Traum seine Gräueltaten der Öffentlichkeit, gibt seinen wahren Namen preis und fragt sich, ob und in welcher Sprache er im 38 Itamar Levy: Agadat ha-agamim ha-azuvim, Jerusalem: Keter 1990, Die Legende von den traurigen Seen. Aus dem Hebräischen übertragen und mit einem Glossar versehen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling, Saarbrücken: Conte 2008. 39 Levy: Legende, S. 157.

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Schlaf geredet habe.40 Die vielen unheimlichen Überlappungen zwischen den Texten entstehen nicht zuletzt auch dadurch, dass zahlreiche historisch reale Täterfiguren, die von Levy genannt werden, in fiktionaler Form auch in den anderen Täterromanen auftauchen, also gewissermaßen aus der Wirklichkeit in die Literatur und hier von einer diegetischen Welt in die andere hinübergeistern.41 Der Text enthält einige eindeutig markierte Traumepisoden, ist darüber hinaus aber auch insgesamt in einem onirischen Modus verfasst: Halluzinationen, alptraumhafte Visionen und Wahnhaftes vermischen sich zu einer phantasmatischen Wahrnehmung der Gegenwart, als der Protagonist von der Täuschung durch seinen Vater erfährt und nach dessen Tod vor Gericht erscheinen soll: Wohin, wohin falle ich? Bin ich in Jerusalem? Bin ich in Tel Aviv? Bin ich in Yad Vachem? Verbringe ich die Nacht mit den Mördern und ihren Opfern? Bin ich aufgestanden und habe im Flur nach Licht getastet? Habe ich auf den Schalter des Diaprojektors gedrückt? Wohin sinke ich? Bin ich schon tot?42

Der unsichere Wirklichkeitsstatus des Traums bringt die Infragestellung der eigenen Identität zwischen Judentum und NS-Täterschaft pointiert zum Ausdruck. Auch die Ehefrau des Protagonisten versucht in Levys Roman übrigens vergeblich – ganz wie Mutter und Sohn in Drndićs Sonnenschein – durch das Sammeln von Dokumenten und anderen historischen Zeugnissen die Verbrechen der Shoah aufzudecken. Und wie die Figuren des kroatischen Romans, ersetzt sie die fehlenden Quellen durch Traumerlebnisse, mit denen sie der Wahrheit auf die Spur kommen will. Dies wiederum rückt Levys Roman auch in die Nähe von Jonathan Safran Foers Everything is Illuminated (vgl. Kapitel VIII) – vor allem angesichts der zahlreichen, in den Text eingeflochtenen jüdischen Legenden und der Tatsache, dass eine der Hauptfiguren als schwangere Jüdin die offenen Fragen der Shoah bis in die Zukunft hinein verlängert. Zudem löst auch Levys Roman in besonders intensiver Weise mittels des Traums die Grenzen zwischen Leben und Tod auf. Verstorbene konfrontieren den Protagonisten mit seiner Situation als Nazi-Nachfahre, die ermordete Mutter spricht aus der Totenwelt heraus mit den Lebenden und sucht sie – wie der Dibbuk in Romain Garys Roman – regelrecht heim. Und schließlich vermag der Protagonist nicht mehr

40 Levy: Legende, S. 184–185. 41 Efraim Sicher spricht daher in seinem Beitrag über die Shoah in der israelischen Gegenwartsliteratur von „gespenstischer Einbildung“ des Protagonisten, der aufgrund des weitergegebenen Traumas, wie so viele Vertreter der zweiten Generation, zu einer lebenden „Gedenkkerze“ oder gar selbst zum Überlebenden geworden sei. Efraim Sicher: „Die Erinnerung an die Shoah bei Autoren der ‚zweiten Generation‘“, in: Anat Feinberg (Hrsg.): Moderne hebräische Literatur. Ein Handbuch, München: text + kritik 2005, S. 96–120, hier S. 109. 42 Levy: Legende, S. 125.

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zu unterscheiden, ob er selbst träumt, sich im Traum eines anderen befindet oder schlafend die Alpträume der Shoah-Opfer hört: „Warum verfasse ich keine Geschichte über die Shoah? Warum konserviere ich meine Träume nicht? Befinde ich mich in einer Traumanalyse? In einer Alptraumanalyse? […] Bin ich Nazi oder Jude? […] Wer schreit Alpträume in meinem Schlaf?“43 Auch der Erzähler aus David Grossmans Roman ´Ayen‘ Erekh: Ahavà von 1986 (Stichwort: Liebe) versucht, sich der Shoah durch wissenschaftliche Arbeit  – nämlich eine Enzyklopädie des Holocaust –, durch Geschichtenerzählen und durch traumhafte Erfahrungen anzunähern.44 Der Sinn des Shoah-Nachschlagewerkes (das selbst ein typographisch auffällig gestalteter Teil des Romans ist und damit wiederum deutlich an die jiddischen Geschichten- und Traumsammlungen in Foers Everything is Illuminated erinnert) liegt damit für Grossmans Hauptfigur in der intergenerationellen Verständigung. Es geht darum, dass „unsere Kinder nicht mehr aus ihren Alpträumen raten oder rekonstruieren müssen“, was geschehen ist.45 In Grossmans Roman bilden Träume im Übrigen ebenfalls den Raum, in dem die Träumenden dazu gezwungen werden, sich mit ihrer eigenen ambivalenten Position zwischen Täterschaft und Opferstatus auseinanderzusetzen, nämlich mit der Existenz „des kleinen Nazis in Dir“.46 Das umfassende Traumkapitel über Bruno Schulz und die ungesicherten Umstände seines Todes, das Grossman in der Mitte seines Romans platziert, reflektiert schließlich deutlich, inwiefern die Träume ein Wissen über die Shoah bergen, das auf anderem Wege kaum zugänglich ist. All diese Aspekte aus Grossmans Roman haben auch die bislang untersuchten Traumtexte deutlich geprägt: Der Traum wird zum Ersatz für nicht vorhandene Quellen, erscheint als Ort widersprüchlicher subjektiver Erfahrung, wird zur Ausdrucksform für Nicht-Artikulierbares und zum Symptom traumatischer Verstellungen, die über mehrere Generationen hinweg weitergegeben werden. In Otiot Ha-Schemesch, Otiot Ha-Jareach (Buchstaben von der Sonne, Buchstaben vom Mond), einem anderen Roman von Itamar Levy, bildet der traumhaft inszenierte und in seiner Materialität besonders ausgestellte Kulturtransfer zwischen westlich-europäischer, jüdisch-hebräischer und arabischer Welt insofern eine wichtige Rolle, als der israelische Protagonist die arabische Schrift erlernt und jedes Kapitel mit einem Buchstaben des hocharabischen Alphabets beginnt.47 Neu zu erlernende Schriftzeichen, ihre Beschaffenheit und ihre Wider43 Levy: Legende, S. 81. 44 David Grossman: ´Ayen‘ Erekh: Ahavà, Jerusalem: Hoza’at Ha-qibutz ha-me’ukhad 1986, Stichwort: Liebe. Aus dem Hebräischen von Judith Brüll, Frankfurt am Main: Fischer 2010. 45 Grossman: Stichwort: Liebe, S. 214. 46 Grossman: Stichwort: Liebe, S. 395 u. a. 47 Itamar Levy: Otiot ha-schemesch, otiot ha-jareach, Jerusalem: Keter 1991, Buchstaben von der Sonne, Buchstaben vom Mond. Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997.

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spenstigkeit, die uns schon in den Träumen Philip Larkins und Paula Ludwigs begegnet waren (vgl. Kapitel  IX),48 sind auch Thema des berühmten Romans Ha’ish she’lo pasak lishon (Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen) von Aharon Appelfeld,49 in dessen Werk Träume fast durchgehend von Bedeutung sind.50 Der 2010 erschienene Roman erzählt rückblickend von den Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten in der Ukraine, dem Tod der Familie der jugendlichen Hauptfigur in den Vernichtungslagern, der eigenen Flucht quer durch Europa, der Übersiedlung nach Palästina, dem Leben im Kibbuz, der Staatsgründung Israels, dem Palästinakrieg und dem Aufbau des Landes. Die zahlreichen in den Handlungsverlauf integrierten, eindeutig markierten Traumerlebnisse51 bilden die einzige Verbindung des Protagonisten zu seinen ermordeten Eltern und seiner europäischen Herkunft. Die Familie erscheint ihm regelmäßig des Nachts und tritt mit ihm in einen Dialog. Wie bei Elie Wiesel, Charlotte Delbo oder Anna Langfus (vgl. Kapitel V und VI) ist ihre Erscheinung für den Träumer mit Schuldgefühlen verbunden, die Shoah überlebt zu haben. Auch bei Appelfeld quält sich der Sohn mit dem Vorwurf des Verrats, der angesichts der Kluft, die sich zwischen dem Jiddischen, dem Ukrainischen und dem Hebräischen auftut, in Traumbildern der wechselseitigen Sprachlosigkeit inszeniert wird. Thematisiert wird die Schuld innerhalb der Traumepisoden in erster Linie über die neue hebräische Sprache und die Abkehr von den chassidischen Gebräuchen der Aschkenasim.52 Anders als in den zuvor genannten Texten, halten die Träume bei Aharon Appelfeld aber die Erinnerung an die verlorene Heimat, die geliebte 48 Sie scheinen insgesamt ein zentrales Moment literarischer Traumerzählungen zu sein, wie auch andere Erzähltexte des 20. Jahrhunderts deutlich machen. Vgl. Christiane Solte-Gresser: „‚Alptraum mit Aufschub‘. Ansätze zur Analyse literarischer Traumerzählungen“, in: Susanne Goumegou/Marie Guthmüller (Hrsg.): Traumwissen und Traumpoetik. Onirische Schreibweisen von der literarischen Moderne bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 239–262. 49 Aharon Appelfeld: Ha’ish she’lo pasak lishon, Or Yehuda: Kinneret Zmora-Bitan Dvir 2010. Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2013. 50 Ein anderer Roman Aharon Appelfelds, der ebenfalls deutlich autobiographische Züge trägt, integriert in Form zahlreicher Traumberichte die subjektiven Traumwelten der Protagonistin, die sich in den ukrainischen Wäldern vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten versteckt hält. Die Märchenelemente dieses Textes, für den „Hänsel und Gretel“ einen ebenso eindeutigen Intertext bildet wie für Hilsenraths Roman Der Nazi & der Friseur, eröffnen weitere Parallelen zwischen der israelischen und der deutschen Shoah-Literatur. Vgl. Aharon Appelfeld: Jalda sche-lo min ha-olam ha-se, Or Yehuda: Kinneret Zmora-Bitan Dvir 2013. Ein Mädchen nicht von dieser Welt. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, Berlin: Rowohlt 2015. 51 Für die Traumdarstellungen in Appelfelds Roman bildet, wie Lisa Winter überzeugend nachweist, Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland einen wichtigen Bezugstext. Sie betont zudem die cineastischen Erzählverfahren, mit denen die Träume in den Roman integriert werden. Lisa Winter: Traumdarstellungen, S. 245. 52 Appelfeld: Der Mann, S. 104.

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Muttersprache und die jiddischen Traditionen in einer wohltuenden, tröstlichen Weise wach. Sie bieten dem Sohn Orientierung, werden zum Leitstern des eigenen Handelns.53 Ein zusätzliches Potenzial birgt etwa der Traum von den zerbrochenen und wieder zusammengefügten hebräischen Buchstaben.54 Er zeigt dem Protagonisten, dass er in der neuen Sprache etwas ausdrücken kann, was im Gespräch mit den im Traum erscheinenden Eltern nicht zu artikulieren ist. Einen Begegnungsraum mit den Toten eröffnet der Traum, wie Sara Ferrari gezeigt hat, insbesondere auch in der hebräischen Lyrik.55 Dieses Phänomen lässt sich von den frühen Shoah-Gedichten Uri Zvi Grinbergs und Amir Gilboas bis in die zeitgenössische Lyrik von Oded Peled, Rachel Farchi und Hava Nissimov nachvollziehen. Nicht immer ist es ein eindeutig markierter Schlaftraum, in dem die Vergangenheit zurückkehrt oder das Gespräch mit den Ermordeten fortgesetzt wird. Alptraum, Vision, Wunschtraum und Wahnsinn lassen sich hier oft nicht eindeutig voneinander abgrenzen. Ein wichtiges Motiv ist allerdings auch in diesen Träumen das Gefühl der Schuld, das das lyrische Ich überwältigt, wenn es durch die Toten im Traum mit dem eigenen Überleben konfrontiert wird. Potenziert wird das Dilemma, das uns bereits in den Traumepisoden von Elie Wiesel oder Anna Langfus begegnet ist, noch durch das im Judaismus herrschende Verbot, die Sphären von Leben und Tod miteinander zu vermischen.56 Besonders eindrücklich ist dies in der Lyrik von Amir Gilboa nachzuvollziehen. Die Begegnungen im Traum können schockierend, qualvoll und alptraumhaft sein, wie das im Gedicht „Yitzchaq“ („Isaac“) der Fall ist, oder als schwere Bürde erfahren werden, wie in „Ashkavah“ („Totengebet“). In ihrer schmerzlichen, sinnlichen Wahrnehmungsqualität kann der Kontakt mit den Toten aber auch das gesamte Traumerleben durchdringen. Dies macht vor allem „Nishmat Yossi, ben achoti Bronia“ („Die Seele Yossis, Sohn meiner Schwester Bronia“) 53 Besonders aussagekräftig sind in diesem Kontext die Träume in Appelfeld: Der Mann, S. 64, S. 89, S. 98, S. 129, S. 132, S. 156. In dieser Hinwendung zu einer erloschenen jüdischen Welt und den aschkenasischen Traditionen sieht Anat Feinberg ein wesentliches Kennzeichen der israelischen Literatur seit den 1980er Jahren, mit der sich die Autorinnen und Autoren vom starken, selbstbewussten Heldenideal des ‚Neuen Juden‘ abgrenzen, das während und nach der Staatsgründung vorherrscht. Anat Feinberg: „Die moderne hebräische Literatur. Ein Überblick“, in: Anat Feinberg (Hrsg.): Moderne hebräische Literatur. Ein Handbuch, München: text + kritik 2005, S. 11–25, hier S. 19. 54 Appelfeld: Der Mann, S. 179. 55 Sara Ferrari: „‚Allora dischiusi gli occhi al sogno‘. L’incontro con i defunti nella poesia ebraica della Shoah“, in: Erica Baricci (Hrsg.): Sogno e surreale nella letteratura e nelle arti ebraiche, Milano: Ledizioni 2017, S. 53–76. Für die Übertragung der Gedichte aus dem Hebräischen beziehe ich mich auf die Arbeitsübersetzungen in diesen Artikel. 56 Etwa im Tanach (Num 4. Buch Mose 19,11, Dtn 18,11 und 1. Sam 28). Vgl. Ferrari: Allora dischiusi gli occhi, S. 55.

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deutlich; ein Gedicht, in dem sich die Klänge des singenden Mordopfers mit dem Gebet des lyrischen Ich verbinden.57 Uri Zvi Grinberg betont in seinen Gedichten hingegen eher, dass die Toten zwar im Traum erscheinen. Darüber hinaus aber können sie den (Über-)Lebenden jederzeit im Alltag der Wachwelt begegnen.58 Dass sie sich beispielsweise zu den Lebenden an einen Cafétisch setzen,59 erinnert auffällig an Lenka Reinerovás Vision vom „Traumcafé einer Pragerin“, in dem die Lebenden und die Toten miteinander in Kontakt treten (vgl. Kapitel  VII). Dasselbe Motiv findet sich auch in einem Traumgedicht von Rachel Farchi, „Biqqur“ („Besuch“), in dem die „Onkel, Tanten und Cousinen von Auschwitz, Dachau und Bergen-Belsen“ auftauchen, um mit dem lyrischen Ich am Nachmittag des Holocaust-Gedenktages Kaffee zu trinken.60 In den Memoiren von Elie Wiesel war für den Träumer oft unklar, ob es sich bei der geträumten Figur tatsächlich um den im Lager gestorbenen Vater handelt (vgl. Kapitel V); eine Unsicherheit, die besonders durch traumtypische Verdichtungen, Verschiebungen, Verzerrungen und Verfremdungen erzeugt wird. Ganz ähnlich erscheint auch in „Shiva“ von Hava Nissimov eine vaterähnliche Figur, deren Identität bis zum letzten Vers nicht geklärt wird – zumal die gebrechliche Gestalt nicht allein für sich selbst spricht, sondern für alle Toten, denen ein Grab und ein Ort des Gedenkens verwehrt wurden.61 In dem Gedicht „U-mehumot ha-metim bishmurot eynay“ („Auf meinen Augenlidern herrscht Totenlärm“) des 1950 geborenen Dichter Oded Peled schließlich treten die Toten im Traum zwar ebenfalls lebendig in Erscheinung. Jedoch werden sie durch den Träumer sogleich unmittelbar vor ihrer Ermordung wahrgenommen. Hier finden sich Anklänge an zentrale Motive aus den Traumtexten von Elie Wiesel, Primo Levi und Jorge Semprún:62 Wie bei Wiesel wird im Traumgedicht von Oded Peled das letzte erinnerte Bild vor dem endgültigen 57 Amir Gilboa: „Yitzchaq“, „Ashkavah“ und „Nishmat Yossi, ben achoti Bronia“, in: Shirim baboqer ba boqwe [Gesänge am frühen Morgen], Tel Aviv: Ha-qibutz ha-me’ukhad 1953, S. 33, S. 38 und S. 41. 58 Uri Zvi Grinberg: „Keter qinah lekhol beit-Israel“ [„Kranz der Klagen für das gesamte Haus Israel“], in: Uri Zvi Grinberg: Rechovot ha-nahar: sefer ha-ilyot veha-koach [Die Straßen des Flusses: Buch der Klagen und der Stärke], Tel Aviv: Ha-qibutz ha-me’ukhad 1951, S. 56–57. Vgl. auch Ferrari: Allora dischiusi gli occhi, S. 55. 59 Im selben Gedicht von Grinberg, Vers 9. 60 Rachel Farchi: „Biqqur“, in: Oded Peled: Kutanti ha-tzehubah: ha-Shoah beshirah ha-Dor haSheni. Antologyah, Ramat-Gan: Bar-Ilan Press 1997, S. 59, die ersten beiden Verse. Vgl. Ferrari: Allora dischiusi gli occhi, S. 70–71. 61 Hava Nissimov: „Shiva“, in: Hava Nissimov: Re’avat rechem, Tel Aviv: Eqed 2009, S.  43. Im Grunde handelt es sich hier eher um ein poème en prose als um ein klassisches Gedicht. Vgl. auch Ferrari: Allora dischiusi gli occhi, S. 72. Damit erinnert der Text wiederum nicht nur an Elie Wiesel, sondern auch an die poetische Schreibweise von Charlotte Delbo. 62 Oded Peled: „U-mehumot ha-metim bishmurot eynay“ in: Oded Peled: Kutanti ha-tzehubah: ha-Shoah beshirah ha-Dor ha-Sheni. Antologyah, Ramat-Gan: Bar-Ilan Press 1997, S. 141.

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Abschied der Familienmitglieder aktualisiert. Vor dem Aufwachen löst sich das Traumgeschehen allerdings – ganz wie in Levis Schlusstraum von La tregua – in einer Wolke auf. Und dem im Traum auftauchenden Onkel fallen – deutlich an Semprúns Leitmotiv aus L’écriture ou la vie erinnernd – auf dem Zugtransport ins Lager weiße Schneeflocken auf den Bart.63 Eines der wichtigsten Theaterstücke des bekannten israelischen Dramatikers Hanoch Levin, Ha-yeled holem von 1991 (Das Kind träumt),64 das in Deutschland 2018 zum ersten Mal auf der Brechtbühne in Augsburg aufgeführt wurde, ist ebenfalls in Versform verfasst. Im Gegensatz zu den genannten Gedichten besitzt es allerdings über den Titel hinaus keine eindeutig markierten Traumepisoden. Eher ist das gesamte Stück onirisch gestaltet. In einer weitgehend eigenständigen hebräischen Theatersprache wird die Shoah nicht direkt, sondern mystisch, allegorisch und a-mimetisch in Szene gesetzt.65 Während zu Beginn ein Elternpaar das junge Kind beim Schlafen beobachtet, bricht mit einem Mal – gerade nicht in der Traum-, sondern in der Wachwirklichkeit verortet –, das Grauen in die Familienidylle ein: Terrorisierende und mordende Soldaten zwingen die Anwesenden zur Flucht. Auf die Worte der Mutter: Es ist euch verboten, es aufzuwecken […]. Es ist ein Kind. Es muss in den Nächten schlafen. Es träumt. Man sagt, dass sie in den Nächten wachsen. In den Nächten formt sich bei ihnen die Persönlichkeit, die Seele entfaltet sich,66

entgegnet der Kommandant:

63 In der derzeit ausgesprochen populären israelischen TV-Serie Shtisel über eine orthodoxe Familie in Jerusalem spielt die Shoah zwar nur sehr am Rande eine Rolle. Träume sind jedoch auch hier ein programmatisches Erzählverfahren, das zudem durch Figuren-Dialoge ausdrücklich thematisiert und reflektiert wird. Mit dem Traum von der verstorbenen Mutter, die in eisiger Kälte friert, während vom Himmel fallende Schneeflocken sie zunehmend eindecken, nimmt die Serie das verbreitete Traum-Motiv wieder auf. Shtisel (hebräisch, jiddisch), Regie: Ori Elon/Yehonatan Indursky, Israel 2013–. Die gesamte Serie beginnt mit dem Traum von der Mutter im Schnee (Staffel 1, Folge 1, 0:01:13–0:01:37, vgl. auch das anschließende erste Gespräch über den Traum 0:02:30–0:2:35). Später stellt sich heraus, dass der Vater des Protagonisten offensichtlich denselben wiederkehrenden Traum hat (Staffel  1, Folge  1, 0:22:15– 0:23:18). 64 Hanoch Levin: Ha-yeled holem, Tel Aviv: Ha-qibutz ha-me’ukhad 1991, Das Kind träumt. Aus dem Hebräischen von Matthias Naumann, München: Litag Theaterverlag 2018. 65 Vgl. Mariangela Mazzocchi Doglio: „Fantasie oniriche e allucinazioni tragiche nella pièce Hayeled holem di Hanokh Levin“, in: Erica Baricci (Hrsg.): Sogno e surreale nella letteratura e nelle arti ebraiche, Milano: Ledizioni 2017, S. 77–84, hier S. 79. 66 Levin: Das Kind träumt, S. 7.

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Schhh, sachte, behutsam, schälen wir es aus seinem Schlaf. […] Verwandeln wir die Welt in die Fortsetzung des Traums.67

Diese Annäherung zwischen Wach- und Traumwelt kulminiert in der drohenden Ankündigung: Alpträume – vielleicht erzählen sie uns die Wahrheit. […] Erinnerst du dich an mich? Sicher träumtest du schon von mir. Recht hatten die Träume. Alles war in den Träumen. Und es gibt einen Traum, aus dem erwacht man nicht.68

Damit entpuppt sich die gewaltsame Wirklichkeit für die Verfolgten als ein ewiger Alptraum – wohingegen das erwachende Kind erkennen muss, dass seine glücklichen Erinnerungen an eine unbeschwerte Familienvergangenheit nur ein Traum gewesen sind. Indem sich das „warme und wohlwollende Lächeln“69 der Mutter in ein höhnisches Blinzeln verwandelt, nimmt der Traum eine Wendung, die uns bereits in geradezu verblüffender Ähnlichkeit in den Häftlingsträumen von Robert Antelme und Anna Langfus begegnet war (vgl. Kapitel  IV). Handlung und Figuren erfahren in Levins Drama keine konkrete historische Verortung, sondern sind gewissermaßen auf einer a-historischen, überzeitlichen Ebene angesiedelt.70 Gleichwohl lassen sich die Traum-Motive kaum anders als im Kontext der Shoah verstehen.71 Die phantasmatische Dimension der Shoah, ihre Inszenierung als körperliche Erfahrung zwischen Traum- und Wachwelt, die Bedrohlichkeit, mit der sie unvermittelt und unvorhersehbar in das Alltagsleben einbricht, und die damit einhergehende, radikal anti-mimetische Inszenierungsform rücken das Drama in auffällige Nähe zu Werner Fritschs Shoah-Drama Aller Seelen (vgl. Kapitel X).72 67 Levin: Das Kind träumt, S. 8. 68 Levin: Das Kind träumt, S. 10. Geäußert werden die Worte von einer den Soldaten begleitenden Frau. 69 Levin: Das Kind träumt, S. 24. 70 Vgl. Matthias Naumann: Dramaturgie der Drohung. Das Theater des israelischen Dramatikers und Regisseurs Hanoch Levin, Marburg: Tectum 2006, S. 21. 71 Es ist etwa die Rede von Lagern, tote Kinder sind zu großen Leichenbergen aufgeschichtet, in der Grube wartet man auf den Tod und die Hoffnung auf die Ankunft des Messias wird enttäuscht. 72 In der Bedrohung sieht Freddie Rokem das grundlegende narrative Schema von Levins Theater. Rokem legt eine differenzierte Analyse des Dramas und seiner Inszenierung am Habima National Theatre von 1993 vor, bei der der Autor selbst Regie geführt hatte. Das Kind träumt bezeichnet Rokem als „an allegorical spectacle about the never-ending cyclical patterns of

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Während Das Kind träumt die überzeitliche, unabgeschlossene Dimension der Shoah auf eine traumhaft-phantasmatische Weise in Szene setzt, nähert sich schließlich der Roman Isch weIscha weIsch (Ein Mann und eine Frau und ein Mann) von Savyon Liebrecht aus dem Jahr 1998 der Thematik aus einer ganz anderen Richtung an.73 Träume bilden hier den thematischen, motivischen und reflexiven Kern des Werks. Auch bei Liebrecht steht eine Mutter-Kind-Problematik im Mittelpunkt. Hier jedoch geht es nicht um die performative Dimension einer körperlich-sinnlichen Präsenz der Shoah. Zentraler Gegenstand des Romans ist vielmehr der Traum als Erzählung: Das narrative Potenzial von Träumen wird als ein in der Psychotherapie erfolgreich erprobter Weg vorgeführt, mit dem sich die Traumata der Shoah durch die Nachgeborenen, die zweite bzw. dritte Holocaust-Generation, bearbeiten und ein Stück weit auf Distanz bringen lassen. Die Protagonistin des Textes ist die Journalistin Chamutal, die – als Tochter einer Familie von traumatisierten Holocaust-Überlebenden – für eine psychologische Zeitschrift arbeitet. Den Hintergrund des Geschehens bildet ihre aktuelle berufliche Aufgabe: Sie soll Forschungen aus der Psychologie und Psychiatrie zum Umgang traumatisierter Menschen mit deren Alpträumen in der nächsten Ausgabe ihrer Zeitschrift präsentieren. Zwar wird nicht explizit gesagt, um welchen Forschungsansatz es sich handelt;74 es liegt jedoch nahe, den wissenschaftlichen Kontext des Romans in der israelischen Schlaf- und Traumforschung zum Umgang mit Alpträumen, etwa von Hanna Kaminer und Peretz Lavie, zu verorten.75 Darüber hinaus geht es wohl um die Theorie des Psychoanalytikers Ernest Hartmann, der selbst während des Zweiten Weltkriegs aus Europa in die USA emigrieren musste. Dreams and Nightmares. The Origin and Meaning of Dreams ist ebenfalls 1998 erstmals erschienen, geht aber auf eine jahrzehntelange Forschungstätigkeit zurück.76 In diesem Buch widmet sich Hartmann der Frage, wie sich immer wiederkehrende Alpträume durch konti-

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suffering in history“. Das Theaterpublikum wird hier gewissermaßen selbst zu Träumenden, die von dem Geschehen zeugen, „without really understanding what happens“. Freddie Rokem: Performing History. Theatrical Representations of the Past in Contemporary Theatre, Iowa: University of Iowa Press 2000, S. 76–98, hier S. 76. Savyon Liebrecht: Isch weIscha weIsch, Jerusalem: Keter 1998, Ein Mann und eine Frau und ein Mann. Aus dem Hebräischen von Stefan Siebers, München: dtv 2002. Die Rede ist von einem internationalen Kongress an der Universität Tel Aviv, auf dem Psychiater und Psychologen aktuelle Fälle aus ihrer Praxis präsentieren. Liebrecht: Ein Mann und eine Frau, S. 54. Z. B. Peretz Lavie/Hanna Kaminer: „Dreams that Poison Sleep: Dreaming in Holocaust Survivors“, in: Dreaming 1/1 (1991), S. 11–21 und Peretz Lavie/Hanna Kaminer: „Sleep, Dreaming, and Coping Style in Holocaust Survivors“, in: Deirdre Barrett (Hrsg.): Trauma and Dreams, Cambridge/London: Havard University Press 2001, S. 114–125. Ernest Hartmann: Dreams and Nightmares. The Origin and Meaning of Dreams, Cambridge (Mass.): Perseus 2001.

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nuierliche, bewusste Gestaltung so umerzählen lassen, dass sie den Träumenden bei der Bearbeitung ihrer Traumata helfen. Insofern beide Zugänge der Traumforschung zur Shoah im ersten Kapitel des vorliegenden Buches erörtert wurden, schließt dieses – nun am Ende angelangt – wieder an seinen Beginn an: Liebrechts Roman (der sich interessanterweise, wie so viele andere Romane auch, als ein Text über Täterschaft und Mitläufertum entpuppt) zeigt, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Träumen nicht nur den diskursgeschichtlichen Kontext für die Shoah-Literatur bildet. Die Traum-Wissenschaft ist, und dies hat das Eingangskapitel ja bereits mit den Traumreflexionen von Ruth Klüger vor Augen geführt, selbst als Erzählgegenstand in die autobiographische und fiktionale Literatur eingedrungen. So spielen die zahlreichen Träume des Romans etwa eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der Figuren, die sich von ihrer Vergangenheit entlasten wollen, indem sie ihr, angeleitet durch die Wissenschaft, mittels der Träume so mutig wie möglich ins Auge blicken. Folgendermaßen erklärt Chamutal ihrem Geliebten das Prinzip der ‚Alptraumarbeit‘, das sie für die Zeitschrift aufzubereiten hat: Das Behandlungsprinzip ist, dass der Träumende später seinen Traum korrigieren muss, ohne dass dieser zuvor  […] gedeutet wird. Die Korrektur findet auf der Ebene der im Traum erlebten Geschichte statt […]. Man könnte von einem ungelenkt-gelenkten Spiel der Fantasie sprechen. […] Später, nach der Korrektur, versucht der Betroffene die Bedeutung des Traums bewusst zu ergreifen und dann fängt die eigentliche Arbeit an.77

Einige dieser Fallstudien, darunter ausdrücklich solche, die von Shoah-Überlebenden stammen, werden im Text selbst als integrierte Traumprotokolle wiedergegeben und führen über die Praxis des Traumerzählens eine Entwicklung von der anfänglichen Ohnmacht zur Agency der Betroffenen vor.78 Die Protagonistin stellt eine Verbindung her zwischen ihrer beruflichen Beschäftigung und ihrem eigenen Traumerleben; eine Verbindung, die sie vor allem über die leiblich-sinnliche Wahrnehmung ihres Körpers erfährt.79 Erzählt wird vom Sterben der schwer durch die Erfahrungen der Shoah traumatisierten Mutter Chamutals. Anhand der gemeinsamen Gespräche über ihr Traumerleben findet nach jahrelanger Sprachlosigkeit kurz vor dem Ende des Romans doch noch eine Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter über die Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs statt. Der Roman schließt mit dem unkommentierten Traum der Tochter, der einerseits von ihrer zunehmenden Selbstermächtigung handelt, andererseits aber auch deutlich macht, dass die Alpträume

77 Liebrecht: Ein Mann und eine Frau, S. 55. 78 Liebrecht: Ein Mann und eine Frau, z. B. S. 73–75 und S. 134–136. 79 Besonders auffällig sind die Episoden in Liebrecht: Ein Mann und eine Frau, S. 58 und S. 71.

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niemals enden, die Geschichte also nicht abgeschlossen ist.80 Mittels ihrer narrativen Strategie führt Savyon Liebrecht eindrücklich vor Augen, wie ShoahTräume innerhalb der Literatur als eine eigene Form des Wissens reflektiert werden: Wissenschaftlich-propositionales Wissen aus der Traumforschung wird mit literarischem und erfahrungspoetischem Traumwissen über die Shoah korreliert und als Roman über die existenziellen Nachwirkungen der Shoah präsentiert.

Zweiter Rückblick: Funktionen und Potenziale literarischer Shoah-Träume Inwiefern generieren Träume also ein Wissen über die Shoah, das auf anderen Wegen weniger zugänglich ist? Wie unterscheidet sich dieses Wissen von weiteren Wissensformen der Holocaust Studies? Und inwiefern geht es hier nicht nur um ein Traumwissen, sondern vor allem um ein literarisches Traumwissen der Shoah? Aus der Notwendigkeit des Sprechens über die nationalsozialistische Massenvernichtung und der gleichzeitigen Sprachlosigkeit angesichts der Gräueltaten ergibt sich eine Aporie, die in den einzelnen Studien dieses Buches ausführlich erörtert wurde. Literarische Traumerzählungen begegnen dieser Aporie und all ihren Facetten, in denen sich eine solche ‚Unsagbarkeit‘ der Shoah zeigt, mit ästhetischen Mitteln. Ihre wichtigsten Funktionen sollen hier noch einmal zusammengefasst werden. Ihr Potenzial für die Vermittlung des Undarstellbaren entfalten die untersuchten Traumtexte freilich nicht, indem sie es auf eine mimetische oder realistische Weise darstellbar machen. Vielmehr fassen sie Wahrnehmungen in Traumbilder und geben Erfahrungen eine onirische Sprache, die die ‚Unsagbarkeit‘ selbst vor Augen führen, ihre Problematik als solche reflektieren und ihr zugleich ein Stück weit entgehen. Der Traum erweist sich damit als ein äußerst produktives literarisches Inszenierungsverfahren für die komplexen Dilemmata, die der Shoahliteratur inhärent sind; und dies nicht zuletzt, weil sich Traumerzählungen sehr häufig in selbstreflexiver Weise mit eben diesen Dilemmastrukturen auseinandersetzen. Emil Szittya betont im Vorwort seiner Traumsammlung, dass es mittels erzählter Träume möglich sei, eine Gleichzeitigkeit von historischem Ereignis, 80 Efraim Sicher sieht in diesem Bedürfnis, die Geschichte abzuschließen, ohne dass sie sich in eine sinnvolle Erzählung überführen ließe, eine grundsätzliche Motivation in Liebrechts Schreiben. Sicher: Die Erinnerung an die Shoah, S. 110.

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subjektiver Erfahrung, persönlicher Zeugenschaft und kollektiver Erzählung zu erreichen. Deren Bedeutung liege u. a. darin, dass die notierten und veröffentlichten Träume einen umfassenden Einblick in das innere Erleben durchschnittlicher Menschen einer gesamten Epoche lieferten (vgl. Kapitel  III). Auf das damit verbundene Potenzial für eine Geschichtsschreibung, die über die notwendige Darstellung objektiver Daten, Zahlen und Fakten, ihre kausallogische, auf das Ende hin konstruierte Verknüpfung sowie die Konzentration auf bestimmte historische Figuren und große Ereignisse hinausgeht, hat Reinhart Koselleck ausdrücklich hingewiesen (vgl. Kapitel I und III). Daraus ergibt sich eine wichtige Funktion des Traums als historische Quelle. Der geschichtswissenschaftliche Ansatz der oral history ließe sich damit durchaus um eine oneiric history ergänzen. Vor allem erweisen sich die Traumtexte als in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende autobiographische Zeugnisse. Mitunter hat sich aber auch gezeigt, wie die Traumerzählung – abweichend von ihrer Funktion als EgoDokument – genutzt wird, um in den Lauf der Geschichte einzugreifen, die historische Wirklichkeit zu subvertieren, gegen die Faktizität der Historiographie anzuschreiben. Was ansonsten Gefahr liefe, als geschichtsrevisionistisch oder bestenfalls als naiv zu gelten, etwa Reinerovás Traumerzählung, in der die IchErzählerin gegen alle historische Wahrscheinlichkeit die KZ-Aufseherin mit dem Tod der Schwester konfrontiert, lässt sich im Traum bzw. als Traum als unmittelbare Wirklichkeit erleben und vermitteln. Damit entfaltet der Traum  – ungeachtet des historischen Wissens über die tatsächliche Ohnmacht der Opfer  – durchaus ein gewisses widerständiges Potenzial, wie es in Radu Mihăileanus Film Train de vie ausgesprochen deutlich zutage tritt (vgl. Kapitel VII und XI). Widmet man sich nochmals der Zeugnisfunktion des erzählten ShoahTraums, so lassen sich mehrere Facetten dieses Problems erkennen. Die Kommunikation mittels und über den Traum erweist sich als ein Erzählverfahren, das zunächst einmal ein besonders qualvolles Dilemma der Überlebenden zum Ausdruck bringt und es zugleich bearbeitet: Die Holocaust-Forschung hat gezeigt, wie problematisch die eindeutige Zuordnung der Zeugnisse oftmals ist, wenn es darum geht, die Quellen in dokumentarische, autobiographische und literarisch-fiktionale Texte zu unterscheiden. James E. Young führt diesen ambivalenten Status des Zeugnisses pointiert vor Augen. Einerseits zeigt er anhand seiner Studien, dass jede Quelle als sprachliche Konstruktion oder als Zeichengebilde der Interpretation bedarf. Nicht dem Zeugnis selbst, sondern der Interpretation des Zeugnisses schreibt er die Authentizität der Darstellung und die damit verbundene Erzeugung von Bedeutung zu.81 Es gehe für ein Verstehen der Shoah bei der Auseinandersetzung mit den Quellen weniger darum, Beweise für Ereignisse oder Erfahrungen zu suchen (Beweise, die vollständig zu 81 Young: Writing, S. 37.

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vernichten ja zum Programm der Nationalsozialisten gehört). Vielmehr solle anhand literarischer Zeugnisse ein Wissen über sie erlangt werden, das statt Tatsachentreue („factuality“) die Tatsächlichkeit („actuality“) von Schreiber und Text dokumentiert.82 Doch wie lässt sich diese Tatsächlichkeit anders festhalten als in tradierten sprachlichen Mustern und konventionalisierten narrativen Modellen? Solche literarischen Verfahren (Young nennt als Beispiel die klassische Errettungsgeschichte)83 stehen in ihrer archetypischen oder mythologischen Dimension allerdings nicht nur für Illusion, sondern auch für Orientierung, Kontinuität, Kausalität und Finalität der Ereignisse – eben jene Kategorien, die für die Erfahrungen der Shoah gerade nicht gelten können. Wenn die erzählten Ereignisse zudem vorrangig als Literatur wahrgenommen werden, so besteht berechtigterweise die Sorge, dass auch die in ihr aufgehobene Erfahrung nur in der Darstellung existiert, in der literarischen Konstruktion also die empirische Verbindung zwischen beidem verloren geht.84 Shoah-Überlebende, die oftmals den Sinn in ihrem Weiterleben einzig darin sehen, das Erlebte dokumentieren und vermitteln zu können, pochen daher, so Young, auf die Authentizität ihrer Erfahrung. Es ist dies jedoch eine Erfahrung, die sich wiederum einer mimetischen oder realistischen Darstellung entzieht. Sie ist daher auf eine Form der Sprache angewiesen, die der Unfassbarkeit und Unerhörtheit des Erlebten gerecht wird – und sich damit der Gefahr aussetzt, nicht verstanden zu werden. Die Traumerzählung, so haben die Texte des vorliegenden Buches gezeigt, lotet all diese Bereiche gleichermaßen systematisch aus und situiert sich genau dort, wo sie sich überlappen. Sie formuliert eine reale Erfahrung von Unwirklichkeit und überführt das Unwirkliche dieser Erfahrung in die Erzählung eines tatsächlichen Traumerlebnisses. Als Traumbericht ist die Erzählung in autobiographischen Zeugnissen faktual und transportiert in ihrer Wirkung ein unerschütterliches Moment von Authentizität, hält aber zugleich die Unbeschreiblichkeit der Erfahrung in einer intelligiblen Sprache fest. Und dies erscheint umso wichtiger, als der Traum vom Nicht-Gehört- oder NichtVerstanden-Werden ja selbst zu den qualvollsten kollektiven Traumerfahrungen des Lagers zählt. Ganz konkret zeigt sich der Traum als Gestaltungsmodus des ‚Unsagbaren‘ auf stilistisch-rhetorischer Ebene. Das Phänomen der Lagersprache – ihre fragmentarische Vielsprachigkeit, ihr Bedrohungspotenzial, ihre grundsätzliche Inadäquatheit und die Notwendigkeit des Verstehens für das eigene Überleben – steht quer zum traditionellen, auf weitreichende Verständlichkeit zielenden Erzählen. Die Regeln und Konventionen des Traums, die sich in einer je individuellen, jedoch spezifisch onirisch organisierten Traumsprache niederschlagen, kommen 82 Young: Writing, S. 37. 83 Young: Writing, S. 36. 84 Young: Writing, S. 22–23.

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diesem Dilemma ein Stück weit entgegen. Das Sprachproblem wird nicht zuletzt verstärkt durch den fundamentalen Zweifel zahlreicher Überlebender, ob die Erfahrungen überhaupt in der Sprache der Täter artikuliert werden können. Kaum ein in das autobiographische oder fiktionale Erzählen integrierter Traumbericht kommt daher, wie wir gesehen haben, ohne den Rekurs auf fremdsprachige Elemente aus, mit denen die Intrusion der Tätersprache in Szene gesetzt wird. Sie durchdringt alle Fasern des Körpers und affiziert sämtliche Sinne. Ohne eindeutig die richtige oder die falsche Sprache zu verwenden, lässt sich so mittels des erzählten Traums und seiner sprachlich-narrativen Gestaltung die verstörende Verfremdungs- und Unverständlichkeits-Erfahrung des Lagers artikulieren. Denn seine Sprache verweist zuallererst auf die Unentzifferbarkeit des Geschehenen. Vor allem aber erweist sich der Traum in der körperlichen und sinnlichen Wucht seines Erlebens als ein Modus der Erfahrungsinszenierung, der jenseits der Wortsprache liegt. Auch die in der Shoah-Literatur allgegenwärtigen Phänomene des Verschweigens, des Verdrängens und des Sprachverlusts lassen sich so zum Vorschein bringen. Shoah-Träume bewegen sich damit in einem Raum zwischen traumatischer Verstellung der Sprache und dem unstillbaren Drang der Überlebenden zu sprechen; in gewissem Maße tragen sie also zu einer Form der Rückeroberung des eigenen sprachlichen Ausdrucks bei. Der komplexe Zusammenhang zwischen Erzählen und Verstummen, der sich für die wissenschaftliche Forschung zum Trauma als ebenso bedeutsam erwiesen hat wie für die Trauma-Thematik in der Literatur und anderen Künsten, findet in der Traumerzählung einen besonders sinnfälligen Ausdruck. In ihrer spezifischen Form, Struktur und Thematik artikuliert sie die Zertrümmerung zeitlicher und räumlicher Kontinuitätserfahrung zugunsten einer Allgegenwart und Ubiquität des Lagers, die Zersplitterung und Entfremdung des Selbst, die Irrealität der eigenen Existenz, die Auflösung der Grenzen zwischen Leben und Tod sowie den Schmerz und die Sprachlosigkeit, die sich in den Körper einschreiben. Diese Einschreibung betrifft den eigenen Körper der Träumenden ebenso wie die Körper der anderen geträumten Figuren, die sich vom eigenen oftmals nicht mehr unterscheiden lassen. Indem sie die logisch und rational erfassbaren Parameter der Wachwelt und ihrer Regeln auflösen, inszenieren Traumwelten eben jenen Verlust an Orientierungskoordinaten, der das Trauma grundsätzlich kennzeichnet. Zugleich erweisen sich die Träumerinnen und Träumer jedoch als sprachmächtige Subjekte ihres Traums, den zu erzählen ihnen wiederum eine gewisse Kontrolle ermöglicht: Er verleiht der Erfahrung eine mitteilbare Form. So werden im Traum auch das eigene Fremdwerden, die Zerstörung von Identität, die Zersetzung des Selbstverhältnisses ebenso wie der Beziehung zu den Mithäftlingen oder anderen Überlebenden inszeniert. Wie viele andere führt Robert Antelme die Erfahrung vor Augen, sich einerseits im Traum von außen zu sehen, mit sich selbst also nicht mehr identisch zu sein, aber andererseits auch die Anderen nur noch verfremdet oder verzerrt erkennen zu können

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(vgl. Kapitel IV). Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass die Träumenden jedoch in zahlreichen Fällen zugleich das Subjekt der eigenen Träume bleiben und dies als Erzählende ihres Traums – eben mittels des Erzählens – ausdrücklich bekräftigen. Umgekehrt berichten die Texte auch von der fundamentalen Angst, die ermordeten Familienmitglieder, Mitgefangenen oder andere nahestehende Personen in der Wachwirklichkeit zu vergessen, ihren lebendigen Eindruck zu verlieren, ihre Verflüchtigung nicht aufhalten zu können. Im Traumerleben hingegen erlangen die Geliebten stets eine unmittelbare, mit allen Sinnen wahrnehmbare Präsenz, die in ihrer eindringlichen onirischen Erlebnisqualität die Erinnerung an die Verstorbenen mit in die Wachwelt hinüberrettet. Indem die Träume einen Begegnungsraum mit den Toten eröffnen, werden sie darüber hinaus zu einem Erzählmodus für das Problem der fehlenden Zeugenschaft. Nicht nur sind im Traum Namen, Stimmen, Gesichter, Gesten, Berührungen und Blicke der Verstorbenen aufgehoben. Mit dem Erzählen des Traums entgehen die Autorinnen und Autoren außerdem dem unlösbaren Dilemma der Autorschaft und der Repräsentation; der Frage also, wer in wessen Namen für wen das Wort ergreifen darf, um die Erfahrungen der Shoah zu vermitteln. In der Wiedergabe des Traums, der sich solch eindeutigen Zuordnungen entzieht, kann – nicht zuletzt, indem mit den Toten gesprochen wird – auch für die Toten gesprochen und so dem Gebot des Namennennens entsprochen werden. Die grundsätzliche Frage, wer im Traum eigentlich das träumende Ich ist und ob bzw. wie sich dieses von den geträumten Figuren unterscheidet, potenziert sich in der Vorstellung, selbst nur im Traum der Anderen zu existieren – also von ihnen geträumt zu werden. So wird die Erfahrung von der Unwirklichkeit der eigenen Existenz, nämlich der faktischen Unwahrscheinlichkeit des Überlebens getrotzt zu haben, in der Traumerzählung artikuliert und mit der Problematik der unmöglichen Zeugenschaft verbunden. Die überlebenden Träumerinnen und Träumer ergreifen also das Wort für die Toten. Denn nur zusammen mit den im Traum erscheinenden Opfern können die Überlebenden für die Shoah zeugen, wie Giorgio Agamben dies mit seinen Thesen über die „Lücke im Zeugnis“ am Beispiel des ‚Muselmanns‘, der selbst nicht mehr sprechen kann, so konsequent dargelegt hat (vgl. Kapitel V).85 Mit ihren Traumerzählungen geben die Autorinnen und Autoren dem Triumph des Überlebens eine Form und bringen zugleich die Anderen zum Sprechen, ohne deren Stimmen für die Artikulation der eigenen Erfahrungen zu vereinnahmen. In der Traumbegegnung entstehen so regelrechte „communautés spectrales“;86 85 Giorgio Agamben: Quel che resta di Auschwitz. L’archivio e il testimone, Torino: Bollati Boringhieri 1998, u. a. S. 32–33. 86 Ich übernehme den Begriff von Anne Martine Parent: „Communautés spectrales“, in: David Caron/Sharon Marquart (Hrsg.): Les Revenantes. Charlotte Delbo, la voix d’une communauté à jamais deportée, Toulouse: Presses Universitaires du Mirail 2011, S. 127–145.

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Gespenstergemeinschaften, innerhalb derer sich die Opfer als Individuen würdigen und erinnern lassen, was nicht zuletzt die vielen genannten und oft wiederholten Eigennamen deutlich machen. Der Traum wird damit zum Sprachrohr eines nicht (mehr) vorhandenen Kollektivs. Ein weiteres Potenzial des Traums für die Auseinandersetzung mit der Shoah ist insbesondere im Kontext des Judentums relevant: Angesichts der Aporie des Shoah-Diskurses zwischen Sinnstiftung und Sinnlosigkeit des Geschehenen bietet der Traum als ein ‚irrlichterndes‘ Verfahren aporetischen Erzählens die Möglichkeit, Sinnhaftigkeit und Absurdität zusammenzudenken. Das Erzählen von Erlebnissen und Erfahrungen mittels des Traums muss selbst keine kohärente, lineare, auf ein Ziel zulaufende Erzählung sein. Es kann anti-teleologisch verfahren, insofern es der Sinnlosigkeit Ausdruck verleiht, ohne selbst sinnlos zu sein. Indem Träume erzählt werden, sich aber einer eindeutigen Interpretation entziehen, erlauben sie in der erzählenden Vergegenwärtigung eine gemeinsame Verständigung über die Geschichte der Juden und verweigern zugleich (dies hat nicht zuletzt André Schwarz-Barts Le dernier des Justes deutlich gemacht) eine teleologische Lesart der Shoah. Immer wieder haben die untersuchten Texte vor Augen geführt, dass Träume auch als ein Erfahrungsmodus verstanden werden können, der das Wissen der Shoah ausdrücklich als solches reflektiert: Ob die Texte an Außenstehende, Mitüberlebende, Nachgeborene oder die Toten selbst gerichtet sind; die Träume erzählen gegen die Unbegreiflichkeit der Fakten an und führen zugleich selbst vor, wie instabil, unzuverlässig, subjektiv dieses Wissen ist und wie qualvoll es sein kann, ein solches Wissen zu erlangen. Eingeschränkte Gesichtsfelder im Traum, undeutliche Konturen, sich auflösende Bilder, vernebelte Eindrücke, unverstandene Worte, falsche Wahrnehmungen und unzusammenhängende, unerklärliche Ereignisse führen sinnbildlich die blinden Flecken, die Lücken und Unsicherheiten des Shoah-Wissens vor Augen. Dieses im Traum aufscheinende Nicht-Wissen macht eine kollektive Verständigung über das Geschehen notwendig. Sie vollzieht sich einerseits in Traumreflexionen und Einordnungsversuchen der Traumerfahrungen durch die Schreibenden, die sowohl der Selbstverständigung als auch der Verständigung mit den Leserinnen und Lesern dienen. Andererseits erweisen sich solche Verständigungsversuche als ein bereits im Text selbst vorhandenes, dialogisches, gemeinschaftlich hervorgebrachtes Traumwissen. Die beteiligten Träumerinnen und Träumer tauschen sich untereinander intensiv über ihr Traumerleben aus; sei es, indem solche Traumreflexionen die Genese einer Sammlung von Notaten begleiten und entsprechende Traumdiskurse als Paratexte bereitstellen; sei es in Form von Gesprächen literarischer Figuren, die in eine fiktionale Handlung integriert werden oder die autobiographische Erinnerungsarbeit prägen. Besonders deutlich tritt eine solche kollektive Form der Traumerfahrung in Textpassagen hervor, in denen die Träumenden wechselseitig in ihren Träumen auftauchen, sich ein

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vermeintlich eigener Traum als der Traum eines oder einer anderen erweist oder Träume anderer Überlebender in den eigenen Texten zitiert, reflektiert und weitererzählt werden. Welche traumtheoretischen Konsequenzen ergeben sich aus dem beschriebenen Potenzial des Traums für die Auseinandersetzung mit der Shoah?

Zweiter Ausblick: Zum traumtheoretischen Potenzial literarischer Shoah-Träume Immersion, das unmittelbare Eintauchen in eine diegetische Wirklichkeit, und Rezentrierung, das authentische Erleben dieser Wirklichkeit als die einzige mögliche, tatsächliche Welt im gleichzeitigen Bewusstsein ihrer Illusionshaftigkeit, sind zwei entscheidende Kennzeichen fiktionaler Welten.87 Dies haben literarische Diegesen mit Traumwelten gemeinsam. Es ist eben dieser onirische Wahrnehmungsmodus, der, wie Stefanie Kreuzer schreibt, in besonderem Maße für die Bedingungen der Wahrnehmung sensibilisiert und das Ideal einer stabilen Realität durch den Fokus auf die Subjektivität von Weltsicht, die Grenzen von Bezugsrahmen, den Perspektivismus von Erkenntnis, physiologische Bedingungen, die Selektivität von Wahrnehmung, verschiedene Bewusstseinsebenen und kognitive Erinnerungsprozesse konterkariert. Der Traum stellt in diesem Kontext eine Form von Realitätserfahrung dar.88

Es handelt sich hier um eine Logik der Realitätserfahrung, die für den Traum ganz grundsätzlich gilt, jedoch auf das Traumerleben der Shoah besonders zutrifft und damit auch für die Inszenierung von Traumata in autobiographischen oder fiktionalen Texten eine bedeutsame Rolle spielt. Denn durch diese Eigenschaften beziehen Traumwelten die für die Shoah-Thematik so entscheidende Dimension der Rezipientinnen und Rezipienten mit ein, an die sich der Text richtet. Als literarisches Erzählverfahren stellt sich der Traum der Vermittlungsproblematik mit den der Traumerzählung eigenen ästhetischen Mitteln. Stefanie Kreuzer, die ihre Studie vor dem Hintergrund der possible worlds theory situiert, stellt fest: „Traumwelten und erzählte Welten sind gleichermaßen erfundene, halluzinierte, imaginierte Welten. Dies verhindert indes nicht, dass ihre Wirkungsästhetik sehr intensiv sein kann und Träumende wie Lesende […] durch 87 Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, Bloomington/ London: Indiana University Press 1991, S. 21–23. 88 Stefanie Kreuzer: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst, Paderborn: Fink 2014, S. 81.

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Empathie und Identifikation die erdachten Welten als reale Welten  […] erleben.“89 Erzählte Träume innerhalb literarischer Texte potenzieren diesen Effekt nun nochmals. Die grundlegenden Alteritätserfahrungen im Traum werden in Shoah-Texten als brennende Aktualität des Vergangenen artikuliert und aktualisiert. Für die Leserinnen und Leser werden sie damit, dies betont auch Maria Teresa De Palma, bis zu einem gewissen Grad als tatsächliche Erfahrungen erlebbar gemacht. Der Ausnahmezustand greift auf die Lesenden über.90 Wie der Traum unvermittelt in das Dasein der Erzählenden und die Welt ihrer Figuren einbricht, so bricht er auch als Element der Verstörung in den literarischen Text ein: Das geträumte Lager lässt sich nicht bruchlos in die Lebenserzählung einfügen; es folgt einer anderen Erinnerungs- und Erfahrungslogik, auf deren narrative Gestaltung sich auch die Leserinnen und Leser einzulassen haben. Das Lager ist Teil des Narrativs und zugleich das, was in seine Ordnung nicht integrierbar ist, aus dem Kontinuum herausfällt, über die Grenzen des Textes hinausragt und ihn damit unabschließbar macht. Indem träumende Erzählinstanzen, geträumte Figuren, träumende Autorinnen und Autoren sowie die den Traum lesenden Rezipientinnen und Rezipienten in einen gemeinsamen Raum eintreten, treten die dialogischen und kollektiven Dimensionen zutage, die dem Traum eigen sind. Die intersubjektiv geteilte onirische Erfahrung betont besonders Maria Teresa De Palma im Anschluss an Emmanuel Levinas und Maurice Blanchot, zwei Denker, für die das Moment der Begegnung im Traum bzw. der Auflösung der Grenzen zwischen Träumenden und Geträumten eine wichtige Rolle spielt.91 Levinas spricht von „se sentir le rêve d’autrui“ sowie dem Ruf des Anderen, der im Traum vernehmbar sei und den Träumer zur Verantwortung ruft.92 Blanchot wiederum betont die wechselseitige Durchdringung von Subjekt und Objekt folgendermaßen: „[Q]uelqu’un d’autre qui rêve et qui nous rêve quelqu’un qui à son tour, nous rêvant, est rêvé

89 Kreuzer: Traum und Erzählen, S. 62. 90 De Palma: Rêve et onirisme, S. 353. 91 Vgl. De Palma: Rêve et onirisme, S. 273–275. Ergänzen ließe sich hier die Aussage von Gaston Bachelard über die Fremdheit des Traumerlebens: „L’étrangeté du rêve peut être telle qu’il semble, qu’un autre sujet rêve en nous.“ Gaston Bachelard: La poétique de la rêverie, Paris: Presses Universitaires de France 1960, S. 10. Bezogen auf die Shoah finden solche Aussagen ihren Widerhall nicht nur in zahlreichen autobiographischen Zeugnissen, allen voran denjenigen von Jorge Semprún. Sie erinnern auch auffallend an Theodor W. Adornos Reflexion über den Zufall und die Schuld des Überlebens, die sich äußern in kollektiven Träumen wie dem, dass der Träumer „gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten“. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 355– 356. 92 Emmanuel Levinas: De l’existence à l’existant [1947], Paris: Vrin 1981, S. 37.

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par quelqu’un d’autre.“93 In Träumen tritt somit eine ‚andere‘ Form der Subjektivität in Erscheinung. In dem Maße, in dem der Traum ein vollständiges Zurückgeworfensein auf das eigene Ich verhindert, wird er zum Medium der Öffnung des Selbst auf den Anderen oder die Andere hin. Es vollzieht sich eine Wendung vom selbstidentischen, auf Rationalität und Autonomie gegründeten Ich zum dialogischen Subjekt, das seine Erfahrungen aus der körperlichen und sinnlichen Wahrnehmung und dem Austausch mit anderen schöpft. Wie die Traumlektüren dieses Buches gezeigt haben, entfaltet sich diese kollektive Tragweite des Träumens nicht zuletzt in der Funktion des Traums als Kommunikationsmedium. Über ihn zu sprechen und mittels des Traums zu sprechen nähert die Kommunikation an das an, was Sarah Kofman als ein schwaches Sprechen, ein Sprechen „sans pouvoir“ bezeichnet hat; eine Form der Auseinandersetzung, die darauf verzichtet, sich das Ereignis anzueignen oder es beherrschen zu wollen.94 Mit dieser Haltung ist auch ein unübersehbares politisches und gesellschaftliches Potenzial verbunden. Angesichts einer solchen gesellschaftspolitischen, subjektphilosophischen und erfahrungspoetischen Dimension von Shoah-Träumen lässt sich der eingangs rekonstruierte traumtheoretische Kontext, dessen Diskurslinien von der Psychoanalyse über die psychologische Traumforschung bis zu den kulturwissenschaftlichen trauma studies verliefen, rückblickend und abschließend noch einmal etwas anders akzentuieren. In seiner Auseinandersetzung mit Ludwig Binswangers Studie Traum und Existenz [1930], die den Fokus auf den Traum als leibliche und sinnliche Erfahrung richtet, betont Michel Foucault in Abgrenzung zu Freud und dessen psychoanalytischer Theorie der Traumdeutung die Bedeutung der Bildersprache des Traums.95 Aufgrund seiner destabilisierenden Strukturen fordere der Traum zum Zweifel heraus, böte den Träumenden eine gewisse Freiheit und öffne den Raum für intersubjektive Begegnungen.96 Ein solches Potenzial lässt sich laut Foucault allerdings nur erkennen, wenn man den Traum nicht allein auf seinen Gehalt und dessen Bedeutung hin befragt, sondern ihn in seiner eigenen Sprache, Form und Bildlichkeit wahr- und ernst nimmt. Das Traumbild „ne désigne plus quelque chose, elle s’adresse à quelqu’un“.97 Mit dieser Hinwen93 Maurice Blanchot: L’espace littéraire, Paris: Gallimard 1955, S. 282. 94 Sarah Kofman: Paroles suffoquées, Paris: Galilée 1987, S. 16. 95 Michel Foucault: „Introduction“ [1954], in: Michel Foucault: Dits et écrits, Bd. 1 (1954–1975), Paris: Gallimard 2001, S. 93–147. 96 Wie diese Aspekte der Freiheit, des Handelns und Entscheidens mit einer traumspezifischen Zeiterfahrung zusammenhängen, die sich nach Foucault sowohl auf die Zeit im Traum als auch auf die damit verbundene Zukunft in der Wachwelt bezieht, untersucht Stavros Patoussis: „Bemerkungen zum Verhältnis Traum und Zeit im Anschluss an Michel Foucaults Einführung zu Ludwig Binswangers Traum und Existenz“, in: Laura Vordermayer/Christian Quintes (Hrsg.): Zeiterfahrung im Traum. Was war, was ist, was sein wird, Paderborn: Fink 2021, S. 217– 234, hier S. 220–222. 97 Foucault: Introduction, S. 146.

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dung zum Anderen, mit der eine Aufforderung zum Handeln einhergeht, lässt sich durchaus an die Traumkonzeptionen von Levinas und Blanchot anschließen, wobei Foucault die Funktionen des Traums deutlich stärker in eine sozialpolitische Richtung weiterführt. Auch in seinem Spätwerk Le souci de soi betont Foucault die sozialen Aspekte des Traums. Anhand der Oneirokritika von Artemidor stellt er heraus, dass Träume weniger als verborgene Wünsche, sondern viel eher im Hinblick auf die derzeitige und künftige gesellschaftliche Position der Träumenden zu lesen seien.98 An diese Vorstellung vom Traum als soziale und politische Praxis, mit der Foucault intime Erfahrungen an gesellschaftliche Machtstrukturen rückbindet, knüpft Sharon Sliwinski in ihrer politischen Theorie des Traums an. Träume enthielten stets eine Dimension, die, ungeachtet ihrer intimen Sprach- und Denkmuster, über das individuelle Subjekt hinausreiche.99 In ihrem Buch Dreaming in Dark Times. Six Exercices in Political Thought von 2017 untersucht sie sechs verschiedene Träume bzw. Traumsammlungen, die in besonderem Maße Szenarien politischer Gewalt, sozialer Unterdrückung und Entmenschlichung zum Ausdruck bringen und daher beredte Zeugnisse dessen sind, was die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zum Schweigen zu bringen versucht haben. Ihr zufolge bieten Träume ein „unconscious social knowledge conveyed in an alienated form“.100 Träume fordern, so Sliwinski, gerade aufgrund ihrer Alterität zur Kommunikation heraus. Diese Kommunikation hält sie für eine mächtige Form politischer Intervention,101 weil sie herrschende Ordnungsmuster unterwandert und Erfahrungsdimensionen zur Sprache bringt, die sich anders nicht artikulieren lassen: When we cannot consciously formulate a story, the experience often demands another venue of expression: through dreams, symptoms, or other unconscious actions. There is an urgent need to find ways to incorporate this disavowed material into our shared political imaginaries – to identify and integrate the unspeakable things unspoken.102

Wie Foucault und Sliwinski, betont Elena Loizidou in „Dreams and the Political Subject“ von 2016 das Moment der heilenden Selbstermächtigung, das Träume – 98 Michel Foucault: Le souci de soi (Histoire de la sexualité III), Paris: Gallimard 2014, S. 40–47. Inwiefern dieses Traumverständnis für Subjektentwürfe vom „Erwachsensein“ produktiv ist, die stets zwischen Individualität und Sozialität oszillieren, zeigt Hanna Matthies anhand von erzählten Träumen in der Gegenwartsliteratur. Vgl. Hanna Matthies: Vom Erwachsensein und seinen Grenzen. Eine komparatistische Studie zu Normen, Macht und Kontrollverlust in Romanen der Gegenwart, Paderborn: Fink 2020. 99 Sliwinski: Dreaming in Dark Times, S. 11. 100 Sliwinski: Dreaming in Dark Times, S. 11. 101 Sliwinski: Dreaming in Dark Times, S. 12. 102 Sliwinski: Dreaming in Dark Times, S. 14.

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gerade indem wir sie sammeln, weitererzählen, teilen und uns darüber verständigen – in sich bergen.103 Foucaults Aussagen zum sozialen Gehalt des Traums aufnehmend, plädiert auch sie für einen anderen Subjektbegriff. Denn es schmälert ihr zufolge unsere Idee von politischer Subjektivität und Handlungsmacht, wenn wir die Welt der Träume in ihrer Komplexität, Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Multidirektionalität von vornherein aus den anerkannten Formen der Wissensproduktion ausschließen.104 In einem ganz existenziellen Sinne sei das Träumen oftmals der einzige Weg, sich der eigenen Subjektivität zu versichern.105 Das Reich des Traums als eine politisch relevante Sphäre anzuerkennen, bedeutet auch, so argumentiert Loizidou im Anschluss an Judith Butler, Heilungsversuchen des beschädigten Selbst einen Raum zu geben. Damit verändert sich letztlich auch der Diskursraum, innerhalb dessen sich das Ich artikuliert. Denn Träume sind als subjektive Erfahrungen bislang zumeist aus dem öffentlichen, insbesondere auch aus dem wissenschaftlichen Bereich der Wissensproduktion ausgeschlossen. Sie bleiben oftmals ungehört, weil sich ihr Erfahrungsmodus nicht bruchlos in die bestehende phallogozentrische Ordnung fügt. Selbst Alpträumen wohne daher, so Loizidou, ein gewisses Potenzial inne, das zerbrochene Selbst wieder zusammenzufügen – und sei es auch nur in der im Traum geäußerten Sehnsucht nach dem, was die Geschichte politischer Gewalt vernichtet hat.106 Elie Wiesel hat die Entwicklung seines eigenen Traumerlebens vom beängstigenden Kindertraum über seine Träume als Erwachsener, die ihn wieder in die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung zurückversetzen, bis hin zum Traum von einer gesellschaftspolitischen Utopie eindrücklich beschrieben: Da der Messias sein Wort nicht gehalten habe, träume er, sagt er im Jahr 2004, des Nachts nicht mehr von ihm. Seine Hoffnungen auf eine friedvolle, menschliche und für alle gleichermaßen lebbare Zukunft, in die die Erinnerung an die Vergangenheit stets eingeschlossen ist, habe er bewusst in Wachträume überführt: Je rêve d’un monde où les hommes ne céderaient plus aux ambitions absurdes de conquête et d’oppression pour affirmer ou confirmer leur propre supériorité. Un monde où les fantômes du racisme, de l’antisémitisme et du fanatisme resteraient emmurés dans leurs prisons. […] Bref, un monde où la parole sert non pas à tuer, mais à bénir. Un monde où Israéliens et Palestiniens œuvrent pour que leurs enfants aient droit au même bonheur. Et où Juifs et Allemands se reconnaissent

103 Elena Loizidou: „Dreams and the Political Subject“, in: Judith Butler/Zeynep Gambetti/Leticia Sabsay (Hrsg.): Vulnerability in Resistance, Durham (NC): Duke University Press 2016, S. 122–145, hier S. 124. 104 Loizidou: Dreams and the Political Subject, S. 136. 105 Loizidou: Dreams and the Political Subject, S. 133. 106 Loizidou: Dreams and the Political Subject, S. 123.

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comme alliés dans un même combat pour l’humanité de l’homme. Sans que cela soit aux dépens de la mémoire.107

Anhand von Träumen lässt sich daher – und hiermit schließen meine Überlegungen wieder an die Thesen vom Anfang dieses Buches an – eine ‚andere‘ Form der Subjektivität entwerfen; ein Selbstverständnis, das künftige Totalitarismen obsolet machen würde, weil mit diesem Verhältnis des Ich zu sich selbst auch ein neues Verhältnis zur Welt einherginge. Darüber hinaus lässt sich, wie wir gesehen haben, auch die Geschichte mittels des Traums anders erzählen. Widmet man sich dem Konzept einer Erfahrungsgeschichte, wie sie Walter Benjamin entwirft, der seine eigenen Träume notiert und einmal als „Bilderatlas zur geheimen Geschichte des Nationalsozialismus“ bezeichnet hat,108 so zeigt sich deutlich die Produktivität des Traums auch für eine ‚andere‘, nicht positivistische Form der Geschichtsschreibung. In seinem Passagen-Werk beharrt Benjamin auf der Eigenlogik und Affektivität der Traumerfahrung, die er ausdrücklich von der individuellen in eine kollektive Dimension überführt.109 Auch in seinem Traumdenken spielt die Mitteilung des Traums  – sein Erzählen – eine entscheidende Rolle.110 Und Benjamin verbindet seine Überlegungen für ein künftiges Kollektiv, das weder faschistisch noch kommunistisch sein soll, ebenfalls mit einem neuen Subjektverständnis.111 In der Dialektik von Geschichte und Traum entfaltet sich bei Benjamin eine neue Art des Geschichtswissens: Es entsteht dadurch, dass die Geschichte körperlich und sinnlich erfahren wird und der vermeintlichen Objektivität der Historie eine subjektive, auf Empathie gegründete Wahrnehmungswirklichkeit gegenüberstellt wird.112 Auf107 Elie Wiesel: „Voici mes songes“, in: Elie Wiesel: Et où vas-tu ? Textes, essais, dialogues, Paris: Seuil 2004, S. 130–131. 108 In einem Brief an Gerschom Scholem vom März 1934, der sich im vierten Band der Gesammelten Schriften Benjamins findet und den ich hier zitiere nach Burkhardt Lindner: „Benjamin als Träumer und Theoretiker des Traums“, in: Walter Benjamin: Träume, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 135–168, hier S. 146. Das Buch versammelt und kommentiert die wichtigsten Traumnotate und Traumreflexionen Benjamins unter Verweis auf ihre Quellen in der Suhrkamp-Gesamtausgabe. 109 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Zweiter Teil, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 1012. 110 Vgl. Lindner: Benjamin als Träumer, S. 139. 111 Vgl. das Benjamin-Kapitel von Barbara Hahn: „Traum des Kollektivs“, in Barbara Hahn: Endlose Nacht, S. 25–31, hier S. 26. 112 Benjamin: Passagen-Werk. Zweiter Band, S.  1006. Den geschichtsphilosophischen Hintergrund beleuchtet Barbara Hahn, indem sie die Thesen Benjamins innerhalb der zeitgenössischen Debatte um den Traum verortet, an der auch Ernst Bloch und Theodor W. Adorno beteiligt sind und bei der es u. a. um eine Abgrenzung des Benjamin’schen Traumkollektivs von C. G. Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten geht. Vgl. Hahn: Endlose Nacht, S. 29–31. Im Zusammenhang mit Rudolf Leonhards Traumbuch des Exils untersucht Andrea Allerkamp Benjamins Traumkonzept mit einem Fokus auf die Grenzen zwischen Schlafen und Erwachen, Intimität und Öffentlichkeit. Vgl. Andrea Allerkamp: „Erwachen als historische Grenz-Erfahrung. Rudolf Leonhards und Walter Benjamins Traumtheorien“, in: Sarah

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grund des Denkens in Analogien und Ungleichzeitigkeiten bietet der Traum, so sieht es auch Andrea Allerkamp in ihren Benjamin-Lektüren, „einen Zugang zu einem anderen Wissen“.113 Statt linearer Verläufe beleuchtet dieses Traumwissen die komplexen und widersprüchlichen Strukturen des Erinnerns und Verdrängens und wirkt so der gewaltsamen Tendenz entgegen, die Geschichte als etwas Abgeschlossenes zu betrachten. „Das Träumen hat an der Geschichte teil.“114 Vor diesem Hintergrund geht es, folgt man Benjamin, darum, „mit der Intensität eines Traumes das Gewesene durchzumachen, um die Gegenwart als die Wachwelt zu erfahren, auf die der Traum sich bezieht“.115

Schmidt/Gérard Raulet (Hrsg.): Wissen in Bewegung. Theoriebildung unter dem Fokus von Entgrenzung und Grenzziehung, Münster: LIT 2014, S. 115–129. 113 Allerkamp: Erwachen, S. 119. 114 Walter Benjamin: „Traumkitsch“, in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 620–622, hier S. 620. 115 Benjamin: Passagen-Werk. Zweiter Band, S. 1006.

Nachweis der Erstpublikationen

Für die Beiträge dieses Bandes wurden folgende Veröffentlichungen erweitert, gekürzt, übersetzt oder in anderer Weise umgearbeitet:

Kapitel I „Traumdiskurse des beschädigten Selbst. Traumwissen in Konzentrationslagerträumen vor 1950“, in: Hendrik Schlieper/Leonie Süwolto/Jörn Steigerwald (Hrsg.): Komparatistik heute. Aktuelle Positionen der Vergleichenden Literaturund Kulturwissenschaft, Paderborn: Fink 2020, S. 175–203.

Kapitel II „Le Songe“ (Vercors), in: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“, http://traumkulturen.uni-saarland.de/LexikonTraumkultur/index.php/%22Le_Songe%22_(Vercors,_d.i._Jean_Bruller) (11.  August 2016). „Traumdiskurse des beschädigten Selbst. Traumwissen in Konzentrationslagerträumen vor 1950“, in: Hendrik Schlieper/Leonie Süwolto/Jörn Steigerwald (Hrsg.): Komparatistik heute. Aktuelle Positionen der Vergleichenden Literaturund Kulturwissenschaft, Paderborn: Fink 2020, S. 175–203.

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Nachweis der Erstpublikationen

Kapitel III „Träume(n) an der Grenze. Politik und Poetik in Charlotte Beradts Das Dritte Reich des Traums“, in: Hermann Gätje/Sikander Singh (Hrsg.): Grenze als Erfahrung und Diskurs. Literatur- und geschichtswissenschaftliche Perspektivierungen, Tübingen: Narr Francke Attempto 2018, S. 87–99. „Das Dritte Reich des Traums“ (Charlotte Beradt), in: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“, http://traumkultu ren.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Das_Dritte_Reich_ des_Traums%22_(Charlotte_Beradt) (6. Februar 2017).

Kapitel IV „Körpersprachen der Unsagbarkeit. Leibliche Grenzerfahrungen in literarischen Texten über die Shoah“, in: Hélène Barrière/Susanne Böhmisch (Hrsg.): Corpsfrontière. Perspectives littéraires, artistiques et anthropologiques, Cahiers d’Études Germaniques 78 (2020), S. 111–125. „Se questo è un uomo“ (Primo Levi), in: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“, http://traumkulturen.uni-saar land.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Se_questo_è_un_uomo%22_ (Primo_Levi) (5. August 2016).

Kapitel V „Das Sterben der Anderen. Zur Traum-Sprache des ‚Muselmanns‘ bei Delbo und Vercors“, in: Mauro Fosco Bertola/Christiane Solte-Gresser (Hrsg.): An den Rändern des Lebens. Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten, Paderborn: Fink 2019, S. 263–283.

Nachweis der Erstpublikationen

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Kapitel VI „Cauchemars d’après-guerre. Approches d’une poétique concentrationnaire (1953–1963)“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Historizing the Dream/ Le rêve du point de vue historique, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 291–309. „Les bagages de sable“ (Anna Langfus), in: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“, http://traumkulturen.unisaarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Les_bagages_de_ sable%22_(Anna_Langfus,_geb._Szternfinkiel) (5. August 2016). „Träume“ (Günter Eich), in: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs „Europäische Traumkulturen“, http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexi kon-Traumkultur/index.php?title=%22Träume%22_(Günter_Eich)&oldid=875 (8. August 2016).

Kapitel VII „Traumzeit und Geschichtserfahrung. Zu Anna Seghers’ Der Ausflug der toten Mädchen“, in: Laura Vordermayer/Christian Quintes (Hrsg.): Formen der Zeiterfahrung im Traum. Was war, was ist, was sein wird, Paderborn: Fink 2021, S. 179– 197.

Kapitel VIII „Geträumte Schrift. Von der Materialität der Zeichen in literarischen Traumberichten“, in: Monika Schmitz-Emans/Linda Simonis/Simone Sauer-Kretschmer (Hrsg.): Schrift und Graphisches im Vergleich, Bielefeld: Aisthesis 2019, S. 75–87.

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Nachweis der Erstpublikationen

Kapitel IX „Genres littéraires et rêves concentrationnaires ou les formes oniriques de l’innommable“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Mediating the Dream/Les genres et les medias du rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2020, S. 181–218.

Kapitel X „History as Dreamed Anticipation. On a Type of Paradoxical Dream Experience in Narrative Fiction“, in: Bernard Dieterle/Manfred Engel (Hrsg.): Typologizing the Dream/Le rêve du point de vue typologique, Würzburg: Königshausen & Neumann 2021 (im Druck).

Kapitel XI „Von Narren und Dibbuks. Komisch-provozierende Perspektiven auf die Shoah“, in: Katharina Meiser/Sikander Singh (Hrsg.): Narren, Clowns, Spaßmacher. Studien zu einer Sozialfigur zwischen Mittelalter und Gegenwart, Hannover: Wehrhahn 2020, S. 207–241.

Kapitel XIII „Comment le cauchemar traumatique désagrège-t-il l’universalisme européen ?“, in: Frank Hofmann/Markus Messling (Hrsg.): The Epoch of Universalism/ L’époque de l’universalisme 1769–1989, Berlin: De Gruyter 2020, S. 179–192.

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Barthes, Roland 18, 32, 34, 232 Bastide, Roger 261 Batt, Kurt 180 Battegay, Caspar 303 Baudelaire, Charles 34, 247 Baum, Rob 15 Bauer, Yehuda 300 Bauman, Zygmunt 84, 341–342, 410 Bayard, Pierre 290 Bellos, David 284 Benjamin, Walter 65, 180, 189, 226, 229, 316, 319, 440–441 Bensoussan, Georges 150 Beradt, Charlotte 12, 32, 34, 51–63, 69–73, 78, 219, 224–225, 234, 309–319, 329–330, 405, 408 Berg, J. P. C. van den 347, 349 Bernstorff, Wiebke von 190 Bettelheim, Bruno 23, 31, 44–45, 61, 68, 131 Beyer, Marcel 120, 223, 273, 333, 355–362, 375, 383, 387–388, 419 Bies, Michael 318 Binet, Laurent 370 Bischof, Rita 229 Blanchot, Maurice 32, 83, 436–438 Bleicher, Joan Kristin 295 Blévis, Jean-Jacques 122 Bodemann, Y. Michal 289 Böhle, Fritz 18 Böll, Heinrich 346–347 Böschenstein, Renate 61, 33, 98 Bogdanović, Bogdan 52, 63, 70 Borgards, Roland 18, 49 Borsò, Vittoria 19, 232–233, 314–315 Boulé, Anne 167 Braese, Stefan 150 Braun, Helmut 348 Brenner, David A. 299, 305

484

Register

Brenner, Ira 24 Breton, André 57, 156, 173 Bridel, Maurice 124 Briegleb, Klaus 153 Browning, Christopher R. 335 Brütsch, Matthias 282 Bürger, Peter 339 Bui, Doan 335 Bulkeley, Kelly 54 Bunzel, Wolfgang 247 Buschendorf, Achim 181 Calle-Gruber, Mireille 327 Cannon, Jo-Ann 164 Canovas, Frédéric 40, 43 Carpi, Aldo 131 Carrère, Emmanuel 69, 71 Carroy, Jacqueline 310 Caruth, Cathy 16, 28, 196, 212, 216, 271, 280 Catani, Stephanie 27, 177, 340, 355 Cavarero, Adriana 318 Cayrol, Jean 7, 11–12, 18, 30–36, 41, 43–49, 52–53, 60, 235, 256–259, 275–277, 310–311, 378 Celan, Paul 32, 186, 383, 391 Céspedez Gallego, Jaime 264 Cheyette, Bryan 151, 417 Chodoff, Paul 14, 24 Chomsky, Marvin J. 149 Cixous, Hélène 260, 309, 311, 314–315, 326–329, 331–332, 405, 407, 408 Closson, Marianne 252 Cohen, Josh 201 Cohen, Robert 180, 183–184 Colin, Nicolas 335 Collado-Rodriguez, Francisco 218 Conesa, Élisabeth 267 Coquio, Catherine 32 Corell, Catrin 85, 300–301, 304, 306 Cortanze, Gérard de 264 Cosman, Ioana 482 Cowart, David 208 Crownshaw, Richard 334, 345 Cywiński, Piotr 13, 32, 256 Czollek, Max 289, 410–411, 414

Davison, Neil R. 207 Déchanet-Platz, Fanny 28–29, 35 Delbo, Charlotte 7, 16–17, 28, 44, 47–49, 79, 81–82, 90, 92, 98–106, 109–112, 117, 119, 121, 123–135, 145–147, 154, 159, 178, 192, 235, 246–252, 259, 267, 275–277, 309, 370, 378, 407–408, 414, 418 Demir, Meryem Ilknur 352 Denner, Natascha 314, 324 De Palma, Maria Teresa 17–18, 86, 91, 105, 130, 157, 164, 248, 264, 267, 276, 326, 414, 436 Diagne, Souleymane Bachir 412 Díaz Bild, Aída 377 Didi-Huberman, Georges 36, 62, 82, 319, 415 Dieterle, Bernard 18, 239, 242, 260–261, 313 Diner, Dan 26–27, 283, 289–290, 340 Doane, Heike A. 183, 186 Döring, Jörg 152, 161–162 Dopheide, Dietrich 337, 348 Doran, Robert 177 Drndić, Daša 333, 335–337, 366, 385, 391–404 Druker, Jonathan 164, 167 Dufiet, Jean Paul 36, 132 Duval, Marion 334, 338–341 Eaglestone, Robert 340, 348, 364–365 Edvardson, Cordelia 35, 115, 309 Ehlich, Konrad 232 Eich, Günter 149–165, 170–171, 174–175 Eitinger, Leo 24 Eke, Norbert Otto 253 Elon, Ori 425 Engel, Manfred 18, 240, 259–261, 313–314 Engelking, Barbara 17, 24–25 Ette, Ottmar 19, 314–315 Fanon, Frantz 413, 417 Farchi, Rachel 119, 423–424 Feierstein, Liliana Ruth 289 Feinberg, Anat 423 Felman, Shoshana 15 Ferrari, Sara 119, 423–424

Register

Fian, Antonio 260, 263, 310–311, 331 Fine, Ellen S. 137–138, 143 Fischer, Jens Malte 287 Fischmann, Tamara 21 Flügge, Manfred 276 Foer, Jonathan Safran 193, 195, 197–201, 212–219, 393, 405, 421 Fortin-Tournès, Anne-Laure 335, 345, 376 Foucault, Michel 437–439 Frankl, Viktor E. 23, 31, 40, 44–45, 67, 131 Freud, Sigmund 20–23, 29–30, 42–45, 76, 201–202, 208–212, 215, 219, 221–223, 225, 235, 290, 437 Fricke, Hannes 196 Friedemann, Joë 80, 82, 93, 154, 174 Frieden, Ken 136 Friedman, Benedikt 44, 89, 93, 116, 274 Friedländer, Saul 84, 159 Frisch, Max 310–311 Fritsch, Werner 31, 235, 251–255, 275–276 Fry, Patricia 18 Furman, Liliana 289 Gätje, Olaf 232 Gampel, Yolanda 15 Gamper, Michael 318 Garnier, Marie-Dominique 314 Gary, Romain 120, 240, 275–276, 279, 281–295, 299–302, 305–306, 333, 342–347, 351, 355–356, 377, 390, 420 Gehle, Holger 150 Georgesco, Florent 386 Giergiel, Sabina 397 Gilboa, Amir 119, 423–424 Gilzmer, Mechthild 277 Gladischefski, Anke 125 Glajar, Valentina 296 Glosíková, Viera 190 Glowacka, Dorota 271 Godard, Marie-Odile 28 Goertz, Hans-Jürgen 178 Goldenberg, Myrna 154 Goldhagen, Daniel Jonah 335, 366 Gollut, Jean-Daniel 17–18, 98 Gordon, Robert S. C. 151, 154

485

Goß, Marlies 151–152 Gossman, Lionel 177 Goumegou, Susanne 223 Greber, Erika 232 Green, Arthur 136 Greiner, Bernhard 298 Grenville, Anthony 179 Grieger, Monika 315 Gries, Britta 337, 363 Grinberg, Ari Zvi 119, 424 Grob, Norbert 298 Grossman, David 421 Grube, Gernot 233 Grünbein, Durs 55, 379 Guez, Olivier 333, 335, 357, 384–391, 419 Häfner, Heinz 24 Hahn, Barbara 16, 54, 57, 66, 221, 228, 230, 313, 321, 329–330, 416–417, 440 Hamel, Jean-François 305 Haraway, Donna 339 Hartmann, Ernest 15, 34, 427–428 Haselstein, Ulla 198, 214, 216, 217 Hay, Gerhard 160 Heidegger, Martin 229, 268 Helfersyndrom 55 Hentschel, Roswitha 314 Herman, Greg 272 Herr, Peter 279, 293–295, 302–305 Herzog, Elisabeth 300 Heulot-Petit, Françoise 252 Heymann, Brigitte 332 Hilberg, Raul 337 Hilsenrath, Edgar 120, 275, 292, 333, 346–356, 388, 401, 419, 422 Hilzinger, Sonja 189, 193 Hirsch, Marianne 196, 217 Hobson, J. Allan 196 Höfer, Kristina 239–240, 254–255 Höß, Rudolf 335, 370, 375, 385 Hoffmann, Eva 300 Honigmann, Barbara 325 Horowitz, Sara R. 28, 178, 196, 280 Huch, Friedrich 56, 65

486

Register

Indursky, Yehonatan 425 Ingenschay, Dieter 247 Iser, Wolfgang 279 Jagoda, Zenon 12, 92, 256, 310–311 Jambrešić Kirin, Renata 396 Ježower, Ignaz 65 Jung, Carl Gustav 22–23, 39, 41, 43, 45, 290 Kafka, Franz 55, 57, 70, 142, 225, 228, 268 Kanz, Christine 315 Karst, Karl 151–152 Kasińska, Paulina 337 Kasper, Judith 16, 86, 92, 154, 156, 215, 219, 239, 243, 415 Kauffmann, Judith 280, 285, 306 Kaufmann, Francine 198, 200, 202 Kaminer, Hanna 13–14, 47, 427 Kellermann, Natan Peter Felix 14 Kępiński, Antoni 24–25 Kertész, Imre 35, 91, 111–112, 280, 385 Kidd, William 37 Kisker, Karl Peter 24 Klävers, Steffen 417 Klausnitzer, Ralf 18 Klein, Judith 12, 16, 24, 47, 84–85, 95, 99, 113–115, 131, 150, 155, 173–175, 198, 200, 205, 207, 280, 288–290, 292, 294–295 Kleinschmidt, Michael 281 Kłodziński, Stanisław 12, 24, 92, 121, 256, 311 Klüger, Ruth 25–26, 38, 91, 159, 245–246, 295, 309, 428 Körte, Mona 40, 121–122, Kofman, Sarah 33, 82–84, 101, 112, 145, 280, 437 Kogan, Ilany 24 Kogge, Werner 231, 233 Kogon, Eugen 57, 337 Korhonen, Kuisma 177 Kortmann, Géraldine 303 Koselleck, Reinhart 11–12, 28, 61–63, 78, 220, 225, 312, 315, 329–330, 430 Krämer, Sybille 233 Kramer, Sven 357 Kremer, Lillian 154

Kreuzer, Stefanie 196, 221, 239, 282, 345, 435–436 Kristeva, Julia 345–346 Krystal, Henry 15 Kühner, Angela 196 Kuon, Peter 16, 23, 31, 46, 120 Kuznetsov, Anatoli 200, 211, 236 Lacan, Jacques 222, 228–229 LaCapra, Dominik 16, 28, 84, 196, 237, 280 Lachmann, Renate 43, 107, 115–117, 416–417 Lacoste, Charlotte 365 Lamping, Dieter 239 Lançon, Philippe 70–73 Landmann, Salcia 295 Langer, Lawrence L. 16, 82, 91, 125–126, 138, 147, 178, 195–197, 201, 206, 234, 237 Langfus, Anna 7, 35, 48, 79, 82, 112–114, 119, 124, 149–157, 163, 168–175, 178, 275, 384, 423, 426 Lanzmann, Claude 38, 280–281, 295, 335 Larkin, Philip 221, 223, 225–234, 388, 422 Latour, Bruno 226 Laub, Dori 14–15, 196–197, 212, 316 Lavie, Peretz 13–14, 47, 427 Lawrence, Gordon W 55 Ledbetter, Marc 207, 210, 212 Lehmann, Hans-Thies 253 Leikert, Sebastian 15 Lenk, Elisabeth 56 Lenze, Ulla 362 Leonhard, Rudolf 51, 53, 56, 63–71, 78, 219, 224–225, 227, 234, 329, 440 Levi, Primo 7, 17, 26, 35, 40, 44, 48–49, 79–81, 85–93, 95, 98, 100–109, 112, 115–117, 121–123, 127–129, 131, 135–136, 149–157, 159, 163–168, 171, 174–177, 192, 195, 219, 235–237, 241–251, 259, 264–277, 283, 306, 316, 325, 350, 377–379, 409, 414–415, 418, 424–425 Levin, Hanoch 425–426 Lévinas, Emmanuel 268, 436, 438 Lévy, Clara 151 Levy, Itamar 419–421 Liebrecht, Savyon 427–429

Register

487

Lindner, Burkhardt 226, 440 Littell, Jonathan 333–337, 347, 362–374, 380, 386, 419 Loewy, Hanno 339–340 Loizidou, Elena 438–439 Lópiz Cantó, Pablo 122 Louwagie, Franziska 197 Ludwig, Paula 52–53, 66, 70, 221–226, 230–234, 309–315, 319–322, 324, 327–328, 330 Lühe, Irmela von der 57, 329–330 Lurie, Ido 14 Lux, Nadja 16, 39–41, 45, 53, 62, 134, 219, 230, 309–310, 315, 319, 330

Nagelschmidt, Ilse 190 Naumann, Matthias 425 Nesselhauf, Jonas 24 Neuhofer, Monika 120, 267 Neumeyer, Harald 18 Neuner, Thomas 27 Newsom, Matthew 411 Nickenig, Annika 16, 93, 95, 97–98, 168, 175, 268, 271 Nissimov, Hava 119, 423–424 Nonnenmacher, Kai 385–386 Novalis (= Friedrich von Hardenberg) 161 Nünning, Ansgar 177 Nyiszli, Miklós 385

McGlothlin, Erin 338, 354, 363–364, 374 Maercker, Andreas 27 Mahlmann-Bauer, Barbara 120, 127, 131 Maier-Katkin, Birgit 180, 189 Mandel, Naomi 84 Marhoff, Lydia 314, 321–322, 330 Marszałek, Magdalena 25, 28–29 Masłowski, Jan 12, 92, 256, 311 Maticevic, Mara 200, 217 Mattioli, Aram 304 Mayer, Hans 180 Mazzocchi, Mariangela Doglio 425 Meier, Barbara 196, 221 Meißgeier, Sina 190 Mensching, Steffen 63–65, 68–69 Merle, Robert 370, 391 Mesnard, Philippe 80, 154, 174, 237 Messling, Markus 9, 412, 414 Meyer-Sickendiek, Burkard 288 Miething, Christoph 85, 154 Mihăileanu, Radu 279–281, 294–307, 408, 430 Millu, Liana 100, Modeste M’besso, Anicet 327–328 Moebius, Stephan 229 Morrison, Toni 417 Moshinsky, Elijah 285 Müller, Jan-Dirk 232 Müller-Wood, Anja 252 Muraveva, Larisa 211

Obergöker, Timo 294–295 Och, Gunnar 288 Okopenko, Andreas 260, 263, 311 Opher-Cohn, Liliane 24 Oster, Daniel 31 Owczarski, Wojciech 13, 17, 27, 32, 135, 256–257 Oz, Amos 412–413 Parent, Anne Martine 125, 433 Patoussis, Stavros 437 Paul, Gerhard 336, 339 Peiter, Anne D. 159–161, 416 Peled, Oded 119, 423–424 Pelloni, Gabriella 312, 314, 323–324 Perec, Georges 235, 260–264, 275–277, 408 Perry, Edith 364–365, 369 Pethes, Nicolas 18, 314 Pettitt, Joanne 334, 340–342, 348, 352 Petzoldt, Leander 283 Pfefferkorn, Eli 293 Pfister, Manfred 252–254 Pliske, Roman 357 Poier-Bernhard, Astrid 281, 290, 292 Pollak, Michael 176 Pop, Doru 300 Posner, Gerald L. 385 Potel, Jean-Yves 154 Pröbstl, Tanja 357 Prosperi, Carlo 167

488

Register

Punamäki, Raija-Leena 14 Raynal, Eva 272 Razinsky, Liran 363 Rechtschaffen, Allan 221 Reck, Hans Ulrich 11–12, 19 Reich, Steve 38, 295 Reinerová, Lenka 177, 189–193 Reinstädler, Janett 316 Rheinberger, Hans-Jörg 232 Rilke, Rainer Maria 359–360 Ritte, Jürgen 275 Ritter von Baeyer, Walter 24 Robson, Kathryn 127 Rodríguez Varela, Rita 267 Rohr, Susanne 303–304 Rokem, Freddie 426–427 Romains, Jules 41–42 Rose, Gillian 336 Rosenbaum, Alan S. 416 Rosenberg, Alan 416 Rosenberg, Joel 136 Rosenfeld, Gavriel David 416 Rothberg, Michael 196–197, 207, 217 Roussel, Hélène 179 Rousset, David 33, 95, 133, 159, 316, 365 Rubin Suleiman, Susan 363 Ruby, Sigrid 310 Rumler, Fritz 348 Ryan, Marie-Laure 236, 435 Sabin, Margery 245 Sacotte, Mireille 293 Salmhofer, Grudun 190 Sánchez Zapatero, Javier 272 Sanna, Simonetta 395 Sansal, Boualem 417–419 Schaneman Clark, Judith 154 Schiffermüller, Isolde 312, 314, 323–324 Schlicht, Corinna 190 Schlossbauer, Frank 179–180, 186, 188–189 Schmidt-Hannisa, Hans-Walter 55–56, 61, 64, 239, 260, 312–313, 316, 319, 330 Schmitt-Lederhaus, Ruth 152, 161 Schnepel, Burkhard 196

Scholem, Gerschom 283, 440 Schorsch, Jonathan 305 Schredl, Michael 196, 221 Schröder, Lothar 158, 163 Schubert, Katja 150, 154, 174, 325–326 Schütte, Uwe 337, 377 Schulte, Klaus 179 Schwartzbrod, Alexandra 386 Schwarz-Bart, André 145, 193, 195, 198–200, 202–207, 209–210, 216–217, 219, 239, 367, 369, 409, 434 Scurati, Antonio 338 Sebald, W. G. 28, 150, 153, 178, 392–393, 415 Seghers, Anna 67, 177–193, 219, 409 Segler-Messner, Silke 120, 127, 251 Segre, Cesare 86, 154, 167 Seibel, Klaudia 236–237 Semprún, Jorge 7, 17, 28, 47–48, 79, 81, 91–92, 106–112, 116–117, 121, 123, 135, 159, 178, 187, 235, 238, 251, 264–277, 280, 295, 418, 424–425, 436 Setzwein, Bernhard 252 Sexl, Martin 337 Sherwin, Byron L. 135 Shusterman, Richard 315, 408 Sicher, Efraim 420 Siepe, Hans T. 284, 292–293 Silverman, Evelyn 416 Simbürger, Brigitta Elisa 154 Simon, Ulrich 358 Simpson, Richard B. 122 Sliwinski, Sharon 61–62, 145, 417, 438 Sobchack, Vivian 315, 408 Solte-Gresser, Christiane 224, 416, 422 Sossi, Federica 243 Spiller, Roland 315–316 Steuwer, Janosch 54, 319, 330 Stistrup Jensen, Merete 150–151 Strässle, Thomas 223 Strauch, Inge 196, 221 Szittya, Emil 51, 53, 69–78, 276–277, 429–430 Tame, Peter 364 Taterka, Thomas 91

Register

Taureck, Margot 63, 66 Taylor, Jennifer 349 Theweleit, Klaus 370–371, Toledo, Camille de 414 Torra-Mattenklott, Caroline 223 Thomas, Christian 360 Thomas, D. M. 28, 193, 195–201, 207–212, 214, 216, 235–236, 239, 241, 275, 409, 419 Thomson, Ian 85 Trapp, Frithjof 180–181, 186–187 Tynen, Avril 266 Van den Berg, J. P. C. 347, 349 Vice, Sue 198, 200, 202, 208, 334, 336, 340 Vieregg, Axel 153 Vercors (=Jean Marcel Bruller) 7, 30–31, 36–49, 119, 132–135, 144–146, 159, 192–193, 219, 321, 331, 388, 405 Vöhringer, Margarete 232 Völklein, Ulrich 385 Vogl, Joseph 19 Vordermayer, Laura 312, 437 Ware, John 385 Wajsbrot, Cécile 328 Weibel, Paul 202, 210 Weiershausen, Romana 163, 316 Weinberg, Manfred 16, 173, 305

489

Wells, Herbert George 359–360 Welzer, Harald 339, 385 Wetterwald, François 99, 117 White, Hayden 177–178, 195 Wiesel, Elie 7, 44, 49, 79–82, 91, 101, 119, 123, 135–146, 149, 280, 412, 414–416, 418, 423–424, 439–440 Wieviorka, Annette 80, 151 Wilkomirski, Binjamin 240–241 Willems, Gottfried 240 Wilpert, Gero von 287 Winter, Lisa 408, 422 Wolf, Christa 186, 411 Wolfsteiner, Beate 198 Wübben, Yvonne 18–19, 223 Yildiz, Hülya 200, 211–212 Young, James E. 33, 82, 147, 178, 195, 211, 234, 237, 280, 412, 430–431 Zaccaro, Vanna 154 Zborowski, Mark 300 Zeitlin, Solomo 136 Zepp, Susanne 197, 201 Zimmerer, Jürgen 417 Zimmermann, Werner 185, 188 Žižek, Slavoj 280–281 Zymner, Rüdiger 240