Selbstkritik der Moderne: Foucault und Habermas im Vergleich (Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie) 3593375990, 9783593375991

Kurzbeschreibung Es erscheint beinahe unmöglich, sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit Fragen der Kritik zu beschäftig

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Selbstkritik der Moderne: Foucault und Habermas im Vergleich (Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie)
 3593375990, 9783593375991

Table of contents :
Inhalt......Page 6
Vorwort......Page 10
Danksagung......Page 14
Einleitung......Page 16
1.1 Kritik als emanzipatorisches Interesse......Page 38
1.2 Ambivalenzen und hybride Formen – Probleme der kritischen Wissenschaft......Page 41
2.1 Das Andere der Vernunft – Wahnsinn und Gesellschaft......Page 46
2.2.1 Vom Krypto-Strukturalismus zur archäologischen Diskursanalyse......Page 50
2.2.2 Die Archäologie in der Diskussion......Page 55
3. Wissenschaftskritik bei Habermas und Foucault: Gemeinsamkeiten, Differenzen, Kontroversen......Page 65
1.1 Ziele und Anforderungen der Theorie des kommunikativen Handelns......Page 84
1.2 Das Konzept der kommunikativen Rationalität......Page 86
1.3 Verdinglichung als systeminduzierte Lebensweltpathologien......Page 89
1.4 Die kritische Stärke der Theorie des kommunikativen Handelns......Page 91
1.5.1 Überwindung der Bewusstseinsphilosophie?......Page 96
1.5.2 Die Entwirrung von Macht und Geltung......Page 100
1.6 Probleme der Gesellschaftstheorie: Kolonialisierung und die Dichotomie von Lebenswelt und System......Page 106
2. Genealogie – Foucaults Analytik der Macht......Page 111
2.1 Macht, Wissen und das Subjekt......Page 112
2.2 Spezifischer versus universeller Intellektueller......Page 117
2.3 Die kritische Stärke der Analytik der Macht......Page 118
3.1 Habermas und Foucault – Berührungspunkte und Antipoden......Page 122
3.2.1 Mangelnde Differenzierung oder Rhetorik: Der Vorwurf der Einseitigkeit......Page 137
3.2.2 Die Gesellschaft als holistisches Machtregime......Page 148
3.3 Rückwirkungen auf das Verhältnis beider Ansätze......Page 162
1. Habermas’ Diskursethik – Kritik als Moralphilosophie......Page 166
1.1 Das Konzept diskursethischer Normbegründung......Page 167
1.1.1 Formalismus......Page 170
1.1.2 Deontologische Differenzierung......Page 172
1.1.3 Universalismus......Page 173
1.2 Die Diskursethik in der Diskussion......Page 178
1.2.1 Formallogische Begründungsprobleme......Page 179
1.2.2 Letztbegründung versus empirische Rekonstruktion......Page 186
1.2.3 Universalismus oder verkappter Eurozentrismus......Page 191
1.2.4 Universale Inklusion versus Exklusion......Page 196
1.2.5 Das Gute und das Gerechte......Page 204
2.1 Die Ästhetik der Existenz......Page 220
2.2 Aufklärung und Kritik......Page 224
2.3 Probleme der Ethik: Ästhetik der Existenz als elitärer Privatismus?......Page 226
3.1 Ethik und Moral – Auf dem Weg zu einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung......Page 229
3.2 Konsens und Strategie – Habermas’sche Bedenken......Page 246
3.3 Diskurse als Machtkonstellationen – Foucault’sche Bedenken......Page 256
3.4 Habermas und Foucault: Ethik des Dialoges und Ästhetik der Existenz......Page 267
1. Habermas’ deliberative Politik – Kritik als normative Demokratietheorie1......Page 272
1.1 Diskursive Demokratie......Page 273
1.2 Das Konzept der Öffentlichkeit......Page 275
1.3 Kontinuitäten und Revisionen......Page 278
1.3.1 Demokratietheorie und Theorie des kommunikativen Handelns......Page 279
1.3.2 Demokratietheorie und Diskursethik......Page 284
1.4 Die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates – Unpraktikabel und entradikalisiert?......Page 292
1.4.1 Anwendungsprobleme des Diskursprinzips auf die Politik......Page 293
1.4.2 Die Ambivalenz der Demokratietheorie......Page 300
2. Kritik als Analyse der Regierungsrationalitäten – Foucaults Gouvernementalité......Page 304
2.1 Diszipliniertes Individuum und regulierte Bevölkerung – Zur Verteidigung der Gesellschaft......Page 306
2.2 Die historische Analyse der Regierungsrationalitäten – Von der Staatsraison zum Liberalismus......Page 318
2.3 Das kritische Potential der Gouvernementalité – kritische Stärken und ihre Ambivalenzen......Page 329
2.4 Sicherheit versus Disziplin: Verschiebungen der Machtanalytik?......Page 338
3. Gouvernementalité und deliberative Politik – Staats- und Demokratietheorie im Vergleich......Page 346
3.1 Das Recht......Page 347
3.2 Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft......Page 357
3.3 Die Frage des strategischen Handelns......Page 364
3.4 Normative Demokratietheorie und strategische Staatsanalytik – Kooperationspotentiale......Page 368
Schluss / Ausblick......Page 376
Siglenverzeichnis......Page 386
Literatur......Page 396
Mehr eBooks bei www.ciando.com......Page 0

Citation preview

Inhalt

Vorwort von Axel Honneth ..............................................................................

ix

Danksagung ..........................................................................................................

1

Einleitung ...............................................................................................

3

I.

Wissenschaft

1

Erkenntnis und Interesse – Habermas’ Versuch einer erkenntnistheoretischen Fundierung kritischer Wissenschaft ...............................................................................

1.1 1.2 2

Kritik als emanzipatorisches Interesse................................................... Ambivalenzen und hybride Formen – Probleme der kritischen Wissenschaft .................................................. Foucault – Von naturalistischer Vernunftkritik zur archäologischen Diskursanalyse ...............................................

2.1 Das Andere der Vernunft – Wahnsinn und Gesellschaft.......................... 2.2 Archäologie – die Kritik der Humanwissenschaften........................... 2.2.1 Vom Krypto-Strukturalismus zur archäologischen Diskursanalyse............................................................................................ 2.2.2 Die Archäologie in der Diskussion ........................................................ 3

Wissenschaftskritik bei Habermas und Foucault: Gemeinsamkeiten, Differenzen, Kontroversen ............................

25 25 28 33 33 37 37 42 52

SELBSTKRITIK

vi

DER

MODERNE

II.

Gesellschaft

1

Kritik im Namen kommunikativer Rationalität – Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns .................

Ziele und Anforderungen der Theorie des kommunikativen Handelns ........................................................................... 1.2 Das Konzept der kommunikativen Rationalität................................... 1.3 Verdinglichung als systeminduzierte Lebensweltpathologien............ 1.4 Die kritische Stärke der Theorie des kommunikativen Handelns............... 1.5 Probleme der Vernunftphilosophie ...................................................... 1.5.1 Überwindung der Bewusstseinsphilosophie? ...................................... 1.5.2 Die Entwirrung von Macht und Geltung ............................................. 1.6 Probleme der Gesellschaftstheorie: Kolonialisierung und die Dichotomie von Lebenswelt und System ............................................

71

1.1

71 73 76 78 83 83 87 93

2

Genealogie – Foucaults Analytik der Macht .................................

98

2.1 2.2 2.3

Macht, Wissen und das Subjekt ............................................................. Spezifischer versus universeller Intellektueller .................................... Die kritische Stärke der Analytik der Macht ........................................

99 104 105

3

Vergleich und Kritik: Die Genealogie in der Diskussion .........

109

3.1 Habermas und Foucault – Berührungspunkte und Antipoden ........ 3.2 Die Genealogie in der Kritik Habermas’ .............................................. 3.2.1 Mangelnde Differenzierung oder Rhetorik: Der Vorwurf der Einseitigkeit ............................................................... 3.2.2 Die Gesellschaft als holistisches Machtregime .................................... 3.3 Rückwirkungen auf das Verhältnis beider Ansätze ............................

109 124 124 135 149

III. Moral/Ethik 1

Habermas’ Diskursethik – Kritik als Moralphilosophie ............

153

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2

Das Konzept diskursethischer Normbegründung .............................. Formalismus .............................................................................................. Deontologische Differenzierung ........................................................... Universalismus .......................................................................................... Die Diskursethik in der Diskussion ......................................................

154 157 159 160 165

INHALT

vii

1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5

Formallogische Begründungsprobleme ................................................ Letztbegründung versus empirische Rekonstruktion ......................... Universalismus oder verkappter Eurozentrismus ............................... Universale Inklusion versus Exklusion ................................................. Das Gute und das Gerechte ...................................................................

166 173 178 183 191

2

Die Wende zur Ethik – Foucaults Spätwerk .................................

207

2.1 2.2 2.3

Die Ästhetik der Existenz ....................................................................... Aufklärung und Kritik ............................................................................. Probleme der Ethik: Ästhetik der Existenz als elitärer Privatismus? .................................................................................

207 211

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Diskursethik und Ästhetik der Existenz: Vergleich und Vermittlungsmöglichkeiten ................................... Ethik und Moral – Auf dem Weg zu einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung ....................................................... Konsens und Strategie – Habermas’sche Bedenken .......................... Diskurse als Machtkonstellationen – Foucault’sche Bedenken ........ Habermas und Foucault: Ethik des Dialoges und Ästhetik der Existenz ......................................................................

213 216 216 233 243 254

IV. Staat, Politik, Demokratie 1 1.1 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4

Habermas’ deliberative Politik – Kritik als normative Demokratietheorie .........................................

Diskursive Demokratie ............................................................................ Das Konzept der Öffentlichkeit ............................................................ Kontinuitäten und Revisionen ............................................................... Demokratietheorie und Theorie des kommunikativen Handelns .............. Demokratietheorie und Diskursethik ................................................... Die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates: Unpraktikabel und entradikalisiert? ....................................................... 1.4.1 Anwendungsprobleme des Diskursprinzips auf die Politik .............. 1.4.2 Die Ambivalenz der Demokratietheorie ..............................................

259 260 262 265 266 271 279 280 287

viii

2 2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 3.3 3.4

SELBSTKRITIK

DER

MODERNE

Kritik als Analyse der Regierungsrationalitäten – Foucaults Gouvernementalité ...........................................................

291

Diszipliniertes Individuum und regulierte Bevölkerung – Zur Verteidigung der Gesellschaft ................................................................. Die historische Analyse der Regierungsrationalitäten – Von der Staatsraison zum Liberalismus ............................................... Das kritische Potential der Gouvernementalité – kritische Stärken und ihre Ambivalenzen ............................................. Sicherheit versus Disziplin – Verschiebungen der Machtanalytik? ..

316 325

Gouvernementalité und deliberative Politik – Staatsanalytik und Demokratietheorie im Vergleich .................

333

293 305

Das Recht .................................................................................................. Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft ...................................................... Die Frage des strategischen Handelns .................................................. Normative Demokratietheorie und strategische Staatsanalytik – Kooperationspotentiale ...........................................................................

334 344 351

Schluss / Ausblick ............................................................................................

363

Siglenverzeichnis ..............................................................................................

373

Literatur ...............................................................................................................

383

355

Vorwort

Wollte man fragen, welche Autoren ím Institut für Sozialforschung für die Weiterentwicklung einer kritischen Gesellschaftstheorie in den letzten Jahren maßgeblich waren, so stieße man neben dem Namen von Pierre Bourdieu unweigerlich auf diejenigen von Michel Foucault und Jürgen Habermas. Im Spannungsfeld der gesellschaftstheoretischen Werke dieser beiden Autoren bewegt sich heute weitgehend unsere Arbeit an den Grundlagen einer Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Dem Ziel, die Wirkung Foucaults auf die Gesellschaftsanalyse zu überprüfen, hat das Institut im Jahr 2001 eine internationale Konferenz gewidmet, deren Ergebnisse inzwischen in einem Sammelband veröffentlicht wurden1; und die Gesellschaftstheorie von Habermas ist in unserer alltäglichen Forschungsarbeit viel zu präsent, ihr Einfluss viel zu allgegenwärtig, als dass sich heute noch angeben ließe, wo genau die Grenzen zwischen ihren und unseren eigenen Annahmen verliefen. Angesichts der Prägekraft dieser beiden Theorien ist inzwischen aber die Tendenz gewachsen, ihr Verhältnis zueinander selbst kaum mehr systematisch zu befragen; vielmehr fließen je nach Erklärungsbedarf einmal stärker Elemente des einen, das andere Mal des anderen Autors in die zu leistende Analyse ein. Umso hilfreicher für unsere eigene Arbeit ist es daher, wenn sich ein jüngerer Wissenschaftler noch einmal daransetzt, um aus einer gewissen Distanz das Verhältnis der beiden Theoriegebäude genau zu untersuchen; die Studie von Thomas Biebricher, die wir hiermit als Band 7 unserer Reihe publizieren, stellt den Glücksfall einer solchen komparativen Analyse dar. Biebricher macht sich in seiner Arbeit, die auf einer in Freiburg eingereichten Dissertation beruht, die Tatsache zunutze, dass die Forschungen der beiden Theoretiker chronologisch entlang der ungefähr gleichen Themenstellungen

erstellt von ciando

1 Axel Honneth/Martin Saar (Hg.) 2003: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault Konferenz 2001, Frankfurt/M.

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VORWORT

verlaufen sind. Für seinen Vergleich kann er sich daher eines Verfahrens bedienen, in dem die theoretische Entwicklung von Foucault und Habermas parallel verfolgt wird, ohne dass deswegen die Möglichkeit einer synchronen Betrachtung verlorenginge; vielmehr wird auf jeder Schwelle der werkgeschichtlichen Rekonstruktion angehalten, um vergleichend zu analysieren, wie die beiden Theorien das gemeinsame Thema formuliert und bewältigt haben. Dieser methodische Einfall ist es, der der Studie von Biebricher zu einer äußerst übersichtlichen, gut nachvollziehbaren Gliederung verhilft: Den Auftakt macht die Auseinandersetzung mit den erkenntnistheoretischen Anstrengungen, die die beiden Autoren in der ersten Phase ihres Schaffens unternommen haben, um die Verankerung von Wissen und Erkenntnis in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu analysieren; es folgt die Rekonstruktion der zweiten Schaffensperiode, in deren Zentrum bei beiden Autoren nach Auffassung Biebrichers der Entwurf einer kritischen Gesellschaftstheorie stand, der bei Foucault die Form einer Analytik der Macht, bei Habermas die einer Konzeption kommunikativer Rationalität annahm; an diese mittlere Phase schließt sich bei Biebricher die Beschäftigung mit dem Abschnitt der Theoriebildung an, in dem Habermas und Foucault sich stärker auf die normativen Quellen ihrer Gesellschaftskritik zurückbesonnen haben, indem sie jeweils um die Skizzierung einer Moraltheorie oder Ethik bemüht waren; und den Abschluss macht schließlich eine Aufarbeitung des Themas, das bei Foucault im Zentrum seiner letzten Schaffensperiode, bei Habermas bis heute im Kern seiner späten Arbeiten steht, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von staatlichem Handeln und Demokratie. Hat man sich diese überraschende Parallelität in der Abfolge von zentralen Themenfeldern klargemacht, die der Gliederung der vorliegenden Studie zugrunde liegt, so drängt sich schnell die Frage auf, ob darin eher ein übergreifender Wandel sozialer Aufmerksamkeiten oder ein Moment der Eigensinnigkeit gesellschaftstheoretischer Arbeit zum Tragen kommt; für beide Vermutungen gibt es Anhaltspunkte, für beide aber auch widerstreitende Belege, und es ist nicht das geringste Verdienst der Untersuchung von Biebricher, auf die Möglichkeit dieser alternativen Deutungen überhaupt aufmerksam gemacht zu haben. Das Hauptverdienst der Studie liegt aber zweifellos dort, wo Biebricher auf jeder Stufe seiner Rekonstruktion erneut den Versuch unternimmt, die Chancen einer wechselseitigen Bereicherung beider Theorien zu überprüfen; damit betritt der Autor zweifellos Neuland, da bislang eher die Tendenz bestanden hat, die Schriften von Habermas und Foucault gegeneinander abzugrenzen und gerade nicht auf ihre Kompatibilität zu achten. Im Horizont der Anstrengungen, die

VORWORT

xi

Biebricher in diese Richtung unternimmt, blitzt zum ersten Mal wohl die Möglichkeit auf, die beiden Theorien als unselbstständige und ergänzungsbedürftige Teile einer einzigen kritischen Gesellschaftstheorie zu sehen – und allein schon die damit umrissene Aussicht lohnt die Lektüre der vorliegenden Studie.

Axel Honneth Frankfurt am Main, 4. März 2005

Danksagung

Ähnlich Bäumen haben Bücher so etwas wie Jahresringe. Auch im Fall des vorliegenden Buches, welches eine gekürzte Version meiner Dissertation ist, ließen sich die Jahresringe bis 1998 zurückverfolgen, und seitdem haben viele meiner Kollegen und Freunde in unterschiedlicher Weise zum Gelingen dieses Projektes beigetragen. Mein besonderer Dank gilt PD Dr. Ingeborg Villinger, die meine Doktorarbeit überaus kompetent, pragmatisch und flexibel betreut hat, darüber hinaus Prof. Dr. Gisela Riescher und Prof. Dr. Wolfgang Eßbach, die Zweit- bzw. Drittgutachten erstellt haben. Daneben möchte ich all denen danken, die mir in unterschiedlichen Phasen bei der Korrektur des Manuskripts behilflich waren und von deren inhaltlichen und stilistischen Ratschlägen dieses Buch sehr profitiert hat: Jan Alber, Jens Brinkmann, Ursula Degener, Birgit Hofmann, Dr. Anja Jetschke, Nicolas von Götz und insbesondere Dr. Beate Rosenzweig, deren klaren analytischen Blick ich hier ebenso hervorheben möchte, wie ihre Bereitschaft, mehrere hundert Manuskriptseiten zu lesen. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass verbleibende Fehler und Unzulänglichkeiten von mir verantwortet werden. Nicht vergessen möchte ich die Wissenschaftlichen Hilfskräfte am Lehrstuhl Jäger des Seminars für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die mir immer wieder kompetent und motiviert bei Literaturrecherche, Software- und Formatierungsfragen etc. zur Seite standen. Für die Möglichkeit, diese Arbeit in der Reihe Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie zu veröffentlichen, möchte ich dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt und insbesondere dem Direktor Prof. Dr. Axel Honneth danken. Gleiches gilt für die Mitarbeiter des Instituts, die sich um Lektorat und Formatierung des Manuskripts gekümmert haben, insbesondere Dr. Sandra Beaufaÿs, die mich kompetent und souverän durch den schmerzhaften Prozess

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abschließender Kürzungen begleitet hat. Für das Übernehmen der Druckkosten bzw. entsprechende Zuschüsse bin ich dem Institut für Sozialforschung sowie der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg zu großem Dank verpflichtet. Mein Dank gilt zudem Elisabeth Losch, Kerstin Schlegel, Arne Kuminack und Karl Boden, die sich neben den schon weiter oben genannten Personen sehr um meine geistig-emotionale Gesundheit in den schwierigen Phasen dieses Projektes verdient gemacht haben. Ebenso ein Dankeschön meiner Familie und vor allem meinen Eltern, die mich in all diesen Jahren rückhaltlos unterstützt haben. Zuletzt möchte ich hier Associate Prof. Eleanor MacDonald erwähnen. Im Frühling 1998 besuchte ich ein von ihr geleitetes Theorie-Seminar an der Queen’s University in Kingston, Kanada, in dem ich zum ersten Mal mit Texten von Michel Foucault Bekanntschaft machte. Bei der Besprechung meiner Hausarbeit zum Thema „Foucaultian Politics“ schlug sie mir vor, über einen Habermas-Foucault-Vergleich als ein Projekt für die Zukunft nachzudenken – Danke für den Tipp, Eleanor! Gainesville, Florida im Frühjahr 2005

Einleitung

Sich am Anfang des 21. Jahrhunderts mit »Kritik«1 zu beschäftigen, heißt beinahe zwangsläufig, positiv oder negativ auf Jürgen Habermas und/oder Michel Foucault Bezug zu nehmen. Beide entwickeln im Laufe ihrer Werke ambitionierte und innovative Kritikkonzeptionen, deren Gegenstand die Wissenschaften, Gesellschaft, Ethik und Moral oder Staat und Demokratie sind. Doch zwischen den beiden Ansätzen, die zweifellos zu den gehaltvollsten in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften gehören, herrscht eine Sprachlosigkeit, die symptomatisch für den Diskurs über Kritik im Allgemeinen ist. Mit der seit den achtziger Jahren andauernden Debatte um »Moderne« und »Postmoderne« ist auch der kritische Diskurs von tief gehenden Konfliktlinien durchzogen, wenn hier nicht sogar von einer Zerrissenheit zu sprechen ist. Dekonstruktivistische Kritikansätze, wie sie etwa von Derrida oder Lyotard vertreten werden, stehen rekonstruktiven Ansätzen gegenüber, die von und im Anschluss an Habermas vertreten werden, oder auch auf die frühe Frankfurter Schule rekurrieren. Diese hitzige Kontroverse ist geprägt von Dichotomisierungen und entsprechenden Lagerbildungen, die einen konstruktiven Dialog zwischen den verschiedenen Positionen zusehends un1 Bewusst wird hier der Begriff »Kritik« und nicht die Bezeichnung »kritische Theorie« verwendet. Im deutschen Sprachraum ist Letztere zu eng mit dem Programm der frühen Frankfurter Schule verknüpft. Da hier gerade eine Festlegung auf eine bestimmte Kritikkonzeption vermieden werden soll, wird der in diesem Sinne neutralere Begriff der Kritik verwendet, der keine derart starken Konnotationen mit sich führt und daher offen für unterschiedlichste Kritikkonzeptionen ist. Hier ist anzumerken, dass die Verhältnisse im anglo-amerikanischen Sprachraum umgekehrt sind. Während der Begriff »Critique« sehr eng mit dem Programm von Habermas, aber auch der frühen Frankfurter Schule verknüpft ist, fallen unter die Bezeichnung »critical theory« unterschiedlichste Ansätze von Judith Butler bis zu Pierre Bourdieu.

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MODERNE

möglich machen, wie das Verhältnis Habermas/Foucault in aller Deutlichkeit belegt. Mit dem vorliegenden Buch wird versucht, einen Schritt aus dieser unfruchtbaren Sprachlosigkeit heraus zu tun, durch die Kritik heute massiv geschwächt wird. Die Werke Habermas’ und Foucaults werden als kritische Ansätze untersucht und einander gegenübergestellt, um sie auf Gegensätze, aber auch versteckte Korrespondenzen und möglicherweise vorhandene Kooperationspotentiale hin zu analysieren. Ein solcher umfassender Vergleich verspricht den festgefahrenen Prozess eines Austauschs zwischen unterschiedlichen Kritikkonzeptionen wieder in Gang zu bringen, so dass Kritik insgesamt wieder von solch einem fruchtbaren Dialog profitieren kann, an dessen Stelle in der Vergangenheit oftmals nur noch gegenseitige Anschuldigungen zu finden waren. Schon 1979 galt Habermas nicht nur dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel als der stärkste Denker der Nation, und auch zwanzig Jahre später ragt er nach dem Tode Luhmanns aus der hiesigen Geisteslandschaft als der »vermutlich bekannteste lebende Vertreter der deutschen Philosophie«2 hervor, wie sogar ein intellektueller Gegner, Hans Albert, eingesteht. Mit dem ersten größeren Werk Erkenntnis und Interesse, das Ende der sechziger Jahre erscheint, beginnt Habermas’ Suche nach den Fundamenten, auf denen haltbare und plausible Kritik formuliert werden kann. Sein Anfang der achtziger Jahre erscheinendes opus magnum, die Theorie des kommunikativen Handelns (TKH), bezeichnet einen der beeindruckendsten und elaboriertesten Versuche, diese Begründung von Kritik zu leisten und gesellschaftstheoretisch zu operationalisieren. Die Wirkung, welche das Werk innerhalb der achtziger Jahre auf die europäische und US-amerikanische Geisteslandschaft ausübt, ist kaum zu überschätzen. Ab Mitte der achtziger Jahre überträgt Habermas die Begründungsproblematik auf das Terrain der Moralphilosophie und entwickelt das Konzept der Diskursethik. Als Verfahren zur Begründung universell gültiger Normen bezeichnet es den Maßstab der Kritik innerhalb der Sphäre der Moral. Auch die Diskursethik ruft ein Echo hervor, das der Rezeption der TKH kaum nachsteht. Schließlich entwickelt Habermas in seinem späten Hauptwerk Faktizität und Geltung Anfang der neunziger Jahre eine normative Demokratietheorie,

2 Albert 1999: 52.

EINLEITUNG

5

die als Maßstab der Kritik realer Demokratien fungiert und abermals weitreichende Debatten evoziert. Mit seinem Lebenswerk, das sich im Kontext des von ihm als solches bezeichneten »unvollendeten Projekts der Moderne«3, verorten lässt, hat Habermas die Frage der Kritik in verschiedenste Richtungen und auf unterschiedlichsten Terrains verfolgt. Das Resultat sind Konzeptionen auf höchstem theoretischen Niveau, die einen immens wichtigen Beitrag zur Möglichkeit von Kritik leisten. Das Interesse an Michel Foucault ist achtzehn Jahre nach seinem Tod zumindest in den Sozialwissenschaften stärker als je zuvor.4 Seine Analysen werden in einer weiten Spannbreite von (Sub-)Disziplinen wie Soziologie, Geschichte, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Literaturtheorie sowie Politikwissenschaft rezipiert und stehen in dem Ruf, den Blick jener Disziplinen auf ihren Objektbereich mindestens radikal verändert, wenn nicht sogar revolutioniert zu haben. Über eine Einordnung Foucaults in eine geistesgeschichtliche Strömung herrscht – gelinde gesagt – Unklarheit: Bezeichnungen wie Strukturalist, Marxist und Anarchist sind im Zusammenhang mit seiner Person und seinem Werk ebenso geläufig wie Poststrukturalist, Postmodernist, Anti-Marxist oder einfach Liberaler – Foucault hat sie alle mit dem lapidaren Hinweis abgelehnt, er sei Lehrer.5 Auch Foucaults Auseinandersetzung mit der Frage der Kritik setzt schon mit seinem ersten größeren Werk, Wahnsinn und Gesellschaft, ein, in der er die Kritik eines Imperialismus der neuzeitlichen Vernunft am Beispiel des Umgangs mit dem Wahnsinn unternimmt. In den sechziger Jahren beschäftigt sich Foucault stärker mit den Humanwissenschaften im Allgemeinen. Er entwickelt eine von ihm selbst als Archäologie bezeichnete Methode der Wissenschaftsgeschichte, die sich im zentralen Werk jener Periode, der Ordnung der Dinge, zu einer energischen Kritik der Humanwissenschaften verdichtet. In Frankreich wird die Studie 1966 zu einem Bestseller und ruft in der Folge bis in die achtziger Jahre hinein immer neue Rezeptionswellen hervor. Die für die Sozialwissen3 MOD: 32. Im Folgenden werden die Werke Habermas’ und Foucaults im Text nach Siglen zitiert, die dem Siglenverzeichnis am Ende des Buches zu entnehmen sind. 4 »Es ist nicht zu leugnen, daß Foucault insbesondere im angelsächsischen Sprachraum zu den am meisten diskutierten Gegenwartsphilosophen gehört.« (Kneer 1996: 163) 5 Vgl. CI: 114. »Michel Foucault, for example, was at pains to point out everything he was not.« (Calhoun 1995: XII)

6

SELBSTKRITIK

DER

MODERNE

schaften wohl wichtigsten Werke Foucaults erscheinen in den siebziger Jahren. Foucault entwickelt hier einen neuen Untersuchungstypus, den er Genealogie nennt und in dessen Mittelpunkt die Analyse von Machtmechanismen steht. Die innovative Kraft dieser Analytik der Macht strahlt bis in die aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatten aus, und mit ihr gelingt es Foucault, einen neuen Kritiktypus zu entwickeln, in dem historische, rhetorische und als fiktional zu bezeichnende Aspekte ineinander fließen, dessen Für und Wider in jahrzehntelangen Debatten erörtert wird. Das Spätwerk Foucaults verzweigt sich Ende der siebziger Jahre. Einerseits unternimmt Foucault eine Analyse der von ihm so bezeichneten Gouvernementalité, um so eine Kritik der Regierungsrationalitäten zu leisten. Die entsprechenden Studien und Vorlesungen erfahren derzeit, immerhin zwanzig Jahre nach ihrem Entstehen, eine Rezeption, die in ihrem Umfang kaum weniger als beeindruckend ist. Im Anschluss an dieses vergleichsweise kurze Forschungsprojekt wendet sich Foucault andererseits Anfang der achtziger Jahre stärker Fragen von Ethik und Moral zu. Die von ihm vorgeschlagene Ethik einer Ästhetik der Existenz bezeichnet eine Kritik der Moral vom Standpunkt eines sich ständig neu erschaffenden Subjektes. Mit all diesen unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten oszillieren Foucaults Werke zwischen geistesgeschichtlichen Strömungen ebenso wie wissenschaftlichen Disziplinen und sperren sich vehement gegen eine klare Einordnung.6 Nicht zuletzt dieses Charakteristikum ist für seine ungebrochene Popularität verantwortlich, welche jedoch noch stärker auf die spezifische, beunruhigende und verblüffende Art und Weise zurückzuführen ist, mit der er Kritik betreibt.

6 Es wäre daher zu kurz gegriffen, ihn eindeutig in das Kollektiv der Poststrukturalisten einzuordnen, nicht nur, weil dies dem schillernden Werk Foucaults kaum gerecht würde, sondern auch weil es Unterschiede innerhalb des keineswegs homogenen »poststrukturalistischen« Denkens einebnen würde. Immerhin stammt eine der schärfsten Polemiken gegen Foucault, Oublier Foucault, von Baudrillard, der ebenfalls immer wieder zum Kollektiv der Poststrukturalisten gezählt wird. Vgl. Baudrillard 1995. Poster ist der Meinung, dass Oublier Foucault entscheidend dazu beigetragen hat, dass Ende der siebziger Jahre die Ansätze zu einem gemeinsamen Projekt der Poststrukturalisten nicht weiter verfolgt wurden. Vgl. Poster 1989: 4. Ein interessanter Versuch, das Verhältnis der Strömungen von Modernismus, Postmodernismus und Poststrukturalismus zu konzeptionalisieren, findet sich bei Ingram 1987: 75 ff.

EINLEITUNG

7

Dieser Studie zum Vergleich der beiden Werke liegen zwei erkenntnisleitende Fragestellungen bzw. Analyse-Ebenen zugrunde, die im Folgenden vorgestellt werden. Auf einer ersten Analyse-Ebene soll die Struktur der jeweiligen Kritikkonzeptionen herausgearbeitet werden. Die Ansätze werden auf ihre Stärken und Schwächen, Möglichkeiten und Grenzen hin untersucht, um so das zu bestimmen, was hier als ihr kritisches Potential bezeichnet werden soll. Mit differenzierten Analysen der jeweiligen Kritikkonzeptionen soll einerseits den teilweise überzogenen Erwartungen und Ansprüchen der Anhänger des einen oder anderen Ansatzes entgegengetreten werden, die in unkritischen Darstellungen die jeweiligen Möglichkeiten und Stärken oftmals überschätzen. Andererseits bezeichnen die Analysen einen Kontrapunkt gegenüber pauschalen oder gar polemischen Kritiken, die einzig an einer Disqualifizierung einer der beiden Ansätze interessiert sind. Sollen wie in dieser Studie unter anderem Schwächen und Probleme eines Ansatzes identifiziert werden, so stellt sich die Frage nach dem Maßstab, der verwendet wird. Grundsätzlich sollen hier keine externen Maßstäbe an die Konzeptionen herangetragen werden, die Bestimmung des kritischen Potentials bedient sich stattdessen in erster Linie des Verfahrens der immanenten Kritik. Dies bedeutet, dass die Ansprüche, die beide Denker an ihre jeweiligen Konzepte haben bzw. mit diesen erheben, selbst den Maßstab bilden, an dem die Ansätze gemessen werden, so dass eine passgenaue Ermittlung des kritischen Potentials möglich wird. Dagegen erscheint es beinahe unmöglich, einen externen Maßstab zu entwickeln, der nicht die Besonderheiten von zumindest einem der beiden Ansätze zudeckt und so zu vermeidbaren Fehleinschätzungen aufgrund eines in diesem Sinne petitiösen bzw. präjudizierenden Kritikmaßstabes gelangt. Eine weitere wichtige methodische Entscheidung bedarf hier noch der Erläuterung: Zur Bestimmung des kritischen Potentials der beiden Ansätze wird eine chronologisch-genetische Herangehensweise gewählt. Dies bedeutet, dass die beiden Werke auf einer diachronen Ebene analysiert werden. Zu diesem Zweck werden sie in jeweils vier Phasen unterteilt. Das kritische Potential wird dementsprechend nicht für die Ansätze als Ganze, sondern bezogen auf einzelne Phasen ermittelt. Nichtchronologische Betrachtungen übersehen allzu leicht die ungemeine Dynamik innerhalb beider Werke und missverstehen nur auf einer diachronen Ebene als solche hervortretende Revisionen, Selbstkorrekturen etc. als systematische Inkonsistenzen. Eine der großen Stärken beider Denker, nämlich die Fähigkeit zu lernen, die eigenen

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SELBSTKRITIK

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Konzepte weiterzuentwickeln, als unfruchtbar oder unhaltbar erkannte Elemente hinter sich zu lassen und nicht borniert an ihrer Geltung festzuhalten, wird durch eine fragwürdige methodische Entscheidung leicht zur Schwäche der Inkonsistenz oder Widersprüchlichkeit umgedeutet. Umgekehrt ermöglicht es die statische Betrachtung wiederum auch überzeugte Anhänger eines Ansatzes, diesen gegen Kritik zu immunisieren: So kann beispielsweise ein Prozess, in dem radikale, innovative und ambitionierte, jedoch schwer zu verteidigende Konzepte haltbaren, aber eben auch moderateren weichen, in ein Amalgam uminterpretiert werden, das sowohl die radikalen wie auch die relativierenden Elemente enthält. Eine solche Homogenisierung ist für das Ziel einer präzisen Erfassung der Kritikkonzeptionen von Habermas und Foucault offensichtlich kontraproduktiv und wird mit Hilfe der chronologisch-genetischen Herangehensweise vermieden. Auf einer zweiten Analyse-Ebene, der für die vorliegende Studie zentrale Bedeutung zukommt, wird die Topographie7 des Verhältnisses zwischen den Konzeptionen Habermas’ und Foucaults bestimmt. Die Ansätze werden hier in ihrer Eigenschaft als kritische Ansätze zueinander in Beziehung gesetzt. Auf dieser Grundlage sollen dann Vorschläge bezüglich bestehender Kooperationspotentiale zwischen den Ansätzen formuliert werden. Auch bezüglich dieser Fragestellung macht sich die vorliegende Arbeit das analytische Potential der chronologisch-genetischen Herangehensweise zunutze. Das Verhältnis Habermas/Foucault wird als dynamische Relation aufgefasst. Die scheinbar klare und starre Grenze zwischen den Konzepten lässt sich so in einen komplexen Prozess verflüssigen: Auf unterschiedlichen Ebenen lassen sich dann Annäherungen, Entfernungen, analoge Entwicklungen, verschwindende und neu auftretende Differenzen, Inkommensurabilitäten, aber auch Gemeinsamkeiten und Komplementaritäten verzeichnen. Damit ermöglicht diese dynamische Betrachtungsweise eine differenzierte Kartierung der Topographie dieses Verhältnisses, da nicht mehr die Ansätze als Ganze aufeinander bezogen 7 Der Begriff der Topographie findet hier Verwendung, da sich die geographische Metaphorik anbietet, um die Intention des vorgenommenen Vergleichs zu umschreiben. Schließlich geht es um eine Vermessung und Kartierung des Grenzterrains zwischen den Ansätzen. Mit dem Begriff der Topographie, der ja zumindest dreidimensionale Konnotationen mit sich bringt, soll insbesondere auf die Multidimensionalität des Verhältnisses zwischen den Ansätzen verwiesen werden, die mit der Gegenüberstellung in dieser Studie so weit wie möglich erfasst werden soll.

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werden, sondern einzelne Phasen.8 Gerade im Hinblick auf die Ebene des Vergleichs erweist sich die Einteilung der Werke in jeweils vier Phasen, die in der vorliegenden Studie vorgeschlagen wird, als besonders fruchtbar. Die Phasen sind so gewählt, dass eine ungefähre thematische Kongruenz besteht. Am Beginn beider Werke stehen die Wissenschaften im Mittelpunkt des kritischen Interesses. Es folgt jeweils eine gesellschaftskritische Phase, an die sich Werkphasen schließen, in der eine Kritik von Moral bzw. Ethik geleistet werden soll. Die letzten Phasen wenden sich der Kritik von Staat, Politik und Demokratie zu. Für die erste Analyse-Ebene wäre auch eine Einteilung der Werke in mehr oder weniger Phasen denkbar gewesen, doch für den Vergleich erscheint die hier gewählte Vier-Phasen-Einteilung als die sinnvollste. Auch die Hypothesenbildung bezüglich bestehender Kooperationspotentiale profitiert von der dynamischen Betrachtungsweise. Da sich vor allem in den Frühwerken beider Denker erhebliche Sperrpotentiale mit Blick auf eine mögliche Vermittlung auffinden lassen, muss eine statische Gegenüberstellung fast zwangsläufig zum Ergebnis einer starren Dichotomie kommen. Wird Habermas beispielsweise nach wie vor die Zielvorstellung einer konkretistisch verstandenen idealen Sprechsituation unterstellt, die in dieser Form ja auch tatsächlich in einigen frühen Werken formuliert wurde, besteht eine so grundsätzliche Kluft zwischen beiden Ansätzen, dass selbst begrenzte Kooperationen undenkbar erscheinen müssen. Dagegen kann mit einer chronologisch-genetischen Herangehensweise herausgearbeitet werden, wie in bestimmten Fällen derartige Sperrpotentiale im Rahmen von Revisionen und Weiterentwicklungen aufgeweicht werden und so Raum für punktuelle und fruchtbare Vermittlungen entsteht. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der ersten für die zweite Analyse-Ebene. Denn die Bestimmung des kritischen Potentials ist keineswegs reiner Selbstzweck, sie trägt entscheidend zum Erreichen der Ziele auf der zweiten Ebene bei. Erst auf der Grundlage der genauen Analyse von Stärken und Schwächen kann es zu einer realistischen Gegenüberstellung kommen, welche die jeweiligen Konzeptionen nicht at face value als Ansatzpunkt 8 Dies schließt natürlich nicht aus, dass bestimmte Elemente einer früheren Phase, soweit sie nicht explizit oder implizit revidiert oder aufgegeben worden sind, in die Gegenüberstellung späterer Phasen miteinbezogen werden. Der chronologisch-genetische Ansatz soll helfen, Geltendes von Revidiertem zu unterscheiden und kein starres methodologisches Korsett sein, das fruchtbare Betrachtungen gerade verhindert.

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für eínen Vergleich nutzt, sondern diese zunächst auf Schwierigkeiten und Probleme hinterfragt und erst unter Einbeziehung dieser Faktoren eine Gegenüberstellung vornimmt. Auch für die Suche nach Komplementärverhältnissen ist eine Analyse des kritischen Potentials unerlässlich, da erst eine solche Analyse Schwächen und Stärken der jeweiligen Ansätze erkennbar macht und so die Punkte identifizierbar werden, an denen Ergänzungen möglich und vor allem auch sinnvoll oder notwendig erscheinen. Zuletzt ist auf das spezifische Erkenntnisinteresse hinzuweisen, das der vorliegenden Studie zugrunde liegt: Eine Diskreditierung der einen zugunsten der anderen Kritikkonzeption steht ausdrücklich nicht als Ziel am Ende dieser Gegenüberstellung. Der Vergleich soll nicht als Grundlage dienen, einen Ansatz durch den anderen zu ersetzen. Ihr Interesse liegt, wie schon mehrfach erwähnt, in einer Klärung der Positionen und ihres Verhältnisses zueinander. Der Ertrag einer differenzierten Klärung der Habermas-Foucault-Relation soll jedoch auch nicht einem unreflektierten Theorien-Eklektizismus geopfert werden. Zwar wird nach Kooperationspotentialen gefahndet, um Hypothesen über die Modalitäten von solchen punktuellen Vermittlungen zu formulieren. Ein vorsichtiges Theory-Building bezeichnet schließlich ein wichtiges und legitimes Mittel der Weiterentwicklung von theoretischen Konzeptionen. Doch ebenso werden Sperrpotentiale bezüglich solcher Meso- und MikroSynthesen und massive Kontroversen zwischen beiden Positionen herausgearbeitet, die insbesondere in den frühen Werkphasen anzutreffen sind. Gegenseitige Ergänzungsmöglichkeiten und Kompatibilitäten zu identifizieren kann ein nützlicher Effekt der Gegenüberstellung von Theorien sein. Genauso wichtig ist es aber, Differenzen und Unvereinbarkeiten mit anderen Theorien aufzuzeigen, um so den jeweiligen Ansätzen schärfere Konturen zu verleihen und ihre spezifischen Charakteristika durch den Vergleich mit anderen Ansätzen besser verstehen zu können. Diese zweite Analyse-Ebene ist mit mehreren Hypothesen verknüpft, von denen eine sich auf das Verhältnis insgesamt bezieht, während die übrigen auf das Verhältnis bestimmter Werkphasen zueinander bezogen sind. Im Hinblick auf das Verhältnis im Ganzen soll durch die Untersuchung die Hypothese untermauert werden, dass es im Verlaufe ihrer Entwicklung zu einer sukzessiven Annäherung der Ansätze von Habermas und Foucault kommt.9 Im 9 Damit soll der komplexe Charakter des Prozesses nicht negiert werden. Es handelt sich jedoch um eine erkennbare grobe Entwicklungslinie.

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Folgenden wird der hier vermutete Annäherungsprozess kurz anhand der Entwicklungen über die verschiedenen Werkphasen hinweg skizziert. Dies bietet auch die Möglichkeit, die spezielleren, auf die einzelnen Phasen bezogenen Hypothesen vorzustellen. Die frühen Wissenschaftskritiken weisen nur wenige Berührungspunkte auf, was auch darauf zurückzuführen ist, dass Habermas hier noch gänzlich der Tradition des deutschen Idealismus bzw. Junghegelianismus verpflichtet ist, während Foucault mit den strukturalistischen Ansätzen seiner Zeit sympathisiert und experimentiert. Beide haben noch keine gänzlich eigenständige Herangehensweise gefunden, und die Traditionen/Denkströmungen, bei denen sie noch in größerem Maße Anleihen machen, befinden sich in vielen Aspekten an unterschiedlichen Enden des theoretisch-philosophischen Spektrums. Die zweite Phase, in der sich beide Denker stärker mit genuin gesellschaftstheoretischen Thematiken beschäftigen, weist schon mehr Berührungspunkte auf, ist aber gleichzeitig auch der Schauplatz der intensivsten Kontroversen, die um die Charakteristika sowie das Verhältnis von Vernunft und Macht kreisen. In vielen Punkten vertreten beide hier diametral entgegengesetzte Positionen, doch weil bestimmte Prämissen mittlerweile schon geteilt werden, besteht in einigen Bereichen ein durchaus produktives Spannungsverhältnis. In einen Dialog gebracht, stellen die Ansätze so eine beständige Herausforderung und fruchtbare Irritation füreinander dar. Gesellschaftstheoretisch, so lautet die auf diese Werkphase bezogene Hypothese, existieren in der kritischen Analyse der Funktionsweise wohlfahrtsstaatlicher Institutionen bzw. den entsprechenden Formen von Governance beträchtliche Ergänzungspotentiale. Wie eine solche Ergänzung aussehen kann, wird im entsprechenden Vergleichskapitel skizziert. Dass es in der folgenden moralphilosophischen/ethischen Phase zu erheblichen Annäherungen der Positionen kommt, hängt zum einen damit zusammen, dass sich das Terrain der Auseinandersetzungen wenigstens in manchen Aspekten ein Stück weit von den kaum zu schlichtenden Konflikten um die Einschätzung der Vernunft wegverlagert. Zum anderen lassen sich jedoch auch gewisse Entradikalisierungen auf beiden Seiten verzeichnen, vor allem auf Seiten Foucaults: Dessen Modifikationen des Machtbegriffs und die stärkere Prononcierung des Subjektbegriffs entschärfen die Konflikte einerseits, während sich bei Habermas andererseits schon in dieser Phase eine zumindest implizite Abkehr von der strengen Dichotomie zwischen strategischem und kommunikativem Handeln bzw. zwischen Macht und Vernunft nachweisen lässt.

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Auf dieser Basis wird im entsprechenden Vergleichskapitel zunächst eine Hypothese bezüglich dieser jeweils dritten Werkphase überprüft, der eine Verbindung der Ansätze in einer Art ethisch-moralischen Arbeitsteilung vorschwebt, in der die Stärke von Habermas’ Ansatz in moralischen Normfragen mit der komplementären Stärke des Foucault’schen Ansatzes in ethischen Wertfragen verbunden würde. Der Vorschlag einer solchen Kooperation stammt in einer allerdings noch sehr vagen Form ursprünglich von Hans Herbert Kögler, der die Frage nach den Modalitäten einer solchen Kooperation aber allenfalls anreißt.10 Hier setzt die vorliegende Studie an, indem sie die entsprechenden Möglichkeiten der Ausgestaltung dieser Verbindung genauer klärt. Wie gezeigt wird, stellt eine solche Kooperation eine überaus interessante Perspektive dar – allerdings erst für die Zukunft. Voraussetzung ist eine Weiterentwicklung des diskursethischen Ansatzes Habermas’, dem eine überzeugende Unterscheidung der Sphären von Moral und Ethik, bzw. Norm- und Wertfragen gelingen müsste. Köglers’ Hypothese muss daher gegenwärtig, wenn auch nicht grundsätzlich, verworfen werden. Stattdessen wird im Hinblick auf diese Werkphase eine alternative Hypothese bezüglich eines Kooperationsmodells formuliert, das schon aktuell umsetzbar ist. Hier wird Foucaults ethisches Programm einer Ästhetik der Existenz ergänzt durch eine Diskursethik, die nicht mehr als Verfahren zur Generierung von Normen, sondern als eine Ethik des Dialoges verstanden würde. Durch diese Kombination, so wird hier argumentiert, gewänne die Ästhetik der Existenz ein klareres intersubjektives Profil, dessen Fehlen vielfach bemängelt wird. Umgekehrt erhält die Diskursethik als Ethik des Dialoges eine entschlackte Form, in der zumindest einige ihrer Stärken optimal zur Geltung kommen und ihre derzeitig noch vorhandenen Schwächen am weitesten absorbiert werden. In der letzten, demokratietheoretischen/staatsanalytischen Phase lassen sich noch weitergehende Annäherungen erkennen. Auf Habermas’ Seite ist hier vor allem die ausdrückliche Akzeptanz strategischen Handelns unter gewissen Umständen zu erwähnen. Bezüglich der Foucault’schen Konzepte kann eine höhere Wertschätzung der Bedeutung von (Grund-/Menschen-)Rechten sowie der Bedeutung von Öffentlichkeit bzw. öffentlicher Kommunikation herausgearbeitet werden. Zusammen genommen liefern beide Entwicklungen die Grundlage für eine letzte, auf diese Phase bezogene Hypothese: Auf der Basis der existie10 Vgl. Kögler 1994: 179 ff., insbesondere 184 f.

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renden Korrespondenzen ist es möglich, die normative Demokratietheorie Habermas’ in eine überaus fruchtbare Verbindung mit der strategischen Staatsanalytik Foucaults zu bringen. In Habermas’ Konzepten wird so die Leerstelle einer fehlenden strategischen Staatsanalyse ausgefüllt, und die im weitesten Sinne normativen Defizite in Foucaults Staatsanalytik werden durch Habermas’ Demokratietheorie ausgeglichen. Wie schon die verschiedenen Vermittlungsmodelle im Bereich Ethik/Moral, so dokumentiert auch diese Verbindung im staatlichen/politischen Bereich den enormen Ertrag einer unbefangenen Suche nach Kooperationspotentialen. Diesen Ertrag hat der wissenschaftliche Diskurs aufgrund einer verengten Perspektive, in der die Ansätze Habermas’ und Foucaults eine strenge Dichotomie zwischen »modernistischen« und »postmodernistischen« bzw. »poststrukturalistischen« Ansätzen exemplifizieren, viel zu lange vernachlässigt. Mit den hier vorgeschlagenen Verbindungsmodellen geht diese Studie über das unbefriedigende impasse zwischen »Moderne« und »Postmoderne« hinaus, auf der Suche nach neuen, innovativen Kritikkonzepten, welche die Stärken unterschiedlicher Denkrichtungen in sich vereinen. Die kritisch-analytischen Ressourcen, die durch unbefangene inter-paradigmatische Gegenüberstellungen freigelegt und in einem reflektierten Eklektizismus nutzbar gemacht werden können, darf Kritik heute weniger denn je zuvor ausschlagen. Aufbau und Struktur der Studie lassen sich sinnvollerweise mit Rekurs auf die zwei Analyse-Ebenen erläutern, die ihr zugrunde liegen. Entsprechend der genetisch-chronologischen Methode, die hinsichtlich der ersten Analyse-Ebene Anwendung findet, ist das Werk beider Denker in vier Phasen unterteilt, denen die Kapitel I bis IV entsprechen. Innerhalb der jeweiligen Kapitel werden die Ansätze zunächst skizziert, um im Folgenden den Bezug zu früheren Werkphasen herzustellen, Stärken und natürlich auch Kritik zu thematisieren. Der Kritik der Ansätze sind jeweils immer eigene Kapitel gewidmet, während die Stärken und Revisionen/Kontinuitäten je nach Bedeutung in speziellen Kapiteln behandelt oder im Rahmen der Darstellung der jeweiligen Konzeptionen untersucht werden. Im Anschluss an diese kritischen Analysen folgen die entsprechenden Vergleichskapitel. Zum Verhältnis Foucault / Habermas Die überaus umfangreiche Sekundärliteratur zu den Werken Habermas’ und Foucaults ist schon lange kaum mehr zu überblicken. Umso mehr muss es über-

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raschen, wie wenige Studien zum Verhältnis der beiden Werke existieren. Der auffällige Mangel an Dialogbereitschaft und Interesse an einer Klärung der Relation beider Positionen lässt sich von der Sekundärliteratur bis in das Verhältnis von Habermas und Foucault selbst zurückverfolgen. Wie Habermas in einem Interview mit dem Verfasser bestätigt hat, ist es zwischen beiden nur zu einem einzigen längeren inoffiziellen Treffen gekommen, an dem zumindest ansatzweise auch theoretische Fragen erörtert wurden. Dies ist zwar auch, aber nicht nur auf den frühen und unerwarteten Tod Foucaults 1984 zurückzuführen. Allein die Tatsache, dass Habermas und Foucault ansatzweise Interesse aneinander zeigten, mag schon eine rühmliche Ausnahme sein im Gegensatz zum ansonsten teilweise eisigen Klima zwischen französischen und deutschen Intellektuellen.11 Aber sie kann nicht über die dennoch existierenden massiven Verständigungsschwierigkeiten hinwegtäuschen.12 Selbst über das Scheitern des einzigen offiziellen Gesprächs, das 1983/84 geplant war, existieren differierende Darstellungen: Während Habermas behauptet, ein von Foucault vorgeschlagenes Gespräch zum Thema »Aufklärung« zunächst abgelehnt zu haben, das nach seiner späteren Zustimmung durch Foucaults Tod unmöglich gemacht worden sei, behauptete Foucault, ein Gespräch zum Thema »Die Moderne« abgelehnt zu haben, da er davon ausgegangen sei, in diesem Kontext als Post- oder AntiModernist angegriffen zu werden, obwohl er sich selbst eher als Modernist denn als etwas anderes ansehe (vgl. HMD: 358). Was teilweise als »Foucault-Habermas-Debatte« bezeichnet wird, vermittelt aber nicht nur deshalb ein unzutreffendes Bild, weil sich beide nur einige wenige Male tatsächlich trafen, sondern auch, weil die Vorstellung von zwei miteinander diskutierenden Personen kaum zutrifft. Foucault starb, bevor Habermas den Philosophischen Diskurs der Moderne veröffentlichte, in dessen Rahmen er sich in extenso mit Foucault auseinandersetzte und schwere Vorwürfe erhob. Foucault selbst hatte zuvor nur en passant und sehr zurückhaltend auf Habermas Bezug genommen, wie dies etwa in einer mittlerweile berühmten Äußerung zum Ausdruck kommt: »Ich interessiere mich sehr für das, was Habermas macht; ich

11 »French and German intellectuals largely ignored one another.« (Poster 1989: 12) In diesem Sinn äußert sich auch Calhoun 1995: 34. 12 Vgl. auch Habermas’ Bemerkung: »I met Foucault only in 1983 and perhaps I did not understand him well.« (TA: 149)

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weiß, daß er überhaupt nicht mit dem einverstanden ist, was ich sage (ich bin etwas mehr einverstanden mit dem, was er sagt).« (FS: 25)13 Nach dem frühen Tod Foucaults wurde die Debatte, die nun auch durch Habermas’ Vorwürfe im Philosophischen Diskurs der Moderne angeheizt worden war, ausschließlich auf Stellvertreter-Ebene weitergeführt. In jene Zeit Mitte der achtziger Jahre fallen auch die einzigen beiden Beiträge aus dem deutschen Sprachraum, die versuchen, die Ansätze Habermas’ und Foucaults in Beziehung zu setzen. 1985 trafen sich Vertreter der mit Foucault sympathisierenden so genannten »Tübinger Schule« wie etwa Gerhard Gamm oder Gerd Kimmerle mit Habermas-Schülern wie Axel Honneth oder Helmut Dubiel zu einem Gespräch über Die Zukunft der Vernunft, so der Titel, unter dem das Gespräch veröffentlicht wurde.14 Dessen Ergebnis bestand aber im Wesentlichen darin, die Dichotomie bzw. völlige Unvereinbarkeit beider Ansätze zu bekräftigen, ohne dass es zu Fortschritten hinsichtlich einer exakteren Kartierung des Verhältnisses beider Ansätze gekommen wäre. 1986 ist es dann Axel Honneth, der mit seiner Kritik der Macht ein Werk publiziert, das der vorliegenden Studie in der Anlage durchaus ähnlich, aber von anderen Intentionen geleitet ist. Honneth begreift die Ansätze von Horkheimer/Adorno, Foucault und Habermas als hierarchisch geordnete Reflexionsstufen kritischer Gesellschaftstheorie (so der Untertitel) und versucht nachzuweisen, dass Foucault aufgrund einer systemtheoretisch anmutenden Auflösung der Dialektik der Aufklärung letztlich sogar noch hinter deren Reflexionsniveau zurückfällt, womit eine kritische Parteinahme zugunsten der Habermas’schen Theorie einhergeht. Es handelt sich hier um ein wichtiges und innovatives Werk, das gleichwohl der Ergänzung bedarf. Nicht nur aufgrund Honneths seither vielfach in Frage gestellter Foucault-Interpretation und der entsprechenden Kritik, sondern auch, weil beispielsweise Foucaults ethische Wende keinen Eingang in Honneths Betrachtungen findet. Mit diesem einflussreichen Werk und dem kurz darauf erscheinenden Philosophischen Diskurs der Moderne sind die Weichen für die deutsche Diskussion gestellt. Die meisten in der Tradition Kritischer Theorie arbeitenden Mitglieder der academic community schließen sich den Einschätzungen Habermas’ und Honneths an und distanzieren sich von Foucault. Diejenigen, die sich zuguns13 Posters Einschätzung, »Foucault was eager to cooperate with Habermas«, geht aber wohl zu weit (Poster 1989: 18). 14 Vgl. Bonß et al. 1985.

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ten Foucaults entscheiden, wie etwa die Mitglieder der Tübinger Schule, stehen wiederum dem Ansatz Habermas’ zumeist recht unversöhnlich gegenüber. Diese Polarisierung wirkt sich als weitgehender Kommunikationsabbruch zwischen beiden Positionen aus.15 Bis Mitte der neunziger Jahre ändert sich an dieser überaus unproduktiven Situation kaum etwas, an den wenigen Stellen, an denen zu einem vermittelnden Dialog angesetzt wird, versandet dieser augenblicklich ohne nennenswerte Ergebnisse.16 Vor dem Hintergrund dieser Vorgeschichte heben sich die jeweils 1994 veröffentlichten Bände von Michael Kelly sowie McCarthy/Hoy umso positiver ab.17 Mit ihnen verlegt sich der Austragungsort einer aufkeimenden Debatte um das Verhältnis Habermas/Foucault endgültig in den anglo-amerikanischen Raum. Der von Kelly herausgegebene Band Critique and Power versucht sich an einem »recasting the Foucault/ Habermas Debate«, so der Untertitel. Allerdings sieht Kelly das Buch offensichtlich eher als Vorbereitung für tatsächliche Vergleichsstudien, denn Critique and Power enthält abgesehen von Kellys eigenem Beitrag – der im Übrigen hervorragend ist18 – nur ausgewählte Primärtexte Habermas’ und Foucaults sowie einige Foucault-Studien und kann daher den aus dem Titel erwachsenden Erwartungen nicht genügen.19 Hoy/McCarthys Critical Theory versucht sich abermals an einem Dialog der Stellvertreter, in dem Hoy Foucaults und McCarthy Habermas’ Position einnimmt. Der gemeinsam verfasste und grundsätzlich äußerst interessante Band, in dem beide Autoren immer wieder Manuskripte austauschen, um wechselseitig darauf zu reagieren, belegt allerdings eher die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer gemeinsamen Diskussionsebene und tut sich schwer mit produktiven

15 Von daher blieb die 1986 geäußerte Hoffnung, »seit ungefähr zwei Jahren gewinnt eine deutsch-französische Theoriekontroverse langsam an Konturen« unerfüllt. (Friesen/ Schnell 1986: 4). 16 Vgl. die Aufsätze von Coles 1992 und Dreyfus/Rabinow 1990, die jeweils spezielle Aspekte der beiden Ansätze zueinander in Bezug setzen, sowie Kunneman 1991, der sich im Rahmen einer allerdings weitgehend undurchsichtigen Fragestellung unter anderem an einer Synthese bestimmter Elemente der jeweiligen Ansätze versucht. 17 Vgl. Kelly 1994a bzw. McCarthy/Hoy 1994. 18 Vgl. Kelly 1994b. 19 Zwar gehen einige Beiträge auf die Vorwürfe Habermas’ gegenüber Foucault ein, aber eine genuin vergleichende Perspektive kommt hier nicht zum Zuge.

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Gegenüberstellungen, was allerdings auch mit Hoys stark auf Heidegger abstellender Foucault-Interpretation zusammenhängt.20 Der nach 1994 praktisch eingeschlafene anglo-amerikanische Diskurs21 wird erst 1999 durch einen Aufsatzband mit dem Titel Foucault contra Habermas wiederbelebt, dessen Herausgeber das Ziel haben, »to further the engagement between genealogy and critical theory«22 und soweit mit der Intention der vorliegenden Arbeit völlig übereinstimmen. Auch sie begreifen ihren Band in gewisser Weise als Pionierarbeit: »The history of this encounter [between Habermas and Foucault, T. B.] is characterised by the marked absence of open dialogue.«23 Allerdings muss sich eine Vielzahl der Beiträge vorwerfen lassen, von einem tatsächlichen Dialog in den Tonfall der polemischen Auseinandersetzungen der achtziger Jahre zurückzufallen und dieses Mal den Ansatz Habermas’ einer nicht immer sachlichen Kritik aus der Foucault’schen Perspektive zu unterziehen. Mit dem Wort contra im Titel ist diese Tendenz freilich schon vorgegeben und nur wenigen Beiträgen gelingt es, sich dieser Grundausrichtung zu entziehen.24 Abschließend muss mit einem Blick zurück auf den deutschen Diskurs eine Arbeit erwähnt werden, welche die Namen Foucault und Habermas zumindest im Untertitel führt. Georg Kneers 1996 veröffentlichte Studie Rationalisierung, Disziplinierung und Differenzierung soll einen Vergleich der Werke von Habermas, Foucault und Luhmann leisten. Vergleichskriterium ist das Potential der jeweiligen Ansätze, die bewusstseinsphilosophischen Prämissen einer verstehenden Soziologie im Anschluss an Weber zu überwinden. Bedauerlicherweise kann dieser Band zumindest als Vergleichsstudie nicht überzeugen, da der Aufbau, in dem auf einen Habermas- ein Foucault- und ein Luhmann-Teil folgt, keinen Platz für tatsächliche Vergleiche lässt und darüber hinaus der Eindruck entsteht, dass Kneers Ziel vor allem darin besteht, die Überlegenheit des LuhmannAnsatzes gegenüber den beiden anderen zu demonstrieren. Auch dieser in ihren

20 Vgl. auch einen Aufsatz von Hoy 1998 zu diesem Thema, der weniger auf Heidegger Bezug nimmt. 21 Es findet sich einzig eine Handvoll Aufsätze zum Verhältnis Foucault/Habermas. Vgl. Ingram 1994, Kögler 1996, Owen 1996 sowie Johnson 1997. 22 Ashenden/Owen 1999: 19. 23 Ibid: 2. 24 Vgl. vor allem den Beitrag von Thompson 1999.

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Binnenanalysen hervorragenden Arbeit25 gelingt also kein durchschlagender Beitrag zur Klärung der Topographie des Verhältnisses zwischen den Konzeptionen Habermas’ und Foucaults. Das Fazit des Forschungsüberblicks bezüglich der zweiten Analyse-Ebene fällt also recht karg aus. Sowohl im deutschen als auch im anglo-amerikanischen Raum liegt nach wie vor keine einzige Monographie vor, die dem Verhältnis Habermas/Foucault gewidmet ist. Gerade einmal etwa ein Dutzend einzelner Aufsätze wurden zu diesem Thema veröffentlicht. Daneben existieren zwei Publikationen, in denen Ergebnisse einer Art Stellvertreter-Dialog festgehalten sind, ein Aufsatzband sowie die zwei erwähnten Monographien, in denen es unter anderem auch um Foucault und Habermas geht, die aber gewisse Defizite aufweisen. Schon für sich genommen dokumentiert diese quantitative Betrachtung einen beinahe blütenweißen Fleck auf der wissenschaftlichen Landkarte. Setzt man die Zahlen in Relation zu den mehreren tausend Studien, die zum Werk Foucaults oder Habermas’ existieren, so wird deutlich, um was für einen geradezu kuriosen blind spot der Forschung es sich hier handelt. Zur Methode Bezüglich der ersten Analyse-Ebene ist zunächst das Erkenntnisziel »kritisches Potential« zu operationalisieren. Diese Größe soll Möglichkeiten und Grenzen, Stärken und Schwächen eines Kritik-Paradigmas bezeichnen. Um die Möglichkeiten eines Konzeptes zu erschließen, muss also herausgearbeitet werden, was auf welche Weise mit welcher Bedeutung für gesellschaftliche Praxis kritisiert wird. Für eine derartige Strukturbestimmung ist beispielsweise von Bedeutung, wer oder was das Objekt der Kritik ist, mit anderen Worten, wie groß der Kritikradius ist. Darüber hinaus können erkenntnistheoretische Prämissen, der Erklärungsanspruch der Theorien, ihre Methode – rekonstruktiv, historisch oder genealogisch – welche Art von Wissen bereitgestellt wird sowie das Verhältnis der Theorien zur gesellschaftlichen Praxis herangezogen werden, um die Möglichkeiten der Ansätze systematisch zu beschreiben. Diese Liste von Kategorien ist nicht erschöpfend, aber sie kann als Leitfaden dienen, um die Struktur einer Kritikkonzeption zu erfassen. 25 Die in der vorliegenden Arbeit vorgenommene kritische Analyse der TKH stützt sich in vielen Punkten auf Kneers Untersuchung.

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Mit den Möglichkeiten sind gleichzeitig explizite Grenzen bezeichnet: Dort, wo beispielsweise der Bereich des Kritisierbaren endet, weil bestimmte Phänomene ausdrücklich von der Kritik ausgenommen werden, findet auch die Kritikkonzeption ihre Grenzen. Neben derartigen expliziten Grenzen, die den Konzepten gewolltermaßen innewohnen, existieren jedoch Schwächen bzw. Probleme, welche als die impliziten Grenzen der Konzepte angesehen werden können. Schwächen liegen in erster Linie dann vor, wenn den Ansätzen nachgewiesen werden kann, dass sie nicht den von den Denkern selbst formulierten Anforderungen genügen. Es handelt sich hier, wie ja schon in der Einleitung erwähnt, um eine immanente Kritik, deren Intention Apel mit Bezug auf Habermas auf die treffende Formel gebracht hat: »Versuch, mit Habermas gegen Habermas zu denken«.26 Es ist jedoch wichtig herauszustellen, dass sich die vorliegende Studie der immanenten Kritik nur als methodischem Leitfaden bedient. Dies bedeutet, dass bei der Suche nach Schwächen und Problemen immer von den Ansprüchen ausgegangen wird, welche in den Ansätzen selbst enthalten sind. Bei der Klärung der Frage, inwieweit diese Ansprüche eingelöst werden können, ist es möglich, auf fragwürdige empirische Einschätzungen zu stoßen, die den Anspruch des Ansatzes untermauern sollen; oder es stellt sich heraus, dass ein Ansatz möglicherweise den eigenen Ansprüchen in gewisser Weise genügt, jedoch totalitäre Implikationen, logische Widersprüche, Auslassungen etc. aufweist. Streng genommen ließen sich diese Punkte auf der Grundlage einer immanenten Kritik nicht als Schwächen oder Probleme thematisieren, was sowohl kontraintuitiv als auch höchst unfruchtbar wäre, soll hier doch ein realistisches Bild des kritischen Potentials eines Ansatzes gezeichnet werden, in das natürlich auch etwaige totalitäre Implikationen als Faktor einfließen können müssen. Um diese unbefriedigenden Auswirkungen einer strikt immanenten Kritik zu vermeiden, muss hier stattdessen die Methode einer erweiterten immanenten Kritik Verwendung finden. Zwar bezeichnen die Ansprüche der Konzeptionen selbst durchgehend den Ansatzpunkt für die kritische Analyse, aber wo die Überprüfung dieser Ansprüche auf Probleme verweist, die jenseits einer strikt immanenten Kritik liegen, werden auch diese aufgegriffen und thematisiert. Methoden sind Hilfsmittel, und so soll auch die immanente Kritik helfen, eine passgenaue 26 Apel 1989: 15.

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Kritik zu leisten, die an den neuralgischen Punkten der Konzeptionen ansetzt. Sie darf kein starres methodisches Korsett sein, das die Untersuchung hemmt, indem es dazu zwingt, wichtige und interessante Punkte gänzlich von der Analyse auszunehmen. Genauerer Erläuterung bedarf auch die Kategorie der »Stärke« einer Kritikkonzeption. Aus der Methode der immanenten Kritik würde folgen, dass eine Stärke dann vorliegt, wenn ein Ansatz die in ihm enthaltenen Ansprüche einlösen kann. Allein dies unter der Kategorie »Stärke« zu fassen, erscheint jedoch ein wenig trivial, zumindest etwas unbefriedigend. Daher soll diese Kategorie für heterogene Elemente geöffnet werden. Mit Hilfe der Kategorie der Stärke sollen die Besonderheiten, die Originalität und der spezifische Charakter einer Kritikkonzeption pointiert erfasst werden. Welche inhaltlichen Punkte für diese Kategorie herangezogen werden, hängt letztlich von der jeweiligen Kritikkonzeption ab, die Kategorie enthält also notwendigerweise heterogene Elemente. Die spezifischen Konturen eines Ansatzes sollen natürlich auch schon in einer Beschreibung ihrer »Möglichkeiten« erkennbar werden. Unter der Kategorie »Stärken« sollen Umrisse jedoch zugespitzt werden, um die Besonderheit, die innovative Kraft und Originalität eines Kritiktypus herauszuarbeiten. Zuletzt ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass insbesondere die in diesem Sinne verstandenen Stärken eines Ansatzes oftmals erst auf der Folie eines anderen Ansatzes sichtbar werden. Die spezifische Ausrichtung einer Kritikkonzeption lässt sich vielfach erst im Kontrast zu anderen Konzeptionen mit unterschiedlicher Ausrichtung erfassen. Dementsprechend ist hier auch auf die entsprechenden Vergleichskapitel zu verweisen, da auch in ihnen die spezifischen Stärken der Ansätze erkennbar werden. Nach diesen Ausführungen zur (erweiterten) immanenten Kritik ist abschließend bezüglich der ersten Analyse-Ebene ein letztes Mal darauf hinzuweisen, dass es entscheidend für eine fruchtbare Strukturanalyse ist, der Dynamik sowohl Habermas’ als auch Foucaults Œuvre gerecht zu werden. Kontinuitäten und Brüche müssen herausgearbeitet werden, um eine präzise Strukturbestimmung bezogen auf die jeweilige Phase zu ermöglichen.27 Bezüglich der zweiten Analyse-Ebene des Vergleichs sind es vor allem die methodischen Probleme, die mit einem Theorienvergleich verbunden sind, die 27 Der chronologisch-genetische Ansatz wird nur an einer Stelle durchbrochen, um eine für die zweite Analyse-Ebene produktivere Konstellation zu schaffen. Vgl. die ausführlicheren Erläuterungen im entsprechenden Kapitel IV 2.

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hier nicht vorschnell übergangen werden dürfen. Daher müssen an dieser Stelle zunächst der systematische Gehalt der so genannten »Theorienvergleichsdebatte« in den Sozialwissenschaften sowie deren »Spätfolgen« rekonstruiert werden, um auf der Basis jener Erwägungen den in der vorliegenden Studie anvisierten Vergleich hinsichtlich seiner methodischen Aspekte zu spezifizieren. Debatte über Ziele und Methodik von Theorienvergleichen In der Debatte über Ziele und Methodik von Theorienvergleichen lassen sich die unterschiedlichen Positionen auf einem Kontinuum abtragen, das von einer Popper’schen Eliminationskonkurrenz bis zu einer Kuhn’schen Inkommensurabilität von Theorien reicht. Der kritische Rationalismus, demzufolge Theorienvergleiche einen Hauptmotor des wissenschaftlichen Fortschritts bezeichnen und auf der Basis der mehr oder minder gegebenen Fähigkeit unterschiedlicher Theorien, Fakten zu erklären, durchzuführen sind,28 ist spätestens Mitte der siebziger Jahre im Rahmen des aufkommenden Konventionalismus29 und insbesondere Kuhns Positivismus-Kritik in die Defensive geraten. Eine Eliminationskonkurrenz zwischen »besseren« und »schlechteren« Theorien kann als Modell für Theorienvergleiche nur dann überzeugen, wenn ein neutraler, unproblematischer Maßstab existiert, und mit Kuhns These von der Theorie- bzw. Paradigmenabhängigkeit von Fakten ist dieser unproblematische Maßstab zumindest stark in Frage gestellt.30 Die neue Dominanz des Konventionalismus lässt sich an den Publikationen ablesen, die aus dem Kasseler Soziologentag von 1978 resultierten, der sich ausschließlich mit der Frage nach Zielen und Methodik von Theorienvergleichen beschäftigte und für lange Zeit das einzige Forum für die entsprechende Debatte blieb.31 Als exemplarisch kann Klinkmanns Einschätzung zitiert werden, nach der »ein interparadigmatischer Theorienvergleich als systematisch betriebenes Unternehmen unmöglich und zudem auch über28 Vgl. zu dieser Position Albert 1975: 52 sowie Opp/Wippler 1990: 10. 29 Der Begriff des Konventionalismus bezieht sich insbesondere auf die Wissenschaftstheorien von Feyerabend, Winch sowie Kuhn und findet vor allem im angloamerikanischen Raum Verwendung. Vgl. zu einer kritischen Bestandsaufnahme Urry/ Keat 1975: 76 ff. 30 Vgl. zur Theorieabhängigkeit von Fakten Hanson 1958: 17 sowie Urry/Keat 1975: 52. 31 Vgl. Klinkmann 1978, Lindenberg/Wippler 1978, Opp 1978 sowie den Überblick über die Diskussionslage 1978 in: Hondrich/Matthes 1978.

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flüssig ist«. Allein »eine Art von Vergleich, [...] die nicht nach einer krampfhaft erstellten Methodologie vorgeht, [sondern] auf lockere aber ernsthafte Art« Theorien nebeneinander stelle, sei vorstellbar.32 In den wenigen Beiträgen der folgenden zwei Dekaden, die sich vergeblich um eine Wiederbelebung der Debatte bemühen, ist diese Haltung, nach der angesichts des offensichtlichen Trade-Offs zwischen methodologischer Strenge und inhaltlicher Fruchtbarkeit eines Theorienvergleichs zugunsten letzterer zu votieren sei, nicht ernsthaft in Frage gestellt worden.33 Erst 1999 findet sich wieder ein Sammelband, der die weitgehend versandete Diskussion wieder systematisch aufzunehmen versucht. Doch auch hier findet sich keineswegs eine Rückkehr zu Poppers und Alberts Logik der Forschung. Die Rede ist weiterhin von Theorienvergleichen als »loose coupling«, bei dem es allenfalls um eine Bestimmung der »Grund-Verhältnisse« von Theorien gehen könne.34 Darüber hinaus wird immer wieder die Kontingenz der Vergleichsperspektive herausgearbeitet, deren Folge ein Relationalwissen sei, das weit davon entfernt sei, Forderungen nach Objektivität genügen zu können.35 Andererseits wird in den meisten Beiträgen auch einem radikalen Konventionalismus, der keinerlei Sinn in interparadigmatischen Theorienvergleichen sieht, eine Absage erteilt, nicht zuletzt auf der Basis einer Kritik des Kuhn’schen Begriffs des Paradigma und seiner Anwendung auf die Sozialwissenschaften.36 Zuletzt finden sich sogar Positionen, welche einen höheren Grad der Objektivität von Theorienvergleichen aus unterschiedlichen Gründen zumindest in Ansätzen für möglich halten: Auswege aus der völligen Kontingenz von Vergleichen ergäben sich aus einer Art Minimalkonsens bezüglich sinnvoller Vergleichsgesichtspunkte in der scientific community und der Durchführung von Vergleichen höherer Ordnung, als dem Vergleich von unterschiedlichen Theorienvergleichen. Langfristig bestünde dementsprechend eine Chance auf robusteres Relationalwissen.37

32 33 34 35 36

Klinkmann 1978, unveröffentlichtes Manuskript. Vgl. Klüver 1991, Greshoff 1992, Klüver 1993, Greshoff 1994 sowie Schmid 1996. Vgl. Schimank 1999: 280 bzw. Greshoff 1999a, 1999b. Vgl. Kneer 1999a. Vgl. zu Kuhns Wissenschaftstheorie Kuhn 1997. Zur Kritik des Paradigma-Begriffs Masterman 1974, Gellner 1987: 156 sowie Sayer 1992: 73. Verteidigt wird die Verwendung des Begriffs in: Klinkmann 1982. 37 Vgl. zu diesen Positionen Weiss 1999a, 1999b bzw. Kneer 1999a, 1999b.

EINLEITUNG

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Welche Schlussfolgerungen lassen sich bezüglich der vorliegenden Studie aus diesen Resultaten der Debatte ableiten? Hinsichtlich der Frage einer Methodik des Vergleichs lässt sich zunächst feststellen, dass die Sozialwissenschaften nach wie vor weit davon entfernt sind, über einen verbindlichen methodologischen Leitfaden für die Durchführung von Theorienvergleichen zu verfügen.38 Entsprechend wird auch hier von einer gewissen methodologischen Freiheit Gebrauch gemacht, die sich vor allem darin äußert, dass die zu vergleichenden Theorie-Elemente nicht nach einem festen Kategorien-Apparat, sondern weitgehend nach dem Opportunitätsprinzip ausgewählt werden.39 Die Auswahl der comparanda erfolgt auf der Basis der vorangegangenen Binnenanalysen und im Bestreben, zum einen möglichst fruchtbares und interessantes Relationalwissen zu generieren und zum anderen Potentiale für mögliche Kombinationen einzelner Elemente der jeweiligen Ansätze herauszuarbeiten. Dabei orientiert sich die Selektion an den schon weiter oben erwähnten Strukturmerkmalen, wie z. B. dem Kritikradius, ohne diese jedoch als obligatorischen Kanon zu verstehen. Die Notwendigkeit, eine solche methodologische Freiheit in Anspruch zu nehmen, scheint mir eine der wenigen »Lehren« aus der Theorienvergleichsdebatte der siebziger und ihrem Pendant der späten neunziger Jahre zu sein,40 jedenfalls dann, wenn es sich um einen umfassenden Vergleich zweier Theorien handelt und ihrer Verschiedenartigkeit durch die apriorische Auswahl bestimmter Begriffe oder Kategorien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ausreichend Rechnung getragen werden könnte.41 Bezüglich der Frage nach dem Anspruch, mit dem das hier generierte Vergleichswissen auftreten kann, ist einerseits auf die grundsätzliche Perspektivität jedes Vergleichs – auch des hier durchgeführten – zu verweisen. Andererseits muss hier noch einmal das insbesondere von Georg Kneer vertretene Konzept 38 So auch Haller 1999: 42. 39 Dies erscheint nicht zuletzt insofern legitim, als zum Vergleich von Theorien aus unterschiedlichen neueren »Paradigmen«, wie Postmodernismus, Modernismus und Poststrukturalismus so gut wie keine methodologischen Studien existieren. Ansätze existieren allenfalls bei Rosenau, die aber auch nur Bedenken gegen einen systematischen, also nach festen Kategorien durchgeführten Vergleich vorbringt. Vgl. Rosenau 1992: 19. 40 So auch Lindenberg/Wippler 1978: 219. 41 Dies muss für den Vergleich von Habermas und Foucault unterstellt werden: »Habermas und Foucault sprechen verschiedene Sprachen: Sie operieren innerhalb verschiedener Ensembles von Perspektiven, Theorien, Konzepten und Logiken.« (Isenberg 1991: 1398)

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von Vergleichen höherer Ordnung betont werden: Diese könnten durchaus langfristig eine Möglichkeit darstellen, um eine Reduzierung der Perspektivität zu erreichen. Voraussetzung wäre allerdings, dass die Menge denkbarer Vergleichsgesichtspunkte für zwei Theorien nicht unendlich ist bzw. dass sich aus der infiniten Menge von Vergleichsgesichtspunkten einige als Minimalkonsens herauskristallisieren.42 Ob dies der Fall ist, wird sich nur auf der Basis der Durchführung solcher Vergleiche höherer Ordnung überprüfen lassen. Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zu diesem langfristigen Projekt.

42 Diese Möglichkeiten sehen Schneider 1999a, 1999b bzw. Weiss 1999a, 1999b.

I. Wissenschaft

1.

Erkenntnis und Interesse – Habermas’ Versuch einer erkenntnistheoretischen Fundierung kritischer Wissenschaft

1.1 Kritik als emanzipatorisches Interesse Die frühe Wissenschaftskritik Habermas’ schließt in gewisser Weise an Programme der Frankfurter Schule aus den dreißiger Jahren an. So wie Horkheimer 1937 in Traditionelle und Kritische Theorie versucht hatte, mittels einer Kritik traditioneller Theorie Status und Gestalt Kritischer Theorie zu klären, so versucht Habermas dies nun in Erkenntnis und Interesse durch die Kritik des Szientismus für eine kritische Wissenschaft. Die Grundthese des Werkes besagt, »daß radikale Erkenntniskritik nur als Gesellschaftstheorie möglich ist« (EuI: 9). Habermas will aus Ersterer Letztere herleiten, um sie so als einzig legitime Erbin (nach-)kantianischer Erkenntnistheorie bzw. Philosophie zu etablieren. Er leitet die Untersuchung mit einem Rekurs auf eine theoriegeschichtliche Denkbewegung von Kant bis Marx ein. Kants Transzendentalphilosophie will die Vernunft über ihre eigenen Grenzen aufklären. Als einzige Voraussetzung lässt sie den methodischen Zweifel zu, mit dem sie den Erkenntnissen des erkennenden Subjekts gegenübertritt und zunächst eine Klärung der Bedingungen möglicher Erkenntnis verlangt. Dieser scheinbar voraussetzungslose Kritizismus verstrickt sich in ein Dilemma, auf das Hegel im Anschluss an Kant aufmerksam macht: »Man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man erkennt. [...] Die Untersuchung des Erkenntnisvermögens ist selbst erkennend, kann nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist.«1 Doch diese Einsicht führt laut Habermas bei 1 Hegel 1971: 555.

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Hegel nicht zu einer Radikalisierung der Kritik, die auch die von Kant uneingestandenen normativen Vorstellungen von Wissenschaft und dem Subjekt miteinbezieht, sondern zu einem Zweifel am Kritizismus selbst. Hegel vertritt die Ansicht, dass Kants a priori das Resultat eines Bildungsprozesses ist, den es phänomenologisch zu reflektieren gilt. »Die Stufen der Reflexion, über die sich das zunächst nur vorgeschossene kritische Bewußtsein zu sich selbst emporarbeiten muß, lassen sich durch eine systematische Wiederholung der gattungsgeschichtlich konstitutiven Erfahrungen rekonstruieren.« (EuI: 29)2 Hegel lässt diese Reflexion jedoch im »absoluten Wissen« kulminieren, das den Kritizismus letztendlich suspendiert. Marx greift die Hegel’sche Kritik auf, transformiert sie aber von einer Entwicklung, in der das Denken zu sich selbst kommt, in eine materialistische Erkenntnistheorie. Marx zufolge ist das Subjekt, das die Welt konstituiert, kein transzendentales Ego, sondern die menschliche Gattung, die sich selbst durch Arbeit reproduziert. Arbeit sei eine »von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit«.3 Arbeit, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, ist einerseits für Marx eine kantianische transzendentale Bedingung, andererseits unterliegt sie empirischen Entwicklungen der Produktivkräfte. Wie der Geist bei Hegel über die verschiedenen Stufen der Reflexion zu sich selbst kommt, so erschafft sich die Menschengattung durch Arbeit und Reflexion über die Stadien der Produktivkräfte hinweg selbst. In der Beschränkung der Reflexionsleistung auf Arbeit liegt nun laut Habermas Marx’ Defizit, das ihn letztendlich auch dem Positivismus zutreibt, so dass auch er, wie Kant und die Positivisten, zwischen Naturwissenschaft und Kritik nicht mehr trennen kann und erstere als Erkenntnis an sich verabsolutiert. Hier nun setzt Habermas an, indem er Marx’ Hegelkritik erweitert: Die Gattung reproduziert sich nicht nur durch Arbeit, sondern auch durch Interaktion – ein Element, das Habermas beibehalten wird – und diese beiden grundlegenden, invarianten Handlungstypen erzeugen ihnen entsprechende erkenntnisleitende Interessen, über die es die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften aufzuklären gilt. Der Gang der Argumentation kann hier nur kurz skizziert werden: Habermas macht für die Naturwissenschaften sowie für die empirisch-analytischen 2 Vgl. »Der Einzelne muß auch dem Inhalte nach die Bildungsstufen des allgemeinen Geistes durchlaufen«, denn »das Wahre ist das Ganze« und nicht »das Resultat [ist] das wirklich Ganze, sondern es zusammen mit seinem Werden« (Hegel 1970: 138, 133, 127). 3 Marx 1960: 87.

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Sozialwissenschaften ein technisches Interesse an der Aufstellung von Gesetzen geltend, die Vorhersagbarkeit und Kontrolle ermöglichen. Die menschliche Gattung muss außerdem Verständigung sicherstellen, was die obigen Wissenschaften nicht leisten können. Diesen Bereich decken die historisch-hermeneutischen Wissenschaften ab, denen das praktische Interesse an Verständigung bzw. der Ermöglichung von Interaktion zugrunde liegt. Die Pointe von Habermas’ Entwurf sind die kritischen Wissenschaften, Psychoanalyse und Ideologiekritik, die das eigentliche Erbe reflektierender Philosophie antreten. Ihnen liegt das emanzipatorische Interesse zugrunde, »falsche« Objektivierungen auf der Basis von Reflexion zu durchschauen. In dieser fallen Erkenntnis und Interesse zusammen: »In der Selbstreflexion gelangt eine Erkenntnis um der Erkenntnis willen mit dem Interesse an Mündigkeit zur Deckung; denn der Vollzug der Reflexion weiß sich als Bewegung der Emanzipation. Vernunft steht zugleich unter dem Interesse an Vernunft. Wir können sagen, daß sie einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse folgt, das auf den Vollzug der Reflexion als solcher zielt.« (EuI: 244) Ohne der allgemeinen Argumentation Habermas’ weiter folgen zu müssen, lohnt es sich schon hier, eine vorläufige Bestandsaufnahme der kritischen Stärken des Habermas’schen Konzeptes zu entwerfen. Folgt man seiner Konzeption, dann ist ihm insbesondere zweierlei geglückt: Es gelänge zunächst, kritische Wissenschaft oder den ihr zugrunde liegenden Impetus auf »quasi-transzendentaler« Ebene, zu verankern, denn die erkenntnisleitenden Interessen »haben einen transzendentalen Stellenwert, gehen aber aus faktischen Lebenszusammenhängen hervor« (EuI: 240). Indem er so die Lehren aus der Kant-Hegel-Marx-Kontroverse für sich fruchtbar zu machen sucht, könnte er einen emanzipatorischen Impetus als anthropologische Konstante, die gleichwohl der geschichtlichen Entwicklung folgt, apostrophieren. Damit wäre ein stabiles Fundament von Kritik geschaffen, das letztlich in der Gattung Mensch selbst läge. Es wäre ferner möglich, durch den Begriff der »Reflexion«, in dem Erkenntnis und transformatorische Umsetzung zusammenfallen, das Problem der Vermittlung von Theorie und Praxis aufzulösen. Der Bewusstwerdungsprozess des Analysanden in der Psychoanalyse – die Habermas als exemplarisch für derartige Reflexionen ansieht – ist streng genommen schon selbst Praxis (vgl. EuI: 348). Der Gegenstand dieser Praxis, der Radius der Kritik, umfasst Herrschaft und Ideologie, wobei Habermas beide als verzerrte Kommunikation fasst (vgl.

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EuI: 160 u. 342). Er kombiniert Marx und Freud: Ideologien herrschen, indem sie als undurchschaute Zusammenhänge, als gesichtslose Mächte, hinter dem Rücken des Individuums dessen Leben kontrollieren und zudem reale Herrschaft verschleiern bzw. legitimieren. Durch die kritische Reflexion, die sich des eigenen Bildungsprozesses auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene bewusst wird, können die Mächte durchschaut und entkräftet werden bis hin zur Utopie, »in der ein zur Kritik gewordenes Selbstbewußtsein der Gattung von ideologischer Verblendung überhaupt sich befreit hat« (EuI: 76 f.). Dass Habermas eine solche kritische Bewegungsfreiheit zurückgewinnt, liegt nicht zuletzt an der Ablehnung einer allumfassenden »totalen« Kritik wie etwa die von Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung. Ist die Grundlage von Erkenntnis nicht mehr nur Herrschaftswille, Horkheimer/Adornos instrumentelle Vernunft, sondern das Interesse an Verständigung oder gar Reflexion, so kann auch Kritik bestehen, ohne sich selbst zu negieren, wie dies oft dem Kritikansatz der Dialektik der Aufklärung vorgehalten wird.4 Doch Habermas’ Ansatz ist voller Zweideutigkeiten, die gerade in den oben skizzierten zentralen Punkten seine Leistungsfähigkeit zu beschneiden drohen. 1.2 Ambivalenzen und hybride Formen – Probleme der kritischen Wissenschaft Ein fundamentales Problem von Habermas’ Ansatz liegt in der Notwendigkeit, die Existenz eines emanzipatorischen Interesses nicht nur plausibel zu machen, sondern zu begründen.5 Er scheint hier mehrere Argumentationsstrategien zu verfolgen, von denen aber – zumindest zum Zeitpunkt des Erscheinens von Erkenntnis und Interesse – keine zwingend ist: Mit Roderick kann man Habermas so verstehen, dass »dieses Interesse in der menschlichen Fähigkeit, rational und selbstbestimmt zu handeln und sich selbstreflexiv zu verhalten«6, gründet. Diese Argumentation ist jedoch rein lo-

4 Nicht nur die hermeneutischen und kritischen Wissenschaften haben einen emanzipatorischen Aspekt, dies gilt auch für die Naturwissenschaften. Allerdings nur in einem bestimmten Rahmen: Der Befreiung aus dem »Würgegriff der Natur« (Adorno). 5 Evans 1974: 289. 6 Roderick 1989: 78; vgl. in diesem Sinne insbesondere EuI: 256, wo vom »Interesse an der Selbständigkeit des Ich« die Rede ist. Ebenso Böhler 1974: 355.

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gisch nicht aufrechtzuerhalten: Aus einer Fähigkeit zu etwas kann zweifellos kein Interesse an eben diesem hergeleitet werden. Die zweite Argumentationsstrategie kann ebenfalls nicht gänzlich überzeugen: »Technisches und praktisches Erkenntnisinteresse können erst aus dem Zusammenhang mit dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse der vernünftigen Reflexion als erkenntnisleitende Interessen [...] begriffen werden« (EuI: 244). Es handelt sich um ein äußerst selbstbezügliches Argument, insofern, als Habermas schlicht behauptet, sein eigener Erkenntnisakt bzw. die Tatsache, dass sich erkenntnisleitende Interessen als solche erkennen ließen, setze ein emanzipatorisches, reflexives Interesse voraus. Die dritte Strategie wird in der Folge die wichtigste für Habermas werden: In der Frankfurter Antrittsvorlesung »Erkenntnis und Interesse« von 1968, die den Inhalt des späteren Buches schon skizziert, beschreitet er jenen dritten Weg der Begründung: »Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es kann a priori eingesehen werden. Das, was uns aus Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt.« (TWI: 163) Freilich ist die Behauptung per se, ohne Begründung, unzureichend: Evans bezweifelt zu Recht, die allein »vernünftige« Struktur der Sprache: »Eine Reflexion über die Sprache [...] wird vermutlich viele Verwendungsarten von Sprache aufdecken, von denen einige regelrecht auf Herrschaft abzielen.«7 Außerdem scheint »die an den Idealismus erinnernde Berufung auf apriorische Einsicht die Möglichkeit außer Acht zu lassen, daß die Einsicht in Ideale und deren Antizipation selbst einer Verzerrung ausgesetzt sein können. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Ideologieverdacht gerade hier ein Ende finden sollte.«8 Doch nicht nur die Herleitung, auch der Status der Interessen als quasi-transzendental bleibt problematisch. Das Dilemma Habermas’ lässt sich in einem einzigen seiner Sätze fassen: Er spricht vom Subjekt, »das den empirischen Charakter einer aus der Naturgeschichte hervorgegangenen Gattung mit dem intelligiblen Charakter einer die Welt unter transzendentalen Gesichtspunkten konstituierenden Gemeinschaft vereinigt« (EuI: 173). Einerseits soll das Subjekt aus der Natur hervorgehen, andererseits konstituiert es diese Natur aufgrund von invarianten, transzendentalen Interessen, deren Form wiederum historisch kontingent ist. Diese Elemente sind jedoch inkompatibel: »Entweder hat Natur den transzendentalen Status 7 Evans 1974: 290. 8 McCarthy 1989a: 130.

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einer konstituierten Objektivität und kann deshalb nicht Grund des konstituierenden Subjekts sein, oder Natur ist der Grund der Subjektivität und kann folglich nicht einfach konstituierte Objektivität sein.«9 Der Versuch Habermas’, Kant, Hegel und Marx im hybriden Begriff der Quasi-Transzendentalität zusammenzudenken, scheitert.10 Theunissen führt die Implikationen dieses Vorwurfs noch weiter aus und bezieht ihn auf die gesamte Gattung »Kritische Theorie«: »Während die klassische Theorie den ewigen Kreislauf des Naturkosmos als das Ganze erkennt, in welchem die geschichtlich bewegte Menschenwelt verschwindet, sieht die kritische umgekehrt in der Geschichte den äußeren Horizont, in den auch Naturerkenntnis einzutreten hat.«11 Die klassische Version lehnt Habermas als Naturontologie vehement ab. Sie unterschlage den »transzendentalen Rahmen« von Erkenntnis, doch erst durch diesen »zerfällt der objektivistische Schein und gibt den Blick auf ein erkenntnisleitendes Interesse frei«, daher lässt sich eine kritische Wissenschaft »nurmehr auf den Trümmern der Ontologie bewahren« (TWI: 155 bzw. 168). In solch eine Naturontologie falle Habermas jedoch zurück: »Die Überforderung des empirischen Subjekts [beruht] auf der Gleichsetzung des transzendentalen Subjekts mit der Menschengattung.«12 Dieses Gattungssubjekt kann jedoch nicht der Natur vorausgehen. Wenn sich Habermas auch explizit davon abgrenzt, so läuft er doch zumindest Gefahr, implizit in eine solche Ontologie zurückzufallen, die sein gesamtes Projekt noch stärker als das vordergründige Problem eines logischen Dilemmas desavouieren könnte.13 Scheint die Verankerung des kritischen Impetus auf schwachen Füßen zu stehen, so gilt dies auch für den beinahe organischen Übergang von Theorie in Praxis. Dieser hängt offensichtlich vom Begriff der Reflexion ab, in dem ebenfalls Kant, Hegel und Marx zusammengedacht werden sollen. Doch Habermas gelingt dies nur durch eine Vermischung verschiedener Ebenen, durch die er das Theorie-Praxis-Problem einfach wegdefinieren kann. Zunächst verwechselt Habermas Reflexion mit Emanzipation, bzw. er setzt beide gleich, möglicher9 McCarthy 1989a: 131. 10 »So muß der quasitranszendentale Status der Interessen auf die Ebene natürlicher und zufälliger Orientierung zurückfallen.« (Evans 1974: 291) 11 Theunissen 1969: 4 f. 12 Ibid.: 26. 13 Es ließe sich von einer »mit Hoffnung gemischten ontologischen Nostalgie« sprechen (Kisiel 1974: 312).

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weise aus einer Idealisierung der psychonanalytischen Praxis heraus. Aus Habermas’ Perspektive hat der Patient im Bewusstwerden über den eigentlichen Charakter und die Herkunft bestimmter Phänomene uno actu diese schon entmachtet bzw. beseitigt. Jedoch ist selbst in der analytischen Praxis ein Hiatus zwischen Erkenntnis und Umsetzung die Regel.14 Erkenntnis ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung, und dies gilt a fortiori auf gesellschaftlicher Ebene. Dort fallen Erkenntnis und Engagement »auf der höchsten Stufe philosophischer Reflexion [...] noch einmal auseinander«, insofern man Engagement als »eine riskante politisch effektive Parteiergreifung versteht«. Habermas falle einer »idealistischen Illusion« anheim, wenn er beides in eins setze.15 Aber Habermas ebnet nicht nur die Unterschiede zwischen Kant/Hegel und dem Marx der 11. Feuerbachthese ein, ebenso verwischt er die Differenz zwischen Kants Transzendentalreflexion und Hegels oder Marx’ konkret situierter Reflexion. Es lässt sich zwar argumentieren, dass Reflexion eine notwendige Bedingung von Emanzipation von realen gesellschaftlichen Mächten ist, aber dies kann nur eine konkret situierte Reflexion sein. Die Transzendentalreflexion fragt nach der Klasse der überhaupt möglichen Erkenntnisse, sie emanzipiert sich wohl gegenüber einem Dogmatismus, der diese Klasse zu weit oder zu eng fasst, aber aus ihr ist noch kein »praktisch-emanzipatorisches Handlungswissen in einer konkreten Lebenssituation«16 zu schöpfen. Die hybriden Begriffe »Reflexion« und »Quasi-Transzendentalität«, welche die Attraktivität von Habermas’ Ansatz ausmachen, können also kaum aufrechterhalten werden. Darüber hinaus zeigen sich auch gewisse Ambivalenzen bezüglich des Begriffs der Praxis: Giegel geht beispielsweise davon aus, dass Habermas kritische Reflexion, mithin die Psychoanalyse, als neue revolutionäre Praxis versteht, verweist aber auf die schiefe Analogie: »Der Unterschied [...] ergibt sich schon daraus, daß dem Patienten geholfen wird, sich von dem ihm angetanen Zwang zu befreien, während der herrschenden Klasse der Versuch, sie vom gesellschaftlichen Zwangszusammenhang zu erlösen, allein als eine Bedrohung der

14 Ein magersüchtiger Mensch vollzieht die Abkehr von anorexischem Verhalten nicht automatisch mit der Einsicht, dass dieses Verhalten beispielsweise aus einer gestörten Vaterbeziehung herrührt. 15 Apel 1974: 341. 16 Böhler 1974: 360; Bubner spricht von einer »von der Praxis nur faszinierten Philosophie« (Bubner 1977: 208).

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Herrschaft erscheinen muss, die sie über die anderen Klassen ausübt.«17 Das Proletariat müsse damit rechnen, dass die herrschende Klasse jede Art von »Gespräch« für ihre Zwecke ausnutze. Obwohl Giegel offensichtlich in etwas überkommenen Kategorien denkt, wirft er doch die berechtigte Frage auf, wer denn nun eigentlich zur Reflexion aufgerufen sei. Will Habermas nur Analytiker der Arbeiterklasse sein, das Gewebe der Ideologien zerreißen und damit wie der junge Marx den Weg zu einem Klassenbewusstsein ebnen? Dies ist aufgrund seiner offenkundigen Zweifel an der Arbeiterklasse (vgl. TP: 163 f.) unwahrscheinlich. Dann scheint er aber doch auf das Szenario der umfassenden »falschen Totalität« Adornos zurückzufallen, aus der der Kritiker die gesamte Gesellschaft, inklusive herrschende Klassen, zu befreien sucht. Nicht nur, dass dann die obige schiefe Analogie zum Tragen kommt, Habermas muss sich auch wieder fragen lassen, wie er für sich einen Standpunkt außerhalb der Totalität beanspruchen kann. Diese Überlegungen führen zum letzten Problemkontext, der sich auf die Psychoanalyse als paradigmatische kritische Wissenschaft bezieht. Der Zweck der Analyse auf individueller Ebene ist die Rückführung des Patienten zu den gesellschaftlich anerkannten Normalitätsstandards mit Hilfe des Analytikers – darin sieht zumindest ein großer Teil der psychoanalytischen Schule die Funktion der Therapie.18 Diese Konstellation löst sich bei einer Generalisierung der Therapie auf, da Gesellschaft keine normativen Maßstäbe mehr liefern kann und der Therapeut nicht mehr der Vermittler von Normalität ist, sondern zur Instanz wird, die diese setzt. Damit erhebt Habermas jedoch einen äußerst problematischen Anspruch: Er muss zwischen verzerrter und unverfälschter Wahrnehmung, Denken und Handeln unterscheiden können.19 17 Giegel 1977: 278. 18 Vgl. hierzu Freud 1961. Diese Vorstellung vertritt jedenfalls die psychoanalytische Schule im Anschluss an Erich Fromm oder Karen Horney. Freudo-Marxisten wie Herbert Marcuse vertreten dagegen die Auffassung, dass die Therapie nicht so sehr die Funktion habe, dem einzelnen Individuum ein Leben in Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Normvorstellungen zu ermöglichen, was einerseits möglicherweise das Leben des betroffenen Individuums erleichtert, aber eben auch die sozialen Normen hypostasiert. Stattdessen sieht Marcuse die Funktion der Therapie eher im Kontext des revolutionären Potentials, auf das eine Vielzahl psycho-pathologischer Phänomene verwiesen. Zur Debatte zwischen den beiden Positionen vgl. Marcuse 1965 sowie Fromm 1990. 19 »Wenn solche Verzerrungen bei anderen identifiziert werden, scheint der Anspruch vorausgesetzt zu sein, daß man eine privilegierte Ausnahme davon sei.« (MacIntyre 1973: 322)

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Natürlich ist ein derartig privilegiertes Wissen nicht zu begründen, und wen auch immer Habermas in einem therapeutischen Gespräch über sein wahres Interesse aufklären wollte, Proletariat oder Gesellschaft, er würde sich auf einen Pfad begeben, der nur allzuleicht im Totalitarismus endet. Gadamer verweist zudem darauf, dass gesellschaftliche Konflikte nicht Kommunikationsstörungen im Sinne von Neurosen sind, sondern Interessenkonflikte: »Hier von Verblendung zu sprechen, würde den Alleinbesitz der richtigen Überzeugung voraussetzen. Diesen zu behaupten, dürfte wohl eine eigene Art von Verblendung sein.«20 Habermas versucht hier dann auch, wieder in Analogie zur Analyse, ein Sperrpotential gegen totalitäre Implikationen zu errichten: »So gibt es keine Bestätigung [für die Richtigkeit der Analyse, T. B.] außer der im Dialog gelingenden, vollzogenen Selbstreflexion aller Beteiligten« (HuI: 158). Erst die Ex post-Zustimmung zur Angemessenheit der Analyse soll ein gültiges Wahrheitskriterium sein, aber was hilft dies, wenn es doch Habermas zufolge auch zur analytischen Praxis gehört, »Widerstände« gegen die bessere und heilende Einsicht beim Analysanden zu überwinden, um ihn von einem »falschen Bewußtsein« zu befreien (EuI: 281)? Dann könnte dem gesellschaftlichen Analysanden auch eine Einsicht aufgezwungen werden. Habermas’ erster systematischer Versuch einer Reformulierung von Kritischer Theorie als kritische Wissenschaft nach dem Vorbild Horkheimers muss damit noch als theoretisch unausgereift und voller problematischer Implikationen für die Praxis angesehen werden. Diesem Programm gegenüber steht die frühe Wissenschaftskritik Michel Foucaults.

2.

Foucault – Von naturalistischer Vernunftkritik zur archäologischen Diskursanalyse

2.1 Das Andere der Vernunft – Wahnsinn und Gesellschaft Foucaults akademische Sozialisation hat mit der von Habermas fast nichts gemeinsam. Dieser schreibt sein erstes Hauptwerk unter dem Einfluss des deutschen Idealismus und des Marxismus der Frankfurter Schule. Foucaults erste größere Arbeit Psychologie und Geisteskrankheit orientiert sich an dem Versuch, die für das damalige philosophische Frankreich entscheidende Frage einer Vermitt20 Gadamer 1977: 307.

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lung von Phänomenologie und Marxismus auf dem Gebiet der Psychologie zu leisten. Diese beiden Strömungen bezeichnet Foucault selbst als prägend für seine akademische Sozialisation. Im Übergang zu seinem frühen Hauptwerk Wahnsinn und Gesellschaft vollzieht sich dann ansatzweise die Formierung eines eigenständigen Denkprofils Foucaults. In der ersten Publikation hatte er noch versucht, das »Wesen« des Wahnsinns phänomenologisch zu »verstehen« und dann seine Entstehung mit marxistischem Instrumentarium aus gesellschaftlichen Missständen erklärt. Das verblüffend Neue an Wahnsinn und Gesellschaft ist die Weigerung, die Wertung einer Pathologie als Pathologie einfach zu übernehmen. Die Geisteskrankheit hat nicht schon immer unter anderem Namen existiert, um in der Moderne endlich entdeckt zu werden, wie die Psychologie glaubt. Wahnsinn wird als Geisteskrankheit erst in der Moderne konstituiert, die entsprechende Wahrnehmung ist selbst sozial bedingt. Im Rahmen der »Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft« – so der Untertitel – will er zeigen, wie Wahnsinn zur Geisteskrankheit pathologisiert wird. Diese neue Perspektive Foucaults, die um die Frage kreist, auf welche Weise Phänomene zu einem »Problem« werden, bleibt grundlegend für sein Werk. Als historischen Ausgangspunkt wählt er die Renaissance. Diese sei mit ihren Narrenschiffen und anderen Praktiken »auf eigenartige Weise gastfreundlich gegenüber dem Wahnsinn« (WG: 67) gewesen. Mit der Angst vor dem Sonderbaren sei auch noch eine Bewunderung dieser vermeintlich tieferen Erfahrungsstruktur verbunden gewesen, Wahnsinn und Vernunft hätten noch in einem Dialog gestanden. Im klassischen Zeitalter, wie er die Epoche der Aufklärung bezeichnet, findet dieser Dialog ein jähes Ende. Auf der philosophischen Ebene ist der Wahnsinn nur noch die Negation der Vernunft, ihr »Anderes«, wie Foucault am Beispiel Descartes’ zu zeigen versucht. Auf der politischen Ebene kommt es zur »großen Gefangenschaft« (WG: 68): Alle Arten von marginalisierten Gruppen, vom Verbrecher bis zum Wahnsinnigen, werden interniert. Die Gesellschaft scheidet ihre heterogenen Elemente aus und hat das Bedürfnis, sich vor ihnen zu schützen: »Durch einen eigenartigen Gewaltakt bringt dann das Zeitalter der Klassik den Wahnsinn [...] zum Schweigen.« (WG: 68) Der Eintritt in die Moderne vollziehe sich mit den so genannten »Befreiungsbewegungen«. Die Wahnsinnigen werden aus der Internierung befreit und in nun speziell für sie eingerichtete Psychiatrien mit dem entsprechenden Personal untergebracht. Erst mit dieser Entwicklung wird aus Wahnsinn eine Pathologie, eine Krankheit, deren vielfältige Aspekte mit Hilfe der Vernunft

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durchleuchtet, kategorisiert und, wenn möglich, geheilt werden müssen. Doch damit, so Foucault, kann von einer »Humanisierung« im Umgang mit dem Wahnsinn keine Rede sein. Im Gegenteil: Hatte die Vernunft den Wahnsinn in der Klassik nur ausgeschlossen, so versucht sie nun, sich seiner zu bemächtigen, ihn mit ihren Mitteln zu erfassen und wenn möglich, ihn zu heilen, d. h. in Vernunft zurückzuverwandeln. Mit dieser Vernunftkritik beginnt die kontinuierliche Liaison Foucaults mit Nietzsche, dessen frühe Geburt der Tragödie ebenfalls von der Kritik des Ausschlusses des dionysischen Prinzips (Wahnsinn) aus dem apollinischen (Vernunft) getragen worden war.21 Sie zeigt ebenfalls Affinitäten zur Kritik Adornos/Horkheimers an einer instrumentellen Vernunft, die sich nur auf der Basis von Herrschaft und Ausschluss zu konstituieren vermag. Doch die Analogien enden hier nicht und erstrecken sich sowohl auf die Methode als auch letztlich auf die Probleme der Analyse. Die Kritik an der Vernunft nimmt bei Foucault ähnlich wie in der Dialektik der Aufklärung die Gestalt einer Verfallsgeschichte an, in der eine ursprüngliche Einheit bzw. Harmonie von Vernunft und ihrem Anderen zerbricht und als Ideal fungiert. Ein zentraler Vorwurf an die Vernunft ist dabei, dass sie aus Wahnsinn Geisteskrankheit macht. Dieser Vorwurf basiert auf der folgenden Vorstellung: »Was als ›Geisteskrankheit‹ bezeichnet wird, ist nur [...] entfremdeter Wahnsinn« (PG: 116). Wenn es entfremdeten Wahnsinn gibt, dann muss es auch unentfremdeten Wahnsinn in seiner »ursprünglichen Reinheit« geben, und Foucaults Anliegen ist es, eine Geschichte »des Wahnsinns selbst« (WG: 13) zu schreiben. Dies ist natürlich eine naturalistische bzw. essentialistische Vorstellung, die dem Wahnsinn einen prädiskursiven Wesenskern zugesteht22 und damit wiederum Foucaults eigenem Ansatz in den Rücken fällt, der ja gerade die Erfahrung als historisch und sozial kontingent setzt und damit weder von einem Wesenskern noch von der Möglichkeit, diesen zu erkennen, ausgehen darf.23 An solch eine Erkenntnis scheint für Foucault jedoch eine mögliche Versöhnung untrennbar geknüpft zu sein.24

21 Foucault zum Einfluss Nietzsches auf ihn: »Nietzsche and Heidegger, that was a philosophical shock.« (Return: 254) 22 Diese Auffassung teilt Foucault mit der von ihm kritisierten Psychologie. Vgl. Visker 1991: 306. 23 »Aber alles läuft so ab, als wisse Foucault, was ›Wahnsinn‹ bedeute.« (Derrida 1972: 59) 24 Vgl. Waldenfels 1987: 519 f.

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Foucault unterschlägt jedoch die Problematik nicht völlig, sondern gesteht sogar ein, dass eine ursprüngliche Erfahrung des Wahnsinns auf direktem Wege unerreichbar geworden ist (WG: 13). Er schlägt den indirekten Weg vor: »Man muß in der Geschichte jenen Punkt Null der Geschichte des Wahnsinns wiederzufinden versuchen« (WG: 7), der vor den Exklusionen liegt, indem man die sukzessiven Praktiken des Ausschlusses und der Herrschaft zurückverfolgt. Indem die Vernunft ihre eigene Konstitution analysiere, könne sie ihr »Anderes« wenigstens ex negativo erahnen. Damit bedient sich Foucault der gleichen Methode wie Adorno/Horkheimer in der Kritik der instrumentellen Vernunft, die das »Andere« nur noch einkreisen will. Und wie bei ihnen gerät die Methode in Widersprüche: »Wird die Archäologie des Schweigens [so bezeichnet Foucault seine Methode, T. B.] nicht der wirksamste, subtilste Wiederbeginn, die Wiederholung [...] des gegen den Wahnsinn vorgenommenen Aktes sein, und dies in genau dem Augenblicke, in dem er denunziert wird?«25, fragt der FoucaultSchüler Derrida. Tatsächlich versucht sie das, was sie kritisiert hatte, das »Andere« der Vernunft mit ihren eigenen Mitteln erfassbar zu machen, aufs Neue. Ausgeführt mit dem damaligen konzeptionellen Apparat, wird Foucaults frühe Vernunftkritik von kaum überwindbaren Problemen geplagt. Auch er selbst verabschiedet sich schon bald nach dem Erscheinen von Wahnsinn und Gesellschaft und insbesondere nach der Kritik Derridas von den meisten, insbesondere von den naturalistischen Elementen.26 Die künftige Kritik der Vernunft und der Humanwissenschaften, die für Foucault interdependent sind, soll ohne einen zum Quasi-Subjekt verdichteten Gegenentwurf, welcher der Wahnsinn war, auskommen.27 Aus diesem Prolegomenon rettet sich nur die grundsätzliche archäologische Intention, welche die regionalen Fundamente unserer Erfahrung freilegen will, in die erste Hauptphase des Foucault’schen Werkes.

25 Derrida 1972: 59. 26 Allerdings leuchtet dieser Naturalismus im Zusammenhang mit dem Phänomen Wahnsinn auch noch in späteren Interview-Äußerungen auf. Vgl. TS: 138. 27 Vgl. Foucaults Selbstkritik: »[...] wodurch das Buch zeigte, in welchem Maße man noch bereit war, ein anonymes und allgemeines Subjekt der Geschichte zuzugestehen« (AW: 29); er erklärt schon zwei Jahre später, dass »unser Reflexionsstand uns unwiderruflich von einer ursprünglichen Sprache fernhält« (GK: 13).

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2.2 Archäologie – Die Kritik der Humanwissenschaften 2.2.1 Vom Krypto-Strukturalismus zur archäologischen Diskursanalyse Foucault setzt Derridas Naturalismus-Kritik in den folgenden Werken konsequent um: Die Archäologie des klinischen Blickes – so der Untertitel der Geburt der Klinik – hütet sich davor, mit einer unverfälschten Körperlichkeit, die durch den Blick der Ärzte bzw. durch bestimmte Praktiken entfremdet werde, zu argumentieren. Die Intention bleibt unverändert eine Aufklärung – in diesem Falle der medizinischen Wissenschaft – über ihre eigenen Grundlagen. Auch hier, so Foucault, verlaufe die Wissenschaftsgeschichte keineswegs linear in einer stetigen Aufwärtsbewegung, sondern in Brüchen und grundlegenden Restrukturierungen. Er bemüht sich, den Mythos eines in einer Popper’schen Logik der Forschung begründeten Fortschritts in den Wissenschaften – hier der Medizin – zu entzaubern. Seine Argumentation basiert hier noch auf dem Herausarbeiten von nichtdiskursiven, etwa institutionellen oder politischen Faktoren als Bestimmungsgründen für die Entwicklungen in der Medizin. In ihrer modernen Form manifestiert sich nicht das kumulierte Wissen einer langen, aufsteigenden Forschungstradition, die moderne Medizin ist in einem nicht zu unterschätzenden Maße das Produkt kontingenter politischer Entscheidungen, die eine bestimmte Art und Weise der Formierung einer Wissenschaft ermöglicht haben. Auch im ersten Hauptwerk der archäologischen Phase, der Ordnung der Dinge, geht es Foucault um das Herausarbeiten kontingenter Fundamente – diesmal in der Geschichte der Humanwissenschaften. Er versucht ein weiteres Mal, anhand der drei schon bekannten Epochen, die Entstehung der modernen Humanwissenschaften bzw. die Bedingungen ihrer Entstehung aufzuzeigen.28 Foucault operiert nun mit dem Begriff der episteme, welcher als die Erkenntnisord28 Der Begriff der Humanwissenschaften und die entsprechende Klassifizierung einzelner Disziplinen entstammt der Tradition der französischen epistemologie, die auch Foucaults Denken stark geprägt hat. Es soll sich um diejenigen Wissenschaften handeln, die das Erkenntnisobjekt »Mensch« etablieren. Die konkrete Zuordnung einzelner Disziplinen bleibt allerdings bei Foucault manchmal unklar. Weitgehend unbestritten ist die Zugehörigkeit von Psychologie, Politologie, Geschichtswissenschaft, Medizin, Biologie und Ökonomie zur Klasse der Humanwissenschaften. Aber selbst in diesem Kernbereich muss differenziert werden, da Biologie und Ökonomie beispielsweise nur insofern als Humanwissenschaften gelten sollen, als sie sich mit dem einzelnen, lebenden Individuum oder mit bestimmten Gruppen von Menschen beschäftigen (vgl. OD: 418 ff.).

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nung einer bestimmten Epoche angesehen werden kann. Diese episteme fungiert als ein »historisches apriori« (OD: 24), wie es bei Foucault heißt. Sie ist eine Art Hintergrundwissen der Wissenschaftler, sie konstituiert ihr Weltbild und strukturiert ihre Erfahrung bzw. Erkenntnis. Die episteme kann damit als historisierter kantischer Kategorienapparat aufgefasst werden.29 Es ist das Ziel Foucaults, diese episteme für die jeweilige Epoche herauszuarbeiten. Die episteme der Renaissance sei geprägt vom Prinzip der Ähnlichkeit oder Analogie: »Man mußte den unendlichen Reichtum einer zwischen den Zeichen und ihrem Sinn als Drittes eingeführten Ähnlichkeit, die Monotonie, die die gleiche Zerteilung der Ähnlichkeit dem Bezeichnenden und dem von ihm Bezeichneten auferlegte, anpassen.« (OD: 63) Wörter bzw. Zeichen und Dinge – so die wörtliche Übersetzung des Titels aus dem Französischen – verweisen in ihren Similaritäten unendlich aufeinander. Die »Ordnung«, die hier noch keine richtige ist, ist ein allumfassendes Netz der Ähnlichkeiten. Die Klassik bricht mit Analogien und Verweisungen, für sie ist das »Projekt einer erschöpfenden Ordnung« (OD: 111) kennzeichnend. Zentral für dieses und die episteme ist der Gedanke der Repräsentation: Die Zeichen erfahren gegenüber der Renaissance eine massive Aufwertung. Ihnen wird nun selbst die Kraft der Repräsentation zugetraut, während diese früher in der Ähnlichkeit lag. Die Sprache wird zu einem völlig transparenten Medium, über das sich die Natur wie in einem Spiegelbild zu erkennen gibt. Wichtig ist Foucault vor allem, dass in jener Zeit der taxonomischen Wissenschaft, für welche die Enzyklopädie Diderots symptomatisch ist, kein Platz für ein erkenntnistheoretisches Bewusstsein des »Menschen« war, was er anhand von Velasquez’ Las Meninas eindrucksvoll klarmachen kann.30 Die Aufklärung kann das Repräsentierte, ja, sogar den Akt der Repräsentation denken, doch das erkenntnistheoretische Subjekt »Mensch«, das ein Repräsentiertes als Objekt konstituieren kann, fehlt. »Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht.« (OD: 373) Erst mit dem Eintritt in die Moderne, an deren Anfang Kants Kritiken stünden, taucht der Mensch »als schwieriges Objekt und souveränes Subjekt 29 In einem Interview stimmt Foucault nach anfänglicher Ablehnung einer solchen Charakterisierung schließlich zu: »Then I recognize that even my own are categories in this sense.« (HC: 97) 30 Das Bild zeigt ein Paar, das portraitiert wird. Durch verschiedene Spiegelbilder verweist das Bild beständig auf den Maler, ohne ihn jedoch zu zeigen, so dass aus ihm eine bedeutsame Leerstelle wird.

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jeder möglichen Erkenntnis auf« (ibid.). Die Ordnung der Dinge wird in der Moderne auf einem anthropologischen Fundament errichtet. Der Mensch wird zu der »seltsamen empirisch transzendentalen Dublette« (OD: 384), die er im Rahmen der mit Kant etablierten Subjektphilosophie31 immer bleibt: Transzendental in seiner Eigenschaft als Ermöglichungsgrund von Erkenntnis, empirisch im Falle der Humanwissenschaften als Objekt dieser Erkenntnis. Foucault gelingt nun eine höchst prägnante Analyse der Paradoxien jener anthropologischen episteme, die er an drei Dualismen festmacht: Empirisches/Transzendentales, Cogito/Ungedachtes und Zurückweichen/Wiederkehr des Ursprungs. Die moderne episteme verstrickt sich bei der Vermittlung dieser Paare in ein paradoxes, »unbeendbares Spiel eines reduplizierten Bezugs« (OD: 382). Der Schritt von empirischen Positivitäten zum transzendentalen Fundament ist ebenso wenig jemals erschöpfend durchzuführen wie das Einholen aller Voraussetzungen des »Cogito« in sein Bewusstsein. Die moderne episteme arbeitet sich vergeblich an der Vermittlung der drei Dualismen ab, die immer wieder aufs Neue aufbrechen und die Subjektphilosophie somit vor unüberwindbare erkenntnistheoretische Probleme stellen. Foucaults Kritik an den Humanwissenschaften fußt nun auf der Tatsache, dass diese sich jenes paradoxen erkenntnistheoretischen Apparates bedienten, »worin sich ihre Konfiguration radikal von den Wissenschaften im strengen Sinne unterscheidet« (OD: 438). »Wissenschaft« muss sich also aus der modernen anthropologischen episteme lösen, und in der Ordnung der Dinge nennt Foucault noch aussichtsreiche Kandidaten, die am ehesten in der Lage seien, diesen Anspruch einzulösen: Es sind die Psychoanalyse Lacans, die Ethnologie LéviStrauss’ und die Linguistik Saussures, die eine Phalanx der »Gegenwissenschaften« bilden und »nicht aufhören, diesen Menschen ›kaputt‹ zu machen, der in den Humanwissenschaften seine Positivität bildet« (OD: 454). Mit anderen Worten: Nur strukturalistische Humanwissenschaften können Humanwissenschaften sein. Allerdings lässt Foucault in seiner grundsätzlichen Parteinahme für die strukturalistischen Wissenschaften großen Interpretationsspielraum. Wird die Ordnung der Dinge teilweise als unzweideutiges Plädoyer für eine Strukturalisierung der Humanwissenschaften gelesen, so sind andere Kommentatoren der Meinung, Foucaults Faible für den Strukturalismus gehe nur so weit, dass er die 31 Im Unterschied zu Habermas benutzt Foucault ausschließlich den Ausdruck »Subjektphilosophie«, beide scheinen jedoch nicht zwischen dieser und der »Bewusstseinsphilosophie« einen Bedeutungsunterschied zu sehen. Allgemein wird jedoch die Bewusstseinsphilosophie als eine mögliche Form von Subjektphilosophie angesehen.

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entsprechenden Humanwissenschaften für die reflektiertesten halte, da sie sich über ihre instabile Konfiguration im Klaren seien, aber auch wüssten, dass sie diese nicht überwinden können.32 Hatte Foucault in der Ordnung der Dinge noch zumindest mit dem Strukturalismus sympathisiert, was er schon im Vorwort zur deutschen Ausgabe energisch abstreitet,33 so kann von einer solchen Sympathie in der Archäologie des Wissens keine Rede mehr sein. Sie ist eine methodologische Meta-Reflexion auf das in der Ordnung der Dinge noch implizit verwendete theoretisch-methodologische Modell, die aber auch gewichtige »Korrekturen und innere Kritiken nachreicht« (AW: 29). Hinsichtlich der Selbstkritik sind zwei Punkte herauszustellen: Die Diskontinuität der (Wissenschafts-)Geschichte aufzuzeigen, war schon vorher ein zentrales Anliegen Foucaults gewesen. Nun radikalisiert er dieses Projekt, indem er an die Stelle der Untersuchung aufeinanderfolgender episteme die Analyse einer Vielzahl von Diskursen bzw. diskursiver Praktiken setzt.34 Die Archäologie wird damit zu einer Anleitung, wie Diskurse bestimmt und beschrieben werden können. Die Einheit des Diskurses besteht in den spezifischen Diskursregeln, die es in einer Diskursanalyse auf der Basis der geäußerten Sätze/Aussagen (énoncés) zu identifizieren gilt. Mit Hilfe der Diskursregeln glaubt Foucault erklären zu können, wie sich bestimmte Aussagen als »wahr« etablieren können, andere hingegen aus dem Feld der Wahrheit ausgeschlossen bleiben. Die Formierung solcher Diskursregeln vollzieht sich der Archäologie des Wissens zufolge nur noch im Diskurs selbst. In der Geburt der Klinik hatte Foucault noch nichtdiskursive Praktiken für mitverantwortlich für die Entstehung und die Entwicklung einer Wissenschaft bzw. eines Diskurses gehalten, diese Auffassung ist einer diskursiven Autonomie gewichen, der schon in der Ordnung der Dinge »the Sovereignty of the Episteme«35 entsprochen hatte.

32 Foucault sei nur »ironically tolerant of the structuralist movement« (White 1994: 28). 33 »Ich habe es nicht in ihre winzigen Köpfe [der französischen Kommentatoren, T. B.] kriegen können, daß ich keine der Methoden, Begriffe und Schlüsselwörter benutzt habe, die die strukturale Analyse charakterisieren.« (OD: 15) Da Foucault sich derart vehement weigert, die strukturalistischen Anleihen, die er in der Ordnung der Dinge noch macht, einzugestehen, erscheint es berechtigt, mit Bezug auf dieses Werk von einem Krypto-Strukturalismus zu sprechen. 34 Eine bündige Definition dessen, was als »Diskurs« bezeichnet wird, findet sich in der Archäologie des Wissens nicht. Doch der Begriff wird mit einer Reihe von Hypothesen eingekreist. Vgl. AW: 49 ff. 35 Carroll 1994: 155.

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Mit Hilfe des Diskursbegriffs versucht Foucault als zweite Selbstkritik, die Archäologie vom Strukturalismus zu trennen: Der Unterschied beider Disziplinen liege in ihrem Regelbegriff: Wo der konsequente Strukturalismus von epochenübergreifenden, ahistorischen Regeln ausgehe, untersuche die Archäologie deren diskontinuierliche Transformation. Insbesondere suche die strukturale Linguistik jedoch nach konstitutiven Regeln, die Aussagen ermöglichen und diesen vorgeordnet seien. Damit befinde sie sich jedoch nach wie vor im Bannkreis der Subjektphilosophie, da sie von der empirischen Analyse der Aussagen zu den determinierenden Tiefenstrukturen der Sprache vordringen wolle. Der Regelbegriff der Archäologie sei ein anderer: »The question which I ask is not about codes but events: the law of existence of statements, that which rendered them possible – them and none other in their place.« (PSD: 59) Nicht die Regeln, die als Basis für alle möglichen Aussagen fungieren, sondern diejenigen, die bestimmte Aussagen ermöglichen, sind von Interesse für Foucault. Diese ergäben sich aus der relativen Häufung und Seltenheit von Aussagen, die in ihrer Positivität beschrieben werden könnten: »Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist.« (AW: 182)

Blanchot hat in diesem Zusammenhang mit Blick auf Foucault zu Recht festgestellt: »He became aware of how distasteful he found the notion of depth.«36 Dennoch ist festzuhalten, dass von diesem Positivismus in der Ordnung der Dinge noch nichts zu spüren ist. Hier ist noch die Rede davon, dass es sich bei der »Quasi-Kontinuität auf der Ebene der Ideen« um eine reine »Oberflächenwirkung« (OD: 25) handele, wohingegen das Ziel sein müsse, die eigentlichen Tiefenstrukturen der Diskontinuität in der Wissenschaftsgeschichte freizulegen.37 Erst mit der Archäologie des Wissens erfolgt eine Abkehr von derartigen Intentionen und mit ihr glaubt sich Foucault am Ziel: Der archäologischen Diskursanalyse gelinge es, die subjektphilosophischen Paradoxien der Humanwissenschaften zu überwinden. Nach seinem Willen soll sie zumindest an die Stelle von »that set of disciplines which we call history of ideas, history of sciences, history

36 Blanchot 1994: 64. 37 White spricht von Foucaults »interest in the deep structures of human consciousness« (White 1994: 279).

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of thought, history of knowledge« (PSD: 63 f.) treten. Doch diese Vorstellungen bleiben nicht unwidersprochen. 2.2.2 Die Archäologie in der Diskussion Der Begriff der episteme Der offensichtlichste Angriffspunkt, um die Ordnung der Dinge auszuhebeln, ist schnell gefunden. Bei Foucaults Begriff der episteme handelt es sich um ein äußerst gewagtes Konzept. Soll sich in ihm doch allem Anschein nach eine homogene und allgemeine Erkenntnisordnung einer Epoche fassen lassen. Träfe Foucaults Behauptung zu, wonach Wissenschaftsgeschichte nur synchron und nicht diachron betrieben werden kann, so müsste sich nachweisen lassen, dass sich die Wissenskonfiguration einer Epoche tatsächlich bis in jede (Human-) Wissenschaft hinein erstreckt, dass sich die Erkenntnisordnungen in den einzelnen Humanwissenschaften synchron verändern bzw. dass für diese Entwicklungen keinerlei intradisziplinäre Pfadabhängigkeiten festgestellt werden können. Kommentatoren und Kritiker haben sich insbesondere an der Widerlegung der ersten These versucht – und dies recht erfolgreich. So werden beispielsweise bestimmte time lags in der Entwicklung verschiedener Wissenschaften identifiziert, die an der Homogenität einer episteme Zweifel aufkommen lassen. Stelle man beispielsweise die Physik und die Mathematik der Biologie gegenüber, so zeige sich, dass die Biologie in einer bestimmten Epoche noch unter die taxonomische episteme gefasst werden kann, während Physik und Mathematik schon unter dem Zeichen der modernen episteme stehen.38 Nun ließe sich dieser von Piaget geäußerten Kritik entgegnen, dass sich die Homogenität der episteme nur auf die Humanwissenschaften erstrecke, Physik und Mathematik also nicht einschließe. Die grundsätzliche Stoßkraft des Vorwurfs lässt sich jedoch kaum abmildern. Auf der Basis eigener Quellenforschung demonstriert Huppert die Gleichzeitigkeit der analogischen und der taxonomischen episteme in der Medizin der Renaissance. Foucault habe nur durch eine höchst tendenziöse Auswahl seiner Quellen den Eindruck vermitteln können, man habe es in der Renaissance-Medizin mit quasi-magischem Analogie-Denken zu tun.39 Jene Kritiken 38 Piaget 1994: 406. 39 Huppert weist nach, dass es sich bei den von Foucault angeführten Gelehrten fast ausnahmslos um bekannte Magiere handelt. Er resümiert seine Kritik folgendermaßen: »What I should like to establish on firm ground, however, is that there was in the six-

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der episteme bilden den Auftakt einer langen Kritik-Tradition, in der Foucault über die verschiedenen Phasen seines Schaffens hinweg immer wieder seine einseitige, generalisierende und homogenisierende Perspektive zum Vorwurf gemacht wird. (Vgl. weiter unten vor allem Kapitel II 3.2.1) Im Gegensatz zu den im Folgenden zu behandelnden Kritikpunkten reagiert Foucault noch innerhalb der archäologischen Phase auf die Einwände gegenüber der episteme. 1968 wendet er sich gegen das, was er als Fehlinterpretation des Konzepts der episteme ansieht und versucht, den Gehalt des Begriffs zu spezifizieren: »The episteme is not a sort of grand underlying theory [...] the episteme is not a slice of history common to all the science [...] The episteme is not a general developmental stage of reason [...]« (PSD: 57).40 Doch über diese ex negativo Bestimmungen hinaus kann Foucault den Begriff kaum noch mit positiven Gehalten füllen: »[...] it is an open and doubtless indefinitely describable field of relationships [...] it is a simultaneous play of specific remanences [sic] [...] it is a complex relationship of successive displacements« (ibid.). Über derartige vage Andeutungen gehen seine Charakterisierungen dessen, was die episteme eigentlich sein soll, jedoch nicht hinaus. Es bleibt der Eindruck eines leeren Begriffs und eines Konzeptes, das über keinerlei analytische Stärke mehr verfügt. Hatte Foucault noch 1968 versucht, am Begriff der episteme festzuhalten, so fällt er schon 1969 der in der Archäologie des Wissens formulierten Selbstkritik zum Opfer. Foucault konzediert, in der Ordnung der Dinge noch zu sehr in »Termini kultureller Totalität« (AW: 29) gedacht zu haben. Mit der schon weiter oben erwähnten Verschiebung des Analyserahmens von der Makro-Ebene der episteme auf die Meso- und Mikro-Ebene der Diskurse will Foucault dem Vorwurf der Undifferenziertheit oder sogar des Reduktionismus begegnen. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Archäologie des Wissens zwar nicht viel mehr als eine Explizierung der Methode der Ordnung der Dinge. Doch die Modifikation des Regelbegriffs sowie vor allem die Zuwendung zu den Diskursen als Analyseeinheit zeigen deutlich, welche Entwicklung zwischen beiden Werken liegt. Vereinfachend ließe sich von einer strukturalistisch geprägten Archäologie teenth century, in France, a tradition of humanist learning which scoffed at magic, at the hermetic doctrines, at Paracelsus, signatures, correspondences, astrology, and all other faces of the ›system‹ glorified by Foucault as the episteme of the age, and that tradition was the dominant and respectable one.« (Huppert 1994: 63) 40 Hier wird deutlich die negative Theologie als wichtiges Stilmittel Foucaults sichtbar. Über sein gesamtes Werk hinweg erläutert Foucault immer wieder sehr ausführlich, was seine Konzepte nicht sind.

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in der Ordnung der Dinge und einer poststrukturalistischen Archäologie in der Archäologie des Wissens sprechen, da vor allem die Revision des Regelbegriffs eine Abgrenzung zum Strukturalismus bezeichnet und in diesem Sinne von einer poststrukturalistischen Konzeption gesprochen werden kann. Mit seiner Transformation zum poststrukturalistischen Diskursanalytiker hat Foucault allerdings noch nicht alle Vorwürfe gegenüber der Archäologie im Ganzen ausgeräumt, wenn manche auch, bezogen auf Die Geburt der Klinik, Die Ordnung der Dinge und die Archäologie des Wissens, unterschiedlich schwer wiegen. Der Vorwurf des Relativismus Wie Kuhn, so muss sich auch Foucault mit dem Vorwurf auseinandersetzen, seine Kritik der Wissenschaft führe nicht zu deren Verbesserung, sondern unterminiere die Begriffe der »Wissenschaft« und der »Wahrheit« selbst, da er Erkenntnis allein in Abhängigkeit von nur regionalen Wissensordnungen betrachte, deren Abfolge keiner Entwicklungslogik folge, so dass eine zunehmende Annäherung an eine objektive Wahrheit durch die Wissenschaft ausgeschlossen werde. Diesen Einwänden kann in der archäologischen Phase folgendermaßen begegnet werden: Foucault opfert zunächst keineswegs den Begriff der Wissenschaft als solcher. Seine Kritik bezieht sich ausschließlich auf die subjektphilosophischen Humanwissenschaften. Die Naturwissenschaften unterliegen diesem Verdikt beispielsweise keineswegs.41 Zudem ist Foucault zumindest in der Archäologie des Wissens durchaus der Meinung, dass man Humanwissenschaften, im Mindestfall Geschichtswissenschaften, betreiben könne – eben nur nach dem Modell der archäologischen Diskursanalyse. Dagegen sind die konventionellen Humanwissenschaften überhaupt keine Wissenschaften, sondern reine Chimären. Dies provoziert die Gegenfrage, woher Foucault überhaupt seine Norm der »Wissenschaft« bezieht, bzw. ob man nicht von einer spezifischen Wissenschaftlichkeit der konventionellen Humanwissenschaften sprechen könne.42 Als Antwort muss immer wieder auf die problematischen erkenntnistheoretischen Grundlagen der Subjektphilosophie verwiesen werden. Solange Foucault den Anspruch einlösen kann, mit der Diskursanalyse deren Engpässen zu entgehen, ist seine Wissenschaftskritik als Methodenkritik durchaus haltbar.

41 Gutting 1989: 255 vertritt entschieden diese Meinung. Auch Rouse 1993: 139 stimmt dieser Einschätzung zumindest bezüglich der archäologischen Phase zu. 42 So Visker 1991: 305.

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Der Vorwurf des Wahrheitsrelativismus basiert in einer ersten, kruden Version auf einem begrifflichen Missverständnis: Natürlich kann man Foucault leicht vorwerfen, seine (Human-)Wissenschaft steuere nicht mehr auf eine Wahrheit im Sinne der objektiven Beschreibung von an sich seienden Sachverhalten zu, da Foucault ja gerade diesen Wahrheitsbegriff attackiert. Wahrheit, so die Argumentation der Archäologie, bildet sich aus dem jeweiligen Diskurs heraus, sie ist ihm nicht vorgeordnet. Wahrheit ist das Produkt diskursiver Praktiken und mit Hilfe der Archäologie lässt sich die wirklichkeitserschließende Kraft des jeweiligen Wahrheitsregimes untersuchen. Foucault kann also auf einen anderen Wahrheitsbegriff verweisen und die Kritik zunächst entkräften. Aber gleichzeitig taucht der Relativismus-Vorwurf in seiner zweiten Variation auf, als Frage nach der Konsistenz dieses Wahrheitsbegriffs mit dem Programm der Archäologie: Wie will Foucault überhaupt Zugang zu den epistemen oder Diskursen gewinnen, die beispielsweise in der Klassik angesiedelt sind, und wie will er über sie wahre Aussagen machen? Das Zugangsproblem besteht erstens darin, dass Foucault, gemäß den durchaus plausiblen Argumenten der philosophischen Hermeneutik, zur bloßen Identifikation von vergangenen Diskurseinheiten schon ein Vorverständnis dessen haben muss, worum es im Diskurs geht. Die Wertungen, die dieses Vorverständnis beinhaltet, wollte jedoch der distanzierte archäologische Blick um jeden Preis vermeiden, um dem dritten Dualismus zu entgehen. Selbst wenn dieses Zugangsproblem gelöst werden könnte, scheint sich Foucault doch in einen performativen Widerspruch zu verstricken, wenn er einerseits einen nietzscheanischen Wahrheits-Perspektivismus vertritt, sich selbst aber davon ausnimmt, da er offensichtlich für sich in Anspruch nimmt, seinen eigenen Diskurs transzendieren zu können. Schon allein diese Annahme erscheint vor dem Hintergrund seiner Charakterisierungen von Diskurs und vor allem episteme inkonsistent. Zumindest in Letzterer manifestierte sich ein radikaler Kontextualismus, der von hermetisch abgeschlossenen Erkenntnis- bzw. Wahrheitsregimen ausging. Wenn Foucault dann auch noch über diese für einen externen Beobachter doch angeblich opaken Wahrheitsregime sogar kontextunabhängige wahre Aussagen machen zu wollen scheint, setzt er sich in offenkundigen Widerspruch mit seinen eigenen Prämissen.43 Dieser Widerspruch 43 Dieser Anschein lässt sich kaum vermeiden, denn Foucault spricht beispielsweise von der Archäologie als einer »Ethnologie der Kultur, der wir selbst angehören. Ich versuche, mich außerhalb der Kultur zu stellen, der wir angehören, [...] um zu sehen, wie sie tatsächlich hat entstehen können.« (WPF: 776)

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lässt sich auch noch grundsätzlicher verstehen. Allein die Tatsache, dass Foucault in der Archäologie des Wissens den Anspruch erhebt, mit der archäologischen Diskursanalyse eine anderen Ansätzen überlegene Methode oder gar Theorie entwickelt zu haben, verträgt sich nicht mit seinem expliziten Wahrheitsperspektivismus.44 Foucault übersieht völlig den selbstreferentiellen Charakter der Archäologie und wendet die Prämissen der Archäologie nicht auf diese selbst an. Überwindung der Subjektphilosophie? Das Grundanliegen der Archäologie war die Kritik und die Überwindung der Subjektphilosophie. Der erste Punkt ist Foucault zweifellos gelungen. Die Übersetzung dieser Analyse der Defizite der Subjektphilosophie in den Vorwurf der mangelnden Wissenschaftlichkeit der Humanwissenschaften macht jedoch eigentlich nur auf der Grundlage Sinn, dass er die Archäologie als Modell einer nicht subjektphilosophischen Humanwissenschaft präsentieren kann. Bleibt Foucault den Beweis schuldig, dass die Humanwissenschaften auch mit anderen erkenntnistheoretischen Prämissen operieren könnten, dann kann Visker mit Recht eine »besondere« Wissenschaftlichkeit der Humanwissenschaften postulieren (s.o.). Dies scheint der Fall zu sein, da bei Foucault alle drei Dualismen erneut auftreten: Dreyfus/Rabinow haben herausgearbeitet, dass Foucault den Regelbegriff nicht nur in dem von ihm gegen den Strukturalismus vertretenen Sinne benutzt, sondern auch als beherrschende Wirkkraft. Dies zeigt sich beispielsweise an einzelnen Wendungen in der Archäologie des Wissens: Die Diskursregeln würden »vorschreiben, was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden mußte« (AW: 108, vgl. auch: 208 u. 172). Diese Regeln seien keine (transzendentalen) Ermöglichungs-, sondern Existenzbedingungen, dennoch scheine Foucault hier wieder die Unterscheidung von Grundlegendem und Abgeleitetem einzuführen, er gehe von »post hoc-Aktivitäten zu a prioriFundamentalem über«.45 Der gleiche Dualismus zeigt sich im Begriff des »histo44 Auf diese Inkonsistenz weist Rorty hin, der gegen Hackings These, die Archäologie sei eine »theory of knowledge« einwendet, dass für Foucault als Nietzscheaner gelten müsse: »He views the very idea of ›theory‹ as tainted with the notion that there is something there to be contemplated, to be accurately represented in thought.« (Hacking 1994: 184 und Rorty 1994b: 263 f.) 45 Dreyfus/Rabinow 1987: 119.

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rischen Apriori«. Hier wird geschichtliches Gewordensein und Erkenntnisermöglichung in einem Begriff zusammengefasst, der damit zum Oszillieren zwischen Empirischem und Transzendentalem verurteilt ist. Hinsichtlich des zweiten Dualismus muss kritisch auf Foucaults Einführung des Begriffs des »Archivs« (AW: 190) hingewiesen werden. Die Wiederkehr der Problematik des Verhältnisses zwischen Cogito und Ungedachtem lässt sich an ihm besonders gut belegen, denn laut Foucault ist es »nicht möglich, unser eigenes Archiv zu beschreiben, da wir innerhalb seiner Regeln sprechen« (AW: 189). Damit findet sich im Begriff des Archivs eben jenes beständige Scheitern des Versuchs, alle unbewussten Erkenntnisvoraussetzungen in das Cogito einzuholen, wieder, das Foucault im subjektphilosophischen Denken beobachtet und als paradox gekennzeichnet hatte. Die Wiederholung des dritten Dualismus konnte oben anhand des historisch-hermeneutischen Problems der Archäologie gezeigt werden. Die Autonomisierung des Diskurses – Habermas’ Bedenken gegenüber der Archäologie Die beiden nun zu thematisierenden Punkte hat auch Habermas im Philosophischen Diskurs der Moderne gegen Foucault angeführt. Sie gehen jedoch nicht auf ihn zurück. Zwar formuliert er auch andere Kritikpunkte gegen die Archäologie, aber diese sind kaum verwendbar, da sie auf Charakterisierungen Foucaults beruhen, die erst in der genealogischen Phase zutreffen.46 Die Vermischung der beiden Phasen ist ein verbreitetes Problem in der Foucault-Rezeption, im Falle Habermas kann sie aber auch als Argumentationsstrategie gedeutet werden, die Habermas verfolgt, um die Lösung von Problemen, die sich mit der Verschiebung vollzieht, nicht positiv vermerken zu müssen. Werden die Konzepte der Archäologie und der Genealogie zu zwei Seiten der gleichen Medaille synchronisiert, so können die einen nie als eine partielle Lösung von Problemen der anderen auf einer diachronen Ebene angesehen werden. In der Diskussion um Habermas’ Kritik an Foucault wird diese taktische Homogenisierung oftmals als exemplarisch für eine umfassendere Strategie Habermas’ im Umgang mit anderen Theorien aufgefasst. Villinger/Dotzler teilen beispielsweise die hier vorgebrachte Kritik an einer homogenisierenden Lesart Foucaults durch Habermas. Deren eigentliches Ziel sei es jedoch, Foucault einer »modernistischen« Rück46 Vgl. z. B.: PhDM: 292, wo Habermas das Positivismus-Zitat aus der Archäologie des Wissens kurzerhand zum Selbstverständnis des Genealogen erklärt.

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übersetzung zu unterwerfen, indem »modernistische« Kategorien wie die Einheit des Werkes oder die Autorschaft auf Foucault angewandt würden.47 Laut dem von vielen Seiten erhobenen Vorwurf importiert Habermas Foucaults Ansatz in den (philosophischen) Diskurs der Moderne (oder auch der Kritischen Theorie), dessen Regeln und Ziele Foucault eigentlich völlig fremd seien. Auf dieser Basis bereite es Habermas dann keinerlei Probleme, Foucault die Rolle des Anti-Modernisten im Diskurs der Moderne zuzuschreiben, dessen Position sich unweigerlich in Widersprüche verstricke.48 Die Plausibilität einer solchen Kritik an Habermas’ Interpretationen, die Fremdes systematisch an den eigenen Diskurs anpassten,49 ist grundsätzlich sicherlich hoch. Jedoch kann der Vorwurf einer gewaltsamen Assimilierung im Falle Foucaults nicht vollständig aufrechterhalten werden, da ihm jene Kontexte – sei es der Diskurs der Moderne oder die Kritische Theorie – in manchen Aspekten nicht so gänzlich fremd sind, wie es die Kritik an Habermas nahe legt: Zumindest hat sich Foucault in der letzten Phase seines Schaffens ausdrücklich in der Tradition der Frankfurter Schule und damit der Kritischen Theorie verortet, und was den Diskurs der Moderne angeht, so scheint Foucault mit der Einschätzung Habermas’, in jenem Diskurs seien alle Teilnehmer Zeitgenossen der Jung-Hegelianer in gewisser Weise übereinzustimmen, wenn er schreibt: »Aber um Hegel wirklich zu entrinnen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim vielleicht nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen Hegel vielleicht noch von Hegel stammt; man muß ermessen, inwieweit auch noch unser Anrennen gegen ihn seine List ist, hinter der er uns auflauert: unbeweglich und anderswo.« (ODis: 50)

47 Villinger/Dotzler führen zunächst aus, Habermas’ Darstellung von Archäologie und Genealogie habe »meist wenig mit Foucault zu tun«, und führen dies auf die Vermengung der Thesen der verschiedenen Bücher »im Namen des einen Denkens« zurück, die jedoch bei Foucault den Charakter »streng regionaler Aussagen« hätten. Villinger/ Dotzler 1986: 67 u. 69. Auch Dean kritisiert Habermas’ »modernist translations« ebenso wie Margolis. Vgl. Dean 1994: 128 und Margolis 1993: 51. 48 »Effectively, what Habermas has done is construe Foucault as if he were an ordinary modernist who, unaccountably, subverts his own endeavor by insisting on the paradoxes of ›power‹ – hence, plays postmodernist to his own modernism.« (Margolis 1993: 51) 49 Habermas hat sich natürlich immer wieder gegen diesen in unterschiedlichen Formen erhobenen Vorwurf gewandt: »Ich presse nicht alles in denselben theoretischen Rahmen, assimiliere nicht alles an dieselben Grundbegriffe einer holistischen Großtheorie.« (VZ: 150)

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In diese Richtung weisen auch die Worte, die Foucault Mitte der sechziger Jahre wählt, um einen Vortrag von Jean Hyppolite anzukündigen: »Jede philosophische Reflexion von heute ist ein Dialog mit Hegel.«50 Schnädelbach ist sogar der Meinung, dass Foucaults gesamtes Projekt einer Archäologie der Humanwissenschaften auf einer »junghegelianischen Projektion« auf den philosophischen Diskurs der Moderne als Ganzem beruhe.51 Foucault und Habermas scheinen also zumindest insoweit übereinzustimmen, als sie den philosophischen Diskurs der Moderne mit Kant beginnen lassen,52 und in diesem Diskurs – zu Recht oder zu Unrecht53 – Hegel eine hervorgehobene Position zuschreiben.54 Allein die Tatsache, dass Habermas Foucault in diese Kontexte einordnet, scheint mir daher nicht problematisch zu sein. Problematisch wird solch ein Vorgehen erst, wenn man, wie es bei Habermas teilweise den Anschein hat, sowohl den Diskurs der Moderne als auch den der Kritischen Theorie als Lernprozesse rekonstruiert, die unzweideutig auf Habermas’ eigene Philosophie als Ziel und einzig sinnvolle Lösung hindeuten. Erst eine solche Vorstrukturierung des Terrains muss Foucaults Ansatz – wie auch jeden anderen – notwendigerweise als defizitär erscheinen lassen. Auf diese Fragen wird noch mehrmals zurückzukommen sein. (Vgl. weiter unten Kap. II 3.2.2.) Nach diesen Erwägungen zur allgemeinen Herangehensweise Habermas’ können nun die einzelnen Argumente betrachtet werden. Die zunehmende Abkoppelung des Funktionierens von Diskursen von gesellschaftlichen Mechanismen in den Arbeiten Foucaults bringt ein Problem 50 Zitiert nach Eribon 1991: 269. 51 Schnädelbach 1989: 240; bei Kermode findet sich im Zusammenhang mit der Archäologie gar die Frage: »Is it reasonable to discover in Foucault an almost unrecognizably transformed Hegelian, a disciple who disowns almost all the master’s thinking except its Joachimite core?« (Kermode 1994: 13) 52 Zu diesem Ergebnis gelangen Dreyfus/Rabinow 1990: 57; Habermas’ gleichnamige Vorlesungsreihe lässt den Diskurs allerdings bekanntlich mit Hegel beginnen. 53 Schnädelbach 1989: 260 f. und Castoriadis 1991: 187 weisen energisch darauf hin, dass Hegel wohl eher an der Aufhebung der Moderne gelegen sei. »Hegel represents, in fact, the full opposition to modernity within modernity.« 54 Die Parallelen erstrecken sich auch noch auf die Einschätzung, dass Nietzsches Philosophie einen Versuch darstellt, aus diesem von Hegel dominierten Diskurs der Moderne auszubrechen. Vgl. ODis: 50. Da beide auch über die Einordnung von Foucault selbst in die nietzscheanische Tradition übereinstimmen, scheint mir die Selbstverortung von Foucault bezüglich des philosophischen Diskurses der Moderne und seiner Protagonisten nicht übermäßig weit von der Habermas’ entfernt zu sein.

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mit sich, auf das Denker von Wittgenstein bis Aristoteles unabhängig von der Archäologie aufmerksam gemacht haben und das Habermas nun auf die Diskursregeln überträgt: »Als fundamental gelten die archäologisch zugänglichen Regeln [...] Diese Regeln können aber einen Diskurs nur in den Bedingungen seiner Möglichkeit verständlich machen; sie reichen nicht hin, um die Diskurspraxis in ihrem tatsächlichen Funktionieren zu erklären. Es gibt ja keine Regeln, die ihre eigene Anwendung regeln könnten.« (PhDM: 315)

Um eine Regel applizieren zu können, bedarf es einer weiteren Regel und für deren Anwendung einer weiteren, was auf einen regressus ad infinitum hinausläuft, falls nicht Instanzen eingeführt werden, die ihn beenden können. Über eine solche Instanz verfügt Foucault nicht. Es handelt sich hier um ein Argument, das grundsätzlich Gültigkeit beanspruchen darf, jedoch in seiner Schärfe vom Regelbegriff Foucaults abhängig ist. Die Formulierung Habermas’, es handele sich um Regeln, die den Diskurs »in den Bedingungen seiner Möglichkeit verständlich machen«, legt nahe, dass er hier nach wie vor von konstitutiven Regeln ausgeht. Doch während auf diese und damit die Ordnung der Dinge eine solche Kritik zweifellos zuträfe, würde Foucault sie wohl mit Hinweis auf den modifizierten Regelbegriff der Archäologie des Wissens zurückweisen wollen. Doch wie die weiter oben erwähnte Kritik von Dreyfus/Rabinow an jenem Regelbegriff deutlich gemacht hat, gelingt Foucault der Schritt hin zu einem »glücklichen Positivismus« nicht vollständig, und in dem Maße, in dem ein Rückfall des Regelbegriffs vorliegt, trifft auch die Kritik von Habermas’ Seite. Der zweite Kritikpunkt Habermas’ der mit Recht auf die Archäologie bezogen werden kann, ist das »ungeordnete Aufblitzen und Vergehen neuer Diskursformationen« (PhDM: 297), welches auch letztlich mit der Autonomisierung der Diskurse zusammenhängt. Die Archäologie ist in ihrer idealtypischen Form eine Methode der komparativen Statik geworden, die nur noch an chronologisch aufgereihten »Momentaufnahmen« interessiert ist. Jegliche diachrone Verbindung zwischen den Diskursen, jegliche Dynamik, ist außerhalb ihres Blickfeldes geraten, im Gegensatz zu den frühen Werken, wie z. B. Die Geburt der Klinik, wo diese Dynamik noch mit enthalten war.55 Für Foucault erschließt sich vor allem in der Ordnung der Dinge die Systematik der Wissenschaften nur noch auf einer 55 Dies bezeichnet einen wichtigen Unterschied zwischen Kuhns »Paradigma« und Foucaults »episteme«, bzw. den entsprechenden Dynamiken. Während Kuhn mit der Krise eines alten und deren Überwindung in einem neuen Paradigma noch ein gewisses Maß an Kausalität in der Wissenschaftsgeschichte gesichert wissen will, erteilt Foucault zumindest in der Ordnung der Dinge jeglicher Kausalität eine Absage.

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synchronen Ebene. Dies ist nur konsequent, da wir es seiner Auffassung nach in der Wissenschaftsgeschichte nicht mit einer Abfolge unterschiedlicher Theorien und Methoden im Umgang mit den gleichen Problemen oder wenigstens den gleichen Objekten zu tun haben. Vielmehr werden die Objekte der Wissenschaften von diesen selbst immer wieder neu und auf unterschiedliche Weise konstituiert. Gegenüber dieser grundsätzlichen Differenz erschienen etwaige Kontinuitäten im diachronen Vergleich unbedeutend. Diese völlige Abkehr vom Versuch, kausale Erklärungen an die Wissenschaftsgeschichte, oder genauer, die Geschichte der Humanwissenschaften heranzutragen, hat nicht erst bei Habermas Widerspruch hervorgerufen. Schon Anfang der siebziger Jahre spricht sich Piaget entschieden gegen Foucaults »structuralism without structures« aus, in denen die episteme »mere diagrams, not transformational systems« seien.56 In der Folge hat sich Piagets Angriff zum Kardinal-Vorwurf gegen Foucaults Archäologie entwickelt,57 der aber nicht völlig unerwidert geblieben ist. White konstatiert: »There is a transformational system built in the succession of forms of the human sciences, even though Foucault appears not to know that it is there.«58 Er glaubt, zeigen zu können, dass die Abfolge der episteme einer Logik gehorcht, die Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen sehr nahe steht. So habe sich zum Beispiel die episteme der Ähnlichkeit in einer endlosen Auflistung von Similaritäten und Analogien aufgerieben, an deren Ende nur die Einsicht stand, dass sich zwar alle Dinge ähnlich, aber im gleichen Umfang eben auch unähnlich sind. Die Dinge gleichen sich ebenso sehr wie sie sich unterscheiden. Diese Einsicht habe die Wissenskonzeption der episteme so grundlegend erschüttert, dass diese schließlich aufgegeben wurde. An ihre Stelle trat die episteme der ordnenden Klassifikation, da sie eine Art und Weise darstellte, mit jener nun entdeckten unendlichen Unterschiedlichkeit der Dinge umzugehen. Whites Interpretation der Ordnung der Dinge ist durchaus originell, ihr kann jedoch eine sehr selektive Lesart des Werkes nachgewiesen werden und so kann auch sie nicht das Problem fehlender Kausalbeziehungen überzeugend lösen. Foucaults Ablehnung der großen geschichtsphilosophischen Entwürfe ist sicherlich plausibel, aber dies bedeutet keinesfalls, dass sich Geschichtswissenschaft nicht mehr mit regionalen, sich widerstrebenden Entwicklungstendenzen und Dynamiken beschäftigen dürfte. Erschöpfende Kausalitäten auf einer ge56 Piaget 1994: 407. 57 Vgl. statt vieler Huppert 1994: 56. 58 Vgl. zum Folgenden White 1994: 46.

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schichtlichen Makro-Ebene konstruieren zu wollen, ist nicht mehr akzeptabel, aber beispielsweise spezifische Praktiken als notwendige – nicht hinreichende – kausale Faktoren zu identifizieren, hat nicht zuletzt Foucault selbst bis zum Beginn59 und in der Folge der archäologischen Phase für möglich gehalten.

3.

Wissenschaftskritik bei Habermas und Foucault: Gemeinsamkeiten, Differenzen, Kontroversen

Beim Versuch, die unterschiedlichen Grammatiken der Wissenschaftskritik bei Foucault und Habermas herauszuarbeiten, zeigt sich schnell, dass der Terminus »Wissenschaftskritik« weiterer Spezifizierung bedarf, um den jeweiligen Nuancen gerecht zu werden. Im Anschluss an Heuermann lässt sich Wissenschaftskritik auffächern in Erkenntniskritik, Methodenkritik, Fortschrittskritik, Gesellschaftskritik, Ideologiekritik und Technologiekritik.60 Im Folgenden soll Wissenschaftskritik als Methodenkritik verstanden werden, sofern die grundsätzliche Möglichkeit wahrer Erkenntnis nicht ausgeschlossen, jedoch als von den »richtigen« Verfahren abhängig angesehen wird. Dagegen soll Erkenntniskritik als radikalisierte Methodenkritik gelten, die daran zweifelt, dass objektive bzw. wahre Erkenntnis erreichbar ist – mit welchen Methoden auch immer. Beispielsweise wäre Poppers Kritik des Verifikationismus in diesem Sinne als Methodenkritik zu bezeichnen, während es sich bei Nietzsches Perspektivismus um eine Erkenntniskritik handelte. Ähnlich dem berühmten Aufsatz Horkheimers Traditionelle und Kritische Theorie aus dem Jahre 1937 entfalten sich auch die kritischen Ansätze Foucaults und Habermas’ auf der Grundlage der Wissenschaftskritik. Habermas’ Erkenntnis und Interesse ließe sich sogar als Versuch verstehen, Anschluss an Horkheimers Traditionelle und Kritische Theorie zu gewinnen, dienen doch wie in jenem Werk auch hier die positivistischen Wissenschaften, an deren Spitze die Naturwissenschaften stehen, als Negativfolie für die Entwicklung dessen, was Habermas als kritische Wissenschaft bezeichnet. Foucault nutzt dagegen die im anthropologischen Schlummer befangenen Humanwissenschaften als eine solche Negativfolie und nimmt gerade die Naturwissenschaften von seiner Kritik aus, deren

59 Dies gilt unter Vorbehalten auch noch für die Geburt der Klinik. 60 Vgl. Heuermann 2000.

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Status als Wissenschaften zumindest unbestritten sei.61 Stellt man sich die Frage, wo im Feld der wissenschaftlichen Disziplinen der Hauptfokus der jeweiligen Kritiken zu finden ist, ob es Disziplinen gibt, die als unproblematisch gelten und welche dies sind, so erscheinen dementsprechend Habermas’ und Foucaults Auffassungen als spiegelverkehrte Pendants: Foucault lobt die Naturwissenschaften und kritisiert die Humanwissenschaften, Habermas kritisiert die Naturwissenschaften bzw. ihre positivistische Logik und betont dagegen die spezifische Bedeutung von beispielsweise historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften, die wohl auch in näherer Verwandtschaft zu den kritischen Wissenschaften angesiedelt sind. Dieses Spiegelbild bedarf jedoch einer Einschränkung: Es ist noch einmal auf die unterschiedlichen Klassifizierungen der einzelnen Disziplinen in der französischen und der deutschen Tradition hinzuweisen. Was Foucault Humanwissenschaften nennt, stimmt nicht völlig mit dem überein, was Habermas Geistes- und Sozialwissenschaften nennt. Zwar werden sich beide Positionen schnell darüber einigen können, dass die Astronomie eine Naturwissenschaft ist, doch wie die Biologie einzuordnen sei, dürfte kontrovers bleiben, bedenkt man, dass Foucault sie zumindest an vereinzelten Stellen in der Ordnung der Dinge je nach Vorgehensweise als Natur- oder als Humanwissenschaft betrachten will. Es kann also nur von einer weitgehenden und keiner völligen Kongruenz gesprochen werden. Trotz dieser konträren Parteinahmen für oder gegen die unterschiedlichen Disziplinen, mit denen ein entsprechend unterschiedlicher Kritikfokus einhergeht, lässt sich in der grundsätzlichen Intention der Wissenschaftskritiken ein gemeinsamer Zug verzeichnen, der sich in einer gewissen Korrespondenz erkenntnistheoretischer Prämissen äußert. Sowohl Habermas als auch Foucault setzen bei einer Historisierung der ahistorischen kantischen Erkenntnistheorie an.62 Habermas nimmt den Weg über Hegels Kritik an Kant und Marx’ Kritik an Hegel. Indem er das Potential der jeweiligen Einwände ausschöpft, ohne die Kurzschlüsse zu wiederholen, versucht er über die quasi-transzendentalen Erkenntnisinteressen einen Begriff der Reflexion zu gewinnen, in dem radikalisierte Erkenntnistheorie in Gesellschaftskritik übergeht. Als Ergebnis der Habermas’schen Denkbewegung steht am Ende eine im Geist des deutschen Idealismus interpretierte Psychoanalyse als kritische Wissenschaft par excellence. Foucaults Weg der Historisierung dessen, was man das uneingestandene a priori der Erkenntnistheorie Kants nennen 61 Vgl. Gutting 1989: 255 und Rouse 1993: 139. 62 Vgl. Müller-Doohm 2000: 90 sowie Foucaults Aussage: »I try to historicize to the utmost in order to leave as little space as possible to the transcendental.« (HC: 99)

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könnte, verläuft über den Begriff der episteme und endet auf der Ebene der Diskurse. Beide Begriffe bezeichnen mehr oder weniger globale und historisch variable Erkenntnisordnungen, die an die Stelle der ahistorischen Kategorien des kantischen Subjekts treten. Die Foucault’sche Denkbewegung mündet in die archäologische Diskursanalyse, also die Beschreibung der in jenen Diskursen herrschenden Regeln auf der Grundlage der zu beobachtenden Häufung und Verknappung von Aussagen. Die gemeinsam vertretene Historisierung der Erkenntnis fällt jedoch bei Foucault sichtlich radikaler aus, werden die Objekte aus seiner Perspektive doch nicht nur historisch-variabel perzipiert, sondern sogar durch die jeweilige Erkenntnisordnung bzw. die erkennenden Subjekte als deren Agenten erst als solche konstituiert. Ist so zwar beiden Wissenschaftskritiken eine Grundintuition gemein, so folgen hieraus doch stark divergierende Konzeptionen, die sogar – wie weiter unten noch zu zeigen ist – in massivem Konflikt zueinander stehen. Greift man erneut auf die weiter oben eingeführte Auffächerung des Begriffs Wissenschaftskritik zurück, so fällt der zumindest dem Anschein nach methodenkritische Charakter beider Programme ins Auge, der sich aus den jeweiligen erkenntnistheoretischen Prämissen ergibt: In der Ordnung der Dinge richten sich Foucaults Vorwürfe gegen die auf der Basis der anthropologischen episteme operierenden Humanwissenschaften. Ob er in jenem Werk tatsächlich den Strukturalismus für fähig hält, die Humanwissenschaften aus ihrem anthropologischen Schlummer zu erwecken63 oder ihn nur als deren »schlechtes Gewissen«64 betrachtet, das jedoch auch keinen Ausweg bietet, ist nicht vollständig zu klären, so dass sich zumindest auf der AussageEbene des Werkes die strukturalistisch motivierte Methodenkritik auch als grundsätzliche Erkenntniskritik interpretieren ließe. Der methodenkritische Charakter der Archäologie des Wissens ist jedoch nicht zu bestreiten: An die Stelle konventioneller Geschichtsschreibung in all ihren Formen soll die archäologische Diskursanalyse treten, da sie eine höhere erkenntnistheoretische Leistungsfähigkeit für sich beanspruchen könne: »Finally, the last of these critical tasks (one which sums up and embraces all the others): freeing from their uncertain status that set of disciplines which we call history of ideas, history of sciences, history of thought, history of knowledge [...]. In place of all these uncertainties, I would like to put the analysis of discourse [...].« (PSD: 63 f.) 63 Dafür sprechen unter anderem bestimmte Interview-Aussagen, vgl. beispielsweise FaS: 847. 64 Vgl. Piaget 1994: 406.

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Während also Foucault die Humanwissenschaften durch ihre strukturalistischen Nachfolger ersetzen und später vor allem die Ideengeschichte durch die Diskursanalyse ersetzen will streitet Habermas für ein Modell der Wissenschaft, das sich aus seiner positivistischen Überformung löst, wobei jedoch für ihn im Gegensatz zu Foucault diese Methodenkritik keineswegs Selbstzweck, sondern nur Mittel im Rahmen eines umfassenderen Projekts ist, worauf noch zurückzukommen sein wird. Als Gegenmodell im Rahmen dieser methodischen Kritik dienen beiden zumindest zeitweise Varianten der Psychoanalyse. In der Ordnung der Dinge schlägt Foucault unter anderem die strukturalistische Psychoanalyse Lacans als Gegenwissenschaft vor, Habermas wiederum illustriert sein Konzept anhand einer als Selbst-Reflexion verstandenen Psychoanalyse.65 Fußt beider Methodenkritik auch auf einer gemeinsamen Abkehr von der ahistorischen Erkenntnistheorie Kants, so sind doch die Konzepte, die bei Habermas und Foucault aus jener Abkehr resultieren, miteinander weitgehend unvereinbar. Habermas glaubt sich mit einer hegelianischen Psychoanalyse am Ziel, während sich aus Foucaults Perspektive die Phänomenologie Hegels nur noch tiefer in Paradoxien verstrickt, die schon in Kants Erkenntnistheorie angelegt sind. Der für Habermas so bedeutsame, der Phänomenologie entlehnte Begriff der Reflexion bezeichnet gerade jenen Versuch des Cogito, sein Ungedachtes in sich aufzunehmen, der so viel Kritik von Seiten Foucaults auf sich gezogen hat.66 Habermas hat später selbst die Plausibilität der archäologischen Kritik der Subjektphilosophie ausdrücklich anerkannt: »Foucault [hat] in dem eindrucksvollen Schlußkapitel der Ordnung der Dinge eine Kritik der Subjektivität entwickelt, der man wohl kaum anders als mit einem Wechsel des Paradigmas selbst dürfte begegnen können.« (RM: 903) Dass aber auch die Archäologie sich trotz des größeren Problembewusstseins bezüglich der Bewusstseinsphilosophie mit deren Überwindung schwer tut, konnte schon weiter oben aufgezeigt werden. Ist es die zentrale Stellung der Reflexion in Habermas’ Konzept, die Foucaults Kritik in erster Linie herausfordern würde, so ist es gerade ihr Fehlen, die der frühe Habermas wohl als Positivismus an der Archäologie kritisieren würde: 65 Stender führt hierzu aus: »Genau genommen muß es heißen: die Wissenschaftslehre Fichtes 1794 und die Phänomenologie des Geistes von Hegel 1807 gaben die idealistische Folie für die Freud-Interpretation von Habermas ab, und erst diese Interpretation konnte dann zum methodologischen Vorbild für eine revidierte kritische Gesellschaftstheorie werden.« (Stender 1996: 166) 66 Vgl. hierzu Schnädelbach 1989: 256.

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»Daß wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus.« (EuI: 9)67 Foucaults Intention, ohne derartige Reflexionen auszukommen, ist offensichtlich: »Ich negiere also nicht das cogito, sondern beschränke mich auf die Feststellung, daß es in methodologischer Hinsicht letztlich nicht so fruchtbar ist, wie man geglaubt hat; in jedem Falle kommen wir heute ganz ohne das cogito aus, wenn wir Beschreibungen erstellen wollen, die mir objektiv und positiv erscheinen. Es ist doch aufschlußreich, daß ich Wissensstrukturen in ihrer Gesamtheit habe beschreiben können, ohne dazu auf das cogito Bezug nehmen zu müssen.« (WPF: 781 f.)

Über das Fehlen der Reflexion hinaus würde wohl auch der in diesem Zitat deutlich werdende Objektivitätsanspruch Foucaults Habermas als Grundlage für den Vorwurf des Positivismus dienen.68 Ausgehend von diesem immer wieder deutlich werdenden Objektivitätsanspruch Foucaults lässt sich an dieser Stelle eine weitere massive Differenz zwischen seinem und Habermas’ Programm erläutern: Foucaults Archäologie bleibt in einem entscheidenden Aspekt zumindest überaus ambivalent, wobei sich diese Ambivalenz durchaus auch als Selbstmissverständnis deuten lässt. Demnach handelte es sich bei der Archäologie eigentlich um keine Methodenkritik, sondern um eine inkonsequent durchgeführte Erkenntniskritik, die wahre oder objektive Erkenntnis nicht nur von den richtigen Verfahren abhängig macht, sondern deren grundsätzliche Möglichkeit bezweifelt. Betrachtet man die Diskursanalyse, so weisen ihre erkenntnistheoretischen Prämissen einen fundamental erkenntniskritischen Zug auf, der sich aus dem Plädoyer für eine radikale Historisierung von Erkenntnis ergibt und vor allem in ihrem streng kontextualistischen Wahrheitsbegriff sichtbar werden. Nur durch die Suspendierung dieser grundsätzlich als gültig vorausgesetzten erkenntniskritischen Prämissen bei der Anwendung auf sein eigenes diskursanalytisches Projekt kann Foucault den Anschein erwecken, es handele sich bei seiner Wissenschaftskritik »nur« um 67 »Das erkennende Bewußtsein muß sich ideologiekritisch auch gegen sich selbst richten.« (EuI: 84) 68 Hier sei nur am Rande vermerkt, dass Foucaults Bekenntnis, »glücklicher Positivist« zu sein, den Fall eindeutiger erscheinen lässt, als er ist. Inhaltlich teilt er nur das Grundanliegen des Positivismus, nämlich von beobachtbaren Phänomenen auszugehen, in Foucaults Fall die quasi an der Oberfläche ablesbaren Diskursregeln. Die Mehrzahl der inhaltlichen archäologischen Charakteristika steht jedoch im Gegensatz zu den Postulaten des klassischen Positivismus. Auf der performativen Ebene, auf die sich auch Habermas bezieht, stehen Foucaults Objektivitätsansprüche allerdings wiederum in deutlicher Nähe zum Positivismus. Vgl. zum Positivismus Urry/Keat 1975: 9 ff.; kritisch zur Einordnung Foucaults in diese Tradition Huppert 1994: 52.

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Methodenkritik. Die fehlende Beachtung der Selbst-Referentialität jener Prämissen führt dann – wie schon weiter oben in der Kritik der Archäologie dargelegt – dazu, dass Foucault entgegen seiner kontextualistischen Ansichten scheinbar problemlos in fremde episteme und Diskurse eintaucht und sogar mit der Diskursanalyse überzeitliche Wahrheitsansprüche erhebt, ohne die Eingebundenheit des eigenen Standpunktes in episteme und Diskurse mit in Betracht zu ziehen. Dieses Selbstmissverständnis, welches auf Habermas’ Seite keinerlei Entsprechung findet, ist aus zweierlei Gründen überaus instruktiv: Aus der diachronen Perspektive einer Analyse des Foucault’schen Werkes liegt im Umgang mit der Problematik der Selbst-Referentialität eine entscheidende Bruchstelle zwischen Archäologie und der noch zu behandelnden Genealogie, in deren Rahmen diese Problematik auf völlig andere und äußerst innovative Weise angegangen wird. Auf der Ebene des Vergleichs zeigt sich hier erstmals ein wiederkehrendes Relationsmuster, das durch eine moderate Position Habermas’ gekennzeichnet ist, der eine teilweise bis zur Selbstwidersprüchlichkeit radikalisierte Perspektive Foucaults gegenübersteht. Ausgehend von den methodenkritischen bzw. erkenntniskritischen Aspekten lassen sich in beiden Programmen auch ideologiekritische Momente herausarbeiten. Habermas nutzt die methodische Kritik am Positivismus, um den eigentümlichen Status einer quasi-wissenschaftlichen Ideologiekritik zu klären. Der Begriff der Ideologie wird bei ihm durch psychoanalytische Analogien angereichert. Wie die Neurose, so dient auch die Ideologie zur Kanalisierung von Triebverzicht. Der Realitätsdruck lässt bestimmte Wünsche und Bedürfnisse vergesellschafteter Individuen unerfüllt. Diese überschießenden Bedürfnisse können zunächst nicht bewusst kontrolliert, sondern »nur mit Hilfe affektiver Kräfte abgewehrt werden« (EuI: 338). Dies geschieht durch den verdeckten, undurchschauten Zwang von Ideologien. Allerdings legt Habermas Wert auf die von Freud betonte Verwandtschaft zwischen Ideologie und Illusion: »Die ›Illusionen‹ sind nicht nur falsches Bewußtsein. Wie in dem, was Marx Ideologie nannte, ist auch in ihnen Utopie enthalten. Dieser utopische Gehalt kann, wenn der technische Fortschritt die objektive Möglichkeit eröffnet, die gesellschaftlich notwendige Repression unter das Maß der institutionell geforderten herabzusetzen, aus seiner Legierung mit den wahnhaften, den ideologischen, zur Herrschaftslegitimation umfunktionierten Bestandteilen der Kultur gelöst und in Kritik an den geschichtlich obsolet gewordenen Herrschaftsformationen überführt werden.« (EuI: 340)

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Diese Rückführung von Elementen undurchschauten Zwanges in das Bewusstsein des Individuums bezeichnet den Kern der Habermas’schen Ideologiekritik, deren Ziel eine Reduzierung gesellschaftlichen Zwanges auf das kulturell notwendige Maß und eine rationale Begründung jener unentbehrlichen Zwangsbzw. Herrschaftsmomente ist. An die Stelle eines kollektivneurotischen soll der rationale Umgang mit überschießenden Bedürfnissen und Triebverzicht treten. Mit Blick auf Foucaults Wissenschaftskritik lässt sich sicherlich nur unter der Voraussetzung eines bedeutend schwächeren Ideologiebegriffs von ideologiekritischen Potentialen sprechen. Geht man jedoch eben nicht von der orthodox-marxistischen Definition als »falsches Bewusstsein« aus, so lässt sich durchaus die These einer Foucault’schen Ideologiekritik verteidigen, welche auf eine Entmystifizierung (human-)wissenschaftlichen Wissens abzielt. Die Archäologie unterminiert den Absolutheitsanspruch der Humanwissenschaften, indem sie die Kontingenzen ihrer Entstehungsprozesse und ihr schwankendes erkenntnistheoretisches Fundament betont.69 Die vermeintliche Objektivität und die daraus resultierende Autorität der Wissenschaft verlieren sich im Kaleidoskop von epistemen und Diskursen. Trotz missverständlicher Formulierungen, die gewisse Gemeinsamkeiten nahe legen, teilen beide Ideologiekritiken kaum ein gemeinsames Anliegen und stehen sogar in gewisser Weise im Gegensatz zueinander. Im Zusammenhang mit dem nicht eingelösten Versprechen der Humanwissenschaften, den Menschen zu »finden«, führt Foucault aus: »Statt dessen stößt man auf unbewußte Strukturen, die uns beherrschen, ohne daß wir es bemerkten oder wollten« (IMF: 841). Zwar erinnern diese »Strukturen« an das, was Habermas Ideologie nennt, doch während dieser all dies Unbewusste in der Bewegung der Reflexion in das Bewusstsein zurückholen und so rationalisieren möchte, bezeichnet gerade der Glaube, dass dies gelingen könnte, den »eschatologischen Mythos« (FS: 846), von dem sich Foucault so energisch zu lösen versucht. Aus Foucaults Perspektive befindet sich Habermas’ Ideologiekritik also nach wie vor im vielzitierten »anthropologischen Schlummer« während umgekehrt Foucaults Form der Ideologiekritik bei Habermas nur den Status eines weitgehend vernachlässigten Nebenproduktes einnimmt. Bei der Klärung der Frage, inwieweit die Wissenschaftskritik beider Programme nicht nur als Ideologie-, sondern darüber hinaus auch als Gesell69 Aufklärung über Selbstmissverständnisse der Wissenschaften enthält auch Habermas’ Programm. Allerdings handelt es sich hierbei nur um eine Art Nebenprodukt aus der Kritik des Positivismus, das er nicht als eigentliche Ideologiekritik ansieht.

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schaftskritik verstanden werden kann, wird deutlich, wo der entscheidende Unterschied zwischen den Frühwerken der beiden Denker liegt: Während in Habermas’ Wissenschaftskritik, der gesellschaftskritischen Dimension zentrale Bedeutung zukommt, fehlt diese in Foucaults Archäologie beinahe gänzlich. Die Schwierigkeiten, der Archäologie eine gesellschaftskritische Perspektive abzugewinnen, resultieren insbesondere aus der Reduzierung des Kritikradius auf diskursive Phänomene und die weitgehende Aufgabe kausaler Erklärungsansprüche. Sind in Habermas’ Programm Wissenschafts- und Gesellschaftskritik in der kausalen Analyse diskursiver und nichtdiskursiver Phänomene intern miteinander verknüpft, so gilt all dies für die Archäologie gerade nicht. Diese These ist im Folgenden zu erläutern. Ließ sich Wahnsinn und Gesellschaft – das sich in der Systematik von Foucaults Gesamtwerk als eine Art Prolegomenon der Archäologie verstehen lässt – noch in eine gesellschaftliche Bewegung zur Psychiatrie-Reform übersetzen, der gegenüber Foucault jedoch ambivalent blieb, so heißt es schon in der Geburt der Klinik recht unmissverständlich: »Dieses Buch ist weder für eine Medizin gegen eine andere geschrieben, noch gegen die Medizin für ein Nichtvorhandensein der Medizin.« (GK: 17) Mit der Ordnung der Dinge und schließlich der Archäologie des Wissens setzt sich dieser Trend der Entpolitisierung der Wissenschaftskritik kontinuierlich fort.70 Gesellschaftliche Forderungen lassen sich aus diesen beiden Werken kaum noch ableiten, die Archäologie reduziert sich beinahe kantianisch auf eine ausschließlich erkenntnistheoretische Analyse der Humanwissenschaften, von der die Frage gesellschaftlicher Emanzipation völlig abgekoppelt ist. Foucault hat denjenigen, die man gemeinhin gesellschaftliche Akteure nennt, streng genommen kaum noch etwas zu sagen. Emanzipationspotentiale entfaltet die Archäologie höchstens dahingehend, dass sie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über die Kontingenz und Unzulänglichkeit ihrer Disziplin aufklärt und ein exakteres Wissen durch ihren eigenen distanzierten Blick auf Positivitäten in Aussicht stellt71 – ein Anspruch, der sich als inkonsistent mit Fou70 In der Literatur ist dieser Trend nur selten in Zweifel gezogen worden. Nur Said liest aus der Archäologie des Wissens politische Motive heraus, allerdings gelingt ihm dies nur, indem er die 1971 erscheinende Ordnung des Diskurses, ein dezidiert politisches Werk, das als Prolegomenon vor der Genealogie steht, in die Archäologie des Wissens zurückprojiziert. Vgl. Said 1994: 70 f. 71 Foucault erklärt später zur Ordnung der Dinge, er habe sich mit ihr »hauptsächlich an Forscher wenden [wollen]« (DME: 70). Vgl auch: »It was the most difficult, the most tiresome book I ever wrote, and was seriously intended to be read by about two thou-

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caults erkenntnistheoretischen Prämissen erwiesen hat. Es trifft zwar zu, dass eine Kritik der Humanwissenschaften indirekte Auswirkungen auf die Individuen hat, da diese dann potenziell in der Lage sind, ihre eigene Identität als humanwissenschaftlich vermittelt zu betrachten und eine Art kritische Distanz zu dieser nur scheinbar authentischen Identität gewinnen können. Damit kann eine Problematisierung der Humanwissenschaften auch indirekt eine emanzipatorische Problematisierung der eigenen Identität mit sich bringen.72 Aber diese Aspekte muss man zumindest in der archäologischen Phase geradezu in Foucaults Analysen hineininterpretieren, nicht zuletzt deshalb, weil mit dem postulierten »Ende des Menschen« die Existenz eines Subjektes, das zu derartigen Reflexionen in der Lage wäre, massiv in Frage gestellt ist. Auf diese Frage wird im Rahmen der Genealogie ausführlich zurückzukommen sein. Es ist bezeichnend, dass Foucault sich 1968, einige Monate vor dem Erscheinen der Archäologie des Wissens, genötigt sieht, auf die Frage zu antworten, ob seinen Analysen irgendeine politische Dimension zu Eigen sei und ob diese, falls vorhanden, nicht einzig in Sperrpotentialen gegenüber jeglicher progressiver Politik bestünde.73 Foucaults Antwort ist überaus aussagekräftig. Zunächst legt er noch einmal die Intentionen der Kritik der Humanwissenschaften aus der Ordnung der Dinge dar und versucht klar zu machen, dass diese Kritik nicht in notwendigen Widerspruch zu progressiver politischer Praxis geraten müsse. Wie er selbst feststellt, ist damit allerdings noch nicht viel erreicht, und so versucht er im zweiten Teil des Beitrags den genuin politischen bzw. gesellschaftskritischen Charakter seiner Analysen herauszuarbeiten. Foucaults Grundthese lautet hier: »There exists at present a problem which is not without importance for political practice: that of the status, of the conditions of exercise, functioning and institutionalization of scientific discourse.« (PSD: 65) Foucaults Ausführungen sind nun insofern besonders aussagekräftig, als der Versuch, die Verbindung zwischen politischer Praxis und dem Funktionieren wissenschaftlicher Diskurse darzulegen in eine sand academics who happen to be interested in a number of problems concerning the history of ideas.« (OP: 99) 72 Darüber hinaus lässt sich auch das ideologiekritische Element der Archäologie als Beitrag zur Kritik einer zunehmend technokratischen und wissenschaftsgläubigen Gesellschaft verstehen, indem sie die Autorität der Wissenschaften und ihrer Gewissheiten unterminiert. 73 Foucault antwortete auf diese Frage mit einem längeren schriftlichen Beitrag, der in der Zeitschrift Esprit veröffentlicht wurde. Hier wird aus der englischen Übersetzung Politics and the Study of Discourse (PSD) zitiert.

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implizite Kritik der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens aus der Perspektive der Geburt der Klinik mündet. Er wählt bezeichnenderweise das Verhältnis von Politik zum medizinischen Diskurs als Beispiel und erläutert die verschiedenen Verbindungslinien, indem er die Thesen der Geburt der Klinik zusammenfasst. Hier wurde die Entwicklung der Medizin im Zusammenhang mit bevölkerungspolitischen Maßnahmen, architektonischen Entwicklungen, Urbanisierungspolitik oder Hygieneverordnungen betrachtet. Foucault schließt mit den Worten: »I am trying to define how, to what extent, at what level discourses, particularly scientific discourses, can be objects of a political practice, and in what system of dependence they can exist in relation to it.« (PSD: 69) Nun lässt sich der politische Charakter eines solchen Forschungsprogramms kaum bestreiten, doch leider ist dies alles andere als das Programm der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens. Politische Praxis und nichtdiskursive Faktoren im Allgemeinen waren explizit aus den Analysen jener beiden Werke ausgeschlossen (vgl. OD: 14 FN 2). Doch nicht nur Foucaults Wiedereinführung nichtdiskursiver Faktoren, auch das Wiederauftauchen von Kausalität stellt eine allerdings nicht als solche gekennzeichnete Kritik der Ordnung der Dinge und der noch nicht einmal erschienenen Archäologie des Wissens dar:74 Zwar ist anfangs noch ganz im Sinn dieser beiden Werke davon die Rede, es gehe in der Wissenschaftsgeschichte einzig um eine »descriptive analysis of the different transformations« und »to show that discontinuity is not a monotonous and unthinkable void between events, which one must hasten to fill with the dim plenitude of cause« (PSD: 58, Hervorhebung T. B.). Aber quasi unter der Hand führt Foucault den Begriff der Abhängigkeit (dependency) ein, der notwendig einen Begriff von Kausalität einschließt. So ist plötzlich von intra-, inter- und extra-diskursiven Abhängigkeiten die Rede (vgl. ibid.), was nichts anderes heißt, als dass ein wie auch immer geartetes kausales Verhältnis zwischen den Entwicklungen auf den verschiedenen Ebenen besteht. Die politische Bedeutung des Konzepts von Kausalität darf nicht unterschätzt werden. Vor allem durch sie eröffnen sich überhaupt 74 Dass Foucault die Archäologie schon vor ihrem Erscheinen kritisiert, erklärt sich folgendermaßen: »Ich habe die Archäologie des Wissens vor 1968 geschrieben, auch wenn sie erst 1969 veröffentlicht wurde. Diese Arbeit war ein Echo auf die Diskussionen über den Strukturalismus.« (DME: 78) Die Archäologie ist eine Antwort auf die Kritik Sartres an der Ordnung der Dinge und muss auch in diesem Kontext betrachtet werden. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens ist Foucault schon mit völlig anderen Themen beschäftigt. Vgl. Eribon 1991: 298.

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Handlungsmöglichkeiten für individuelle und kollektive Akteure. Erst in dem Moment, in dem beispielsweise Praktiken oder Institutionen identifiziert werden, die als kausaler Faktor für eine bestimmte Wissensformation anzusehen sind, verwandelt sich entpolitisierte Ohnmacht gegenüber einem namenlosen diskursiven Regime, dessen Dynamik undurchschaubar bleibt, in politische Transformationsmöglichkeiten. Nur wenn Kritik einen wie auch immer gearteten Ansatzpunkt identifizieren kann oder zumindest einen solchen nicht kategorisch ausschließt, kann sich aus ihr politische Praxis entwickeln. Aus diesen Punkten lässt sich folgern: Eine Archäologie, die sich selbst eine politische Dimension verleihen will, sieht sich gezwungen, mit einigen ihrer zentralen Annahmen zu brechen. Der Schlüssel zu einer politisierten archäologischen Kritik bestünde in der Wiedereinführung eines Begriffs von Kausalität75 und der Miteinbeziehung nichtdiskursiver Faktoren. Im Gegensatz zur archäologischen Trennung zwischen Wissenschafts- und Gesellschaftskritik sowie zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Faktoren liegt die Pointe von Habermas’ Ansatz gerade in der internen Verbindung der verschiedenen Momente: Methodenkritik mündet in Ideologiekritik und diese treibt unweigerlich über das Reich der Wissenschaften hinaus, indem sie allgemein gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse reflektierend durchschauen will und hofft, dass diese Einsicht in eine transformative Praxis mündet. Wissenschaftskritik bezeichnet nur den Ansatzpunkt für ein viel umfassenderes Projekt, in dessen Mittelpunkt Gesellschaftskritik steht. Ideologiekritik ist zugleich Kausalanalyse, die »nämlich die Pathogenese des systematisch verzerrten Sprachspiels rekonstruiert«76, und bei der engen Verschränkung, die Habermas zwischen herrschaftsstützenden Ideologien und den Herrschaftsinstitutionen selbst sieht, ist an eine isolierte Betrachtung der diskursiven oder der nichtdiskursiven Faktoren überhaupt nicht zu denken. Doch treffen die Vorwürfe hinsichtlich fehlender Kausalitäten und der Vernachlässigung nichtdiskursiver Faktoren tatsächlich die Archäologie als Ganze? Vor allem in Interviews – unter anderem dem weiter oben ausführlich analysierten – begegnet Foucault den erwähnten Vorwürfen in Richtung Archäologie, indem er sie in reine Unvollständigkeitsvorwürfe umdeutet, die zwar einzelne Werke 75 Hinsichtlich des Fehlens von Kausalität schreibt Guédon daher zu Recht: »In the Order of Things, Foucault had succeeded in identifying an interesting strategic locus for a critical approach, but he had done so at a terrible cost: he could no longer understand the process of emergence of what he was exhibiting.« (Guédon 1994: 141) 76 Stender 1996: 204.

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für sich genommen träfen, das Gesamtprogramm der Archäologie jedoch keineswegs entwerten könnten: »Diese verschiedenen Arbeiten bilden eine Folge einander ergänzender Forschungen, und man hat nicht das Recht, eines dieser Bücher aus der Folge herauszulösen« (IMF: 838), heißt es in einem Interview. Zwar sei die Perspektive der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens tatsächlich etwas verengt, die Geburt der Klinik jedoch behandele genau jene Problematiken, deren Vernachlässigung immer wieder der Archäologie als Ganzer angekreidet werde. Foucault begründet die Fixierung auf den diskursiven Bereich mit Schwierigkeiten im ursprünglichen Forschungsdesign: »Aber ich habe erkennen müssen, daß die Dinge sehr viel komplizierter sind, als ich in diesen ersten beiden Werken angenommen hatte, daß die Diskursbereiche nicht immer dieselben Strukturen besitzen wie die zugehörigen praktischen oder institutionellen Bereiche, wohl aber Strukturen, wie man sie in anderen epistemologischen Bereichen findet, so daß zwischen den Diskursen einer bestimmten Zeit gleichsam eine Isomorphie besteht.« (AG: 757)

Die drei zentralen Werke jener Phase, so lässt sich die Argumentation vervollständigen, nehmen zwar unterschiedliche Akzentuierungen in der Problemstellung vor und blenden dementsprechend bestimmte Bereiche aus, dies gilt jedoch nicht für die Archäologie als umfassendes Programm. Diesen Vorwurf könne nur erheben, wer die Bücher aus ihrem Zusammenhang reiße oder bestimmte Werke einfach nicht zur Kenntnis genommen habe, und in diesem Sinne moniert Foucault dann auch die Rezeptionsmuster in seiner Heimat: »Zumindest in Frankreich ist es eine fest verwurzelte Gewohnheit, ein Buch zu lesen, als wäre es gleichsam ein Absolutum; jedes Buch soll für sich allein stehen.« (DME: 69) Nimmt man diese Argumentation zur Grundlage, so muss der Schwerpunkt der Betrachtung auf die Geburt der Klinik verschoben werden, enthält sie doch laut Foucault die an anderer Stelle vermissten Elemente. Bevor ich hier noch einmal auf den Inhalt des kurzen und in der Rezeption eher unbeachtet gebliebenen Buches eingehe,77 müssen jedoch noch einige Vorbehalte gegenüber der Argumentation Foucaults vorgebracht werden. Schließlich ist er es, der sich an anderer Stelle verbeten hat, dass Kategorien wie die Autorschaft und das Werk an ihn herangetragen werden: Als Beispiele hierfür können die berühmten Sätze im Vorwort zur Archäologie des Wissens78 ebenso angeführt werden wie die Äuße77 So die Einschätzung bei Armstrong 1997: 20. 78 »Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben, das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns freilassen, wenn es sich darum handelt zu schreiben.« (AW: 30)

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rungen in einem anonym (!) gegebenen Interview, in dem sich Foucault nach einer Rezeption sehnt, die eben nur Buch für Buch isoliert betrachtet, ohne sich für Werkzusammenhang und Autor zu interessieren (vgl. MP: 9 f.). Zwischen dieser Sicht der Dinge und Foucaults Forderung, die Bücher im Werkkontext zu betrachten, besteht also eine gewisse Inkonsistenz. Hinzu kommt, dass Foucault die hier vorgestellte Argumentationsstrategie keineswegs konsequent verfolgt und durch das beständige Lavieren in dieser Frage die Plausibilität der jeweiligen Erklärungen nicht gerade gestärkt wird. So erteilt Foucault an manchen Stellen kausalen Erklärungsansprüchen pauschal eine Absage (vgl. WPF: 778), dann sollen sie wiederum in der Ordnung der Dinge enthalten sein (vgl. R: 989 sowie OP: 100). Daneben heißt es: »Im übrigen bekräftige ich am Schluß des Buches [Die Ordnung der Dinge, T. B.] wiederholt, daß es sich um eine Analyse auf der Ebene von Transformationen des Wissens und der Erkenntnis handelt und daß die ganze Arbeit auf der Ebene einer tiefen kausalen Erklärung noch zu tun bleibt« (DME: 68; Hervorhebung T. B). Dieser Vertagung in die Zukunft steht zuletzt der schon erwähnte Verweis auf die Vergangenheit, nämlich die Geburt der Klinik, gegenüber. Das Buch mit dem Untertitel »Eine Archäologie des ärztlichen Blickes« ist eine Spezialstudie. Sie betrachtet einzig die Entwicklung der medizinischen Disziplin im Frankreich des 19. Jahrhunderts und hat wohl nicht zuletzt deshalb nur ein bescheidenes, wenn auch weitgehend positives Echo gefunden.79 Doch die Hoffnung, hier ein vergessenes Schlüsselwerk zu finden, das in der Lage ist, die Archäologie als ein politisches oder gesellschaftskritisches Programm zu retten, wird weitgehend enttäuscht: Zwar finden sich zumindest in der ersten Hälfte des Buches an einigen Stellen die sphärenübergreifenden Kausalitäten, welche die spätere Archäologie vermissen lässt. So heißt es beispielsweise: »Ganz verschiedenartige Phänomene wie der Druck gesellschaftlicher Klassen, die Erfordernisse institutioneller Strukturen sowie technische und wissenschaftliche Probleme wirken zusammen und führen zur Bildung einer Erfahrung«, und konkret bedeutet dies: »Die Abschaffung alter Strukturen sowohl des Spitals wie der Universität ermöglichte also die unmittelbare Kommunikation des Unterrichts mit dem konkreten Feld der Erfahrung.« (GK: 83 f.)

Je weiter die Studie fortschreitet, desto weniger gelingt Foucault allerdings der angestrebte Brückenschlag zwischen diskursiven und nichtdiskursiven Sphären. Wie es schließlich zum Aufkommen der klinisch-anatomischen Methode in der Medizin kommt, wird ausschließlich auf der diskursiven Ebene erörtert. Doch 79 Vgl. Poynter 1964.

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selbst an den Stellen, an denen Foucault versucht, die eingeforderten kausalen Beziehungen herzustellen, ist die Argumentation alles andere als zwingend, da er teilweise nichtdiskursive, teilweise aber auch diskursive Faktoren als abhängige Variablen in einem komplexen Entwicklungsprozess ansieht. Zwar tendiert die Geburt der Klinik zur zweiten Sichtweise und geht davon aus, dass einem neuen Wissen institutionelle Veränderungen vorausgehen, doch sie kann nicht klären, welche Art von nichtdiskursiven Veränderungen auch tatsächlich zu einer Veränderung auf der diskursiven Ebene führen. Während die institutionellen Reformen der Französischen Revolution laut Foucault keinerlei größere Auswirkungen auf die medizinische Erfahrung hatten, führen spätere Reformen zu grundlegenden Verschiebungen in der Art und Weise, Krankheit und Patient zu betrachten.80 Diese frühen Bemühungen, Wissenschaftsgeschichte in einem umfassenderen Kontext und mit weitreichenderen Erklärungsansprüchen zu betreiben, können also keineswegs als zufrieden stellend gelten.81 Schließlich wendet sich Foucault selbst nicht zuletzt aufgrund der Unzulänglichkeiten einer solchen integrierten Betrachtungsweise, die der tatsächlichen Komplexität der Wissenschaftsgeschichte nicht gewachsen ist, Analysen isolierter Bereiche zu, wie das weiter oben angeführte Zitat verdeutlicht. Zwar ist die Geburt der Klinik das archäologische Werk, dem am meisten politische bzw. gesellschaftskritische Relevanz zukommt, aber auch mit Verweis auf sie lassen sich die diesbezüglichen Vorwürfe nicht entkräften.82 80 Vgl. Gutting 1989: 137 f., wo diese Schwächen der Geburt der Klinik gut herausgearbeitet werden. 81 Vgl. zu einer Kritik der Grundthesen der Geburt der Klinik auch von Ingersleben 1981: 197. Die Schwierigkeiten einer integrierten Betrachtungsweise diskursiver und nichtdiskursiver Faktoren bleibt im Übrigen auch in der noch zu behandelnden genealogischen Werkphase bestehen. Foucault versucht nun, mit dem Begriff des Dispositivs zu operieren, den er in einem Streitgespräch folgendermaßen erläutert: »In der ›Ordnung der Dinge‹, wo ich eine Geschichte der Episteme schreiben wollte, bin ich in eine Sackgasse geraten. Jetzt dagegen will ich versuchen zu zeigen, daß das, was ich Dispositive nenne, ein sehr viel allgemeinerer Fall als der der Episteme ist. Oder eher, daß die Episteme, im Unterschied zum Dispositiv im allgemeinen, das seinerseits diskursiv und nichtdiskursiv ist, und dessen Elemente sehr viel heterogener sind, ein spezifisch diskursives Dispositiv ist.« Doch auf Nachfrage gelingt es Foucault nicht, bestimmte Phänomene eindeutig der diskursiven oder nichtdiskursiven Sphäre zuzuordnen. (ESUP: 123 bzw. 125) 82 Zwar finden sich in der Geburt der Klinik einige Passagen, in die man subtile Gesellschaftskritik hineinlesen kann. Etwa die Beschreibungen der entwürdigenden Behandlung der Kranken, die in der Klinik zu Beobachtungsobjekten werden, oder auch die Phantasien einer umfassenden medizinischen Überwachung durch ein Heer von Dokto-

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Muss also der Archäologie durchaus ein unter anderem aus der Reduzierung des Kritikradius resultierender blind spot in Fragen der Gesellschaftskritik oder allgemeiner der politischen Anschlussfähigkeit attestiert werden, womit entsprechend die Grenzen dieser Art von Kritik bezeichnet sind,83 so stellt sich umgekehrt die Frage, inwieweit Habermas’ politisch weit ambitionierteres Programm tatsächlich überzeugen kann. In diesem Zusammenhang erscheint es insbesondere sinnvoll, noch einmal darauf einzugehen, wie Habermas seinerseits den für ren und Ärzten. Doch Foucault verfügt hier noch nicht über die in der genealogischen Phase so entscheidende Kategorie der Macht. Entsprechend werden diese Andeutungen entweder als humanistische Kritik oder als Verschwörungstheorie verstanden. Vgl. z. B. von Ingersleben 1981: 198 oder Armstrong 1997: 22. Bezeichnenderweise projizieren neuere Arbeiten oftmals die Machtanalytik von Überwachen und Strafen zurück in Foucaults Frühwerk, um eine derart angereicherte Geburt der Klinik dann als Ansatzpunkt für eine kritische Soziologie der Medizin zu nutzen. Vgl. z. B. Schäfer 1981. Erst in dem Moment, in dem die Medizin als Disziplin im Sinne von Überwachen und Strafen aufgefasst wird, entfaltet sich das in der Geburt der Klinik angelegte Kritikpotential. 83 Die These eines unpolitischen Archäologen Foucault lässt sich auch biographisch belegen. Eribon betont: »Und vor allem muß man sich hüten, auf den damaligen Foucault bereits das Bild des späteren Foucault zu projizieren.« (Eribon 1991: 208) Foucault ist zu jener Zeit fest im institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb verankert und gilt seinen Zeitgenossen als weitgehend unpolitischer Akademiker. Mit dem französischen Staat de Gaulles steht er immerhin auf so gutem Fuß, dass er Mitte der sechziger Jahre beinahe Direktor des Universitätswesens im Erziehungsministerium wird: »Als er die Ordnung der Dinge schrieb, bereitete Foucault nicht die Revolution vor [...] er diskutierte in den Büros eines gaullistischen Ministers über die Zukunft des Gymnasial- und Universitätsunterrichts in Frankreich.« Ibid.: 213 Foucault hat später seine damalige Einstellung zur Politik als »ein bißchen höchst spekulative Skepsis« (DME: 91) charakterisiert. Bezeichnend sind auch Interviews aus jener Zeit, in der beispielsweise nach der Rolle des Philosophen in der Gesellschaft gefragt wird und Foucault zu erkennen gibt, dass er mit der Frage nichts anzufangen weiß. Vgl. WP: 712 ff. Die Politisierung des späteren Aktivisten erfolgt erst während seines Tunesien-Aufenthaltes, wo er von der Obrigkeit verfolgte Studierende bei sich versteckt, an Demonstrationen teilnimmt und in seinem Haus verbotene Flugblätter gedruckt werden. Noch Jahre später zeigt sich Foucault tief beeindruckt über die Entschlossenheit jener jungen Menschen: »Das war für mich eine wirkliche politische Erfahrung [...]. Sehen Sie, das bedeutete Tunesien für mich: ich mußte in die politische Debatte eintreten.« (DME: 92) Im Oktober 1968 kehrt ein extrem politisierter Foucault nach Paris zurück, wo er an der Universität Vincennes im Januar Professor für Philosophie und daneben zu einem politischen Aktivisten wird. Die Tatsache, dass die gänzlich unpolitische Archäologie des Wissens 1969 erscheint, darf hier nicht täuschen. Sie ist schon etwa zwei Jahre vorher von einem völlig anderen Foucault fertig gestellt worden.

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Gesellschaftskritik wichtigen Punkt kausaler Mechanismen in sein Programm integriert. Der überwiegende Eindruck ist hier der eines Kausalitätsoptimismus, wenn nicht sogar einer gewissen Naivität, was kausale Verhältnisse angeht, die sich zu großen Teilen mit der überzogenen Analogisierung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse erklären lässt, die in Erkenntnis und Interesse vorgenommen wird und ja schon weiter oben in anderer Hinsicht kritisiert wurde. So glaubt Habermas, Ideologien/Illusionen in Analogie zur Individualneurose betrachten zu können, deren Behandlung dann wiederum auf die kollektive gesellschaftliche Ebene übertragen werden könne.84 Doch schon an diesem Punkt tauchen gewisse Probleme auf85: Der Gesellschaftstheoretiker verfügt im Gegensatz zum Analytiker über so gut wie kein Erfahrungswissen über (kausale) Mechanismen der Verdrängung, aus dem sich ja letztendlich wiederum das Wissen über eine erfolgreiche Therapie speist. Bedeutend wichtiger ist jedoch darüber hinaus die Tatasche, dass dem Gesellschaftstheoretiker Wissen über den anzustrebenden »normalen« Gesellschaftszustand fehlt und dass er, selbst im Falle einer möglichen Identifizierung, über nur unzureichendes Wissen bezüglich des Therapiepfades verfügt, der einzuschlagen ist. Der Analytiker bezieht den Maßstab der Gesundheit aus dem, was in einer gegebenen Gesellschaft als normal gilt. Analog den Soll-Zustand einer gegebenen Gesellschaft als Ganzes zu ermitteln, ist dagegen ungleich schwieriger, und vor allem unterschätzt Habermas die Schwierigkeiten gesellschaftlicher Transformation von einem Ist-Zustand zu einem Soll-Zustand. Schließlich verweisen hier Systemtheorie und moderne Transformationsforschung zu Recht auf hochkomplexe, ausdifferenzierte Gesellschafts(sub-)systeme, deren fragiles Zusammenspiel auf kleinste Erschütterungen mit einer Vielzahl intendierter und nichtintendierter Effekte reagieren kann. Daher mutet Habermas’ Projekt, eine Gesellschaft mit Hilfe psychoanalytischer Mechanismen in einen selbstreflexiv transparenten Zustand zu versetzen, vermessen und vor allem äußerst risikoreich an. Im Vergleich zur Individualanalyse, in welcher der Analytiker über ein noch einigermaßen robustes empirisches Wissen über die Kausalmechanismen der Therapie verfügt, operiert der Gesellschaftstheoretiker mit einer Unmenge teilweise unbekannter Variablen, deren kausales Gefüge er allenfalls in Ansätzen zu durchschauen vermag. Er geht also das äußerst reale und schwer zu rechtfertigende 84 An einer solchen Analogisierung hat auch Foucault später indirekt Kritik geäußert. Vgl. SCI: 158. 85 Vgl. zum Folgenden auch Giegel 2000, der die vielfältigen Wissensprobleme in Habermas’ Konzept pointiert herausarbeitet.

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Risiko ein, dass am Ende der kollektiven Therapie eine Verschlechterung gegenüber dem status quo ante steht, die möglicherweise untragbare Härten für Einzelne oder gar eine Vielzahl von Individuen mit sich bringt. Habermas’ Ansatz unterschätzt also zumindest in zwei Punkten die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit kausalen Beziehungen: Erstens setzt er sich dem Vorwurf aus, die Funktionsweise und die entsprechenden kausalen Beziehungen von gesellschaftlichen Ideologien/Illusionen unterkomplex zu konzeptionalisieren, da er sie schlicht in Analogie zur Individualneurose versteht. Zweitens übersieht er völlig die Komplexität einer gesamtgesellschaftlichen Transformation, die mit Prozessen ungeklärter Kausalketten einhergehen und daher die gesellschaftlichen Analysanden unüberschaubaren Folgen aussetzt. Sowohl bei Habermas als auch bei Foucault bleibt die Verbindung von Wissenschaftskritik und Gesellschaftskritik also in gewisser Weise defizitär. Eine gewisse Naivität Habermas’ im Umgang mit Kausalmechanismen steht einer überzogenen Skepsis Foucaults bezüglich deren Durchschaubarkeit gegenüber. Und während so der eine über die Komplexitäten kritischer Analyse und transformatorischer Praxis in einer Euphorie der Machbarkeit hinweggeht und damit ein stark vereinfachtes und vielfach mit problematischen Implikationen verbundenes Bild zeichnet, verwandelt der Kausalitätspessimismus des anderen seine Kritik in unpolitische Wissenschaftstheorie. Die Rolle, welche das Subjekt im jeweiligen Ansatz spielt, spiegelt diese komplementäre Problematik partiell wider: In der strukturalistisch orientierten Wissenschaftskritik spielt das Subjekt eine untergeordnete Rolle, nicht zuletzt weil für Foucault die Frage potenzieller Akteure aufgrund der unpolitischen Ausrichtung der Archäologie keine Rolle spielt. So spricht Foucault auch ohne Ablehnung von der »Reduktion des Menschen auf Strukturen« (WPF: 779), die für zeitgenössisches Denken typisch sei, vom Subjekt, das »nicht eins ist, sondern zerrissen; nicht souverän, sondern abhängig; nicht absoluter Ursprung, sondern stets wandelbare Funktion« (DeE: 1003) und von einer Menschheit, die ohne Sinn und Zweck um des Funktionierens willen funktioniert (vgl. WPF: 792). Über die Frage, ob das Subjekt tatsächlich vollständig in der Vielzahl der Diskurse aufgeht, die es konstituieren, oder ob die Rede vom Ende des Menschen nur griffige Rhetorik ist, kann sich Foucault letztlich ausschweigen, da

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sein Programm zumindest auf den ersten Blick nicht die kritische Praxis von Individuen erfordert, die zu reflexivem Verhalten in der Lage sind.86 Zwar setzt auch Habermas keineswegs ein sich selbst transparentes autonomes Subjekt voraus, aber dieses bildet den Zielpunkt; schließlich wird die auf Reflexion basierende gesamtgesellschaftliche Transformation vermittelt durch individuelle Reflexion und daraus resultierende Transformation. Gesellschaft und Individuum werden von Mächten (Ideologien) beherrscht, die hinter deren Rücken wirken und nicht durchschaut sind. Ziel ist es, das von Ideologie durchdrungene Individuum bzw. die Gesellschaft in einen Zustand selbstreflexiver Transparenz zu versetzen, und dies setzt fraglos zumindest eine minimale Fähigkeit zu reflexivem Verhalten auf Seiten der Individuen voraus. Allerdings muss betont werden, dass auch bei Habermas der Zugriff von Ideologien auf die Individuen so stark ist, dass es offensichtlich des Beistandes der kritischen Wissenschaft für einen erfolgreichen Prozess der Selbstreflexion bedarf. Dies verweist wiederum auf eine Gemeinsamkeit der beiden Programme, auf die hier abschließend hinzuweisen ist. Sowohl dem Ideologiekritiker als auch dem Archäologen werden in gewisser Weise privilegierte Erkenntnispositionen zugesprochen. Ist es bei Foucault der vermeintlich distanzierte Blick eines Ethnologen der eigenen Kultur, so ist es bei Habermas das überlegene Wissen des Analytikers gegenüber dem Analysanden, die jeweils spezfische Probleme (epistemo-)logischer bzw. politischer Natur mit sich bringen und damit eine letzte schwere Hypothek für die beiden Wissenschaftskritiken darstellen, die erst durch den Anti-Elitismus in den späteren Phasen der beiden Werke ausgeräumt wird.

86 Bei genauerem Hinsehen muss Foucault dies natürlich insofern voraussetzen, als er ansonsten weder seine eigene archäologische Praxis erklären kann bzw. die eigenen Erkenntnisansprüche massiv reduzieren muss und darüber hinaus unklar bliebe, wen er überhaupt mit der Archäologie erreichen will. Vgl. die analoge Problematik im Rahmen der Genealogie weiter unten.

II. Gesellschaft

1.

Kritik im Namen kommunikativer Rationalität – Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns

Mit ihren tausendzweihundert Seiten bezeichnet Habermas die TKH nicht nur quantitativ als eine Herausforderung für die Leser. Sie integriert die unterschiedlichsten Forschungsstränge, die Habermas über die vorangegangenen Jahre verfolgt hat, zu einem überaus komplexen Gesamtwerk. Als Klassiker der Soziologie der Gegenwart ist die TKH zum Gegenstand auch rein deskriptiver, umfassender Besprechungen geworden. Daher wird hier auf eine ausführliche Darstellung verzichtet.1 Stattdessen genügt eine problemorientierte Skizze den Anforderungen der Fragestellung. Um die neuralgischen Punkte in Habermas’ Theoriegebäude zu identifizieren, ist es notwendig, sich zunächst die Ziele und die zu beschreitenden Wege aus Habermas’ eigener Perspektive heraus zu vergegenwärtigen. 1.1 Ziele und Anforderungen der Theorie des kommunikativen Handelns Die TKH ist der »Anfang einer Gesellschaftstheorie, die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen« (TKH I: 7). Damit erhält die Begründungsproblematik, die Habermas in Erkenntnis und Interesse nur peripher, noch dazu erfolglos behandelte, einen prominenten Stellenwert. Er nimmt nun die Herausforderung der Dialektik der Aufklärung an und versucht zu leisten, woran Horkheimer/Adorno seiner Ansicht nach aporetisch gescheitert sind: die kritische Bewertung jener Dialektik von einem Standpunkt aus, der nicht von ihr mit in den 1 Vgl. die detaillierten Monographien von Roderick 1989 und vor allem Ingram 1987.

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Abgrund gezogen wird. Es muss also das »Andere« der instrumentellen Vernunft gefunden werden. Auf dem Wege der Bewusstseinsphilosophie, in der er Adorno/Horkheimer, aber auch Weber verhaftet sieht, sei dies nicht zu leisten, vielmehr habe sie alle drei Theoretiker dazu geführt, instrumentelle Vernunft bzw. Zweckrationalität letztlich zu verabsolutieren: »Ich möchte darauf beharren, dass das Programm der frühen Kritischen Theorie nicht an diesem oder jenem Zufall, sondern an der Erschöpfung des Paradigmas der Bewußtseinsphilosophie gescheitert ist.« (TKH I: 517 f.) Die Bewusstseinsphilosophie könne nur in Subjekt-Objekt-Beziehungen denken, in denen sich das Subjekt allem Seienden objektivierend und unterwerfend nähere, wobei Handlungen nur im Sinne von wahr/falsch und effektiv/ineffektiv rationalisierbar seien. Habermas hofft, mit der Wende von der Bewusstseinsphilosophie zur Kommunikationstheorie aus diesem theoretischen Korsett ausbrechen zu können. Letztere macht nicht mehr das Subjekt, sondern sprachlich vermittelte Intersubjektivität zum Konstituens von kommunikativer Rationalität, die Habermas als umfassenden Rationalitätsbegriff und damit als kritischen Maßstab einführt. Habermas will also ohne Rückgriff auf bewusstseinsphilosophische Anleihen den Inhalt kommunikativer Rationalität explizieren; dabei müsste es ihm gelingen, ein unversehrtes Rationalitätspotential aufzuzeigen, von dem sich kognitiv-instrumentelle bzw. strategische Rationalität als nur verkürzte abhängig erweist bzw. kritisiert werden kann. Ob diesen Anforderungen entsprochen werden kann, wird in Abschnitt I 1.5 geklärt werden. Habermas’ Kommunikationstheorie dient einer Gesellschaftstheorie als Grundlage, deren kritische These es ist, dass Verdinglichungsphänomene – ein zentrales Anliegen der frühen Frankfurter Schule – bzw. Pathologien innerhalb der Lebenswelt als Effekte der Kolonialisierung dieser Lebenswelt durch systemische Imperative zu konzeptionalisieren sind. Als Konsequenz ergibt sich, dass eine ausbalancierte Koexistenz von Systemen und Lebenswelt dieser These als »Utopie« im schwachen Sinn zugrunde liegt. Dann sollte Habermas zeigen können, dass ein derartiges Verhältnis zwischen Systemen und Lebenswelt grundsätzlich möglich ist und dass die Verdinglichungsproblematik in kausalem Zusammenhang mit den systemischen Imperativen steht. Diesen Fragen wird in Abschnitt I 1.6 nachgegangen. Hinzu tritt die Frage nach der praktischen Dimension der Theorie und die allgemeine Forderung, nicht in alte, ausgiebig kritisierte Erklärungsmuster beispielsweise geschichtsphilosophischer Natur zurückzufallen. Ausgehend von

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diesen Überlegungen lassen sich nun die hierfür relevanten Aspekte der Theorie skizzieren. 1.2 Das Konzept der kommunikativen Rationalität Habermas ist auf der Suche nach Rationalitätsstandards, die als Grundlage von Kritik dienen können. Er leitet diese Suche mit einer semantisch-logischen Einkreisung des Begriffs »Rationalität« ein. Das sich ergebende, vorläufige Ergebnis ist, »die Rationalität einer Äußerung auf Kritisierbarkeit und Begründungsfähigkeit zurückzuführen« (TKH I: 27). Erstmals wird dann auch der Begriff der kommunikativen Rationalität eingeführt. Dieser »führt Konnotationen mit sich, die letztlich zurückgehen auf die zentrale Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Einheit der objektiven Welt und der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhangs vergewissern« (TKH I: 28).

Die kommunikative Rationalität erwächst aus einem Konsens zwischen mindestens zwei Gesprächsteilnehmern. Es handelt sich dabei allerdings nicht um einen empirischen Konsens, sondern um einen normativ qualifizierten, »da sich ein kommunikativ erzieltes Einverständnis letztlich auf gute Gründe stützen muß« (TKH I: 37) und nicht durch Rekurs auf Machtpotentiale erzielt werden darf. Habermas versucht nun zu zeigen, dass kommunikative Rationalität der umfassendere Rationalitätsbegriff gegenüber Webers Zweckrationalität und Horkheimers/Adornos instrumenteller Vernunft ist, welcher als Grundlage der Kritik von Gesellschaften dienen kann, deren Rationalisierung in der Moderne auf diesen instrumentell-kognitiven Aspekt fixiert bleibt. Habermas sieht die Aktor-Weltbezüge des kommunikativen Handelns als Indikator für diese These an. Kommunikativ Handelnde versuchen, über Verständigung eine Koordination ihrer individuellen Handlungspläne zu erreichen. Dabei können sie sich mittels des in diesem Modell wichtigen Elementes Sprache über etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt verständigen.2 Das Modell lässt also Äußerungen bzw. Sprechhandlungen zu, die bezüglich ihrer Wahrheit, ihrer Richtigkeit und ihrer Wahrhaftigkeit begründ- und kriti2 Dies ist in den anderen Handlungstheorien nicht im gleichen Umfang möglich. Vgl. TKH I: 142.

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sierbar sind. Habermas geht davon aus, dass diese umfassende Rationalität der Sprache als Potential innewohnt. Insofern kann er von einer »rationalen Binnenstruktur verständigungsorientierten Handelns« (TKH I: 157) sprechen. Derart prekäre kommunikativ erzeugte Konsense werden gestützt oder stabilisiert durch die geteilte kulturelle Wissensressource der Lebenswelt. Dies sind grundsätzlich unstrittige, quasi vorbewusste, kulturell bedingte Anschauungen, vor deren Hintergrund sich kommunikatives Handeln vollzieht, die aber auch in dessen Rahmen problematisiert werden können. Dies führt Habermas letztlich zu der exponierten These: »Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne.« (TKH I: 387) Dieses Telos der Verständigung, das sich in kommunikativem Handeln und der entsprechenden Rationalität wiederfindet, muss sich also auf der Ebene der Sprache nachweisen lassen. An dieser Stelle kommt nun die Universal- bzw. Formalpragmatik zum Zuge, mit deren Hilfe Habermas das intuitive Regelwissen kompetenter Sprecher rekonstruieren möchte. Er versucht also mit Hilfe der Sprechakttheorien von Austin und Searle zu zeigen, dass bei verständigungsorientiertem Handeln »die Bindungsenergien der Sprache selbst für die Koordination der Handlungen wirksam werden« (ND: 69). Hier macht er sich die Unterscheidung von Illokutionen, Perlokutionen und Lokutionen zunutze. In dem Satz »Ich verspreche Dir, dass ich Dich heute besuche«, bezeichnet der erste Teil die Illokution, mit welcher der Sprecher eine interpersonale Beziehung zum Hörer oder zur Hörerin ausdrückt und der zweite Teil den propositionalen Gehalt des Satzes (die Lokution), der in seiner Bedeutung von der Illokution abhängt. Habermas konstatiert: »Was wir mit Verständigung meinen, muß allein anhand illokutionärer Akte geklärt werden.« (TKH I: 394) Er führt ferner aus, die »Art von Interaktionen, in denen alle Beteiligten ihre individuellen Handlungspläne aufeinander abstimmen und daher ihre illokutionären Ziele vorbehaltlos verfolgen, habe ich kommunikatives Handeln genannt« (TKH I: 394). Illokutionen sind der rationale Kern der Sprache, denn sie ermöglichen die Begründung und Kritisierbarkeit von Geltungsansprüchen auf den Ebenen der Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. Der Hörer kann den Beispielsatz bezüglich seiner Wahrheit bzw. der Einschätzung der objektiven Welt problematisieren, falls es sich z. B. um eine extrem weite Entfernung handelt; bezüglich der normativen Richtigkeit, weil es sich z. B. um einen verheirateten Mann und eine alleinstehende Frau handelt oder bezüglich der Wahrhaftigkeit, falls der Hörer glaubt, der Sprecher mache sich etwas über seine eigenen Wünsche vor. Der Koordinations- und Bindungseffekt der Illokution ergibt sich aus der potentiellen Verpflichtung des Spre-

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chers, gegebenenfalls Gründe für die Äußerung angeben zu können. Die Annahme eines Sprechaktes gründet sich somit allein auf dieses Wissen beim Hörer und nicht auf ein wie auch immer geartetes Sanktionspotential (vgl. TKH II: 45). Perlokutionen stehen diesen Illokutionen gegenüber als ein versteckter Zweck, der mit der Äußerung erreicht werden soll. Perlokutionen gehören damit in das Reich des strategischen, manipulativen Handelns: Im Beispielsatz könnte der Sprecher beispielsweise das perlokutionäre Ziel verfolgen, deb Hörer zum Aufräumen seiner Wohnung zu bewegen. Habermas kann zunächst seine These vom Telos der Verständigung in der Sprache aufrechterhalten, indem er von Perlokutionen behauptet, sie seien »kein originärer Sprachgebrauch, sondern die Subsumtion von Sprechhandlungen, die illokutionären Zielen dienen, unter Bedingungen erfolgsorientierten Handelns« (TKH I: 394). Der letzte Schritt im Rahmen der Formalpragmatik orientiert sich an der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein: Während die Sprechakttheorie die Kompetenz von Sprechern, verständliche Sprechhandlungen vorzunehmen, rekonstruierte, sollen nun zudem noch andere Regeln rekonstruiert werden, nämlich Voraussetzungen, welche die Gesprächsteilnehmer im kommunikativen Handeln immer schon als gegeben ansehen müssen, d. h. »die unhintergehbaren« Voraussetzungen der kommunikativen Rationalität. Hier zeigt sich der wahrhaft »modernistische« Zug von Habermas’ Theorie: Er geht nämlich davon aus, dass ein bestimmtes Regelset existiert, das beim Versuch, sich zu verständigen, nicht umgangen werden kann. »Ein Kranz unvermeidlicher Idealisierungen bildet die kontrafaktische Grundlage einer faktischen Verständigungspraxis.« (FuG: 18) »Die für Aussagen und Normen (auch für Erlebnissätze) beanspruchte Gültigkeit transzendiert ihrem Sinne nach Räume und Zeiten« (FuG: 36 f.), d. h. eine Teilnehmerin muss von der Kontexttranszendenz von Geltungsansprüchen ausgehen. Da darüber hinaus »die Beteiligten gar nicht die Absicht fassen können, sich miteinander über etwas in der Welt zu verständigen, wenn sie nicht [...] unterstellen, daß sie den verwendeten Ausdrücken identische Bedeutung zumessen« (FuG: 35), müssen sie auch von der Bedeutungsidentität der Ausdrücke ausgehen.3 3 Der Grund, die hier erläuterten Zusammenhänge nicht mit Zitaten aus der TKH, sondern aus Faktizität und Geltung zu belegen, liegt einzig in den pointierteren Formulierungen in letzterem Werk. Die Zitate entstammen den Einleitungskapiteln von Faktizität und Geltung, in denen die kommunikationstheoretischen Gehalte der TKH rekapituliert werden.

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Es ist insbesondere dieser letzte formalpragmatische Schritt, mit dem Habermas klassische Attribute der neuzeitlichen Vernunft – Allgemeinheit, Unbedingtheit – in wenn auch geringem Maß für die kommunikative Rationalität beansprucht, der den heftigsten Widerspruch von »postmoderner« Seite erntet. Die Kritik eines solchen Anspruchs wird daher zurückgestellt und später aus einer Foucault’schen Perspektive formuliert (vgl. weiter unten Kap. II 3.1.2, aber auch die entsprechenden Diskussionen um die Diskursethik in Kap. III 1.2.). Zunächst gilt es zu klären, welche Rolle der kommunikativen Vernunft bei ihrer Übertragung auf die Gesellschaftstheorie zukommt. 1.3 Verdinglichung als systeminduzierte Lebensweltpathologien Die Lebenswelt ist bei Habermas von Anfang an mehr als der kommunikationstheoretische Begriff, den er von den Phänomenologen Husserl und Schütz übernommen hat. Sie bezeichnet einen kulturellen Wissensspeicher und erfüllt laut Habermas die Funktionen der Sozialisation, Vergesellschaftung und IchFormierung von Individuen. Gesellschaftlich verortet er diese Funktionen und damit die Lebenswelt in der Privatsphäre und der nichtinstitutionellen öffentlichen Sphäre, da die Lebenswelt Weltbilder tradiert und als »Sinnspeicher« fungiert. Habermas fasst den Prozess der kulturellen Entzauberung, den Weber auf dem Weg in die Moderne auszumachen glaubte, als eine Rationalisierung dieser Lebenswelt auf. Diese Rationalisierung findet in dem Maße statt, wie eine »Versprachlichung des rituell gesicherten Grundkonsenses« (TKH II: 119) stattfindet. Im Anschluss an seine eigene Unterscheidung von mythischem und modernem Weltbild und die religionssoziologischen Studien Durkheims kann Habermas diese Entwicklung als »Entbindung des im kommunikativen Handeln angelegten Rationalitätspotentials« (ibid.) verstehen, dahingehend, dass »die bannende Kraft des Heiligen zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche wird« (ibid.). Indikatoren dieser Entwicklung sind, ähnlich wie bei Weber, Universalisierung und Abstrahierung von Recht und Moral, Etablierung der Wissenschaft und zunehmende Individualisierung. Doch im Unterschied zu Weber sieht Habermas in dieser Entwicklung per se noch nicht Sinn- und Freiheitsverlust angelegt, im Gegenteil, es handelt sich für ihn vielmehr um die »helle« Seite der Aufklärung. An diesem Punkt kann die Analyse natürlich nicht beendet werden, aber Habermas vertritt die Ansicht, dass sich weder mit dem Konzept noch aus der

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Perspektive der Lebenswelt gesellschaftliche Reproduktion vollständig beschreiben lässt. Aufgrund der Rationalisierung der Lebenswelt, welche die Individuen vor beträchtliche diskursive Anforderungen stellt, bilden sich als Entlastung Handlungssysteme heraus, welche die materielle Reproduktion der Gesellschaft sichern und die sich in der Moderne laut Habermas als kapitalistische Wirtschaft und bürokratischer Staat von der Lebenswelt entkoppeln (TKH II: 230). Zur Betrachtung dieser beiden komplexen Entitäten sei allein das Konzept des »Systems« angemessen und entsprechend müsse auch die Teilnehmerperspektive der Lebenswelt mit der Beobachterperspektive der Systemtheorie vertauscht werden, um eine ausreichende Tiefenschärfe zu erreichen. Auch die Herausbildung dieser Subsysteme, deren Koordination und Integration über die Steuerungsmedien Geld bzw. Macht erfolgt, ist für Habermas nicht problematisch. Problematisch ist das, was er die »Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses« nennt: »Die Rationalisierung der Lebenswelt ermöglicht eine Steigerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebenswelt, die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen.« (TKH II: 232) »Am Ende verdrängen systemische Mechanismen Formen der sozialen Integration auch in jenen Bereichen, wo die kommunikative Handlungskoordinierung nicht substituiert werden kann: also dort, wo die symbolische Reproduktion der Lebenswelt auf dem Spiel steht. Dann nimmt die Mediatisierung der Lebenswelt die Gestalt einer Kolonialisierung an.« (TKH II: 293)

Da die Steuerungsmedien im Bereich der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration, der Sozialisation und der Ich-Formierung versagen, kann Habermas die Verdinglichungsproblematik als »dunkle« Seite der Aufklärung, an der sich von Lukács bis Adorno Kritiker letztlich erfolglos abgearbeitet haben, »in Begriffen systemisch induzierter Lebensweltpathologien neu formulieren« (TKH II: 293). Entsprechend begreift Habermas kritische Praxis als in erster Linie defensiv, als Abwehr der monetären und bürokratischen Systemimperative, welche sich die Bereiche der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt zu unterwerfen drohen. Er glaubt, solchen Widerstand z. B. bei Ökologie- und »Alternativ«Bewegungen erkennen zu können (TKH I: 516). Die Minimal-Utopie, welche diese Gruppen laut Habermas zum Widerstand inspiriert, ist auch diejenige der TKH: Inseln einer unversehrten Lebenswelt, in der sich kommunikative Rationalität entfalten kann, die in friedlicher Koexistenz mit den Systemen der materiellen Reproduktion existieren.

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Ohne die Argumentation Habermas’ noch weiter zu explizieren, sollen nun das kritische Potential und die Veränderungen gegenüber Erkenntnis und Interesse herausgearbeitet werden. 1.4 Die kritische Stärke der Theorie des kommunikativen Handelns Die Verschiebungen und Diskontinuitäten zwischen Erkenntnis und Interesse und der TKH überwiegen offensichtlich die Kontinuitäten bei weitem. Lässt sich Erkenntnis und Interesse als Reformulierung von Traditionelle und Kritische Theorie verstehen, so ist die TKH das Gegenstück zur Dialektik der Aufklärung. Habermas hat seine Haltung gegenüber den »positivistischen« Wissenschaften revidiert und beansprucht für die Kritik keinen Sonderstatus mehr. Diese schließt vielmehr an die Wissenschaften an und muss in einem fallibilistischen Bewusstsein gegenüber deren Kritik und Weiterentwicklungen offen sein. Damit wird auch die Theorie der Erkenntnisinteressen entbehrlich und findet sich in der TKH nicht wieder, wie ja überhaupt das gesamte Projekt des frühen Habermas der Bewusstseinsphilosophie verpflichtet war, von der er sich nun abwendet. So finden sich nur noch einzelne Elemente als Nebengedanken wieder. Die Praxis der Psychoanalyse, die einstmals als Modell gesellschaftlicher Praxis galt, führt in der TKH ein Schattendasein und wird auf genau einer der insgesamt tausendzweihundert Seiten als »therapeutische Kritik« (TKH I: 43) thematisiert. Diesen Verschiebungen, die Habermas durchaus begründen kann, die daher kaum als Brüche zu bezeichnen sind, steht die eine große Kontinuität gegenüber: Die Idee der kommunikativen Rationalität war schon als Intuition aphoristisch in der Frankfurter Antrittsvorlesung geäußert worden, ihrer systematischen Ausarbeitung ist ein Großteil der TKH gewidmet. Die kritische Stärke der TKH ist kaum zu überschätzen – immer vorausgesetzt, die Argumentation ist haltbar. Habermas ist dann gelungen, woran kritische Gesellschaftstheorie von Marx bis Adorno gescheitert ist: Der Kritik einen normativen Maßstab zu verschaffen, der sich weder durch klassentheoretische noch geschichts- oder transzendentalphilosophische Metaphysik sakrosankt zu machen sucht, sondern im Bewusstsein des eigenen Fallibilismus besteht.4 Mit Habermas kann Kritik als legitim auftreten, ja sie kann sogar einen Wahrheits-

4 Zweifel am Habermas’schen Fallibilismus meldet Balkenhol 1991: 323 an.

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anspruch erheben. Sicherlich keinen absoluten,5 aber einen relativen im Popper’schen Sinn, der von einem elaborierten Theoriegerüst gestützt wird. Eine Grundfrage und Crux jeglicher Art von Gesellschaftskritik: ›Mit welchem Recht kann etwas Bestehendes kritisiert werden?‹, findet mit Habermas eine angemessenere Antwort. Habermas hat mit anderen Worten die Dialektik der Aufklärung zunächst ein Stück weit entwirrt. Aus der Perspektive der »hellen« Seite einer rationalisierten Lebenswelt lässt sich die »dunkle« Seite der Systemübergriffe kritisieren. An der Kolonialisierungsthese lässt sich auch zeigen, dass Habermas jedenfalls auf dieser Ebene jeglicher Geschichtsphilosophie entsagt: Verdinglichungsphänomene fasst er immer nur als Pathologien, nicht als Krisen, was ja noch die vorherrschende Terminologie in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus gewesen war. Krisen werden – zugespitzt formuliert – entweder überwunden oder sie führen zum Zusammenbruch.6 Doch die Normativität der Kolonialisierungsthese ist nicht unterfüttert mit derartigen Figuren. Werden die Pathologien der Lebenswelt nicht beseitigt, so bricht diese nicht notwendig zusammen, was eine geschichtsphilosophische Rechtfertigung wäre, allein ihr Rationalitätspotential bleibt ungenutzt – mit den entsprechenden negativen Folgen für die Individuen. Die praktisch-strategische Bedeutung dieser theoretischen Grundlegung darf ebenfalls nicht unterschätzt werden: Schließlich bezeichnet die TKH nicht zuletzt eine Argumentationsressource, mit deren Hilfe Akteure versuchen können, andere Akteure von einer bestimmten Deutung dessen, was in modernen Gesellschaften passiert, zu überzeugen. Die TKH liefert Gründe, warum bestimmte Aspekte der Gesellschaft als kritikwürdig anzusehen sind und der Veränderung bedürfen, und als derartiges Argumentationspotential kann sie in befriedeten politischen Auseinandersetzungen eine gewisse kritische Stärke entfalten. Allerdings wird man hier realistisch bleiben und einräumen müssen, dass sich ein Konzept, wie es Habermas vertritt, auch ein Stück weit gegen seine Verwendung als politisches Argument sperrt, da es schlicht zu komplex und voraussetzungsreich ist. Hier würden sich wohl eher popularisierte und/oder überholte Versionen der Habermas’schen Begründungsstrategie anbieten wie die ideale 5 »Die vermeintlichen Ähnlichkeiten des formalpragmatischen Ansatzes mit der klassischen Transzendenzphilosophie führen auf eine falsche Spur.« (TKH I: 9) 6 So auch Berger 1988: 276; vgl. hierzu auch Habermas’ semantische Analyse des Begriffs »Krise« in WHHK: 304 ff. In Faktizität und Geltung taucht der Begriff der Krise wieder auf, allerdings gereinigt von allen marxistischen Gehalten.

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Sprechsituation oder der advokatorische Diskurs. Ist die kritische Diagnose der TKH daher nur begrenzt als Argumentationshilfe in der Auseinandersetzung mit anderen Akteuren einsetzbar, so entfaltet sie aber dennoch eine gewisse kritische Stärke mit Bezug auf schon bestehende oppositionelle Akteure: Suchen diese retrospektiv nach einer Legitimation für ihr Handeln, so kann dies durch die TKH geleistet werden, vorausgesetzt es handelt sich um eine Gruppe, die Habermas’ Vorstellung eines progressiven Politik-Projektes entspricht. Abgesehen von der allgemeinen praktisch-strategischen Bedeutung einer theoretischen Grundlegung stellt sich die Frage, was der TKH mit Bezug auf eine kritische Praxis zu entnehmen ist. Hier glauben zahlreiche Kritiker, massive Schwachstellen bei Habermas entdecken zu können. M. E. ist dieser Themenkomplex jedoch treffender als »ambivalent« zu bezeichnen, da sich hier auch aus Selbstbeschränkung herrührende Stärken des Ansatzes finden, die daher an dieser Stelle zu thematisieren sind. Insbesondere von marxistischer Seite werden Bedenken geäußert, Habermas könne keinen klar definierten Kollektiv-Akteur zur Umsetzung seiner Theorie identifizieren.7 Noch weniger könne er Instruktionen bezüglich der zu beschreitenden Wege im Rahmen einer kritischen Praxis geben. Die Frage ›Was tun?‹ werde von Habermas’ Seite nicht in der Art beantwortet, wie dies noch bei Marx geschehen war. Diese Bedenken und Vorwürfe sind nur bedingt stichhaltig: Wenn Habermas keinen bestimmten Theorieadressat hätte, dann könnte dies zunächst grundsätzlich positiv gewertet werden, da es eine Theoretisierung und damit indirekte Legitimierung von unterschiedlichsten Konflikten und Akteuren zulässt. Das marxistische Paradigma ließ z. B. nur Raum für klassenspezifische Konflikte/Akteure und marginalisierte unter anderem feministische Bewegungen. Eine derartige analytische Offenheit werde allerdings mit einem motivationalen Defizit erkauft, meinen Kritiker: Heller argumentiert, Habermas könne keine Motivation zur Umsetzung seines Programms angeben. Das Interesse an kommunikativer Vernunft sei ein universales Interesse, das mit keinem partikularen Interesse zusammenfalle.8 Das Fehlen eines Motivs/Interesses sei also die entscheidende Schwäche.9 Habermas, der diese Interpretation auf sein Diktum der »Parteilichkeit für die Vernunft« (LS: 194) zurückführt, argumentiert hingegen: »The formula was in no way intended in the sense of a universalization of 7 Vgl. z. B. Held 1983: 399; Leonhard 1990: 37. 8 Dies war noch die Strategie des jungen Marx gewesen (s. o.). 9 Heller 1982: 24 f.; ebenso Taylor 1988: 46.

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the addressee.« (Reply: 221) Um diesen Streitpunkt zu klären, bedarf es einer Unterscheidung: Bezüglich einer Praxis der Abwehr von Systemimperativen existieren durchaus Adressaten. Doch Habermas sagt diesen Gruppen, z. B. der Ökologiebewegung, nicht, was sie tun sollen, sondern bietet ihnen eine Deutung dessen an, was sie ohnehin schon tun. Ein Motivationsproblem bezüglich der Abwehr von Systemimperativen existiert nicht, da diese ja schon faktisch unter anderem Namen stattfindet und ex post von Habermas in seinem Koordinatensystem gedeutet und teilweise legitimiert wird. Die Weigerung Habermas’, die Frage ›Was tun?‹ zu beantworten und sich auf eine Ex-post-Analyse zu beschränken, hat des Weiteren den positiven Effekt, dass er sich nicht latent-totalitär zum Verkünder der wahren Interessen einer Gruppe aufschwingen muss. Habermas erläutert, seine Theorie »shifts decisions and responsibilities unambiguously to the side of those who have to bear the risk of the consequences of their action«, mit dem Nebeneffekt: »This revision increases the distance between theory and practice« (Reply: 223).10 Wenn überhaupt, dann bleibt Habermas höchstens einem marginalen ElitismusVorwurf ausgesetzt, in dem Sinn, dass er in gewisser Weise eine privilegierte Position gegenüber den Akteuren beansprucht. Schließlich glaubt er, dass es der Alternativbewegung im Kern nicht um besetzte Häuser, sondern um die Abwehr von Systemimperativen gehe. Doch auch dieser schwache Vorwurf an Habermas ließe sich mit dem Hinweis darauf entkräften, dass er nicht versucht, ein wahres gegen ein vermeintliches Interesse auszuspielen, sondern schlicht aus analytischen Gründen von der Ebene der konkreten Interessen auf eine höhere Abstraktionsebene wechselt, um eine gewisse Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Ziele und Interessen herausarbeiten zu können. Kann Habermas auf dieser ersten Ebene also immer Adressaten voraussetzen, die seine Theorie zumindest als Legitimation nutzen können, verkompliziert sich dieser Anspruch auf der zweiten Ebene seines Projekts: Schließlich geht es ihm nicht nur um die Abwehr der Systemimperative, sondern um die Etablierung kommunikativen Handelns in der Lebenswelt. Entsprechend unterscheidet er bei den Widerstandsgruppen zwischen solchen, die für eine Rationalisierung der Lebenswelt eintreten und den anderen, die er als partikularistisch bezeichnet. Seiner eigenen Analyse zufolge sind jedoch alle neuen sozialen Bewegungen mehr (Alternativbewegung) oder weniger (Frauenbewegung) partiku10 Es ist instruktiv, dass Habermas sich genötigt fühlt klarzustellen, »daß die TKH kein völlig unpolitisches Projekt ist« (Entg.: 378).

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laristisch (vgl. TKH II: 578). Hier ist es ihm also nicht möglich, auf schon faktisch vorhandene Praxis zu verweisen, so dass er sich erneut mit dem Motivationsproblem konfrontiert sieht. Habermas’ Theorie der kommunikativen Rationalität ist vielleicht geeignet, den strategischen Sprachgebrauch als verkürzt zu kritisieren, aber sie tut sich schwer, ein Interesse an kommunikativem Handeln auf der Ebene des Individuums zu apostrophieren. Agnes Heller hat daher wohl zu Recht auf eine Art Rest-Dezisionismus in Habermas’ Argument hingewiesen: Die Entscheidung für kommunikative Rationalität bleibt letztlich eine Wertentscheidung. Aus der Prämisse des Menschen als rationalem Wesen lässt sich nicht das Interesse an kommunikativer Rationalität ableiten.11 Die zweite Ambivalenz, die viel Kritik an Habermas provoziert hat, ist seine verengte kritische Perspektive. Dieser Vorwurf ist der am häufigsten vorgebrachte: Indem Habermas soziale Probleme auf Übergriffe von Systemimperative reduziere und kritische Praxis nur noch in deren Abwehr in Verbindung mit Lebensweltrationalisierung sehe, blieben bestimmte Komplexe systematisch der Kritik enthoben. Habermas’ Kritik habe damit nicht ihr eigentliches Potential ausgeschöpft, sie beraube sich »jeder Möglichkeit einer begründeten Kritik an konkreten Organisationsformen der ökonomischen Produktion und der politischen Verwaltung«12. Auf diese Kritik wird noch mehrfach zurückzukommen sein. An dieser Stelle möchte ich zunächst nur eine durchaus positive Entwicklung herausarbeiten, was Habermas’ Kritikradius angeht. Die unübersehbare Verengung seines kritischen Blickwinkels bedeutet keineswegs nur eine »Depotenzierung der Kritischen Theorie«13, sie bezeichnet auch eine Stärke, da sie totalisierenden und fundamentalistischen Versuchungen widersteht, was in Habermas’ früheren Konzepten nicht immer der Fall war.14 Habermas könnte also zunächst positiv für sich in Anspruch nehmen, dass er sich nicht einem kritischen Rundumschlag hingibt, der dann doch meistens wieder Stück für Stück zurückgenommen werden muss, sondern mit dem kritischen Seziermesser ein spezifisches Phänomen, die Systemimperative, aus der 11 12 13 14

Heller 1982: 29; so auch Christoph 1985. Honneth 1986a: 334; ebenso Weiß 1983: 118; Roderick 1989: 191; Kochinke 1988: 73. Breuer 1982: 132. So muss die TKH z. B. »auf die kritische Beurteilung und normative Einordnung von Totalitäten, Lebensformen und Kulturen, von Lebenszusammenhängen und Epochen im ganzen verzichten« (TKH II: 562) und räumt ein: »Kulturelle Werte gelten nicht als universal« (TKH I: 71). Implizit bedeutet dies auch eine Abkehr vom Konzept der idealen Sprechsituation, vgl. TG: 14.

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Totalität der Gesellschaft herausschält und dieses Phänomen prononciert und mit einem massiven theoretischen Unterbau zu kritisieren vermag, ohne diesen Unterbau, die kommunikative Rationalität, in seinem Begründungspotential überzustrapazieren. Zudem könnte Habermas darauf hinweisen, dass das eigentliche Problem einer begründeten Kritik schließlich nicht darin liegt, möglichst viel kritisieren zu können, sondern Begriffe, Institutionen und Perspektiven zu erschließen, die nicht dem kritischen Verdikt verfallen, sondern als dessen Grundlage dienen können. Man kann all dem zustimmen und dennoch die Frage stellen, ob die Praxis, die Habermas gegen die verdinglichenden Systemimperative vorschlägt, nicht etwas offensiver sein könnte, ja sein müsste, um erfolgreich zu sein. Die defensive Praxis kann nur ausreichen, wenn Habermas zeigen kann, dass kapitalistische Wirtschaft und bürokratischer Staat potentiell ohne Verdinglichung mit der Lebenswelt koexistieren können. Ob Habermas diesem und den übrigen oben formulierten Ansprüchen an seine Theorie entsprechen kann, ist im Folgenden zu klären. 1.5 Probleme der Vernunftphilosophie 1.5.1 Überwindung der Bewusstseinsphilosophie? Frühere kritische Theoretiker haben sich vergeblich um eine begründete Kritik von Verdinglichung bemüht, da ihnen nur ein verkürzter Rationalitätsbegriff zur Verfügung stand, den sie im Wesentlichen aus Webers Handlungstheorie schöpften. So lautet Habermas’ Interpretation der Dialektik der Aufklärung. Die Ursache für dieses Scheitern sei nicht zufällig, sondern in den bewusstseinsphilosophischen Prämissen der Denker angelegt, die er in der TKH überwinden will und muss, sofern er den eigenen Ansprüchen genügen will. Zudem ist die Methode der rationalen Rekonstruktion nicht mit dem grundsätzlich privaten Wissen einer bewusstseinsphilosophischen Introspektion kompatibel. Dieses Wissen ist streng genommen nicht kritisierbar und verträgt sich daher nicht mit dem fallibilistischen Selbstverständnis der rationalen Rekonstruktion: Ob die Überwindung der Bewusstseinsphilosophie, die Habermas für sich in Anspruch nimmt, gelingt, soll nun untersucht werden. Er scheint sich darüber im Klaren zu sein, dass seine kommunikative Handlungstheorie nicht von den Einstellungen, Motiven oder Intentionen der Akteure, kurz, dem einzelnen Subjekt, ausgehen darf: »Für eine Theorie des kommu-

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nikativen Handelns sind nur diejenigen analytischen Bedeutungstheorien, die an der Struktur des sprachlichen Ausdrucks statt an der Sprecherintention ansetzen, instruktiv.« (TKH I: 372) Entsprechend gibt Habermas der Sprechakttheorie den Vorzug gegenüber der intentionalen Semantik. Umso überraschender ist es jedoch, dass Habermas’ Handlungstheorie über weite Strecken in Begriffen der Bewusstseinsphilosophie formuliert ist. So nimmt Habermas die Unterscheidung von kommunikativem und strategischem Handeln folgendermaßen vor: »Vielmehr lassen sich soziale Handlungen danach unterscheiden, ob die Beteiligten entweder eine erfolgs- oder verständigungsorientierte Einstellung einnehmen.« (TKH I: 386) Zwar rekurriert Habermas im unmittelbaren Anschluss auch auf die Struktur des Sprechaktes, aber es scheint dennoch, als bleibe die Unterscheidung zumindest partiell von einer Entscheidung der Akteure bezüglich ihrer Intentionen abhängig. Damit handelte es sich jedoch um eine klassisch bewusstseinsphilosophische Klassifizierung von Handlungen. Habermas beharrt jedoch darauf, nicht in eine solche zurückzufallen: »Im übrigen unterscheidet sich kommunikatives und strategisches Handeln nicht primär nach Aktoreinstellungen, sondern nach strukturellen Merkmalen.« (Entg.: 365) Bezüglich dieser strukturellen Merkmale lassen sich zwei Möglichkeiten ausmachen: Zum einen die Unterscheidung nach Art der Handlungskoordination, zum anderen die sprechakttheoretische Unterscheidung. Der erste Weg scheint wenig geeignet, den Anforderungen zu genügen: Habermas differenziert hier zwischen rationaler und empirischer Motivation, mit der eine Äußerung angenommen wird (TKH I: 386 f.) und bleibt damit der bewusstseinsphilosophischen Begrifflichkeit verhaftet.15 Die zweite Möglichkeit ist die Untersuchung der »formalpragmatischen Merkmale der verständigungsorientierten Einstellung« (TKH I: 387), die Habermas mit den Mitteln der Sprechakttheorie durchführt. Dies bedeutet für ihn: »Was wir mit verständigungsorientierter Einstellung meinen, muss allein anhand illokutionärer Akte geklärt werden.« (TKH I: 394) Der Kriterienkatalog, anhand dessen er Illokutionen bestimmen will, scheint zunächst ein geeignetes Instrumentarium zu bieten (TKH I: 190 f.). Es gelingt Habermas – zumindest auf den ersten Blick – Illokutionen auf der Basis von Sprache zu definieren. Illokutionen machen jedoch nur Sinn, wenn sie auch von Perlokutionen unterschieden werden können, und hier sieht er sich erneut mit dem alten Problem 15 So auch Dorschel 1990: 233; es liegt auf der Hand, dass es hier nicht nur um die Begriffe geht, sondern dass Habermas’ Argumentation in ihrer Substanz berührt ist.

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konfrontiert, was am obigen Beispielsatz deutlich wird: Der Sprecher kann mit dem Satz ein illokutionäres Ziel der Verständigung erreichen, mit dem gleichen Satz jedoch auch perlokutionäre Ziele verfolgen. Aus dem Satz für sich genommen geht die Unterscheidung nicht hervor, man muss wieder auf die Absicht des Sprechers rekurrieren. Skjei hat in seiner einflussreichen Kritik erstmals auf dieses Problem hingewiesen.16 Habermas hat diesen ersten Vorwurf Skjeis scharf zurückgewiesen und in einer Replik noch einmal seine Position verteidigt: »It is precisely the structural account of interaction that allows us to give a differential description from different perspectives, first from the perspective of the requirements of communicative action, and second from the perspective of someone who unilaterally and covertly departs from the attitude which is structurally required.« (RS: 108)

Er argumentiert, dass man den Effekt von Perlokutionen nur dadurch erklären kann, dass man die Struktur von Illokutionen untersucht, da Ersterer von Letzterer abhängt. Dieses Argument ist zunächst haltbar, es liegt jedoch auf einer anderen Ebene als die formulierten Bedenken: Habermas kann erklären, wie es überhaupt zu Perlokutionen kommen kann und deren Operationsweise beschreiben, aber es ist ihm weiterhin nicht möglich, eine Perlokution zu identifizieren, ohne auf die Intention des Sprechers zu rekurrieren. Hier mag eingewandt werden, dies bestätige indirekt die Sichtweise Habermas’: Die Bewusstseinsphilosophie konnte demnach nur das teleologische oder strategische Handlungsmodell hervorbringen. Von daher sei es unproblematisch, dass Perlokutionen, die ja in einer internen Beziehung insbesondere zu letztgenanntem Handlungsmodell stehen, nur bewusstseinsphilosophisch zu fassen seien, solange dies nicht für Illokutionen der Fall sei. Doch damit würde Habermas’ Absicht verkannt: Der bewusstseinsphilosophische Begriffsapparat kann nicht das kommunikative Handeln erfassen, umgekehrt muss das Kommunikationsparadigma als das umfassendere jedoch auch teleologisches/strategisches Handeln bzw. Perlokutionen konzeptionalisieren können. Es bleiben also gewisse Bedenken bezüglich Habermas’ Überwindung der Bewusstseinsphilosophie,17 auch wenn diese nicht einfach an Habermas’ bloße Verwendung der Worte »Intention«, »Einstellung« etc. geknüpft werden können, wovon Kneer auszugehen scheint.18 16 »Habermas wants to explain the concept of ›communicative action‹ on the basis of a structural analysis of language, but he ends by explaining it on the basis of the speaker’s attitude.« (Skjei 1985: 93) 17 Skjei folgen in anderen Analysen z. B. Grodin 1987: 34; Wagner/Zipprian 1988: 495. 18 Kneer 1996: 59.

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Gerade weil Habermas versucht, diese Begriffe auf ihre in der Sprachstruktur enthaltenen Voraussetzungen hin zu untersuchen, ist ihre Verwendung unausweichlich. Mit Rückgriff auf Manfred Frank vertritt Kneer auch die Meinung, Habermas gelinge abgesehen von den erwähnten Problemen ohnehin bestenfalls ein Ausbruch aus der Bewusstseinsphilosophie, nicht jedoch aus der Oberkategorie der Subjektphilosophie. Die Bewusstseinsphilosophie eines Kant oder Descartes sei nur die eine Variante der Subjektphilosophie, die »im menschlichen Bewußtsein die Grundlage alles Seienden sieht«19 und dieses Seiende zu einer bloßen Funktion des Bewusstseins degradiert. Gegen Marx, Nietzsche oder Freud ließe sich laut Frank vorbringen, sie hätten nur das menschliche Subjekt durch ein anderes Makro-Subjekt, das Kapital, die Macht oder das Unbewusste, ersetzt, ohne das damit verknüpfte Denken zu verändern. Kneer wirft Habermas vor, er reduziere Individuen auf eine Funktion der Sprache, die zum neuen MakroSubjekt werde.20 Doch dieser Einwand ist kaum haltbar: Habermas geht keineswegs davon aus, dass die Sprache mit ihren Regeln den Menschen bestimmt. Er ist sich mit dem Ethnomethodologen Garfinkel einig, dass Menschen keine »cultural dopes« sind, wie es McCarthy ausdrückt.21 Die Regeln der Sprache applizieren sich nicht von selbst, die Individuen entscheiden sich in spezifischen Situationen, spezifische Regeln in spezifischer Weise anzuwenden. So sind ja auch die oben erwähnten, »unbedingten« Voraussetzungen nur unbedingt, insofern man sich dafür entscheidet, verständigungsorientiert zu handeln. Auf der anderen Seite besteht eine der Grundeinsichten des linguistic turn darin, dass Denken, Handeln und Sprechen nicht völlig unabhängig von der Sprache existieren, und diese Einsicht findet sich bei Habermas unter anderem in den »unbedingten« Voraussetzungen kommunikativen Handelns. Zu behaupten, Habermas habe diese Dialektik einseitig zugunsten der Sprache aufgelöst, ist daher wenig überzeugend. Es bleibt festzuhalten, dass Habermas mit dem Kommunikationsparadigma, das auf Intersubjektivität, also Subjekt-Subjekt-Beziehungen aufbaut, einen grundsätzlich Erfolg versprechenden Weg zur Überwindung der bewusstseinsphilosophischen Engpässe eingeschlagen hat. Die Handlungstheorie bleibt allerdings, wie das vorliegende Kapitel dokumentiert hat, durchsetzt von be-

19 Frank 1988: 10. 20 Kneer 1996: 102. 21 McCarthy 1994b: 38.

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wusstseinsphilosophischen Überresten, welche die Qualität der Theorie, mit Habermas’ eigenem Maßstab gemessen, schmälern müssen. 1.5.2 Die Entwirrung von Macht und Geltung 22 Einer von Habermas’ grundsätzlicheren Vorwürfen gegenüber Horkheimer/ Adorno ist deren »naturalistische Angleichung von Geltungs- an Machtansprüche« (PhDM: 137), unter anderem bedingt durch ihren bewusstseinsphilosophischen Ansatz. Die Dialektik der Aufklärung kennt keine Vernunft mehr, die nicht untrennbar mit Macht verwoben wäre. Habermas hat, wie oben erläutert, die kommunikative Rationalität als unversehrte Restvernunft zu etablieren versucht, welche die Kritik an einer instrumentellen Vernunft und anderen Phänomenen rechtfertigen kann. Kommunikative Rationalität basiert auf kommunikativem Handeln, das auf ein begründetes Einverständnis und nicht auf machtgestützte Einflussnahme abzielt. Er muss also eine kategoriale Trennung zwischen kommunikativem und strategischem Handeln aufzeigen können, damit nicht die Vorwürfe gegen Horkheimer/Adorno auf ihn selbst zurückfallen. Einflussnahme und Verständigung als Handlungskoordinierung sind »nicht nur zwei analytische Aspekte«, unter denen dieselbe Handlung betrachtet werden kann; »vielmehr lassen sich soziale Handlungen danach unterscheiden, ob die Beteiligten entweder eine erfolgs- oder verständigungsorientierte Einstellung einnehmen« (TKH I: 385 f.). Handlungen sind entweder erfolgs- oder verständigungsorientiert. Derartige essentialistische Dichotomien in den Sozialwissenschaften aufrechtzuerhalten, ist schwierig, und tatsächlich hat auch die von Habermas hier konstruierte heftige Kritik hervorgerufen: Der offensichtlichste Einwand besagt, dass der Sprecher bei Hörer A durch eine Sprechhandlung möglicherweise nur illokutionäre Ziele verfolgt, aber dadurch bei Hörer B durchaus perlokutionäre Effekte erzielen kann. Habermas präzisiert daher: »In komplexen Handlungszusammenhängen« (TKH I: 396) seien solche Nebeneffekte möglich. Von der Kritik müsste daher gezeigt werden, dass eine einzelne Sprechhandlung nicht klar als verständigungsorientiert bzw. strategisch eingeordnet werden kann. Berger versucht, dies mit einer begriffslogischen Argu22 Aufgrund der zentralen Bedeutung dieser Thematik für den Ansatz Habermas’ und aufgrund der nun schon 20 Jahre andauernden Diskussion werde ich hier eine Längsschnittanalyse vornehmen. Am Beispiel dieser Problematik lässt sich demonstrieren, wie Habermas immer wieder neue Anläufe unternimmt, um bestimmte Schwierigkeiten zu überwinden und dabei auch die vorgebrachte Kritik aufnimmt.

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mentation zu zeigen23, die eher an die Intuition appelliert.24 Eine zwingendere Kritik ergibt sich aus der Untersuchung einer bestimmten Sprechaktklasse, die ebenfalls erstmals von Skjei gegen Habermas angeführt wird: Die Imperativanalyse. Habermas hatte argumentiert, kommunikatives Handeln müsse sich allein durch den Begriff der Illokution erschließen lassen. Wendet man den Kriterienkatalog für Illokutionen auf Imperative an, so ergibt sich unstrittigerweise, dass letztere Illokutionen sind. Andererseits beruhen Befehle nicht unbedingt auf Einverständnis, sondern transportieren einen Machtanspruch und können daher als manifest-strategische Handlungen angesehen werden. Betrachtet man Habermas’ eigene Imperativanalyse in der TKH, so zeigt sich, dass er einfache Imperative mit Hinweis auf die Akzeptabilitätsbedingungen eines Sprechaktes als strategische Handlungen ansieht. Er argumentiert, dass die Akzeptanz zum einen auf dem illokutionären Bindungseffekt der Sprache beruhen kann: Der Hörer akzeptiert den Sprechakt, weil er davon ausgeht, dass der Sprecher gegebenenfalls Gründe angeben kann. Sein Einverständnis ist rational motiviert. Bei einem Imperativ ist die Akzeptanz dagegen empirisch durch den Verweis auf ein externes Sanktionspotential motiviert: »Hände hoch (oder ich schieße)!« (vgl. TKH I: 403 f.). Habermas folgert aus den beiden Argumentationssträngen: »Deshalb können Sprecher mit echten Imperativen oder nicht-normierten Aufforderungen illokutionäre Ziele vorbehaltlos verfolgen und gleichwohl strategisch handeln.« (TKH I: 410) Es scheint, als sei er sich der Inkonsistenz dieser Aussage nicht bewusst gewesen, bis ihn Skjei 1985 darauf aufmerksam macht.25 Habermas räumt in der Antwort ein, dass Imperativproblem falsch eingeschätzt zu haben: »Skjei is right to stress this contradiction [...] The mistake as I see it, is in my comparing imperatives with perlocutions at all, and classifying them under strategic action« (RS: 112). Im Gegensatz dazu ließen »sich alle Imperative, denen wir eine illokutionäre Kraft zuschreiben, nach dem Muster normativ autorisierter Auforderungen analysieren. Was ich fälschlich für einen kategorialen Unterschied gehalten habe, schrumpft zu einem graduellen.« (Entg.: 361 f.)

23 »Man kann sich erfolgreich verständigen und verständnisvoll Erfolg haben.« (Berger 1988: 266) 24 Ein weiterer, allerdings wenig plausibler Versuch, die Unhaltbarkeit einer kategorialen Trennung nachzuweisen, findet sich bei Wood 1994: 243 ff., dem dies nur durch eine Vermischung von Habermas’ und Austins Sprechaktdefinitionen gelingt. 25 Skjei 1985: 94 f.

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Habermas greift hier zurück auf die schon in der TKH eingeführte Unterscheidung, zwischen einfachen und normativ autorisierten Imperativen.26 Während er Letztere seinerzeit als Grenzfall verstand, sind sie nun die Regel. Der einfache Imperativ des Bankräubers wird dagegen zum »parasitären« Grenzfall, den Habermas wie eine »Als-ob-Illokution«27 behandeln will. Habermas selbst zieht die Konsequenz aus seiner Revision: »Sobald sich die Macht mit rechtlichnormativen Geltungsansprüchen verbindet, dringt sie in Strukturen verständigungsorientierten Handelns ein.« (Entg.: 372) Dieser Sacherverhalt ist unproblematisch, solange verschiedene Machtqualitäten kategorial unterschieden werden können. Genau dies ist Habermas jedoch nicht mehr möglich, da er ein Kontinuum zwischen dem faktischen, sanktionsgestützten Machtanspruch und dem normativ autorisierten Machtanspruch annimmt, um alle Imperative unter dem Vorzeichen des Letzteren analysieren zu können. Es hängt davon ab, wie man den Begriff »Grenzfall« versteht, ob man an dieser Stelle die Analyse als beendet ansieht: Wagner/Zipprian und Wenzel/Hochmuth gehen davon aus, dass Habermas’ Versuch einer kategorialen Trennung an dieser Stelle gänzlich zusammenbricht und folgern, Habermas könne »kein plausibles Kriterium angeben, mit dessen Hilfe man die Unversehrtheit kommunikativer Vernunft vor den Zudringlichkeiten empirischer Macht in Sicherheit bringen könnte«.28 Habermas lässt sich jedoch auch dahingehend verstehen, dass er zwar nun »ein Kontinuum zwischen der bloß faktisch eingewöhnten und der in normative Autorität verwandelten Macht« (Entg.: 361) annimmt, dafür aber eine kategoriale Trennung zwischen der faktisch eingewöhnten Macht innerhalb des Kontinuums und dem »Grenzfall« der faktisch nicht eingewöhnten Macht konstruieren will. Eine solche Interpretation kann sich auf eine weitere Revision der Imperativanalyse bei Habermas berufen. Demnach fallen nämlich nun Drohungen nach Art des Bankräubers aus dem Kontinuum heraus: »Solche perlokutionär verselbständigten Akte sind überhaupt keine illokutionären Akte.« (ND: 74) Doch wollte Habermas tatsächlich diesen Weg beschreiten, wie z. B. Kneer glaubt, so wäre auch dieser wenig Erfolg versprechend: Es liegt auf der Hand, dass faktisch eingewöhnte Macht, z. B. Arten von Gewohnheitsrecht, immer einmal nichteingewöhnte Macht 26 Normativ autorisierte Imperative rekurrieren nicht auf Sanktionen, sondern auf bestehende, als legitim angenommene, aber auch grundsätzlich kritisierbare Regeln, z. B.: »Ich verbiete Ihnen, während des Startens des Flugzeuges zu rauchen.« 27 Wagner/Zipprian 1988: 402. 28 Ibid.: 404; ebenso Wenzel/Hochmuth 1989: 252.

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waren. Habermas müsste einen Punkt des kategorialen Umschlagens identifizieren können, aber allein die Existenz eines solchen qualitativen Sprungs erscheint undenkbar, geschweige denn seine Identifikation. Habermas hält bis 1999 an diesem 1988 entwickelten Schema fest. Erst in Wahrheit und Rechtfertigung widmet er sich erneut der Frage einer möglichen Kategorisierung der Klasse der Imperative. Die im Rahmen des Kapitels Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität entwickelte Fassung überlagert das Schema aus Nachmetaphysisches Denken zumindest partiell, wobei Habermas sich jedoch nicht die Blöße einer expliziten Selbstkritik gibt. Die eingestandenen »Revisionen« und deren Folgen bezieht er auf das Gebiet der pragmatischen Bedeutungstheorie (vgl. RV: 134 f.); inwiefern sich die vorgenommenen Modifikationen auf die jahrelange Kontroverse um die Imperativanalyse auswirken, bleibt interessanterweise unthematisiert. Die Entwirrung von Macht und Geltung mit der Hilfe sprechakttheoretischer Analysen konnte Ende der achtziger Jahre insofern als unbefriedigend angesehen werden, als Habermas keine Kriterien für die Unterscheidung einer faktisch nicht eingewöhnten und dem Kontinuum zwischen faktisch eingewöhnter und normativ-autorisierter Macht entwickeln konnte. Diese Problematik war wiederum durch die erste Revision der Imperativanalyse entstanden, da durch sie erst jenes Kontinuum entstand. Habermas versucht in der neuesten Fassung (1999) das Problem der Fassung aus Nachmetaphysisches Denken (1988) zu umgehen, indem er die Revision, die er in der Entgegnung (1988) vorgenommen hatte, spezifiziert und damit wieder partiell einzieht. Hier hatte er ein Kontinuum eingeräumt, und in Ermangelung von robusten Unterscheidungskriterien innerhalb des Kontinuums blieb nur der Weg, der in Nachmetaphysisches Denken beschritten wurde. 1999 führt Habermas nun den Versuch durch, das Kontinuum zwischen einfachen und normativ autorisierten Imperativen neu zu vermessen und anhand einiger neu eingeführter Kategorien zu ordnen: Im Rahmen kommunikativen Handelns existiere die Möglichkeit einer Unterscheidung von verständigungsorientiertem und einverständnisorientiertem Handeln, oder kommunikativem Handeln im schwachen und im starken Sinne (RV: 116). Ein Einverständnis zwischen zwei oder mehreren Akteuren komme nur zustande, wenn die Beteiligten »einen Geltungsanspruch aus denselben Gründen akzeptieren können« (ibid.). Im Gegensatz dazu können sich Akteure durchaus verständigen, »wenn der eine sieht, daß der andere im Lichte seiner Präferenzen unter gegebenen Umständen für die erklärte Absicht gute Gründe

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hat, d. h. Gründe, die für ihn gut sind« (ibid.). Hier wird deutlich, dass mit der konstruierten Dichotomie zwischen Verständigungs- und Einverständnisorientierung die Dichotomie zwischen aktorrelativen und aktorunabhängigen Gründen korrespondiert. Während beispielsweise ein in einer konstativen Sprechhandlung erhobener Geltungsanspruch auf Wahrheit nur durch aktorunabhängige Gründe eingelöst werden könne, könne dies bei Absichtssätzen und einfachen Imperativen auch auf der Basis aktorrelativer Gründe geschehen, so dass »wir auch in diesen Fällen in einem schwächeren Sinne von ›Verständigung‹ zwischen Kommunikationsteilnehmern sprechen« (RV: 117). Der relative Charakter dieser Gründe zeigt sich im Falle der Absichtserklärung daran, dass der Hörer die Absicht des Sprechers nur im Lichte der Präferenzen derjenigen und nicht im Lichte seiner eigenen Präferenzen akzeptieren muss. Bezüglich der Imperative kann der Sprecher wiederum nicht definitiv wissen, aus welchen Gründen der Hörer im gegebenen Fall einen einfachen Imperativ befolgt, ob er dies beispielsweise in der Hoffnung auf Gratifikationen oder aus Furcht vor negativen Sanktionen tut. Die Gründe, auf deren Basis der Sprecher glaubt, einen normativ nicht autorisierten Befehl geben zu können, müssen nicht mit den Gründen übereinstimmen, die einen Hörer zur Akzeptanz bzw. zur Ausführung des Imperativs bewegen. Da nur im Falle einer solchen Übereinstimmung ein Einverständnis erzielt sein soll, muss hier folgerichtig eine Unterscheidung vorgenommen werden: »Ankündigungen und Aufforderungen zielen nicht auf Einverständnis. Gleichwohl bewegen sie sich im Horizont einer auf Geltungsansprüchen basierten Verständigung – und damit im Bereich kommunikativer Rationalität.« (RV: 119) Auch mit einfachen Imperativen werden bestreitbare Geltungsansprüche erhoben – einer von mehreren Gründen, sie als »zweifellos illokutionäre Akte« (RV: 117) anzusehen und sie daher im Bereich des kommunikativen Handelns anzusiedeln. Was sie von kommunikativem Handeln im starken Sinne unterscheiden soll, ist der Umfang der Bestreitbarkeit der in ihnen erhobenen Geltungsansprüche sowie das Erfordernis aktorunabhängiger Gründe, um die erhobenen Geltungsansprüche einzulösen. Typischerweise ließen sich Absichtserklärungen und einfache Imperative nur hinsichtlich der Geltungsansprüche auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit der Geltungsansprüche hin bestreiten und dies wiederum ermögliche Verständigung auf der Basis rein aktorrelativer Gründe. Doch sobald der einfache Imperativ in einen normativen Kontext eingebettet wird, kann er natürlich auch auf normative Geltungsansprüche hin problematisiert werden, und diese wiederum könnten nur mit Verweis auf aktorunabhängige Gründe eingelöst werden, da der Cha-

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rakter eines von Hörer und Sprecher geteilten normativ-sozialen Kontextes in Frage steht. Wird daher ein normativ autorisierter bzw. eingebetteter Imperativ ausgeführt bzw. der entsprechende Sprechakt akzeptiert, so ist ein über bloße Verständigung hinausgehendes Einverständnis erzielt worden. Mit dieser letzten Fassung ist es Habermas zumindest gelungen, an die Stelle des theoriestrategisch äußerst misslichen Kontinuums eine einigermaßen robuste Unterscheidung zwischen normativ autorisierten und einfachen Imperativen zu setzen. Ob diese erneute Modifikation jedoch tatsächlich den erhofften Nutzen einer zweifelsfreien Entwirrung von Macht und Geltung mit sich bringt, erscheint zweifelhaft. Habermas schreibt: »In den ›schwachen‹ Formen des kommunikativen Sprachgebrauchs und des kommunikativen Handelns verschränkt sich die kommunikative Rationalität mit der Zweckrationalität erfolgsorientiert eingestellter Aktoren [...]« (RV: 125). Wenn auch dort, wo nicht ausschließlich kommunikativ gehandelt wird, ebenso wie im kommunikativen Handeln im starken Sinne kommunikative Rationalität sich manifestieren bzw. diese generiert würde, dann ist zweifelhaft, ob der Terminus »kommunikative Rationalität« überhaupt noch Aussagekraft bezüglich einer normativ auszuzeichnenden Form von Rationalität besitzt. Dies ist auch Habermas bewusst, und der zitierte Satz schließt mit den Worten: »[...] aber immer noch so, daß die illokutionären Ziele die unter Umständen ebenfalls angestrebten ›perlokutionären‹ Erfolge dominieren« (ibid.). Damit stellt sich die Lage folgendermaßen dar: Von einer Einverständnisorientierung lässt sich eine bloße Verständigungsorientierung unterscheiden, in der kommunikatives und erfolgsorientiertes Handeln zusammenfließen, ersteres jedoch letzteres dominiert. Von diesem Bereich kommunikativen Handelns ist zu trennen das Reich der Perlokutionen und das des strategischen Handelns. Habermas hat zwischen dem Schwarz und Weiß von Macht und Geltung Platz gemacht für eine puffernde Grauzone, deren Hauptbestandteil die einfachen Imperative sind. Diese Grauzone verändert ihren Aggregatzustand entsprechend dem Dominanzverhältnis zwischen illokutionären Zielen und perlokutionären Erfolgen: Überwiegen Erstere, so handelt es sich um kommunikatives Handeln im schwachen Sinne, das dem Bereich kommunikativer Rationalität zuzurechnen ist, wobei unklar bleibt, ob Habermas in einem solchen Fall von einer völligen Suspendierung der Machtkomponente ausgeht, oder davon, dass diese zu vernachlässigen sei. Da die erste Option zumindest inkohärent ist, votiert Habermas wohl für die zweite Option, der man auf der Grundlage eines gewissen Rigorismus natürlich vorwerfen könnte, sie nähme

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eine wenn auch minimale Kontamination der Geltungsdimension durch Machtkomponenten in Kauf. Das ernst zu nehmendere Problem besteht jedoch in der Frage, wie die »Dominanz« illokutionärer Ziele über perlokutionäre Effekte operationalisiert werden kann. War es in der Version von 1988 der Umschlagpunkt zwischen faktisch eingewöhnter und faktisch nicht eingewöhnter Macht, so ist es in der Version von 1999 der Umschlagpunkt einer Dominanz von illokutionären Zielen über perlokutionäre Effekte in ihr Gegenteil, der von Habermas nicht identifiziert werden kann. Da dieser Punkt jedoch das Einfallstor der Machtdimension in die Geltungsdimension bezeichnet, bleibt die Zwischenschaltung einer Grauzone zwischen Macht und Geltung solange zwecklos, wie dieser neuralgische Punkt untertheoretisiert bleibt. Ruft man sich in Erinnerung, was Habermas an Horkheimer/Adorno moniert hatte und was die Intention der TKH war, nämlich die Ausarbeitung einer unkontaminierten kommunikativen Rationalität als kritischer Standard, so wird deutlich, dass die hier geäußerte Kritik bezüglich der mangelnden Trennung zwischen Macht und Geltung einen neuralgischen Punkt in Habermas’ Theoriegerüst trifft. Doch nicht nur die Trennschärfe zwischen Macht und kommunikativer Rationalität, auch die Dominanz der Letzteren ist schwer zu verteidigen.29 Im Folgenden soll nun geklärt werden, inwieweit Habermas’ gesellschaftstheoretische Konzepte, in welche die kommunikative Rationalität eingearbeitet wird, haltbar sind. 1.6 Probleme der Gesellschaftstheorie: Kolonialisierung und die Dichotomie von Lebenswelt und System Die erste Ebene der Kritik an Habermas’ Gesellschaftstheorie setzt an der Konzeption von Lebenswelt und System an und moniert, dass diese Konzepte ausschlaggebend für die schon oben erwähnte Verengung der kritischen Perspektive seien.30 Dadurch entzögen sich vielfach kritikwürdige Phänomene Habermas’ Blick. 29 Zu einer Kritik der entsprechenden These Habermas’, Verständigungsorientierung bezeichne den Originalmodus von Sprache, vgl. Kneer 1996 sowie Johnson 1991. 30 Darüber hinaus kann auch grundsätzlich an der Leistungsfähigkeit des Analyserasters »System/Lebenswelt« gezweifelt werden, da unzählige intermediäre Institutionen nicht eindeutig zu einer der beiden Sphären zugeordnet werden können; Kunneman erwähnt

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Diese Problematik soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden, denn die Art von Kritik, die auf den Kern von Habermas’ Konzept zielt, rankt sich um die Kolonialisierungsthese: Habermas will »die Evidenzen, an denen die These der inneren Kolonialisierung überprüft werden könnte, anhand eines Beispiels illustrieren,« als das er die »Verrechtlichung kommunikativ strukturierter Handlungsbereiche« (TKH II: 523) wählt. Das Recht ist eine Art Brückenkopf zwischen System und Lebenswelt. Durch das Recht können Systemimperative transportiert werden: Habermas erläutert, wie durch eine Verrechtlichung der Sozial- oder Familienpolitik Verdinglichungseffekte in diesem Bereich induziert werden. In beiden Bereichen soll sie Individuen aus Abhängigkeiten befreien, indem sie justiziable Ansprüche schafft. Doch laut Habermas schlägt dieser Versuch der Freiheitsverbürgung in Freiheitsentzug um: Der Klient gerät in Abhängigkeit eines staatlichen Sozialfürsorgeapparats, der seine Bedürfnisse definiert und nach bürokratischen Regeln monetär befriedigt. Ebenso interpretiert Habermas die Situation im Familienrecht: »Die Emanzipation in der Familie vollzieht sich um den Preis einer neuen Bindung.« (TKH II: 542) Ehepartner und Kinder treten einander als abstrakte Rechtssubjekte gegenüber, die zur Konfliktbewältigung den Staat einschalten müssen, der sie wiederum nur als abstrakten Fall behandelt. Das Recht dringe hier in originär kommunikativ strukturierte Bereiche ein und führe zu einer Formalisierung und Abstrahierung der sozialen Verhältnisse, kurz, Verdinglichung.31 Allerdings gesteht Habermas durchaus ein, dass die Familie kein Hort der Glückseligkeit ist, daher spricht er zu Recht von der »dilemmatischen Struktur« ihrer Verrechtlichung (TKH II: 542). Doch nimmt man dieses Dilemma ernst, bedenkt man, wie wichtig eine Verrechtlichung der Familie zum Schutz von Frauen und Kindern vor Gewalt sowie zu ihrer ökonomischen Absicherung ist, dann fällt es schwer, die Systemimperative und deren Symptom, die Verrechtlichung, als etwas nur Problematisches anzusehen. Diesen scheint eher ein dialektischer Charakter zuzukommen. Damit ist jedoch eine vermeintliche Stärke Habermas’ in Frage gestellt, die darin bestand, die Dialektik der Moderne zu entwirren und einen unzweideutigen Problemauslöser in Form der Systemimperative identifizieren zu können. Nun scheint es eher so, als ob hinter den Verrechtlichungsschüben abermals die in diesem Zusammenhang Schulen und Pflegeheime. Seine Lösung des Problems, die in der Einführung einer Interferenzzone zwischen System und Lebenswelt besteht, erscheint zumindest bedenkenswert. Vgl. Kunneman 1991: 210 f. 31 Habermas’ Einschätzung trifft sich soweit mit der Kritik des interventionistischen Wohlfahrtsstaates vieler Feministinnen.

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Fundamentalfigur der Dialektik der Aufklärung lauerte: Herrschaft, von der Emanzipation nur durch neue Herrschaft möglich ist. Frauen werden durch das Recht von der »naturwüchsigen« Herrschaft des Patriarchen befreit, aber nur um den Preis, sich erneut dem bürokratischen Staat unterwerfen zu müssen. Analog war der Mensch durch die instrumentelle Vernunft aus dem Würgegriff der Natur befreit worden, aber nur um den Preis, wieder Herrschaft über andere Menschen, die Natur und sich selbst ausgeübt zu sehen.32 Diese Gedanken enthalten noch keineswegs einen zwingenden Einwand gegen die Kolonialisierungsthese. Doch es wird deutlich, dass sich das Bild, das Habermas von der Problematik der Moderne zeichnet, auf dem Weg vom Abstrakten zum Konkreten durchaus verändert. Auf der abstrakten Ebene schien in den Systemübergriffen das Fundamentalproblem der Moderne gebündelt zu sein. Auf der konkreten Ebene wird deutlich, dass es übertrieben wäre, in ihnen die größte Problematik zu sehen, geschweige denn, die einzige. Frauen und Kindern, die Gewalt in Ehe und Familie erleiden müssen, dürfte die Verdinglichungsproblematik als sehr viel kleineres Übel erscheinen. Selbst wenn Habermas also behaupten würde, nicht allgemein die Probleme der Moderne, sondern nur Verdinglichung erklären und kritisieren zu wollen, muss er sich fragen lassen, ob sein Kritikfokus nicht teilweise an den eigentlich viel drängenderen Problemen vorbeizielt. Wird die Kolonialisierungsthese in ihrem kritischen Gehalt durch diese Gedanken zumindest in Frage gestellt, so verschärft sich dieser Eindruck mit den folgenden Überlegungen.33 Um seinen kritischen Maßstab auf der Ebene der Gesellschaftstheorie, eine Gesellschaft, in der Systemimperative nicht die Rationalisierung der Lebenswelt unmöglich machen, aufrechterhalten zu können, muss Habermas zeigen, dass dies grundsätzlich möglich ist. Dazu gehört die Umstellung der Handlungskoordinierung von kommunikativen Übereinkünften hin zu den Medien Geld und Macht innerhalb der Systeme. Habermas hat letztendlich überzeugend dargelegt, warum Geld und Macht nicht für die symbolische Reproduktion verwendbar sind, aber warum sind sie es für die materielle Reproduktion? Habermas versucht, dies zunächst »strukturell zu begründen« (Entg.: 388). Das Argument sieht folgendermaßen aus: »Während für die symbolische Reproduktion der Lebenswelt am sozialen Verhalten vor allem der 32 Jahre später weist Habermas selbst auf diese Dialektik hin: »Man weiß, daß die weniger dramatischen Schritte auf dem Wege zur rechtlichen und sozialen Gleichberechtigung der Frauen nur sublimere Belastungen zur Folge haben.« (IRM: 34) 33 Vgl. zum Folgenden auch Kneer 1990.

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Aspekt der Verständigung relevant ist, ist es der Aspekt der Zwecktätigkeit für die materielle Reproduktion. Diese vollzieht sich durch das Medium von zielgerichteten Eingriffen in die objektive Welt.« (TKH II: 348) Habermas ist nun der Meinung, dass die materielle Reproduktion aufgrund der teleologischen Struktur der Einzelhandlung ebenso gut durch Steuerungsmedien koordiniert werden kann (vgl. PhDM: 406). Dieser Schluss von der Handlungsstruktur auf den Koordinationsmechanismus ist jedoch nicht zulässig. Habermas hatte nämlich selbst konstatiert: »Insofern ist die teleologische Struktur für alle Handlungsbegriffe fundamental. Die Begriffe des sozialen Handelns unterscheiden sich aber danach wie die Koordinierung für die zielgerichteten Handlungen« (TKH II: 150 bzw. 193) stattfindet. Will Habermas von der Struktur auf die geeignete Koordination schließen, so müsste er auch akzeptieren, dass die symbolische Reproduktion per Steuerungsmedium koordiniert wird, da auch die kommunikativen Handlungen ihrer Struktur nach teleologisch sind. Tatsächlich lässt Habermas in der Entgegnung diese Argumentation fallen. In einer Fußnote heißt es, der strukturelle Begründungsversuch sei »waghalsig, vielleicht falsch, jedenfalls überflüssig« (Entg.: 404, FN 90). Wenn dem so ist, dann muss es eine andere Begründungsstrategie geben, die Erfolg versprechender ist. Diese Strategie scheint Habermas in der Tat im Aufzeigen einer möglichen friedlichen Koexistenz zu sehen. Finden keine Übergriffe statt, dann ist es irrelevant, ob Geld ein geeignetes Steuerungsmedium ist, da sich Habermas ausschließlich auf in der Sphäre der Lebenswelt auftretende Verdinglichungseffekte konzentriert. Er versucht also zu zeigen, dass die Entkoppelung von System und Lebenswelt langfristig nicht pathologische Folgen haben muss, obwohl sie kurzfristig »keineswegs schmerzlos« (TKH II: 474) sei. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen der Mediatisierung der Lebenswelt, in der er die Entkoppelungseffekte verkörpert sieht, und der Kolonialisierung, die Verdinglichungseffekte hervorruft. Zwischen beiden muss ein qualitativer Unterschied bestehen. Um diese Schwelle aufzuzeigen, an der das eine in das andere umschlägt, untersucht Habermas gemäß dem Parson’schen Medienkonzept den Austausch zwischen System und Lebenswelt, der in Form von Geld und Macht erfolgt und die »sozialen Rollen des Beschäftigten und des Konsumenten auf der einen, des Klienten und des Staatsbürgers auf der anderen Seite« (TKH II: 472) hervorbringt. Entscheidend scheint mir dabei zu sein, dass die Medien nur insofern zum Austausch geeignet sind, »wie die Produkte der Lebenswelt mediengerecht zu Faktoreingaben [...] abstrahiert worden sind« (TKH II: 476). So beschreibt Habermas die Entkoppelung, die Mediatisierung. Aber ist dies von Verdinglichung zu

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trennen? Der Lohnarbeiter verkauft seine Arbeitskraft als Ware, die Tätigkeit des citoyen wird reduziert auf das regelmäßige Abstimmen bzw. Wählen (vgl. TKH II: 476). Es fällt schwer, dies nicht Verdinglichung zu nennen. Doch Habermas überrascht, indem er selbst den Unterschied zunächst konfundiert, also kurzfristig Mediatisierung mit Kolonialisierung gleichsetzt (vgl. PhDM: 407). Im Folgenden argumentiert er jedoch, dass die von ihm kurzfristig eingeräumten Phänomene (Proletarisierung und Plebejisierung) im Verlauf der Moderne rückgängig gemacht würden – so verliere beispielsweise »die Beschäftigtenrolle ihre krankmachenden proletarischen Züge« (TKH II: 514). »Rückgängig« trifft jedoch nicht den Kern der Sache, vielmehr »abgefedert«, denn Habermas bestreitet nicht, dass es Verdinglichungseffekte in der Staatsbürgerrolle oder am Arbeitsplatz gebe. Am Arbeitsplatz würden diese jedoch durch »das Angebot von monetären Entschädigungen und rechtlich garantierten Sicherheiten« (ibid.) kompensiert (so auch in IK: 91) und auf der Staatsbürgerebene durch die »bürokratische Daseinsvorsorge« (TKH II: 516). Damit bewegt sich Habermas freilich in eine problematische Richtung mit seiner Argumentation. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man die eigenwillige Definition von Verdinglichung betrachtet, die Habermas im letzten Viertel des Buches formuliert: Diese sei nämlich nur gegeben, »wenn die Zerstörung traditioneller Lebensformen nicht mehr durch die effektivere Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Funktionen ausgeglichen werden kann« (TKH II: 476). Zerstörung kommunikativer/traditioneller Strukturen ohne Kompensation ist demnach gleich Verdinglichung. Damit würde Habermas jedoch einen hohen Preis für die Aufrechterhaltung seiner These bezahlen, und es ist nicht ganz klar, ob er dies wirklich zu tun gedenkt, da der Satz doch eher isoliert steht und keine systematische Entsprechung im gesamten Werk findet. Einige Kapitel weiter soll beispielsweise eine Kolonialisierung der Lebenswelt gegeben sein, »wenn die realen Abstraktionen, durch die die Arbeitskraft der Beschäftigten disponibel und die Stimmen der Wahlbürger mobilisierbar werden, von den Betroffenen gegen systemkonforme Entschädigungen in Kauf genommen werden [...] wobei diese Vergütungen nach sozialstaatlichem Muster aus Zuwächsen des kapitalistischen Wachstums finanziert und in solchen Rollen kanalisiert werden [...]« (TKH II: 523).

Eine Definition, die Kolonialisierung genau dann gegeben sieht, wenn die vorherige Definition noch keine Verdinglichung gegeben sah, und weit größere Kongruenz mit der Gesamtanlage der TKH für sich in Anspruch nehmen kann als

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die Verdinglichungsdefinition.34 Ließe Habermas sich tatsächlich auf den mit der eigenwilligen Verdinglichungsdefinition verbundenen Kompensationsgedanken ein, dann verlöre er praktisch jede Möglichkeit der Kritik. Die meisten Bereiche lassen materielle Effektivitätssteigerungen durch Entsprachlichung zu. Dieses Plus könnte dann die Verdinglichungseffekte monetär auffangen. Von daher erscheint es unwahrscheinlich, dass Habermas die kritischen Möglichkeiten seiner Konzeption durch eine solche Argumentation, die letztendlich auf einer utilitaristischen gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion basiert, quasi offenen Auges massiv reduziert. Dann bleibt jedoch nach wie vor die Schwelle zwischen Mediatisierung und Kolonialisierung zu bestimmen, damit Habermas’ These Bestand hat. Im Anschluss an diese Diskussion der TKH kann nun Foucaults gesellschaftstheoretischer Ansatz untersucht werden, den er selbst als Genealogie bezeichnet.

2.

Genealogie – Foucaults Analytik der Macht

Die zweite größere Verschiebung in Foucaults theoretischem Interesse zeichnet sich erstmals in der 1970 am Collège de France gehaltenen Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses ab.35 Foucault führt die unterschiedlichen Analysedimensionen der »Kritik«, die im Wesentlichen das archäologische Projekt bezeichnet, und der »Genealogie« ein. Diese zweite Dimension expliziert er bald 34 Von daher ist es gewagt, auf der Verdinglichungsdefinition aufbauend den Stab über Habermas zu brechen, wie Kneer es tut (Kneer 1990: 185). Zugunsten von Kneers Interpretation ließe sich allerdings anführen, dass Habermas jene Kompensationsüberlegungen nicht grundsätzlich fremd sind. In einem Vortrag von 1973 heißt es: »Fehlende Legitimationen müssen durch systemkonforme Entschädigungen ausgeglichen werden. Eine Legitimationskrise entsteht, sobald die Ansprüche auf systemkonforme Entschädigungen schneller steigen als die disponible Wertmasse [über die ein politisches System verfügt, T. B.].« (WHHK: 320) Allerdings ist zu bezweifeln, dass »müssen« hier tatsächlich als normative Wertung zu verstehen ist. Vielmehr scheint es sich um die Situationsbeschreibung aus systemischer Perspektive zu handeln, die keineswegs normativ gerechtfertigt werden soll. 35 Foucault spricht später von dieser Vorlesung als einem »text I wrote at a moment of transition« (PAB: 207), da hier noch negative und positive Machtkonzeptionen ineinander verschränkt sind.

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darauf in einem Aufsatz über Nietzsches Geschichtsverständnis, von dem auch der Begriff der Genealogie übernommen ist. Hatte die Archäologie sich mit der Binnenwelt der monolithischen Diskursformationen beschäftigt, so versucht die Genealogie die Entstehung der Diskurse, ihre »niederen Ursprünge«, wie es abermals im Anschluss an Nietzsche heißt, herauszuarbeiten. Sowohl diese Dynamik als auch die Applikation der Regeln, beides ungelöste Probleme der Archäologie, führt Foucault nun auf ein Phänomen zurück, das den Mittelpunkt der Arbeiten der siebziger Jahre bildet: die Macht. Es wäre zu kurz gegriffen, diesen Perspektivenwechsel rein theorie-immanent zu erklären – weiter oben ist schon auf gewisse biographische Zusammenhänge hingewiesen worden, die auch zu dieser veränderten Akzentsetzung beigetragen haben dürften (vgl. vor allem Kap. I 3) –, aber er kann mit der Genealogie zumindest bestimmten Vorwürfen begegnen und einige liegen gelassene Aspekte aus den frühen Werken wieder aufnehmen, insbesondere die Bedeutung nichtdiskursiver Praktiken, die im Rahmen der Archäologie zuletzt keine Rolle mehr spielten. Die Genealogie tritt nicht explizit an die Stelle der Archäologie. Man kann davon ausgehen, dass Foucault beide Forschungsprogramme auch noch in den Hauptwerken der siebziger Jahre Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen in einem Komplementärverhältnis begreift. Doch faktisch taucht die archäologische Diskursanalyse nach 1970 nicht mehr auf. Um das kritische Potential dieser Phase einschätzen zu können, wird im Folgenden das genealogische Projekt anhand seiner Grundbegriffe skizziert. 2.1 Macht, Wissen und das Subjekt Foucaults Machtanalyse bezeichnet einen radikalen Bruch mit den gebräuchlichen Machtanalysen der politischen Philosophie, wobei er vorausschickt, dass es »weniger um eine ›Theorie‹ als um eine ›Analytik‹ der Macht gehen« (WW: 102) soll.36 Foucault interessiert nicht ihr »Wesen«, sondern ihre historisch vari36 Diese klare Unterscheidung zwischen einer Theorie und einer Analytik der Macht wird von Foucault über die Jahre doch beträchtlich relativiert. In späteren Vorlesungen formuliert er zunächst: »Die Analyse der Machtmechanismen ist keine allgemeine Theorie dessen, was Macht ist«, fügt jedoch unmittelbar im Anschluss hinzu: »Man könnte das [die Analyse der Machtmechanismen, T. B.] als Beginn einer Theorie der Macht bezeichnen« (SW: 1); Interviewäußerungen variieren ebenso sehr. Einerseits gehe es ihm um »a reworking of the theory of power« (PAB: 209), andererseits: »I am no theoretician of power« (HMD: 361).

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anten Formen, insbesondere in der Moderne, worauf sich die folgenden Attribute beziehen. Der erste Bruch mit der Tradition besteht in der Charakterisierung von Macht als relational: Sie bezeichnet »die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt« (WW: 113). »Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« (WW: 114) Sowohl liberalistische als auch marxistische Theorien hatten Macht als Substanz verstanden, als ein Gut, das besessen, veräußert, delegiert oder getauscht werden konnte. Da er sich von dieser Vorstellung löst, ergeben für Foucault auch Begriffe wie die »herrschende Klasse« keinen Sinn mehr, die Macht »beruht nicht auf der allgemeinen Matrix einer globalen Zweiteilung, die Beherrscher und Beherrschte einander entgegensetzt« (WW: 115). Dies hängt auch mit den weiteren Attributen der modernen Macht zusammen: »Die Möglichkeitsbedingung der Macht [...] liegt nicht in der ursprünglichen Existenz eines Mittelpunktes« (WW: 114). Eine Aussage, die sich insbesondere gegen marxistischen Ökonomismus oder Klassenreduktionismus richtet, aber auch gegen Bestrebungen »to bring the state back in«, die dem Staat ein gewisses Primat zuerkennen. Es gibt kein Zentrum der Macht, Macht ist dezentral, ja, kapillar. Sie kommt von überall her und durchkreuzt, stabilisiert und unterminiert sich in einem unendlichen Spiel der Kräfte, und da sie von überall her kommt, gibt es auch keinen machtfreien Raum. Die Macht ist ubiquitär. Macht ist des Weiteren nicht als »falsches Bewusstsein« zu beschreiben, da Macht insbesondere durch Praktiken wirkt. Nicht zuletzt deshalb ist das Konzept der Ideologiekritik, dem kritische Theoretiker von Lukács bis zum frühen Habermas verpflichtet waren, für Foucault zumindest in seiner starken Form inakzeptabel.37 Insbesondere in Überwachen und Strafen versucht Foucault zu zeigen, wie Macht durch Methoden der Überwachung, Periodisierung und Kontrolle direkt auf die Körper der Individuen zugreift, ohne zunächst an ihrem Bewusstsein ansetzen zu müssen. In der berühmten Schlusspassage präsentiert Foucault das von Jeremy Bentham entworfene »Panoptikum« als die perfektionierte Überwachung: In der Mitte dieser gefängnisartigen Kontrollanstalt befin37 Der tiefere Grund liegt allerdings in deren humanistisch-subjektphilosophischen Prämissen: »[...] that there is always presupposed a human subject on the lines of the model provided by classical philosophy« (B/P: 58); ideology »always stands in virtual opposition to something else which is supposed to count as truth« (TaP: 118).

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det sich ein Turm, von dem aus ein einziger Aufseher unbeschränkt Einsicht in die in einem darumliegenden ringförmigen Bau befindlichen Zellen hat. Dieses Gebäude ist das Ideal moderner Macht, da sie uneingeschränkte Kontrolle ermöglicht und so schon präventiv abweichendes Verhalten verhindern kann, wohingegen die prämoderne Macht lückenhaft und repressiv durch öffentliche Folter und Hinrichtung wirkte. Die ständige Beobachtung strukturiert, konformisiert und normalisiert das Verhalten der Individuen, die zuletzt den beobachtenden Blick internalisieren (vgl. EP: 155). Erst durch diese Internalisierung des beobachtenden Blicks auf sich selbst entsteht ein individuelles Innenleben, wird das Individuum zum Subjekt; zu einem Subjekt, das sich selbst diszipliniert und reguliert. Doch dieser Mechanismus ist nicht nur charakteristisch für das Gefängnis, vielmehr ist die ganze Gesellschaft in der Moderne durchsetzt von derartigen, die Individuen zu Subjekten zurichtenden Institutionen: »Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?« (ÜS: 292) Diese »Formierung einer Disziplinargesellschaft« (ÜS: 269) bringt mit sich, dass der überprüfende Blick nicht mehr von besonderen Wächtern ausgeht. Jeder fungiert für jeden als Wächter und internalisiert die Blicke der anderen, um so »Subjekt« im wörtlichen Doppelsinn zu werden: Unterworfener/Souverän.38 Es muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass diese »Machtmaschine«, in der jeder ein Rädchen ist, keineswegs von einem (Kollektiv-)Akteur im Voraus entworfen wurde. Es handelt sich um keine Verschwörungstheorie. Macht ist »intentional und nicht-subjektiv« (WW: 116)39, lokale Kräfteverhältnisse können sich zwar zu globalen Strategien, wie z. B. dem Staat, verdichten, doch liegt dieser Formierung keine Logik und kein Plan zugrunde, die globale Strategie entsteht ex post aus unzähligen lokalen Kalkülen. Die oben skizzierte These der Moderne als Disziplinargesellschaft hat schon angedeutet, dass Foucault den Prozess der Subjektivierung als mindestens ambivalent ansieht: Er kennt kein authentisches, selbstidentisches, schlicht »entstehendes« Subjekt, das sich unschmerzlich wie ein gut sitzender Handschuh über das Individuum stülpt. Subjekte werden erzeugt, erzeugt von diskursiven und 38 Dies verweist wiederum auf den kapillaren Charakter der Macht: »Wir sind nicht auf der Bühne und nicht auf den Rängen. Sondern eingeschlossen in das Räderwerk der panoptischen Maschine, das wir selber in Gang halten – jeder ein Rädchen.« (ÜS: 279) 39 »These tactics were invented and organised from the starting points of local conditions and particular needs. They took shape in piecemeal fashion, prior to any class strategy designed to weld them into vast coherent ensembles.« (EP: 159)

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nichtdiskursiven Praktiken, die machtgeladen sind und den Individuen mehr oder weniger gewaltsam eine Subjektivität aufzwingen, die im Zuge ihrer Konstitution gewisse heterogene Elemente als ihr Anderes ausschließen muss.40 Das Subjekt, so lautet Foucaults starke These, ist nicht das prädiskursive Andere der Macht, sondern selbst ein Produkt der Macht: »The individual is not a pregiven identity which is seized on by the exercise of power. The individual, with its identity and characteristics [d. h., das Subjekt, T. B.], is the product of a relation of power«, »not the vis-a-vis of power but one of its prime effects« (TL: 74 bzw. 98). Damit wendet sich Foucault insbesondere in Der Wille zum Wissen gegen die so genannte »Repressionshypothese«, die davon ausgeht, ein unschuldiges Subjekt oder Wesen des Menschen werde von einer von außen kommenden Macht unterdrückt oder entfremdet, eine Denkfigur, die für humanistische Philosophien und Theorien charakteristisch ist.41 Hier seien die traditionellen Analysen der Qualität moderner Macht gegenüber völlig unangemessen, da diese keineswegs nur verbiete, verdränge und unterdrücke, wie es das juridische Machtmodell vorsehe, sondern im Gegenteil produktiv sei. Die Macht ist zu einer produktiven Technologie geworden: Sie erzeugt »gelehrige Körper« (ÜS: 132), Subjekte, sexuelle Identitäten und Diskurse über diese Identitäten, wie Der Wille zum Wissen zu zeigen versucht. Es geht um die »Anreizung, Verstärkung, Kontrolle, Überwachung, Steigerung und Organisation der unterworfenen Kräfte«, sie »hervorzubringen, wachsen zu lassen und zu ordnen« (WW: 163), was Foucault nun »Bio-Politik« (WW: 166) nennt. Es gebe wohl Phänomene der Unterdrückung, doch diese spielten nur eine »lokale und taktische Rolle in einer Diskursstrategie« (WW: 22). Die Macht gebe sich den Anschein der Unterdrückung, denn »nur unter der Bedingung, daß sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist die Macht erträglich« (WW: 157). Damit wirken aber beispielsweise insbesondere die freudo-marxistischen Analysen eines Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse letztendlich machtverstärkend, da sie sich von dieser »lokalen Taktik« in die Irre führen lassen und dazu beitragen, die tatsächlichen Machtmechanismen zu verschleiern.42 Doch die Macht produziert nicht nur das

40 Vgl. Connolly 1985: 366. 41 Vgl. die Verteidigung dieser »Repressionshypothese« aus psychoanalytischer Perspektive gegen Foucault’sche Vorwürfe bei Horowitz 1987. 42 »This type of discourse is in fact a formidable tool of control and power.« (EMS: 217)

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Subjekt, das nun nicht mehr als machtfreier Gegenpol gedacht werden kann43, sie steht auch in einem internen Zusammenhang zum Wissen: Zwischen beiden besteht »keine Äußerlichkeit« (WW: 120): »Far from preventing knowledge, power produces it.« (B/P: 59) Dabei darf die in der Literatur gebräuchliche Formulierung »Macht-Wissen« nicht darüber hinwegtäuschen, dass Foucault die beiden Elemente für irreduzibel aufeinander hält. Zwar implizieren sie sich gegenseitig, keines kann ohne das andere existieren, doch sind sie keineswegs identisch.44 Im Folgenden macht Foucault deutlich, was das zirkuläre Verhältnis von Wissen und Macht letztendlich impliziert: »Truth isn’t outside power« [...] »›Truth‹ is linked in a circular relation with systems of power which produce and sustain it« (TaP: 131 f.). Damit schließt Foucault ein weiteres Mal unmittelbar an Nietzsche an, der im Willen zum Wissen bzw. dem Willen zur Wahrheit ebenso einen verkappten Willen zur Macht gesehen hatte, wie es Foucault nun tut. Der Wahrheitsrelativismus radikalisiert sich zu einer Wahrheitskritik mit der konsequenterweise auch eine Verschärfung der Wissenschaftskritik verknüpft ist. Die Humanwissenschaften sind nicht mehr nur unwissenschaftlich, sondern kollaborieren mit der Macht.45 Das ursprünglich biblische Wort, das aber in der Neuzeit auch zur Maxime vieler Wissenschaften wird: »Die Wahrheit wird euch frei machen«, verschleiert das Gegenteil, nämlich, dass Wahrheit versklavt. Die humanwissenschaftliche Methode sieht Foucault in der katholischen Beichte exemplifiziert, eine Praxis in der in einer machtgeladenen Situation Wissen erzeugt werde. Wie der Beichtvater versuchten die Humanwissenschaften in die tiefsten Tiefen der Subjekte vorzudringen, um sie dann zu kategorisieren, sie Typen und Identitäten zuzuschreiben, um dann dieses Wissen gesellschaftlichen Machtmechanismen zur Verfügung zu stellen, wobei wiederum die Machtmechanismen der Kontrolle und Überwachung die Wissenserzeugung erst ermöglichten. 43 Natürlich kommt auch dem aus der Konstitution des Subjekts als »Anderes« Hervorgehenden keine prädiskursive Unschuld als Gegensatz zur Macht zu. Das Andere des Subjekts ist ebenso wie das Subjekt selbst diskursiv erzeugt und damit ein Machteffekt. 44 »When I read – and I know it has been attributed to me – the thesis ›knowledge is power‹, or ›power is knowledge‹, I begin to laugh, since studying their relation is precisely my problem. If they were identical, I would not have to study them.« (SaP: 210); ebenso CfT: 462; ausführlich zu diesem Verhältnis Keenan 1987: 5 ff. 45 Im Zuge dieser Radikalisierung verliert auch die Frage nach der (Un-)Wissenschaftlichkeit einer Disziplin völlig an Bedeutung. Foucault spricht zusehends nicht mehr von exakten oder weniger exakten Wissenschaften, sondern von Technologien. Vgl. SKP: 347.

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Foucaults Genealogie der Macht hat kaum etwas unangetastet gelassen und endet in der düsteren Diagnose einer durch und durch vermachteten Gesellschaft der disziplinierten Subjekte, in der es kein »Anderes« der Macht mehr gibt. Dennoch besteht er darauf, dass Macht nie allmächtig ist. 2.2 Spezifischer versus universeller Intellektueller Die Rolle, die Foucault sich selbst im Netz der Widerstände zugedacht hat, lässt sich aus seiner Gegenüberstellung von spezifischem und universellem Intellektuellen entwickeln. Er sieht sich selbst als spezifischen Intellektuellen, der sich weigert, im Namen von universellen Normen oder für eine bestimmte marginalisierte Gruppe von Individuen zu sprechen, wie es der universelle Intellektuelle tut. Der spezifische Intellektuelle übt sich in philosophischer Askese, indem er sich nicht anmaßt, einen umfassenden normativen Rahmen zu entwickeln, nach dem die Realität als richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht bewertet wird. Universalien wie die Vernunft sind ihm suspekt, da er hinter ihnen einen versteckten Machtwillen vermutet, der Begriffe wie »Wahrheit«, »Recht« und »Norm« für sich instrumentalisiert. Ebenso weit wie vom universellen Intellektuellen, so lässt sich ergänzen, ist der spezifische auch vom organischen Intellektuellen im Sinne Gramscis entfernt, der sich ausdrücklich einer bestimmten Klasse/Gruppe zugehörig fühlt. Die Aufgabe eines »Genealogen der Gegenwart«, als der sich Foucault versteht, besteht vielmehr einzig darin, »to analyze the specificity of mechanisms of power, to locate the connections and extensions, to build little by little a strategic knowledge« (P/Strat: 145), »to provide instruments of analysis, to locate lines of weakness, strong points, positions where the instances of power have secured and implanted themselves«, kurz: »a topological survey of the battlefield« (B/P: 62). Foucault hat kein eigenes Projekt, er ist ein »Zulieferer« für andere Bewegungen, denen er seine Analysen über die Funktionsweise moderner Macht, über ihre Stärken und Schwächen in bestimmten Kontexten zur Verfügung stellt.46 Den Zielen und der Struktur jener Bewegungen gegenüber hat der spezifische Intellektuelle konsequenter46 »Damit will ich sagen, daß die Fragen, die ich zu stellen versuche, nicht einer im voraus bestimmten politischen Anschauung folgen und nicht auf die Verwirklichung eines bestimmten politischen Projekts zielen.« (PE: 704) Dabei weitet Foucault den Begriff des Intellektuellen aus: Bezüglich der Funktionsweise von Disziplinarmacht im Gefängnis kann z. B. der Häftling selbst dieses Wissen bereitstellen.

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weise indifferent zu sein, da es nur darum geht, Widerstand gegen Macht zu ermöglichen. Woher dieser Widerstand kommt, ist irrelevant, entscheidend ist nur die Maximierung der Widerstandspunkte: »Entfalte Aktion, Denken und Wünsche durch Proliferation, Juxtaposition und Disjunktion.« (AÖ: 229) Noch wichtiger ist diese anti-normative Ausrichtung jedoch, da Foucault davon ausgeht, dass jeder normative Rahmen Widerstand normalisiert oder gar paralysiert und bestimmte Formen und Inhalte als illegitim disqualifiziert. 2.3 Die kritische Stärke der Analytik der Macht Das kritische Potential der Genealogie findet sich pointiert in der Einstellung wieder, die Foucault für sich selbst in Anspruch nimmt: »My point is not that everything is bad, but that everything is dangerous.« (GE: 343) Foucault ist nicht kritisch gegenüber einer Macht, die bestimmten Institutionen, Gruppen oder Subjekten äußerlich ist und diese zu vereinnahmen droht. Er vermutet Macht überall. Damit erschließt er der kritischen Perspektive neue Objektbereiche und fordert darüber hinaus eine radikale Reflexivität von Seiten der kritischen Praxis. Neue Objektbereiche erschließt Foucault insofern, als er sich insbesondere von marxistischen Annahmen löst, die einzig in den Produktionsverhältnissen einen kausalen Faktor für die Umgestaltung der Gesellschaft sehen und damit alle anderen Formen des Widerstandes als letztendlich kontraproduktiv oder verfehlt delegitimieren, z. B. Feminismus.47 Da die Macht laut Foucault nicht von einem Zentrum ausgeht, kann er derartige exklusive Kausalverhältnisse mit Recht bezweifeln – was natürlich keineswegs heißt, dass der Genealoge grundsätzlich vor dem Herausarbeiten kausaler Zusammenhänge zurückschreckt, wie dies noch beim Archäologen der Fall war. Widerstand kann und soll überall ausgeübt werden. Gerade weil Macht dezentral ist, muss es auch der Widerstand sein, um effektiv zu sein. Durch diese Auffassung erfahren alle Formen und Inhalte des Widerstandes eine strategische, wenn auch keine normative Legitimation. Foucault eröffnet damit Wege zu einem neuen Allianzverständnis, in dem nicht eine Gruppe versucht, das Anliegen der anderen im eigenen aufgehen zu lassen. Die Zusammenarbeit von marxistischen und feministischen Gruppierungen wird z. B. nicht zuletzt dadurch oftmals vereitelt, dass man sich nicht 47 Dabei gilt dies natürlich auch für Feminismen, die ein derartiges Primat der Abschaffung des Patriarchats zusprechen.

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darauf einigen kann, »was zuerst abzuschaffen sei«. Wird die Denkfigur des Primats abgelegt, so steht lokalen und temporären Allianzen ein Hindernis weniger im Weg. Die Verbreiterung der kritischen Perspektive bezieht sich nicht nur auf den Begriff der Praxis, sondern auch auf die Kritikobjekte: Für Foucault gibt es keine Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem, so dass Feministinnen mit Hilfe von Foucaults Analysen die Machteffekte der Praktiken in Familie und Ehe oder allgemein in der Privatsphäre aufzeigen konnten, die sich bis dahin einer kritischen Analyse entzogen hatten.48 Auch die allgemeine Thematisierung von Praktiken erweitert den Radius von Kritik, die zu oft an Begriffen wie »Ideologie« und »Bewusstsein« haften bleibt. Foucault verfolgt die Adern des die Gesellschaft überwölbenden Machtregimes bis in seine kleinsten Verästelungen hinein und propagiert »politics of everyday life«49. Die Analyse der Macht, ihre Verbindungen, ihr Funktionieren, ihre Stärken und Schwachpunkte herauszuarbeiten, strategisches Wissen bereitzustellen, dies ist der augenscheinlichste Beitrag Foucaults zu effektivem Widerstand, womit also ein erster Aspekt des Verhältnisses seiner Analysen zur Praxis bezeichnet ist. Eine weitere Dimension seines kritischen Potentials liegt in der Methode der Genealogie begründet und war schon in der Archäologie zu erahnen. Beide können die Kontingenz dessen demonstrieren, was als normal, natürlich oder universell angesehen wird.50 Die Genealogie geht sogar noch einen Schritt weiter, insofern sie die Verquickung von »neutralen« Universalien und scheinbar humanistischen Entwicklungen mit Machtmechanismen aufzeigen kann.51 Indem so Phänomene in ihrer äußersten Historizität und machtbeladenen Entstehungsprozessen beschrieben werden, erzeugen Foucaults Analysen eine »kritische Distanz«52, die auch Veränderung denkbar werden lässt und vor vorschneller Absolutierung warnt: »These things have been made, they can be unmade, as long as we know how it was that they were made«; damit eröffnet Foucault 48 Foucault »provides the empirical and conceptual basis for treating such phenomena as sexuality, the family [...] and the likes as political phenomena« (Fraser 1994b: 141). Vgl. auch Bartky 1995. 49 Fraser 1994b: 141. 50 »Practicing criticism is a matter of making facile gestures difficult.« (PC: 155) 51 »Es geht nicht darum, wie sich die Kritik durch den Ausweis ihres normativen Maßstabs begründen kann, sondern darum, wie sie den Ort und die Wirksamkeit singulärer und kontingenter Daten in dem aufzeigt, was sich als universal, notwendig und verpflichtend manifestiert.« (Vogl 1997: 568) 52 Sawicki 1994a: 351.

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tatsächlich »a space of concrete freedom, that is of possible transformation« (CI: 127).53 Es ist wohl die dritte, reflexive Kritikdimension, deren Stachel am tiefsten sitzt. Deren Objekt sind nämlich die Widerstandsbewegungen selbst, deren Position im gleichen Moment fragwürdig werden muss, in dem Foucault die Repressionshypothese ablehnt und behauptet, dass das Subjekt und seine Identität ein Machteffekt seien. Für politische Bewegungen, die auf einer bestimmten Identität basieren oder wie auch immer gearteten Befreiungsdiskursen anhängen, z. B. Freudomarxisten, aber auch viele post-kolonialen Nationalismusbewegungen, bedeutet dies, dass sie ein sinnloses, paradoxes und möglicherweise gar machtverstärkendes Projekt verfolgen. Die Projekte sind sinnlos und paradox, da es laut Foucault keine prädiskursive, reine und vormals unterdrückte Identität gibt, die, wenn sie einmal entdeckt ist, als Basis eines politischen Projektes dienen könnte. Weder ein authentisches, prädiskursives, vom patriarchalen Diskurs unterdrücktes weibliches Wesen, noch das von bürgerlicher Ideologie vereinnahmte, aber ursprünglich reine Proletarierbewusstsein existieren; und wenn sie existierten, so Foucault, wäre es paradox, sie mit Hilfe von diskursiven Mitteln wie Sprache finden zu wollen. Aber schlimmer noch, derartige Suchprozesse ähneln allzu häufig den von Foucault skizzierten Bekenntnispraktiken und ermöglichen den Machtmechanismen über die entsprechenden Praktiken und Humanwissenschaften, beispielsweise »Women’s Studies«, noch tieferen Zugriff auf die Individuen.54 Gibt es kein prädiskursives »Wesen«, so wird die Logik, nach der unterdrückte, versteckte und zum Schweigen gebrachte Machtlosigkeit automatisch Wahrheit und Gerechtigkeit entspricht, in Frage gestellt. Damit werden derartige Bewegungen mit einem Legitimations- oder Begründungsproblem konfrontiert, das sie im Allgemeinen nur allzu gerne vermeiden.55 53 Die Genealogie ähnelt in dieser Hinsicht stark der Kritik Marx’ an der Fetischisierung der Verhältnisse (s. o.). 54 »Foucault’s deconstructive methodology provides an immanent critique of such a search for the authentic female voice or the sexuality, a warning against the commitment to any confessional mode as necessarily liberating, and a challenge of the notion that simply speaking or writing frees us.« (Martin 1988: 268) 55 Brown 1991: 69; allerdings finden sich in Foucaults maoistischen Momenten Anfang und Mitte der siebziger Jahre auch Apotheosen bestimmter Akteure, die unmittelbar an die Logik der Repressionshypothese anschließen. Vgl. TS: 135; gegen eine solche Unschuldsvermutung wiederum: »It is illusory to believe that madness – or delinquency or crime – speak to us from a position of absolute exteriority.« (SEN: 198)

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Mit Foucault lässt sich auch ein weiteres problematisches Phänomen innerhalb von Widerstandsbewegungen und Gegen-Diskursen aufzeigen: Gründen diese Bewegungen auf einer gemeinsamen Identität56 oder einen theoretischnormativen Rahmen, wie z. B. Marxismus, so lassen sich Normalisierungs- und Ausschlussmechanismen beobachten, welche diejenigen reproduzieren, gegen welche der Widerstand gerichtet war. Die Konstitution einer bestimmten Identität, z. B. »die« Frau, erzeugt, wie auf der Ebene des einzelnen Subjekts, auch als kollektive Identität ein »Anderes«, das aus dieser Identität ausgeschlossen oder unzureichend von ihr repräsentiert bleibt. In dieser Hinsicht bietet der Differenz-Feminismus ein gutes Beispiel für die genealogische Kritik: Die scheinbar universelle weibliche Identität »aller« Frauen ginge demnach zurück auf den Machtwillen einer hegemonialen Frauenfraktion, der die Definitionsmacht zukommt und die zunächst farbige und lesbische Frauen sowie Frauen aus der Arbeiterklasse ausschloss und eine Hierarchie zwischen »wahren« Frauen und dem Rest errichtete.57 Damit operierte dieser Feminismus nach dem gleichen Prinzip wie sein Gegner, das Patriarchat. Hinzu kommt, dass derartige Bewegungen durch entsprechende Ausschlüsse, Abspaltungen und einen Perspektivismus der jeweiligen Identität auch strategisch in ihrem Potential geschwächt werden. Foucault empfiehlt daher die Formierung strategischer Identitäten auf der Basis eines gemeinsamen Gegners oder kurz- bis mittelfristigen Ziels: »It seems to me that the ›we‹ must not be previous to the question; it can only be the result – and the necessarily temporary result – of the question.« (PPP: 385) »Die Gruppe darf kein organisches Band sein, das hierarchisierte Individuen vereinigt.« (AÖ: 230)58 56 Vgl. Foucaults Kritik am Modell der Identitätspolitik: »But the relationships we have to have with ourselves are not ones of identity, rather they must be relationships of differentiation, of creation, of innovation.« (SPPI: 385) 57 Wilkins 1997: 82; das Beispiel des Differenz-Feminismus ist nur eines unter vielen. Mit Blick auf Gewerkschaften merkt Offe beispielsweise an: »The male-dominated German trade unions [...] have also tended, at least until very recently, to consider only the male, skilled, full-time employed worker and family head as the model case whose interests are to be defended through union action, and virtually everyone else as a deficient deviation from this ›normal‹ worker.« (Offe 1990: 16, FN 19) 58 Vgl. »Powerlessness [of movements] comes from the very attempts to define a collective identity instead of defining the common interest for a diverse group of people.« (Sennett 1980: 312); Judith Butler hat demonstriert, wie eine foucauldianische Strategie hinsichtlich eines feministischen politischen Projektes aussehen könnte. (Butler 1991: 190 ff.)

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Entsprechend kommt es zu Normalisierungs- und Ausschlussmechanismen durch die zwingende Forderung eines bestimmten normativ-strategischen Rahmens für Widerstand: Innerhalb des marxistisch-orthodoxen Rahmens sind »revisionistische« Haltungen nicht diskursfähig, und allgemein muss Kritik ganz bestimmte Anforderungen erfüllen, um innerhalb des kritischen Diskurses anerkannt zu werden. Sie darf im Allgemeinen weder destruktiv, aber auch nicht naiv sein, d. h. sie bedarf immer eines gewissen intellektuellen Niveaus, um diskursfähig zu sein, was zu einer Elitisierung und Intellektualisierung der Kritik führt. Der Arbeiter benötigt beispielsweise, überspitzt gesagt, einen Intellektuellen, der seine Bedürfnisse und Probleme auf ein bestimmtes abstraktes Niveau hebt, um überhaupt eine Stimme zu haben. In diesem Zusammenhang stellt Foucault fest: »[There is] a system of power which blocks, prohibits and invalidates this discourse and this knowledge [of the masses, T. B.]. Intellectuals are themselves agents of this system of power.« (I/P: 207) Konsequenterweise übt er sich in Askese: »It’s because of the need not to tie them down or immobilize them that there can be no question for me of trying to tell them ›what is to be done‹ [...] Critique doesn’t have to be the premise of a deduction which concludes: this then is what needs to be done. It should be an instrument for those who fight, those who resist and refuse what is.« (TIP: 284) Das kritische Potential von Foucaults Genealogie ist beträchtlich in ihrer Erweiterung und Vertiefung der kritischen Perspektive. Im Folgenden ist es nun möglich, sie zu Habermas’ Projekt in Beziehung zu setzen.

3.

Vergleich und Kritik: Die Genealogie in der Diskussion59

3.1 Habermas und Foucault – Berührungspunkte und Antipoden Der im Bereich der politischen Theorie unkonventionelle Machtbegriff Foucaults bezeichnet eine erste deutliche Differenz zu Habermas. Dessen Machtbegriff oszilliert zwischen Luhmann’schen/Parson’schen und Weber’schen 59 Im Falle der Genealogie tritt eine Überlagerung der nur analytisch trennbaren unterschiedlichen Fragestellungen der Arbeit am deutlichsten hervor. Hier ist die erste Analyse-Ebene, auf der es unter anderem um eine Kritik der Genealogie geht, von der zweiten Analyse-Ebene, auf der die Konzepte Habermas’ und Foucaults zueinander in Bezug gesetzt werden sollen, kaum klar zu trennen.

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Gehalten, doch die produktive und relationale Dimension der Macht bei Foucault bleibt ihm fremd. Hinzu kommt, dass Habermas sich zwar einerseits die systemtheoretische Sichtweise des Staates als eines unter vielen Systemen zu Eigen macht, andererseits jedoch bis hin zu der noch zu behandelnden Demokratietheorie den Staat als zentrale Schaltstelle und Machtzentrum der Gesellschaft ansieht, wohingegen Foucault den kapillaren Charakter von Macht hervorhebt, die von überall her komme. Entsprechend dieser Unterschiede ergeben sich die jeweiligen Fokusse und Grenzen der Machtkritik: Habermas kann die Dimension von Macht, die Diskurse und Identitäten erzeugt, nur unzulänglich fassen. Der Schwerpunkt seiner machtkritischen Analysen liegt nach wie vor auf den vermeintlichen Machtzentren, insbesondere dem Staat. Foucault trifft dagegen auf andere Grenzen: Die klassische Frage, wer mehr Macht besitzt als andere, also die Frage nach wie auch immer gearteten Macht-Differentialen, kann im Rahmen von Foucaults allumfassendem Machtnetzwerk nicht mehr thematisiert werden: »Power is everywhere and so ultimately nowhere.«60 Die Frage nach möglichen Kompatibilitäten dürfte von beiden Seiten unterschiedlich beantwortet werden. Habermas dürfte grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden haben, dass Macht auch produktive Effekte hat. Inakzeptabel ist Foucaults Begriff der Macht in ihrem Aspekt der Ubiquität. Hier liegt eine grundsätzliche Kontroverse, da es gerade Habermas’ Projekt ist, Inseln der Machtfreiheit, d. h. Zwanglosigkeit, zu identifizieren. Daher ist Foucaults Ansicht, dass auch Diskurse immer im Gravitationsfeld der Macht verbleiben, Habermas’ Projekt in seiner vernunftphilosophischen Ausrichtung diametral entgegengesetzt. Für Foucault sind die Machtbegriffe durchaus kompatibel, da er nicht bestreitet, dass Macht auch verzerrend und unterdrückend wirkt. Doch sich wie Habermas auf diese Phänomene zu beschränken, bedeutet aus Foucaults Perspektive, die ungleich wirksameren und damit problematischeren Effekte moderner Macht aus den Augen zu verlieren und damit, wenn auch unabsichtlich, zu verschleiern und ihr indirekt in die Hände zu arbeiten. Aus Habermas’ Sicht handelt es sich bei den Machtbegriffen also um partielle Substitute, aus Foucaults Sicht um partielle Komplemente. Es überrascht nicht, dass sich die Differenzen auch auf die Konzeption des Subjekts erstrecken. Für Habermas ist das Subjekt eine grundsätzlich unproblematische Kategorie, die zudem selten im Mittelpunkt seiner Forschungen

60 Hartsock 1990: 170.

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stand.61 Die Subjekte sind Objekte der Macht in Form von Systemimperativen, vor der Habermas sie schützen will. Er postuliert eine Sozialisation und IchFormierung, die in kommunikativ strukturierten Bereichen unbeeinflusst von Bürokratisierung und Monetarisierung und deren pathologischen Effekten stattfindet, an deren Ende das »gesunde«, »normale« Subjekt steht.62 Ein derartiges unproblematisches Subjekt existiert für Foucault nicht, der ein wie auch immer sozialisiertes Subjekt immer als Macht-Effekt ansieht und auf den zwanghaften Charakter der Identitätsproduktion sowie die Ausschlüsse bei der Konstitution des Subjekts verweist. Habermas muss also von Foucaults Seite mit dem Vorwurf rechnen, hinsichtlich des Subjekts mit der Repressionshypothese zu operieren, welche wichtige Machtmechanismen eher verschleiere als erhelle. Für den frühen Habermas gilt dies explizit und auch noch für die TKH muss das rationale, von systemischen Zwängen befreite, selbstidentische Subjekt als ein anzustrebender Zielpunkt unterstellt werden. Von einer Kompatibilität kann hier also kaum die Rede sein, da er eine radikale Lösung von der Repressionshypothese, wie sie Foucault fordert, unmöglich akzeptieren könnte. Allerdings wird noch zu klären sein, ob Foucault seine Argumentation tatsächlich in dieser radikalen Weise aufrechterhalten kann (vgl. weiter unten Kap. II 3.2.1). Sind beide Positionen denkbar unterschiedlich, was das Subjekt angeht, so sind sie doch übereinstimmend, was die Ablehnung der Subjektphilosophie angeht. Doch Habermas kritisiert, nach der Archäologie scheitere auch die Genealogie an dieser Hürde: »Macht« sei ein bewusstseinsphilosophischer Begriff, der, als Grundlage einer Theorie verwandt, kaum aus den entsprechenden Engpässen herausführen könne (vgl. PhDM: 323). Habermas unterläuft hier der gleiche Fehler wie Kneer in der Kritik an Habermas (vgl. weiter oben Kap. II 1.5.1). Die bloße Verwendung subjektphilosophischer Begriffe kann nicht als Indikator angesehen werden, da ja meist das Ziel darin besteht, den Begriffen einen neuen Inhalt zu geben. Letztlich kann Habermas jedoch auch ein haltba61 Habermas verwendet einen äußerst konventionellen, psychoanalytisch gefärbten Subjektbegriff, den er mit G. H. Meads Sozialisationstheorie verknüpft. Diese Verknüpfung ist zugleich eine entschiedene Abwendung von einem Subjektbegriff, der auf einem transzendentalen Ego basiert: »[Habermas] attempts to reconstruct notions of subjectivity and autonomy that are consistent with both the social dimensions of individual identity and the situated character of social action.« (McCarthy 1994a: 248). Erst in den Arbeiten zur Diskursethik findet das Subjekt umfassende Beachtung durch Habermas, vgl. weiter unten Kap. III 1. 62 Vgl. zur Kritik dieses »gesunden« Subjektes Habermas’scher Prägung aus psychologischer Sicht Belgrad 1992: 67.

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res Argument gegen Foucault geltend machen: »Foucault hat im Grundbegriff der Macht den idealistischen Gedanken der transzendentalen Synthesis mit den Voraussetzungen einer empiristischen Ontologie zusammengezwungen.« (PhDM: 322) Foucaults »Macht« reproduziert die empirisch-transzendentale Dublette »Mensch«, die er selbst so überzeugend kritisiert hatte. Das Erkenntnisobjekt der Genealogie ist zugleich auch ihre Erkenntnisbedingung. Doch umgekehrt lässt sich mit den Dualismen aus Foucaults Ordnung der Dinge auch noch nach Habermas’ Wechsel von der subjektphilosophischen Erkenntnistheorie zum Intersubjektivitätsparadigma gegen sein kommunikationstheoretisches Programm denken. Schließlich versucht er, mit den empirisch-rekonstruktiven Mitteln der Formalpragmatik vom positiven Regelwissen sprechender Akteure zu gewissen unhintergehbaren Voraussetzungen zu gelangen. Das paradoxe Oszillieren zwischen Empirischem und Transzendentalem finde sich also auch hier in seiner grundsätzlichen Gestalt, wenn auch abgeschwächt, wieder.63 Mit Hinblick auf das Konzept der Lebenswelt kann Waldenfels auch das abermalige Auftreten des zweiten Dualismus konstatieren: Es bleibe »bei einem Balanceakt [...] zwischen Rationalisierung und lebensweltlichem Hintergrund«64. Angesichts dessen verdichten sich die schon weiter oben aus einer anderen Perspektive vorgebrachten Zweifel an Habermas’ vermeintlicher Überwindung der Subjektphilosophie, vor allem, da Habermas selbst ja die Foucault’sche Analyse aus der Ordnung der Dinge ausdrücklich als Maßstab anerkannt hat.65 Damit erstrecken sich die Gemeinsamkeiten beider Positionen nicht nur auf die Ablehnung der Subjektphilosophie, sondern auch auf das Scheitern beim Versuch, diese Ablehnung in ihren eigenen Konzepten konsequent umzusetzen. Auch hinsichtlich einer weiteren erkenntnistheoretischen Grundentscheidung sind sich Habermas und Foucault zunächst einig: Beide lösen sich konsequent von dem Anspruch, privilegierten Zugang zu Wissen oder gar Wahrheit zu haben, wie er etwa noch Horkheimer/Adorno in der Dialektik der Aufklärung

63 Vgl. Nagl 1985: 355 f. 64 Waldenfels 1985: 108. 65 Vgl. RM: 903. Foucault selbst hat sich nicht eindeutig zu der Frage geäußert, ob Habermas seiner Ansicht nach ein Ausbruch aus dem subjektphilosophischen Paradigma gelungen ist: »When Habermas distinguishes between domination, communication, and finalized activity, I do no think that he sees in them three separate domains but, rather, three ›transcendentals‹.« (SM: 218, FN 1)

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unterstellt werden kann. Die Alternativen sehen allerdings unterschiedlich aus66: Habermas geht den Weg einer popperianisch orientierten Sozialwissenschaft, jedenfalls insoweit, als deren Forschungen intersubjektiver Überprüfung zugänglich sein müssten. Insofern man zumindest einigen Abschnitten der TKH philosophischen Charakter zusprechen kann, vertritt Habermas zudem eine Szientifizierung der Philosophie. Auch diese müsse durch überprüfbare Verfahren Anschluss an die »normalen« Wissenschaften gewinnen und in einem Bewusstsein der Fallibilität des generierten Wissens arbeiten.67 Dies gilt entsprechend für sein eigenes Werk, von dem er immer wieder sagt, dass es als Forschungsprogramm der empirischen Überprüfung bedürfe – was allerdings bislang nur unzureichend geschehen ist.68 Foucault geht eine Szientifizierung nach dem Vorbild Habermas’ noch nicht weit genug, weil damit noch kein hinreichendes Sperrpotential gegen eine Intellektualisierung und eine damit einhergehende Hierarchisierung innerhalb von Widerstandsdiskursen geschaffen sei. Er geht noch einen Schritt weiter und will lokale, nichtakademische Wissensbestände der Betroffenen selbst wiederbeleben und aufwerten, ja, diese möglicherweise sogar höher ansiedeln als »wissenschaftliche Wahrheiten«,69 und sie so wieder diskursfähig machen. Obwohl beide von der gleichen Grundsatzentscheidung ausgehen, sind auch hier die gewählten Wege kaum kompatibel: Habermas ist keineswegs bereit, eine fallibilistische Wissenschaft und ihren hypothetischen Wahrheitsbegriff zugunsten unreflektierten Alltagswissens zu opfern. Die jeweiligen Gründe werde ich im Folgenden und insbesondere im Zusammenhang mit der Frage des (Anti-)Normativismus erörtern. Was den Bereich des Kritisierbaren betrifft, konnte mit Hinblick auf die archäologische Phase Foucaults noch eine gewisse Übereinstimmung beider Positionen hinsichtlich ihrer Skepsis gegenüber den Wissenschaften verzeichnet werden. Diese Übereinstimmung, die insbesondere zwischen beiden Frühwerken besteht, löst sich im weiteren Werkverlauf immer weiter auf. Während Habermas sein kritisches Projekt ausdrücklich auf einer wissenschaftlichen 66 So auch Hoy, welcher der Meinung ist, Foucault führe diesen »Anti-Elitismus« konsequenter durch. (Hoy 1994b: 83 f. und 94) 67 »Die Philosophie ist wie die Soziologie nur eine Wissenschaft.« (VZ: 131) 68 Zu dieser Einschätzung gelangen auch Rouane/Todd 1988 sowie etwa zehn Jahre später Blaug 1997: 106: »It is certainly the case that there is very little research that uses Habermas’s categories to generate actual empirical work.« 69 Foucault spricht von einer »reactivation of local knowledges [...] in opposition to the scientific hierarchisation of knowledges and the effects intrinsic to their power« (TL: 24).

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Basis verfolgen will und nur noch bestimmte Disziplinen aufgrund ihrer objektivierenden Methodik für problematisch hält, radikalisiert Foucault seine Wissenschaftskritik dahingehend, alle Wissenschaften als Ermöglichungsgründe und Profiteure von gesellschaftlichen Machtbeziehungen anzusehen.70 Habermas hält dies für eine Entdifferenzierung der Kritik, die Foucault nur auf Kosten eines performativen Widerspruches vornehmen könne. Er wirft Foucault vor, dass dieser »im Hinblick auf seine eigene genealogische Geschichtsschreibung nicht genealogisch denkt« (PhDM: 316). Schließlich – diese Intention unterstellt er Foucault – »soll sich die Genealogie des Wissens zur wahren Objektivität der Erkenntnis erheben« (PhDM: 323). Doch sei die »Grundannahme der Machttheorie selbstbezüglich; sie muss, wenn sie zutrifft, die Geltungsgrundlage auch der von ihr inspirierten Forschungen zerstören« (PhDM: 328). Hier zeigt sich, wie statisch Habermas Foucaults Werk betrachtet, denn sein Vorwurf träfe nur den Archäologen Foucault, wollte dieser die von ihm mit umfassendem Wahrheitsanspruch erhobene Diskursanalyse mit dem Vorwurf der Machtverwobenheit aller Wissenschaft kombinieren.71 Die einzige Dynamik, die Habermas an einer Stelle im Philosophischen Diskurs der Moderne wahrzunehmen glaubt, ist eine Veränderung hinsichtlich der Begründung der vermeintlich objektiven Erkenntnis, auf die Foucault abziele: Der Genealoge wolle sein überlegenes Wissen nicht mehr wie der Archäologe aus der Methodik einer stoischen Diskursanalyse, sondern durch sein Parteiergreifen für die »unterworfenen Wissen« rechtfertigen; ein Vorgehen, das Habermas mit der erkenntnistheoretischen Privilegierung des Proletariats beim jungen Lukács gleichsetzt.72 Doch Foucault erhebt derartige machtfreie Wahrheitsansprüche – mit welcher Rechtfertigung auch immer – nicht mehr, und kann Habermas’ Vorwurf des performativen Widerspruchs so ins Leere laufen lassen, da er keine überlegenere Wissenschaft, sondern überhaupt keine Wissenschaft mehr betreiben will73: Der Genealoge ist kein unbeteiligter Betrachter, der klassische Wahrheitsansprüche erheben könn70 Dies gilt jedenfalls für alle Arten nichtnaturwissenschaftlicher Wissenschaft. Ob Foucaults Kritik sich auch auf diese erstreckt, ist umstritten. Vgl. die entsprechenden Ausführungen im Rahmen von Kapitel I 3. 71 Darüber hinaus trifft er natürlich auch das noch gänzlich »machtfreie« Programm des Archäologen, insofern, als diesem ja auch eine Art Selbstmissverständnis nachgewiesen werden konnte, das auf eine mangelnde Beachtung der Selbst-Referentialität der Wissenschaftskritik zurückgeführt werden kann. 72 Auch Ingram 1994: 237 unterstellt Foucault eine derartige Strategie. 73 Foucault antwortet in einem Interview auf die Frage, ob er eine neue Wissenschaft etablieren wolle: »Absolutely not.« (HMD: 355)

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te, er ist Beteiligter in politischen Machtkämpfen und produziert durch und durch parteiergreifendes, machtdurchsetztes Wissen, um in einer Machtrelation Widerstand zu stärken.74 Sein Ziel ist es, »to work out an interpretation, a reading of a certain reality, which might be such that, on one hand, this interpretation could produce some of the effects of truth; and on the other hand, these effects of truth could become implements within possible struggles« (CQP: 261). Foucault macht Gebrauch von rhetorischen Mitteln und versucht perspektivisch, »gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren« (WK: 26), um so gewisse Effekte beim Leser zu erzeugen. Auch der gesellschaftstheoretische Kritikradius der Genealogie ist umfassender als der von Habermas. Der kritischen Perspektive der TKH sind Staat und Ökonomie in ihrer Verfasstheit letztlich entzogen, nur noch ihre problematischen Außenwirkungen auf die Lebenswelt konnten thematisiert werden. Dagegen gibt es für die Genealogie nichts, was nicht kritisch analysiert werden könnte und müsste, eben z. B. auch das Subjekt, dem gegenüber Habermas noch eine gewisse Unschuldsvermutung aufrechterhält. Die Entwicklung beider Kritikradien verläuft letztlich in diametral entgegengesetzte Richtungen. Foucault radikalisiert die Kritik zu einem Fundamentalverdacht: »Nicht alles ist böse, aber alles ist gefährlich.« Habermas dagegen rückt von den eher globalen Kritikkonzeptionen der sechziger und siebziger Jahre immer weiter ab und isoliert diskrete Phänomene, die es gut begründet zu kritisieren gilt, klassischerweise die Systemimperative. Dies bedeutet jedoch nicht, wie oben gezeigt, dass er beispielsweise die Lebenswelt völlig idealisieren würde. Er sieht durchaus die Machtbeziehungen innerhalb der Familie, doch hier liegt nicht der Fokus seiner Analysen, wohingegen die Genealogie keinen derartigen partiellen blind spot in Kauf nimmt. Mit ihr lassen sich sowohl die Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates auf die Familie analysieren, wie Habermas selbst einräumt (PhDM: 340 f.), als auch die der Familie inhärenten Machtverhältnisse. Die Probleme eines derartigen kritischen Rundumschlages werden noch zu erörtern sein. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass Foucault wohl inhaltlich weitgehend mit Habermas’ Kolonialisierungsthese übereinstimmen würde. Was die Gefahr der Bürokratisierung angeht, zeigen sich beide geprägt von der zeitgenössischen linken Kritik am Wohlfahrtsstaat. Demnach sorge dieser nur um den Preis einer gewissen Abhängigkeit für die materielle Absicherung seiner 74 »Always consistent with his own understanding of the pervasiveness of power, he would deny that he had escaped the effects of power or that the critical detachment of authorship should give him any special claim on its ›truth‹.« (Aladjem 1991: 277)

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Klientinnen und Klienten. Bei Habermas ist hier die Rede von »dilemmatischen Strukturen« (TKH II: 542), Foucault spricht von »an increasing rigidity of certain mechanisms and a growth in dependence« (SS: 160). Habermas hat in diesem Zusammenhang sogar explizit die empirische Relevanz der von Foucault herausgearbeiteten Disziplinarmechanismen gewürdigt: »Wie im Foucaultschen Bilderbuch verschmelzen die Eingriffe des Staates zu einem System: Helfen, Überwachen und Strafen gehen eine chemische Verbindung ein.« (Revolution: 171) Ausgehend von diesem Konsens über Kolonialisierung, zumindest was den Aspekt der Bürokratisierung lebensweltlicher Bereiche angeht, ist es möglich, Habermas’ Version der Kolonialisierungsthese mit gewissen Einsichten Foucaults anzureichern und dadurch zu präzisieren.75 Diese Präzisierung bezieht sich insbesondere auf die Rolle der Sozialwissenschaften im Prozess der Kolonialisierung. In Habermas’ Perspektive tauchen diese nur in Form abgekoppelter Expertenkulturen auf, die zwar damit indirekt mit der Kolonialisierung in Verbindung stehen, da aus der Abkapselung die Fragmentierung des Alltagsbewusstseins resultiert. Doch grundsätzlich könnten die Sozialwissenschaften eine Ressource gegen die Kolonialisierung darstellen, würden ihre Expertenkulturen nur wieder in die kommunikative Alltagspraxis reintegriert. Fraglich ist jedoch, ob diese Einschätzung der Sozialwissenschaften nicht etwas verharmlosend ist. Es ist unstrittig, dass der Prozess der Kolonialisierung zumindest in seinem bürokratisierenden Aspekt mit der Etablierung einer Vielzahl allgemein wohlfahrtsstaatlicher, klinisch-therapeutischer, juristischer und kriminologischer Institutionen verbunden ist. Diese Institutionen bezeichnen den wichtigsten Schauplatz der Kolonialisierung. Während Habermas es nun in seiner makroskopisch angelegten Analyse bei dieser Feststellung belässt, geht es Foucault ja um genau diese Mikro-Prozesse, um institutionelle Praktiken und um das Verhältnis zwischen »Experten« und Klienten. Beide Ansätze verhalten sich hier auf die beste Weise komplementär zueinander, da sich Makro- und Mikro-Perspektive gegenseitig ergänzen. Folgt man nun den Foucault’schen Analysen so wird natürlich schnell klar, dass den Sozialwissenschaften, um genau zu sein, den Humanwissenschaften, auf der Mikro-Ebene der Kolonialisierung eine durchaus aktive Rolle zukommt. Ihre Definitionsmacht und Einschätzungsprärogative in Bezug auf die Individuen und ihre Bedürfnisse macht die humanwissenschaftlichen Experten zu einem tragenden Element in der

75 Vgl. zum Folgenden Kunneman 1991: 217 ff. und 282 ff.

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Arbeit der unzähligen Institutionen und entsprechend dem Prozess der bürokratisierenden Kolonialisierung.76 Foucault und Habermas teilen nicht nur bestimmte Kritik-Objekte. Zumindest auf den ersten Blick lässt sich auch von einer gemeinsamen Abkehr von einem bestimmten Objekt der Kritik sprechen: der Ideologie. Wie weiter oben erläutert, sind Foucault die von ihm marxistisch verstandenen Begriffe der Ideologie und entsprechend der Ideologiekritik suspekt, da sie die essentialistische Vorstellung eines unverfälschten und authentischen Bewusstseins voraussetzen. Foucaults Machtanalyse verlegt sich daher auf die Untersuchung der Machteffekte bestimmter Praktiken. Habermas wiederum hält das Konzept der Ideologiekritik für obsolet, da in der rationalisierten Lebenswelt »die kommunikative Alltagspraxis keine Nischen mehr für die strukturelle Gewalt von Ideologien gewährt« (TKH II: 520). Seine Verabschiedung des Konzepts der Ideologie ist eingebettet in die der Kolonialisierungsthese zur Seite tretende Fragmentierungsthese, die wiederum eine Reformulierung der Weber’schen These vom Sinnverlust in der Moderne darstellt. Habermas sieht an die Stelle des »falschen« das »fragmentierte« Bewusstsein treten, das eine Folge der Abkoppelung von Expertenkulturen von der lebensweltlichen kommunikativen Alltagspraxis in der Moderne darstelle. Die möglicherweise zu geringe Beachtung, die offensichtlich beide Denker der Bedeutung von Ideologien schenken, hat durchaus kritische Aufnahme in der Literatur gefunden. Allerdings liegen die Dinge auch in dieser Frage nicht so klar, wie es zunächst scheint: Schließlich ließe sich durchaus argumentieren, dass Foucaults Projekt das einer anderen Ideologiekritik darstellt, insofern, als sich sowohl Archäologie als auch Genealogie darum bemühen, den scheinbar natürlichen Charakter von Institutionen, Praktiken, Identitäten und anderen Phänomenen offen zu legen, indem sie ihren kontingenten und in der Genealogie machtbeladenen Entstehungsprozess ausleuchten. Insbesondere die Genealogie könnte darüber hinaus als Versuch bezeichnet werden 76 Eine derartige Kombination der beiden Ansätze scheint auch für Habermas selbst nicht gänzlich abwegig zu sein: »Ich stimme Foucault darin zu, daß sich jene Macht, die sich selbst nicht wahrhaben will, in den Poren von Diskursen und alltäglichen Praktiken festsetzt. Die Mikroanalysen dieser Macht bedürfen freilich eines generalisierenden theoretischen Hintergrundes, der das ›Systematische‹ an der Vielfalt systematisch verzerrter Kommunikation begründet.« (BzE: 15) Habermas konzediert darüber hinaus bezüglich der vom Wohlfahrtsstaat ausgehenden »Dialektik der Befreiung«, es sei notwendig, diese »unter dem Mikroskop einer von Foucault belehrten Diskursanalyse bis in die Kapillaren des täglichen Kommunikationskreislaufes hinein zu verfolgen und zu denunzieren« (IRM: 34).

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zu erklären, wie sich Machteffekte über bestimmte Praktiken in die Interpretations- und Deutungsmuster der Individuen eingravieren. Von einer völligen Ignoranz gegenüber derartigen »ideologischen« Effekten kann also keine Rede sein.77 Einzig Foucaults auffällige Wertschätzung »der ›unterworfenen Wissen‹« (VG: 15) vermittelt an manchen Stellen einen gegenteiligen Eindruck: »Foucault now assumes that the agents themselves have a ›priviledged access‹ to the structures of their own experiential contexts.«78 Kögler versteht Foucault so, dass die Subjekte jener unterworfenen Wissen über eine Art unmittelbare Erfahrung verfügen oder zumindest die Machtverwobenheit ihrer individuellen Deutungsmuster reflektierend neutralisieren können. Eine solche Vorstellung würde selbstverständlich massiv mit Foucaults Anti-Essentialismus bzw. Anti-Naturalismus in Konflikt geraten. Neben dieser Ambivalenz bezüglich der Stellung der unterworfenen Wissen bestehen die Probleme im Rahmen von Foucaults Ansatz vornehmlich darin, dass es einen missing link zwischen Praktiken und Identitäten bzw. Deutungsmustern gibt. Foucault macht nicht deutlich, auf welche Weise sich die Praktiken, denen sich das Individuum unterworfen sieht, zu Deutungsmustern und Identitäten transformieren. Damit kann der weiter oben vermutete Erklärungsanspruch bezüglich des Zusammenhangs zwischen Praktiken und Identitäten nicht voll eingelöst werden. Im Falle Habermas’ lässt sich sicherlich von einer energischen Abkehr vom Konzept der Ideologiekritik sprechen, das nicht zuletzt mit seiner These vom fragmentierten Bewusstsein anstelle des falschen Bewusstseins obsolet wird. Dennoch wäre es unzutreffend, ihm eine völlige Ignoranz und damit auch Naivität gegenüber ideologischen Mechanismen vorzuwerfen, die auf das sprachphilosophische Gerüst der TKH zurückzuführen sei. Kögler ist beispielsweise der Meinung, in Habermas’ Konzept finde eine reflexive Haltung gegenüber den durch die Individuen erworbenen Deutungsmustern keinen Platz, da Verständigung laut Habermas nur über etwas in der Welt stattfinden könne, die Lebenswelt, und mit ihr die persönlichen und kulturellen Deutungsmuster, immer »im Rücken« des kommunikativen Handelns verbleiben müssten und 77 Ingram 1994: 221 weist zu Recht auf die Bedeutungsverschiebung des Terms »Ideologie« hin: »Insofar as ›ideology‹ continues to denote a worthy topic of criticism in the Foucaultian agenda, it does so qualifiedly – not as ›false consciousness‹ of genuine emancipatory needs, but as blindness with respect to the irrecusable historicity, conditionality, and otherness of one’s own subjectivity.« Mögliches Objekt dieser Ideologiekritik muss jedoch nicht nur die eigene Subjektivität sein. 78 Kögler 1996: 33.

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keiner Thematisierung zugänglich seien.79 Diese Interpretation geht jedoch an Habermas’ Charakterisierung der Lebenswelt vorbei. Zwar können sich Akteure »nicht auf etwas in der Lebenswelt in derselben Weise beziehen wie auf Tatsachen, Normen oder Erlebnisse« (TKH II: 192), und darüber hinaus ist der lebensweltliche Background unmöglich als ganzer diskursivierbar. Doch es stellt einen völlig normalen Vorgang dar, einzelne Aspekte der Lebenswelt, z. B. Deutungsmuster, im Rahmen diskursiver Prozesse zu thematisieren und sie damit in die Welt zu transferieren: »Im anderen Fall werden einzelne Bestandteile der kulturellen Überlieferung selber zum Thema gemacht. Dabei müssen die Beteiligten gegenüber kulturellen Deutungsmustern, die normalerweise ihre Interpretationsleistungen erst ermöglichen, eine reflexive Einstellung einnehmen«. (TKH I: 123 f.) Habermas’ These vom fragmentierten Bewusstsein verlegt den Fokus der Kritik weg von der Ebene ideologischer Phänomene – eine gänzliche Ausblendung dieser Aspekte wird man ihm aber nicht unterstellen können. Hinsichtlich gesellschaftlicher Praxis sind zunächst einige Gemeinsamkeiten zu verzeichnen. Habermas und Foucault haben in gleicher Weise klassisch linke Revolutionsszenarien aufgegeben und stehen einer grundsätzlichen Transformation der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur was die Möglichkeit, sondern auch, was die Wünschbarkeit angeht, skeptisch gegenüber. Für Habermas sind die Systeme einem solch umfassenden Zugriff enthoben, und wäre er möglich, bezeichnete er eine Entdifferenzierung, die fatale Folgen zeitigen würde. Für Foucault kann ein modernes Machtregime nicht mehr revolutionär im klassischen Sinne gestürzt werden, da es kein Machtzentrum mehr gibt, durch dessen Übernahme eine grundlegende Transformation möglich wäre. Zudem würde dies nichts an der Existenz eines Machtregimes ändern (vgl. EP: 165),80 überhaupt gilt: »A society without power relations can only be an abstraction.« (SaP: 222) Gleichermaßen wenden sich beide nicht mehr an ein historisches Subjekt als Träger gesellschaftlicher Praxis nach dem Vorbild des Proletariats. Habermas hat als Theorieadressaten in der TKH, wenn auch nur bedingt, die Neuen Sozialen Bewegungen im Auge. Als Foucaults Adressaten müssen zunächst schlichtweg alle gesellschaftlichen (Kollektiv-)Akteure verstanden werden. Jeder kann überall Widerstand gegen die Macht leisten. Auf den zweiten Blick ma79 Vgl. Kögler 1996: 17. 80 In diesem Zusammenhang hat Foucault immer wieder darauf hingewiesen, dass die Frage, ob die Revolution überhaupt wünschenswert ist, für den spezifischen Intellektuellen in den Mittelpunkt rückt. Vgl. EMS: 223.

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chen jedoch beide Positionen gewisse Auswahlkriterien geltend, die ich, wie auch das Problem der Handlungsfähigkeit des Subjekts bei Foucault, später behandeln werde. Übereinstimmung besteht auch darüber, welche Art von Wissen beide Denker nicht mehr für den Theorieadressaten bereitstellen wollen und können. Die klassische Frage ›Was tun?‹ können sie nicht mehr in der Weise beantworten wie Marx, Lukács oder gar Lenin81, da sie das hierfür erforderliche Wissen über den »notwendigen« Verlauf der Geschichte, der entsprechenden sozialen Praxis oder gar der entsprechenden Parteiorganisation nicht mehr für sich in Anspruch nehmen wollen. Beide stellen stattdessen ein anderes, jeweils unterschiedliches Wissen bereit. Wie schon oben erwähnt, versucht Habermas Legitimationswissen zu bilden. Er versucht, mit Hilfe des Konzeptes der kommunikativen Rationalität die Frage zu beantworten, welche Art von Widerstand oder Kritik legitim ist. Aktive gesellschaftliche Akteure erfahren durch Habermas mehr oder weniger starke Legitimation und es ist jedenfalls grundsätzlich vorstellbar, dass diese Legitimationskonzepte in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung als Argumente eingesetzt werden, unter anderem, um andere Akteure zum Engagement zu ermuntern. Foucault stellt ein völlig anderes Wissen bereit, nämlich strategisches Handlungswissen bzw. Wissen über die Kontingenz des Bestehenden, das Veränderung in den Bereich des Vorstellbaren rückt. Seine Adressaten sind nicht primär die Akteure, die sich die Frage nach ihrer Legitimation stellen, sondern diejenigen, die wissen wollen, wie sie effektiv Widerstand leisten können.82 Wie schon mehrmals betont, versteht Foucault seine Analysen als »tool boxes« (FTC: 53) und will sich nicht darum kümmern, wer diese Werkzeuge benutzt. Diese Konstellation ermöglicht eine gewisse Komplementarität: Geht man davon aus, dass Habermas beispielsweise die Praxis bestimmter Feminismen normativ legitimieren kann, so ist seine Theorie jedoch nicht in der Lage, diesen Kollektivakteuren Wissen darüber bereitzustellen, wie sie ihre legitimen Ziele auf Erfolg versprechende Art und Weise verfolgen können. Dies kann jedoch mit Hilfe von Foucaults Genealogie zumindest insofern geleistet werden, als sie die Mechanik gesellschaftlicher Machtmechanismen, deren Polyvalenz auch die Dimension 81 Foucault stellt klar: »My books don’t tell people what to do. And they often reproach me for not doing so.« (EP: 380) 82 »Effektiv Widerstand leisten« umfasst auch, die Machtmechanismen, die man bekämpft, nicht im Rahmen des Widerstandes 1:1 zu reproduzieren, also die reflexive Dimension der Genealogie.

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des Sexismus umfasst, analysieren und deren Schwach- bzw. Angriffspunkte aufzeigen kann. Es wäre also wenigstens grundsätzlich vorstellbar, Habermas’ Legitimationswissen durch Foucaults Handlungswissen zu ergänzen. Dabei bleibt jedoch fraglich, inwieweit Habermas strategisches Handeln im Rahmen der Praxis sozialer Bewegungen überhaupt für akzeptabel hält.83 Umgekehrt dürfte Foucault kaum Interesse an Habermas’ Legitimationswissen haben, da er es für den normativen Rahmen eines universellen Intellektuellen hält, mit all seinen negativen Folgen für Widerstand.84 Der Kern der Kontroverse zwischen beiden Positionen, auf den die angeführten Punkte schon teilweise verwiesen haben, liegt in der jeweiligen normativistischen bzw. anti-normativistischen Haltung. Habermas’ Grundüberzeugung ist es, dass sich Kritik, will sie legitim, aber auch effektiv sein, begründen lassen muss. Als Gründe können nicht willkürliche, individuelle Präferenzen gelten. Stattdessen bedürfe es Universalien, allgemein gültiger Maßstäbe, mit deren Hilfe sich das Bestehende kritisieren lässt. Wie weiter oben ausführlich gezeigt wurde, versucht Habermas, die kommunikative Rationalität als eine derartige Universalie herauszuarbeiten, auf die sich eine kritische Gesellschaftstheorie stützen kann, ohne sich dem Vorwurf des Relativismus auszusetzen. Ein solches Projekt muss Habermas in massiven Konflikt mit Foucault bringen, da dieser es gerade für notwendig hält, Kritik nicht auf eine normative Theorie zu stützen, ganz zu schweigen von vermeintlichen Universalien. Im Gegenteil, Universalien wie »Wahrheit« oder eben auch die kommunikative Rationalität Habermas’ sind das bevorzugte Objekt einer genealogischen Kritik, die ja gerade die Kontingenz und Partikularität des scheinbar Absoluten und Universellen enthüllen will.85 Foucaults Vorwurf gegenüber Habermas ist daher in gewisser Weise analog zum Vorwurf Hegels oder Marx’ gegenüber Kant (vgl. weiter oben Kap. I 1.1): Kontingentes werde zum Absoluten, Partikulares zur univer83 Diese Frage stelle ich zunächst zurück. Im Rahmen des Vergleichs der ethischen/ moralphilosophischen sowie der staatstheoretisch/demokratietheoretischen Phasen werde ich ausführlich darauf zurückkommen. Vgl. weiter unten Kap. III 3.2.3 sowie IV 3.3. 84 Vgl. zu Habermas’ Selbstverständnis als Intellektueller WR: 329 f., das bis in neueste Zeit hinein Foucaults Charakterisierung des universellen Intellektuellen entspricht. 85 Foucault selbst hat diesen Grundkonflikt mit Habermas thematisiert: »Well, the problem for Habermas is, after all, to make a transcendental mode of thought spring forth against any historicism.« (SKP: 343) Dagegen hatte er sein eigenes Projekt mit folgenden Worten charakterisiert: »I try to historicize to the utmost in order to leave as little space as possible to the transcendental.« (HC: 99)

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sellen Norm erhoben, was für Foucault zu den entsprechenden Machteffekten führt.86 Dieser mögliche theoretische Vorwurf Foucaults wird von einigen Autoren mit empirischem Material gestützt. Rassmussen und Harding erheben den Vorwurf des Eurozentrismus, Fraser und Gilligan den der Geschlechterblindheit gegenüber der kommunikativen Rationalität bzw. ihrer vermeintlich universellen Voraussetzungen.87 Habermas, der ausdrücklich einen möglichen Eurozentrismus als größtes Problem seines Vernunftkonzeptes anerkennt, könnte natürlich auf den hypothetischen Status der Universalien verweisen, aber es ist zumindest bedenklich, dass die meisten der sehr wenigen empirischen Untersuchungen zu Habermas’ Forschungsprogramm seine philosophischen Ergebnisse eher anzweifeln.88 Habermas’ Haltung dürfte allerdings dahin gehen, dass es besser ist, mit empirisch bedenklichen und ständig zu revidierenden Universalien zu arbeiten, als gänzlich auf sie als Grundlage von Kritik zu verzichten, wohingegen Foucault dafür plädieren würde, das Projekt als offensichtlich aussichtslos aufzugeben und sich anderen Zielen zuzuwenden. Freilich muss hinzugefügt werden, dass sich die Analogie zwischen einem Foucault’schen Vorwurf gegenüber Habermas auf einer höheren Ebene gegenüber den Vorwürfen Hegels oder Marx’ gegen Kants Vernunftkonzept vollzieht, da die Positionen bei weitem nicht mehr so weit voneinander entfernt sind: Habermas verficht nicht mehr den Vernunftbegriff des deutschen Idealismus, sein Rationalitätskonzept führt diese Tradition nur stark gebrochen fort. Einige Hinweise mögen genügen, um zu verdeutlichen, dass die Kluft zwischen beiden Ansätzen hier massiv geschrumpft ist: Habermas bezieht durchaus das Kontingenzbewusstein der Moderne in sein Konzept ein, das sogar die Möglichkeit zulässt, »die Vernunft selbst als kontingent entstanden zu denken« (ND: 154). Die Entwicklung der kommunikativen Rationalität ist an eine keineswegs notwendige Entwicklung der Sprache gebunden. Zudem sind die »nicht hintergehbaren Voraussetzungen«, aus denen Habermas das unbedingte Moment der kommunikativen Rationalität herleitet, 86 Darüber hinaus hat Foucault auch am Rande Kritik an Habermas’ Vorstellung eines problematischen Auseinandertretens der einzelnen Vernunftmomente in der Moderne geäußert. Eine Vorstellung, die Foucault wohl noch zu stark von einem identitätslogisch verstandenen Vernunftbegriff geprägt erscheint. Vgl. HMD: 358. 87 Rassmussen 1985: 139 f., Fraser 1995, Gilligan 1987, Harding 1987. Im Rahmen der Diskussion der Diskursethik, die hinsichtlich dieser Vorwürfe eine noch kontroversere Aufnahme als die TKH gefunden hat, wird die Thematik eingehender behandelt, vgl. Kap. III 1.2.3. 88 So Richters 1994: 320, McCarthy 1989b, Chambers 1995.

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»nicht im strengen Sinne transzendental, weil wir [...] auch anders als kommunikativ handeln können« (Entg.: 346). Habermas versucht, wie gezeigt, die Voraussetzungen der kommunikativen Rationalität mit Hilfe der rationalen Rekonstruktion zu bestimmen. Die diesbezüglichen Ergebnisse sind nie mehr als hypothetische »Platzhalter«, die jederzeit falsifiziert werden können.89 Zuletzt erweisen sich die auf diese Weise rekonstruierten Voraussetzungen im Sprachgebrauch nur insofern als unbedingt, als kommunikativ Handelnde sie idealisierend als gegeben voraussetzen müssen. Teilnehmer einer verständigungsorientierten Sprechsituation müssen laut Habermas z. B. unterstellen, dass die von ihnen benutzten sprachlichen Ausdrücke von den übrigen Teilnehmenden bedeutungsidentisch verwendet werden – auch wenn sich meistens ex post herausstellt, dass dies faktisch nicht der Fall ist. Mit diesem stark entschlackten Konzept kommt Habermas der Foucault’schen Position ein großes Stück entgegen, aber dennoch bleibt m. E. eine unüberwindliche, wenn auch äußerst schmale Kluft zwischen den Positionen bestehen.90 Mit diesem Konflikt über Universalien steht ein weiterer Punkt in engem Zusammenhang: die vermeintliche Machtfreiheit der kommunikativen Rationalität. Die Vorstellung, dass sich Wissen – wenigstens in einem herrschaftsfrei vorgestellten Diskurs – unkontaminiert von Machteffekten bilden kann, lehnt Foucault auf einer empirischen Ebene – hier würde ihm Habermas für die meisten Fälle zustimmen –, aber auch auf einer ontologischen Ebene grundsätzlich ab. Für Foucault werden Diskurse durch Macht erzeugt und können somit nicht durch bestimmte prozedurale Vorkehrungen von Machteffekten, was ja Habermas wenigstens als grundsätzlich denkbar verteidigen muss, gereinigt werden. Daher muss Foucault das ganze Projekt Habermas’, das ja bestimmte Arten von Kommunikation und Diskursen als Gegengewicht zu Herrschaft und Macht propagiert, zumindest suspekt sein. Trotz dieser Bedenken steht Foucault der Position Habermas’ näher als die meisten »postmodernen« Denker. Während Lyotard in der entsprechenden Debatte Habermas vorwarf, die immer wieder betonte Notwendigkeit eines Konsenses lasse keine Differenz mehr zu und wirke 89 Auf diese Methode bzw. auf die in diesem Zusammenhang postulierte Fallibilität wird im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um eine Letztbegründung der Diskursethik ausführlich zurückzukommen sein. Vgl. weiter unten Kapitel III 1.2.2. 90 Hier nimmt Kelly eine Harmonisierung der Positionen vor, da er Foucault – ohne jegliche Begründung – eine Akzeptanz von Universalien, wie sie Deleuze versteht, unterstellt. (Kelly 1994b: 385)

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dadurch klar herrschaftsverstärkend oder gar totalitär, ergreift Foucault, auf diese Konsens/Dissens-Debatte angesprochen, vorsichtig zugunsten Habermas’ Partei: »Ich würde höchstens soweit gehen zu sagen, dass man vielleicht nicht für Konsensualität, sondern gegen Nicht-Konsensualität sein sollte.« (PE: 707)91 Dennoch bleiben natürlich prägnante Unterschiede zwischen beiden Positionen. Auch Foucault bleibt zumindest skeptisch gegenüber der Möglichkeit eines Konsenses, der ohne Ausschlüsse und die Homogenisierung von Differenzen zustande kommen soll. Dass solche Konsense ohne wie auch immer geartete Machteffekte zustande kommen92, hält er auf einer ontologischen Ebene für ausgeschlossen und wie Nietzsche hält Foucault insbesondere diejenigen Phänomene für besonders gefährlich, die sich machtlos oder machtfrei geben, wie eben die kommunikative Rationalität, ihre Voraussetzungen und ihre qualifizierten Konsense. In der Grundfrage des Normativismus und entsprechend der Frage der kommunikativen Rationalität sind die Positionen von Habermas und Foucault kaum zu harmonisieren. Dennoch halte ich es für angebracht, von einem sehr fruchtbaren Spannungsverhältnis zu sprechen, zumindest, was den Umgang mit Universalien angeht. Die Foucault’sche Position ist eine kontinuierliche Herausforderung für Habermas’ Projekt, ein kritischer Stachel, mit dem er sich auseinander setzen sollte. Dies wäre ihm durchaus möglich, ist er doch kein Vernunftdogmatiker, wie die vorgenommenen Revisionen des kantischen Vernunftbegriffes zeigen. Doch auch Habermas’ Position bezeichnet im Gegenzug eine kaum zu unterschätzende Herausforderung des anti-normativistischen Projekts Foucaults, wie die nun folgende Diskussion der Haupteinwände Habermas’ gegen die Genealogie zeigen wird. 3.2 Die Genealogie in der Kritik Habermas’ 3.2.1 Mangelnde Differenzierung oder Rhetorik: Der Vorwurf der Einseitigkeit Der Vorwurf, Foucaults Analysen seien einseitig, undifferenziert oder holistisch, gehört zu den häufigsten, die gegen die Genealogie vorgebracht werden. Habermas spricht von einer »Tendenz zur Einebnung zweideutiger Phänome-

91 Als Parteinahme für Habermas interpretiert auch Hoy das Zitat. (Hoy 1994c: 297) 92 Diese müssen sich ja nicht zwangsläufig als Ausschlussmechanismen manifestieren.

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ne« (PhDM: 341) bei Foucault.93 Diesen Vorwurf konkretisiert er mit Blick auf verschiedene Aspekte von Foucaults Analysen. Foucault vertrete die These, »daß der am modernen Strafvollzug abgelesene Panoptismus kennzeichnend ist für die Struktur der gesellschaftlichen Modernisierung insgesamt« (PhDM: 338), was als totalisierende Darstellung eines holistischen Machtregimes abzulehnen sei. Diese radikale Einseitigkeit wiederhole sich mit Blick auf das Recht in Überwachen und Strafen und hinsichtlich der Identität von Subjekten in Der Wille zum Wissen.94 Genau genommen kommen dem von Habermas und anderen erhobenen Vorwurf zwei Dimensionen zu: Einerseits werden die mangelnden analytischen Fähigkeiten der Genealogie gerügt, die ein völlig verzerrtes Bild der Wirklichkeit zeichne, andererseits drohen durch die Verallgemeinerungen Widerstand und Kritik undenkbar zu werden, geht man von dem totalen Machtregime aus, das Foucault teilweise suggeriert. Diesen durchaus schwer wiegenden Kritikpunkten kann mit der folgenden Interpretation begegnet werden: Foucault sieht seine teilweise drastischen und verallgemeinerten Beschreibungen und Analysen nicht als mit umfassendem Wahrheitsanspruch erhobene Darstellungen einer objektiven Realität im Sinne einer Korrespondenztheorie der Wahrheit an, sondern verwendet sie als rein rhetorische Stilmittel. Ein derartiges Verständnis gewinnt nicht zuletzt durch seine Konsistenz mit der bis jetzt herausgearbeiteten Position Foucaults Plausibilität: Foucault kann dem performativen Widerspruch einer Kritik, welche ihr Objekt als ubiquitär setzt, nur entgehen, indem er einen klassischen Wahrheitsanspruch aufgibt95 und sich selbst nicht als distanzierten Betrachter, sondern als Beteiligten in politischen Machtkämpfen versteht, der durch und durch parteiergreifendes, machtdurchsetztes Wissen produziert, um in einer Machtrelation Widerstand zu stärken.96 93 Diese Kritik findet sich darüber hinaus unter anderem bei Walzer 1991 und Merquior 1985. 94 Vgl. PhDM: 339 f.; ebenso Taylor 1985: 384 und Honneth 1991: 137. 95 Vgl. das in dieser Frage äußerst erhellende Interview Der Mensch ist ein Erfahrungstier, dem auch das folgende Zitat entstammt: »Das Problem der Wahrheit dessen, was ich sage, ist für mich ein sehr schwieriges, ja sogar das zentrale Problem. [...] Insoweit kann alles, was ich in meinen Büchern sage, verifiziert oder widerlegt werden, nicht anders als bei jedem anderen historischen Buch. Trotzdem sagen die Leute, die mich lesen [...] oft lächelnd: ›Im Grunde weißt du genau, daß alles, was du sagst, nur Fiktion ist.‹ Ich antworte stets: ›Natürlich; daß es etwas anderes wäre, davon kann gar keine Rede sein‹.« (DME: 28) Vgl. auch PAB: 213 sowie TF: 301. 96 Foucaults Ziel ist es, »to work out an interpretation, a reading of a certain reality, which might be such that, on one hand, this interpretation could produce some of the effects

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Ein solcher Wahrheitsanspruch würde jedoch implizit wiederbelebt, verfolgte er in seinen Analysen argumentative Strategien nach dem Vorbild Habermas’, da die Qualität der Argumente hinsichtlich einer mitgedachten Wahrheit bewertet werden. Foucault darf also den Anspruch, das »bessere« Argument in diesem Sinn zu haben, nicht erheben. Daher kann er auch nicht den Anspruch erheben, beispielsweise das »eigentliche« Wesen der Moderne erkannt zu haben, da dies eine Hierarchisierung der Argumente mit Bezug auf eine objektive Wahrheit voraussetzte. Damit wird auch deutlich, dass Foucault nie einen Vorwurf an andere Theorien richten kann, der über den der Unvollständigkeit hinausgeht, will er nicht zu seiner eigenen Position in Widerspruch geraten.97 Foucault kann nicht das »richtige« Bild der Moderne entwerfen, er kann nur ein paar Pinselstriche hinzufügen.98 Er muss also auf rhetorische Mittel wie das der Übertreibung zurückgreifen, um für seine Konzepte zu werben.99 Foucault setzt nicht darauf, dass von ihm angebotene Gründe Widerstand hervorrufen und legitimieren könnten, sondern auf den Beunruhigungseffekt seiner düsteren Diagnosen: »You have to be pessimistic, to make the situation look darker to make the task appear more urgent and the possibilities for the future livelier and brighter.« (TS: 144) Gerade die totalisierenden Beschreibungen einer völlig vermachteten Gesellschaft sollen Widerstand und Kritik provozieren. Was der Genealoge Foucault hier entwickelt, kann als ein neuartiger, rhetorischer Kritiktypus aufgefasst werden. Dessen konstitutive Bestandteile sind zum einen eine radikale Entprivilegierung des eigenen Erkenntnisstandpunktes, welches mit dem Selbstverständnis des spezifischen Intellektuellen korrespondiert, zum anderen die daraus resultierende Entfernung von einem rein argumentativen Kritikmodell zugunsten rhetorischer Strategien der Überredung. Sollen die eigenen Erkenntnis- und Wahrheitsansprüche tatsächlich massiv zurückgenommen werden, so ist dies auf konsistente Art und Weise nur durch of truth; and on the other hand, these effects of truth could become implements within possible struggles.« (CQP: 261) 97 Es handelt sich hier um den Idealtypus der Foucault’schen Kritik. Es steht außer Frage, dass Foucault eine entsprechende Selbstbeschränkung nicht immer durchgehalten hat. 98 »I wouldn’t want what I may have said or written to be seen as laying any claims to totality. I don’t try to universalize what I say.« (TIP: 275) 99 Er befindet sich damit in der Nähe der Strategie, die Rorty verfolgt: »Also [...] werde ich keine Argumente gegen das Vokabular, das ich ersetzen möchte, liefern. Statt dessen werde ich versuchen, das Vokabular, das ich favorisiere, attraktiv zu machen.« (Rorty 1989: 31) So auch Patton über Foucaults Genealogie: »Reluctant to defend it as science, he defends rather its character as ›fiction‹.« (Patton 1994: 166)

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eine konsequente Rhetorisierung der Kritik möglich. Die Fruchtbarkeit dieses Kritiktypus kann zunächst an den von Foucault ja auch explizit intendierten Mobilisierungseffekten festgemacht werden, wobei jedoch zugleich gewisse Ambivalenzen in dieser Hinsicht einzuräumen sind. Bedeutsamer ist jedoch die theoretische Problematik, die durch diesen Ansatz wenn nicht gelöst, so doch zumindest entschärft wird: der selbstreferentielle Charakter einer totalisierenden Kritik. Nur auf der Grundlage einer Perspektive, die sich gleichsam selbst in die ubiquitären Machtverhältnisse einbettet und für deren Beschreibung keinen Anspruch auf Wahrheit mehr erhebt, kann Foucault einem performativen Widerspruch entgehen, welcher aufgrund des selbstreferentiellen Charakters der machtanalytischen Prämissen drohte. Nachdem die Archäologie also noch mit Hinblick auf die mangelnde Konsistenz zwischen erkenntnistheoretischen Prämissen und den Erkenntnisansprüchen des Archäologen selbst Angriffsfläche bot, hat die genealogische Kritik diese Lektion der Selbstreferentialität gelernt. Geht man von diesem genealogisch-rhetorischen Kritiktypus aus, so lässt sich auch verstehen, warum die Kommunikation zwischen Habermas und Foucault nicht sonderlich produktiv war: Habermas ist der Theoretiker der Rationalität, die sich aus seiner Sicht im illokutionären Sprachgebrauch manifestiert, der auf Gründe rekurriert. Foucault akzeptiert dagegen in der hier dargestellten Lesart eben diese Festlegung auf Illokutionen in seinem eigenen Werk nicht, sondern versucht Effekte zu erzielen, die aus Habermas’ Perspektive perlokutionär zu nennen sind, da sie die Leser überreden, im Sinne von manipulieren, und nicht überzeugen wollen. So erklären sich auch Habermas’ Missverständnisse, der eine illokutionäre, daher aber selbstwidersprüchliche Ausrichtung bei Foucault vermutet, wohingegen dieser selbst perlokutionäre Effekte anvisiert.100 Die hier dargestellte Lesart Foucaults als Rhetoriker, die insbesondere von Schäfer und Hoy pointiert vertreten wird, ist grundsätzlich durchaus haltbar und kann einiges an Plausibilität für sich beanspruchen, ermöglicht sie es doch, dem Foucault’schen Kritiktypus eine gewisse Kohärenz zu verleihen.101 Dennoch werde ich sie aus analytischen Gründen nur sehr begrenzt als Argument 100 Überraschenderweise findet sich auch bei anderen Theoretikerinnen und Theoretikern, die dem Denken Foucaults weit näher als Habermas stehen, zumindest teilweise dieses Missverständnis. Vgl. Butler 1993: 84 ff. 101 Auch Bernstein 1989: 409 ff. begreift Foucaults entdifferenzierende Sprache als rhetorisches Mittel. Im Gegensatz zu Schäfer und Hoy klagt er jedoch die normativen Defizite dieser Strategie ein. Eine detaillierte Analyse der rhetorischen Mittel Foucaults findet sich bei Connolly 1985: 368.

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gegen den Einseitigkeitsvorwurf gelten lassen. Ansonsten ließe sich nämlich de facto jede Kritik an Foucault mit dem Hinweis auf die Rhetorik abschmettern, denn dieser wolle nur provozieren und spreche nie völlig im Ernst. Dies würde jedoch einer völligen Immunisierung gleichkommen, die nicht akzeptabel ist. Daher wird der Einseitigkeitsvorwurf in jedem einzelnen Fall durch eine genaue Textanalyse zu prüfen sein. Dass eine derartige Prüfung bei unterschiedlichen Punkten auch unterschiedlich ausfallen kann, werde ich anhand zweier Kritikpunkte im folgenden Kapitel exemplarisch zeigen. Kritik zwischen Wissenschaft, Philosophie und Literatur Zuvor soll jedoch Habermas’ Verhältnis zum Rhetoriker Foucault noch etwas eingehender behandelt werden. Hier müssen gewisse Umwege beschritten werden, da sich die Situation auf den ersten Blick so darstellt, wie oben beschrieben: Habermas missversteht die Foucault’schen Wahrheits- und Erkenntnisansprüche. Er hält die Genealogie für Wissenschaft und Perlokutionen für Illokutionen, so dass man vergeblich nach einer Auseinandersetzung Habermas’ mit Foucaults rhetorischem Kritiktypus102 sucht. Wie eine solche Auseinandersetzung bzw. Kritik Habermas’ aussehen könnte, lässt sich jedoch durchaus skizzieren, ohne dabei völlig in das Reich des Spekulativen abgleiten zu müssen: Habermas versteht Foucault im Philosophischen Diskurs der Moderne als Wissenschaftler, der in der Genealogie eine Über-Wissenschaft kreieren will und sich aufgrund der Selbstbezüglichkeit der Machttheorie in performative Widersprüche verstrickt. In Habermas’ Augen ist es nicht Foucault, sondern Derrida, der mit einem modifizierten Kritiktypus versucht, »jenes Problem zu lösen, vor dem die totalisierende Vernunftkritik steht« (PhDM: 221), das der Selbstreferentialität. Im Kapitel Exkurs zur Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur in Der Philosophische Diskurs der Moderne sieht Habermas die Negative Dialektik des späten Adorno und die Dekonstruktion Derridas als zwei Wege aus dem Dilemma der Dialektik der Aufklärung an und unterstellt Derrida jene Strategie, die in dieser Arbeit – abgesehen von gewissen Unterschieden, auf die ich noch zu sprechen komme – als diejenige Foucaults angesehen wird: »Er setzt sich über den Einwand der pragmatischen Inkonsistenz nicht herrisch hinweg [wie dies laut Habermas Heidegger tut, T. B.], sondern macht ihn gegen102 Diese Lesart der Foucault’schen Kritik wird hier grundsätzlich vertreten, nur im Zusammenhang mit dem Einseitigkeitsvorwurf wird die Rhetorik aus den oben erwähnten Gründen nicht als Argument herangezogen.

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standslos« (PhDM: 222), indem er die Erkenntnisansprüche der eigenen Methode radikal reduziert. Damit bietet sich die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Habermas und Foucault bezüglich des rhetorischen Zuges in Foucaults Werk anhand einer Übertragung von Habermas’ Argumentation gegenüber Derridas Dekonstruktivismus auf die Foucault’sche Genealogie zu klären. Derridas Methode basiert laut Habermas auf einer Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Literatur und Philosophie – so lautet jedenfalls der Titel des Exkurses in Der Philosophische Diskurs der Moderne. Derrida, so Habermas, wolle philosophische Werke wie literarische lesen, daher habe er ein »besonderes Interesse daran, den schon von Aristoteles kanonisierten Vorrang der Logik vor der Rhetorik auf den Kopf zu stellen« (PhDM: 221).103 Die Haltbarkeit einer solchen Position hänge davon ab, das Fehlen von Kriterien nachzuweisen, die eine kategoriale Unterscheidung zwischen den Geltungssphären Philosophie und Literatur ermöglichen. Tatsächlich lässt sich die Auseinandersetzung zwischen Derrida und Austin als Versuch Derridas interpretieren, diesen Nachweis auf der Ebene der Sprache zu erbringen, indem er Austins Unterscheidung zwischen einer Normalsprache und parasitärem Sprachgebrauch, unter den Austin auch die rhetorische Sprache fasst, den Boden zu entziehen versucht.104 Habermas vertritt die Position Austins und führt als Unterscheidungskriterium die »eigentümliche, Fiktionen erzeugende Entmächtigung der Sprechakte« (PhDM: 236) in literarischen Texten an. Er stützt sich dabei auf Richard Ohmanns sprechakttheoretische Spezifizierung poetischer bzw. literarischer Sprache und ihrer rhetorischen Aspekte. Der Autor eines literarischen Werkes erziele einen rhetorischen Effekt, »by providing the reader with impaired and incomplete speech acts«105. Illokutionen und die ihnen eigene Kraft, 103 Habermas ist dafür kritisiert worden, im obigen Zusammenhang überhaupt den Begriff »Rhetorik« zu verwenden: »Das Feld des Rhetorischen ist nur zugänglich, wenn eine bestimmte Präsenz vorausgesetzt wird: die Präsenz der Stimme des Sprechers, seine hörbare Intentionalität, die einen Ausdruck findet oder als Selbstdementi rekonstruiert werden kann.« (Karpenstein-Eßbach 1995: 136) Dies scheint mir eine zu starke Engführung des Begriffs der Rhetorik zu sein, der hier umfassender verstanden werden soll, um auch textuelle Strategien, wie sie von Foucault verfolgt werden, erfassen zu können. 104 Ich werde die vorgetragenen Argumente hier nicht ausführlich darstellen und verweise stattdessen auf die Rekonstruktion der Debatte zwischen der Position Austins bzw. Searles und Derrida in: Culler 1983. Die tatsächliche Auseinandersetzung fand nur zwischen Derrida und Searle statt. Vgl. Derrida 1976: 142 ff., Searle 1977: 198 ff. sowie Derrida 1977: 202 ff. 105 Ohmann 1971: 17.

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so führt Habermas den Gedankengang Ohmanns weiter aus, würden in literarischen Kontexten ausgehöhlt. Ein illokutionärer Akt des Versprechens innerhalb eines literarischen Kontextes entfalte beispielsweise keine illokutionäre Bindungskraft mehr. Der Grund dafür liegt für Habermas in der unüberbrückbaren Asymmetrie zwischen Autor und Leser, die in einem literarischen Text nicht überwunden werden könne. Diese Entwertung illokutionärer Sprechakte hänge des Weiteren mit der weltkonstituierenden bzw. welterschließenden106 Funktion von Sprache zusammen, die in literarischen Texten im Vordergrund stehe. Literarische Texte hätten nicht das Ziel, sich über etwas in der Welt zu verständigen, vielmehr sollten neue Welten spielerisch erzeugt, bzw. »die« Welt in einem völlig neuen Licht gezeigt werden (PhDM: 238). Wissenschaft, Recht und Moral erfüllten die Funktion, Probleme in der Welt zu lösen, die Funktion von Literatur(-kritik) bestehe dagegen darin, Welt zu erschließen bzw. zu erschaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse sich die Literatur notwendigerweise rhetorischer Mittel bedienen, zu denen Metaphorik oder auch Übertreibungen, allgemein, ein gegenüber der Normalsprache innovativer Sprachgebrauch gehörten. Habermas schließt mit einer Typologie, in der bestimmten Geltungssphären Sprachfunktionen mehr oder weniger exklusiv zugeordnet werden: In Kunst/Literatur tritt das rhetorische Element der Sprache in Reinform auf und wird zum Strukturprinzip erhoben. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Spezialsprachen von Wissenschaft, Technik, Recht und Moral. Für sie gilt: »Die rhetorischen Elemente sind gleichsam gezähmt und in Dienst genommen für spezielle Zwecke der Problemlösung« (PhDM: 245), spielen also kaum noch eine Rolle. Zwischen diesen beiden Extremen liegt die Umgangssprache der kommunikativen Alltagspraxis. Sie ist »unausrottbar rhetorisch«, tendiert jedoch zu den Spezialsprachen der Wissenschaft etc., denn »in den Routinen der Alltagspraxis ist der weltkonstituierende sprachliche Rahmen beinahe erstarrt« (ibid.). Mit dieser abermals auf die Sprechakttheorie zurückgreifenden Typologie glaubt Habermas Derridas hinsichtlich Gattungsunterschieden gleichgültigen Dekonstruktivismus als unhaltbaren Willkürakt entlarven zu können.

106 Habermas benutzt beide Begriffe oftmals synonym, was zu gewissen Missverständnissen führen kann. Wenn er von »Welterschließung« spricht, so scheint er auf die Möglichkeit, sich eine neue und unbekannte Welt zu erschließen, abzuheben.

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Dekonstruktion und Genealogie: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Bevor die Stichhaltigkeit dieser Argumentation weiter untersucht wird, ist zunächst zu überprüfen, ob eine Übertragung der Kritik an Derrida auf Foucault nicht möglicherweise aufgrund diverser Unterschiede in der Methode beider Denker, die sich immer wieder im Kollektiv »der« Poststrukturalisten zusammengedrängt sehen, völlig unvertretbar ist.107 Was bezüglich einer Eins-zu-einsÜbertragung auf Foucault zunächst skeptisch stimmt, ist die Tatsache, dass die Objekte, die Foucault und Derrida mit rhetorischen Mitteln interpretieren, streng genommen nicht die gleichen sind:108 Es macht einen Unterschied, ob Derrida am Beispiel Nietzsches aufzeigt, dass philosophische Texte in verschiedenste Richtungen interpretiert werden können und zwischen diesen Interpretationen keine qualitative Differenz im Sinne von »besser/schlechter« auszumachen ist, oder ob Foucault beispielsweise eine Epoche wie die Moderne als vielfältig interpretierbares Objekt behandelt, wenn er auch wie Derrida eine »Unentscheidbarkeit« zwischen den unterschiedlichen Interpretationen konstatieren würde. Habermas’ Argument zielt daher scheinbar an Foucaults Rhetorik vorbei, da er ihm nicht anhand sprechakttheoretischer Überlegungen einen Willkürakt bzw. eine unangemessene Behandlung einer bestimmten Textgattung nachweisen kann. Gegen Derrida kann Habermas vorbringen, dass Texte gemäß den in ihnen vornehmlich zum Ausdruck kommenden Sprachfunktionen behandelt werden müssen. Solange man diese Argumentation also nur auf den Objektbereich Derridas und Foucaults bezieht, trifft sie den die Wirklichkeit überzeichnenden Foucault keineswegs zwingend. Doch hier darf die Analyse nicht stehen bleiben, denn Derrida ist sich natürlich ausreichend über die Selbstreferentialität des Dekonstruktivismus im Klaren, um auch seinen eigenen Arbeiten einen hybriden Status zwischen Wissenschaft und Literatur zuzuerkennen und erst durch diesen konsequenten Rückbezug auf die eigene Forschung, die Derrida mit Foucault teilt, gelingt ihm das, was Habermas das »Unterlaufen« pragmatischer Konsistenzforderungen nennt: Indem er seine eigenen Analysen als literarischen Text betrachtet, versuche Derrida, die »diskursiven Verpflichtungen« (PhDM: 222 f.) der Wissenschaft zu umgehen. Die Unter107 Foucault selbst hat die Unterschiede zwischen seinen Genealogien und dekonstruktiven Analysen betont. Vgl. PPP: 389. 108 Dies gilt jedoch nur bedingt für den Foucault aus der Vorrede zur Überschreitung und der Ordnung des Diskurses, auf den sich Habermas in Philosophie und Wissenschaft als Literatur? (ND: 242–263) bezieht. Hier findet sich noch eine größere Fixierung auf Sprache, die Foucault in die Nähe Derridas rückt.

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schiede bezüglich des Objektbereichs von Genealogie und Dekonstruktivismus sind also im vorliegenden Zusammenhang letztlich unerheblich, da der Status der jeweiligen Analysen selbst als literarische Texte den eigentlichen Kern der Kontroverse darstellt – und hier sind sich Derrida und Foucault weitgehend einig. Die Werkzeugkiste der Genealogie ist vielfältig verwendbar und vor allem interpretierbar und soll es nach dem Willen Foucaults auch sein. Die welterschließende Funktion von Sprache, die Vertrautes in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt, spielt in ihr zweifellos eine bedeutende Rolle. Im Übrigen ist sie natürlich gekennzeichnet von jenen rhetorisch-suggestiven Elementen, die weiter oben erläutert wurden. Die Frage, um die es also eigentlich zwischen Habermas und Foucault bzw. Derrida geht, lautet also: »Wie rhetorisch dürfen Wissenschaft und Philosophie sein?« Folgt man der Argumentation Habermas’, wie sie bisher dargestellt wurde, so ergäbe sich das Postulat einer Wissenschaft, deren Spezialsprache von allen rhetorischen Gehalten gereinigt ist, um so ihre gesellschaftliche Problemlösungsfunktion optimal zu erfüllen. Derrida und Foucault stünden damit vor der Entscheidung, ihre Untersuchungen an den »diskursiven Verpflichtungen« der Wissenschaft auszurichten oder sich mit dem Status von Romanciers im Stile Truman Capotes zu bescheiden.109 Tertium non datur? Eine Möglichkeit, diesen Vorwurf Habermas’, der auf eine Diskreditierung von Genealogie und Dekonstruktivismus als unseriöse Pseudo-Wissenschaften abzielt, zu parieren, besteht in dem Versuch einer immanenten Kritik Habermas’. Nur wenn seine eigene Theorie seinen Ansprüchen an eine wissenschaftliche Spezialsprache genügt, kann er diese Ansprüche auch als Forderung gegenüber Derrida und Foucault vorbringen.110 Diesen Weg einer Verteidigung Foucaults wählt Coles und konstatiert bezüglich Habermas: »His theory derives its plausibility [...] and is sustained by unproblematized metaphors.«111 Habermas’ Formulierungen, in denen davon die Rede sei, »einen Konsens zu erreichen«, vermittele beispiels109 Capotes Werke betrachtet Habermas als literarische, quellengestützte Aufarbeitung realer Geschehnisse, vgl. PhDM: 238. 110 Es ließe sich auch grundsätzlicher argumentieren, dass jede Sprache, auch Wissenschaftssprache, mit metaphorischen Sprachverwendungen durchsetzt ist: »The most advanced no less than the most ancient scientific vocabulary is loaded with metaphor.« (Sayer 1992: 63) Der Grund hierfür liegt laut Sayer in der Tatsache, dass wir sowohl in Alltags- als auch in der Wissenschaftssprache dazu neigen, das Unbekannte mit Rückgriff auf das Bekannte zu erklären und dass es deshalb weit öfter zur metaphorischen Konzeptualisierung des Neuen als zur Bildung wirklicher Neologismen komme. 111 Coles 1992: 81.

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weise das Bild einer schon vorhandenen, naturwüchsigen Übereinstimmung, auf die hin letztlich alles konvergiere. Auch Worte wie »müssen« und »Nötigung«, die oftmals im Zusammenhang mit Konsens auftauchten, hätten stark rhetorisch-suggestiven Charakter, da sie eine gewisse Unausweichlichkeit oder Notwendigkeit vermittelten. Die positive Konnotation, welche die meisten Habermas-Leser mit dem Begriff Konsens vermutlich verbinden, müsste damit auch auf rhetorische Mittel zurückgeführt werden. Coles versucht dies deutlich zu machen, indem er den Begriff »Konsens« entnaturalisiert.112 Wird ein »Konsens« nicht mehr »erreicht«, sondern »geschmiedet«, so erscheint er bereits weniger als wünschenswerter Zustand. Fände sich bei Habermas im Umkreis des Begriffs »Konsens« gar der Begriff »Disziplin«, dann erschiene das Ansinnen des Konsens-Theoretikers plötzlich in einem völlig anderen Licht. Spontan ließe sich einwenden, dass eine Verbindung von »Konsens« und »Disziplin« natürlich jeden Konsens suspekt mache, da »Disziplin« eine äußerst ambivalente bis negative Konnotation mit sich führe. Im Sinne Coles ließe sich jedoch anführen, dass nicht nur die Denunziation eines Konsenses durch die Kombination mit »Disziplin« eine rhetorische Finte darstellt, sondern auch die Abwesenheit solch negativ besetzter Begriffe und vor allem die Verbindung mit positiv besetzten Begriffen, wenn auch deren Suggestivwirkung bei Habermas weit subtiler ist als die »Disziplinargesellschaft« bei Foucault. Dennoch bin ich der Meinung, dass Coles Argument am eigentlichen Punkt vorbeizielt. Um diesen herauszuarbeiten, muss noch einmal auf Habermas’ Derrida-Kritik zurückgekommen werden, die in ihrem Inhalt weiter oben noch nicht vollständig dargestellt wurde. Der Titel des Exkurses im Philosophischen Diskurs der Moderne vermittelt den Eindruck, als gehe es Habermas tatsächlich um eine strenge Unterscheidung zwischen Literatur und Philosophie. Doch innerhalb des Textes verschiebt sich die Beweisführung zusehends in Richtung einer Differenzierung zwischen Wissenschaft und Literatur, wie auch die oben dargestellte Typologie zeigt. Doch mit der Vorstellung eines Spektrums, das von wissenschaftlicher Spezialsprache bis zur poetischen Sprache reicht, endet Habermas’ Gedankengang keineswegs. Im Folgenden differenziert er noch einmal zwischen Wissenschaft und Philosophie bzw. Literaturkritik. In letztgenannten Disziplinen spiele das Rhetorische »eine andere und gewichtigere Rolle«, ja, es ist sogar die Rede vom »starken rhetorischen Zug, der die Untersuchungen von Literaturkritikern und Philosophen 112 Ibid.: 82.

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gleichermaßen auszeichnet« (PhDM: 245). Habermas geht also durchaus davon aus, dass der philosophischen Sprache auch immer ein stark rhetorischer Zug eigen ist. Der Grund hierfür liegt in der Vermittlungsfunktion zwischen Expertenkulturen und kommunikativer Alltagspraxis, welche die Philosophie in Habermas’ Konzeption übernehmen soll. Die Philosophie soll die Expertensprachen der Wissenschaft rückübersetzen in eine Alltagssprache, in der Geltungsansprüche noch undifferenziert ineinander greifen. Um diese »paradoxe Aufgabe« (ibid.) zu bewältigen, müsse die Philosophie ihre eigene Spezialsprache mit rhetorischen Elementen anreichern. Legt man diese Ausführungen zugrunde, so läuft Coles’ Vorwurf, Habermas’ Sprache enthalte ihrerseits rhetorische Elemente, ins Leere, zumindest unter der Prämisse, dass Habermas seine eigenen Konzepte zumindest in Teilen als philosophische versteht.113 Ist damit nicht der Disput um die Rolle der Rhetorik gegenstandslos geworden, vorausgesetzt, Derrida und Foucault betrachteten ihre Analysen auch als Philosophie? Doch Habermas ist nicht gänzlich gewillt, der Philosophie den Status eines Refugiums der Rhetorik einzuräumen, denn die rhetorischen Mittel würden in Philosophie und Literaturkritik »der Disziplin einer jeweils anderen Argumentationsform untergeordnet« (PhDM: 246). Ist die Rhetorik in der Literatur also Selbstzweck, so ist sie in der Philosophie nur ein Mittel, um das Ziel der Vermittlung zwischen verschiedenen Sphären zu erreichen. Dann kann jedoch die strikte Trennung der Disziplinen kaum noch aufrechterhalten werden, bzw. es müssten die für Habermas’ Konzepte schon beinahe als typisch zu bezeichnenden Abgrenzungsprobleme überzeugend gelöst werden. Wann aus der Rhetorik als großzügig eingesetztem Mittel ein Selbstzweck wird, dürfte kaum für alle Fälle plausibel bestimmbar sein.114 Wollte man sich jedoch auf solche schwierigen Abgrenzungen einlassen, so ließe sich durchaus die These vertreten, dass zumindest Foucault die Rhetorik als Mittel und keineswegs als Selbstzweck ansieht, seine Methode daher als

113 Habermas versteht sich ab Mitte der achtziger Jahre vornehmlich als Philosoph. Eine strenge Abgrenzung zwischen dem kritischen Sozialwissenschaftler und dem Philosophen ist gleichwohl nicht möglich, vgl. Kieserling 2000: 24. 114 Ein analoges Abgrenzungsproblem tritt auf, wenn Habermas an anderer Stelle konstatiert, dass »welterschließende Argumente, die uns dazu bringen, die Dinge in einem radikal anderen Licht zu sehen, [...] nicht wesentlich philosophische Argumente« (EDE: 189) seien. Die Frage des »Wesens« dürfte genauso schwer zu klären sein, wie die Frage nach Mittel oder Selbstzweck.

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philosophische von Habermas akzeptiert werden müsste.115 Jedenfalls hätte Letzterer keine guten Gründe, Foucaults Analysen jenen Status abzusprechen. Im Anschluss an diese Ausführungen zu Habermas’ Beurteilung einer rhetorisch geprägten Kritik, kann nun der Einseitigkeitsvorwurf gegenüber Foucault anhand zweier Beispiele überprüft werden. 3.2.2 Die Gesellschaft als holistisches Machtregime Habermas wirft Foucault vor, er verallgemeinere das Panoptikum zu einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen. Es werde zum zentralen Mechanismus einer total disziplinierten Gesellschaft, eines Machtregimes, das sich, wie Honneth kritisiert, gleich einem Luhmann’schen System unweigerlich und notwendig erfolgreich reproduziert und dabei sogar noch intensiviert.116 Dieser Vorwurf ist keineswegs aus der Luft gegriffen, bedenkt man, dass Foucault von einer »Disziplinargesellschaft« und von »der Allgegenwart der Kerkerapparate und Disziplinaranlagen« (ÜS: 392) spricht und das Gefängnis als »form of general supervision in most modern societies« (TS: 142) bezeichnet.117 Beeinflusst von Deleuze/Guattari spricht Foucault von gesellschaftlicher Macht an anderer Stelle als »a machine in which everyone is caught, those who exercise power and those over whom it is exercised« (EP: 156). Flankiert wird dieser scheinbare Holismus durch einen offenkundigen Funktionalismus, der insbesondere für die Argumentation von Überwachen und Strafen von einiger Bedeutung ist. Im Rahmen des Kapitels über Gesetzwidrigkeiten und Delinquenz (vgl. ÜS: 330 ff.) legt Foucault dar, wie wenig das Gefängnis seit seiner Einführung in der Lage ist, die ihm übertragenen Aufgaben zu erfüllen und folgert in guter funktionalistischer Manier hieraus, dass das Gefängnis daneben eine andere Funktion erfüllen müsse, da es sich sonst als dysfunktionale Institution nicht so lange hätte halten können.118 Er gelangt zu dem Ergebnis, dass das Gefängnis nicht reso115 Vgl. zu dieser Frage den Beitrag Mohantys (1993), die den explizit philosophischen Charakter verschiedener Konzeptionen Foucaults, unter anderem auch die MachtAnalytik, herausarbeitet. 116 »A system’s theory that views the history of society solely as a process of the augmentation of power.« (Honneth 1994: 179) 117 Vgl. auch Foucaults Rede von einem »great continuous web which reaches from the sad dormitory to the profit-making couch« (SM: 202). 118 »The problem is then to find out what role capitalist society has its penal system play, what is the aim that is sought and what effects are produced by all these procedures for punishment and exclusion?« (OA: 115); vgl. auch PSC: 192.

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zialisieren oder abschrecken, sondern vor allem ein Milieu der Delinquenz erzeugen soll. Dieses »Lumpenproletariat« sei mit Spitzeln durchsetzt und durch die gleichzeitige Moralisierung des Proletariats könnten diese beiden Gruppen gegeneinander ausgespielt werden, da das Proletariat sich vom Milieu des Verbrechens distanzieren müsse, um die Durchsetzungschancen seiner politischen Forderungen aufrechtzuerhalten (vgl. CS: 90 ff.). Aus diesem Argument spricht zum einen die kurze und heftige Renaissance eines maoistisch geprägten Marxismus in Foucaults Denken Anfang der siebziger Jahre (vgl. hierzu auch die Äußerungen in RE: 70 u. 73 sowie OA: 118 f.). Ganz im Sinne von marxistischen Klassenkampf-Theorien interpretiert Foucault das Gefängnis als ein Instrument zur Spaltung des Proletariats. Zum anderen bewegt er sich mit diesem Argument am Rande eines funktionalistischen Fehlschlusses, indem er aus der Existenz einer Institution ihre notwendige Funktionalität ableitet, bzw. ihre Existenz durch ihre Funktionalität erklärt. Derartige Argumentationen übersehen die Möglichkeit von Pfadabhängigkeiten und Sperrklinkeneffekten, welche die Existenz von dysfunktionalen Strukturen/Institutionen durchaus erklären können. Zu diesem Zweck ist man nicht genötigt, fragwürdige Hypothesen über vermeintliche versteckte Funktionalitäten einer Struktur/Institution zu ersinnen. Doch der in jenem Kapitel deutlich werdende Funktionalismus Foucaults, der erhebliche Angriffsfläche bietet, entwertet weder das gesamte Buch noch ist mit der Frage des Funktionalismus auch schon die Frage des Holismus entschieden. Dies gälte nur für den Fall, dass Foucault tatsächlich die Möglichkeit von Dysfunktionalitäten bei den kontinuierlichen Restrukturierungen der Machtregime ausschlösse, wie Honneth glaubt. Doch eine Vielzahl von Zitaten legt nahe, dass Foucaults Analysen mit einem weit geringeren Beschreibungs- bzw. Erklärungsanspruch auftreten. So finden sich auf den zweiten Blick durchaus Belege dafür, dass der Panoptismus aus Foucaults Sicht keineswegs allumfassend ist. Foucault leitet die englischen und französischen Ausgaben von Überwachen und Strafen mit den Worten ein: »I shall study the birth of the prison only in the French penal system« (DP: 309, FN 2), die sein begrenztes Projekt deutlich machen und hinsichtlich des Panoptismus sagt er: »[It describes] in a utopian form of a general system mechanisms which really exist« (EP: 164). Explizit auf die holistische Darstellung angesprochen, entgegnet er: »In reference to the reduction of my analysis to that simplistic figure which is the metaphor of the Panopticon, I think that [...] it is easy to show that the analyses of power which I have made cannot at all be reduced to this figure« (CQP: 257) und: »I always analyze quite precise

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and localized phenomena [...] I don’t do this in order to say that Western civilization is a disciplinary civilization in all its aspects« (RoM: 167).

Es zeigt sich, dass man dem Vorwurf des Holismus durchaus begegnen kann, ohne auf die Rhetorik Foucaults als einziges Fundamentalargument zurückgreifen zu müssen.119 Es erscheint jedenfalls grundsätzlich denkbar im wörtlichen Sinne, dass sich in den Falten eines Disziplinarregimes Widerstand formiert, da dieses nicht unangreifbar ist, wie es ein allumfassendes Panoptikum wäre. Doch ist dies nur eine notwendige Voraussetzung, um Widerstand denkbar zu machen. Widerstand ohne Subjekt Der Status, der dem Subjekt in Foucaults Analysen zukommt, ist spätestens seit der archäologischen Phase äußerst problematisch. Schon damals hatte er die Konstitution des Erkenntnissubjektes »Mensch« diskursiv konzipiert. Inwieweit sich die diskursiv konstituierten Subjekte überhaupt reflexiv und kritisch zu diesen Diskursen verhalten können, war unklar geblieben, unter anderem, weil die Frage nach kritischer Handlungsfähigkeit im Rahmen der nicht primär als Gesellschaftstheorie bzw. -kritik auftretenden Archäologie nur sekundär blieb. Demgegenüber ist es zu zweierlei Veränderungen gekommen: Foucault hat sein aus Opposition gegen die Subjektphilosophie entstandenes Projekt vom »Ende des Menschen« in der Philosophie radikalisiert, indem das Subjekt nicht nur als durch Macht konstituiert, sondern auch determiniert angesehen wird. Diesen Eindruck erweckt jedenfalls Foucaults berühmte Charakterisierung des Subjekts als eines Haupteffekts der Macht. Auf der anderen Seite wird jedoch die Handlungsfähigkeit von Akteuren zu einer der drängendsten Fragen, wenn Foucault die Behauptung aufrechterhalten will, dass überall, wo es Macht gäbe, auch Widerstand existiere. Wer genau leistet Widerstand gegen die Macht, wenn Foucault tatsächlich ohne die Repressionshypothese arbeiten will und damit nicht auf eine prädiskursive Instanz außerhalb der Macht oder zumindest einer Instanz, die sich aus dem Zugriffsbereich der Macht herauszuarbeiten vermag, rekurrieren kann? Habermas und andere bringen unterschiedlichste Argumente vor, die belegen sollen, dass Foucault Widerstand nicht ohne Subjekt denken könne. Wäh119 Sawicki vertritt eine etwas andere Nuance. Sie sieht die holistische Sprache Foucaults insbesondere »als einen rhetorischen Gegenzug zu liberalistischen Fortschrittsgeschichten«, ohne einen Zusammenhang zu der Systematik seines Kritik-Paradigmas herzustellen. (Sawicki 1994b: 616)

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rend Habermas dies eher behauptet als begründet (vgl. PhDM: 336), formuliert Taylor einen logisch-semantischen Einwand: »›Power‹ belongs in a semantic field from which ›truth‹ and ›freedom‹ cannot be excluded. Because it is linked with the notion of imposition on our significant desires and purposes, it cannot be separated from the notion of some relative lifting of restraint [...] I’m arguing that power in his [Foucault’s, T. B.] sense, does not make sense without at least the idea of liberation.«120 Die Argumentation leuchtet zunächst ein: Eine sinnvolle Verwendung des Begriffs »Macht« setzt Begriffe von »Freiheit« oder »Befreiung« voraus und diese wiederum etwas zu Befreiendes. Jedoch ließe sich dagegen anführen, dass Taylor seinen eigenen, klassischen Machtbegriff im Sinne von »Unterdrückung« auf Foucault projiziert. »Macht« setzt nur dann »Befreiung« voraus, wenn »Macht« als »Unterdrückung« verstanden wird und nicht wie bei Foucault als »Produktion«.121 Doch diese Produktion geschieht entweder völlig ohne Zwang und Unterdrückung – was die Frage nach sich ziehen würde, warum überhaupt Widerstand und Kritik geleistet wird –, oder aber dieser Produktion kommt doch ein wie auch immer geartetes Zwangsmoment zu. Die letztere scheint Foucaults Position zu sein. Dann bedarf es aber immer noch einer Instanz, die diesen Zwang und zumindest eine relative Befreiung von ihm erfahren kann. McCarthy fügt diesem Argument das schon mehrmals erwähnte, von Wittgenstein bis auf Aristoteles zurückgehende, hinzu: »Rule following is always to some degree discretionary, ad hoc.«122 Damit wird deutlich, dass die Subjekte nie als vollständig determiniert angesehen werden können, da selbst in einer totalen Disziplinargesellschaft – die Foucault ja nicht einmal diagnostiziert – die Anwendung der Regeln Handlungsfähigkeit erfordere.123 Es scheint, als ob Foucault in seiner konsequenten Einarbeitung des frühen Vorwurfs von Derrida zu weit gegangen ist. Der Nexus von Macht und Widerstand hat ohne eine Vorstellung von Handlungsfähigkeit noch weniger prakti120 Taylor 1984: 173. 121 So argumentiert Schäfer 1995: 106. 122 McCarthy 1994a: 257; in die gleiche Richtung weisen Einwände aus einer ethnomethodologischen Perspektive, die immer wieder die Unangemessenheit eines als »power dope« konzeptionalisierten Subjektes herausarbeitet. Vgl. hierzu die von McCarthy aufgeführten Argumente: McCarthy 1989c: 204 f. 123 Aus Franks Perspektive (1988) müsste Foucault auch der Vorwurf gemacht werden, die Macht zu einem Makro-Subjekt mit wirklichen Subjekten als bloßen Funktionen gemacht zu haben und damit weiterhin der Subjektphilosophie anzuhängen. Ein Vorwurf, den Foucault im Unterschied zu Habermas kaum entkräften könnte (s. o.).

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schen Inhalt als bei Nietzsche, der auch für dieses Konzept Pate stand. Es handelt sich um eine rein logisch-axiomatische Beziehung, die mit keinerlei Substanz zu füllen ist.124 Wie sollte es zu Widerstand von einem völlig vermachteten Subjekt gegen die Machtverhältnisse selbst kommen? Darüber hinaus tritt abermals das Problem der Selbstreferentialität auf: Foucault muss bei sich selbst und den Rezipienten seiner Genealogie zumindest eine minimale Fähigkeit, sich Macht gegenüber reflexiv-kritisch verhalten zu können, voraussetzen, sonst könnte er im ersten Fall die Möglichkeit einer Genealogie der Macht nicht erklären bzw. könnte nicht ausschließen, dass diese dem Machtregime in die Hände spielt, und im zweiten Fall wäre das Projekt völlig sinnlos.125 Wer den Einseitigkeitsvorwurf, der hier ja darauf abzielt, dass Foucault die Dialektik von Struktur und Akteur zugunsten Ersterer aufgelöst habe, allein mit Hinweis auf Foucaults Rhetorik abwenden möchte, kann natürlich argumentieren, die scheinbare Selbstnegierung zeige nur, dass Foucault eben absichtlich übertreibe, eigentlich aber ein minimales Subjekt akzeptiere: »Foucault paints the picture of a totally normalized society, not because he believes our present society is one, but because he hopes we will find the picture threatening. He could hope for this effect on us only if we have not been completely normalized.«126 Doch selbst wenn man das Rhetorik-Argument akzeptierte, ergäben sich äußerst ambivalente Folgen aus Foucaults Technik der Einseitigkeit: »What happens is that the more powerful the vision of some increasingly total system or logic [...] the more powerless the reader comes to feel. Insofar as the theorist wins, therefore, by constructing an increasingly closed and terrifying machine, to that very degree he loses, since the critical capacity of his work is thereby paralyzed, and the impulses of negation and revolt [...] are increasingly perceived as vain and trivial in the face of the model itself.«127

124 Philp hat in verschiedenen Modellen den Versuch gemacht, den Zusammenhang von Macht und Widerstand bei Foucault stimmig zu formulieren, allerdings ohne Erfolg. (Philp 1983: 43 ff.) 125 »If the self-reflecting subject is nothing but the effect of power relations under the pressure of observation, judgment, control, and discipline, how are we to understand the reflection that takes the form of genealogy?« (McCarthy 1994a: 258) 126 Hoy 1986: 14. 127 Jameson 1984: 57. Wenn also Dreyfus/Rabinow der Meinung sind, »in der Tat benutzt Foucault Sprache wie die vorplatonischen Rhetoriker, um ein Verständnis unserer Situation zu artikulieren, das uns zum Handeln bewegt«, so ist damit noch nicht entschieden, dass Foucaults Rhetorik auch tatsächlich das geeignete Mittel zu diesem Zweck darstellt; vgl. Dreyfus/Rabinow 1990: 61. Bernstein hat in diesem Zusammenhang zu Recht da-

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Es dürfte klar sein, dass die Frage, ob das Verschwinden des Subjekts eine rhetorische Übertreibung oder das ernsthafte Projekt Foucaults oder gar eine Mischung aus beidem ist, je nach Interpretation mit guten Gründen unterschiedlich beantwortet werden kann. Hier die zweite Option zu vertreten, rechtfertigt sich durch einen Blick auf die Systematik von Foucaults Projekt, auch wenn diese sicherlich nur in begrenztem Maße unterstellt werden darf. Er hatte behauptet, dass den auf der Repressionshypothese basierenden Analysen wichtige Aspekte moderner Macht entgingen. Diese Aspekte kann die Genealogie jedoch nur erhellen, wenn sie versucht, die Repressionshypothese, damit aber auch das klassische handlungsfähige Subjekt, hinter sich zu lassen, da ansonsten fraglich ist, wie sie ihren Ergänzungsanspruch einlösen soll. Wie nun jedoch abschließend zu zeigen ist, gelingt Foucault dies nicht: »The notion of ›repression‹ slips in the back door, all the more awkwardly, because it is banned from the front.«128 Immer wieder tauchen meist beiläufig dei ex machina bei Foucault auf, die das Scheitern seines Versuchs, ohne die Repressionshypothese zu arbeiten, dokumentieren. So heißt es in einem Interview: »There is indeed always something in the social body, [...] which in some sense escapes relations of power« (P/Strat: 138). Dieses Etwas ist dann einmal »the body and its pleasures« (HS: 190),129 ein anderes Mal auch »the happy limbo of non-identity« (HB: XIII) des Hermaphroditen Herculine Barbin, und in Überwachen und Strafen spielt Foucault auf eine nietzscheanische Vorstellung unversehrter »Leiblichkeit« an, der eine ähnliche Funktion zukommt, wenn er von einer »Revolte auf der Ebene der Körper« (ÜS: 43) spricht. So selten diese Beispiele auch sein mögen, sie zeigen doch, dass Foucault trotz größter Anstrengung der Figur der Repressionshypothese nicht entsagen kann. Es gelingt ihm also nicht, Widerstand ohne einen partiellen Rückgriff auf diese Figur und eine entsprechend unterdrückte Substanz – wie auch immer diese bezeichnet wird – zu konzipieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Einseitigkeitsvorwurf, Handlungsfähigkeit werde gänzlich zugunsten von Strukturen eliminiert, hier greift. Dies hat natürrauf hingewiesen, dass das Gelingen der Übertreibungsrhetorik zudem entscheidend von bestimmten normativen Prämissen abhängt: »Even the rhetorical sting of the analyses in History of Sexuality depends upon our revulsion against the idea that the will to knowledge exhibited in contemporary discourses of sexuality does not liberate us from repression but rather furthers the normalization of our docile bodies.« (Bernstein 1989: 414) Vgl. dazu die Diskussion um Foucaults Anti-Normativismus weiter unten. 128 Comay 1994: 244. 129 Judith Butler hat erstmals auf diesen »Rückfall« hingewiesen. (Butler 1989: 607)

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lich negative Auswirkungen auf die Genealogie als kritisches Konzept, da sie letztlich die Möglichkeit kritischen Denkens und insbesondere kritischer Praxis auf der Ebene der Theorie ausschließt. Wo nicht mehr gehandelt werden kann, ist auch Kritik überflüssig, und es besteht die Gefahr, dass die bestehenden Verhältnisse indirekt reifiziert werden. Das Problem der Normativität Foucault lehnt es ab, seine genealogische Kritik innerhalb eines normativen Rahmens, wie es beispielsweise der Humanismus ist, zu verorten. Die Gründe hierfür wurden weiter oben ausgiebig erläutert. Es ist diese Weigerung, die Kritikmaßstäbe der Genealogie offen zu legen und zu begründen, welche die Kritiker der Genealogie, vor allem Habermas, am meisten irritiert: Es handele sich bei den Konzepten Foucaults um eine »paradoxe Verbindung von positivistischer Einstellung und kritischem Anspruch« (PhDM: 318). Habermas konstatiert: »Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen.« (PhDM: 16) Mit Blick auf Gesellschaftskritik kann dies aus seiner Perspektive nur bedeuten, dass diese ihre Kritikmaßstäbe ausweisen und begründen muss, also nicht aus bloßer Tradition schöpfen darf. Foucaults Weigerung, solche Maßstäbe zu identifizieren, geschweige denn, zu begründen, deutet Habermas daher abwechselnd als Anti-Modernismus, Relativismus, Irrationalismus oder allumfassende nietzscheanische Aufklärungs- und Vernunftkritik, was Foucault letztlich zu einem »Jungkonservativen« (MP: 13) mache.130 Bevor die Kritik Habermas’ genauer untersucht wird, kann schon auf dieser Ebene ein Gegenargument Foucaults vorgebracht werden. Letzterer wendet sich energisch gegen das, was er »the ›blackmail‹ of Enlightenment« (WE: 42) oder »the blackmail [...] at work in every critique of reason« (CI: 118) nennt. Foucault beharrt darauf, dass man sowohl Aufklärung als auch Vernunft kritisch hinterfragen können muss, ohne dafür als Gegen-Aufklärer oder Irrationalist verurteilt zu werden.131 Dass Habermas dies tut, kann Foucault als eine 130 Vgl. auch PhDM: 120. Fraser, die Habermas sicherlich näher steht als Foucault, hat sich sehr überzeugend gegen den Vorwurf des Junkonservatismus gewandt. Vgl. Fraser 1994a: 207 f. 131 In späteren Jahren hat sich Habermas in stärkerem Maße dieser Auffassung angenähert: »Um so mehr bleibt die Moderne [...] auf eine gegen sich selbst prozessierende Vernunft angewiesen.« (FuG: 11)

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Bestätigung seiner eigenen Haltung bezüglich der Macht- und Ausschlussmechanismen, die gerade durch normative Diskurse erzeugt werden, verbuchen. Pace Habermas können bestimmte aufklärungs- und vernunftkritische Positionen nicht als Elemente eines kritischen Diskurses akzeptiert werden, sie werden als irrational oder gar als reaktionär ausgeschlossen. Betrachtet man den Philosophischen Diskurs der Moderne, in dessen Rahmen Habermas mehr als ein Dutzend Theoretiker und Philosophen derartig aburteilt, lassen sich die Bedenken Foucaults durchaus nachvollziehen. Doch unabhängig von überzogenen Irrationalismus-Vorwürfen muss dennoch Habermas’ Kritik des »Relativismus« und »Kryptonormativismus« (PhDM: 324) auf ihre Berechtigung hin untersucht werden. Foucaults Relativismus zeige sich in der Unfähigkeit, die Frage zu beantworten, warum jemand gegen die Macht Widerstand leisten sollte. Selbst wenn man das Problem des handlungsfähigen Subjekts außen vor lässt, ist zu bezweifeln, dass ein Subjekt Widerstand leistet, ohne sich, wie implizit auch immer, an bestimmten Werten oder Normen zu orientieren. Ebenso gut könnte es mit den Machtregimen kollaborieren, da Foucault offensichtlich nicht in der Lage ist herauszuarbeiten, was überhaupt den problematischen Charakter von Machtverhältnissen ausmacht, ohne dabei auf einen normativ-theoretischen Rahmen zurückzugreifen. Zweifellos kann diese Problematik nicht mit dem Hinweis abgetan werden, Foucault verstehe sich als rein deskriptiver Denker, dessen Analysen daher keiner normativen, ja noch nicht einmal einer theoretischen Position bedürften.132 Foucault hat die Genealogie immer als eine Art von Kritik verstanden, zudem hat Taylors semantisches Argument gezeigt, dass allein die Verwendung des Begriffs »Macht« immer eine normative Dimension enthält. Foucaults Entgegnung ergibt sich aus seinem Selbstverständnis als spezifischer Intellektueller,133 das schon mehrmals thematisiert wurde: Die Frage nach normativen Standards gehört nicht auf die Agenda eines kritischen Diskurses, wovon nur universelle Intellektuelle wie Habermas ausgingen. Dagegen betont Foucault, dass die Motivation und die Gründe für Widerstand nur durch die 132 So Jacques: »Foucault has no theory, for one cannot give a theoretical explanation for what is descriptively specific.« (Jacques 1994: 107) Honneth hat in diesem Zusammenhang den Ausdruck des »analytischen Deskriptivismus« geprägt (Bonß et al. 1985: 112). Allerdings ist er natürlich der Meinung, Foucault könne eine solche Position nicht durchhalten. 133 Explizit bejaht er dieses Selbstverständnis in einem Interview 1977. (OP: 108)

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Akteure selbst bereit gestellt werden könnten. Diese wüssten selbst sehr genau, warum sie Widerstand leisteten und bedürften keineswegs der Bezugnahme auf eine kommunikative Rationalität als Legitimation, sondern eher strategischer Analysen, welche die Erfolgschancen von Widerstand erhöhten. Nur dieses Handlungswissen, das er jedem zur Verfügung stellt, ist für den Intellektuellen Foucault relevant.134 Diese Position Foucaults erscheint zunächst akzeptabel, doch lassen sich auf ihrer Basis auch die Grenzen und Probleme der Genealogie aufzeigen. Die Folgefrage auf Foucaults Entgegnung wäre: »Welche Art von Widerstand ist legitim?« Diese Frage verweist auf eine normative Problematik bei Foucault. Kann er diesbezüglich keinerlei Kriterien liefern, dann muss er den Vorwurf des Relativismus in Kauf nehmen. In Foucaults Paradigma gibt es keinen Unterschied zwischen legitimer und illegitimer Macht;135 auf ein Machtregime folgt ein nächstes,136 dem genauso zu widerstehen ist wie dem ersten, denn »jede Gegenmacht bewegt sich schon im Horizont der Macht« (PhDM: 330), so dass Foucault nie für ein Machtregime sein kann.137 Konkret bedeutet 134 »They [the people, T. B.] know perfectly well, without illusion, they know far better than he [the universal intellectual, T. B.] and they are certainly capable of expressing themselves« (I/P: 207); oder: »You help other people get their struggle going« (PE: 376); pointiert zusammengefasst: »If a person is waiting for the elaboration of a theoretical normative Framework before they act, then the problem lies with the person and his or her society.« (Jacques 1994: 108) 135 Schließlich gilt für die genealogische Phase das undifferenzierte Motto: »This is a struggle against power [...]« (I/P: 208). Einzig in einer kurzen, stark durch Deleuze/ Guattari geprägten Phase Mitte der siebziger Jahre spezifiziert Foucault: »And the role of the intellectual, since the sixties, has been precisely [...] to define the specific form of struggle that can be undertaken against fascism« (SC: 179). Vgl. ebenso ein Zitat aus Foucaults berühmtem Katechismus im Vorwort zu Deleuzes/Guattaris Anti-Ödipus: »Der Hauptfeind, der strategische Gegner ist nicht zuletzt der Faschismus [...] in unseren Köpfen [...]« (AÖ: 227 f.). 136 Vgl. Hiley 1994: 175 oder die Kritik von White 1986: 422. Die Aussage Foucaults, auf die sich White bezieht, lässt tatsächlich eine Differenzierung zwischen Machtregimen aussichtslos erscheinen; vgl. NGH: 85 f. 137 So auch Fraser: »The problem is that Foucault calls too many different sorts of things power and simply leaves it at that.« (Fraser 1994b: 32) Bezogen auf Foucaults berühmtes Zitat, demzufolge nicht alles böse, aber alles gefährlich sei, haben sogar ansonsten weitgehend überzeugte Foucauldianer wie Dreyfus/Rabinow festgestellt: »[Foucault] owes us a criterion of what makes one kind of danger more dangerous than another.« Vgl. Dreyfus/Rabinow 1982: 264. Es handelt sich bei diesem Relativismus-Argument um den wohl verbreitetsten Vorwurf gegenüber Foucault, der natürlich vornehmlich aus

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dies: Der Widerstand der Zapatistas wäre gleichzusetzen mit dem Widerstand para-militärischer Bürgerwehren in den USA.138 Foucault selbst hat mit seiner Parteinahme für die Iranische Revolution die Schwächen seines Mottos resistance pour la resistance angedeutet.139 Das Problem, das aus dem Fehlen jeglicher normativer Kriterien entsteht, kann Foucault nicht lösen. Die bloße Tatsache, eine marginalisierte Gruppe zu sein, reicht sicherlich nicht aus, um Widerstand zu legitimieren, denn dies gilt auch für Neonazis und Päderasten.140 Von mehreren Seiten ist versucht worden, Foucaults Analysen als kritisch (im Sinne von nichtrelativistisch), wenn auch nicht normativ zu charakterisieren. Mary Hesse spricht beispielsweise von einer »gegenstandsbezogenen Kritik« im Gegensatz zu einer »normativen Kritik«.141 Die insbesondere von der »Tübinger Schule«, Schäfer, Dean und Owen142 vertretene Idee einer Foucault’schen Kritik, die weder normativ noch relativistisch sei, wird folgendermaßen begründet: Die Abwendung vom identitätslogischen Konzept der einen Vernunft hin zu einer synchronen und diachronen Vielzahl von Rationalitäten ermögliche es Foucault, sich einer bestimmten Rationalität X vom Standpunkt der Rationalität Y aus kritisch zu nähern, ohne Y jedoch als absolut setzen zu müssen, da diese wiederum vom Standpunkt der Rationalität Z kritisierbar sei und vice versa. Die

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dem Lager der deutschen Linken vorgebracht wurde. Vgl. unter anderem die Äußerungen der Habermas-Schüler Bonß, Honneth und Dubiel in der Auseinandersetzung mit der foucauldianischen Position der »Tübinger Schule« in: Bonß et al. 1985: 111 ff. Diese beiden Beispiele sind insofern höchst interessant, als beide Bewegungen nicht von einer normalisierenden Identität getragen werden, die Foucault die Möglichkeit böte, sie zumindest diesbezüglich zu kritisieren. Beide Bewegungen sind das Gegenteil essentialistischer Identitätspolitiken, auf deren Exklusionstendenzen Foucault kritisch hinweist. Ihnen zugrunde liegen rein strategische Identitäten auf der Basis eines gemeinsamen Gegners. Vgl. zur rein strategischen Identität beider Bewegungen Castells 1999: 68 ff. Wobei Foucault natürlich nicht die Ziele der Revolution verteidigt hat, sondern von der Tatsache fasziniert war, dass die Revolution trotz eines bestens organisierten Machtregimes gelingen konnte, was er als Beleg seiner These ansah, dass Machtverhältnissen immer widerstanden werden kann. Vgl. Iran: 216 f. Dass das Beispiel des Päderasten nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, belegt eine etwas gewagte Äußerung Foucaults im Rahmen eines Vortrages, die Päderastentum zumindest stark relativiert. Vgl. DCS: 267 f. Bonß et al. 1985: 119. Vgl. insbesondere: Dean 1994: 120 ff. und Owen 1999, der entsprechend zwischen »Genealogy« und »Critique« zu unterscheiden versucht. Weniger prononciert: Schäfer 1995: 23 ff.

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»merkwürdige Bringschuld«143 einer quasi-universellen normativen Fundierung sei also keineswegs konstitutiv für nichtrelativistische Kritik, sie ergebe sich nur aus dem speziellen Sprachspiel eines modernistischen Diskurses, dem sowohl Horkheimer/Adorno als auch Habermas angehörten. Habermas folge schließlich der alten Frankfurter Schule zumindest so weit, dass er ebenfalls der identitätslogischen Vorstellung einer Vernunft zuneige. Nur auf der Basis einer solchen theoriestrategischen Weichenstellung stünde Kritik vor der Alternative, entweder eine entstellte oder einseitige Vernunft vom Standpunkt einer unverkürzten aus kritisieren oder in Relativismus und aporetische Situationen abzudriften zu müssen. Konsequenterweise wird an dieser Stelle abermals Habermas zum Vorwurf gemacht, er habe Foucault unzulässigerweise in einen diesem völlig fremden Diskurs von Kritischer Theorie und Moderne übersetzt, um seine Forderung nach normativer Fundierung überhaupt vorbringen zu können.144 Fraglich ist also, ob Kategorien wie »Begründung« und »normative Fundierung« ihre konstitutive Bedeutung für Kritik nur im Rahmen eines identitätslogischen Sprachspiels erhalten und daher kaum legitimerweise an die Analysen Foucaults herangetragen werden können, da sie sich von diesem Sprachspiel gelöst haben. Zunächst ist zu klären, ob ein solches Modell von Kritik tatsächlich in der Lage wäre, nichtnormativ und gleichzeitig nichtrelativistisch zu sein. Dean führt folgendes Beispiel für die Möglichkeiten einer Foucault’schen Kritik an: »Thus while it might be argued that systems of governance are necessary components of advanced liberal states, there is no necessity as to the form this governance takes. Various modes of governance can be criticised from a variety of ethical, political, and technical perspectives, such as potential for individual or collective choice, degree of participation in decision-making, their cumbersome nature, and so on. [...] It [a critical historical study, T. B.] simply requires that there is a possibility that things might be otherwise than they are and grounds for deciding which state of affairs is preferable.145

Dieses Zitat scheint mir sehr pointiert die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Kritik zu zeigen. Denn erschöpft sich Kritik in der Idee, dass eine bestimmte Rationalität immer aus der Perspektive einer anderen kritisiert werden kann, dann kann die Rationalität des Wettrüstens vom Standpunkt einer Verhandlungsrationalität aus kritisiert werden – und umgekehrt. Schließlich bedürfte es eben der »grounds for deciding which state of affairs is preferable« um dieses 143 Bonß et al. 1985: 124. 144 Vgl. Dean 1994: 128 ff. 145 Dean 1994: 130.

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Patt der Rationalitäten zu entscheiden, doch genau diese Fundierung kann und will das hier in Frage stehende Kritikmodell nicht liefern. Hier von einem nichtrelativistischen Modell zu sprechen, erscheint daher unzutreffend. Darüber hinaus lässt sich auch daran zweifeln, dass es sich bei der Kategorie der normativen Fundierung um etwas handelt, dass von außen an Foucaults Ansatz herangetragen wird, schreibt er doch selbst, es bedürfe genauer historischer Untersuchungen, »um sowohl die Punkte zu ergreifen, wo Veränderung möglich und wünschenswert ist, als auch zu bestimmen, welche genaue Form diese Veränderung annehmen soll« (WA: 49).146 Wo Veränderung möglich ist, lässt sich sicherlich analysieren, ohne sich auf einen normativen Rahmen einlassen zu müssen; die Frage danach, wo sie wünschenswert ist und welche Form sie annehmen soll, ist dagegen sinnvollerweise nur mit Bezug auf ein wie auch immer geartetes normatives Gerüst zu beantworten. Die Frage nach der normativen Fundierung ergibt sich also in gewisser Weise aus der Logik der Foucault’schen Kritik und taucht nicht erst nach einem Transfer seiner Konzepte in den philosophischen Diskurs der Moderne auf. Die Glaubwürdigkeit der hier diskutierten Position einer nichtnormativen Kritik leidet nicht zuletzt darunter, dass Foucault selbst offensichtlich nicht bereit ist, auf seiner relativistischen Position konsequent zu beharren. Dies zeigt sich daran, dass, wie in der Frage des Subjekts, normative Kriterien quasi durch die Hintertür wieder den Weg zurück in Foucaults Analysen finden. Daher kann Habermas mit Recht von »Kryptonormativismus« sprechen.147 Johnson hat in einer detaillierten Analyse gezeigt, dass es gerade Habermas’sche Prinzipien wie symmetrische oder reziproke Beziehungen, ja, teilweise sogar Kommunikationsbeziehungen sind, die in Überwachen und Strafen als implizite Kritikmaßstäbe Ver-

146 Es muss festgehalten werden, dass es sich hier um ein Zitat aus dem Anfang der achtziger Jahre entstandenen Text Was ist Aufklärung handelt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Foucaults Verhältnis zur Frage der Normativität gegenüber der klassisch genealogischen Phase schon gewandelt. Es im Rahmen der Diskussion um die Genealogie zu verwenden, ist insofern gerechtfertigt, als die Vertreter der Position, gegen die hier argumentiert werden soll, von einem über alle Werkphasen hinweg konstanten Kritiktypus Foucaults ausgehen. 147 Allerdings ließe sich mit Peters auch Habermas eine Art von Kryptonormativismus vorwerfen, da er normative Begriffe wie »Anomie« oder »Störung« theoretisch trotz aller Bemühungen nie ganz einholen könne, ihnen also ein rein rhetorisch-suggestiver Aspekt anhänge. Vgl. Peters 2000: 287 f.

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wendung finden.148 Dieser Vorwurf trifft Foucault besonders hart, da er dann die problematischen Aspekte, die er an normativen Theorien moniert hatte, in seinen eigenen Analysen reproduziert. Wie oben schon erläutert, kann Foucault zwar den Vorwurf der Selbstreferentialität gegen seinen Anti-Normativismus entkräften, doch nur, indem er jeden umfassenden Wahrheitsbegriff zugunsten eines radikalen Perspektivismus opfert, von dem er sich selbst nicht ausnimmt. Die Widerspruchsfreiheit auf der theoretischen Ebene hat jedoch ihren Preis auf einer praktisch-strategischen Ebene: Wie oben schon angesprochen, ist die Wiederbelebung lokaler Wissensbestände ein integraler Bestandteil des Foucault’schen Perspektivismus, dem es um eine »reactivation of knowledges [...] in opposition to the scientific hierarchisation of knowledges and the effects intrinsic to their power« (TL: 24) geht. Er will das lokale Wissen der Wahnsinnigen oder Gefängnisinsassen gegen einen diese ausschließlich objektivierenden wissenschaftlichen Diskurs stellen. Dann besteht jedoch die Gefahr, dass bei Foucault wiederum die lokalen, perspektivistischen Wissensbestände eine privilegierte Stellung gegenüber umfassenderen Diskursen einnehmen. Unabhängig von der Privilegierung bedeutet Foucaults Perspektivismus jedoch für die kritische Praxis bestenfalls, dass es von jeweils spezifischen Machtverhältnissen marginalisierte Gruppen mit jeweils spezifischen Wissens- und »Wahrheits«-Beständen gibt. Diese Gruppen sind de facto dazu verurteilt, auf sich allein gestellt zu bleiben, da es in Foucaults radikalem Perspektivismus kaum noch gemeinsam vertretbare Positionen oder umfassende Wahrheiten gibt, auf die man sich verständigen könnte. Schlimmstenfalls endet Foucaults Perspektivismus nicht auf der Ebene von Gruppen, denn wenn er schreibt, »we all fight each other. And there is always within each of us something that fights someone else« (P/Strat: 208),149 dann handelt es sich um einen Perspektivismus auf der Ebene eines fragmentierten Subjekts, zu welchem Haber bemerkt: »At his worst, Foucault’s pluralism [...] keeps him from allowing for a subject sufficiently coherent to form communities of active resistance and transformation.«150 148 Johnson 1997: 573, so auch Fraser: »He [Foucault] continues to make tacit use of the very humanist rhetoric he claims to be rejecting and delegitimating.« (Fraser 1994c: 4) Ebenso Thompson 1999: 199 f. Eine scharfsinnige, partielle Verteidigung dieser kryptonormativistischen Praxis findet sich bei Hooke 1987. 149 Vgl. auch: »Nothing in man – not even his body – is sufficiently stable to serve as the basis for self-recognition or for understanding other men.« (NGH: 153) 150 Haber 1994: 105.

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Die Möglichkeit organisierten Widerstandes durch Kollektiv-Akteure oder gar Allianzen, wird nicht nur durch Foucaults Perspektivismus, sondern auch durch seine Skepsis gegenüber allen Formen von Identitätspolitik aufgrund ihrer Ausschlussmechanismen in Frage gestellt. Diese Skepsis ist oben als eine Stärke der Foucault’schen Kritik hervorgehoben worden. Andererseits scheint es angebracht mit Hartsock zu fragen: »Why is it that just at the moment when so many of us who have been silenced begin to demand the right to name ourselves [...] that just then the concept of subjecthood becomes problematic?«151 Foucault scheint jede Art von Widerstand, der über das Stadium einer mehr oder weniger spontanen Revolte hinausgeht, mit Hinweis auf die auftretenden Normalisierungs- und Ausschlussmechanismen abzulehnen. Damit erhärtet sich jedoch der schon oben formulierte Anarchismus-Vorwurf. Er ist nicht in der Lage, eine Bewegung zu stützen, »that through its massiveness and disciplined unity would be popular and yet powerful enough to undermine an entrenched legal-political regime«152. Es lassen sich also doch gewisse normative Kriterien ermitteln, die Widerstand erfüllen muss, um in Foucaults Paradigma akzeptabel zu sein. Problematischerweise scheint dieses Kriterium jedoch darin zu bestehen, dass Widerstand nie über »Nadelstiche« von Seiten sich kurzzeitig spontan formierender und dann wieder auseinanderfallender Kleingruppen hinausgehen darf.153 Ironischerweise ist dies jedoch eine Bedingung, die der großen Mehrzahl empirischer Machtstrukturen äußerst gelegen kommen dürfte. Im Übrigen besteht damit auch die Gefahr, dass die positiven Implikationen, die Foucaults Begriff der Macht auf die Allianzbildung zwischen Gruppen hatte, neutralisiert werden (vgl. weiter oben Kap. II 2.4).

151 Hartsock 1990: 163. 152 Cocks 1989: 74. 153 Ein Zitat, das gegen diese Schlussfolgerung spricht, konnte nur an einer einzigen Stelle gefunden werden: WW: 118; zwar ist Foucaults Kriterium konsistent mit seiner Machtanalytik, die ja davon ausgeht, dass Macht kapillar wirkt und Bewegungen auf Massenbasis überflüssig macht, da ja auch der Widerstand kapillar wirken soll, dennoch scheint es problematisch, Widerstand auf diese Form zu beschränken.

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3.3 Rückwirkungen auf das Verhältnis beider Ansätze Nach dieser Diskussion der Probleme, die mit Foucaults Subjekt-Begriff und dem Versuch einer anti-normativistischen Kritik in Verbindung stehen, gilt es, die Ergebnisse auf die Gegenüberstellung der beiden Positionen zu übertragen: Bezieht man die in Kapitel II 3.2.1 herausgearbeiteten Probleme von Foucaults Subjekt-Begriff zurück auf den Vergleich mit dem Subjekt-Begriff Habermas’ in 3.1.2, ergibt sich eine etwas veränderte Konstellation: Dort konnte von einer Foucault’schen Position aus der Subjektbegriff Habermas’ als unterkomplex, harmonistisch oder gar naiv, jedenfalls als unzulänglich kritisiert werden. Dieser Kritik ist nun einiges an Schärfe genommen worden, da Foucaults Konzept wohl eine umfassendere Problematisierung des Subjekts zulässt, dafür aber den hohen Preis zu zahlen hat, Widerstand mehr oder weniger undenkbar zu machen oder aber sich immer wieder in Selbstwidersprüche zu verwickeln. Es besteht also ein gewisser Trade-Off zwischen den beiden Konzeptionen des Subjekts: Während Habermas relativ zu Foucault eine geringere Tiefenschärfe bei einer kritischen Analyse des Subjekts aufzuweisen hat, dafür aber nicht zu Selbstwidersprüchen genötigt ist, um Handlungsfähigkeit gewährleisten zu können, ist die Konstellation bei Foucault genau umgekehrt. Foucaults Genealogie negiert die Vorstellung eines kritisch-reflexiv handlungsfähigen Subjekts. Bezüglich der Möglichkeit einer anti-normativistischen Kritik konnte gezeigt werden, dass Foucault seine eigene Position nicht konsequent durchhalten kann, dass er, selbst bei einer konsequenten Durchführung bei der Frage nach der Legitimität von Widerstand an die Grenzen seines Ansatzes stieße, da er eigentlich in seinem Paradigma keine Kriterien anbieten darf. Aus dem Perspektivismus ergibt sich jedoch ein solches Kriterium, das ebenso bedenklich ist, wie die übrigen mit dem Perspektivismus verbundenen Probleme: Eine indirekte Festlegung auf einen weitgehend atomisierten Widerstand. Dass Foucaults Position keineswegs restlos überzeugen kann, heißt jedoch nicht, dass Habermas aus der Kontroverse um den Normativismus als uneingeschränkter »Sieger« hervorgeht.154 Seine Vorgehensweise der Isolierung eines 154 Conway hat in neuester Zeit die These vertreten, dass Foucault der heimliche Sieger dieser Auseinandersetzung sei, da Habermas ja seine Vorgehensweise in Der Philosophische Diskurs der Moderne als Genealogie der Genealogie bezeichne und daher selbst bei einer erfolgreichen Kritik der Genealogie Foucaults auf einer Meta-Ebene den Wert der Genealogie als Kritikform bestätige (vgl. Conway 1999: 61). Dies scheint mir verfehlt, denn

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normativen Standards muss als ebenso problembeladen gelten. Sowohl die Trennung von Macht und Geltungsaspekten wie auch der Nachweis eines Telos der Sprache, um den Vorrang strategischer gegenüber einer parasitären strategischen Rationalität zu belegen, sind noch nicht auf befriedigende Weise gelungen (vgl. weiter oben Kap. II 1.5.2 sowie II 1.5.3). Beide Positionen bringen also spezifische Schwierigkeiten mit sich. Zuletzt kann hier nun auch eine weitere Ebene der Gegenüberstellung erörtert werden, die bis jetzt zurückgestellt wurde und auf der Basis eines möglichen Foucault’schen Vorwurfs herausgearbeitet werden kann: Dieser spricht immer wieder von den Ausschlussmechanismen normativer Diskurse, von denen also auch Habermas’ Theorie nicht frei sein soll. Foucault könnte, wie erwähnt, in diesem Zusammenhang sich selbst und beinahe jeden anderen im weitesten Sinne »postmodernistischen« Philosophen anführen, deren Diskursfähigkeit innerhalb eines kritischen Diskurses Habermas bestreitet. Noch interessanter erscheint es jedoch, derartige Ausschlussmechanismen hinsichtlich gesellschaftlicher Akteure zu ermitteln. Habermas hatte im Rahmen der TKH spezifische Gruppen als Akteure im Auge, wobei nach den unterschiedlichen Praxisarten unterschieden werden musste (vgl. weiter oben Kap. II 1.4). Im Einzelnen mag darüber zu diskutieren sein, wie Habermas zu welcher Gruppe steht, unstreitig ist, dass im Rahmen der TKH Praxis, die über die Abwehr von Systemimperativen und Rationalisierung der Lebenswelt hinausgeht, also offensiv Kontrolle über die Systeme zurückzuerlangen sucht, die Legitimität abgesprochen wird. Dies gilt daher insbesondere für radikaldemokratische, anarchistische und sozialistische Gruppierungen. Dagegen könnte auf den begrenzten Charakter des Projekts der TKH verwiesen werden, der es nur um eine Theorie der Verdinglichung gehe und daher nur in diesem Problemkontext die erwähnten Gruppen delegitimiert würden. Der Erklärungsanspruch der TKH ist allerdings keineswegs eindeutig zu ermitteln: Einerseits weist Habermas darauf hin, dass er nicht eine allgemeine Theorie der Moderne liefern wolle, sondern nur eine reformulierte Verdinglichungstheorie (vgl. z. B.: TKH II: 513). Andererseits heißt das Schlusskapitel der TKH »Eine Theorie der Moderne«, und Habermas räumt in der Einleitung zur dritten Auflage der TKH ein, sich zu sehr auf ein bestimmtes Verdinglichungsproblem konzentriert zu haben (vgl. TKH I: 4), was den Rückschluss zulässt, dass es durchaus seine Intention war, »die« Probleme der MoHabermas erliegt einem Selbstmissverständnis, da seine Analyse eher als immanente Kritik denn als Genealogie zu bezeichnen ist.

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derne zu erklären, er also einen umfassenden Erklärungsanspruch erhebt. Da dieses Selbstverständnis nicht klar ermittelbar ist, bleibt auch fraglich, inwieweit die in der Diskussion um die TKH geäußerten Unvollständigkeitsvorwürfe Habermas tatsächlich treffen und ob Habermas eher dem Selbstverständnis der Dialektik der Aufklärung, »das« Wesen bzw. »die« Probleme der Moderne zu beschreiben, zuneigt. In der Frage nach den Ausschlussmechanismen gegenüber bestimmten Akteuren trägt die Argumentation jedoch nur vorübergehend, da sich an der Situation auch im noch in Kapitel IV zu behandelnden späten Hauptwerk Faktizität und Geltung kaum etwas ändert, und hier handelt es sich keinesfalls um ein eng begrenztes Projekt, sondern eine allgemeine Demokratietheorie. Foucault könnte also beanstanden, dass mindestens die drei erwähnten Gruppen aus Habermas’ normativem Rahmen ausgeschlossen blieben und dadurch delegitimiert würden. Von den Anwälten Foucaults wird immer wieder auf die im Gegensatz dazu viel größere Inklusivität seines Ansatzes verwiesen, die auch in dieser Arbeit gewürdigt wurde. Doch wie das vorliegende Kapitel gezeigt hat, erkauft sich Foucault diese Inklusivität durch massive normative Desorientierung. Was bei Habermas als übertriebene Exklusivität bemängelt werden könnte, müsste Foucault im Gegenzug als übertriebene Inklusivität angekreidet werden. Habermas mag zwar einige Gruppen und ihre Ziele delegitimieren, dafür ist er aber auch im Rahmen seines Paradigmas zumindest in dieser Phase in der Lage, terroristische oder religiös-fundamentalistische Praktiken zu kritisieren, was nicht vorbehaltlos für Foucault gelten kann. Darüber hinaus konnte im vorliegenden Kapitel gezeigt werden, dass auch Foucaults Position nicht frei von zumindest impliziten Delegitimierungen ist, nämlich gegenüber organisiertem, diszipliniertem Widerstand auf Massenbasis.155 Zuletzt bleibt festzustellen, dass für beide Konzepte das Problem fehlender Akteure existiert, wenn auch auf unterschiedlicher Ebene und in unterschiedlicher Intensität. Foucaults Bild des vermachteten Subjekts beraubt die Genealogie individueller Akteure, die zu reflektiertem Widerstand in der Lage wären. Für Habermas stellt sich das Problem der fehlenden Träger einer kritischen Praxis, wenn auch nicht in dieser Absolutheit, auf der Ebene der kollektiven Akteure. Sind nur nichtpartikularistische Bewegungen zu kritischer Praxis im umfassenden Sinne in der Lage und dementsprechend legitimiert, dann schrumpft Habermas’ Adressatenkreis bedenklich zusammen. 155 Die Frage der Ausschlussmechanismen wird an dieser Stelle nur angerissen, da sie für die Diskursethik noch drängender sind. Vgl. weiter unten Kap. III 1.2.4.

III. Moral / Ethik

1.

Habermas’ Diskursethik – Kritik als Moralphilosophie

Das facettenreiche Denken Habermas’ verdichtet sich Ende der siebziger Jahre zur 1981 erscheinenden TKH. Hier war es gelungen, aus unterschiedlichsten Kontexten stammende Theorie-Elemente zu bündeln und in ein komplexes Gebäude zu integrieren. In der Folge verzweigen sich die Denkwege erneut. Einerseits widmet sich Habermas eingehend der Auseinandersetzung mit »postmodernistischen« bzw. »poststrukturalistischen« Theorien. An ihrem Beispiel versucht er die Vorteile aufzuzeigen, die das Festhalten an einer kommunikativen Rationalität gegenüber vermeintlich totalen Vernunftkritiken bietet.1 Im Mittelpunkt der achtziger Jahre steht neben dieser Kontroverse ein Perspektivenwechsel: Aus dem interdisziplinär arbeitenden Soziologen2 wird zusehends der Moralphilosoph Habermas, dessen Projekt im Folgenden vorzustellen ist.

1 Vgl. oben z. B. die Auseinandersetzung mit Foucault im Rahmen des Philosophischen Diskurs der Moderne. Habermas hat retrospektiv sogar schon die TKH als eine Antwort auf Vernunftkritik aus unterschiedlichsten Richtungen angesehen: »Seit Mitte der siebziger Jahre verspürte man den Druck der neokonservativen ebenso wie den der poststrukturalistischen Vernunftkritik – darauf habe ich mit dem Begriff der kommunikativen Rationalität geantwortet.« (IN: 116). Das Zitat ist insofern interessant, als es zeigt, wie sehr die Theoriedynamik bei Habermas nicht nur mit theorie-internen Beweggründen, sondern immer auch mit (theorie-)politischen Entwicklungen im Zusammenhang steht. 2 Habermas konzipiert die TKH als soziologische Arbeit, da die Soziologie »besondere Bereitschaft zeigt, das Rationalitätsproblem aufzunehmen« (TKH I: 21).

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1.1 Das Konzept diskursethischer Normbegründung Habermas’ moralphilosophisches Programm ist das einer Diskursethik, die er im Anschluss an, aber auch in Abgrenzung zu dem diskursethischen Projekt Karl-Otto Apels entwickelt. Ziel einer solchen Diskursethik ist es, einen »moral point of view« zu entwickeln, aus dessen Perspektive sich bestimmte Regeln als normativ richtig auszeichnen lassen. Die diesem Versuch zugrunde liegende kognitivistische Überzeugung, eine Rechtfertigung moralischer Normen sei möglich, konfligiert mit einem Wertskeptizismus, der in der Moderne von Weber bis zu Lyotard vertreten wird und laut Habermas zumindest in den Expertenkulturen die vorherrschende Haltung gegenüber der Begründbarkeit von Moral darstellt.3 Entsprechend steht die Auseinandersetzung mit einer nonkognitivistischen Position am Beginn von Habermas’ zentralem Text innerhalb der diskursethischen Phase, Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm. Hier greift Habermas Strawsons Analyse von bestimmten Gefühlen wie »Schuld« und »Kränkung« auf, um damit »den Realitätsgehalt moralischer Erfahrungen zu demonstrieren« (DE: 55). Habermas’ Kognitivismus basiert auf derartigen moralischen Alltagsintuitionen: Was »Kränkung« oder »Schuld« bedeutet, lässt sich seiner Meinung nach nur mit Bezug auf die Enttäuschung einer bestimmten legitimen Verhaltenserwartung, mit anderen Worten, einer vorausgesetzten Geltung intersubjektiver Normen und deren Verletzung, klären. Während die wertskeptische Position kontraintuitiv zeigen muss, dass die Idee legitimer, also rational begründbarer Normen letztlich irrig ist, obwohl wir intuitiv von einer solchen Begründbarkeit ausgehen, schließt Habermas an eben jene Intuitionen an und versucht, rekonstruktiv ihren Gehalt diskursiv fassbar zu machen. Gegenüber der wertskeptischen Haltung glaubt er geltend machen zu können, dass moralische Intuitionen immer einen kognitivistischen Gehalt mit sich führen. Ein Vorwurf, der aus einer erlittenen Kränkung resultiert, ziele beispielsweise immer auch auf die Frage ab, ob es Gründe für die Regelverletzung gab, die diese in gewisser Weise rechtfertigen können. Für seine kognitivistische Sichtweise führt Habermas zuletzt ein Argument an, das auf einer bestimmten Theorie der Individuierung beruht. Erstmals in seinem Werk gewinnt hier sein

3 Kritisch steht z. B. Lübbe 1980: 162 f. dem auch unabhängig von der Diskursethik immer wieder deutlich werdenden Kognitivismus Habermas’ gegenüber. Von konservativer Seite wird der Versuch, Normen und Wahrheit auf welche Weise auch immer in Verbindung zu bringen, zumeist als proto-totalitär abgelehnt.

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Konzept des Subjekts ein schärferes Profil.4 Habermas betrachtet im Anschluss an G. H. Mead den Prozess der Individuierung als einen Prozess der Vergesellschaftung. Menschen können sich nur in Verhältnissen wechselseitiger Anerkennung als Individuen konstituieren. Das Individuum kann dementsprechend nicht isoliert existieren, es ist eingebunden in »ein immer dichteres und zugleich subtileres Netz reziproker Abhängigkeiten und exponierter Schutzbedürftigkeiten« (Stufe 6: 69). Laut Habermas erfüllt die Moral eine Schutzfunktion, derer die extrem leicht versehrbaren Individuen bedürfen. Nur die schützenden Effekte intersubjektiv geltender Normen können die Gefahren abfedern, denen die fragilen Individuen im Verlauf kontinuierlicher Anerkennungsprozesse ausgesetzt sind. Die Existenz einer kognitiven Moral lasse sich daher nicht zuletzt auf der Basis von Funktionalitätsgesichtspunkten begründen. Habermas’ Argumentation bis zu diesem Punkt ist keineswegs zwingend. Sie erhöht jedoch die Beweislast des Wertskeptikers, dessen Auffassung sich zusehends als kontraintuitiv erweist. Gegen die Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen kann der Skeptiker als höchste Trümpfe jedoch nach wie vor ins Feld führen, dass normative Sätze nicht im gleichen Sinn wie deskriptive Sätze Anspruch auf Wahrheit erheben können und dass sich moralische Dispute faktisch immer wieder als unentscheidbar erweisen. Den ersten Punkt räumt Habermas bereitwillig ein und zeigt sogar, wie die kognitivistische Moraltheorie des Intuitionismus aufgrund einer unzulässigen Assimilierung von normativen an deskriptive Sätze scheitert. Demgegenüber arbeitet er die subtilen Unterschiede heraus, die zwischen dem Verhältnis von deskriptiven Sätzen und Fakten auf der einen Seite sowie präskriptiven Sätzen und Normen auf der anderen Seite existieren.5 Dennoch müsse eine kognitivistische Moral daran festhalten, dass für Normen Geltungsansprüche erhoben werden können, die zumindest wahrheitsanalog sind. Habermas steht nun also vor zwei Problemen: Er muss erstens explizieren, inwiefern normative Geltungsansprüche als wahrheitsanalog angesehen werden können, d. h. er muss zeigen, dass es wie bei der Einlösung von kognitiven Geltungsansprüchen auch für die Einlösung von normativen Geltungsansprüchen eine spezifische Art und Weise der Begründung gibt. Zweitens muss er eine Argumen4 Eine systematische Ausarbeitung folgt jedoch erst einige Jahre später im Rahmen des Aufsatzes Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu G. H. Meads Theorie der Subjektivität. 5 Vgl. beispielsweise: »Während zwischen existierenden Sachverhalten und wahren Aussagen eine eindeutige Beziehung besteht, besagt das ›Bestehen‹ oder die soziale Geltung von Normen noch nichts darüber, ob diese auch gültig sind.« (DE: 71)

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tationsregel präsentieren, die moralische Diskurse entscheidbar macht. Beides versucht Habermas im Rückgriff auf eine kantische Intuition zu leisten, die in allen großen kognitivistischen Moralphilosophien zu finden sei: Es handelt sich um das Universalisierungspostulat, dessen prominenteste Manifestation der Kategorische Imperativ Kants darstellt. Habermas interpretiert dieses Postulat dahingehend, die Gültigkeit von Normen davon abhängig zu machen, »daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen werden« (DE: 75 f.).

Als Moralprinzip klärt »U«, so die Kurzform für den Universalisierungsgrundsatz, was es heißt, einen normativen Geltungsanspruch einzulösen. Als Argumentationsregel innerhalb eines moralisch-praktischen Diskurses, soll U eine Stellung analog zur Induktionsregel in theoretischen Diskursen einnehmen und so eine Lösung von in Diskursen zu erörternden Problemen ermöglichen. U lässt sich dann laut Habermas auf den diskursethischen Grundsatz »D« bringen: Eine Norm darf nur Geltung beanspruchen, »wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), dass diese Norm gilt« (DE: 76). D setze allerdings schon den Nachweis der Begründungsfähigkeit von Normen durch U voraus. Wie schon im Bereich der Vernunftphilosophie führt Habermas auch auf dem Gebiet der Moralphilosophie die kantische Tradition nur gebrochen fort. U unterscheidet sich vom Kategorischen Imperativ zunächst dadurch, dass das Universalisierungsverfahren nicht mehr durch eine kategoriale Unterscheidung zwischen dem Reich des Empirischen und des Noumenalen flankiert wird. Kants moralische Fragestellung basierte auf einer Ausschaltung aller empirischen Motive wie Neigungen und Interessen. Dass Habermas Interessen in die Formel aufnimmt, verweist darauf, dass er von empirischen moralischen Subjekten ausgeht. Dem entspricht auch die wohl wichtigste Modifikation des Kategorischen Imperativs im Rahmen von U. Habermas gibt ihm eine strikt dialogische Fassung. Der Kategorische Imperativ schloss eine Durchführung in foro interno jedenfalls nicht aus. Jedes Individuum konnte für sich selbst prüfen, was es als rein moralisches Wesen wollen kann.6 Dies war insofern unproblematisch, als 6 Soweit ich sehe, hat sich Habermas’ Einschätzung des Kategorischen Imperativs über die Jahre hinweg gewandelt. Bis 1985 scheint er ihn als bloße Reformulierung der »Gol-

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im Singular des transzendentalen Bewusstseins »die empirischen Iche vorverständigt und im vorhinein harmonisiert« (THE: 21) waren, und daher bei korrekter Selbstprüfung grundsätzlich zu den gleichen Ergebnissen kommen mussten. Fällt mit der Unterscheidung von empirischen und transzendentalen Subjekten auch diese Harmonisierung weg, so setzt sich eine monologische Anwendung dem Verdacht aus, perspektivischen Verzerrungen zu unterliegen, der nur durch die Durchführung realer Diskurse durch empirische Individuen ausgeräumt werden kann. Soll eine Verständigung im Sinne eines Konsenses zwischen den unvertretbaren Individuen möglich sein, so bedarf es nun einer »idealen Rollenübernahme« (G. H. Mead), in der die einzelnen Diskursteilnehmer ihre jeweiligen egozentrischen Kalküle überwinden müssen. Darüber hinaus war bei Kant dem Kategorischen Imperativ bzw. dem allgemeinen Sittengesetz der Status eines »Faktums der Vernunft« zugekommen, das keiner weiteren Begründung bedürfe. Dieses »Faktum« hat in der Moderne erheblich an Evidenz verloren. Daher besteht Habermas’ zentrale Aufgabe gerade darin, eine überzeugende universalistische Begründung von U zu leisten. Voraussetzung hierfür ist aber der rein formale Charakter der Diskursethik, denn erst durch ihren strengen Formalismus werden ihre universalistischen Ansprüche realistisch. 1.1.1 Formalismus Angesichts der Fülle ethnologischer Untersuchungen, die eine beträchtliche Varianz moralischer Auffassungen innerhalb verschiedener kultureller Milieus belegen, sind universalistische Moraltheorien in die Defensive geraten.7 Wenn überhaupt, so lassen sie sich nicht mehr in einer substantiellen, sondern nur

denen Regel« (»Füg keinem zu, was Du nicht willst, dass er Dir tu!«) anzusehen. Aus dieser Art der Maximenprüfung lassen sich natürlich keine allgemeine Geltung beanspruchenden Regeln ableiten. Jeder kann unter diesem Gesichtspunkt andere Handlungen für (in-)akzeptabel halten und monologisch angewandt ergibt sich aus ihr nicht mehr als eine Privatmoral. 1988 schreibt Habermas jedoch: »Mit der Egozentrik der »Goldenen Regel« [...] bricht erst der Kategorische Imperativ. [...] Jeder muß wollen können, daß die Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde.« (VP: 107 f.) Der Unterschied zwischen Kant und Habermas besteht nun nur noch darin, dass Kant glaubte, das einzelne Individuum könne monologisch ermitteln, ob alle dies wollen können. Bei Habermas kann dieses Wissensproblem nur noch im realen Diskurs gelöst werden. 7 Es besteht die omnipräsente Gefahr eines »ethnozentrischen Fehlschlußes«; vgl. eine der frühesten systematischen Darstellungen des Arguments bei P. Taylor 1963: 570 ff.

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noch in einer prozeduralistischen Version verteidigen.8 Habermas fasst den diskursethischen Prozeduralismus9 folgendermaßen zusammen: »Formalistische Ethiken geben eine Regel oder ein Verfahren an, wonach festgelegt wird, wie man einen moralisch relevanten Handlungskonflikt unparteilich – eben unter dem moralischen Gesichtspunkt – beurteilen kann.« (Stufe 6: 54)10 Die inhaltlich-substantielle Varianz moralischer Dispositionen ist kaum zu bestreiten. Den Anspruch auf universale Geltung kann allenfalls noch ein prozedural entschlackter moralischer Standpunkt einlösen. Die Diskursethik Habermas’scher Provenienz verschließt sich also dem Versuch, substantielle moralische Grundnormen »abzuleiten«, wie er von Seiten der transzendentalpragmatisch orientierten Diskursethiker Apel und Kuhlmann unternommen wird.11 Nach Habermas’ Auffassung müssen unvertretbare Individuen in realen Diskursen auf der Basis von D über die Geltung solcher substantieller Grundnormen beraten. Prinzipien distributionaler Gerechtigkeit wie »Jeder nach seinen Bedürfnissen« oder »Jeder nach seinen Fähigkeiten« sind demnach beispielsweise Gegenstand von praktischen Diskursen. Der einzig mögliche Beitrag des Philosophen als Philosoph besteht in der Identifikation der Bedingungen eines Prozesses, der eine unparteiliche Lösung derartiger Fragen ermöglichen soll. Will er zu den jeweiligen Gerechtigkeitsprinzipien inhaltlich Stellung beziehen, so kann er dies nur als gleichberechtigter Diskursteilnehmer, der allenfalls über ein gewisses Expertenwissen verfügt.12 Neben der Identifizierung eines Verfahrens moralischer Beur8 Eine solche »theoriestrategische« Lesart der Diskursethik vertreten unter anderem Taylor 1986 und Döbert 1986. 9 Soweit ich sehen kann, übergeht Habermas die ansonsten in der Moralphilosophie übliche Differenzierung zwischen Formalismus und Prozeduralismus und benutzt die Begriffe synonym. 10 »Weil sich in der Moderne die Vielfalt individueller Lebensentwürfe und kollektiver Lebensformen nicht mehr philosophisch präjudizieren läßt, weil die Art zu leben allein in die Verantwortung der vergesellschafteten Individuen selbst gegeben ist und aus der Perspektive der Teilnehmer beurteilt werden muß, zieht sich eben das, was alle überzeugen kann, ins Verfahren rationaler Willensbildung zurück« (IN: 117). Hier wird der Formalismus unmittelbar mit den deontologischen Prämissen der Diskursethik verknüpft, die weiter unten erläutert werden. Vgl. zum Formalismus/Prozeduralismus auch RRP: 172. 11 Vgl. DE: 96; damit distanziert sich Habermas von Ambitionen, die er selbst in früherer Zeit geteilt hatte; vgl. TG: 136 ff. 12 Habermas hat Rawls mehrmals vorgeworfen, die Prinzipien seiner Theorie der Gerechtigkeit als bloßen Diskursbeitrag nicht angemessen relativiert zu haben, was an der monologischen Ausrichtung von Rawls’ Projekt liege. Vgl. z. B. DE: 76.

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teilung, muss der Philosoph allerdings darüber hinaus auch klären, welche Fragen überhaupt als Gegenstände moralisch-praktischer Diskurse in Frage kommen. Dies verweist auf eine weitere Entschlackung, die Habermas vornimmt, um eine universalistische Moral unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens noch einigermaßen aussichtsreich vertreten zu können. Die von ihm konzipierte Diskursethik ist deontologisch. 1.1.2 Deontologische Differenzierung13 Im Gegensatz zu Moralphilosophien in der Tradition der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, in denen eine intrinsische Verbindung des »Richtigen« mit dem »Guten« und ein tendenzielles Primat des Letzteren postuliert wird, gilt für die Diskursethik: »Sie hat es nicht mit der Präferenz von Werten, sondern mit der Sollgeltung von Handlungsnormen zu tun.« (DE: 114) Das Band zwischen »Richtigem« (Normen) und »Gutem« (Werten) ist in ihr aufs Äußerste gelockert, wenn nicht gar ganz zerrissen. Einzig die Geltung von Normen kann Habermas zufolge noch in praktischen Diskursen legitimerweise erörtert werden. Dieser Einschränkung des Gegenstandsbereichs sind im für die diskursethische Phase zentralen Aufsatz Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm nur zwei kurze Sätze gewidmet. In der umfangreichen Kontroverse mit diversen »NeoAristotelikern«14 hat Habermas allerdings diverse Einschränkungen und Präzisierungen vorgenommen. Auf sie komme ich in Kapitel III 1.2.5 zurück. Die Diskursethik vermag es nicht mehr, substantielle Normen aus eigenem Recht als moralisch richtig auszuzeichnen und selbst als reine Verfahrensethik hat sie die Zuständigkeit für einen beträchtlichen Teil des moralisch-ethischen 13 Der Begriff der deontologischen Differenzierung/Unterscheidung wird hier im Anschluss an Habermas im Sinne einer Unterscheidung von Ethik und Moral verwendet, der eine entsprechende Unterscheidung von Werten und Normen entspricht. Der Umgang mit diesen Themen wird durch eine gewisse terminologische Konfusion erschwert, die nach wie vor bezüglich Begriffen wie Moral, Ethik, Normen, Werte etc. herrscht. Hierauf weist auch Forst 2001: 346 hin. 14 Vgl. zur Bedeutung dieser Sammelbezeichnung Schnädelbach 1986, der den theoriegeschichtlichen Zusammenhang komprimiert darlegt und Benhabib, die zutreffenderweise für Differenzierungen zwischen drei »Gruppen« innerhalb des Neo-Aristotelismus plädiert (Benhabib 1992: 34 f.). Der Begriff bezieht sich auf die aristotelische Kritik an der platonischen Moral/Ethik. Die Konfliktlinien dieser Kontroverse tauchen erneut in Hegels Kritik an Kants Ethik auf und sind ebenso kennzeichnend für die Auseinandersetzung zwischen Habermas’ Diskursethik und kontextualistisch orientierten Kritikern.

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Universums aufgeben müssen. Doch trotz, oder möglicherweise gerade wegen dieser weit reichenden Selbstbeschränkungen erhebt sie für ihr Prinzip D den Anspruch auf universale Geltung. 1.1.3 Universalismus Neben der Verteidigung eines kognitivistischen Standpunktes in moralphilosophischen Fragen steht die Begründung der universalen Geltung von U (und damit D) im Mittelpunkt von Habermas’ ersten Schriften zur Diskursethik. Seine Vorgehensweise in der Formulierung dieses Begründungsprogramms bleibt dem Eklektizismus verpflichtet, der schon die früheren Arbeiten ausgezeichnet hatte. Im Versuch der Begründung von U werden nun das empirisch-rekonstruktive Vorgehen in der Tradition Chomskys und Piagets mit der von Apel und Kuhlmann repräsentierten Transzendentalpragmatik verknüpft. Das transzendentalpragmatische Begründungsprogramm ist im Wesentlichen eine Präsuppositionsanalyse, die »unausweichliche« bzw. »nichthintergehbare« Voraussetzungen der Argumentation identifizieren will.15 Das Verfahren, dessen sie sich dabei bedient, hat A. J. Watt folgendermaßen zusammengefasst: »The strategy of this form of argument is to accept the sceptical conclusion that these principles are not open to any proof, being presuppositions of reasoning rather than conclusions from it, but to go on to argue that commitment to them is rationally inescapable, because they must, logically be assumed if one is to engage in a mode of thought essential to any rational human life. The claim is not exactly that the principles are true, but that [...] a mistake is involved in repudiating them while continuing to use the form of thought and discourse in question.«16

Hier wird deutlich, wie die Transzendentalpragmatik die mit Hinweis auf das Albert’sche Münchhausen-Trilemma vorgebrachten Zweifel an einer Begründung im starken Sinne auszuräumen versucht: Es handelt sich um eine nichtdeduktive Begründung, deren Gegenstand Voraussetzungen und nicht Schlussfolgerungen sind.17

15 In den Worten Apels sind diese Präsuppositionen »etwas, das ich nicht ohne einen aktuellen Selbstwiderspruch zu begehen, bestreiten, und zugleich nicht ohne formallogische petitio principii deduktiv begründen kann« (Apel 1976b: 72 f.). 16 Watt 1975: 40. 17 Vgl. den klassischen Beitrag von Apel 1976a.

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Im Rahmen der Habermas’schen Version besteht der erste Schritt einer solchen Begründung in dem Nachweis, dass »das als Argumentationsregel fungierende Verallgemeinerungsprinzip von Voraussetzungen der Argumentation überhaupt impliziert wird« (DE: 97). Bei der Bestandsaufnahme solcher Argumentationsvoraussetzungen greift Habermas auf den klassischen Beitrag Alexys zurück, der wiederum als Reaktion auf Habermas’ frühere diskurstheoretische Überlegungen einen Katalog solcher Argumentationspräsuppositionen bezogen auf die logische Ebene der Argumentationsprodukte, der dialektischen Ebene der Argumentationsprozeduren und der rhetorischen Ebene der Argumentationsprozesse zusammengestellt hatte.18 Als Beispiel lassen sich demnach auf der ersten Ebene das Gebot der Widerspruchsfreiheit, auf der zweiten Ebene das der Wahrhaftigkeit anführen. Die erste Ebene hält Habermas in ihren Voraussetzungen unter normativen Gesichtspunkten für unergiebig. Die zweite Ebene enthalte zwar einige normativ relevante Diskursregeln – denn um solche handelt es sich –, im Zentrum seiner Bemühungen stehen jedoch im Folgenden die der Prozessebene zugehörigen Diskursregeln: (3.1) Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. (3.2) a. Jeder darf jede Behauptung problematisieren. b. Jeder darf jede Behauptung in den Diskurs einführen. c. Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in (3.1) und (3.2) festgelegten Rechte wahrzunehmen. (DE: 99) Überraschenderweise exemplifiziert Habermas nun jedoch das Verfahren des performativen Widerspruchs nicht an einer dieser zweifellos normativ gehaltvollen Regeln, sondern erbringt den »Nachweis« eines Widerspruchs nur gegenüber einem Skeptiker, der den Status des Wahrhaftigkeitsgebots als unausweichliche Argumentationsvoraussetzung anzweifelt. Lässt sich dieser Skeptiker darauf ein, den Wahrheitsanspruch seiner Behauptung, »Ich habe H schließlich durch eine Lüge davon überzeugt, daß p« auf der Basis von Argumenten/ Gründen verteidigen zu wollen, so »hat er u. a. die Voraussetzung akzeptiert, daß er einen Opponenten mit Hilfe einer Lüge niemals von etwas überzeugen, sondern allenfalls dazu überreden könnte, etwas für wahr zu halten« (DE: 101). 18 Vgl. Alexy 1978: 37 f.

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Bezüglich der Regeln auf der Prozessebene, die ja eigentlich zentral für seine Begründungsstrategie sind, begnügt sich Habermas mit dem schlichten Hinweis, auch hier »müßten sich performative Widersprüche für Äußerungen eines Proponenten nachweisen lassen« (ibid.), in denen die Geltung von (3.1)–(3.3) argumentativ angezweifelt wird. Dass sich Habermas hier mit dem Konjunktiv zufrieden gibt, muss irritieren, bedenkt man, dass gerade die universale Geltung von (3.1)–(3.3) als »hinreichend starke« (DE: 103) Prämisse für die Ableitung von U angesehen wird. Von diesem Punkt aus lässt sich nun die Habermas’sche Begründung eines universalen moralischen Standpunkts im Ganzen überblicken: In einem ersten Schritt werden Argumentationsvoraussetzungen eingeführt, die einen hypothetischen Anspruch auf Unausweichlichkeit erheben. Dieser Anspruch ist durch die Verwendung der Figur des performativen Widerspruchs für jede einzelne Diskursregel zu bestätigen oder zu entkräften. Müssen insbesondere die Regeln (3.1)–(3.3) als unausweichlich akzeptiert werden, so komme dies »einer impliziten Anerkennung von U« (DE: 103) gleich. Das transzendentalpragmatisch begründete Prinzip U findet dann in die Diskursethik als ihr Grundsatz D Eingang, der besagt, »daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)« (ibid.). Die einzige Schwäche dieses ansonsten konsistenten Begründungsprogramms bestehe darin, dass es bei der Durchführung der Prozedur des performativen Widerspruchs auf einen Skeptiker angewiesen bleibt, der seinen Zweifel argumentativ zu untermauern versucht. Es müsse also noch ausgelotet werden, ob ein konsequent schweigender Skeptiker eine potentielle Gefahr für die transzendentalpragmatische Begründung sei. Doch Habermas bezweifelt, dass diese Haltung eine realistische Verhaltensoption darstellt. Auch der Skeptiker könne sich seiner lebensweltlichen Einbindung in kommunikative Handlungszusammenhänge auf Dauer nicht entziehen, und in der Performanz des im Alltag unvermeidlichen verständigungsorientierten Handelns erführen auch die universalen Argumentationsvoraussetzungen der Diskurse zumindest eine implizite Anerkennung, da Diskurse letztendlich nicht mehr als die Reflexionsform kommunikativen Handelns darstellten. Ein konsequenter Skeptiker müsste somit aus jeglichen Kontexten kommunikativen Handelns und damit aus einer soziokulturellen Lebensform austreten. Habermas glaubt, dass dies nur um den Preis von »Selbstmord« oder »schwerer Geisteskrankheit« (DE: 110) möglich ist.

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Mit diesen Ausführungen schließen die Notizen zu einem Begründungsprogramm. Die Haltbarkeit der Argumentation vorausgesetzt, wäre Habermas damit die Entwicklung eines anspruchsvollen Modells moderner Moral gelungen, die sich zwar auf einen prozeduralen Standpunkt zurückgezogen hat und auch keine allumfassende Zuständigkeit mehr für sich beansprucht, jedoch an starken kognitivistischen und insbesondere universalistischen Ansprüchen festhält. Die Stärken dieser Diskursethik liegen damit auf der Hand. Habermas hat den klassischen Topos des moralischen Standpunktes aufgegriffen und ihm im Rückgriff auf die moderne sprachphilosophische Methodik einen elaborierten Begründungszusammenhang zugrunde gelegt. Zudem ist ihm eine gewisse Konsolidierung des moralischen Standpunktes gelungen, deren Voraussetzung die Aufgabe von Positionen war, die nur schwer zu verteidigen sind. Habermas’ Stärke besteht jedoch insbesondere darin, dass sein Moralmodell trotz der immer enger umschriebenen Möglichkeiten, die es bietet, doch – allem Anschein nach – nicht in der Trivialität endet. Habermas versteht es hervorragend, Konzessionen bezüglich bestimmter Aspekte seines Moralmodells für eine Stabilisierung in anderen Bereichen zu nutzen. Deontologische Differenzierung, Ablehnung von Letztbegründungen und Formalismus bezeichnen eine empfindliche Einschränkung für jede Moral, doch ist dies möglicherweise kein zu hoher Preis – vorausgesetzt, auf der Grundlage dieser Einschränkungen gelänge es, Kognitivismus und Universalismus plausibler zu machen. Ob Habermas’ Diskursethik tatsächlich solch eine produktive Balance zwischen Einschränkungen und Konsolidierungen verkörpert, bedarf jedoch genauerer Prüfung, was im Rahmen der weiter unten vorgenommenen kritischen Analyse geschieht. Neben dieser »theoriestrategischen« Stärke der Diskursethik werden in der Literatur vornehmlich eher konkrete Stärken betont: »Als Politikbegründungskonzept ist die Diskursethik deshalb geeignet, weil sie von dem einzig demokratisch legitimierbaren Konfliktregelungsmechanismus ausgeht, den wir kennen: nämlich von der Diskussion, weil einzig in ihr die allgemeine Zustimmungsfähigkeit korrigierbar erprobt werden kann.«19 Hier könnte tatsächlich die zentrale Stärke liegen: Die Diskursethik hat einen Konfliktregelungsmechanismus entwickelt, seine Möglichkeiten und Grenzen eingehend untersucht und bietet nun eine Möglichkeit, gesellschaftliche Konflikte gemäß universeller moralischer Prinzipien zu lösen. Dies impliziert wiederum die Möglichkeit einer Kritik alter19 Reese-Schäfer 1991: 25. Dieser führt daneben auch noch die reflexive Begründung und Explikation der Argumentationspräsuppositionen als Stärken an.

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nativer, nichtkonsensualer Lösungen. In ihrem Anspruch als Kritikkonzept ist die Diskursethik der TKH daher ebenbürtig, was die Leistungsfähigkeit angeht. Dies verweist auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der TKH und der Diskursethik. Der Perspektivenwechsel, der zwischen der TKH und der Diskursethik liegt, ist weit weniger radikal als die energische Abkehr von der Erkenntnistheorie zugunsten der Sprachphilosophie, die zwischen den Hauptwerken Erkenntnis und Interesse und der TKH liegt und den ersten Begründungsversuch einer kritischen Wissenschaft massiv entwertet hatte. Die TKH bleibt die Basis des moralphilosophischen Projektes, das Habermas verfolgt, und ihre zentralen Thesen bleiben relativ unbeeinträchtigt, ja, die Moralphilosophie rekurriert sogar immer wieder auf sie, um ihre eigenen Argumentationen zu stützen. In der Diskursethik hat die Verdinglichungsproblematik, das zentrale Problem der TKH, jedoch kaum noch Relevanz. Obwohl Habermas immer wieder in der Diskussion um die TKH bereitwillig eingeräumt hat, dass deren Analyse des Problems keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit erheben könne, beschließt er, von einer weiteren Ausarbeitung abzusehen und erläutert dies später folgendermaßen: »Für diese Dinge würde man vielmehr eine Präzisierung des Begriffs der systematisch verzerrten Kommunikation brauchen. [...] Auf diese Ideen zu Kommunikationspathologien, die auf der Ebene einfacher Interaktionen entstehen, bin ich allerdings seit 1974 nicht mehr zurückgekommen.« (IN: 115)20 Gleichwohl korrespondiert das diskursethische Programm mit zentralen inhaltlichen Aspekten der TKH. Deren Anliegen war eine rationalisierte Lebenswelt und deren Verteidigung gegen Übergriffe von Systemimperativen gewesen. Die Diskursethik versucht unter anderem, die Rolle der Moral und der Moralentwicklung für eine rationalisierte Lebenswelt zu explizieren. Diese Fragen hatte Habermas in der TKH mit Bezug auf Durkheim und Weber allenfalls gestreift. Wo auf Apels Version der Diskursethik und Lawrence Kohlbergs Stu-

20 Habermas selbst hat auch auf theorie-externe Gründe hingewiesen, die zu der Schwerpunktverlagerung innerhalb seines Werkes geführt haben – insbesondere seine Rückkehr vom Max-Planck-Institut in Starnberg an den Fachbereich Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Vgl. dazu IN: 114. Habermas betrachtet sich entsprechend in der Folge nicht mehr primär als Gesellschaftstheoretiker, sondern als Philosoph. In diesem Sinne auch Kieserling 2000: 25 f.

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fenschema der moralischen Entwicklung verwiesen worden war, geschah dies ohne weitere Problematisierung.21 Darüber hinaus knüpft der Versuch, einen unparteilichen moralischen Standpunkt auszuarbeiten, auch an Fragen an, die Habermas schon lange vor der TKH beschäftigt hatten. Hier ist insbesondere sein Ansatz einer Unterscheidung zwischen verallgemeinerungsfähigen und nicht verallgemeinerungsfähigen Interessen in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus zu nennen. Diese Erörterungen konnten 1973 jedoch kaum mehr als den Status eines Postskriptums für sich beanspruchen, das mehr Fragen aufwarf als es beantworten konnte. Die Diskursethik kann sich diesen Fragen mit einem zweifellos weitaus elaborierteren theoretischen Instrumentarium annehmen. Allerdings wird noch zu klären sein, ob sie die oben angesprochene Unterscheidung tatsächlich zu leisten vermag. 1.2 Die Diskursethik in der Diskussion Habermas’ Diskursethik hat in der Literatur ein Echo gefunden, das den Reaktionen auf die TKH quantitativ um nichts nachsteht. Unterschiedlichste Aspekte wurden aus politikwissenschaftlichen, philosophischen und soziologischen Perspektiven kritisch hinterfragt. Im Folgenden werde ich die Diskussion dieser Beiträge im Hinblick auf den vornehmlich kritisierten Aspekt der Diskursethik strukturieren. Unterschieden werden demnach Zweifel an dem universalistischen Charakter der Diskursethik auf der einen Seite und Bedenken gegenüber ihren Grundannahmen bezüglich einer Differenzierung von Normen und Werten auf der anderen Seite. Die Kritik am Universalismus lässt sich wiederum unterteilen in Vorwürfe, die insbesondere auf formallogische Begründungsdefizite, auf einen uneingestandenen Ethno- bzw. Eurozentrismus, auf das Fehlen einer Letztbegründung oder auf die versteckten Ausschlussmechanismen der Diskursethik abheben. Ich werde dabei von der Diskursethik als konkreter Praxis ausgehen, obwohl sich zeigen wird, dass die Diskursethik auch als kontrafaktisches Ideal eines Verfahrens zur Normbegründung verstanden werden kann, das als kritischer Maßstab für reale Normbegründungsverfahren fungieren kann/ soll. Der Grund, hier zunächst von der Prämisse einer konkreten Praxis auszu21 Vgl. IN: 114. Bogner 1990 hat eine ausführliche Studie zum Verhältnis zwischen TKH und Diskursethik vorgelegt. Durch eine gewisse Detailverliebtheit werden die großen Zusammenhänge allerdings über die Maßen verwischt.

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gehen, liegt in der häufig in der Sekundärliteratur anzutreffenden Feststellung, dass die Stärke der Diskursethik gerade in ihrer Eigenschaft als reales Normbegründungs-, damit aber auch implizit gesellschaftliches Konfliktregelungsverfahren liege. (Vgl. weiter oben Kap. III 1.1.3.) 1.2.1 Formallogische Begründungsprobleme Schon in den siebziger Jahren hatte man bezüglich der Auseinandersetzung zwischen Albert und Apel von einem »Begründungsstreit« in der deutschen Philosophie gesprochen.22 Habermas hat diese Auseinandersetzung mit seiner Positionierung in Fragen der Begründung zwischen transzendentalpragmatischer Letztbegründung und kritisch-rationalistischem Münchhausen-Trilemma aufs Neue angefacht. Neben den Transzendentalpragmatikern haben vor allem die Vertreter der formalen Logik Einwände gegen Habermas’ Argumentationskette als hinreichender Begründung von D vorgebracht. Habermas’ intuitivistische Verteidigung eines ethischen Kognitivismus, der ja auch eine gewisse Folie für die Möglichkeit einer Begründung universalistischer Moral darstellt, soll erst im Rahmen der Kontroverse um Nutzen und Möglichkeit einer Letztbegründung kritisch beleuchtet werden. Formal-logisch bieten dann insbesondere die darauf folgenden »Ableitungsschritte« den Angriffspunkt: Von Argumentationsvoraussetzungen zu Diskursregeln,23 von diesen zur Geltung von U und von U schließlich zu D. Habermas’ Begründungsstrategie folgt zunächst dem Weg Apels, indem er zu zeigen versucht, dass das »Verallgemeinerungsprinzip von Voraussetzungen der Argumentation überhaupt impliziert wird« (DE: 97), wenn diese Präsuppositionen nach dem Vorbild Alexys als Diskursregeln reformuliert worden sind. Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass Habermas mit Apel gegen Peters die Argumentation überhaupt als Bezugspunkt anführt (vgl. DE: 94 f.), um auch den Skeptiker überzeugen zu können, der sich z. B. nur weigert in moralische Argumentationen einzutreten. In der TKH waren sechs verschieden Typen der Argumentation 22 Gethmann/Hegselmann 1977: 342; Gethmann 1979: 46. 23 An manchen Stellen bleibt unklar, welche der beiden Größen Prämisse und welche Conclusio darstellt. Einerseits sollen bestimmte Argumenationsvoraussetzungen in die Form von Diskursregeln gegossen werden, andererseits könnte man auch die Diskursregeln rein hypothetisch formulieren und aus der Anwendung des Verfahrens des performativen Widerspruchs ergäbe sich dann für bestimmte Kandidaten der Status der unausweichlichen Argumentationsvoraussetzungen.

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unterschieden worden: Drei »starke« Argumentationsformen, der theoretische, praktische und explikative Diskurs, daneben drei »schwache« Formen, evaluative, therapeutische und ästhetische Kritik (TKH I: 39 ff.). Folgt man seinen eigenen Ausführungen, so müsste Habermas zeigen, dass die von Alexy hypothetisch formulierten Diskursregeln als unausweichliche Voraussetzungen für die Möglichkeit aller sechs Argumentationen fungieren. Ohne hier ein formales Überprüfungsverfahren bemühen zu müssen, lässt sich zumindest für die verschiedenen, »schwachen« Formen der Kritik die Aussichtslosigkeit eines solchen Unterfangens problemlos belegen. Die Symmetriebedingungen, die in der Form der Diskursregeln (3.1)–(3.3) die Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer verbürgen sollen, sind in den Argumentationsformen der Kritik von vornherein suspendiert. Als Beispiel sei darauf hingewiesen, dass die therapeutische Kritik dem Verhältnis Analytiker-Analysand nachempfunden ist, für die ein asymmetrisches Verhältnis konstitutiv ist. Etwas hermeneutisches Wohlwollen vorausgesetzt, ließe sich davon ausgehen, dass Habermas als Bezugspunkt nur die Diskurse im Sinn hat – immerhin werden die Argumentationspräsuppositionen ja auch als Diskursregeln kodifiziert.24 Dennoch bleiben Zweifel an der Schlüssigkeit der Begründung: Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Regel c. unter (3.2): »Jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern« absolut unverzichtbar als Voraussetzung für praktische Diskurse ist, ihr aber in theoretischen Diskursen keinerlei Relevanz zukommt.25 Dieser beunruhigenden Einschätzung widerspricht Habermas jedoch in keinster Weise, im Gegenteil stellt er selbst fest: »Diese Voraussetzung ist für theoretische Diskurse, in denen allein assertorische Geltungsansprüche geprüft werden, offensichtlich nicht relevant.« (DE: 132, Anm. 71) Unter diesen Umständen bleibt jedoch völlig unklar, inwiefern hier noch von einer unausweichlichen Voraussetzung der Argumentation überhaupt gesprochen werden kann. Schließlich lassen sich offensichtlich fünf von sechs Formen der Argumentation ohne auch nur die idealisierende Unterstellung einer Geltung von (3.2) c. durchführen.26 Damit scheint Habermas U letztlich nur aus

24 Hier ist jedoch festzuhalten, dass diese Bezeichnung von Alexy stammt, der keine Theorie der Argumentation überhaupt, sondern eine Theorie des praktischen Diskurses entwickeln wollte. Diese speziellen Diskursregeln versucht Habermas nun als allgemeine Präsuppositionen auszuzeichnen. 25 Gebauer 1993: 122. 26 Leist 1989: 305.

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den Voraussetzungen des praktischen Diskurses ableiten zu wollen. Ein Unterfangen, das er bei Peters mit der Gefahr einer petitio principii belastet sah. Bleiben im Verhältnis von Argumentationspräsuppositionen und Diskursregeln schon einige Fragen offen, so verschärft sich dieser Eindruck bei genauerer Betrachtung des nächsten Schrittes innerhalb der Begründungskette. Es geht um den Zusammenhang zwischen der Geltung von Diskursregeln und der Geltung des Universalisierungsgrundsatzes. Die Selbstverständlichkeit, mit der Habermas das eine aus dem anderen folgert, hat nicht wenige Kritiker überrascht.27 Fraglich ist jedoch, ob es nicht möglich ist, die Diskursregeln anzuerkennen, ohne damit auch schon die Geltung von U akzeptiert zu haben. Wäre es also möglich, einen Argumentationspartner »sprachpragmatisch« anzuerkennen, ohne zu akzeptieren, dass Interessenkonflikte nur unter Zustimmung aller Beteiligten/Betroffenen geregelt werden können? Leist vertritt die Meinung, ein überzeugter Rassist könne durchaus mit Angehörigen der »minderen Rasse« unter Anerkennung der Diskursregeln in Argumentationen eintreten, ohne dass er U akzeptieren muss, was ihn zu einer Revision seiner rassistischen Haltungen nötigen würde. Leist folgert etwas vorschnell: Dieser Fall »scheint mir eindeutig zu zeigen, daß die Regeln (2) und (3) zu schwach sind, um einen Gesprächsteilnehmer, der sie befolgt, auch nur annähernd auf U festzulegen«28. Vorschnell ist die Folgerung, da Leist annimmt, man könne aus den Regeln der Ebene (2) und (3) nicht zwingend eine umfassende Argumentationsbereitschaft ableiten, unter deren Voraussetzung der Rassist auch die Ideologie des Rassismus selbst zur Diskussion stellen muss. Dagegen kann eingewandt werden, dass (3.2) c. gerade eine mögliche Thematisierung aller Gegenstände verbürgt. Dennoch bleibt die Frage, woher die Bereitschaft zur Argumentation kommen soll. Grundsätzlich vertritt Habermas die Auffassung, dass die Diskursethik überfordert würde, wollte man sie auch noch mit der Lösung motivationaler Probleme belasten. Dementsprechend speist sich in Habermas’ Konzept die Motivation, in moralische Argumentationen einzutreten und deren Ergebnisse umzusetzen, aus Quellen, die nicht auf die Diskursethik selbst zurückgeführt werden können: Das Moralprinzip kann »weder zum Eintritt in moralische Argumentationen verpflichten, noch zur Befolgung moralischer Einsichten motivieren« (DE: 135). Habermas führt weiter aus:

27 »Eigenartigerweise widmet Habermas diesem zentralen Schritt innerhalb seines Gesamtarguments keine große Aufmerksamkeit.« (Ibid.: 304) 28 Ibid.: 308.

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»Jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen. Sie bedarf einer gewissen Übereinstimmung mit Sozialisations- und Erziehungspraktiken, welche in den Heranwachsenden stark internalisierte Gewissenskontrollen anlegen und verhältnismäßig abstrakte Ich-Identitäten fordern. Eine universalistische Moral bedarf auch einer gewissen Übereinstimmung mit solchen politischen und gesellschaftlichen Institutionen, in denen post-konventionelle Rechts- und Moralvorstellungen bereits verkörpert sind.« (THE: 25) (Vgl. auch: WME: 44 f.)

Habermas konzediert also auch bezüglich der Diskursethik per se eine gewisse »Ohnmacht des Sollens«, die schon Hegel der kantischen Ethik vorgeworfen hatte.29 Dennoch greift der entsprechende Vorwurf, es handele sich um eine realitätsferne Moral nicht unbedingt,30 da die Beweislast bezüglich der motivationalen Grundlagen und damit der empirischen Relevanz der Diskursethik von ihr selbst an eine entwicklungspsychologische Theorie des Moralbewusstseins nach dem Vorbild Kohlbergs abgetreten wird. Auf die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Verwendung der Kohlberg’schen Theorie als Stütze der Diskursethik ergeben, werde ich weiter unten noch zurückkommen. Am Ende dieses kleinen Exkurses zur motivationalen Verankerung der Diskursethik, der aufgrund der internen Verknüpfung dieser Frage mit der hier diskutierten formallogischen Thematik notwendig wurde, muss eine Problematik herausgearbeitet werden, die mit dem Begriff der »Argumentationsbereitschaft« verbunden ist, unabhängig davon, ob man diese als weitere Diskursregel hinzufügen will (Leist) oder sie durch ein post-konventionelles Moralbewusstsein gesichert sieht (Habermas). Eine semantische Analyse des Begriffs verzeichnet erste Schwierigkeiten bei der Klärung der Frage, was überhaupt ein Argument, insbesondere, ein triftiges Argument sei. In der Forschung werden mögliche Kriterien zur Unterscheidung von guten und schlechten Argumenten nach wie vor äußerst kontrovers diskutiert, so dass noch nicht einmal annähernd von einer »herrschenden Meinung« gesprochen werden kann.31 Doch selbst wenn man den Begriff des »guten« Arguments mit mehr als trivialer Bedeutung füllen

29 Gänzlich ohnmächtig ist das Sollen jedoch nicht: »Die schwach motivierende Kraft moralischer Einsichten zeigt sich empirisch daran, daß derjenige, der gegen besseres Wissen handelt, nicht nur mit moralischen Vorwürfen der anderen rechnen muß, sondern auch der Selbstkritik, also seinem ›schlechten Gewissen‹ ausgesetzt ist.« (EDE: 135) 30 So jedoch Lumer 1997b: 18 f. und abgeschwächt Wellmer 1986b: 163. 31 Statt vieler: Schuon 1991: 42 und Bubner 1986: 79: »Was gute Gründe sind, welche Argumente durchschlagen, hängt vollkommen von den Umständen ab.« Auch Habermas sieht hier noch erheblichen Forschungsbedarf, vgl. Entg.: 327.

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könnte,32 würde der Umgang mit dem komplexen Begriff der »Bereitschaft« weiterhin massive Probleme bereiten. »Bereitschaft« umfasst ein kognitives und ein volitives Element: Argumentationsbereitschaft umfasst den Willen und die Fähigkeit zu argumentieren. Doch kann das volitive Element einer intersubjektiven Beurteilung zugänglich gemacht werden? Es sind Fälle vorstellbar, in denen sich ein Rassist subjektiv den Willen, an einer Argumentation teilzunehmen, zuschreibt, in den Augen der übrigen Teilnehmenden aber verbohrt seiner rassistischen Haltung verhaftet bleibt und diesbezügliche Argumente nicht akzeptiert. Derartige Fälle zeigen, dass keine objektiven Maßstäbe zur Bewertung der Argumentationsbereitschaft von Individuen zur Verfügung stehen, ja sogar das Individuum selbst seiner subjektiven Einschätzung letztlich nicht trauen kann. Dies mag man als einen zu vernachlässigenden Makel ansehen, aber es belastet die Diskurse zumindest mit einer massiven Gefahr des Scheiterns, da Diskursteilnehmende in kontroversen Diskurssituationen nur allzu leicht an der Argumentationsbereitschaft der anderen Teilnehmenden, die ja nie hinreichend dokumentierbar ist, zweifeln können und daraufhin aus dem Diskurs austreten. Dies ist kein Einwand im strengen Sinne gegen die Diskursethik, zeigt jedoch, dass ihr Funktionieren von äußerst prekären Bedingungen abhängt. Leist hatte durch seine Analyse von Argumentationssituationen die mangelnde Begründung von U aufzuzeigen versucht. Diese Analyse verwies jedoch eher auf die motivationalen Fragen, die mit der Diskursethik verbunden sind. Allerdings erhärten sich die Zweifel an einer zureichenden Begründung von U auf der Basis einer formallogischen Analyse. Lumer weist darauf hin, dass die Prämissen, aus denen die Geltung von U geschlossen werden kann, von Publikation zu Publikation variieren: In einem Lumer selbst vorliegenden Manuskript Habermas’, hatte dieser noch versucht, U allein aus den Diskursregeln abzuleiten.33 In der ersten Publikation des Aufsatzes Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm wird dann folgender Passus als zusätzliche Prämisse eingeführt: »Mit gerechtfertigten Normen [verbinden] wir den Sinn [...], daß diese gesellschaftliche Materien im gemeinsamen Interesse der möglicherweise Betroffenen regeln« (DE: 103, 1. Ausgabe). Diese Prämisse hat Habermas in den folgenden Auflagen aufgrund ihrer petitiösen

32 Für Habermas sind triftige Argumente solche, die in einer Diskurssituation die Teilnehmenden überzeugen können. 33 Lumer 1997a: 50 f.

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Bedeutung korrigiert34 und durch die Prämisse: »Wenn wir ferner nur wissen, was es heißt, hypothetisch zu erörtern, ob Handlungsnormen in Kraft gesetzt werden sollen« (DE: 103), ersetzt. Gegen diese neue Formulierung wird unter Einsatz der gesamten Palette formallogischer Überprüfungsverfahren nun allerdings eingewandt, sie beraube die Begründungskette im Ganzen ihrer Schlüssigkeit.35 Ohne dass hier das äußerst umfangreiche Argument im Einzelnen auf seine Schlüssigkeit hin überprüft werden kann, lassen doch auch noch darüber hinaus andere Indizien Zweifel an dem zwingenden Charakter der Ableitung von U aufkommen. Habermas selbst nimmt in den folgenden Publikationen immer weniger und schließlich überhaupt keinen Bezug mehr auf die von ihm vertretene Ableitung. Stattdessen verweist er in den letzten Veröffentlichungen innerhalb des diskursethischen Kontextes und auch in Faktizität und Geltung nur noch auf den »detaillierten Vorschlag zur Durchführung dieses Begründungsprogramms« (EDE: 134) seines Schülers William Rehg. Was diesen Vorschlag jedoch vor allem auszeichnet, ist die Vielzahl von zusätzlichen Prämissen, die Rehg einführt, um aus den Diskursregeln im Verbund mit jenen zahlreichen kontingenten Zusatz-Prämissen zuletzt auf die Geltung von U schließen zu können.36 Ob Rehgs Verfahren formallogisch konsistent ist, hat hier nur sekundäre Bedeutung. Entscheidend scheint, dass sich die Einführung jeder neuen Prämisse äußerst negativ auf die Leistungsfähigkeit der Begründungsfigur des performativen Widerspruchs auswirkt: Diese sollte nachweisen, dass ein Argumentationsteilnehmer die Geltung der Argumentationsvoraussetzungen und damit auch die Geltung von U nicht widerspruchsfrei argumentativ anzuzweifeln vermag. Hängt U jedoch von weiteren kontingenten Prämissen ab, dann scheint der Skeptiker keineswegs allein durch seine Teilnahme an Argumentationen zu einer impliziten Anerkennung von U genötigt zu sein und Habermas’ Begründungsanstrengungen müssten zumindest auf dieser Ebene als gescheitert gelten. Auch der Status, der einem wie auch immer begründeten Universalisierungsgrundsatz in Habermas’ Konzeption zukommt, wirft einige Fragen auf.37 Ha34 Später kommentiert er diese Revision mit den Worten: »Allerdings darf die Idee der Rechtfertigung von Normen [die oben zitierte Prämisse, T. B.] nicht zu stark sein und nicht schon das in die Prämisse einführen, worauf doch erst geschlossen werden soll.« (THE: 13) 35 Lumer 1997a: 52. 36 Rehg 1990: 40 ff. Dies gilt auch für die genauere Ausarbeitung in Rehgs Dissertation, vgl. Rehg 1994. 37 Auf die eher polemischen Kritiken an der Rolle von U und den entsprechenden Umdeutungen, wie sie von Keuth 1979 und Wimmer 1980 vorgenommen werden – so sei U

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bermas bezeichnet U als »konsensermöglichendes Brückenprinzip« und als »Argumentationsregel, [die] eine äquivalente Rolle spielt wie das Induktionsprinzip im erfahrungswissenschaftlichen Diskurs« (DE: 73). Doch wie soll U Konsens ermöglichen, wenn sich doch praktische Diskurse gerade an der Frage entzünden, ob eine Norm den Anforderungen von U genügt? Möglicherweise hat Habermas hier die Eigenschaft von U als »Argumentationsregel« im Sinn, doch Konsens soll allein durch das Vorbringen von triftigen Argumenten entstehen. Diesbezüglich ist U aber nur sehr begrenzt aussagefähig – existiert doch nicht einmal, wie oben erläutert, eine elaborierte Argumentationstheorie. Darüber hinaus hat auch die von Habermas vertretene Analogie zwischen U und dem Induktionsprinzip Einwände provoziert.38 Der Vorwurf, den man Habermas im Hinblick auf die verschiedenen Attribute von U machen kann, besteht meiner Ansicht nach darin, dass sie zu Fehlinterpretationen und überzogenen Erwartungen an U geradezu einladen. Besonders die beiden ersten Paraphrasierungen von U suggerieren das Bild einer mathematischen Regel, deren Anwendung zwangsläufig zum richtigen Ergebnis führt. Dagegen ist festzuhalten, dass U nur eine Frage bezeichnet, die keinerlei hinreichende Bedingungen bzw. Kriterien für das »Ob« und »Wie« einer Antwort enthält.39 Zuletzt kann moniert werden, dass die Folgerung von D aus U nicht ausreichend plausibel gemacht wird. Es hat zunächst den Anschein, als biete dieser letzte Begründungsschritt zu keinerlei Kontroversen Anlass. D setzt laut Habermas die Geltung von U und damit die Begründbarkeit von Normen voraus. Die »Ableitung« von D aus U scheint dann dahingehend reformulierbar, dass aus dem allgemeinen Universalisierungsgrundsatz U, wird er auf die Diskursethik übertragen, der spezielle Grundsatz D wird. Doch in Faktizität und Geltung kehrt sich der Begründungszusammenhang zwischen U und D plötzlich um, so dass auch diese Relation ungeklärt bleibt: »In moralischen Begründungsdiskursen nimmt dann das Diskursprinzip die Form eines Universalisierungsgrundsatzes an. [...] Das Moralprinzip ergibt sich nämlich erst aus einer Spezifiz. B. ein »teleologisches oder Folgenprinzip«, so Wimmer 1980: 24 –, gehe ich nicht ein, unter anderem weil sie sich auf die Charakterisierungen von U aus dem frühen Aufsatz Wahrheitstheorien 1972 von Habermas beziehen. 38 Eine ausführliche kritische Analyse findet sich bei Gebauer 1993: 37 ff. 39 Habermas hat jedoch an anderer Stelle deutlich gemacht, dass es eine garantierte Lösung nicht unbedingt gibt: »Natürlich kann der argumentative Streit [...] offen ausgehen, so daß kein Einverständnis zustande kommt« (IN: 126). Unklar ist jedoch, ob dies dann zwangsläufig bedeutet, dass es sich um keinen adäquaten Gegenstand für einen moralisch-praktischen Diskurs handelt. Vgl. dazu weiter unten Kap. III 1.2.5.

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zierung des allgemeinen Diskursprinzips.« (FuG: 139 f.) Diese plötzliche Umkehrung kommt einer völligen Entwertung des gesamten ursprünglichen Begründungsprogramms gleich. Welche Rolle spielen die auf U abzielenden Begründungsschritte noch, wenn es sich bei U schlicht um eine Spezifizierung von D handelt? Der Begründung der Diskursethik als universalistischer Moral lassen sich auf der Ebene jedes einzelnen Begründungsschrittes beträchtliche formallogische Mängel oder zumindest Unklarheiten nachweisen. Allerdings muss in Rechnung gestellt werden, dass Habermas an unterschiedlichen Stellen deutlich gemacht hat, dass er die Aufgabe der Begründung keineswegs als erledigt ansieht.40 Im Folgenden müssen nun die Einwände der Transzendentalpragmatik diskutiert werden. Diese stellen in ihrer Kritik nicht so sehr auf die formallogischen Probleme in Habermas’ Argumentation ab, durch welche ihre universalistischen Ansprüche in Frage gestellt würden. Sie sehen die Schwäche seiner universalistischen Begründung vielmehr in ihrer inkonsequenten Durchführung. 1.2.2 Letztbegründung versus empirische Rekonstruktion Habermas hat zwar die transzendentalpragmatische Begründungsfigur des performativen Widerspruchs übernommen, er will jedoch den Nachweis der Unausweichlichkeit bestimmter Präsuppositionen nicht mit einer Letztbegründung gleichsetzen: »Eine transzendentale Deduktion im Sinne Kants kann mit solchen argumentativen Mitteln nicht bewerkstelligt werden.« (DE: 105) Habermas ersetzt die Letztbegründung durch eine empirische Rekonstruktion. Die mit einer Letztbegründung verbundene Beweislast überfordere die Transzendentalpragmatik und darüber hinaus sei eine Letztbegründung von Moral im Sinne eines Existenzbeweises überflüssig, reiche doch ein Hinweis auf die moralischen Alltagsintuitionen. Gegen ein infallibles weil letztbegründetes Wissen über Präsuppositionen argumentiert Habermas: »Gewiss, das intuitive Regelwissen, das sprach- und handlungsfähige Subjekte verwenden müssen, um an Argumentationen überhaupt teilnehmen zu können, ist in gewisser Weise nicht fallibel – wohl aber unsere Rekonstruktion dieses Wissens und der Universalitätsanspruch, den wir 40 Vgl. »Natürlich müßte man im einzelnen sehen, welche normativen Gehalte eine Präsuppositionsanalyse des verständigungsorientierten Handelns zutage fördern kann.« (DE: 110). Oder: »Auf ähnliche Weise müßten sich performative Widersprüche nachweisen lassen [...]« (ibid.: 101). Ebenso EDE: 161.

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damit verbinden.« (DE: 107) Zu Recht weist er darauf hin, dass eine Übertragung eines nicht falliblen know how in ein know that nicht mehr als hypothetischen Status haben kann, da an die Stelle dieser Rekonstruktion eine genauere bzw. angemessenere treten kann. Ferner könne zwar die aktuelle Unausweichlichkeit bestimmter Präsuppositionen aufgezeigt, aber keine Gewähr dafür übernommen werden, dass diese Präsuppositionen nicht einer evolutionären Dynamik im Rahmen der Phylogenese unterworfen sind.41 Sowohl Forschungsresultate als auch die Forschungsobjekte sind daher grundsätzlich dem Reich der empirischen Kontingenz zuzuordnen. Rekonstruktionen sind daher laut Habermas in doppeltem Sinn fallibel.42 Demgegenüber versuchen Kuhlmann und Apel Habermas nachzuweisen, dass die von ihnen übernommene Begründungskonstruktion nicht mit einem rekonstruktiven Fallibilismus zu verbinden ist, sondern immer auf Letztbegründungsansprüche hinauslaufen müsse.43 Die Konfliktlinien innerhalb dieser Debatte sind insofern etwas bizarr, als Kuhlmann und Apel Habermas’ eklektizistischem Ansatz vorwerfen, sich in Alberts Münchhausen-Trilemma zu verfangen, während Habermas Apel mit den Worten lobt, er habe »den Einwand des Münchhausen-Trilemmas entkräftet« (DE: 90). Hier kann keine erschöpfende Analyse der Diskussion geleistet werden, da dies eine Aufarbeitung des oben angesprochenen jahrelangen Begründungsstreits notwendig machte. Allerdings lässt sich die Diskussionslage dahingehend zusammenfassen, dass Habermas, vor die Wahl zwischen der Scylla einer Letztbegründung moralischer Normen und der Charybdis einer infalliblen Setzung des fallibilistischen Prinzips gestellt, sich für die letztgenannte Option entscheiden würde. Dass aufgrund der Selbstreferentialität des Prinzips nur ein eingeschränkter Fallibilismus, der das Prinzip selbst vom Fallibilismusvorbehalt ausnimmt, sinnvollerweise vertretbar ist, hat Kuhlmann am Beispiel Habermas’ überzeugend demonstriert.44 Letzte41 So auch Schönrich 1981: 196 f.; es muss prinzipiell offen bleiben, »ob die erkennenden Subjekte ihre Art und Weise, über die Welt zu denken, nicht einmal ändern«. (Schnädelbach spricht von der Notwendigkeit eines »generellen Historizitäts-Verdachts«. Schnädelbach 1987: 88) 42 In der Literatur finden sich allerdings einige kritische Stimmen, die Habermas’ gegen die Transzendentalpragmatiker mit aller Verve vorgebrachtes Fallibilismus-Postulat als Lippenbekenntnis ansehen. Vgl. Power 2000: 255; Benhabib 1986 sowie Alford 1985. 43 Vgl. Kuhlmann 1986a und Apel 1989. 44 »Die letzten Maßstäbe können wir nicht für fallibel halten, weil von ihnen abhängt, was überhaupt fallibel bedeutet.« (Kuhlmann 1986a: 204) Die Kritik am Fallibilismus durch die post-empiristische Wissenschaftstheorie hat Habermas, soweit ich sehen kann, nicht

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rer scheint aber einen nicht falliblen Fallibilismus nicht falliblen Rekonstruktionen von Moral als kleineres Übel vorzuziehen. Diese These lässt sich auch gegen Einwände behaupten, die davon ausgehen, Habermas verfolge eben doch in gewisser Hinsicht ein Letztbegründungsprojekt nach dem Vorbild der Transzendentalpragmatik. Da er nach Voraussetzungen der »Argumentationen überhaupt« fahnde und zudem nachzuweisen versuche, dass Individuen immer in kommunikativ-argumentative Zusammenhänge eingebunden seien, versuche er letztlich zu belegen, dass man sich der Anerkennung des Moralprinzips schlechthin nicht entziehen könne. Dieser Vorwurf übersieht, dass Habermas schon in der TKH deutlich gemacht hatte, dass immer auch anders als kommunikativ gehandelt werden kann,45 entsprechend stehen wir auch immer vor der Wahl, in Diskurse einzutreten und damit im besten Fall U anzuerkennen. Habermas hat als Reaktion auf einen Vorwurf von Wellmer46 zudem klar gestellt, dass die Anerkennung von innerhalb des Diskurses unausweichlichen Regeln noch keineswegs deren Anerkennung außerhalb des Diskurses implizierten.47 Die Grundlage dieses verfehlten Vorwurfs besteht in einer ungenauen Lesart von Habermas’ Ausführungen über die Unvermeidbarkeit kommunikativen Handelns: Diese Unvermeidbarkeit besteht nicht auf case-to-case-Basis, sondern bezieht sich auf den »langfristigen Ausstieg aus Kontexten verständigungsorientierten Handelns« (Replik: 488). Die Wahlmöglichkeit zwischen kommunikativem und strategischem Handeln ist »abstrakt«, »weil sie nur aus der Perspektive des einzelnen Aktors gegeben ist, nicht aus der Perspektive der Lebenswelt« (Replik: 488). Den Versuch einer »archimedischen« Letztbegründung von Moral kann man Habermas daher nur unterstellen, wenn diese deutlichen Differenzierungen geflissentlich ausgeblendet werden.48 Habermas bezweifelt neben der Möglichkeit einer Letztbegründung auch deren Notwendigkeit. Es entstehe »kein Schaden« (DE: 107) durch ein empirisch-rekonstruktives Selbstverständnis. Habermas unterstellt, dass Leztbegründungsversuche immer auch von dem Bestreben getragen sind, die Existenz mo-

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in seine Konzeptionen eingearbeitet, obwohl er die prominentesten Vertreter, z. B. Lakatos, immer wieder anführt, wenn es um die Kritik einer kategorialen Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften geht, die für Habermas’ Konsenstheorie der Wahrheit relevant ist. Vgl. EDE: 131. So auch Kuhlmann 1986b. In aller Deutlichkeit findet sich diese Relativierung in: Entg.: 346. Wellmer 1986b: 105 f. Vgl. DE: 96; es handelt sich hier um eine weitere Selbstkorrektur Habermas’, vgl. Anm. 64 in DE: 123. So vor allem bei Gebauer 1993: 69. Dagegen zutreffend Orth 1997: 52.

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ralischer Normen zweifelsfrei nachzuweisen, um dadurch auch die Frage »Warum moralisch sein?« auf befriedigende Weise beantworten zu können.49 Aus seiner Perspektive bedarf es in diesem Kontext keiner Letztbegründung: Auf die Existenz moralischer Normen verwiesen die »moralischen Alltagsintuitionen« (DE: 108), welche die Basis des philosophisch-therapeutischen Selbstverständnisses der Diskursethik darstellen. Die Motivation zum moralischen Handeln, auf welche die Frage ›Warum moralisch sein?‹ bei Apel abzielt, wird bei Habermas durch eine entgegenkommende Lebensform mit ihren Sozialisationsmustern und Institutionen bereitgestellt. Ferner verweist Habermas auf die Redundanz einer Norm, derzufolge man moralisch zu handeln habe: »Daß moralisch unzulässige Handlungen unterbleiben sollen, das besagen schon die einschlägigen Normen. Dazu bedarf es keiner Supernorm, die die Befolgung moralischer Gebote in selbstbezüglicher Weise noch einmal zur Pflicht macht.« (EDE: 188) Habermas’ Hinweis auf die moralischen Alltagsintuitionen hat ein weitgehend negatives Echo gefunden, da hier, wie beim Lebenswelt-Konzept der TKH, der Verdacht einer falschen Idealisierung nahe liegt.50 Apel zeigt sich an anderer Stelle beispielsweise »schockiert bzw. ratlos« angesichts Habermas’ Lob der Intuitionen und der dazugehörigen Auffassung, die Moralphilosophie habe eigentlich nur die Aufgabe, ihre eigenen Fehler zu korrigieren.51 Man ist geneigt, auch ein wenig philosophischen »Standesdünkel« sprechen zu hören, wenn Apel in einer psychologisierenden Replik Habermas’ Haltung als simple Trotzreaktion abtut: Jener wolle verbohrterweise die begründungslogische Überlegenheit der letztbegründenden Transzendentalpragmatik nicht anerkennen und flüchte sich nun mangels Alternative in die Idealisierung moralischer Intuitionen.52 Doch jenseits dieser Polemiken können berechtigte Bedenken gegenüber der Vorstellung »intakter« moralischer Intuitionen vorgetragen werden. Folgt man einer Einschätzung Kuhlmanns, so setzt Habermas voraus, dass eine wie auch immer geartete Beschreibung der moralischen Intuitionen, sei diese nun wertskeptisch oder kognitivistisch, die moralischen Intuitionen in ihrer Substanz unberührt lasse. Nur so könne Habermas von intakten Intuitionen trotz der 49 Für eine solche Interpretation spricht z. B. Apels Kritik an Rawls, dieser habe »nicht schon eine rationale Begründung dafür gegeben, warum denn Gerechtigkeit [...] überhaupt sein soll« (Apel 1988: 350). 50 So Döbert 1986: 108 u. 114; Hellesness 1986: 182. 51 Vgl. Apel 1989: 26. 52 Ibid.: 27.

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Dominanz des Wertskeptizismus in der Moderne ausgehen. Eine solche Konzeption einer Darstellung, die sich nicht auf ihren Gegenstand auswirkt, sei jedoch empirisch unhaltbar. Wie wissenschaftliche Experten menschliche Moral rekonstruierten, wirke fraglos zurück auf das moralische Alltagsbewusstsein. Die völlige Resistenz der moralischen Intuitionen angesichts einer hundertjährigen »Wertneutralität« in den Sozialwissenschaften plausibel zu machen, die einer Irrationalisierung der moralisch-rechtlichen Geltungssphäre gleichkommt, ist eine Aufgabe, der Habermas’ vergleichsweise sparsame Ausführungen nicht gewachsen sind – dies gilt a fortiori, wenn man die Zeitdiagnose der TKH, die Übergriffe systemischer Imperative und damit auch das Eindringen marktkonformer und besitzindividualistischer Verhaltensorientierungen in die Lebenswelt beklagte, in Rechnung stellt. Damit kann jedoch auch ein Verfahren, das den moralischen Standpunkt aus einer Rekonstruktion dieser intakten, wenn auch verschütteten Intuitionen herausdestillieren wollte, nur noch bedingt überzeugen. Habermas müsste zeigen, dass die außer Frage stehende »Versehrtheit« der moralischen Intuitionen nicht dem Bild einer »Verformung«, sondern dem von intakten, aber verschütteten Intuitionen entspricht. Dies konnte bisher nicht geleistet werden. Dennoch lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Diskursethik Habermas’ aus der Auseinandersetzung mit der Diskursethik transzendental pragmatischen Zuschnitts hervorgeht, ohne gezwungen zu sein, umfassendere Mängel einzuräumen. Zwar muss er bei der Methodik der falliblen Rekonstruktionen Zugeständnisse machen und zudem können auch die moralischen Alltagsintuitionen als Ansatzpunkt für die Explikation des moralischen Standpunkts sowie als Rechtfertigung für eine therapeutische Moralphilosophie nicht mehr gänzlich überzeugen. Andererseits wiegt die Kritik Habermas’ an der transzendentalpragmatischen Letztbegründung, die sich einer proto-totalitären Aura nie gänzlich entledigen kann, schwer genug, um seinem eklektizistischen Ansatz im Streit der Diskursethiken den Vorzug zu geben. Nach der Klärung dieser Fragen kann nun ein weiterer Kritikstrang thematisiert werden, der Einwände gegen den universalistischen Anspruch der Diskursethik vorbringt und hierbei weniger auf die eher »technischen« Probleme von Habermas’ Begründung als auf die entwicklungspsychologischen und rationalitätstheoretischen Prämissen abstellt.

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1.2.3 Universalismus oder verkappter Eurozentrismus Habermas vertritt einen starken Universalismus. Er will einen moralischen Standpunkt herausarbeiten, der sich nicht nur auf alle Europäer oder alle Angehörigen westlicher Industrienationen bezieht, sondern darüber hinaus kulturübergreifend Geltung beanspruchen kann. Wie schon oben angedeutet, könnte man geneigt sein, diesen Standpunkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts als geradezu anachronistisch zu bezeichnen. In den Sozialwissenschaften hat eine Sensibilisierung für den Eigensinn von Kulturen stattgefunden, welche die Formulierung von transkulturell gültigen Bewertungsmaßstäben kaum noch zulässt. Wer einen starken Universalismus vertritt, übernimmt eine kaum zu bewältigende Beweislast, die in den meisten Fällen dazu führt, dass die Ansprüche auf einen schwachen, kulturspezifischen Universalismus reduziert werden. Zu den schärfsten Kritikern eines starken Universalismus zählen die Kommunitaristen bzw. Neo-Aristoteliker. Ihre Einwände basieren jedoch zumeist auf einer Ablehnung deontologischer Ethiken und deren Trennung von Norm- und Wertfragen, daher werden diese erst im diesbezüglichen Kapitel aufgegriffen. An dieser Stelle sollen insbesondere diejenigen Elemente von Habermas’ Theorie rekonstruiert und kritisch analysiert werden, welche den starken, kontextübergreifenden Universalismus der Diskursethik stützen sollen. Es handelt sich dabei um eine universalistisch ausgerichtete kognitive und moralische Entwicklungspsychologie sowie die Begründungsfigur des performativen Widerspruchs. Obwohl dies selten thematisiert wird, kann kein Zweifel daran bestehen, dass ein gewisser Teil der Habermas’schen Beweislast von Piagets kognitiver Entwicklungspsychologie des genetischen Strukturalismus getragen wird (vgl. auch DE: 86). Der Diskursethik zugrunde liegen die Rationalitätsstandards, die Habermas in der TKH nur unter der Voraussetzung eines »dezentrierten Weltbildes« (Piaget) herausarbeiten konnte. Diese können jedoch nur dann universale Geltung beanspruchen, wenn sich die Überlegenheit der Rationalitätspotentiale des modernen, dezentrierten Weltbildes anderen Rationalitätsstandards gegenüber nachweisen lässt. Die diskursethische Explikation des moralischen Standpunkts operiert auf der Grundlage eines gewissen kognitiven Entwicklungsniveaus, auf dem sich z. B. die verschiedenen Weltbezüge und Geltungsansprüche unterscheiden lassen. Doch nur wenn sich dieses Niveau gegenüber anderen normativ auszeichnen und an der Spitze einer Hierarchie positionieren lässt, kann der moralische Standpunkt realistischerweise auch eine starke universalistische Geltung anstreben.

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Habermas hat schon in der TKH versucht, moderne Weltbilder durch eine Kontrastierung mit mythischen Perspektiven normativ auszuzeichnen. Er arbeitet dort auch die ausgedehnte Rationalitätsdebatte53 zwischen analytischen Philosophen und Ethnologen für seine Zwecke auf und resümiert: »Der Gang der Argumentation läßt sich vielleicht so zusammenfassen, dass Winchs [der profilierteste Kontextualist dieser Debatte, T. B.] Argumente zu schwach sind, um die These zu festigen, daß jedem sprachlich artikulierten Weltbild und jeder kulturellen Lebensform ein unvergleichlicher Begriff von Rationalität innewohnt.« (TKH I: 102) Zwar plädiert er im Folgenden für einen selbstkritischen Universalismus, der festzustellen habe, dass die »allgemeinen Rationalitätsstrukturen« in den westlichen Gesellschaften selektiv in ihrer kognitiv-instrumentellen Ausrichtung gefördert werden, aber dies ist eher eine Vorbereitung der zentralen Thesen der TKH als ein tatsächliches Zugeständnis an die kontextualistische Position. Grundsätzlich lasse sich jedenfalls die Entwicklung vom mythischen zum modernen Weltbild als »intersubjektiv überprüfbare Folge von Lernschritten rekonstruieren« (TKH I: 103). Ohne dass hier die Debatte im Einzelnen analysiert werden kann, lässt sich feststellen, dass Habermas’ Darstellung ungewöhnlich tendenziös ausfällt.54 Doch selbst, wenn man die Darstellung als solche akzeptiert, ist Habermas’ resümierende Bewertung über den Ausgang der Kontroverse keineswegs so plausibel, dass man sich ihr anschließen müsste.55 Entscheidend ist allerdings, dass er in diesem Rahmen die universalistischen Ansprüche letztlich nicht untermauern kann und dies auch nicht will: Die eigentliche Beweislast liegt nämlich beim genetischen Strukturalismus von Piaget, den Habermas für einen geeigneten Ansatz hält, um eine empirisch gehaltvolle Theorie dieses Lernprozesses zu entwickeln. Diesbezüglich muss lapidar festgestellt werden, dass dies bis heute nicht gelungen ist, glaubt man jedenfalls den entsprechenden empirischen Un53 Vgl. die folgenden Aufsatzbände, in denen die wichtigsten Beiträge zu dieser Debatte zu finden sind: Wilson 1970; Horton/Finnegan 1973; Kippenberg/Luchesi 1978; Hollis/ Lukes 1982. Eine zusammenfassende Rekonstruktion der Debatte wird geleistet in Fretlöh 1989. 54 Diese Einschätzung teilen Matthiesen 1985: 37 sowie Lohmann 1998: 210. 55 Ich kann nicht sehen, dass Habermas Winchs Standpunkt, »Weltbilder allein im Hinblick auf ihre Potenz der Sinnstiftung« (TKH I: 94) vergleichen zu wollen, widerlegen bzw. die Überlegenheit des dezentrierten Weltbildes auch in dieser Hinsicht und nicht nur in seiner kognitiven Angemessenheit nachweisen kann. Es entsteht allzu leicht der Eindruck, dass Habermas’ mit seiner impliziten Betonung des letztgenannten Kriteriums die Vereinseitigungen der okzidentalen Moderne reproduziert.

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tersuchungen, die Piagets Theorie überprüfen sollten.56 Lassen sich die modernen Rationalitätsstrukturen jedoch nicht mehr als aktueller Zielpunkt eines onto- und phylogenetischen Lernprozesses auffassen, so gerät das Fundament der kontextübergreifenden Ansprüche der Diskursethik ins Wanken. Welche Rolle neben der kognitiven die moralische Entwicklungspsychologie für eine universalistische Diskursethik spielt, ist in der Forschung umstritten: Nicht wenige unterstellen Letzterer eine »sozial-utopische Perspektive«, da sie kontrafaktisch voraussetze, dass alle Mitglieder einer Kommunikationsgemeinschaft schon die berühmte »Stufe 6« des post-konventionellen Moralbewusstseins in Kohlbergs Stufenschema erreicht hätten.57 Eine solche Lesart führt zu einer Überbewertung und Fehlinterpretation der Bedeutung Kohlbergs für die Diskursethik. Mit ihr wird suggeriert, dass die diskursethische Praxis erst im Rahmen der vagen Utopie einer Gesellschaft, die mit Trägern post-konventioneller Moralvorstellungen bevölkert ist, Anwendung finden kann, oder dass in bestehenden Kommunikationsgemeinschaften nur solche Akteure an Diskursen teilnehmen können/sollen. Dies käme einem Ausschluss der Mehrzahl der Mitglieder gleich. Es ist davon auszugehen, dass Habermas die erste Alternative als »Nirwana-Ansatz« ablehnen würde, und auch die zweite entkräftet er implizit. Zwar ist er sich der Tatsache bewusst, dass »Stufe 6« nur von einer Minderheit der Mitglieder aktueller Gesellschaften erreicht werden kann.58 Doch Habermas stuft das Aufeinandertreffen von post-konventionellen Institutionen mit kon-

56 Vgl. die Diskussion solcher Studien in: McCarthy 1989b. Mangelhaft theoretisch untermauert scheint mir auch eine der Basis-Prämissen Kohlbergs, Piagets und entsprechend Habermas, nämlich die Analogie zwischen Onto- und Phylogenese. Zu grundsätzlichen Problemen des genetischen Strukturalismus vgl. Oevermann 1991. 57 Gebauer hält es für offensichtlich, »daß sich das Begründungsprogramm der Diskursethik auf die entwicklungslogisch privilegierte Klasse der sprach- und handlungsfähigen Subjekte bezieht, die sich durch die Fähigkeit zu formalen kognitiven Operationen (nach Piaget) und zu post-konventionellen moralischen Urteilen (nach Kohlberg) auszeichnen«, Gebauer 1993: 66 bzw. 35; ähnlich auch Brumlik, der annimmt, die Diskursethik definiere Mündigkeit »im Sinne post-konventioneller moralischer Urteilsfähigkeit« (Brumlik 1986: 274). 58 »Empirische Untersuchungen sprechen durchaus dagegen, daß alle erwachsenen Mitglieder, sei es auch nur in modernen westlichen Gesellschaften die Fähigkeiten zu [...] post-konventionellen Urteilen (im Sinne von Kohlbergs Moralentwicklungstheorie) erworben hätten« (NLR: 234).

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ventionellen Verhaltensorientierungen als völlig normal bzw. unproblematisch ein.59 Diese Fehldeutungen gehen nicht zuletzt auf eine Überbewertung der Bedeutung von Kohlbergs Theorie für die Diskursethik zurück. Die »Stufe 6« flankiert die diskursethische Praxis nur, indem sie die Voraussetzungen für die Motivation zum Eintritt in praktische Diskurse und der klugen Umsetzung/ Anwendung ihrer Ergebnisse formuliert. Kohlbergs Theorie übernimmt für Habermas die Explikation motivationaler Grundlagen, auf welche die Diskursethik angewiesen ist, wenn sie Spuren in der Realität hinterlassen will.60 Kohlbergs Schema soll für Habermas zeigen, dass Akteure ab einem bestimmten moralischen Entwicklungsniveau mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in Argumentationen eintreten und Ergebnisse angemessen umsetzen.61 »Stufe-6Individuen« eine besondere Rolle innerhalb der diskursethischen Praxis zuzusprechen, scheint auch insofern verfehlt, als die Dilemmata, mit denen die Probanden in Kohlbergs Studien konfrontiert werden, um von den Entscheidungen auf die moralische Entwicklungsstufe zurückzuschließen, reine Anwendungsdilemmata darstellen.62 Die Frage der Anwendung von Normen ist jedoch in Habermas’ Konzeption streng von ihrer Begründung in praktischen Diskursen unterschieden. Das heißt, ein Stufe-6-Individuum muss keineswegs ein besonders qualifizierter Teilnehmer eines Begründungsdiskurses sein. Kohlbergs Theorie ist jedoch nach wie vor bedeutsam für die universalistischen Ansprüche der Diskursethik, indem sie der Diskursethik eine gewisse empirische Relevanz sichert: Die Diskursethik bleibt praktisch folgenlos, wenn 59 Vgl. IN: 129; Habermas bezieht sich hier zwar auf die post-konventionelle Institution Recht, aber einem Analogieschluss auf die Diskursethik steht hier nichts im Wege. 60 So auch Lumer 1997b: 7. 61 Doch selbst hier kann/darf meiner Ansicht nach nur von einer lockeren Korrelation von moralischer Entwicklungsstufe und Eintrittswahrscheinlichkeit ausgegangen werden. Im Falle einer strengen Korrelation würden nur Stufe-6-Individuen in Diskurse eintreten, was der oben vorgestellten zweiten Alternative entspricht. Zudem erscheint es empirisch äußerst fragwürdig, die Möglichkeit, dass Träger konventionellen Moralbewusstseins in praktische Diskurse eintreten, grundsätzlich auszuschließen. 62 »Denn Applikationsprobleme, und fast nur Applikationsprobleme sind Gegenstand der entwicklungspsychologischen Moralforschung, und das sollte dann vielleicht auch einmal zur Kenntnis genommen werden.« (Döbert 1986: 123) Fraglich ist dann allerdings, ob von einer Fähigkeit, Applikationsprobleme »moralisch« zu lösen, auf eine hohe Motivation, in Diskurse einzutreten zurückgeschlossen werden kann, wie dies Habermas offensichtlich tut. Die motivationale »Rückendeckung« für die Diskursethik scheint mir hier durchaus Lücken aufzuweisen.

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ihre Ergebnisse nicht angemessen oder überhaupt nicht umgesetzt werden. Wie in Piagets Theorie müsste jedoch anhand empirischer Studien gezeigt werden, dass Stufe 1–6 einen universalen onto- und phylogenetischen Lernprozess darstellen. Diesem Anspruch bis dato genügt zu haben, kann von Kohlberg noch weit weniger als von Piaget behauptet werden.63 Hier bedarf es noch nicht einmal des Verweises auf Befunde aus nichteuropäischen Kulturen. Carol Gilligan hat Kohlbergs Theorie einer scharfsinnigen Kritik aus feministischer Perspektive unterzogen und dagegen das Konzept einer frauenspezifischen »FürsorgeEthik« entworfen. Auch wenn man Gilligans essentialistische Annahmen bezüglich einer spezifisch weiblichen Moral nicht teilt, muss man die stichhaltigen Argumente gegen Kohlbergs universalistisches Schema anerkennen, so dass die Haltbarkeit seiner Ansprüche mit Recht bezweifelt werden kann.64 Komplementär zu den universalistischen Entwicklungstheorien, die rekonstruktiv verfahren, bemüht Habermas die transzendentalpragmatisch geprägte Denkfigur des performativen Widerspruchs, um den starken Universalismus der Diskursethik zu verteidigen. Mit Hilfe dieses Verfahrens soll der Nachweis gelingen, dass jedes sprach- und handlungsfähige Individuum die Geltung von U nur um den Preis eines pragmatischen Widerspruchs argumentativ bestreiten kann. Es ist jedoch nicht einsichtig, inwiefern diese Denkfigur zwingend sein soll. Wird doch U offensichtlich nicht nur aus den Diskursregeln, sondern auch aus schlechthin kontingenten Prämissen abgeleitet (s. o.). Zudem lassen sich weitere strukturelle Mängel der Methode feststellen: Diese bestehen in der Doppelfunktion des performativen Widerspruchs. Einerseits sollen durch das Verfahren unausweichliche Argumentationsvoraussetzungen identifiziert werden, andererseits soll einem Skeptiker nachgewiesen werden, dass er bestimmte Dinge nicht widerspruchsfrei bestreiten kann.65 Der Nachweis des performativen Widerspruchs einer Skeptikerin setzt die Existenz unausweichlicher Präsuppositionen jedoch voraus, die wiederum durch den Nachweis eines performativen Widerspruchs identifiziert werden sollten. Der performative Wider63 »Die Datenlage ist durchaus gemischt.« (Döbert 1986: 121) Vgl. auch: McCarthy 1989b; Kohlberg/Candee 1984. 64 Vgl. Gilligan 1982. 65 Vgl. die entsprechenden Formulierungen bei Habermas: »Der Nachweis performativer Widersprüche eignet sich zur Identifizierung von Regeln, ohne die das Argumentationsspiel nicht funktioniert« (DE: 105), und daneben: »Dann widerspricht aber der Gehalt der zu begründenden Behauptung einer der Voraussetzungen, unter denen die Äußerung des Proponenten allein als eine Begründung zählen darf.« (DE: 101)

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spruch setzt voraus, was durch ihn erst hervorgebracht wird. Wellmers konsequente Folgerung hat daher nach wie vor Bestand: »Bisher [ist] nicht klar geworden, welches genau die unhintergehbaren Präsuppositionen des Argumentierens wirklich sind.«66 Wie hier gezeigt wurde, beruhen die universalistischen Ansprüche der Diskursethik unter anderem auf kognitiven und moralischen Entwicklungstheorien sowie der Denkfigur des performativen Widerspruchs. Die Unklarheiten bzw. fehlenden empirischen Belege, die im Hinblick auf diese Elemente herausgearbeitet wurden, legen den Schluss nahe, dass auch Habermas’ Diskursethik gezwungen ist, den Schritt vom starken zum schwachen Universalismus zu vollziehen, wenn sie sich nicht in der Verteidigung unhaltbarer Positionen aufreiben will. 1.2.4 Universale Inklusion versus Exklusion Die Diskursethik kann bezüglich eines letzten Aspektes als universalistisch bezeichnet werden. Sie fordert unbegrenzten Zugang zu Diskursen. Dieses Postulat findet sich auf der Ebene der Diskursregeln als Regel (3.1): »Jedes sprachund handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen« (DE: 99). In U findet es sich als zwanglose Zustimmung »eines jeden Einzelnen« und in D wird die »Zustimmung aller Betroffenen« (DE: 103) gefordert. Die Grundintention der Diskursethik zielt also darauf ab, dass alle potentiell von einer Norm betroffenen sprach- und handlungsfähigen Subjekte an einem Diskurs über die Geltung einer bestimmten Norm teilnehmen können müssen. Diese Basis-Aussage lässt sich in zwei Richtungen problematisieren. Zunächst stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien die Sprach- und Handlungsfähigkeit von Subjekten bestimmt werden kann. Letztlich geht es hier um eine Definition von Mündigkeit: Mündig ist, wer zu einer autonomen Entscheidung fähig ist (»handlungsfähig«) und sich in der Lage zeigt, diese sprachlich zu artikulieren (»sprachfähig«). Nur Mündigkeit in diesem Sinn verbürgt Zugang zum Diskurs. Die Überlegung, die 66 Wellmer 1986b: 103, Anm.: 1; die Defizite des performativen Widerspruchs sind auch insofern relevant, als Habermas bei der Formulierung des Begründungsprogramms und gerade in den Passagen zum performativen Widerspruch Foucault als virtuellen, dissentierenden Schweiger vor Augen hat. Abgesehen davon, dass Habermas hier wieder den Archäologen Foucault meint, scheitert mit den Mängeln des performativen Widerspruchs auch der Nachweis der Unhaltbarkeit eines solchen kalten, »von Nietzsche eingeübten Blick(s), [der] ja von Foucault wieder zu Ehren gebracht worden« (DE: 109) sei.

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dieser Einschränkung zugrunde liegt, ist grundsätzlich nachvollziehbar: Geistig verwirrte Personen können nicht an einem Diskurs teilnehmen, ebenso wenig Kinder, die sich noch nicht artikulieren können. Doch derartige Common Sense-Überlegungen erweisen sich nicht als tragfähig, wenn man den Bereich eindeutiger Beispiele, die hier als Ausnahme angesehen werden müssen, verlässt. Wem soll die Kompetenz zukommen, über Handlungsfähigkeit von Personen zu entscheiden und welche Kriterien sollen einer solchen Entscheidung zugrunde liegen? Sollen Individuen, die »offensichtlich ideologisch verblendet« sind oder sich als fanatische Neonazis gerieren, vom Diskurs ausgeschlossen werden? Kann man Personen, die sich in psychiatrischer Behandlung befinden, die Fähigkeit zu autonomer Entscheidung zusprechen? Ähnlich verhält es sich mit der Sprachfähigkeit: Soll diese nur das Vermögen bezeichnen, sich irgendwie sprachlich zu artikulieren, dann können auch halbwüchsige Kinder an Diskursen teilnehmen. Zielt diese Definition nicht auf die weitergehende Fähigkeit zu argumentieren? In diesem Fall stößt man wieder auf die oben behandelten Schwierigkeiten mit dem Begriff der »Argumentationsbereitschaft«, der ja auch die entsprechende Fähigkeit implizierte (s. o.). Wie soll also mit Individuen verfahren werden, die sich weigern, »rationale« Argumente vorzubringen und die sich ihrerseits taub gegenüber »rationalen« Argumenten geben, indem sie sich z. B. weigern, ihre Präferenzen in eine transitive Ordnung zu bringen? Diese Fragen verweisen auf die großen Gefahren, die mit einer Definition von »Mündigkeit« einhergehen. Da mit der Definition keinerlei bindende Kriterien verknüpft sind, bietet sie ein ideales Einfallstor für Exklusionsmechanismen, die den Universalismus der Diskursethik massiv einschränken.67 D scheint daher nur akzeptabel zu sein, wenn hier die »Zustimmung aller Betroffenen« ohne weitere Qualifizierung gefordert wird. Ansonsten trifft Brumliks Vorwurf zu, dass die Diskursethik den »Vorrang [...] Mündiger gegenüber denen Unmündiger systematisch festschreibt«68. Doch selbst, wenn man die Einschränkung auf alle mündigen Betroffenen aufgäbe, was in der praktischen Umsetzung unüberwindliche Probleme mit sich brächte, bleibt es schwierig genug, alle Betoffenen einer Norm am entsprechenden Diskurs zu beteiligen. Die zweite Richtung der Problematisierung bezieht sich auf die Tatsache, dass sich aktuelle Entscheidungen über Normen auf zukünftige Generationen auswirken können, d. h. Ungeborene sind von Normen 67 Vgl. Kimmerles Bedenken gegenüber einer exklusiven Diskursethik in: Bonß et al. 1985: 63 u. 107. 68 Brumlik 1986: 275.

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betroffen, können deren Geltung jedoch aktuell nicht zustimmen. Eine wirklich universalistische Moral muss auch die Interessen jener zukünftigen Generationen berücksichtigen und kann sich nicht mit einer »kontingent ontologischen Privilegierung der lebenden Menschen« zufrieden geben.69 Dies ist aber nur in der Form von advokatorischen Diskursen möglich. Der advokatorische Diskurs spielt seit 1973 eine mehr oder weniger wichtige Rolle in Habermas’ Denken. In Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus war er das Verfahren, aus dem verallgemeinerungsfähige Interessen extrahiert werden sollten. Im Gegensatz dazu stand die TKH advokatorischen Diskursen mit großer Skepsis gegenüber (s. o.), und auch in der Diskursethik legt Habermas großen Wert darauf, dass reale Diskurse von unvertretbaren Individuen geführt werden. Allerdings erlebt der advokatorische Diskurs hier auch eine gewisse Renaissance: Der in Klammern gesetzte Konjunktiv in der Formulierung von D soll ja gerade advokatorische Diskurse ermöglichen. Dass diese zugelassen werden, zeugt von einer realistischen Sicht der Dinge: Selbst wenn die zeitliche Dimension ausgeklammert würde, ist es schwer vorstellbar, dass alle von einer Norm Betroffenen zu einem Diskurs versammelt werden könnten. Wird die zeitliche Dimension hinzugefügt, ist es schlicht unmöglich, jedenfalls bei bestimmten Normen.70 Fraglich ist unter diesen Umständen, wie ein advokatorischer Diskurs legitimiert werden kann. Die Gefahren dieser Diskursform, die einige Kernbestände der Diskursethik potenziell unterminieren, liegen auf der Hand. Der streng dialogische Zuschnitt wird eingeschränkt, da nicht alle Betroffenen teilnehmen können. Deren virtuelle Interessen müssen repräsentiert werden, obwohl die Diskursethik massive Vorbehalte gegen den Gedanken, ja vielleicht sogar die Möglichkeit von Repräsentation hegt. Sie muss diese Möglichkeit zwar implizit zulassen, da sie mit dem Begriff der »idealen Rollenübernahme« operiert (EDE: 155), der davon ausgeht, dass ein Individuum A sich in die Lage eines anderen B versetzen kann und dessen Interessen daher auch grundsätzlich repräsentieren könnte. Diese 69 Brumlik 1986: 270. Die Langzeitwirkung bestimmter moralischer Normentscheidungen wird beispielsweise durch Fragen im Zusammenhang mit der Nutzung von Gentechnologie offensichtlich. 70 Moon (1995: 152) will dagegen geltend machen, dass es sich ja fast immer um begrenzte »moral communities« handele, die von einer Norm betroffen seien, aber dabei scheint er tatsächlich die zeitliche Dimension auszublenden. Eigentlich wäre nur ein unendlicher Diskurs, in dem kontinuierlich Konsense erneuert werden, den hohen Ansprüchen einer universalistischen Ethik angemessen. Problematisch in diesem Zusammenhang sind auch die variierenden Formulierungen Habermas’, der zwar meistens von »allen Betroffenen« spricht, manchmal aber auch die Formulierung »alle« verwendet (THE: 18).

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Möglichkeit muss aber streng zurückgebunden werden an die Möglichkeit von B, diese Rollenübernahme als unzutreffend zu kritisieren.71 Wenn überhaupt, dann kann nur so die Gefahr einer Projektion eigener Interessen auf B und einer entsprechenden Missrepräsentation gebannt werden.72 Die Artikulation von Kritik im aktuellen Diskurs ist im Falle Ungeborener offensichtlich nicht möglich. Ein Ausweg scheint sich hier nur aus der Forderung zu ergeben, die Legitimität des advokatorischen Diskurses von der ex post-Zustimmung aktuell Ungeborener abhängig zu machen. Es besteht keine andere Möglichkeit, den advokatorischen Diskurs zu legitimieren, will die Diskursethik nicht auf die Stufe des Kategorischen Imperativs zurückfallen. Kann man unter der Voraussetzung der ex post-Zustimmung dem advokatorischen Diskurs Legitimität zusprechen, so ergeben sich aus einer Nichtzustimmung andererseits erhebliche Schwierigkeiten: Ausgehend von nur begrenzt reversiblen Folgen von Entscheidungen – und diese lassen sich für viele Materien unterstellen – stellt sich die Situation etwa folgendermaßen dar: »Entsprechend kann die spätere Zustimmung die advokatorisch Handelnden entweder nur bestätigen oder ins Unrecht setzen, was in beiden Fällen zwar die advokatorisch Handelnden berührt, die Betroffenen aber unberücksichtigt lässt.«73 Zuletzt bleibt die Frage zu diskutieren, ob eine tatsächlich universelle Beteiligung aller Betroffenen nur um den Preis eines Abrückens vom reinen Formalismus der Diskursethik möglich ist. Diese kann ihrem Selbstverständnis nach keine substantiellen Normen moralisch auszeichnen, sie identifiziert nur ein Verfahren, dass in seiner dialogischen Durchführung die moralische Bewertung von substantiellen Normen ermöglichen soll. Sie verhält sich diesen gegenüber also strikt neutral. Honneth hält dies für inkonsequent, da die Diskursethik auch diejenigen substantiellen Gerechtigkeitsvorstellungen normativ auszeichnen müsse, welche die Durchführung von Diskursen erst ermöglichen; in marxistischer Terminologie spräche man von der »materiellen Basis« der Diskursethik:74 71 Dies hat insbesondere Benhabib herausgearbeitet: »Neither the concreteness nor the otherness of the ›concrete other‹ can be known in the absence of the voice of the other.« (Benhabib 1992: 168) 72 Die Beispiele Youngs liefern beredtes Anschauungsmaterial für solche Projektionen, vgl. Young 1997: 343 ff. 73 Brumlik 1986: 276. 74 Honneth (1986b) formuliert damit eine Kritik am Formalismus der Diskursethik, die mit dem klassischen Formalismus-Vorwurf Hegels gegenüber Kant nur noch wenig gemeinsam hat. Einen wenig überzeugenden Versuch, jenen Vorwurf Hegels, der den tautologischen Charakter einer rein formalen Moral herauszuarbeiten versuchte, auf die Dis-

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»Die strikte Unterscheidung zwischen einer formalen Verfahrensethik und einer materialen Gerechtigkeitstheorie läßt sich gar nicht aufrechterhalten, wenn das normativ ausgezeichnete Verfahren nur unter Erfüllung bestimmter sozialer Voraussetzungen überhaupt stattfinden kann.«75 Honneth konkretisiert diese Forderung: Konsequenterweise müsse die Diskursethik mit der substantiellen Forderung nach einer »egalitären Zugangsmöglichkeit zu jenen sozialen Informationen und kulturellen Bildungstraditionen, die nötig sind, um die eigenen moralischen Überzeugungen im Kreise von Diskussionsteilnehmern argumentativ behaupten zu können«, verbunden werden. Zudem sei die Forderung nach einer »normativen Infrastruktur« der Gesellschaft zu vertreten, die den Individuen das »Maß an sozialer Anerkennung und entsprechender individueller Selbstachtung, das nötig ist, um die eigenen moralischen Intuitionen öffentlich eingestehen und vertreten zu können«, zukommen lässt.76 Honneths Bedenken sind zunächst durchaus nachvollziehbar. Was ist ein unbegrenzter Zugang zum Diskurs wert, wenn im Diskurs ein Diskussionsniveau herrscht, das bei allen Teilnehmern eine gewisse Bildung voraussetzt, und damit zu elitistischen Effekten führt? Und was ist der Zugang zum Diskurs wert, wenn einigen Teilnehmern und Teilnehmerinnen das Selbstbewusstsein fehlt, um die eigenen Empfindungen zu äußern?77 Will die Diskursethik nicht nur unbegrenzten Zugang, sondern auch universelle Beteiligung an praktischen Diskursen ermöglichen, so muss sie Gerechtigkeitsvorstellungen unterstützen, die sich gegen die Ausschlussmechanismen innerhalb des Diskurses richten. Meiner Einschätzung nach würde Habermas die äußerst pragmatische Auffassung vertreten, dass die notwendigen Bedingungen für die reale Möglichkeit aller Teilnehmer und Teilnehmerinnen, ihre Meinungen/Bedürfnisse zu artikulieren, in den westlichen Industrienationen gegeben sind, da ausreichend Zugangsmöglichkeiten zu Bildungsressourcen beständen und darüber hinaus auch kursethik zu übertragen, unternimmt Blanke (1991: 186). Die Diskursethik könne keine Norm rechtfertigen, die nicht schon in ihren Verfahrensnormen enthalten sei. Dabei übersieht er jedoch den von Maus energisch herausgearbeiteten Punkt, dass die Diskursethik eben zwischen »Prämissen der Normbildung und der Normbildung selbst« differenziert und so den Vorwurf der Tautologie entkräften kann (Maus 1999: 730). 75 Honneth 1986b: 189. 76 Ibid.: 191 f. 77 Derartige Bedenken werden ebenfalls von Müller-Dohm formuliert, der zudem das Problem des konformistischen, indifferent-apathischen Zustimmens aufgrund kognitiver Überforderung von Teilnehmern und Teilnehmerinnen hervorhebt. (Müller-Dohm 2000: 97 f.)

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die grundsätzliche Möglichkeit zur Herausbildung eines Selbstbewusstseins bestehe – nicht zuletzt auf der Basis der Sozialisation in einer ausreichend kommunikativ strukturierten Lebenswelt.78 Mag man diese Argumentation auch akzeptieren, so muss sich doch die Frage anschließen, was für Gesellschaften gilt, in denen nicht einmal diese notwendigen Bedingungen gegeben sind. Diese Frage wirft ein Problem auf, auf das ich im Rahmen des Vergleichs mit Foucault zurückkommen werde (vgl. weiter unten Kap. III 3.2.3). Als zutreffend ist jedenfalls Habermas’ Skepsis gegenüber der Vorstellung zu bewerten, ein »Input« einer bestimmten »normativen Infrastruktur« habe mehr oder weniger automatisch den »Output« der Herausbildung von Selbstbewusstsein bei den Individuen zur Folge, die in Honneths Forderung mitschwingt. Diesen Zusammenhängen kommt eine eher begrenzte Steuerbarkeit zu. Dem in dieser Diskussion mitschwingenden Vorwurf des Elitismus steht darüber hinaus Habermas’ anti-elitäre Haltung entgegen: Alle Fragen/Themen eines praktischen Diskurses können derart aufbereitet werden, dass sie »auch in einer breiteren Öffentlichkeit rational verhandelt werden könnten« (PT: 143). Dieses Zitat entstammt einem demokratietheoretischen Kontext, aber es dokumentiert auch Habermas’ Haltung in der Frage der Diskursethik. Wer in einem Diskurs Dinge kognitiv nicht zu erfassen vermag, kann so lange auf Erklärungen bestehen, bis er sich zu einem Urteil in der Lage sieht. Umgekehrt dürfen Expertinnen und Experten Einwände nicht aufgrund eines mangelnden intellektuellen Niveaus abtun. Sie müssen Gründe anführen, die alle überzeugen können. Dies ist der maximale Schutz, der Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmern gewährt werden kann. Als ein letztes Argument könnte Habermas hinzufügen: »Rationale Diskurse haben einen unwahrscheinlichen Charakter und heben sich wie Inseln aus dem Meer der alltäglichen Praxis heraus« (EDE: 162), und damit indirekt auf die Rolle kontrafaktischer Idealisierungen verweisen, die sich schon für die TKH als bedeutsam erwiesen hatten. Schon damals hatte Habermas argumentiert, man komme nicht umhin, einige Idealisierungen vorzunehmen, um überhaupt in kommunikatives Handeln eintreten zu können. Auch im diskursethischen Kon-

78 Vgl. Habermas’ Rede von »notwendigen Bedingungen für emanzipierte Lebensforme.« (VZ: 149). Vgl. auch: »Jene objektiven Bedingungen [die Diskurse ermöglichen, z. B. Institutionen, Persönlichkeitsorientierungen, T. B.] kennzeichnen vielmehr Strukturen von Lebenswelten, die in modernen Gesellschaften faktisch auftreten und in Ausbreitung begriffen sind.« (WLR: 45)

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text scheinen die Diskursregeln teilweise nur noch den Status kontrafaktischer Idealisierungen zu beanspruchen.79 Die Kontrafaktizität wirkt sich wie ein Weichzeichner auf theoretische Konzepte aus, indem sie die Konturen von Theorien und damit auch der aus ihnen abzuleitenden Forderungen verwischt. Honneth interpretiert beispielsweise das Modell der Diskursethik als konkret zu institutionalisierendes Verfahren, dem die Diskursregeln als faktische Regeln zugrunde liegen, und aus dem sich entsprechend auch andere »harte« Forderungen ableiten ließen. Dies könnte ihm von Habermas den Vorwurf eines übermäßigen Konkretismus einbringen: Der rationale Diskurs sei nur eine »regulative Idee« (EDE: 160)80, und bezüglich der Bedingung einer Geltung der Diskursregeln müsse man unterstellen, dass sie »hinreichend erfüllt« ist (EDE: 161). Kurz, der praktische Diskurs unter vollständiger Einhaltung der Diskursregeln und der entsprechenden Beachtung von D ist ein Ideal, an welches allenfalls eine asymptotische Annäherung denkbar ist. Zu den kontrafaktischen Idealisierungen, die wir in der Realität vornehmen müssen, würde dann auch gehören, dass wir hinreichendes moralisches Selbstbewusstsein bei den Diskursteilnehmern und -teilnehmerinnen unterstellen müssen. Die Realisierung dieses Postulats ist dann jedoch noch weit unwahrscheinlicher als es der rationale Diskurs unter Einhaltung vergleichsweise sparsamer Diskursregeln ohnehin schon ist. Eine solche hypothetische Argumentation Habermas’ gegenüber Honneths Einwand weist auf eine grundsätzliche Ambivalenz der Diskursethik, aber auch der TKH hin. Insbesondere das Moralkonzept lässt sich »hart« oder »weich« auslegen. Einerseits lassen sich immer wieder Formulierungen finden, die nahe legen, Habermas halte den praktischen Diskurs unter voller Geltung von D für ein in der Realität praktizierbares Verfahren, das etabliert werden müsse. Dafür sprechen die vielen Erläuterungen gerade zu Praxis-Aspekten, wie Motivation, Umsetzung, richtiger Anwendung etc. Andererseits verwandelt sich jedoch dieses scheinbar praktikable Konzept an vielen Stellen in ein unwahrscheinliches Ideal; aus harten Verfahrensregeln werden kontrafaktische Unterstellungen. Theoriestrategisch dürfte diese Ambivalenz Habermas nicht unwillkommen sein. Die Kontrafaktizität steht als großer Vorbehalt hinter der Diskursethik und ermöglicht ein ständiges Oszillieren, das Habermas alle Optionen offen lässt: aus der Diskursethik als realistischem Verfahren lassen sich einerseits 79 Sehr deutlich in dieser Hinsicht: »In allen Fällen müssen wir uns mit Annäherungen zufrieden geben.« (DE: 101) 80 So auch Koller 1992: 69.

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weitreichende gesellschaftskritische Forderungen ableiten. Wenn andererseits bezüglich der Möglichkeit einer realen diskursethischen Praxis, ihren Folgen oder Bedingungen, Kritik geltend gemacht wird, kann sich Habermas auf die zunächst um einiges leichter zu verteidigende Position zurückziehen. Doch auch diese bleibt in vielerlei Hinsicht vage und problematisch. Habermas formuliert, dass wir im Rahmen der kontrafaktischen Idealisierung eine »hinreichende Erfüllung« bestimmter Voraussetzungen, also insbesondere der Geltung von D, unterstellen müssen. Dies provoziert natürlich die Folgefrage, was als »hinreichend« anzusehen sei. Die Erläuterung von Habermas in diesem Zusammenhang ist alles andere als zufrieden stellend: »Dabei gilt dasjenige Maß der Erfüllung als hinreichend, welches unsere tatsächliche Argumentationspraxis zu einem in Zeit und Raum lokalisierbaren Bestandteil des universellen Diskurses der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft qualifiziert.« (IN: 132) Hinzu kommt das oben erläuterte Problem, dass noch nicht einmal die Bedingungen zweifelsfrei identifiziert werden können, um deren hinreichende Erfüllung es geht. Daher verwundert es kaum, wenn Habermas in den neueren Publikationen einräumt, »die Rolle der Idealisierungen [sei] erklärungsbedürftig« (EDE: 159). Dem ist mit Nachdruck zuzustimmen, denn wenn die Diskursregeln nur noch Idealisierungen darstellen, deren »hinreichende« Geltung unterstellt werden muss, dann mag dies zwar ein Schritt in die Richtung größerer Praktikabilität und weg von den unhandlichen Implikationen der kantischen Zwei-Reiche-Lehre sein, doch »butterweiche« Diskursregeln verwandeln sich nur allzu leicht in Einfallstore für Machtmechanismen: Die Bedingung, dass alle Betroffenen am Diskurs beteiligt werden müssen, kann dann beispielsweise sehr unterschiedlich ausgelegt werden. Diese Bedingung zeigt jedoch auch, dass die Diskursethik vor einem schwerwiegenden Dilemma steht. Habermas hat das Konzept der Kontrafaktizität sicherlich nicht primär aus theoriestrategischen Gründen eingeführt, sondern, weil für ihn einzig die moderate Forderung einer Unterstellung hinreichender Geltung realistisch erscheint. Alle Betroffenen einer Norm in einem Diskurs versammeln zu wollen, an dem alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen partizipieren, ist schlichtweg unmöglich. Doch in dem Maße, in dem sich die Diskursethik mit einer stets unvollkommenen Realität arrangiert, wird sie porös gegenüber diversen Macht- und Ausschlussmechanismen. Wenn in der vorangegangenen Diskussion immer von der »harten« Version der Diskursethik ausgegangen wurde, so geschah dies, um der geäußerten Kritik, insbesondere der Sorge um latente Exklusionstendenzen, am ehesten begegnen zu können. Geht Habermas von einer »weichen« Version aus, wofür einiges

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spricht, nicht zuletzt eine gewisse Realitätsnähe, so lässt sich die Diskursethik umso schwerer gegen derartige Vorwürfe verteidigen. Unbeeindruckt von der Kritik könnte sich allenfalls ein einigermaßen realitätsferner Rigorismus zeigen.81 Alle hier behandelten Aspekte des diskursethischen Universalismus weisen mehr oder weniger schwer wiegende Mängel auf, die das Selbstverständnis der Diskursethik empfindlich treffen: Von einer hinreichend begründeten Moral ohne Bevormundung kann nur noch bedingt die Rede sein. Im Folgenden sind nun Einwände zu diskutieren, die sich insbesondere auf den deontologischen Charakter der Diskursethik bzw. die entsprechende Unterscheidung des Guten und Gerechten beziehen. Dass die Diskursethik eine solche Unterscheidung zu leisten vermag, ist nicht nur eine entscheidende Voraussetzung für ihre Durchführbarkeit, sondern auch von besonderer Bedeutung in der Frage, auf welche Weise eine fruchtbare Vermittlung zwischen Habermas’ Diskursethik und Foucaults ethischem Programm gelingen kann (vgl. Kap. III 3.2.2). 1.2.5 Das Gute und das Gerechte Die Differenzierung von Werten und Normen Habermas führt die deontologische Differenzierung, deren Möglichkeit hier zu überprüfen ist,82 mit folgender Formulierung ein: »Der Universalisierungsgrundsatz funktioniert wie ein Messer, das einen Schnitt legt zwischen ›das Gute‹ und ›das Gerechte‹, zwischen evaluative und streng normative Aussagen.« (DE: 113) 81 Habermas könnte gegen eine solche Argumentation vorbringen, dass sie sich wieder dem kantischen Rigorismus auf der Basis der Zwei-Reiche-Lehre annähere. Dann muss hier allerdings ein Dilemma eingestanden werden. Der inakzeptablen Option einer Rückkehr zu Kant steht die kaum zu präferierende Option einer Diskursethik gegenüber, die sich extrem anfällig für Machtmechanismen zeigt. 82 Zu Beginn dieses Abschnitts ist anzumerken, dass die kommunitaristische bzw. neoaristotelische Kritik an einer deontologischen Moral auch von anti-universalistischen Bedenken getragen wird bzw. in diesem Universalismus ihr eigentliches Objekt sieht. Kommunitaristen und Neo-Aristoteliker stimmen darin überein, dass Moral immer an ein kontextspezifisches Ethos zurückgebunden sei. Daher müsse die Vorstellung einer kontexttranszendenten Moral abgelehnt werden, da ein Imperialismus pseudouniverseller Moral zu befürchten sei. Ich habe dennoch die Kritik der deontologischen Differenzierung nicht unter die Kritik des Universalismus subsumiert. Erstgenannte lässt sich in eine Richtung wenden, die mir noch bedeutsamer erscheint und daher gesonderte Behandlung verdient.

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Die Gründe für diese Abkoppelung des Gerechten vom Guten wurden oben bereits aus theoriestrategischem Blickwinkel erörtert (vgl. Kap. III 1.1.2). Inhaltlich begründet Habermas die Notwendigkeit dieses Schrittes, indem er konstatiert: »Vergesellschaftete Individuen können sich nicht zu der Lebensform, oder zu der Lebensgeschichte, in der sich ihre eigene Identität gebildet hat, hypothetisch verhalten.« (DE: 114) Die Möglichkeit, sich aus dem eigenen Kontext gleichsam »herauszudrehen« (Habermas), wie es dem Konzept des praktischen Diskurses entspricht, bestehe also in Fragen des guten Lebens nicht. Die Ausführungen zum Charakter von »ethischen« Verfahren sind äußerst vage gehalten. Unstreitig ist, dass ethische Fragen nicht nach dem strengen Modell des praktischen Diskurses erörtert werden können. Doch Habermas will nicht die Einseitigkeiten des Rationalitätstheoretikers Weber wiederholen und die Kognitivierung eines Vernunftmomentes mit der Irrationalisierung eines anderen verknüpfen. Den Bemerkungen Habermas’ ist eine Intention anzumerken, ethische Fragen nicht einem postmodernistischen anything goes zu überantworten, wenn er z. B. behauptet, »relativ auf den gegebenen Kontext können ethische Fragen rational, d. h. so beantwortet werden, daß sie jedermann einleuchten – keineswegs nur den unmittelbar Betroffenen, aus dessen Perspektive die Frage gestellt wird« (IN: 141). Diese Formulierung rückt den ethischen Diskurs in die unmittelbare Nähe der Konzeption des moralischen Diskurses. Wie die ethischen Fragen des guten Lebens erörtert werden sollen, bleibt also letztlich im Dunkeln, da Habermas zwar eine im kantischen Sinn willkürliche Behandlung ethischer Fragen zu verhindern sucht, jedoch selbst bezüglich der Anforderungen, denen ein ethischer »Diskurs«, wenn es diesen im strengen Sinn überhaupt gibt, genügen muss, überfragt zu sein scheint, was die widersprüchlichen Aussagen dokumentieren.83 Das mit der ethisch-moralischen Differenzierung verbundene Kernproblem ist dieser Ungewissheit über adäquate Verfahren noch vorgelagert: Fraglich ist demnach, ob eine Unterscheidung zwischen ethischen und moralischen Materien überhaupt möglich ist. Habermas betont zwar immer wieder, dass wir intuitiv die Unterscheidung zwischen moralischen und sittlichen Fragen

83 Vgl. auch VP: 111, VEDE: 7 sowie DE: 114 u. 118. Auch das Verhältnis von ethischen »Diskursen« zu moralischen bleibt unklar. Habermas scheint eine Art Postulat der Widerspruchsfreiheit zwischen den Konsensen auf beiden Ebenen im Auge zu haben, vgl. WLR: 48, benutzt aber nur sehr vage Formulierungen wie die folgende: »[...] wenngleich die intuitiven, schwer explizierbaren Maßstäbe für ein [...] nicht verfehltes Leben auch nicht völlig unabhängig von moralischen Maßstäben variieren« (WLR: 48).

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problemlos zu leisten vermögen (vgl. z. B. WLR: 35), doch es wird sich zeigen, dass die Differenzierung auf einer diskursiven Ebene alles andere als einfach ist. Zunächst hat Habermas’ häufige Verwendung des Begriffs der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit klinischen Fragen des guten Lebens für Verwirrung gesorgt. Denn hiergegen lässt sich ohne größere Probleme zeigen, dass wir gerade »im Bereich von Gerechtigkeitstheorien mit relativistischen Implikationen rechnen müssen, so dass sich gerade die Gerechtigkeitsproblematik am schlechtesten dazu eignet, universalistische Ansprüche gegen relativistische Positionen zu stärken«84. Dem würde Habermas zweifellos zustimmen, ist er doch selbst der Meinung, dass konkurrierende substantielle Gerechtigkeitstheorien zum Gegenstand eines praktischen Diskurses gemacht werden müssen. Der scheinbare Dissens beruht auf einem begrifflichen Missverständnis, dem Habermas freilich durch die scheinbare Gleichsetzung von Moral und Gerechtigkeit in einigen Formulierungen Vorschub geleistet hat. Dagegen ist festzuhalten, dass die Diskursethik die Konstruktion eines moralischen Standpunktes zum Gegenstand hat, von dem aus sich Fragen der Gerechtigkeit beurteilen lassen. Ein realer Dissens besteht jedoch hinsichtlich einer möglichen Explikation des moralischen Standpunkts ohne auf lebensweltliche Sittlichkeit, mit anderen Worten auf eine bestimmte Konzeption des guten Lebens, immer schon implizit Bezug zu nehmen. Taylor hat sich schon sehr früh ablehnend gegenüber der deontologischen Unterscheidung von Werten und Normen in der TKH und der Diskursethik geäußert. Er glaubt, einer scheinbar unparteilichen Moral durch die Konfrontation mit »radikalen Fragen der Begründung«85 die Notwendigkeit von Wertungen nachweisen zu können. Wie Apel führt er die Frage »Warum moralisch sein?« gegen die Diskursethik ins Feld. Diese sei zu keiner befriedigenden Antwort in der Lage, da hierfür sittliches Denken unerlässlich sei: »Ich muß [als Anhänger der Diskursethik, T. B.] zeigen können, warum die rationale Verständigung einen so großen Wert für mich hat, daß sie allen anderen Zwecken vorgezogen werden soll.«86 Es bedarf also »starker Wertungen«87, die immer mit substantiellen Bestimmungen des guten Lebens verbunden sind, im vorlie84 85 86 87

Döbert 1986: 107. Taylor 1988: 45. Ibid.: 46. So der Ausdruck von Taylor, der allerdings eine Theorie dieser »starken Wertungen«, wie er selbst eingesteht, lange schuldig geblieben ist, vgl. Taylor 1986: 134. Gänzlich überzeugend sind die mittlerweile vorliegenden Ausarbeitungen keineswegs, vgl. z. B.: Taylor 1989 und die Kritik von Forst 2001: 364 f.

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genden Fall vermittelt durch eine Anthropologie des zoon echon logon, des Menschen als sprechendes Tier. Die Diskursethik verbleibe in der Abhängigkeit von kulturspezifischen Wertungen. Habermas könnte natürlich wie gegen Apel die Sinnlosigkeit jener »Warum«-Frage darlegen und dagegen auf die moralischen Alltagsintuitionen verweisen. Dass dieser von ihm immer wieder lapidar vorgebrachte Hinweis von einigen zweifelhaften Voraussetzungen ausgeht, ist in Kapitel III 1.2.2 gezeigt worden. Klammert man die Kontroverse um die »Warum«-Frage aus, so bleibt immer noch die mutmaßliche Verwobenheit der diskursethischen Moral mit einem bestimmten Menschenbild und einer spezifischen Lebensform als Vorwurf bestehen. Dieser muss von einer Norm- und Wertfragen unterscheidenden Diskursethik ausgeräumt werden. Habermas würde vermutlich mit Rekurs auf den genetischen Strukturalismus argumentieren, dass es sich bei der Vorstellung des zoon echon logon keineswegs um ein kulturspezifisches Menschenbild handele. Alle Menschen seien als sprachbegabte Wesen mehr oder weniger auf die Verständigungspotentiale der Sprache angewiesen. Wie weit sie tatsächlich ausgeschöpft werden können und dadurch das zoon echon logon die prominente Stellung einnimmt, die für unsere Lebensform kennzeichnend ist, hängt von der Entwicklung von Weltbildern ab, also letztlich von der Entwicklungsstufe innerhalb des Lernprozesses in Richtung eines dezentrierten Weltbildes. Diese hypothetische Argumentation vermag ihren Eurozentrismus kaum zu kaschieren, so dass kaum ersichtlich ist, inwiefern hier von einer Neutralität gegenüber bestimmten Lebensformen die Rede sein kann. Habermas selbst hat seine Konzeption vom Vorrang und der Unparteilichkeit des Gerechten nur in sehr knappen Sätzen gegenüber Taylor verteidigt. Er geht von der Herausbildung verschiedener Lebenswelten aus, die in »ihren formalen und allgemeinen Strukturen übereinstimmen« (Entg.: 335), so dass »in der Mannigfaltigkeit konkreter Lebensformen zugleich die Allgemeinheit kommunikativer Rationalität zur Geltung« (ibid.) komme. Aber auch die Idee einer Herausbildung jener Lebensweltstrukturen muss sich in letzter Instanz auf die hier hypothetisch vorgetragene evolutionstheoretische Argumentation stützen. Damit bleibt der Eurozentrismusverdacht bestehen. Der diskursethische Moralstandpunkt ist seinem Selbstverständnis nach ein kontingentes Produkt der Rationalitätsentwicklung. Als seine Ermöglichungsbedingung fungiert in jedem Fall das moderne, dezentrierte Weltbild. Wird dieses als Zielpunkt eines phylogenetischen Lernprozesses angesehen, so kann zumindest eine notwendige Bedingung für die Universalisierung des moralischen Standpunkts erfüllt werden. Doch von einer Neutralität dieses Standpunktes gegenüber Lebensformen, die

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ihr kommunikatives Potential in unterschiedlicher Weise ausgeschöpft haben, kann keine Rede sein. Als Indiz seien an dieser Stelle Habermas’ Beschreibungen des mythischen Weltbildes sowie fremder Kulturen angeführt. Die Rede ist da von »opaken Gestalten« und »bizarren Äußerungen« (TKH II: 588). Charakterisierungen, die weniger Neutralität als vielmehr Verständnislosigkeit, wenn nicht gar Herablassung erkennen lassen.88 Dieses erste Teilargument der neoaristotelischen Kritik zielt, wie oben schon angedeutet, auf eine Erschütterung der universellen Ansprüche der Diskursethik. Ein zweiter Argumentationsstrang hat ein Problem im Blick, das sich dagegen als noch schwer wiegender erweisen könnte. Habermas’ deontologische Differenzierung beruht auf der Vorstellung, dass »moralische Fragen« in praktischen Diskursen erörtert werden sollen, wohingegen nur weit weniger rigide Prozeduren, möglicherweise sogar nur monologische Selbstverständigungsprozesse, eine Hermeneutik des Selbst, geeignet sind, um »klinische Fragen des guten Lebens« zu erörtern. Ob die Norm »Du sollst nicht töten« allgemein gelten soll, ist eine Frage des praktischen Diskurses. Dagegen kann die Frage, ob eine Person den Beruf eines Software-Engineers oder eines Schuhverkäufers ergreifen möchte, nur auf der Basis eines Selbstverständigungsprozesses bezüglich dessen, was man ist und sein möchte, entschieden werden. Zwei Fragen erwachsen aus dieser Konzeption: Ist es erstens legitim, zwischen Werten und Normen zu trennen, um in unterschiedlichen Verfahren über sie zu entscheiden? Wenn eine Unterscheidung legitim oder sogar wünschenswert ist, dann bleibt die zweite Frage nach der grundsätzlichen kognitiven Möglichkeit einer solchen kategorialen Trennung.

88 Henry 2000: 149 ff. kritisiert die binäre Struktur zwischen Vernunft und Mythos, die Habermas aufbaut und der eine Strategie des »Othering« des mythischen Weltbildes zugrunde liege. Kritik findet sich auch bei Eickelpasch (1991: 82 f.); unter diesen Umständen ist daran zu zweifeln, ob Habermas tatsächlich, wie immer wieder von ihm selbst bekundet, grundsätzlich bereit ist, von diesen Kulturen zu lernen, vielleicht auch nur, was »wir« verloren haben. Eickelpasch ist jedoch im Übrigen der Meinung, dass der Philosoph Habermas schon etwas mehr Sensibilität für kulturelle Kosten zeigt, als der Gesellschaftstheoretiker. Der Eindruck einer zunehmenden Sensibilität wird gestützt durch Aussagen Anfang der neunziger Jahre: »Wer sich diese Maßstäbe überhaupt noch zutraut [...], wird vermutlich nicht zu dem Ergebnis kommen, daß moderne Lebensformen in diesem klinischen Sinne etwa besser sind als andere.« Im kognitiven und moralischen Bereich seien höhere Lernniveaus zu verzeichnen, doch »dabei könnten wir Sensibilitäten in anderen Dimensionen sogar eingebüßt haben [...]« (VZ: 141 f.); vgl. auch VZ: 33.

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Seyla Benhabib hat in die moralphilosophische Diskussion die Unterscheidung zwischen konkretem und generalisiertem Anderen eingeführt: »Der Standpunkt des verallgemeinerten Anderen veranlaßt uns, jedes Individuum als rationales Wesen zu betrachten, dem dieselben Rechte und Pflichten zustehen, die wir auch für uns beanspruchen bzw. bereit sind zu übernehmen.«89 Die moralische Würde jedes Individuums liege unter diesen Umständen in dem begründet, was es mit uns gemeinsam hat. »Der Standpunkt des konkreten Anderen veranlaßt uns, im Gegensatz dazu, jedes rationale Wesen als Individuum mit einer ganz bestimmten Geschichte, Identität und affektiv-emotionalen Konstitution zu betrachten.«90 Dieser Standpunkt konzentriert sich auf das, was andere von uns unterscheidet, bemüht sich, ihre individuellen Bedürfnisse zu verstehen und ernst zu nehmen. Benhabib kann den formal-universalistischen Moralbzw. Gerechtigkeitstheorien Kohlbergs und Rawls’ berechtigterweise ihre einseitige Ausrichtung auf den Standpunkt des verallgemeinerten Anderen vorwerfen, da sie das Subjekt auf einen abstrakten Träger von Rechten reduzierten und mit einem fragwürdigen Autonomie-Begriff operierten.91 Der Diskursethik ist, wie ich meine vorschnell, der Standpunkt des generalisierten Anderen unterstellt worden.92 Ihr Blindheit gegenüber individuellen Wünschen und Bedürfnissen vorzuhalten, ist alles andere als stichhaltig, da ihre dialogische Konzeption gerade auf die Intention schließen lässt, die rein empirischen Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der wirklichen Individuen zum Zuge kommen zu lassen. Darüber hinaus sei an die Diskursregel (3.2) c. erinnert, die explizit die Möglichkeit der Artikulation von Wünschen und Bedürfnissen verbürgt.93 Auch Benhabib hat den von ihr immer nur indirekt auf Habermas’ Diskursethik bezogenen Vorwurf später ausdrücklich zurückgenommen, allerdings nur, um Raum für Kritik auf einer anderen Ebene zu gewinnen: Im Kapitel Neue Überlegungen zum Standpunkt des verallgemeinerten versus des konkreten Anderen erhält nun die Diskursethik ausdrücklich Lob gegenüber Rawls’ und Kohlbergs Theorie, da hier eine unbegrenzte, dialogische Thematisierung auch der Wünsche und Bedürfnisse 89 Benhabib 1992: 175. 90 Ibid.: 176. 91 Hier schwingt natürlich auch die Kritik Gilligans mit, der sich Benhabib über weite Strecken anschließt. 92 Vgl. z. B. die Vorwürfe Moons auf der Grundlage einer solchen Einschätzung. (Moon 1995: 153 f.) 93 Natürlich bricht auch diese Verteidigung der Diskursethik weitgehend zusammen, wenn die Diskursregel nur noch als idealisierende Unterstellung verstanden wird.

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selbst grundsätzlich möglich sei. Doch gerade diese umfassenden diskursiven Möglichkeiten müssen eine legitime deontologische Differenzierung zusammenbrechen lassen. Wenn Wünsche und Bedürfnisse, die immer durch kulturelle Werte vermittelt sind, reflexiv thematisierbar sein sollen, dann könne dies nur bedeuten, »daß der Gegenstandsbereich der Moraltheorie so erweitert wird, dass nicht nur Fragen der Gerechtigkeit, sondern auch Fragen des guten Lebens in den Mittelpunkt des Diskurses rücken«94. Die Diskursethik steht also vor einem Dilemma: Eine deontologische Trennung/Privilegierung des »Gerechten« vor dem »Guten« würde zum Gegenstand der Kritik am Standpunkt des verallgemeinerten Anderen. Um diesem Vorwurf zu entgehen, müsste sie jedoch mit ihren Grundannahmen bezüglich der Trennung von Wert- und Normfragen brechen. Habermas hat die Thematik reflexiver Bedürfnisinterpretation zwar durchaus aufgegriffen, sich aber geweigert, die daraus erwachsenden dilemmatischen Konsequenzen für die Diskursethik anzuerkennen: Da in praktischen Diskursen auch »die Interpretation von Bedürfnissen zur Sprache kommen muß, [behalten diese] einen internen Zusammenhang mit der ästhetischen Kritik auf der einen, der therapeutischen Kritik auf der anderen Seite« (DE: 115). Damit würde die deontologische Trennung der Materien aufgegeben, zwischen Diskurs- bzw. Kritikformen bestände ebenso ein Kontinuum wie zwischen Norm- und Wertfragen. Dadurch ginge jedoch auch die Stärke der deontologischen Unterscheidung verloren, Fragen in einem auf die jeweilige Thematik zugeschnittenen Verfahren erörtern zu können. Das Amalgam aus Diskurs und Kritiken ist zu streng für ethische Fragen und für moralische Fragen nicht streng genug. Die Tatsache, dass in moralischen Diskursen über kulturelle Werte vermittelte und interpretierte Bedürfnisse und Wünsche thematisiert werden können und sollen, lässt an der Legitimität einer deontologischen Differenzierung zweifeln. Die Kritik muss jedoch nicht einmal die Illegitimität der Unterscheidung begründen, es reicht aus, den noch unkomplizierteren Beweis zu erbringen, dass für eine solche Trennung der Materien klare Kriterien und Prozeduren fehlen und sie daher nicht praktikabel ist. Die Schwierigkeiten, die sich aus der Natur dieser Materie ergeben, sollen hier an einem Beispiel demonstriert werden:

94 Benhabib 1992: 190; vgl. auch die etwas andere Argumentation in: Benhabib 1995: 186 ff.

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Es soll die allgemeine Geltung der Norm ›Kein Mensch darf aufgrund seiner Hautfarbe oder Herkunft benachteiligt werden‹ überprüft werden. Nach Habermas müsste sie zu Beginn Gegenstand eines praktischen Diskurses werden,95 da zu prüfen ist, ob es sich um eine moralische Frage handelt. Falls nicht, wird die Erörterung an weniger rigide Instanzen/Verfahren verwiesen, möglicherweise gar auf die Ebene der Selbstverständigung. Entscheidender Bestandteil dieser Überprüfung ist für Habermas offensichtlich U: »Der Universalisierungsgrundsatz funktioniert wie ein Messer, das einen Schnitt legt zwischen ›das Gute‹ und ›das Gerechte‹, zwischen evaluative und streng normative Aussagen.« (DE: 113) Die Inhalte würden mittels U »im Diskurs so bearbeitet, daß partikulare Wertgesichtspunkte als nicht konsensfähig am Ende herausfallen« (ibid.). Es ist jedoch völlig unklar, wie U hier als verlässliches »Messer« fungieren soll. Am Diskurs natürlich auch zu beteiligende Rassisten könnten sich uneinsichtig zeigen und auch nach ausgedehnter Diskussion ihre Zustimmung verweigern, indem sie z. B. die Einordnung der Materie in Zweifel ziehen, da ihre rassistische Einstellung als Resultat eines Selbstverständigungsprozesses eine persönliche Wertentscheidung sei. Dagegen ließe sich zwar mit Habermas vorbringen, dass die moralische Ebene immer dann erreicht sei, »sobald meine Handlungen die Interessen anderer berühren und zu Konflikten führen« (VP: 105), was im Falle eines praktizierten Rassismus zweifellos der Fall wäre. Die Rassisten könnten allerdings mit Recht die Trennschärfe des Kriteriums bemängeln. Schon das Tragen eines Kopftuchs, kann in bestimmten Kontexten die Interessen anderer (religiöser) Menschen berühren und zu Konflikten führen, wie es die Entwicklungen der neuesten Zeit immer wieder bestätigen. Dass die Bewohner einer Lebenswelt mit ihren persönlichen Wertentscheidungen Interessen anderer berühren und Konflikte hervorrufen, ist in den seltensten Fällen für alle Kontexte auszuschließen. Dies kann jedoch keinesfalls bedeuten, dass solche Entscheidungen auf der Basis von Diskursen getroffen werden müssten. Diese Argumentationen bräuchte die Gruppe der Rassisten allerdings nicht einmal zu bemühen, denn Habermas scheint der Meinung zu sein, ein einziger subjektiv argumentationsbereite aber dissentierende Diskursteilnehmende reiche unter Umständen aus, um die Materie dem praktischen Diskurs zu entziehen und anderen Verfahren zuzuweisen. »So kann das Scheitern von Argumentationsversuchen im Bereich der Praxis auch den Sinn haben, sich darüber klar zu 95 »Praktische Diskurse müssen sich ihren Inhalt geben lassen.« (DE: 113)

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werden, daß keine moralischen Diskurse, sondern Selbstverständigungsdiskurse [...] am Platz sind« (IN: 126). Hartnäckiger Dissens in praktischen Diskursen soll also als Indikator für ethische Materien fungieren. Ein für unsere moralische Intuitionen kaum akzeptables Ergebnis rückt also in den Bereich des Möglichen: Rassismus könnte – geht man vom worst case scenario aus – zur persönlichen Wertentscheidung des Individuums werden. Zweifellos handelt es sich hier um eine zugespitzte Konstruktion, aber auch Habermas selbst vertritt zeitweilig einen sehr weiten Wertbegriff. Im Zusammenhang mit einer Diskussion von Webers Ansichten hinsichtlich der Praxis der Euthanasie führt Habermas aus, die medizinische Berufspraxis sei als »Heilpraxis an einen bestimmten Wertinhalt, der Gesundheit von Patienten, ausgerichtet [...]. Dieser Wert ist empirisch fast allgemein akzeptiert, gleichwohl handelt es sich um ein partikulares Wertmuster, das keineswegs intern mit einem der universalen Geltungsansprüche verknüpft ist« (TKH I: 344). Habermas vertritt hier also die Ansicht, die Gesundheit von Patienten gehöre zu der Kategorie partikularer Wertpostulate, von denen er später schreibt, man könne sie wählen »wie Automarken« (MKH: 141). Diese Ausführungen müssen umso mehr überraschen, als in der der Diskursethik nahe stehenden KohlbergForschung das Euthanasie-Dilemma von den Probanden als moralisches Dilemma ersten Ranges angesehen wird. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass sich zentrale moralische Normen kaum ohne den Rekurs auf das Postulat leiblicher Unversehrtheit bzw. Gesundheit rechtfertigen lassen.96 Mit Gesundheit als partikularem Wert zöge sich die Diskursethik aus dem Kernbereich moralischer Intuitionen zurück. Die diesbezüglichen Äußerungen Habermas’ sollen hier nicht überbewertet werden, andererseits hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass die Moralphilosophie ihre Zuständigkeitsansprüche drastisch reduzieren muss, um ihre Konfliktlösungspotentiale nicht zu überfordern.97 Angesichts der vielfältigen Probleme einer deontologischen Trennung der Materien haben zahlreiche Kritiker vorgeschlagen, diese aufzugeben. Insbesondere in modernen multikulturellen Gesellschaften sei damit zu rechnen, dass Probleme immer nur als Amalgam moralischer und ethischer Fragen aufträten.98 96 Vgl. Döbert 1986: 115 f. 97 So zählt Habermas beispielsweise auch Minderheitenkonflikte nicht zu moralischen, sondern zu »Fragen des ethisch-politischen Selbstverständnisses« (VZ: 144). 98 So z. B. Thoma 1997: 356; Zweifel an einer möglichen Trennung der Materien äußert auch Blanke: »Wenn wir über ein sicheres Kriterium für diese Unterscheidung verfügten, wüßten wir dann nicht bereits, welche Normen gerechtfertigt sind und welche nicht?«

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McCarthy spitzt diesen Vorwurf proto-kommunitaristisch dahingehend zu, dass in noch so abstrakten moralischen Fragen kein Konsens möglich sei, »when there are fundamental divergences in value orientations [...] We cannot agree on what is just without achieving some measure of agreement on what is good.«99 Um seine Position zu verteidigen, führt Habermas die Möglichkeit der Thematisierung und Revision von Bedürfnissen im Diskurs an, die jedoch selbst, wie gezeigt, eine gewisse Gefahr für den Versuch einer konsequenten Trennung von Wert- und Normfragen darstellt. Im Folgenden konzediert er den Rückzug der Moral: »Gewiß schrumpft das Universum derjenigen Fragen, die sich unter dem moralischen Gesichtspunkt rational beantworten lassen, im Zuge einer Entwicklung zur multikulturellen Gesellschaft im Inneren und zur Weltgesellschaft im internationalen Verkehr.« (EDE: 202) Angesichts dieser Entwicklung glaubt Habermas jedoch die ständig wachsende Bedeutung der Diskursethik demonstrieren zu können: »Aber um so relevanter wird die Lösung dieser wenigen und nur um so schärfer fokussierten Fragen.« (Ibid.) Nur ein wenn auch schmales Band geteilter Moralvorstellungen, die aus dem diskursethischen Verfahren hervorgehen sollen, kann die Konfliktpotentiale kulturell heterogener Gesellschaften entschärfen und die entsprechenden zentrifugalen Kräfte bändigen. Kulturelle Vielfalt und moralischer Universalismus sind in Habermas’ Vorstellung zwei Seiten der gleichen Medaille. Nur ein geteilter moralischer Minimalkonsens ermöglicht kulturelle Heterogenität und nur diese kann als Faktum den moralischen Universalismus vom Verdacht des konformistischen Konsenszwanges freisprechen.100 Es bleibt die Schwierigkeit, moralische Themen als solche zu isolieren und abgekoppelt von ethischen und politischen Fragen argumentativ Lösungen zuzuführen. Es hat den Anschein, als ob Habermas an einer Stelle sogar selbst die Möglichkeit der Trennung in Zweifel zieht. Nachdem er herausgearbeitet hat, dass ein Versicherungsbetrug sowohl von ethischer als auch von moralischer Seite aus analysiert und bewertet werden kann, stellt er die Frage: »Bleibt es dann nicht dem Belieben, bestenfalls einer prädiskursiven UrteilsBlanke 1991: 184; vgl. auch Dews 2000: 172, der allerdings rein traditionalistisch argumentiert. 99 McCarthy 1993: 191; vgl. eine klassisch-aristotelische Kritik an der Deontologie bei Finnis 1999. 100 »Erst an der radikalen Freisetzung individueller Lebensgeschichten und partikularer Lebensformen bewährt sich der Universalismus.« (VP: 116) Daher scheint mir die Kritik in: Rescher 1993: 127 und Wüstehube 1998: 90 f., die das Bild einer einzig auf der Basis von Konsensen funktionierenden Gesellschaft evozieren und entsprechend kritisieren, verfehlt.

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kraft des einzelnen anheimgestellt, ob wir ein gegebenes Problem unter Gesichtspunkten des Zweckmäßigen, des Guten oder des Gerechten auffassen und behandeln möchten?« (VP: 118) Der rhetorischen Frage folgt keine Antwort. Doch dieses mit der deontologischen Differenzierung einhergehende Grundproblem dem »Gespür für Sortierung« (ibid.) der Teilnehmenden aufbürden zu wollen, muss als äußerst unbefriedigende Lösung angesehen werden. Aussichtsreicher scheint es, den gegen McCarthy gerichteten Argumentationsstrang weiterzuverfolgen. Habermas gesteht zu, dass der Kernbestand moralischer Fragen immer weiter schrumpft, wie weit, bleibe »eine empirische Frage« (EDE: 203). Um den Bankrott der deontologischen Unterscheidung nachzuweisen, müsse schon gezeigt werden, »daß moralische Diskurse [...] leerlaufen müssen, weil sich gemeinsame Interessen im Lichte inkommensurabler Sprachen überhaupt nicht mehr identifizieren lassen« (ibid.). Dies sei nicht zu beobachten, da sich im Bereich der Grundrechte oder bestimmter Fundamentalnormen wie dem Tötungsverbot immer breitere Konsense abzeichneten. Eine Diskursethik, der man nur noch die Begründung von einigen wenigen Fundamentalnormen mit Sicherheit zuweisen kann, mag zwar unbefriedigend erscheinen, aber für die weitere Argumentation sei unterstellt, in praktischen Diskursen könnten zumindest Normen wie das Tötungsverbot erfolgreich gemäß dem diskursethischen Verfahren begründet werden. Dann müsste die deontologische Diskursethik noch immer eine weitere Klippe umschiffen, die im Meer der Applikationen lauert. Nur wenn es möglich ist, die Ergebnisse praktischer Diskurse umzusetzen, ohne hierfür auf eine lebensweltliche Sittlichkeit zurückgreifen zu müssen, kann tatsächlich von einer gelungenen deontologischen Differenzierung gesprochen werden, die ansonsten im Moment der Anwendung wieder ausgehebelt würde. Das Problem der Anwendung In seinen Ausführungen zur Diskursethik betont Habermas immer wieder, dass ihr Gegenstand allein die Begründung von Normen sei. Davon sei die Anwendung von Normen strikt zu trennen. Mit dieser Unterscheidung von Begründung und Anwendung versucht er, bestimmte Kritiken ins Leere laufen zu lassen, da es sich bei den dargestellten Problemen nicht um solche der Begründung, sondern der Anwendung handele. Viele Kritiker betonen beispielsweise, dass »unmoralisches« Verhalten in bestimmten Kontexten zur moralischen Pflicht werden kann: »Deception not only is an acceptable and pragmatic tactic

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in succeeding in business; under certain circumstances, deception is morally mandated by the kind of morality attendant upon the role of the agent not only in business but in many other professions as well.«101 Bedenken, die aus diesem Konzept der »role morality« erwachsen, stehen in engem Zusammenhang mit Zweifeln, die schon Weber geäußert hatte: »Aber ist es denn wahr: daß für erotische und geschäftliche, familiäre und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zur Ehefrau, Gemüsefrau, Sohn, Konkurrenten, Freund oder Angeklagten die inhaltlich gleichen Gebote von irgendeiner Ethik der Welt aufgestellt werden könnten?«102 Doch im Gegensatz zu Kettner, der eine nur »bereichsspezifische Relevanz«103 der Diskursethik durch den Nachweis ihrer »konkreten Allgemeinheit«104 abzustreiten versucht, liegen diese Probleme für Habermas außerhalb des diskursethischen Terrains im engeren Sinne. Sie könne nur die Geltung von Normen begründen; die in einem spezifischen Kontext gestellte Frage »Was tun, wenn ich moralisch handeln will?« lässt sich nicht im direkten Durchgriff auf die Ergebnisse eines Begründungsdiskurses beantworten. Um zu entscheiden, welche geltende Norm in einem bestimmten lebensweltlichen Zusammenhang Anwendung finden soll, bedarf es einer Rekontextualisierung der Ergebnisse des praktischen Diskurses. Doch lässt sich eine Sequenzierung von Begründung und Anwendung, wie sie Habermas vorschwebt, tatsächlich ohne Weiteres durchführen? Gegen diese Annahme lässt sich einwenden, dass wir den Sinn einer zu begründenden Norm verstehen müssen und dass wir diesen Sinn vornehmlich anhand von Fallbeispielen begreifen. Welche Bedeutung beispielsweise das Tötungsverbot als moralische Norm hat, verstehen wir erst vollständig, wenn wir wissen, wie diese Norm in Konflikten über Stammzellenforschung oder Schwangerschaftsabbruch wirkt. Der Anwendungskontext ist also mit dem Begründungskontext eng verwoben. Habermas hat gegen Einwände bezüglich einer möglichen Sequenzierung folgende Unterscheidung vorgeschlagen. Zwar müsse man Begründungsdiskurse durch Beispiele hinsichtlich der in Frage stehenden Norm illustrieren, aber davon lasse sich die tatsächliche Anwendung der Norm in einer konkreten Situation unterscheiden (vgl. EDE: 139 f.). Abgesehen davon, dass Habermas keine Unterscheidungskriterien nennt, dürfte diese Differenzierung mit Hinblick auf die Anforderungen von U kaum haltbar sein, fordert die101 102 103 104

Overvold 1997: 292. Weber 1992: 172. Ofsti 1997: 64. Kettner 1992: 317.

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ses doch, dass alle Folgen und Nebenwirkungen einer Norm akzeptabel sein müssen: »Examples draw attention to the situations and consequences we can expect – and it is, after all, ‚the consequences and side effects’ that we must consider. The justification of norms, in other words, is not possible at all in abstraction from our expectations about how they will be applied; conversely, if examples did not illuminate possible or likely applications, what use would they be to us – as examples?«105

Hinter der Möglichkeit einer strengen Sequenzierung von Begründung und Anwendung steht also ein kaum zu vernachlässigendes Fragezeichen.106 Doch selbst wenn diese Möglichkeit zugunsten Habermas’ eingeräumt wird, bleiben beträchtliche Schwierigkeiten bei der Regelapplikation bestehen. Habermas hatte ursprünglich im Hinblick auf die Frage der Anwendung wenig Problembewusstsein signalisiert: »Die Anwendung von Regeln verlangt eine praktische Klugheit, die der diskursethisch ausgelegten praktischen Vernunft vorgeordnet ist, jedenfalls nicht ihrerseits Diskursregeln untersteht.« (DE: 114) In der Anwendung bedürfe es also einer klassisch aristotelischen phronesis, einer Urteilskraft, die mit dem sittlichen Empfinden eines spezifischen lebensweltlichen Kontextes korrespondiert. Damit würden jedoch die Bemühungen um eine Trennung von ethischen und moralischen Fragen auf der Begründungsebene ausgehebelt, in deren Rahmen Habermas hartnäckig darauf beharrt hatte, dass sich Normen unabhängig von einer konkreten Sittlichkeit als moralisch richtig rechtfertigen lassen. Die Diskursethik scheint die eigentliche Problematik völlig zu verfehlen bzw. diesen Bereich einem diffusen sittlichen Empfinden zu überlassen, von dem Habermas immer wieder behauptet hatte, es könne unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens nicht mehr überzeugen. Angenommen, es ließen sich in einem praktischen Diskurs die Normen »Du sollst nicht töten!« und »Alle Menschen haben ein Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung« begründen, dann ergäbe sich schließlich das eigentliche moralisch gehaltvolle Dilemma erst durch den Konflikt dieser Normen in einer Anwendungssituation, z. B. der Frage von Abtreibungen. Doch gerade dieses Problem will Habermas der lebensweltlichen phronesis überlassen, die keinerlei Gewähr für eine unparteiliche Anwendung derjenigen Normen bieten kann, deren 105 Cameron 2000: 181. Vgl. auch Warnke 1995b: 254. 106 Skepsis gegenüber der Möglichkeit der Sequenzierung findet sich auch bei Kettner, der zwar Begründungs- und Anwendungsfragen trennen will, jedoch allgemein von praktischen Diskursen, in denen beide Fragetypen behandelt werden, ausgeht. Vgl. Kettner 1993.

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Geltung von einem unparteilichen Standpunkt aus begründet wurde. Die empirisch relevanten Folgen der Diskursethik beschränken sich dann im schlechtesten Fall auf die Reproduktion der Vorurteile einer sittlichen Gemeinschaft.107 Diese missliche Situation bleibt auch Habermas nicht lange verborgen. 1986 formuliert er in einem Vortrag: »Auch die Diskursethik muß sich dem schwierigen Problem stellen, ob die Applikation von Regeln auf besondere Fälle eine Art von Klugheit oder reflektierender Urteilskraft erfordert, die an die lokalen Übereinkünfte der hermeneutischen Ausgangssituationen gebunden ist und somit den universalistischen Anspruch der begründenden Vernunft unterläuft.« (THE: 24)

Doch Habermas scheint es nun für möglich zu halten, den unparteilichen Standpunkt auch in die Anwendungssituation hinein zu verlängern. 1986 verweist er noch eher kursorisch auf »die von der juristischen Topik entwickelten Grundsätze der Beachtung aller relevanten Aspekte eines Falles oder der Verhältnismäßigkeit der Mittel« (THE: 24). In der Folge werden jedoch diese beiden Prinzipien zu den zentralen Elementen von Anwendungsdiskursen aufgewertet, da durch sie eine angemessene Applikation von Normen sichergestellt werden könne.108 Diese Anwendungsdiskurse sollen sich an Konrad Günthers Kohärenztheorie des Rechts orientieren. Dieser bringt das Prinzip der Angemessenheit, das in Anwendungsdiskursen die Funktion übernimmt, die U analog in Begründungsdiskursen zukommt, auf die Formel, dass sich die Rechtfertigung eines singulären Urteils auf die Menge aller einschlägigen normativen Gründe stützen muss, die aufgrund einer vollständigen Situationsdeutung jeweils relevant sind.109 Für Habermas scheinen damit die Bedenken weitgehend ausgeräumt zu sein. In Anwendungsfragen verweist er auf Günthers Theorie der Anwendungsdiskurse, insbesondere auf dessen Hauptwerk Der Sinn für Angemessenheit, dem es allem Anschein nach gelungen ist, befriedigende Lösungen zu finden. 107 Für die Situation von Frauen in fundamentalistischen Gesellschaften (katholisch, muslimisch etc.) wird sich durch den Nachweis der Geltung beider Normen kaum etwas ändern, solange das »sittliche Empfinden« der Entscheidungsträger dem Tötungsverbot eindeutig Vorrang gewährt. 108 Hier wird schon deutlich, dass Habermas immer weniger dazu bereit ist, Kohlbergs Moraltheorie eine bedeutsame Rolle für die Diskursethik zuzugestehen. Er vertraut in der Anwendungsthematik zunehmend auf Institutionen und Verfahren. Diese Tendenz, Lasten bzw. Verantwortlichkeiten von den Individuen zu den Institutionen/Verfahren umzuschichten, setzt sich bis Faktizität und Geltung fort. 109 Vgl. Günther 1988.

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Bei genauerer Prüfung ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Schon einige Ausführungen Günthers müssen skeptisch stimmen: Es sei »bei Normenkonflikten [zu] prüfen, welche Norm sich [...] am besten rechtfertigen läßt«110. Dies weist von der Anwendungs- auf die Begründungsebene zurück. Allerdings kann im Rahmen des praktischen Diskurses die Geltung einer Norm nur bejaht oder verneint werden. Unterschiedliche Grade der Rechtfertigung sind dem Begründungsdiskurs fremd. Günthers Vorschlag müsste dann dahingehend interpretiert werden, dass bei Normkonflikten diejenige Norm angewandt werden soll, deren Anwendung auf der Basis aller relevanten Gründe, d. h. einer vollständigen Situationsbeschreibung sowie der Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel am ehesten gerechtfertigt werden kann. Bezogen auf das Abtreibungsbeispiel dürfte es hinsichtlich der als »relevant« anzusehenden Gründe allerdings beträchtliche Divergenzen geben: »We must be able to give some content to the notion of relevance. But the content we give would seem both to depend upon and to differ with our values.«111 Eine überzeugte Christin wird als einzig relevant die Erhaltung gottgeschenkten Lebens ansehen, wohingegen aus eher säkularer Perspektive auch andere Aspekte, wie z. B. das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Frau als relevant angesehen werden können. Ebenso erscheint es äußerst fragwürdig, die Verhältnismäßigkeit von Mitteln, die für das Prinzip der Angemessenheit eine große Rolle spielt, halbwegs unabhängig von einem bestimmten kulturellen Vorverständnis bestimmen zu wollen: Eine fanatische Christin wird möglicherweise auch das Niederbrennen einer Arztpraxis für ein verhältnismäßiges Mittel halten, wenn es dazu dient, dort vorzunehmende Abtreibungen zu verhindern, da dieser Zweck alle Mittel heilige. Rechtsstaatlich gesinnte Abtreibungsgegnerinnen werden nur legale Mittel als verhältnismäßig ansehen, wohingegen Abtreibungsbefürworterinnen möglicherweise schon in legalen Geldstrafen eine völlig unverhältnismäßige Kriminalisierung von Bürgerinnen sehen könnten, die einzig ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung ausübten. All dies lässt darauf schließen, dass die Anwendungsformel von Habermas112 bzw. Günther eine Formel im negativen Sinn bleibt, da sie das Anwendungsproblem keineswegs löst, sondern nur die Frage »Welche Norm ist anzuwenden?« durch die Frage »Was ist relevant, verhältnismäßig und daher 110 Günther 1988: 307. 111 Warnke 1995a: 131. 112 Bezüglich verschiedener Gerechtigkeitsprinzipien argumentiert Habermas z. B.: »Das hängt davon ab, welches Prinzip auf die in allen relevanten Zügen vollständig beschriebene Situation am besten passt.« (IN: 119)

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angemessen?« ersetzt, ohne dass diese neue Frage eine unparteiliche Operationalisierung erleichtern würde. Ohne die Möglichkeit eines Konsenses in diesen Fragen grundsätzlich anzuzweifeln, kann aber von einer unparteilichen Anwendung, deren Verfahren gleichsam über den Niederungen der lebensweltlichen Sittlichkeit schwebt, wohl kaum die Rede sein. Im Übrigen hat sich Habermas selbst in den letzten diskursethischen Veröffentlichungen eher skeptisch gezeigt, was die Trennung von Norm- und Wertfragen im Falle des Abtreibungsdilemmas angeht: »Es könnte sich aber herausstellen, daß Beschreibungen des Problems der Abtreibungen stets mit einzelnen Selbstbeschreibungen von Personen und Gruppen, also mit deren Identitäten und Lebensentwürfen bzw. Lebensformen unauflöslich verwoben sind.« (EDE: 166) Am Ende dieser Ausführungen müssen folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: Eine deontologische Trennung von »Gutem« und »Gerechtem«, die unter anderem den universalistischen Ansprüchen der Diskursethik größere Plausibilität verschaffen sollte, gelingt auf der Ebene der Begründungsdiskurse nur sehr bedingt. Doch selbst in diesem Fall muss sich die Diskursethik vorhalten lassen, dass sie zu der Lösung einer Mehrzahl der drängendsten Fragen auf dem Gebiet der Moralphilosophie kaum etwas beizutragen vermag. Sie kann einige Fundamentalnormen – die sich jedoch auch ohne sie immer breiterer Anerkennung erfreuen113 – in ihrer Geltung rechtfertigen, doch der Bereich dieser rein moralischen Normen ist schwer einzugrenzen und jedenfalls sehr klein. Habermas’ Charakterisierung, »der moralische Gesichtspunkt bildet einen scharfen, aber engen Lichtkegel« (IN: 118), trifft daher nur zur Hälfte zu: Zwar ist der Kegel tatsächlich extrem eng, so dass er beinahe zu verschwinden droht, doch von einer »scharfen« Abgrenzung kann nicht die Rede sein. Die Anwendung von Normen stellt aus der Perspektive der Diskursethik nicht mehr als ein sekundäres Anschlussproblem dar.114 Entsprechend werden die Schwierigkeiten aufgrund von Normkollisionen massiv unterschätzt, obwohl hier doch zumindest in entwickelten Gesellschaften das größte moralische Konfliktpotential lagert. 113 Dubiel fasst das Dilemma der Diskursethik pointiert zusammen: »Die Fälle, die man als exemplarisch ansehen kann, sind entweder trivial – man könnte sie auch ohne diesen theoretischen Aufwand lösen – oder so komplex, daß sie auch mit dieser Theorie nicht zu lösen sind.« (Bonß et al. 1985: 87) 114 Von daher ist Müller-Doohms Einschätzung, die Stärke der Diskursethik liege in der Lösung von Anwendungsproblemen, eher abwegig. Vgl. Müller-Doohm 2000: 92.

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Zusammenfassend scheint mir daher der Vorwurf der Selbst-Suspendierung der Diskursethik schwerer zu wiegen als viele der anti-universalistischen Kritikpunkte.115 Bei Hilary Putnam findet sich der Bericht über ein Gespräch mit Habermas, in dessen Rahmen dieser gesagt habe: »Wir brauchen einige kategorische Imperative, aber nicht zu viele.«116 Mit einigem Sarkasmus ließe sich erwidern, dass die Diskursethik diese Maxime wohl etwas zu ernst genommen hat. Denn Habermas’ Versuch, die diskursethische Moral durch immer weitergehende Entschlackung universell begründungsfähig zu machen, hat dazu geführt, dass sie selbst im Falle einer gelungenen Begründung in die Gefahr gerät, in die Bedeutungslosigkeit abzudriften. Nach dieser kritischen Analyse der Diskursethik, kann nun das ethische Programm Foucaults, die Ästhetik der Existenz, vorgestellt und auf ihr kritisches Potential hin untersucht werden.

2.

Die Wende zur Ethik – Foucaults Spätwerk

2.1 Die Ästhetik der Existenz Die »ethische Wende«117 Foucaults wird schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre eingeleitet. Er erschließt sich in dieser Zeit neue Begrifflichkeiten, die ihm neue Perspektiven eröffnen. Insbesondere dem Begriff der »Führung« kommt zentrale Bedeutung für das Spätwerk zu. 1981 wendet Foucault den ursprünglich in einem anderen Zusammenhang entwickelten Führungsbegriff in dem Aufsatz Das Subjekt und die Macht erstmals auf eben dieses Verhältnis an und gibt ihm so eine völlig neue Wendung: »Perhaps the equivocal nature of the term conduct is one of the best aids for coming to terms with the specificity of power relations. For to conduct is at the same time to lead others [...] and a way of behaving within a more or less open field of possibilities. The exercise of power consists in guiding the possibility of conduct.« (SaP: 220 f.) 115 Hierbei handelt es sich also um die Reformulierung eines Vorwurfs, den schon Hegel gegen Kant geltend gemacht hatte, den Habermas jedoch als gegenstandslos ansieht, vgl. THE: 24. Schon Hegel hatte der kantischen Ethik, allerdings auf anderer Basis, vorgehalten, nur noch zu moralisch trivialen Ergebnissen kommen zu können, die keine substantielle Aussagekraft mehr hätten. 116 Putnam 2001: 283. 117 Vgl. Fink-Eitel 1992: 125.

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Damit wird eine Differenzierung zwischen »Geführtwerden« und »Selbstführung« möglich. Machtverhältnisse bestehen in einem agonistischen Spiel von Selbst- und Fremdführung. Foucault spricht den Subjekten also ausdrücklich wieder die Fähigkeit zu, sich reflexiv zu den Machtverhältnissen, in die sie eingebettet sind, zu verhalten, da sie nicht allein durch habitualisierende Machtpraktiken konstituiert sind: »The subject is constituted through practices of subjection, or, in a more autonomous way, through practices of liberation.« (Aesthetics: 50) Entsprechend kann Foucault nun klarstellen: »Power is exercised only over free subjects, and only insofar as they are free.« (SaP: 221) Macht definiert Foucault nun folgendermaßen: »In effect, what defines a relationship of power is that it is a mode of action which does not act directly and immediately on others. Instead it acts upon their actions: an action upon an action, on existing actions or those which may arise in the present or the future.« (SaP: 220) Das Problem eines nicht handlungsfähigen Subjekts hat Foucault mit dieser definitorischen Klarstellung gelöst. Von einem Macht-Determinismus kann nun keine Rede mehr sein, so dass Widerstand zumindest wieder denkbar wird.118 Im gleichen Aufsatz gelingt Foucault eine weitere Differenzierung, die gewisse Probleme der Genealogie lösen kann und die, genau genommen, erst die Freiheit des Subjekts ermöglicht: Machtverhältnisse charakterisiert er nun als ein agonistisches Kräftespiel, in das die Subjekte verwickelt sind. Er hält dies für unbedenklich. Machtbeziehungen seien nicht »etwas an sich Schlechtes [...]. Die Macht ist nicht das Böse« (FS: 25). Problematisch sind nicht die Machtverhältnisse per se, sondern Machtverhältnisse, die zu Herrschaftsverhältnissen gerinnen. Stabilisieren sich Machtverhältnisse zu »Blöcken«, die nur noch sehr bedingt reversibel sind, dann werden die agonistischen Machtspiele von vorneherein eingeschränkt oder gar völlig durch statische Herrschaftsverhältnisse ersetzt. Dies gilt es zu verhindern, und Foucaults Ethik formuliert unter anderem das Postulat, »Machtspiele mit dem geringsten Aufwand an Herrschaft zu spielen« (FS: 25), also beständig potentiellen und manifesten Verkrustungen von Macht entgegenzuarbeiten. Er versucht also zwischen grundsätzlich akzeptablen Machtverhältnissen und inakzeptablen Herrschaftsverhältnissen zu unterscheiden, wodurch der gegen die Genealogie gerichtete Anarchismus-Vorwurf zumindest in dem Aspekt, nie für etwas sein zu können und gegen jede Art von

118 In aller Deutlichkeit: »Wenn es in jedem gesellschaftlichen Feld Machtbeziehungen gibt, dann deshalb, weil es überall Freiheit gibt.« (FS: 20)

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Macht sein zu müssen, entkräftet werden kann.119 Wenn Foucault früher von Disziplinar- oder Bio-Macht gesprochen hatte, schien er damit ein irreversibles Herrschaftsverhältnis zu beschreiben und Widerstand undenkbar zu machen. Mit der begrifflichen Differenzierung, die Foucault auch als Selbstkritik betrachtet,120 ist diese Gefahr gebannt. Allerdings bleiben anarchistische Tendenzen auch nach dieser Revision erhalten, da Widerstand gegen jede Art von Herrschaftsverhältnis unabhängig von dessen Legitimation auf ähnliche Konsequenzen hinausläuft. Auf diese Problematik werde ich weiter unten noch einmal zu sprechen kommen (vgl. auch Kap. II 3.2.2). Foucault hat insbesondere die Wiedereinführung des Subjekts als eine Selbstkritik der Genealogie verstanden, die ohne eine Analyse der Selbstverhältnisse des Subjekts wichtige Phänomene ausgeblendet habe: »In Discipline and Punish a lot of things which were implicit could not be rendered explicit due to the manner in which I posed the problems« (Return: 244) und mit Blick auf die Fortsetzungsarbeiten zu Der Wille zum Wissen meint er: »The point was to reintroduce the problem of the subject which I had more or less left aside.« (Return: 253, vgl. auch GL: 11) Die Bände II und III von Sexualität und Wahrheit beschäftigen sich im Gegensatz zu Band I vornehmlich mit den Praktiken, durch die sich das Subjekt als solches konstituiert. Dies ist nicht als ein Rückfall in die Vorstellung eines kantischen Subjekts zu verstehen. Die Möglichkeit, sich als autonomes Subjekt zu konstituieren, wohnt nicht als transzendentale Eigenschaft allen Subjekten in gleichem Maß inne, sondern ist strukturiert durch die empirischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, in die das entstehende Subjekt eingebettet ist. Das zentrale Anliegen der Ethik Foucaults ist es, Möglichkeiten aufzuzeigen, sich selbst in Führung zu nehmen, um die eigene Identität nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Foucaults Rückgriff auf die Selbstpraktiken im alten Griechenland erklärt sich durch seine Auffassung, diese Ethiken seien mit einem Minimum an Zwang ausgekommen. Zwar gäbe es durchaus strenge Varianten wie den Stoizismus, aber das Praktizieren einer Ethik sei eine Wahlhandlung gewesen (Return: 245). Die Subjekte seien nicht, wie beispielsweise bei Kant, durch eine universale Vernunft, an der sie teilhaben, moralisch zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet gewesen. Die Griechen hätten sich nicht 119 »Ich bezog mich nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus, [der sich] grundlegend jeder Regierungsentfaltung widersetzt.« (WK: 52 f.) 120 »Ich selbst bin nicht sicher, ob ich zu Beginn meines Interesses am Machtproblem sehr klar darüber gesprochen und die notwendigen Wörter verwendet habe.« (FS: 26)

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einer Ethik als allgemeinem Gesetz unterworfen, sondern eine bestimmte Praxis benutzt, um ihr Verhältnis zu sich selbst nach bestimmten von ihnen gewählten Kriterien zu formen, ja, zu stilisieren. Die Wahl einer Ethik folgte nicht einem moralischen Imperativ, sondern basierte auf rein ästhetischen Kriterien.121 Diese Haltung scheint für Foucault auch noch für die Gegenwart plausibel zu sein: »From the idea that the self is not given to us I think there is only one practical consequence: We have to create ourselves as a work of art.« (GE: 351) Wenn es kein Wesen des Menschen gibt, das es mit Hilfe der Einsichten der Humanwissenschaften oder universeller Moralcodices zu verwirklichen gilt, dann kann dies nur bedeuten, dass die Subjekte sich nach rein ästhetischen Kriterien als menschliche Kunstwerke erfinden und formen können sollen.122 Foucaults Position in diesem Zusammenhang kann als Stellungnahme zugunsten einer »anarchischen Subjektivität«123 verstanden werden. Es handelt sich um die ontologische Annahme eines polyzentrischen Selbst der sich ständig dynamisch entwickelnden Machtverhältnisse, eines »Ich« als Prozess, das unendlich viele latente und manifeste Aspekte umfasst. Konsequenterweise gilt es daher, Festschreibungen, die ein Herrschaftsverhältnis an die Stelle der Machtspiele des Ich setzen würden, zu widerstehen und sich selbst mit dem Ziel in Führung zu nehmen, die Machtspiele zu freier Entfaltung kommen zu lassen und sie zu einem facettenreichen Persönlichkeitskunstwerk zu stilisieren. Trotz der Nähe dieser Konzeption zur antiken Vorstellung einer Ästhetisierung der eigenen Existenz verfällt Foucault nicht in einen realitätsfernen Graekizismus, indem er glaubte, die griechischen Selbstpraktiken einfach in die Moderne versetzen zu können, nicht zuletzt, weil einige Aspekte dieser Ethik nach heutigen Vorstellungen unvertretbar seien.124 Vielmehr will er mit dem Verweis auf die Griechen der Antike zeigen, dass die Art und Weise der modernen Selbstthematisierung unter moralischen und wissenschaftlichen Vorzeichen keineswegs selbstverständlich oder natürlich, sondern kontingent ist und andere Möglichkeiten existieren, die den Subjekten eine weit größere Wahlfreiheit las121 »It was a matter of knowing how to govern one’s own life in order to give it the most beautiful form possible.« (CfT: 458) 122 »Meiner Ansicht nach, ist es keineswegs notwendig, ethische Probleme auf wissenschaftliches Wissen zu beziehen.« (GE: 273) 123 Ich übernehme diesen Ausdruck von Schäfer, der den Subjektbegriff des späten Foucault sehr detailliert analysiert hat. Vgl. Schäfer 1995: 53 ff. 124 »Nein! Ich suche keine Ersatzlösung; man kann ein Problem nicht lösen, indem man die Lösung anderer Leute aus anderen Zeiten übernimmt.« (SaM: 71)

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sen (vgl. GE: 350).125 Foucaults letzte Schaffensphase stellt die Selbsterschaffung des Subjekts, die Freiheit, die eigene Existenz nach selbst gewählten Kriterien zu formen, in den Mittelpunkt. Aufgrund dieser Verschiebung, die mit Revisionen und Klarstellungen verbunden ist, hält Foucault es für angebracht, auch die Einordnung seines eigenen Werkes in die geistesgeschichtliche Tradition neu zu formulieren. 2.2 Aufklärung und Kritik In einem kurz vor seinem Tode veröffentlichten Text, einer Vorlesung über Kants Zur Beantwortung der Frage: ›Was ist Aufklärung?‹, positioniert sich Foucault zur Überraschung vieler zeitgenössischer Beobachter126 innerhalb der Traditionslinie der Aufklärung und versteht sich als ein Erbe Kants. Tatsächlich muss diese Einordnung verwundern, denn Foucault hatte in seinem Lebenswerk nur wenig Sympathie für die Ideale der Aufklärung, ihre Verherrlichung der Vernunft und ihre Fortschrittsgläubigkeit gezeigt. Kant war in Foucaults Werk nur als Protagonist im Rahmen der Entstehung des subjektphilosophischen Paradigmas und Urheber einer vermeintlich universellen Moral aufgetreten. Anhand dieses letzten Textes von Foucault kann jedoch in Verbindung mit dem schon sechs Jahre vorher gehaltenen, aber erst posthum veröffentlichten Vortrag Was ist Kritik? rekonstruiert werden, inwiefern Foucault diese Positionierung mit Recht vornehmen kann. In dem Vortrag von 1978 sieht Foucault folgende Verbindung: Kritik sei »die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung. Obwohl diese Definition bloß empirisch und ziemlich ungenau ist, maße ich mir an zu denken, daß sie nicht weit entfernt ist von jener Definition, die Kant gegeben hat: allerdings

125 »A critique is not a matter of saying that things are not right as they are. It is a matter of pointing out on what kinds of assumptions, what kinds of familiar, unchallenged, unconsidered modes of thought the practices that we accept rest.« (PC: 154) 126 Habermas, der erst kurz vor der Veröffentlichung des Philosophischen Diskurs der Moderne von der Vorlesung gehört hatte (vgl. Interview im Anhang) spricht in einer Fußnote von einer »eigentümlichen Vorlesung« (PhDM: 345, FN 1).

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nicht von der Kritik, sondern von der Aufklärung. [...] Was Kant als Aufklärung beschrieben hat, ist eben das, was ich als Kritik charakterisiere.« (WK: 14 f.)

Während Foucault also der Meinung ist, der erste Absatz entspreche in etwa Kants Formulierung von der Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit«, glaubt er, dass schon Kants Begriff der Kritik in gewisser Verschiebung zu dem der Aufklärung steht: Der Kritik gehe es um die Erkenntnis der Grenzen der Erkenntnis, was für Kant Voraussetzung von Aufklärung sei. Aus Foucaults Perspektive folgt nun eine bestimmte geistesgeschichtliche Traditionslinie der Art von Denken, die durch Kants Kritikbegriff charakterisiert ist und setzt diesen Aspekt der Aufklärung verkürzenderweise mit dem gesamten Phänomen der Aufklärung gleich. Die Linie reicht von Dilthey und Husserl bis zu Apel und auch noch bedingt zu Habermas. Diese fragen sich laut Foucault in unterschiedlichen Varianten: »Welche falsche Idee hat sich die Erkenntnis von sich selbst gemacht, welchem exzessiven Gebrauch sah sie sich ausgesetzt und an welche Herrschaft fand sie sich folglich gebunden?« (WK: 30) Sie wollen, mit anderen Worten, die universalen Strukturen der Erkenntnis erfassen und ihre Grenzen identifizieren. Foucault verortet sich in einer anderen Tradition, die sich ebenso mit Recht auf Kants Begriff der Aufklärung, wenn auch nicht den der Kritik berufen könne, und die von Hegel über Marx zu Nietzsche und der frühen Frankfurter Schule reiche. Mit dieser Linie teilt Foucault die Auffassung, dass »Kritik nicht länger als Suche nach formalen Strukturen mit universaler Geltung geübt wird, sondern eher als historische Untersuchung der Ereignisse, die dazu geführt haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen, zu konstituieren und anzuerkennen« (WK: 49). Foucault bezeichnet diese zweite Linie als »Ontologie der Gegenwart«, der es um eine Analyse der konkreten, historisch entstandenen Voraussetzungen der Erfahrung, Rationalitätsformen und Machtverhältnisse geht, um eine kritische Distanz zu diesen Phänomenen und eine Möglichkeit der Veränderung zu eröffnen.127 127 In einer interessanten Interview-Äußerung arbeitet Foucault seine Gemeinsamkeiten mit der Frankfurter Schule und die Unterschiede dieser Tradition gegenüber Habermas heraus, ohne jedoch dessen Projekt als falsch zu kritisieren: »Secondly, there is the problem raised by Habermas: if one abandons the work of Kant or Weber, for example, one runs the risk of lapsing into irrationality. I am completely in agreement with this, but at the same time, our question is quite different. […] How can we exist as rational beings, fortunately committed to practicing a rationality that is unfortunately crisscrossed by intrinsic dangers? […] it is precisely to accept this sort of spiral, this sort of revolving door of

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Aufklärung bezeichnet für Foucault ein Ethos, das darin besteht, die Gegenwart kritisch, im Sinne von skeptisch, begreifen zu wollen. Ein Ethos, das sich durchaus auch in Kants Texten über Aufklärung und Revolution finden lasse. Foucault macht also den »Analytikern der Wahrheit«, wie er die Vertreter der ersten Linie nennt, den Alleinvertretungsanspruch der Aufklärung streitig und stellt zuletzt die Frage: »Die Bewegung, welche die kritische Haltung in die Frage der Kritik hat umkippen lassen, die Bewegung, welche das Unternehmen der Aufklärung in das Projekt der Kritik hat übergehen lassen, worin sich die Erkenntnis von sich eine richtige Idee machen wollte [...] diese Verschickung der Frage der Aufklärung in die Kritik [...] müßte man nicht versuchen, jetzt den umgekehrten Weg einzuschlagen?« (WK: 41)

Foucault hat ein weiteres, letztes Mal die Kulissen verschoben und sich dort positioniert, wo ihn seine Kritiker am wenigsten erwarteten. Es wird nun zu klären sein, wie sich diese Verschiebung auf das Verhältnis zu den Konzepten Habermas’ auswirkt. Um diesen Vergleich jedoch auf Grundlage einer realistischen Einschätzung des kritischen Potentials der Ästhetik der Existenz vornehmen zu können, ist eine kritische Analyse von Foucaults Ethik unabdingbar, die hier zunächst vorgenommen wird. 2.3 Probleme der Ethik: Ästhetik der Existenz als elitärer Privatismus? Im Hinblick auf die Ästhetik der Existenz müssen Bedenken thematisiert werden, die Foucaults Fixierung auf das Gebiet der Ethik problematisieren. Sie berühren jedoch weniger die relativistischen Implikationen, auf die im Vergleichskapitel noch eingegangen wird, als die Ausblendung der sozialen Dimension einer Ästhetik der Existenz.128 Impliziert diese nicht einen elitären Privatismus, rationality that refers us to its necessity, to its indispensability, and at the same time, to its intrinsic dangers.« (SKP: 342) 128 In eine dritte Richtung weist der Versuch Seels, die Unhaltbarkeit einer solchen Ethik nachzuweisen: »Der grundsätzliche Einwand lautet, daß das Selbstverständnis von Subjekten prinzipiell anderer Art als die Verfaßtheit von Kunstwerken oder auch das Verhältnis zu Kunstwerken ist.« (Seel 1996: 20) Dieses grundsätzliche Argument, auf dem die weiteren kritischen Ausführungen fußen, lässt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn man die Kunstwerk- von der Künstlerthese trennt, was Seels erklärtes Ziel ist (vgl. ibid.). Für Foucault ist das Individuum zugleich Subjekt und Objekt der Ästhetik der Existenz, genauer ließe sich sagen, das Subjekt begreift den bios als Material, aus dem ein

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indem sie die sozioökonomische Basis für die Durchführung einer solchen Ästhetisierung des eigenen Lebens nicht thematisiert? Foucault hat solche Vorwürfe provoziert, indem er in einem Interview die Meinung äußerte: »Ich denke, daß wir uns von der Vorstellung frei machen müssen, daß eine notwendige oder analytische Verbindung zwischen der Ethik und den sozialen, ökonomischen oder politischen Strukturen besteht.« (SaM: 80) Bei diesen Formulierungen liegt es nahe, an die Polemik gegen den Liberalismus, dieser bestehe in der »Freiheit, unter Brücken zu schlafen«, zu denken. Man kann sich durchaus vorstellen, dass wohlhabende Intellektuelle ihr Leben an Foucaults Ethik ausrichten.129 Doch ist dies auch gerade den marginalisierten Gruppen möglich, auf die sich Foucault seit der genealogischen Phase bezog und die auch noch Anfang der achtziger Jahre einen entscheidenden Bezugspunkt seines kritischen Denkens darstellen?130 Es erscheint geradezu zynisch, Obdachlosen, Drogenabhängigen, Gefangenen, Prostituierten etc. gegenüber eine »Ästhetisierung der Existenz« zu propagieren, die in relativer Unabhängigkeit von sozioökonomischen Strukturen umgesetzt werden könne. Mindestens könnte man Foucault vorwerfen, dass sein Programm an den eigentlichen Problemen dieser Gruppen vorbeigeht.131 Foucault hat zweifellos keine ausreichend klaren Worte gefunden, um diese Vorwürfe zu entkräften. Doch betrachtet man die obige Aussage im Kontext des Werkes, kann ihnen einiges an Schärfe genommen werden. Foucault kehrt keineswegs zur Vorstellung eines kantischen Subjekts zurück, sondern begreift die Entstehung des Subjekts als gleichzeitige Selbst- und Fremdkonstitution durch gesellschaftliche Kräfte. Auch die Selbstpraktiken sind gesellschaftlich bedingt: »Das sind Schemata, die es [das Subjekt, T. B.] in seiner Kultur vorfindet, die ihm von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner sozialen Gruppe vorgeschlagen, nahegelegt und aufgezwungen werden.« (FS: 19) Die Fähigkeit zur ethischen Selbstbestimmung basiert also nicht wie bei Kant auf einem allen Menschen innewohnenden Sittengesetz, sondern ist kontingent und Kunstwerk erschaffen werden soll. Die Feststellung Seels, »das Kunstwerk verhält sich nicht zu sich«, kann nur durch diese zweifelhafte Trennung der Thesen den Anschein eines kritischen Einwandes erlangen, vgl. Seel 1996: 21. 129 Diesen elitären Eindruck der Ethik betont auch Daiber: »[...] von einem Angebot, welches Foucault hier breiteren Schichten der Bevölkerung zu machen hätte, kann daher keine Rede sein« (Daiber 1999: 123). Vorsichtiger Bevir 1999: 77. 130 »If one takes into account, women, prostitutes, homosexuals, drug addicts, etc., there is a force for questioning society that one has no right, I think, to neglect in the political struggle.« (OA: 120) 131 So auch Marti 1991: 1362.

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unterschiedlich auf die Subjekte verteilt. Sie ist abhängig von bestimmten Herrschafts- und Machtstrukturen, welche die Möglichkeit der Subjekte zur Selbstkonstitution jeweils unterschiedlich vorstrukturieren. Daher ist es entscheidend, Foucaults ethisches Programm mit seiner Forderung nach Widerstand gegen Herrschaftsverhältnisse zu verknüpfen. Diese Herrschaftsverhältnisse auf gesellschaftlicher Ebene, die ökonomischer, politischer oder militärischer Natur sein können (vgl. FS: 11), schränken die Machtspiele und dementsprechend auch die auf das Selbst gerichteten Freiheitspraktiken ein.132 Es scheint daher nicht überinterpretiert, Foucaults Kritik von Herrschaftsverhältnissen nicht zuletzt als eine Forderung nach umfassender Teilhabe an Bildungschancen, ökonomischen Ressourcen sowie politischen und rechtlichen Ansprüchen zu verstehen, die eine Ästhetik der Existenz erst ermöglichen (vgl. z. B. SS: 165). Entsprechend ist Foucaults Ethik auch keineswegs privatistisch,133 da ja die Arbeit an sich selbst nicht in einer abgeschotteten Privatsphäre erfolgt, sondern immer in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Zuschreibungen. Die »Arbeit an sich selbst« ist ohnehin nur ein Aspekt des Foucault’schen Programms, das erst mit der Aufforderung zum Widerstand gegen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und daher für umfassende sozioökonomische Teilhabe vollständig beschrieben ist.134 Man kann dem ethischen Programm eine gewisse Beliebigkeit vorwerfen, als elitären Privatismus kann man es bei näherer Betrachtung jedoch nicht bezeichnen. Die Ästhetik der Existenz lässt sich also durch die Einbettung in Foucaults Haltung zu »Herrschaft« und »Macht« gegen derartige Kritiken verteidigen. Das Verhältnis dieser Begriffe legt aber auch ein Paradoxon im Mittelpunkt der Ethik offen, auf welches hier abschließend kurz hinzuweisen ist: Das Kernstück der Ästhetik der Existenz ist ein noch ausführlicher zu behandelndes anarchisches Subjekt, dessen Ziel ein rein ästhetischer Umgang mit den frei fließenden Identitätsaspekten ist; der Mensch, der sich immer wieder neu erschafft. Diese Vorstellung korrespondiert offensichtlich mit der vergleichsweise positiven Würdigung von Macht- gegenüber Herrschaftsverhältnissen des späten Foucault: Die internen Machtspiele des Subjekts müssen von der Herrschaft einer fixen Identität befreit werden. Paradox scheint mir in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Foucault als unabdingbare Voraussetzung für die Ästhetisie132 So auch Bevir 1999: 77 f. 133 So jedoch Kammler 1986: 203. 134 Vgl. vor allem das Interview Freiheit und Selbstsorge, in dem die Verbindung dieser beiden Aspekte von Foucault energisch herausgearbeitet wird.

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rung der eigenen Existenz die askesis hervorhebt. Rigide, selbstauferlegte Verhaltenscodices und Selbstdisziplinierung durch Übung findet Foucault sowohl bei den auf Selbststilisierung bedachten Griechen als auch beim exemplarischen Menschen der Moderne, dem Dandy Baudelaires. Da die askesis in ihrer Charakterisierung bei Foucault kaum ohne eine gewisse Art der Herrschaft über sich selbst gedacht werden kann,135 tritt hier zumindest eine gewisse Dialektik von Herrschaft und Machtspielen zutage: Nur durch die Ausübung von Herrschaft über sich selbst wird ein ästhetisches Machtspiel der Identitätsfragmente möglich. Stilisierung und Selbsttransformation bedeuten, »sich als Objekt einer komplexen und harten Arbeit zu sehen« (WA: 44), die von Zwang und Herrschaftseffekten nicht getrennt werden kann. Im Folgenden können nun die ethischen/moralphilosophischen Programme aufeinander bezogen und auf Kooperationspotentiale hin untersucht werden.

3.

Diskursethik und Ästhetik der Existenz: Vergleich und Vermittlungsmöglichkeiten

3.1 Ethik und Moral – Auf dem Weg zu einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung Eine inhaltliche Gegenüberstellung der »ethischen« Phasen Foucaults und Habermas’ lässt sich zunächst mit den Bezugnahmen beider Denker selbst einleiten. Habermas hat nach eigener Aussage die Bände II und III von Sexualität und Wahrheit gelesen, aber das Spätwerk Foucaults nicht mehr ausführlich in seinen Texten thematisiert. Laut Habermas hat Foucault als Reaktion auf seine Bedenken gegenüber der Genealogie auf die Bände II und III verwiesen: Diese könnten Habermas’ Bedürfnis nach theoretischer Fundierung eher entsprechen. So hat dann auch Habermas Foucaults ethische Wende in einer Traueradresse anlässlich des Todes Foucaults als ein Resultat der Widersprüche der Genealogie aufgefasst (TA: 154). Auch auf konkrete Nachfrage des Verfassers hat sich Habermas immer nur ausweichend zu Foucaults ethischem Programm geäußert. Er glaube nicht, »daß der ästhetische Existenzentwurf Foucaults letztes Wort geblieben wäre« (IRM: 35). Hinsichtlich Foucaults Neu-Positionierung in der 135 In aller Deutlichkeit: »[...] was impliziert, daß man zu sich ein Herrschaftsverhältnis herstellt [...]« (FS: 14).

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Aufklärungstradition sieht er im Nachhinein jedenfalls eine gemeinsame Diskussionsgrundlage und geht davon aus, dass beide voneinander hätten lernen können. Trotz dieser weitgehend versöhnlichen Töne fällt noch in den Äußerungen zum Spätwerk Foucaults auf, dass Habermas dessen Dynamik nur verkürzt wahrnimmt. Selbst auf den Ethiker Foucault projiziert er den neutralen Blick des proto-strukturalistischen Archäologen Foucault und übersieht völlig die Entwicklung der Foucault’schen Erkenntnisansprüche.136 Foucault wiederum hat in seinen letzten Interviews en passant auf Habermas Bezug genommen. Seine Äußerungen sind dabei sowohl von Sympathie als auch Skepsis gekennzeichnet. Er akzeptiert zwar die »Vorstellung einer konsensuellen Politik [...] als kritisches Prinzip im Hinblick auf andere politische Formen« (PE: 706), um dann allerdings zu ergänzen, man könne höchstens gegen Nicht-Konsensualität sein (s. o.). Die gleiche Ambivalenz findet sich in einem Interview, das Foucault zur Wohlfahrtsstaat-Problematik gegeben hat. Er ist der Meinung, die Entscheidung, welche individuellen Risiken von sozialen Sicherungssystemen abgedeckt werden sollen, könne nur auf der Basis eines »ethical consensus« (SS: 174) getroffen werden. Dem würde Habermas fraglos zustimmen. Doch einige Zeilen später folgt schon wieder eine Einschränkung. Diese Konsense dürften sich nicht zu »strict regulations« (ibid.) auswachsen. Direkt auf das Verhältnis zu Habermas angesprochen, äußert sich Foucault folgendermaßen: »Ich interessiere mich sehr für das, was Habermas macht [...], aber es gibt da etwas, was mir immer Probleme bereitet: [...] Die Vorstellung, daß es einen Zustand der Kommunikation geben kann, worin die Wahrheitsspiele ohne Hindernisse, Beschränkungen und Zwangseffekte zirkulieren können.« (FS: 25) Vor dem Hintergrund dieser Aussagen gilt es nun die Relation zwischen den ethisch-moralischen Spätwerken beider Denker zu klären. Die Schwierigkeiten eines Vergleichs beginnen schon bei den zentralen Begriffen beider Phasen, nämlich »Ethik« und »Moral«. Bei Foucault bleibt eine mögliche Differenz beider Begriffe unscharf. Oftmals werden sie synonym verwendet (vgl. z. B. GL: 17), und nur an wenigen Stellen wird deutlich, dass Foucault eine Unterscheidung vor Augen zu haben scheint, die der deontologischen Differenzierung Habermas’ zumindest nahe kommt.137 Er spricht in den me136 Er unterstellt Foucault noch immer »the attitude of the observer obsessed with objectivity« (TA: 149). 137 Auch Bevir vertritt die Ansicht: »Foucault distinguished [...] between morality and ethics.« Allerdings decken sich die Definitionen nicht vollständig mit denen Habermas’. (Bevir 1999: 75)

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thodischen Betrachtungen, die am Anfang von Der Gebrauch der Lüste stehen, von »diesen ›zur Ethik orientierten‹ Moralen« im Gegensatz zu »den ›zum Code orientierten‹ Moralen« (GL: 42). Während letztere durch strenge Verhaltensgebote und -verbote sowie Verfahren und Institutionen gekennzeichnet sind, welche die Einhaltung dieser Codices sanktionieren, haben Erstere eher eine gewisse Haltung, eben ein Ethos, zum Gegenstand. Eine Anleitung zum guten Leben, die angenommen aber auch abgelehnt werden kann, ohne dass damit Sanktionen verbunden wären. Foucaults eigener Entwurf einer Ästhetik der Existenz ist selbstredend in diesem »ethischen« Bereich anzusiedeln. Eine sehr ähnliche Differenzierung zwischen einem »harten« Bereich der Moral und einem »weichen« Bereich der Ethik existiert bei Habermas, der die Begriffe auch weitgehend konsequent benutzt.138 Für ihn ist die Differenzierung ein zentraler Bestandteil der Diskursethik, da auf ihr deren deontologischer Charakter basiert. Diese Ähnlichkeit darf jedoch nicht über gewisse Unterschiede hinwegtäuschen: Während es für Foucault nur das Phänomen der Moral gibt, die zu den Polen einer Codex- oder einer Ethik-Orientierung tendieren kann, will Habermas mit der deontologischen Differenzierung zwischen einem Bereich des Moralischen und des Ethischen unterscheiden. Auch die Untersuchungsgegenstände der beiden Moral- bzw. EthikForscher unterscheiden sich trotz gewisser Ähnlichkeiten. Habermas begreift das Phänomen der Moral weitgehend makro-soziologisch, indem er ihre Schutzfunktion in einer von versehrbaren Individuen bevölkerten Gesellschaft hervorhebt. Entsprechend begreift er seine Ausarbeitung eines Verfahrens praktischer Diskurse als Beitrag zu diesem Schutz von Individuum und Gemeinschaft gleichermaßen. Foucault verfolgt genau genommen zwei Projekte, die sich jeweils komplementär zu dem von Habermas verhalten. Die substantiellen Analysen in Sexualität und Wahrheit II und III nehmen gegenüber Habermas’ Untersuchungen den Platz einer Mikro-Analyse ein. Foucault differenziert bezüglich des Phänomens »Moral« zwischen der Analyse von Moralcodices und der Analyse der Art und Weise, wie sich Individuen zu diesen Codices verhalten, wie sie »sich als Subjekte von Moralverhalten [...] konstituieren« (GL: 41).139 Nur dieser 138 Ironischerweise ist es gerade der Name des Programms, Diskursethik, der mit der konsequenten Begriffsverwendung bricht. Ihr Hauptgegenstand ist ja gerade der moralischpraktische Diskurs, während sie sich, was den Umgang mit ethischen Fragen angeht, sehr zurückhaltend gibt. 139 Foucault unterscheidet noch einen dritten Aspekt in der Betrachtung von Moral/Ethik, der hier aber nicht von Belang ist.

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letzte Aspekt, den Foucault noch einmal im Zuge einer Operationalisierung in vier verschiedene Elemente unterteilt, ist für ihn von Interesse.140 Die Stärke dieser wahrhaft mikroskopischen Analyse zeigt sich in den Untersuchungen in Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich. Foucault kann zeigen, dass die Unterschiede zwischen den Sexualmoralen der griechischen und der römischen Antike, ja selbst des frühen Christentums, weniger im Inhalt, also den jeweiligen Codices zu finden sind, sondern vielmehr in den subtilen Veränderungen, der Art und Weise, sich gegenüber den Codices zu verhalten. Das zweite Projekt Foucaults, von dem hier hauptsächlich die Rede war, wird in Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich zwar erwähnt, ist aber weit davon entfernt, im Mittelpunkt zu stehen. Die Ästhetik der Existenz ist ein Entwurf, der zumindest als ein normatives Konzept fast gänzlich auf Interview-Äußerungen Foucaults zurückgeht, wobei er jedoch am Ende eines Denkprozesses steht, für den die Analysen der griechischen Ethik von großer Bedeutung sind. Betrachtet man diese Zweiteilung der Ethik, so scheint sie auch für eine partielle Entpolitisierung Foucaults zu sprechen, zumindest, was Sexualität und Wahrheit II und III angeht. Sie geben sich in ihrem strengen Aufbau und auch in ihrer nüchternen, keineswegs suggestiven Sprache für Foucaults Verhältnisse ungewohnt akademisch. Auch der Gegenwartsbezug, der in den früheren Werken aus jeder Zeile sprach oder besser, zwischen jeder Zeile zu lesen war, ist weitgehend verschwunden. Diesen schon beinahe provozierend deskriptiven Arbeiten steht Foucaults sonstige intellektuelle Aktivität (z. B. im Rahmen von Interviews) gegenüber, die höchst normativ aufgeladen ist. Zwischen beiden Aspekten von Foucaults Ethik besteht ein interner Zusammenhang. Die Ästhetik der Existenz ist inspiriert von Phänomenen, die Foucault insbesondere in Der Gebrauch der Lüste im Rahmen der griechischen Sexualethik bzw. -moral untersucht hat. Der weitgehend freiwillige Charakter dieser Ethik, ihre Individualität etc. stehen Pate für Foucaults eigene Formulierung einer Ethik, die sich jedoch keineswegs auf die von ihm für das antike Griechenland herausgearbeitete reduzieren lässt. Dieses eher normativ ausgerichtete Projekt verhält sich insofern komplementär zu Habermas’ Diskursethik, als es hier zweifellos um den Entwurf einer Ethik, einer bestimmten Haltung, und nicht den einer Moral – im Habermas’schen Sinn – geht. Diesem mutmaßlichen doppelten Komplementärverhältnis kommt eine gewisse Signifikanz in der Frage zu, inwieweit Habermas’ 140 Foucault interessiert also nur das, was er den ethischen Aspekt der Moral nennen würde, daher ließe sich darüber streiten, ob Foucault, wenn er im Folgenden von Moral spricht, nicht eigentlich eher das meint, was Habermas Ethik nennen würde.

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Vorwürfe gegenüber der Genealogie auch noch den Ethiker Foucault zu treffen vermögen. Der Vorwurf der Einseitigkeit, den Habermas gegen die Genealogie erhoben hatte, ist nach den Revisionen Anfang der achtziger Jahre gegenstandslos geworden.141 Es steht nun außer Frage, dass das Subjekt mehr als ein Machteffekt ist, und mit der Unterscheidung von Macht- und Herrschaftszuständen kann Foucault kaum noch ein in bedenklicher Weise holistisches Gesellschaftsbild vorgeworfen werden.142 In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, dass Foucault hier einen Schritt unternimmt, der sich in ähnlicher Weise, jedoch erst in einer späteren Phase, auch bei Habermas findet (vgl. weiter unten Kap. IV 1.1 u. IV 1.3.1). Beide entwickeln immer differenziertere Definitionen von bestimmten Macht- und Herrschaftsmodi.143

141 Am Rande ist hier anzumerken, dass es auch in der Konzeption des Subjekts zu einer Annäherung kommt. Foucaults Wiedereinführung eines Minimalsubjektes steht eine immer konsequentere Loslösung Habermas’ von der Erbmasse der Psychoanalyse gegenüber. Doch auch noch diese Entwicklung vermag einen grundsätzlichen Unterschied nicht zu überdecken: Beide Denker betrachten zwar den Prozess der Individuierung als einen Prozess der Vergesellschaftung, doch während Habermas vornehmlich daran interessiert ist, die Bedingungen für das Gelingen des seiner Ansicht nach grundsätzlich positiven Prozesses der Individuierung zu bestimmen, die unter anderem in der schützenden Institution einer Moral angesiedelt sind, ist für Foucault Individuierung noch immer untrennbar mit einem Zwangsmoment verbunden, gegen welches sich ja seine Ethik beständig wendet. »Gelingen« kann Individuierung grundsätzlich nicht. Geht es Habermas darum die »positive« Individuierung zu ermöglichen, so sucht Foucault nach Wegen, sich gegen ihre notwendig negativen Effekte zu wenden. Es handelt sich wohl eher um unterschiedliche Fokusse als eine völlige Idealisierung durch Habermas wie Meehan meint, vgl. Meehan 1994. 142 Foucault kann daher mit Recht formulieren: »One cannot impute to me the idea that power is a system of domination which controls everything and which leaves no room for freedom.« (EC: 13) 143 Interessanterweise kritisiert Foucault an Habermas eine mangelnde Differenzierung der Begriffe: »But what makes me uncomfortable with these analyses – at least those by Habermas – is the fact that when he speaks about power, he always understands it as domination. And he translates ›power‹ by ›domination‹«. (P: 416) Diese Einschätzung trifft jedoch nur zu, wenn man Foucaults eigenen, spezifischen Herrschaftsbegriff zugrunde legt. Grundsätzlich liegt die diesbezügliche Problematik zumindest in der TKH eher in der Vermischung von verschiedenen Machtbegriffen, nämlich vor allem dem von Weber und Parsons. In der noch zu behandelnden Demokratietheorie Habermas’ kommt es zu einer entsprechenden Differenzierung. Vgl. weiter unten Kapitel IV 1.3.1.

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Der gravierendste Einwand von Habermas bezog sich auf die mangelnde normative Fundierung der Genealogie. Ein Aspekt dieses Einwandes trifft den Ethiker Foucault nicht mehr: Von Krypto-Normativismus, also Bezugnahme auf normative Kriterien, die eigentlich aus dem Konzept ausgeschlossen bleiben sollen, kann hier nicht mehr die Rede sein. Foucault legt den zentralen Wert seiner Ethik offen, die freie Gestaltung der eigenen Existenz. Er basiert, wie oben schon erläutert, auf der ontologischen Annahme eines Selbst ohne Wesen, einer anarchischen Subjektivität. Es muss jedoch betont werden, dass es sich hierbei um eine völlig subjektive Wertsetzung Foucaults handelt, der bezüglich einer solchen Vorstellung streng genommen mit keinerlei umfassendem Wahrheitsanspruch auftreten darf. Dann scheint es jedoch nach wie vor angemessen zu sein, auch noch dem Spätwerk Foucaults aus Habermas’ Perspektive unverhohlenen Relativismus vorzuwerfen,144 da Foucault sich weigert, seine Annahme zu begründen oder gar streng wissenschaftlich zu beweisen, weil ihn dies ja in Widerspruch zu seinem eigenen Paradigma des Perspektivismus bringen würde. Hier greift nun aber das oben herausgearbeitete Komplementärverhältnis zwischen Habermas’ Moral und Foucaults Ethik. Foucaults Ästhetik der Existenz ist ein Entwurf des guten Lebens, eine Konzeption, die es den Individuen ermöglichen soll, ihre Subjektivität frei zu gestalten. Doch spätestens mit der Konzeption einer deontologischen Diskursethik, die Fragen des guten Lebens jenseits der vergleichsweise strengen Verfahren des praktisch-moralischen Diskurses angesiedelt sieht, träfe der Relativismus-Vorwurf nur noch eine Foucault’sche Moral im Habermas’schen Sinne im vollen Umfang. Schließlich haben die Erläuterungen in Kapitel III 1.2.5 gezeigt, dass sich auch die Diskursethik über die Behandlung evaluativer Fragen einigermaßen im Unklaren ist und zwischen den Polen einer Analogie zum moralischen Diskurs auf der einen Seite und der Überantwortung an Selbstverständigungsprozesse des Individuums auf der anderen Seite oszilliert. Dabei tendiert Habermas trotz allem in Ermangelung einer Theorie des ethischen Diskurses zumindest in der diskursethischen Phase zu letzterer Option. Auf diesem Terrain schwankt der Boden also auch im Reich der Diskursethik. Eine universelle Rechtfertigung von Werten hält auch Habermas nicht für möglich, so dass der Relativismus-Vorwurf aufgegeben werden und die Ästhetik der Existenz als subjektiv wählbare, legitime Art und Weise, mit evaluativen Fragen umzugehen, akzeptiert werden muss.

144 Darauf weist beispielsweise Bernstein 1989: 423 hin.

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Hier ist nun die Hypothese zu überprüfen, ob sich also möglicherweise eine Art ethisch-moralische Arbeitsteilung zwischen der Moralphilosophie Habermas’ und der Ethik Foucaults konstruieren ließe? Diese könnte die normative Problematik, die auch beim späten Foucault erhalten bleibt, nämlich die vehemente Marginalisierung von Normen gegenüber Werten, mindern. Die These einer Marginalisierung der Moral in Foucaults Ästhetik der Existenz muss hier zunächst untermauert werden. Foucault ergreift Partei für das anarchische Subjekt, das unabhängig von moralischen Codices sein Leben nach bestimmten Werten auf der Basis ästhetischer Kriterien gestaltet.145 Hier ist zunächst noch einmal festzuhalten, dass es sich bei dieser Parteinahme um eine aus Foucaults Perspektive nicht weiter begründungsfähige ontologische Annahme handelt, die dementsprechend mit keinerlei umfassendem Wahrheitsanspruch auftreten kann. Überspitzt gesagt, kann Foucault an die anarchische Subjektivität nur glauben und für diesen Glauben mit historisch-empirischen Studien werben. Welche engen argumentativen Grenzen einer solchen Kritikkonzeption gesteckt sind, zeigt sich allerdings besonders deutlich, wenn man sich die Foucault’sche Position innerhalb eines Streitgesprächs um Subjektkonzeptionen ausmalt: Konkurrierende Perspektiven werden im Normalfall mit einem Wahrheitsanspruch bezüglich einer bestimmten Konzeption auftreten. Diese könnten zwar von Foucault angezweifelt werden, aber im Gegenzug könnte er allenfalls mit rhetorischen Mitteln für seine eigene Konzeption werben, die sich ja explizit als nicht begründungs- bzw. wahrheitsfähig ansieht und damit eine wichtige argumentative Ressource, nämlich einen konkurrierenden Wahrheitsanspruch, von vornherein aus der Hand gibt. Die Kritik bestimmter Lebensentwürfe wird damit für Foucault ungemein schwierig: Weder kann Foucault einen heterosexuellen Macho argumentativ davon überzeugen, dass es kein »männliches« Wesen gibt und er durch das System der Zwangsheterosexualität seine multiplen sexuellen Identitäten nicht zur Entfaltung kommen lässt, noch wäre eine entsprechende argumentative Überzeugungsarbeit bei einer Frau möglich, die ihre biologisch determinierte Rolle im Dasein als klassische Hausfrau/Mutter sieht. Diese beiden Entwürfe beruhen auf ontologischen Annahmen, denen gegenüber Foucault seine eigene nicht 145 »The notion of stylization does remove ethics from the quest for universal standards of behavior that legislate conformity and normalization, reducing men and women to a mode of existence in accordance with a least common denominator.« (Bernauer/Mahon 1994: 153)

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privilegieren kann. Er kann seine eigene Position darstellen, wird sie nicht akzeptiert – und dafür wären noch nicht einmal Gründe notwendig –, so ist das Potential seines kritischen Paradigmas in dieser Hinsicht erschöpft.146 Doch selbst wenn diese aus dem Perspektivismus Foucaults resultierende Problematik ignoriert werden könnte, bleiben die normativ-kritischen Folgerungen, die sich aus einer Ethik, deren Grundlage die Gestaltung der eigenen Existenz nach ästhetischen Maßstäben ist, äußerst unbefriedigend. Denn zur Beurteilung und Kritik von Lebensentwürfen können streng genommen nur ästhetische Maßstäbe Verwendung finden – die äußerst relativ sind. Foucault dürfte es schwer fallen, Unterschiede zwischen den lebenden Kunstwerken »Neonazi« und »Pazifist« aufzuzeigen, geschweige denn, das Erstgenannte zu kritisieren.147 Zwar wird eine derartige Beliebigkeit von Foucauldianern vielfach bestritten, allerdings zumeist ohne ausreichende argumentative Unterfütterung.148 Foucault hat das Reich der Ethik völlig auf das der Ästhetik ausgerichtet und fast jede Verbindung zu dem der Moral unterbrochen, so es denn überhaupt ein solches geben soll. Doch dass das Reich der Moral nicht in dem der Ästhetik aufgehen kann, zeigen die problematischen Implikationen einer ästhetischen Bewertung des Neonazi-Phänomens nur allzu deutlich.149 Soweit ich sehen 146 Rosenau sieht darin die evaluativen Grenzen fast aller »postmodernen« Epistemologien: »We can convince those who agree with us, but we have no basis for convincing those who dissent and no criteria to employ in arguing for the superiority of any particular view. Those who disagree with us can always argue that different interpretations must be accepted and that in a post-modern world one interpretation is as good as another.« (Rosenau 1992: 137) 147 Diese Einschätzung teilt z. B. Wolin, der von einem »ästhetischen Dezisionismus« Foucaults spricht, vgl. Wolin 1994: 262. 148 »This does not mean therefore that Foucault suggests toleration of all differences and cannot make any discriminations. [...] Hence one finds an ethical perspective for a critique of racism, sexism, exclusively conquering attitudes toward the earth, Tayloresque work practices [...]« (Coles 1992: 85). Unglücklicherweise gibt Coles keinen Hinweis darauf, wo er all diese Kritiken und Unterscheidungskriterien in Foucaults Spätwerk gefunden haben will. 149 Die Liste der problematischen Phänomene ließe sich natürlich beliebig verlängern. Eagleton ist beispielsweise der Meinung, dass für Foucault auch Vergewaltigungen akzeptabel sein müssten, solange sie nur ausreichend stilisiert und ästhetischen Maßstäben genügen würden. (Eagleton 1990: 394) Dies verweist zumindest indirekt auf einen nicht gänzlich abzustreitenden Nexus zwischen Ästhetik und Gewalt, Brutalität oder Stärke allgemein. Die ästhetisierende Ethik läuft durchaus Gefahr, derartigen Phänomenen ge-

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kann, existiert nur eine einzige Alternative zu den rein ästhetischen Kriterien: »Gut« ist, was Herrschaft minimiert und ein agonistisches Kräftespiel ermöglicht bzw. wiederherstellt. Doch auch dieses Kriterium steckt voller Probleme, da im Falle einer linksliberalen kulturellen Hegemonie der Nazi mit Recht auf seine herrschaftsmindernde Rolle verweisen könnte. Hiergegen wird nun eingewandt, Faschismus ließe sich durch einen Verweis auf die inhaltliche Ausrichtung als illegitimer Widerstand bestimmen, da es der Bewegung ja gerade darum ginge, ein Herrschaftsverhältnis zu etablieren und Machtverhältnisse zu minimieren.150 Doch eine solche Argumentation ist in keiner Weise konsistent mit dem Foucault’schen Kritikrahmen, da er ihm jede Pointe nimmt. Würde man sich auf eine inhaltliche Bewertung der Positionen einlassen, geriete man unweigerlich in das Fahrwasser einer normalisierenden Kritik, die bestimmte Widerstände aus inhaltlichen Gründen delegitimiert. Foucaults Grundgedanke besteht in der Überzeugung, dass jede inhaltliche Position, die in einen Zustand von Hegemonie bzw. Herrschaftsausübung gelangt, als »schlecht« anzusehen ist.151 Während insbesondere deutsche Foucauldianer, die die obige Argumentation vertreten, sehr stark vom grundgesetzlichen Gedanken der wehrhaften Demokratie geprägt scheinen, welche es sich erlaubt, gegen antidemokratische Inhalte vorzugehen, ist Foucault selbst wohl eher radikal-pluralistisch zu verstehen: Extremistische Positionen erscheinen hier akzeptabel, da sie durch gegenläufige Extrempositionen neutralisiert werden: Je breiter das Spektrum der zugelassenen Positionen, desto größer ist ihre Anzahl im politischen Feld und desto geringer ist die Gefahr, dass eine Position in einen herrschaftlichen Zustand gegenüber den Übrigen gelangen kann. Doch die kritisch-analytischen Kategorien Macht und Herrschaft erweisen sich nicht nur aufgrund ihrer eindimensional pluralistischen Einschätzungspogenüber die Distanz zu verlieren. Foucaults Äußerungen zu derartigen Fragen sind schillernd. Einerseits heißt es: »[...] there are sexual acts like rape which should not be permitted whether they involve a man and a woman or two men.« Andererseits scheint Foucault im gleichen Interview die Ausübung von Nekrophilie als ästhetischen Lebensentwurf zu verteidigen, allerdings nicht in eindeutigen Worten. (SCSA: 324 bzw. 327) 150 Vgl. Kimmerles Beitrag in: Bonß et al. 1985: 134 f. 151 Im Zuge eines solchen Denkens kommt es zu zweifelhaften Parteinahmen von Seiten Foucaults z. B. in der Vorlesungsreihe Zur Verteidigung der Gesellschaft. Auch hier gilt: Foucault unterstützt diejenigen, die sich gegen das Universale/Hegemoniale/Herrschaftliche wenden, auch wenn es sich, wie im vorliegenden Fall, um den reaktionären, rassistischen und aristokratischen Geschichtsschreiber Boulainvilliers handelt. Vgl. hierzu auch weiter unten Kapitel IV 2.1.

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tentiale von bestimmten Bewegungen/Positionen als unhandlich. Rein formal ist zu monieren, dass die Unterscheidung zwischen Macht und Herrschaft reichlich schwammig bleibt, zumal Foucault im Rahmen von Interviews abweichende Definitionen eingeführt hat: »What characterized power is the fact that it is a strategic relation that has been stabilized through institutions« (SPPI: 387), welche die Reversibilität jenes Verhältnisses einschränkten. Dies sollte jedoch in der klassischen Definition von 1980 charakteristisch für Herrschaftsverhältnisse sein. An anderer Stelle heißt es: »I would consider domination to be any kind of power-relation which, regarding its goals and values, can be judged from a rational point of view as efficient« (P: 417); eine Definition, die auf einer völlig anderen Ebene liegt. Doch selbst wenn man über diese Abweichungen hinwegsieht und die weiter oben dargelegten Definitionen als verbindlich ansieht, bleiben gewisse Probleme bestehen. Denn in der empirischen Anwendung der Kategorien zeigt sich natürlich, dass es keine Zustände von absoluter Herrschaft gibt, was ja auch theoretisch als unmöglich vorausgesetzt werden muss, da Foucault andernfalls abermals in die Schwierigkeiten fehlender Akteurschaft geraten würde, bzw. Herrschaftszustände könnten sich in diesem Fall niemals zu Machtzuständen verflüssigen. Fraglich ist also, welchen Grad von Reversibilität Herrschaftszustände aufweisen müssen, um als Machtverhältnisse zu gelten.152 Denkt man an institutionelle Herrschaftsverhältnisse wie den Staat, dann wird deutlich, dass dieser Grad von sehr vielen Faktoren abhängt, unter anderem, da Reversibilität auf sehr unterschiedliche Arten institutionalisiert sein kann und daher äußerst schwierig zu bestimmen sein dürfte. Der scheinbar leicht handhabbare Kategorienapparat von »Macht« und »Herrschaft« steht in der Anwendung auf empirische Phänomene also vor massiven epistemologischen Unwägbarkeiten. Zusammenfassend bedeutet dies, dass dieser normative Minimalbestand bei Foucault sich erstens gegen seine Operationalisierung sträubt und zweitens selbst bei erfolgreicher Anwendung nur relativ undifferenziertes Evaluativ-Wissen bereitstellt. Die Diagnose, Foucault habe die Verbindung zum

152 Foucault selbst hat versucht, den spezifischen Charakter eines Herrschaftsverhältnisses am Beispiel von Frauen im 19. Jahrhundert zu illustrieren. Sie hätten zwar durchaus über Handlungsmöglichkeiten gegenüber ihren Ehemännern verfügt, aber »all that was finally no more than a certain number of tricks which never brought about a reversal of the situation« (EC: 12). Daher habe es sich um ein Herrschaftsverhältnis gehandelt. Das Problem verschiebt sich dann in Richtung der Frage, was genau »Reversibilität« bezeichnet.

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Reich des Moralischen weitgehend gekappt, scheint mir aufgrund dessen nicht revisionsbedürftig. Die problematische Marginalisierung von Moral gegenüber Ethik lässt sich nicht nur am Foucault’schen Ästhetizismus festmachen. Auch der oftmals monierte Egoismus seiner Ethik weist in diese Richtung. Da Foucault Ethik als »the relation to oneself« (GE: 355) bezeichnet, liegt der Vorwurf nahe, in seiner Konzeption sei kein Platz für Intersubjektivität, da mit der »Sorge um sich« beschäftigte Subjekte einander unvermittelt gegenüberstünden. In einer radikaleren Version ließe sich sogar formulieren, dass sich diese Subjekte im Rahmen agonistischer Machtverhältnisse gegenseitig immer nur als Mittel zur Selbststilisierung benutzen könnten: »Foucault’s standpoint favors either an attitude of narcissistic self-absorption or one of outwardly directed, aggressive self-aggrandizement.«153 Foucault fordert derartige Reaktionen geradezu heraus, wenn er beispielsweise einen ontologischen Vorrang von Selbstverhältnissen gegenüber Intersubjektivität konstatiert: »The care for self takes moral precedence in the measure that the relationship to self takes ontological precedence.« (EC: 7)154 Die Ethik der »Sorge um sich« erscheint teilweise nur als »die beste Weise, sich mit der Macht der anderen zu messen, indem man seine eigene Herrschaft über sich selber wahrt« (GL: 269 f.) und verliert damit solidarische Intersubjektivität offensichtlich aus dem Blick.155 Ganz so eindeutig, wie es Kritik und die hier angeführten Zitate vermitteln, ist Foucaults (Miss-)Verhältnis zu den intersubjektiven Aspekten von Moral aber keineswegs. Konträr zu diesem Eindruck stehen Einschätzungen, denen zufolge Foucault um die Ausarbeitung einer »dialogischen Ethik« bemüht ist. Die »Sorge um sich« sei intrinsisch mit der Notwendigkeit von Dialog verbunden: »So Foucault’s aesthetic understanding of the self links the self to others with a robust openness, curiosity, and respect for difference.«156 Coles’ Begründung verweist auf das von Foucault selbst vorgelebte dialogische Ethos, das 153 Wolin 1994: 85. Vgl. auch: »Foucault seems to have simultaneously cut off access to intersubjective otherness.« (White 1986: 428) Ebenso: »He thus has no social ethics or theory of intersubjectivity.« (Kellner/Best 1991: 66) 154 Allerdings ist bei der hier zitierten Aussage unklar, ob Foucault nicht nur das Verständnis der Griechen beschreibt. 155 Vgl. auch die Definition von »Freiheit« innerhalb einer solchen Ethik: »[...] eine Macht, die man in der Macht über die anderen über sich selbst ausübt« (GL: 106). 156 Coles 1992: 85.

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sich in seiner Vorliebe für Interviews und seinem Versuch der Reaktivierung der »unterworfenen Wissen« äußere. Zuletzt beweise auch das von Foucault selbst angegebene Motiv seiner Arbeit, nämlich »Hartnäckigkeit [...], die es gestattet, sich von sich selber zu lösen« (GL: 15), dass die ästhetische Selbsttransformation auf das Andere angewiesen bleibe, denn nur, indem man sich dem Fremden aussetze, könne man sich vom eigenen lösen.157 Diese Argumentation kann jedoch nicht gänzlich überzeugen, da hier das Andere nicht mehr als ein Mittel im Rahmen dieser »Spiele mit sich selbst« (GL: 15) darstellen muss, wie Foucault im unmittelbaren Anschluss die Loslösung vom eigenen nennt. Vorstellungen von Symmetrie und/oder Reziprozität sind hiermit noch nicht notwendigerweise verbunden. Gibt es andere Elemente von Foucaults Ethik, die auf einen dialogischen Charakter hinweisen oder zumindest intersubjektive Verhältnisse thematisieren? Die Erörterung dieser Frage wird dadurch erschwert, dass in seinen Ausführungen zur Frage der Beziehung zwischen Ego und Alter die Analyse von griechisch-römischen Ethiken und das, was man als Ansätze zu einer foucauldianischen Ethik bezeichnen könnte, beinahe untrennbar zusammenfließen. Zwar gilt laut Foucault für die antiken Ethiken: »[...] the one who cared for himself correctly found himself, by the very fact, in a measure to behave correctly in relationship to others and for others« (EC: 7).158 Unklar bleibt jedoch, ob Foucault ein solches Modell der Selbstregulierung nach wie vor für gültig hält. Jedenfalls ließe sich auch dieser Art der Vermittlung zwischen Ego und Alter ein starkes Übergewicht zuungunsten des Anderen nachweisen. In Foucaults Rekonstruktion geht das antike Modell davon aus, dass die Individuen im Rahmen ihrer Arbeit an sich oder Sorge um sich einen Raum der Freiheit konstituieren. Dies ist die Freiheit von Fremdbestimmung, worunter nicht nur äußere Einflüsse, sondern insbesondere die eigenen Leidenschaften zu fassen sind. Nur wer Schwäche gegenüber diesen Leidenschaften zeigt, wird sich zur illegitimen bzw. unverhältnismäßigen Machtausübung gegenüber anderen hinreißen lassen. Umgekehrt ist die Sorge um sich der beste Garant für intersubjektive Verhältnisse, in denen der Rahmen legitimer Machtausübung nicht überschritten wird. Problematisch bleibt eine solche Konzeption, in der eine bestimmte Art des Verhältnisses zu sich selbst die Voraussetzung für relativ konfliktfreie Intersubjektivität 157 Ibid. 158 Vgl. auch Foucaults Aussage: »Care for self is ethical in itself, but it implies complex relations with others, in the measure where this ethos of freedom is also a way of caring for others.« EC: 7; ähnliche Formulierungen finden sich in: FS: 14 f.

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darstellt, insofern, als beispielsweise exzessive Machtausübung nicht deshalb als »illegitim« oder »unmoralisch« erscheint, weil hier die Rechte oder der moralische Status einer anderen Person verletzt sind. Moralisch fragwürdig wird sie vielmehr dadurch, dass sich in dieser Handlung eine Schwäche gegenüber sich selbst offenbart: »Unmäßig sein heißt, sich [...] in einem Zustand von Schwäche und Unterwerfung zu befinden; es bedeutet, unfähig zu sein zu jener Haltung von Männlichkeit159 sich selber gegenüber.« (GL: 112) Nicht weil eine Person möglicherweise Leid bei einer anderen verursacht hat, sondern weil sie gegenüber sich selbst schwach und passiv war, hat sie eine Handlung begangen, die in diesem Modell der Selbstregulierung inakzeptabel ist. Alter bleibt auf die Funktion reduziert, einen Prüfstand für Egos Stärke/Schwäche gegenüber sich selbst darzustellen. Dieses asymmetrische Verhältnis von Alter und Ego findet sich sogar noch in Foucaults Ausführungen zur Praxis der parrhesia, dem Wahrsprechen des Anderen. Zwar scheinen die Formulierungen in der entsprechenden Vorlesungsreihe 1983/84 die Ethik der Sorge um sich gerade vom Verdacht einer übertriebenen Ichbezogenheit zu entlasten, wenn es heißt: »Man kann sich nicht mit sich selbst beschäftigen, sich nicht um sich selbst sorgen, ohne einen Bezug zu einem anderen zu haben.« (DWA: 17) Dieser andere ist aber auch in diesem Fall oftmals nur ein Mittel zum Zweck, der Ego bei seiner Sorge um Sich, die Selbsterkenntnis voraussetzt, durch das »Wahrsprechen« behilflich ist. Und doch finden sich – wenn auch nur vereinzelt – bei Foucault Äußerungen, welche die Rede von einem dialogischen Charakter seiner Ethik tatsächlich gerechtfertigt erscheinen lassen. In den griechischen Sexualethiken stelle sich immer wieder die Frage, wie sich die per definitionem asymmetrische Beziehung zwischen Knabe und Mann zu einem Verhältnis der Freundschaft wandeln könne. Diese »löscht die Asymmetrien aus, die im erotischen Verhältnis [...] impliziert waren«, sie bedeutet »das Teilen der Gedanken und der Existenz, das wechselseitige Wohlwollen« (GL: 255). Das Thema der philia hat offensichtlich nicht nur die Griechen, sondern auch Foucault immer wieder beschäftigt,160 und hier scheint erstmals die Vorstellung einer Beziehung von Alter und Ego auf, die tatsächlich auf Symmetrie und Reziprozität beruht. Doch es bleibt bei Andeu159 Auf den expliziten Sexismus dieser Vorstellung sei hier nur am Rande hingewiesen. 160 Vgl. beispielsweise Foucaults Äußerung: »One thing that interests me now is the problem of friendship.« (SPPI: 388) Vgl. ebenso das Interview Von der Freundschaft als Lebensweise im gleichnamigen Band. O’Hara ist darüber hinaus der Meinung: »In many respects, then, the story Foucault traces in the Use of Pleasure and in The Care of the Self tells the fate of friendship.« (O’Hara 1994: 301)

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tungen, die kaum ausreichen, um das Feld der ethischen Sorge um sich mit dem Feld der intersubjektiven Moral zu verbinden. Deutlich wird aber, dass die Ethik um eine intersubjektive Komponente bemüht ist, auch wenn ihr eigener konzeptioneller Rahmen offensichtlich keine ausreichenden Ressourcen bietet, um subjektive und intersubjektive Komponenten eine überzeugende Verbindung eingehen zu lassen. Daher liegt es nicht allzu fern, dem Ethiker Foucault den Moralphilosoph Habermas in einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung an die Seite stellen zu wollen, wie es vor allem Kögler vorschwebt, ohne dass er die Idee detaillierter ausarbeitet. In den wenigen Fällen, in denen das Verhältnis beider Moralen/Ethiken in der Literatur Erwähnung findet, hat eine solche Lösung auch stellenweise Beifall gefunden.161 Es ließe sich auf Habermas schon oben erläuterte Haltung verweisen, dass moralischer Universalismus und kulturelle Heterogenität nur zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Die »radikale Freisetzung individueller Lebensgeschichten und partikularer Lebensformen« (VP: 116), mit denen der Universalismus einhergehen muss, um seine Legitimität zu beweisen, könnte wohl kaum besser als durch eine Ästhetik der Existenz gefördert werden. Umgekehrt könnten die praktischen Diskurse den Minimalrahmen für das freie Spiel der menschlichen Kunstwerke Foucaults bilden. Zu Recht wird hier auf Foucaults wohlwollenderes Verständnis von Menschenrechten ab Ende der siebziger Jahre hingewiesen,162 auf deren Basis er einer Etablierung bestimmter Basisnormen möglicherweise zustimmen würde, wobei ihm vermutlich die Vorgehensweise des späten Habermas noch am akzeptabelsten erschiene, ist er dessen Konzepten gegenüber doch nicht völlig abgeneigt (vgl. FS: 25). All dies sind Erwägungen, die keineswegs als zu harmonistisch abgetan werden dürfen. Dennoch bin ich der Meinung, dass sich in ihnen ein nach wie vor vitales Moderne-Postmoderne-Klischee manifestiert. In ihm fungiert Foucault als der Vertreter einer Postmoderne, die sich insbesondere um das »Andere« und die Differenz besorgt zeigt, und dieser Teil des Klischees soll in diesem Zusammenhang auch nicht unbedingt angezweifelt werden. Es ist das damit korrespondierende Vorurteil bezüglich des vermeintlichen Modernisten Habermas, dessen Konsensphantasien alle Abweichungen und Differenzen mit sanftem Nachdruck eliminieren wollten, das hier in Frage gestellt werden soll. 161 Vgl. Kögler 1994: 184 f. sowie Coles 1992: 87, der sich aber nur sehr vorsichtig in dieser Richtung äußert. 162 Vgl. Osborne 1999: 53 f. Auf Foucaults Rechtsverständnis komme ich weiter unten ausführlich zu sprechen. Vgl. Kapitel IV 3.1.

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In Foucaults Konzept werde das Reich der Moral gegenüber der Ethik marginalisiert, es drohe ein anything goes der lebenden Kunstwerke. Umgekehrt bestehe in Habermas’ Konzept die kontinuierliche Gefahr, das Reich der Ethik zu marginalisieren und die Gesellschaft einem allumfassenden Konsenszwang zu unterwerfen.163 Dann scheint es nahe zu liegen, die Moral Habermas’ mit der Ethik Foucaults zu kombinieren, um die jeweiligen Schwächen zu überwinden. Fraglich ist jedoch, ob Habermas’ Ansatz tatsächlich in der Lage ist, die Foucault’schen Schwächen zu kompensieren, die beispielsweise darin bestehen, dass sich die Ethik von moralischen Kategorien weitgehend losgesagt hat und Letztere nicht mehr als eine Art Rahmen für die Ethik fungieren. Doch wie im Zusammenhang mit der Kritik der deontologischen Differenzierung gezeigt werden konnte, bleibt auch in der Diskursethik das Verhältnis zwischen Moral und Ethik vage. Habermas hält sich in dieser Frage äußerst bedeckt, was auch die schon oben zitierte Aussage zeigt, nach der die Maßstäbe, für ein »nicht verfehltes Leben auch nicht völlig unabhängig von moralischen Maßstäben variieren« (WLR: 48), die nur programmatischen Charakter beanspruchen kann, d. h. noch darauf wartet, mit Inhalt gefüllt zu werden.164 Wie weit die Maßstäbe des guten Lebens variieren dürfen, wann von einem Konflikt zwischen moralischen und ethischen Maßstäben gesprochen werden muss, ab welcher Intensität der Konflikt zugunsten der moralischen Maßstäbe entschieden werden muss, ob auch in manchen Fällen der ethische Maßstab Bestand haben kann, auf all diese Fragen hat die Diskursethik zumindest bis Anfang der neunziger Jahre keine Antworten. Man wird ihr sicher eher als den Foucault’schen Konzepten eine Vermittlung zwischen Ethik und Moral zutrauen dürfen, aber dass diese schon überzeugend gelungen wäre, kann ihr nicht bescheinigt werden. Für die Vertreter des Moderne-Postmoderne-Klischees liegt es auf der Hand, dass Habermas über Kriterien verfügt, gemäß derer bestimmte Materien zweifelsfrei dem Bereich der Moral und seinem Verfahren, dem praktischen Diskurs, zugewiesen werden können, neige doch seine Diskursethik dazu, so gut wie alle gesellschaftlichen Fragen konsensual entscheiden lassen zu wollen. Doch gerade der Mangel an derartigen Kriterien stellte ein schwer wiegendes 163 In diesem Sinn ist Coles der Meinung, Foucaults Ethik habe in einer Kombination die Aufgabe, »to check the insistent pressures toward a ubiquitous consensuality that are rooted in the Habermasian theoretical paradigm« (Coles 1992: 87). 164 Das unmittelbar im Anschluss stehende Postulat der Widerspruchsfreiheit zwischen Moral und Ethik ist derart verklausuliert formuliert, dass sich kaum zwingende Implikationen daraus ableiten lassen.

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Problem in der oben vorgenommenen Kritik der deontologischen Differenzierung dar. Die Probleme einer unparteilichen Anwendung sind hier nicht von Belang, aber die Diskursethik erweist sich auch in klassischen Begründungsfragen oftmals als überfordert hinsichtlich einer klaren Zuordnung der Materien zum Bereich der Ethik bzw. der Moral. Weiterhin konnte in der kritischen Analyse gezeigt werden, dass auch in der Diskursethik der Bereich der Ethik entgegen den Befürchtungen vieler »Postmodernisten« beständig im Wachsen begriffen ist und dass er auch Bereiche umfasst, die intuitiv dem Reich der Moral zugeordnet würden. Daher soll hier die These vertreten werden, dass sowohl die Ethik Foucaults als auch die Diskursethik Habermas’ jedenfalls in der vorliegenden Fassung strukturell mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben. In beiden Konzepten besteht die Gefahr einer in diesem Umfang durchaus als problematisch zu bewertenden Marginalisierung der Moral. Diese unkonventionelle, »postmodernistische« Lesart der Diskursethik darf jedoch gewichtige graduelle Unterschiede nicht nivellieren: Im Gegensatz zu Foucaults Ethik zeigt die Diskursethik offensichtlich ein massives Interesse am Bereich des Moralischen und kann zumindest für den Fall einer nichtkontroversen Zuweisung einer bestimmten Materie zu jenem Bereich ein, wenn auch nicht ganz unumstrittenes, Verfahren zur Begründung bestimmter Normen anbieten. Klar ist auch, dass sich, wenn überhaupt, Zuweisungskriterien nur auf der Basis der Diskursethik erarbeiten lassen. Dass dies bisher nicht gelungen ist, bedeutet nicht, dass es unmöglich ist. Gegenwärtig besteht jedoch in beiden Ansätzen die Gefahr, dass einer hypertrophen Ethik eine verkümmerte Moral weitgehend machtlos gegenübersteht. Damit verbunden sind entsprechende Schwächungen der Ethik als Kritik. Auch hier sind graduelle Unterschiede zu verzeichnen: Mit dem Verzicht auf jegliches moralisches Kriterium gibt Foucault auch eines der wichtigsten Instrumente der Kritik freiwillig aus der Hand. In Habermas’ Fall geschieht dies nicht freiwillig, auch vermag die Diskursethik im Falle einer nichtkontroversen Zuweisung zum Moralischen ein gewisses Maß an kritischer Stärke zu entfalten. Doch auch hier zeigen sich strukturell ähnliche strategische Einbußen. Foucault hat es, wie oben schon herausgearbeitet, schwer, auf der Basis der Ästhetik der Existenz beispielsweise neonazistische Praktiken und Lebensentwürfe zu kriti-

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sieren.165 Wie die Kritik an seiner deontologischen Unterscheidung gezeigt hat, können sich jedoch auch in Habermas’ Diskursethik rassistische Praktiken und Lebensentwürfe im worst case scenario einer moralischen Verurteilung entziehen. Welche Folgerungen ergeben sich aus dieser Konstellation? Das Potential, das sich aus einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung zwischen der Ethik Foucaults und der Moral Habermas’ ergäbe, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht ausgeschöpft werden. Die entsprechende ursprünglich auf Kögler zurückgehende Kooperationshypothese muss also zumindest für die Gegenwart verworfen werden. Die augenscheinliche Ursache hierfür sind Habermas’ Schwierigkeiten bei der Konzeptionalisierung des Verhältnisses von Moral und Ethik. Die Diskursethik bedarf daher einer Weiterentwicklung in ihrem deontologischen Aspekt, so dass eine klare Zuweisung von Materien und ihre entsprechende Beurteilung, wie sie Habermas ja auch immer anvisiert hatte, tatsächlich realisierbar werden. Die grundsätzlich gelungene Anlage der Diskursethik lässt eine solche Weiterentwicklung durchaus möglich erscheinen, es besteht keinerlei Grund, das Projekt als gescheitert anzusehen. Mittel- bis langfristig sollte daher das Ziel einer solchen ethischmoralischen Arbeitsteilung zwischen Foucault und Habermas ins Auge gefasst werden. Im weiteren Verlauf dieses Vergleichskapitels wird allerdings noch deutlich werden, dass neben diesem langfristigen Kooperationsziel, dessen Erreichen im Wesentlichen von einer Weiterentwicklung der Diskursethik abhängt, kurzfristig auch eine fruchtbare Kombination beider Ansätze möglich ist, die allerdings in eine etwas andere Richtung weist. Mit Blick auf diese kurz- und längerfristigen Kombinationsoptionen soll im Folgenden auf mögliche Vorbehalte von Seiten Habermas’ und Foucaults eingegangen werden, die sowohl gegenüber einer aktuellen aber natürlich auch einer zukünftigen Arbeitsteilung zwischen den Ansätzen als Sperrpotentiale fungieren könnten.

165 Fraglos ist sich Foucault, der »kämpfende Intellektuelle«, wie ihn Habermas gegenüber dem Verfasser bezeichnet hat, über die strategischen Implikationen, die der Verzicht auf moralische Argumentationen mit sich bringt, im Klaren, sind es doch gerade die Herrschaftseffekte von moralischen Vorstellungen, die er immer wieder herausgearbeitet hat.

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3.2 Konsens und Strategie – Habermas’sche Bedenken Zunächst muss hier auf eine Problematik eingegangen werden, die als grundsätzliches Fragezeichen hinter einem Habermas-Foucault-Eklektizismus interpretiert werden kann und daher zu Anfang der folgenden Erörterung von möglichen Sperrpotentialen untersucht werden muss: Es handelt sich um die Kompatibilität einer Theorie, die das Soziale im Bild des Kampfes zu fassen versucht, mit einer grundsätzlich konsensualen Theorie, wie es die Diskursethik ist. Besteht die Möglichkeit einer Verbindung zwischen dem verständigungsorientierten Handeln innerhalb der Diskurse und dem genuin strategischen Handeln gegen die Herrschaftszustände? Wie das weiter oben wiedergegebene Zitat zeigt, besteht auf Foucaults Seite keine idiosynkratische Abneigung gegenüber Konsensen, wie man sie möglicherweise Lyotard zuschreiben würde. Fraglich ist jedoch, ob Habermas einer Verbindung zwischen konsensualen Diskursen und Widerstandstrategien zustimmen würde und wie diese im Rahmen einer integrierten Theorie aufeinander bezogen werden könnten/müssten. Für den Vergleich der Ethiken kommt der Klärung dieses Aspektes einer möglichen Kompatibilität zwar nicht die gleiche Virulenz zu wie in der Frage einer möglichen Verbindung der strategischen Staatsanalyse Foucaults mit der normativen Demokratietheorie Habermas’, aber da Habermas schon im Rahmen der Diskursethik einige, wenn auch nur kursorische Erwägungen in dieser Hinsicht anstellt, soll die entsprechende Problematik hier schon einmal thematisiert werden, um dann in Kap. IV 3.3 darauf zurückzukommen. Intensiver noch als Habermas hat sich Karl-Otto Apel im Rahmen seines diskursethischen Ansatzes mit der Thematik ›kommunikative und/oder strategische Rationalität‹ auseinandergesetzt. Er sieht die diesbezüglichen Schwierigkeiten eingebettet in den klassischen Antagonismus zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Apel charakterisiert das moralische Dilemma dahingehend, dass das Festhalten an einer Verständigungsorientierung in offensichtlich strategischen Kontexten zwar das moralisch Richtige sei, solange damit das Schicksal einer einzelnen Person verbunden sei, es jedoch untragbar würde, sobald mit dieser gesinnungsethischen Haltung negative Folgen für ein Kollektiv verbunden seien. Als besonders augenfälliges Beispiel für das hieraus erwachsende Dilemma166 führt Apel die Situation eines Außenpolitikers an, der sich in Abrüstungsverhandlungen mit einer potentiell feindlichen Macht befindet. Eine 166 Vgl. Ofsti 1997.

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strikt verständigungsorientierte Haltung des Politikers könnte hier im extremsten Fall die Existenz des von ihm repräsentierten Kollektivs gefährden.167 Die Diskursethik – in diesem Falle diejenige Apels – muss sich mit der hier nur zugespitzten grundsätzlichen Problematik auseinandersetzen, dass sie sich einer nicht idealen Welt der Mächte und Strategien gegenübersieht und steht vor der Frage, wie sie mit diesem Faktum umgeht. Apels Überlegungen kulminieren in einer Ergänzung zum ursprünglichen Entwurf der Diskursethik, die er als »Teil B« bezeichnet. Teil A deckt sich inhaltlich im Wesentlichen mit der diskursethischen Konstruktion Habermas’168, Teil B bezieht sich nun explizit auf die verantwortungsethische Problematik, ob man auch in nicht konsensualen Kontexten moralisch verpflichtet sei, verständigungsorientiert zu handeln. Er lässt sich in den Worten Apels in etwa dahingehend zusammenfassen, dass es in strategisch verzerrten Interaktions- bzw. Kommunikationssituationen moralisch geboten sein kann, offene oder versteckte Gewalt (z. B. Täuschung) als AntiGewalt-Gewalt bzw. als Strategiekonterstrategie anzuwenden. Die Pointe der Antwort liegt darin, dass ein strategisches Handeln, das als solches unter den realen Interaktionspartnern natürlich nicht zugleich effektiv und unmittelbar konsensfähig sein kann, für die kontrafaktisch vorausgesetzten Mitglieder einer idealen Kommunikationsgemeinschaft durchaus konsensfähig sein kann – dann nämlich, wenn die Bedingung der Anti-Gewalt-Gewaltausübung und darüber hinaus gewisse Bedingungen einer langfristigen Strategie der Realisierung der Anwendungsbedingungen für rein diskursive Konfliktlösungsverfahren als erfüllt angesehen werden können. »Insofern kann und muss sich auch der im Sinne von Teil B der Ethik verantwortlich handelnde Mensch auf einen kontrafaktisch-antizipierbaren, diskursiv erzielbaren Konsens berufen.«169 Strategisches Handeln wäre also nur dann legitim, wenn es auf die Institutionalisierung diskursiver Verfahren abzielt und in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft konsensfähig wäre. In nichtstrategischen Kontexten käme Teil A, also das herkömmliche diskursethische Programm zur Anwendung. Doch gegen eine solche Vermittlung von Konsens und Konflikt lassen sich gewichtige Bedenken vorbringen: Am problematischsten scheint mir hier die nur unzulängliche Rückbindung des Teils B an den Teil A zu sein. Die Intention Apels liegt auf der Hand: Strategisches Handeln ist nur legitim, um für die Zukunft die 167 Vgl. Apel 1988: 247 ff. 168 Natürlich besteht ein entscheidender Unterschied, was den Status der Ethik angeht, vgl. oben. Die inhaltlichen Divergenzen können im aktuellen Kontext vernachlässigt werden. 169 Apel 1992: 46.

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Möglichkeit nichtstrategischen Handelns zu schaffen. Funktion von Teil B ist es, sich selbst überflüssig zu machen. Unklar bleibt jedoch beispielsweise, welche Radikalität strategische Handlungen im Namen der Etablierung zukünftiger Diskurse aufweisen können. Ist Gewalt gegen Dinge akzeptabel? Oder gar Gewalt gegen Menschen? Wäre eine List oder Täuschung, durch die Menschenleben in Gefahr gebracht würden, nicht moralisch zu verurteilen, selbst wenn sie darauf abzielte, eine zukünftige Welt zu schaffen, in der es weder List noch Täuschung gibt? Es handelt sich hier um das altbekannte Spannungsverhältnis zwischen Mitteln und Zwecken, und Apels Teil B befindet sich in bedenklicher Nähe zu einem »Der-Zweck-heiligt-die-Mittel«-Prinzip mit all seinen protototalitären Implikationen.170 Diesen Eindruck unterstreicht die Konstruktion der idealen Kommunikationsgemeinschaft nachhaltig. Was in der idealen Konsensgemeinschaft noch konsensfähig wäre, scheint doch allzu sehr von der Interpretation des aktuell handelnden Akteurs abzuhängen. Wie lassen sich schon bezüglich komplexer Kausalketten einigermaßen verlässliche Voraussagen über die Auswirkungen einer bestimmten Handlung machen? Ob beispielsweise die militärische Intervention in einem Krisengebiet in diesem Sinne rechtfertigbar wäre, wird aller Wahrscheinlichkeit nach immer strittig bleiben, und dementsprechend ließen sich vermutlich sehr viele Handlungen rechtfertigen. Darüber hinaus drängt sich eine Analogie mit dem Geschichtsverständnis hegel-marxistischer Provenienz auf: Rechtfertigte dort die Geschichte bzw. ihr Fluchtpunkt höchst bedenkliche aktuelle Praktiken, so scheint hier die ideale Kommunikationsgemeinschaft diese zweifelhafte Funktion zu übernehmen. Ein Import von »Teil B« in das Gebäude der Habermas’schen Diskursethik kann daher wohl kaum als tragbare Lösung angesehen werden. Habermas selbst ist weit von einem elaborierten Konzept nach dem Vorbild des Teil B in dieser Frage entfernt. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass er eine etwas andere Perspektive als Apel einnimmt: Für diesen entzündet sich ja die Problematik am Beispiel der Interaktion zweier verfeindeter Kollektive. Ein solches Außenverhältnis liegt zumeist jenseits der Habermas’schen Perspektive, 170 Vgl. statt vieler: Schuon 1991: 39 sowie Noetzel 1991: 34. Die Problematik veranschaulicht ein Diskussionsbeitrag, der von Apel selbst stammt: »Als ich im Fernsehen sah, wie Gorbatschow in Litauen verzweifelt um Zustimmung warb, merkte ich sofort: Da ist ein Mann des Diskurses. Und der gleiche Mann schickt das Militär nach Aserbaidschan? Das ist Teil B der Ethik.« Zitiert in: Bahners 1990: 35. Politische Fehleinschätzungen sind keine zwingenden »Beweise« gegen eine Theorie, aber sie können als Indiz für gewisse Gefahren fungieren.

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der vornehmlich nach Regelungsmechanismen für Konflikte innerhalb eines Kollektivs fahndet. Wie immer wieder zum Ausdruck kommt, geht er davon aus, dass innerhalb moderner westlicher Industriegesellschaften, die als Rechtsstaaten verfasst sind, das moralische Dilemma Apels nicht besteht, da die grundsätzliche Möglichkeit zu kommunikativem Handeln ohne unverhältnismäßig hohe Kosten bestehe. Auch scheint mir Habermas’ Diskursethik auf den Basis-Fall eines Handelns auf eigene Verantwortung bezogen zu sein. Apels Dilemma des Außenpolitikers, der für ein Kollektiv handelt, erinnert an die aus einer »Role Morality« erwachsenden Dilemmata, die Habermas im Allgemeinen als Anwendungsfrage ansieht, also nicht als genuines Problem der begründenden Diskursethik.171 Humanitäre Interventionen und die Rechtfertigung von Gewaltanwendung Soweit ich sehen kann, hat Habermas nur in einem einzigen Zusammenhang die Problematik von Konsens und Strategie aus einer Perspektive erörtert, die derjenigen Apels gleicht. Dies geschah im Rahmen eines ZEIT-Artikels zum Kosovo-Krieg.172 Habermas’ Argumentation, in deren Mittelpunkt die Frage nach der Legitimität der NATO-Intervention steht, geht vom Ziel einer zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen aus und zwar insbesondere einer besseren Durchsetzung der Menschenrechte als individuelle Weltbürgerrechte. Ein solcher Rechtszustand, in dem Bürgerinnen und Bürger ihre Menschenrechte vor und mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft auch gegenüber der Führung ihres eigenen Staates geltend machen könnten, ist noch nicht gegeben. Habermas ist der Meinung, um diesen Zustand nicht indirekt festzuschreiben, sehe sich die Menschenrechtspolitik unter bestimmten Umständen gezwungen, im Vorgriff auf jenen weltbürgerlichen Zustand zu handeln. Die Rede ist von einem »prekären Übergang von der klassischen Machtpolitik zu einem weltbürgerlichen Zustand über die Gräben eines aktuellen, auch mit Waffen ausgetragenen Konflikts hinweg« (BuH: 8). Habermas befindet sich hier in offensichtlicher Nähe zu einem Argument im Stile Apels, da ein 171 Vgl. oben: Kap. III 1.2.5. Entsprechend taucht bei Habermas auch der Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik auch nur in einem etwas anders gelagerten Kontext auf, nämlich bezüglich der Folgen und Nebenwirkungen der allgemeinen Befolgung einer bestimmten Norm. Vgl. Ofsti 1997: 77, Anm. 52. 172 Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral. Ich zitiere aus der Online-Version des Aufsatzes mit den entsprechenden Seitenzahlen.

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Verhalten, dessen Legalität äußerst zweifelhaft ist, im Hinblick auf ein zukünftiges Ziel bzw. einen zukünftigen Zustand gerechtfertigt wird. Würden in Apels Fall die ideale Kommunikationsgemeinschaft oder zumindest zukünftige Kommunikationsgemeinschaften die Tat rechtfertigen müssen, so wäre die Militärintervention in einem zukünftigen Regime der Weltbürger- und Menschenrechte als legitim anzusehen. Die Schärfe dieser Pointe versucht Habermas durch Bezugnahme auf ein rechtliches Argument zu mildern: »Wenn es gar nicht anders geht, müssen demokratische Nachbarn zur völkerrechtlich legitimierten Nothilfe eilen dürfen.« (BuH: 7) Diese innerhalb der deutschen Jurisdiktion anerkannte Rechtsfigur (§ 34 StGB) kann jedoch nicht ohne weiteres auf das Völkerrecht übertragen werden.173 Daneben ist natürlich unbestritten, dass die NATOStaaten selbst bei Geltung der Nothilfe-Figur unter rechtlichen Gesichtspunkten nicht befugt waren, eigenmächtig über das Vorliegen der Situationsmerkmale, die eine Nothilfe rechtfertigen, zu entscheiden. Doch Habermas’ Argumentation auf der Basis einer Nothilfe-Regelung ist noch in einem weiteren Sinne problematisch: Im nationalstaatlichen Recht müssen sich Nothilfe-Aktionen bezüglich ihrer Legalität an Prinzipien messen lassen, die auch auf »normale« Polizeiaktionen angewandt werden, insbesondere an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser postuliert die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit eines bestimmten Verhaltens. Eine solche Eingrenzung von »Polizeiaktionen« auf internationaler Ebene ist unerlässlich, soll die Nothilfe-Regelung nicht zu einem Einfallstor für willkürliche Interventionen diverser Militärbündnisse oder Einzelstaaten werden.174 Untersucht man nun jedoch die Frage der Geeignetheit des Mittels der NATO-Luftangriffe, um das Ziel einer Beendigung von Mord und Vertreibung zu erreichen – nur dieses Ziel kann die Nothilfe rechtfertigen –, so werden zwei Dinge deutlich: Erstens kann eine Geeignetheit des Mittels ab einem bestimmten Zeitpunkt des Krieges nicht mehr bejaht werden. Spätestens als klar wurde, dass die Luftschläge dazu führen, dass die »ethnischen Säuberungen« nur noch energischer durchgeführt wurden und das Flüchtlingselend noch verschlimmerten, musste eine juristische Rechtfertigung der Aktion entfallen. Zweitens zeigt sich jedoch auch der fatale Eigensinn der mit juristischen Mitteln anzuwendenden Figur der Nothilfe: »Je 173 Vgl. Blanke 2000: 509 f. 174 In diesem Sinn hat auch Habermas im Zusammenhang mit dem Militäreinsatz im Golfkrieg argumentiert. Vgl. VZ: 24. Seine grundsätzliche Haltung zu Militäreinsätzen scheint hier noch etwas zurückhaltender als im Fall des Kosovo-Krieges zu sein. Vgl. VZ: 10 ff.

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entschlossener und brutaler die Regierung Serbiens bei ihrer Vertreibungsaktion zu Werk geht, desto schneller gehen den Nato-Staaten, die den Opfern zu Hilfe eilen wollen, die legalen Argumente zur Rechtfertigung ihrer Schutzmaßnahmen aus.«175 Es liegt in der Hand des mutmaßlichen Verbrechers, über die Legalität einer Polizeiaktion zu entscheiden. Die Argumentation Habermas’ steht damit vor einem gewissen Dilemma: Schreckt sie davor zurück, die NATO-Aktion allein auf der Basis einer über der bloßen Legalität stehenden Legitimität im Hinblick auf einen zukünftigen kosmopolitischen Rechtszustand zu rechtfertigen, so muss sie auf die ohnehin in ihrer völkerrechtlichen Geltung umstrittene Figur der Nothilfe zurückgreifen. Da deren Legalität jedoch nur an der Geeignetheit der Mittel zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe gemessen werden kann, macht sie den vermeintlichen Täter zum Subjekt der Entscheidung über diese Legalität und führt darüber hinaus möglicherweise sogar noch zu einer weiteren Eskalation des Konflikts, da im Fall des Kosovos der Einsatz von Bodentruppen rein juristisch als geeignetes und erforderliches Mittel der Nothilfe hätte gelten müssen. Habermas’ Beitrag ließe sich durchaus die Strategie unterstellen, dieses Dilemma dadurch zu umgehen, dass vorsorglich beide Argumentationslinien vertreten werden. Doch der Versuch, eine an Apels Teil B orientierte, in die Zukunft verlegte Rechtfertigung mit der Figur der Nothilfe legalistisch einzuholen, muss aufgrund des hier Vorgebrachten suspekt bleiben, so dass Habermas letztlich nur die Rechtfertigung im »Vorgriff auf einen künftigen kosmopolitischen Zustand«, also einer »durchgreifenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen« (BuH: 6) bleibt. Eine solche Rechtfertigung teilt ihre problematischen Implikationen mit Apels Teil B, und Habermas ist sich dessen bewusst, wenn er immer wieder und zuletzt am Ende des Beitrags betont, eine solche Aktion müsse »die Ausnahme bleiben« (BuH: 8). Derartige Versicherungen bleiben natürlich auf der Theorie-Ebene unbefriedigend. Jedoch muss auch bedacht werden, dass es sich bei dem Beitrag Habermas’ auch ein Stück weit um einen Ausflug in fremdes Terrain handelt, den der Intellektuelle Habermas unternimmt, weil er glaubt, zu einer Thematik, welche die politische Öffentlichkeit in einen Unruhezustand versetzt hat, Stellung beziehen zu müssen. Obwohl der Artikel durchaus Bezüge zu dessen Theoriegebäude herstellt, insbesondere zu dem Verhältnis von Recht und Moral, merkt man ihm an, dass Habermas’ theoretischem Denken die Binnenperspektive von Kollektiven näher liegt und es daher 175 Blanke 2000: 513.

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auch nicht in der Lage ist, über das Niveau des Teils B der Apel’schen Diskursethik hinauszugelangen.176 Doch selbst wenn man Habermas zugesteht, dass sein Paradigma eher auf die Binnenverhältnisse von Kollektiven ausgelegt ist und dies eine legitime Einschränkung des Erklärungsanspruchs darstellt, kann er der Frage nach dem Verhältnis von strategischem und konsensualem Handeln doch nicht gänzlich ausweichen. Schließlich ist mit der vollmundigen Feststellung, »in unseren Breiten sind diese Fragen einer revolutionären Moral [...] glücklicherweise nicht aktuell« (THE: 28), da hier die notwendigen Bedingungen für eine Etablierung des diskursethischen Verfahrens gegeben sei, unmittelbar die Frage verknüpft, wie es um Gesellschaften außerhalb »unserer Breiten« bestellt ist. Habermas ist sich darüber im Klaren, dass es Gesellschaften gibt, in denen »die bestehenden Verhältnisse für Forderungen einer universalistischen Moral der pure Hohn sind« angesichts der »nackten Fakten der Verelendung, Beleidigung und Entwürdigung« (THE: 27). Hier stelle sich die Frage: »Wie läßt sich reflexives moralisches Handeln, also eine Praxis, die auf die Realisierung notwendiger Bedingungen für ein menschenwürdiges Dasein und die Einrichtung von Diskursen abzielt, moralisch rechtfertigen?« (Ibid.) Habermas gibt sich vorsichtig: »Darauf gibt es nur tentative und bestenfalls prozedurale Antworten.« (Ibid.) Er verweist auf seine eigenen diesbezüglichen Gedanken in Theorie und Praxis.177 Weiterhin spricht Habermas von einer »politischen Ethik« (ibid.), die hier an die Stelle der Moral trete, deren Ausarbeitung, so darf man ergänzen, jedoch noch nicht geleistet ist. Darüber hinaus hat es den Anschein, als ob Habermas in bestimmten Zusammenhängen durchaus von der Legitimität strategischen Verhaltens ausginge, ohne dies jedoch explizit zu machen. Hier ist auf die Sprache und Metaphorik zu verweisen, die er benutzt, um die Praktiken sozialer Bewegungen zu charakterisieren. Immer wieder ist hier die Rede von »kollektiven Anstrengungen und Opfern« (THE: 26), davon, dass selbstorganisierte Öffentlichkeiten eine »kluge Kombination von Macht und intelligenter Selbstbeschränkung entwickeln [müssten]« (PhDM: 423), und ein »Handeln, das sich an ethischen Grundsätzen orientiert«, müsse sich eben auch »mit Imperativen ins Benehmen setzen, die 176 Einzig in Habermas’ Aufsatz Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren taucht die Thematik völkerrechtlich nicht vollständig gedeckter Militärinterventionen schon einmal auf. 177 Allerdings sucht man hier vergeblich nach einer Ausarbeitung der Problematik, da Habermas sich nur auf die relativ knappen Ausführungen in der Einleitung zur Neuausgabe bezieht.

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sich aus strategischen Zwängen ergeben« (DE: 116). Nach Habermas »bedurfte es immer wieder, und bedarf es bis heute, sozialer Bewegungen und politischer Kämpfe, um aus den schmerzhaften Erfahrungen und den nicht wiedergutzumachenden Leiden der Erniedrigten und Beleidigten, der Verwundeten und Erschlagenen zu lernen, daß im Namen des moralischen Universalismus niemand ausgeschlossen werden darf.« (VP: 115 f.) Diese Aussagen lassen vermuten, dass Habermas hier keineswegs an rein verständigungsorientiertes Handeln denkt. Wie sich diese Würdigung des Handelns sozialer Bewegungen mit der Konsensorientierung der Diskursethik verträgt, ist nicht auf den ersten Blick einsichtig. Es gibt allerdings noch eine zweite Schiene, auf der man sich in Habermas’ Konzeption eher indirekt der Problematik annähern kann, und die möglicherweise ein wenig zu einer Vermittlung beitragen kann. Die Zumutbarkeit nichtstrategischen Handelns Habermas wendet sich in seinen Ausführungen zur Diskursethik hinsichtlich eines weiteren Aspektes gegen die Rigidität einer kantischen Pflichtethik. Er führt für die Diskursethik eine Art Zumutbarkeitsklausel ein. Sie besagt: »Die Gültigkeit moralischer Gebote ist an die Bedingung geknüpft, dass diese als Grundlage einer allgemeinen Praxis generell befolgt werden.« (EDE: 136) Mit dieser Klausel soll vermieden werden, dass supererogatorisches Verhalten, mit anderen Worten Märtyrertum, zur moralischen Pflicht wird. Mit derartigen Opfern soll die Vernunftmoral brechen, wenn jenen auch nach wie vor unsere moralische Bewunderung gelte, wie Habermas meint. Das Stichwort »Gesinnungsethik« fällt im Zusammenhang mit diesen Erläuterungen kein einziges Mal. Habermas leitet mit ihnen in den meisten Fällen über zu dem Postulat einer Kooperation von Moral und Recht, auf das ich im Rahmen der Behandlung der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates weiter unten zu sprechen komme. Dennoch lässt sich die Zumutbarkeitsklausel bedingt auf die hier in Frage stehende Problematik anwenden. Ist eine Situation dadurch gekennzeichnet, dass Individuum B offenkundig strategisches Handeln intendiert und wird darüber hinaus dieses strategische Handeln nicht durch das an die Seite der Moral tretende Recht negativ sanktioniert, dann darf auch von Individuum A kein supererogatorisches Verhalten moralisch eingefordert werden. Damit lässt sich zumindest festhalten, dass der Konsenstheoretiker Habermas auch strategisches Handeln unter bestimmten Umständen für akzeptabel hält. Die Spezifizierung dieser Umstände hängt entscheidend davon ab, wie die Funktion des hinzutre-

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tenden Rechts ausgelegt wird. Habermas denkt natürlich an den Fall, dass moralische Normen rechtlich kodifiziert werden müssen, um ihnen tatsächlich allgemeine Geltung zu verschaffen und im Zweifelsfall ihre Einhaltung zu erzwingen. Diesbezüglich gewinnt dann die Frage nach der Legitimität des Rechts und des dieses durchsetzenden Staates an Bedeutung bzw. die Frage, mit welchem Verhalten auf den pathologischen Fall illegitimen Rechts zu reagieren ist, das moralischen Normen entgegensteht.178 Doch der Gedanke der Zumutbarkeitsklausel lässt sich auch in eine andere Richtung entwickeln, die für die vorliegende Problematik fruchtbarer erscheint und für die tatsächlich die Art und Weise, wie man Habermas’ Phrase, das Recht trete an die Seite der Moral,179 interpretiert, entscheidend ist. In seinem Analyserahmen, der im Gegensatz zu dem Apels vornehmlich auf die Innenperspektive von Kollektiven ausgerichtet ist, geht Habermas wohl kaum von einer völlig »rechtsfreien« strategischen Situation aus, sieht man von dem Extrem eines Bürgerkrieges ab.180 Zu klären wäre dann, wie das Recht auf eine strategische Situation wirken muss, damit die Zumutbarkeitsklausel nicht mehr greift, in welche Richtung und mit welcher Intensität. Das andere Extrem jener »rechtsfreien« Situation, in der moralisches Handeln nicht mehr als Pflicht angesehen werden kann, wäre eine Situation, in der strategisches Verhalten negativ sanktioniert wird. Hier wäre verständigungsorientiertes Verhalten zumutbar, doch ließe sich auch an dem genuin strategischen Charakter dieser Situation zweifeln. Die eigentlich interessanten Fälle liegen zwischen den beiden Extremen. Fraglich wäre beispielsweise, ob die Zumutbarkeitsklausel in strategischen Settings greift, deren Rahmen von Rechtsnormen gebildet wird. Es ließe sich hier an Tarifverhandlungen denken, deren Rahmen rechtlich kodifiziert ist, innerhalb dessen jedoch strategisch gehandelt werden kann. Ginge man hypothetisch davon aus, dass Habermas hier strategisches Handeln akzeptieren würde,181 dann ließen sich in einem nächsten Schritt möglicherweise auch die Praktiken, die 178 In diesem Kontext sind Habermas’ Gedanken zum Phänomen des Zivilen Ungehorsams anzusiedeln. 179 Dass hier das Recht die Moral ergänzt, deutet schon auf die Revision des Habermas’schen Rechtsverständnisses hin, das in Faktizität und Geltung dann voll zum Tragen kommt. Das Recht verliert zunehmend seinen grundsätzlich problematischen Charakter aus der Theorie des kommunikativen Handelns. 180 Hier sei nur an die Diagnose der Theorie des kommunikativen Handelns erinnert, die von Verrechtlichungsschüben ausging. 181 Vgl. hierzu Habermas’ Äußerung in: VZ: 147, die diese Hypothese zumindest ansatzweise stützt.

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Neue Soziale Bewegungen verfolgen, um ihre Forderungen gegenüber Institutionen wie dem Staat durchzusetzen, unter das Modell einer rechtlich eingerahmten strategischen Situation subsumieren. Damit ergäbe sich nicht nur die Möglichkeit, die konsensorientierte Diskursethik und die positive Würdigung des strategischen Handelns sozialer Bewegungen182 in eine gewisse Konsistenz zu bringen, sondern eine Verbindung der Diskursethik mit den strategischen Konzepten Foucaults rückte zudem in den Bereich des Möglichen. Die hier gemachten Ausführungen stehen oftmals im Konjunktiv, da es sich vielfach um hypothetische Argumentationen, ja sogar Spekulationen handelt. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass Habermas nicht nur für nichtwestliche, prämoderne Gesellschaften von strategischem Handeln ausgeht, das Legitimität beanspruchen kann. Damit können grundsätzliche Bedenken gegen eine Verbindung von Diskursethik und strategischen Analysen ausgeräumt werden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich beim späten Foucault wiederum in Ansätzen die Möglichkeit nichtstrategischer Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren und den Regierenden findet: »Hingegen ist es möglich, von den Regierenden eine gewisse Wahrheit zu verlangen [...] das ist die parrhesia (die freie Rede) des Regierten, der Anfragen an die Regierung stellen kann und soll – im Namen des Wissens und der Erfahrung, die er als Staatsbürger besitzt; er kann fragen, was der andere macht, fragen nach dem Sinn seines Handelns und nach den Entscheidungen, die dieser gefällt hat. [...] ... haben wir als Regierte das gute Recht, Fragen nach der Wahrheit zu stellen.« (Ästhetik: 139)

Hier hat es den Anschein, als bestände zwischen Staat und Bürger sogar eine Art moralisches Band, das für bestimmte Zusammenhänge strategische Interaktionen unterbinden soll. Fraglich bleibt jedoch, wie eine solche Verbindung im Detail aussehen könnte. Lässt sich strategisches Verhalten unter bestimmten Umständen als moralisch richtig auszeichnen, ja, kann es sogar zu einer moralischen Pflicht werden? Apel hat diesbezüglich eine äußerst problematische Antwort gegeben, und auch Habermas hat sich hierzu nur zurückhaltend geäußert. Die Möglichkeit einer starken normativen Rechtfertigung strategischen Verhaltens, die an klare Kriterien geknüpft ist, besteht daher meines Erachtens im Moment nicht – 182 Honneth hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Neuen Sozialen Bewegungen jedenfalls zum strategischen Handeln aufgerufen seien, allerdings bleibt die Frage der Legitimierung auch bei ihm ungeklärt: »Keine soziale Bewegung hätte jemals Erfolg, die sich mit Hilfe der Diskursethik durchsetzen wollte, um Himmels willen!« (Bonß et al. 1985: 145)

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wenn auch nicht ausgeschlossen ist, dass eine solche normative Auszeichnung gelingen kann. Bisher lässt sich allenfalls von einer diffusen Akzeptabilität strategischen Verhaltens sprechen. Wie gezeigt wurde, muss selbst Habermas die Möglichkeit akzeptablen strategischen Verhaltens unterstellen. Dann stellt sich aber die Frage, die hier schon angesprochen wurde: In welchen Settings besteht die moralische Pflicht zu konsensualem Handeln und in welchen entfällt diese Pflicht, so dass auch strategisches Verhalten akzeptabel ist, mit anderen Worten: In welchen Settings soll Habermas, in welchen Foucault zum Zuge kommen? Zumindest mit Blick auf das langfristige Ziel einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung in der Ethik/Moral bedarf diese Problematik einer genaueren Klärung. Lässt sich die Thematik des strategischen Handelns tendenziell eher als mögliches Sperrpotential von Seiten Habermas’ verstehen, so sind im Folgenden Foucault’sche Vorbehalte gegenüber einem integrierten Ansatz zu thematisieren. 3.3 Diskurse als Machtkonstellationen – Foucault’sche Bedenken Aus Foucaults Perspektive besteht natürlich durchaus Anlass an der Möglichkeit einer Kombination beider Ansätze zu zweifeln. Schließlich hatte sich Foucault schon in seiner genealogischen Phase als radikaler Kritiker der Sexualmoral profiliert. Einer seiner Hauptvorwürfe bestand darin, die Moral unterwerfe die Individuen einem Geständniszwang. Sie horche sie aus über ihre Wünsche, Bedürfnisse und Begehren und installiere in den Individuen einen rastlosen Willen zum Wissen, der für das Funktionieren von Machtmechanismen unverzichtbar sei. Auch noch dem Ethiker Foucault muss daher ein Habermas’scher Diskurs zumindest nach wie vor suspekt sein, könnte er doch nur allzu leicht zum Schauplatz der Geständnisse der Individuen über sich selbst werden. Darüber hinaus dürfte sich Foucault gegenüber der Diskursethik reserviert zeigen, wenn sich deren kritische Intention tatsächlich auf die Aussage bringen ließe: »Die Realität ist immer da kritikabel, wo Reflexion und Diskurs verhindert oder verstümmelt werden.«183 Dann könnte die Diskursethik als Programm zur Anreizung zu Diskursen verstanden werden, und dies hatte der Genealoge Foucault noch als eine der wichtigsten Strategien moderner Machtregime erachtet (vgl. WW: 27 ff.). Und dennoch griffe die Folgerung, radikale Diskursvermei183 So Noetzel 1991: 30.

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dung stelle per se schon einen Schlag gegen die Macht dar, selbst für den Genealogen Foucault noch zu kurz. In Der Wille zum Wissen finden sich im Rahmen der Methodik der Machtanalyse vier »Regeln« oder »Vorsichtsregulative« (WW: 119), von denen sich Foucault bei seiner Analytik leiten lassen will. Eines dieser Vorsichtsregulative ist mit dem Titel »Regel der taktischen Polyvalenz der Diskurse« (WW: 122) überschrieben, und erläutert, warum Diskursverweigerung noch keine fruchtbare Strategie darstelle. Vor allem dürfe man nicht essentialistisch unterstellen, dass Diskurse, nur weil sie durch die Macht hervorgebracht wurden, immer nur deren Instrument sein können.184 Diskurse sind umkämpftes Terrain, sie können umgedeutet werden.185 Als Beispiel führt Foucault die Schwulen186-Bewegung an, die sich für ihr Projekt einer gesellschaftlichen Anerkennung den wissenschaftlichen Diskurs teilweise zunutze machen konnte. Aufgrund dessen lässt sich aus Foucaults Diskurskritik sicherlich nicht die Widerstandsstrategie der Diskursvermeidung folgern, die zu einer unüberwindlichen Distanz zur Diskursethik führen müsste: »Der Diskurs befördert und produziert Macht; er verstärkt sie, aber er unterminiert sie auch, er setzt sie aufs Spiel, macht sie zerbrechlich und aufhaltsam. Desgleichen sichern das Schweigen und das Geheimnis die Macht und ihre Untersagungen; aber sie lockern auch ihre Zugriffe und schaffen mehr oder weniger dunkle Spielräume.« (Ibid.)

Bestehen also selbst zwischen dem Genealogen und der Diskursethik in dieser Hinsicht keine fundamentalen Gegensätze, so lässt sich dies a fortiori vom Ethiker Foucault behaupten. Die dialogische Ausrichtung dieser Ethik ist zwar im184 »Die Diskurse ebensowenig wie das Schweigen sind ein für allemal der Macht unterworfen oder gegen sie gerichtet.« (WW: 122) 185 »Es handelt sich um ein komplexes und wechselhaftes Spiel, in dem der Diskurs gleichzeitig Machtinstrument und -effekt sein kann, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie.« (WW: 122) 186 Schon allein die Tatsache, dass homosexuelle Männer sich selbst als »schwul« bezeichnen oder dass Prostituierte sich als »Huren« bezeichnen, ist ein Mikro-Beispiel für die Polyvalenz der Diskurse. Beide Bezeichnungen waren ursprünglich negativ konnotiert und wurden gebraucht, um über die jeweiligen Gruppen zu sprechen. Beiden Bewegungen ist es gelungen, diese Bezeichnungen zu okkupieren und weitgehend ins Positive umzudeuten. Darüber hinaus interessant ist die Tatsache, dass beide Bewegungen Wert auf eine nichtwissenschaftliche Selbstbezeichnung legen. Darin offenbart sich meiner Einschätzung nach der Versuch, sich gegen die Betrachtung seiner selbst als wissenschaftlich zu analysierender »Fall«, der eine gewisse Abweichung von der gesellschaftlichen Normalität offenbart, zur Wehr zu setzen. Auch dies ist ein dezidiert foucauldianisches Motiv.

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mer wieder problematisiert worden (s. o.), aber das Postulat einer grundsätzlichen Diskursvermeidung lässt sich aus ihr sicherlich nicht folgern. Was Foucault zweifellos positiv bewerten würde, wäre die grundsätzlich anti-elitäre Ausrichtung des praktischen Diskurses.187 Streng dialogisch konzeptionalisiert, bestünde in ihnen nicht mehr die Gefahr, dass Moral durch ein Oktroy von Klerikern, Philosophen und Sozialtechnologen etabliert wird. Der praktische Diskurs ist auf das Alltagswissen der Individuen zugeschnitten, Meinungen und Behauptungen der Laien genießen grundsätzlich die gleiche Legitimität wie die der Experten. Wie oben schon erläutert, müssen die Laien im Diskurs darauf bestehen können, dass Expertenmeinungen so lange erläutert werden, bis sie allgemein verständlich werden. Dieser antielitäre Zuschnitt wirkt sich auch auf das Bild des Philosophen bei Habermas aus: In Diskursen sind sie Teilnehmer wie alle anderen, ohne einen privilegierten Zugang zur Wahrheit reklamieren zu können (vgl. IK: 96). Allenfalls können sie die Rolle von Experten hinsichtlich bestimmter Themen einnehmen, wobei die Charakterisierung dieser Experten durch Habermas sehr stark an die des spezifischen Intellektuellen bei Foucault erinnert. Dieser hatte die Kategorie des Intellektuellen auf die gleiche Weise demokratisiert, wie dies nun auch bei Habermas durch die Kategorie des Experten geschieht: Spezifische Intellektuelle bzw. Experten können aus allen Bereichen und Schichten der Gesellschaft stammen, bei Foucault konnte der Gefängnisaufseher zum spezifischen Intellektuellen werden, bei Habermas können alle diejenigen, die beispielsweise etwas von »Ökonomie oder Gesundheitsfragen oder Atomenergie verstehen« (ibid.), zu Experten werden. Habermas geht sogar so weit, jene Experten als Intellektuelle zu bezeichnen, womit der Brückenschlag von seiner Seite zu Foucault gelungen sein dürfte. Umgekehrt deckt sich Foucaults praktische Umsetzung des Konzeptes vom spezifischen Intellektuellen zumindest in bestimmten Aspekten mit der Grundintuition der Diskursethik: Die von Foucault mitgegründete GIP (Groupe d’Information des Prisons) beabsichtigte nicht, die Insassen der Gefängnisse zu repräsentieren, sondern diesen die Möglichkeit zu bieten, selbst das Wort zu ergreifen, um ihre Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren.188 Im Zusammenhang mit der Orientierung hin zum Alltags- oder Laienwissen, dessen »Reaktivierung« ja von Foucault energisch vertreten wird, verdient auch Habermas’ Bezugnahme auf die moralischen Alltagsintuitionen Beachtung. 187 Müller-Doohm hat die zunehmende Abkehr von elitären Denkfiguren bei Habermas sehr gut herausgearbeitet. Vgl. Müller-Doohm 2000: 97. 188 Vgl. Kritzmann 1994: 31.

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Zunächst könnte vermutet werden, dass diese Argumentation Foucaults uneingeschränkte Zustimmung findet. Schließlich siedelt Habermas hier eindeutig das moralische Alltagswissen höher an als das Wissen der Moralphilosophie oder der entsprechenden Wissenschaften. Es könnte also eine gewisse Korrespondenz mit Foucaults »Aufstand der ›unterworfenen Wissen‹« existieren. Wissen, »die als nicht-begriffliches Wissen, als unzureichend ausgearbeitetes Wissen abgewertet wurden: naive, am unteren Ende der Hierarchie angesiedelte Wissen, Wissen unterhalb des verlangten Kenntnisstandes und des erforderlichen Wissenschaftsniveaus« (VG: 15). Darüber hinaus dürfte das von Habermas vertretene therapeutische Selbstverständnis der Moralphilosophie ganz der antielitären Orientierung Foucaults entsprechen, dem das Verständnis der Philosophie als Hort eines höheren Wissens ohnehin immer recht fremd geblieben war. Andererseits dürften Foucault jedoch die Details der intuitivistischen Argumentation Habermas’ unangenehm auffallen. Wenn dieser schreibt: »Schuldgefühle sind ein handgreiflicher Indikator für Pflichtverletzungen« (VP: 115), dann könnte dies wohl kaum die Zustimmung des nietzscheanisch geprägten Foucaults finden. Wie schon die Transzendentalpragmatiker, so würde auch Foucault das essentialistisch-substantialistische Verständnis von moralischen Intuitionen rügen und noch stärker deren konstruierten Charakter hervorheben: Habermas scheint zu suggerieren, dass Schuldgefühle aus der Verletzung legitimer intersubjektiver Normen entstehen, während Foucault darauf verweisen könnte, dass jene intersubjektiven »moralischen« Normen keinesfalls immer legitim seien, sondern sie – und damit auch korrespondierende Schuldgefühle – als Resultat einer produktivistischen Macht aufgefasst werden könnten. Daraus ergibt sich interessanterweise eine Art Rollentausch, da Foucault letztlich dem moralischen Alltagswissen der Individuen wohl doch skeptischer gegenübersteht als Habermas, wobei meiner Ansicht nach der Foucault’schen Position aufgrund der schon durch die Transzendentalpragmatik vorgetragenen Kritik hier der Vorzug gebührt. Geht Habermas in dieser Hinsicht noch einen Schritt weiter als Foucault auf dem Weg einer Entintellektualisierung, so bleibt die antielitäre Ausrichtung des praktischen Diskurses doch ambivalent. Die »Brechungen« verbergen sich gleichsam unter der Oberfläche der scheinbar gänzlich demokratisierten, dialogisch konzipierten Diskursethik. In den Notizen zu einem Begründungsprogramm findet sich ein meist unbeachtet gebliebener Exkurs, in dessen Rahmen Habermas eine Kritik der Moraltheorie Tugendhats unternimmt. In der Auseinandersetzung mit dieser eher an einem pragmatischen Pluralismus ausgerichteten

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Theorie wirft Habermas Tugendhat vor, für die »Angleichung von Argumentationen an Willensbildungsprozesse« damit zu bezahlen, dass er »die Unterscheidung zwischen der Gültigkeit und der sozialen Geltung von Normen nicht aufrechterhalten« (DE: 85) könne. Gegen diese Kritik Habermas’ wäre grundsätzlich nichts einzuwenden, doch er führt als Beleg folgendes Zitat aus Tugendhats Morality and Communication an: »To be sure we want the agreement to be a rational agreement, an agreement based on arguments and if possible on moral arguments, and yet what is finally decisive is the factual agreement, and we have no right to disregard it by arguing that it was not rational [...]«189 Im Umkehrschluss bedeutet Habermas’ Ablehnung dieser Auffassung Tugendhats, dass durchaus die Möglichkeit bestehen muss, einen faktischen Konsens zu kritisieren. Dies ist selbstverständlich für den Fall, dass der Konsens auf Manipulation, willkürlichen Ausschlüssen, Lügen und Drohungen beruht. Doch Tugendhat legt dem Diskurs zumindest sinngemäß die gleichen Regeln zugrunde wie Habermas (vgl. DE: 78). Dies hieße aber, dass Habermas sich die Möglichkeit offen halten will, faktische Konsense, selbst solche, die auf der Basis geltender Diskursregeln zustande gekommen sind, als irrational zu kritisieren. Dies würde jedoch einen extremen Rückfall in elitistische Vorstellungen bedeuten, die Foucault aufs Schärfste kritisieren würde.190 Das hier wiedergegebene Zitat kann natürlich als Einzelfall, der keine systematische Entsprechung in der Gesamtanlage der Diskursethik hat, abgetan werden. Und doch verweist diese minimale Inkonsistenz auf eine wichtige Frage im Zusammenhang mit den praktischen Diskursen, die Habermas und Foucault möglicherweise unterschiedlich beantworten würden: Wie ist mit einem prozedural einwandfreien Konsens umzugehen, der zu inhaltlich problematischen Ergebnissen kommt? Wäre der Konsens eines Kollektivs akzeptabel, das sich in einem formal korrekt durchgeführten praktischen Diskurs auf die allgemeine Geltung des Gebots der Witwenverbrennung einigt? Es ist davon auszugehen, dass Foucault dieses Ergebnis akzeptieren würde. Wie Habermas’ Haltung aussähe, ist weniger leicht abzuschätzen. Geht man davon aus, dass nur die realen Individuen in realen Diskursen über Normen entscheiden, dann müsste Habermas das Ergebnis akzeptieren. Zieht man die Kritik an Tugendhats Konzeption in Betracht, so scheint Habermas zu glauben, solche Ergebnisse als irra189 Zitiert nach DE: 83. 190 Cameron (2000: 192) spricht in diesem Zusammenhang von einer beinahe rousseauianischen Unterscheidung zwischen volonté de tous und volonté générale in Habermas’ Argumentation.

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tional kritisieren zu können. Am gangbarsten dürfte für Habermas jedoch eine vermittelnde Argumentation sein, die darauf abstellen würde, dass ein formal absolut korrekter Diskurs mit einem solchen inhaltlichen Ergebnis als contradictio in adjectio anzusehen sei.191 Damit bliebe die inhaltliche Entscheidung der Diskursteilnehmenden autonom und der entsprechende antielitäre Charakterzug der Diskursethik wäre gewahrt. Dennoch bliebe Habermas bzw. einem Beobachter die Möglichkeit der Kritik auf der Basis formaler Unzulänglichkeit, denn hier findet sich meiner Ansicht die systematische Entsprechung zu dem scheinbar singulären Widerspruch: Interpretiert man die Diskursregeln als idealisierende Unterstellungen, die faktisch nie gegeben sind, wie Habermas dies an vielen Stellen offensichtlich tut, dann können die inhaltlichen Konsense des Diskurses immer wieder von außen aufgrund ihres notwendig defizitären formalen Zustandekommens als »irrational« kritisiert werden.192 Die Figur der kontrafaktischen Unterstellung ermöglicht eine Rückkehr elitärer Positionen durch die Hintertür. Zwar müssen sich 191 In der Auseinandersetzung mit Vertretern der »Tübinger Schule« weist der HabermasSchüler Dubiel auf die Ambivalenz des diskursethischen Ansatzes in diesem Kontext hin: »Aber es steckt noch – ganz stark bei Apel, bei Habermas durchblicke ich es einfach irgendwo nicht – sozusagen die Erwartung dahinter, daß es gleichwohl in der bloßen formalen Sauberkeit eines Diskurses eine Garantie gibt für die materiale Bestimmtheit dieser Norm. Es ist nicht so [...], daß der Inhalt völlig beliebig ist, der bei formalen Diskursen herauskommt.« (Bonß et al. 1985: 87) Vgl. zu dieser Ambivalenz eine Anmerkung Habermas’, nach der Diskurse immer einen relativistischen Charakter hätten, insofern als es keine »knock-down-arguments« gebe. Andererseits existiere jedoch »the selectivity of a process of argumentation« (ASR: 446). Weinberger 1999: 337, Cohen 1999: 395 und Heller 1994: 282 bezweifeln in diesem Zusammenhang, dass das relativistische Moment ausbalanciert werden kann und problematisieren auf dieser Basis den Diskurs als rationales Entscheidungs- bzw. Begründungsverfahren. Letztere ist der Meinung, dass dem diskursethischen Verfahren die materialen Werte Freiheit und Leben zur Seite gestellt werden müssen, um rationale Ergebnisse zu erhalten. 192 In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Konsense natürlich immer fallibel sind und der Kritik grundsätzlich keinesfalls enthoben sein sollen. Maus hat aus einer eher juristischen Perspektive gerade diese institutionalisierte Reversibilität von Normentscheidungen in der Diskursethik als eine kritische Stärke angesichts der vorherrschenden Lehre »materialer Wertordnungen« in der Verfassungsinterpretation hervorgehoben. (Vgl. Maus 1999) Es geht hier jedoch einzig um die Frage, inwieweit sich der Beobachter Habermas anmaßt, ein superiores Wissen gegenüber den Diskursteilnehmern zu besitzen, auf dessen Basis er deren Entscheidung als »irrational« kritisieren könnte. Es geht um die Möglichkeit, den Konsens im Moment seines Zustandekommens zu kritisieren und nicht auf der Grundlage neuer »Fakten«.

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Philosophen und Intellektuelle in Zurückhaltung üben, was die Richtigkeit inhaltlicher Konsense angeht, da sie in praktischen Diskursen kein überlegenes Wissen für sich in Anspruch nehmen dürfen. Doch im Falle missliebiger inhaltlicher Konsense besteht im Folgenden die unbegrenzte Möglichkeit, diesen inhaltlichen Konsens aufgrund formaler Mängel als irrational zu kritisieren. Eine Option, die Habermas – zumindest, wenn man die Kritik an Tugendhat als Grundlage nimmt – sich allem Anschein nach offen halten will. Damit würde aber die antielitäre Ausrichtung der dialogischen Diskursethik auf bedenkliche Weise unterminiert, eine Entwicklung, die fraglos auf scharfe Kritik von Seiten Foucaults stoßen und die scheinbar überwundene Kluft in der Frage des Elitismus wieder neu aufreißen würde. Allerdings ist hier nur von der Gefahr eines zurückkehrenden Elitismus die Rede, die natürlich nicht ausreicht, um die Diskursethik als elitär und undemokratisch abzulehnen. Kontrafaktizität und Diskursrealismus Nicht nur in dieser Frage führen die kontrafaktischen Unterstellungen zu gewissen Spannungen zwischen beiden Positionen, was insofern interessant ist, als sie in einem anderen Kontext ja gerade eine Verminderung der Differenzen bewirkt hatten. Der Vergleich beider Haltungen zu Universalien im Rahmen der Gegenüberstellung von Genealogie und TKH in Kapitel II 3.1.2 konnte zeigen, dass Habermas’ Einführung der Figur der kontrafaktischen Unterstellung den Gegensatz zwischen ihm und Foucault auf ein Minimum reduzierte,193 so dass von einem fruchtbaren Spannungsverhältnis gesprochen werden konnte. Die von Habermas angestrebte sprachpragmatische Begründung einer kontexttranszendenten Moral dürfte Foucault aufgrund seiner Haltung zu Universalien als unmöglich bzw. äußerst gefährlich ansehen. Wenn überhaupt, dann würde er wohl höchstens mit einer kulturspezifischen Ausformulierung des Moralprinzips einverstanden sein. Wie die kritische Analyse der Habermas’schen Begründung in Kapitel III 1.2.3 gezeigt hat, dürfte dieser Schritt hin zu einem »schwachen« Universalismus auch die realistischste Option für ein erfolgreiches Begründungsprogramm der Diskursethik darstellen. Hatte die Kontrafaktizität also noch eine Annäherung zwischen Genealogie und TKH bewirkt, so erweist sie sich im Zusammenhang mit der Diskursethik als Ansatzpunkt für eine Kritik Foucaults. Denn nicht nur hinsichtlich einer 193 Diese minimale Differenz erstreckt sich natürlich auch auf die einschlägigen Aspekte der Diskursethik.

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überzeugenden Demokratisierung im Rahmen des praktischen Diskurses fungiert sie als potentielles Einfallstor für ein elitäres Selbstverständnis des Philosophen. Foucaults Befürchtungen, was einen praktischen Diskurs angeht, der konsensuell über die Geltung von Normen entscheidet, dürften sich neben den schon angesprochenen Punkten auf die mit der Diskurssituation verwobenen Herrschaftseffekte194 beziehen. An oberster Stelle stehen hier mögliche Ausschlussmechanismen und die Entmündigung bestimmter Individuen. Diese Einwände wurden in Kapitel III 1.2.4 ausführlich diskutiert um festzustellen, dass die Diskursethik allenfalls auf der Basis »harter« Diskursregeln zu einer überzeugenden Verteidigung in der Lage ist. Wenn Habermas die Diskursregeln als kontrafaktische Unterstellungen interpretiert, dann sind die von Foucault befürchteten Herrschaftseffekte letztlich nicht aus dem Diskurs zu bannen. Hieraus ergeben sich mehrere Folgerungen: Zunächst ist festzustellen, dass Foucaults und Habermas’ Einschätzung der Diskursrealität nicht so weit auseinanderliegt, wie gemeinhin angenommen wird. Aus beider Perspektive ergibt sich letztendlich, dass Macht- und Herrschaftseffekte nicht gänzlich eliminierbar sind. Dementsprechend erscheint es mir angebracht, den praktischen Diskurs von überzogenen Erwartungen zu entlasten. Wenn die Existenz von Machteffekten nicht geleugnet werden kann, die sich in subtilen Exklusionen und Fehlprojektionen äußern, dann scheint es kaum angebracht, allgemein bindende Verhaltensregeln, deren Legitimität sich auf einen normativ gehaltvollen Konsens stützt, aus diesem Verfahren extrahieren zu wollen. Die extrem hohen An194 Kritikwürdig für den späten Foucault sind, wie weiter oben erläutert, nur noch zu Herrschaftseffekten geronnene Machtmechanismen. Die hier in Frage stehenden Phänomene erfüllen jedoch durchaus die entsprechenden Kriterien. Die Kriterien, nach denen Individuen entmündigt werden, sind schließlich keineswegs reversibel, so dass die aktuell Ausgeschlossenen zu einem anderen Zeitpunkt die aktuell Teilnehmenden ausschließen könnten. Die weniger eloquenten Teilnehmer werden wohl kaum die eloquenteren davon überzeugen können, dass sie die suggestiveren Argumente haben und auch für die Ungeborenen macht die Vorstellung einer Umkehrung keinen Sinn. Die Versicherung Reese-Schäfers, »Foucault hat ja Recht, daß diese Diskurse eingrenzenden Bestimmungen, Ausschlußverfahren usw. unterliegen. Die Diskurstheorie vermag aber die legitimen Einschränkungen zu bestimmen, sie vermag zu sagen, daß die Diskurse, wenn sie bestimmten formalen Bedingungen genügen, wahre oder wahrheitsanaloge Ergebnisse hervorbringen werden«, dürfte Foucault kaum beruhigen. Es gibt wohl keinen Ausschlussmechanismus, der nicht von denjenigen, die ihn initiieren, als legitim gerechtfertigt wird. An diesen Punkten setzt doch die Arbeit Foucault immer wieder an, indem er zu zeigen versucht, dass sich diese Legitimität nur allzu oft bei näherer Betrachtung in Willkür auflöst. (Vgl. Reese-Schäfer 1991: 23)

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forderungen, die an ein Verfahren zur Generierung bzw. Begründung legitimer Normen im Sinne Habermas und erst recht im Sinne Foucaults gestellt werden müssten, erfüllt der praktische Diskurs nicht. Erwartet man von ihm, dass er diese Funktion erfüllt, dürfte letztendlich die gesamte Idee der Diskursethik in der Diskrepanz von Ansprüchen und Wirklichkeit aufgerieben werden, zumindest auf dem aktuellen konzeptionellen Stand. Habermas würde vermutlich hier wie in anderen Zusammenhängen bezüglich der Diskursethik als unvollkommener konkreter Praxis erwidern, dass selbst ein nicht perfekter Diskurs anderen machtbeladeneren Prozeduren zur Entscheidung über die Gültigkeit von Normen vorzuziehen sei, dass es mithin besser sei, nicht perfekte Verfahren zu praktizieren als diese mit Hinweis auf ihre Defizite gänzlich abzulehnen. Allerdings wären in diesem Fall schwierige Probleme zu lösen: Habermas müsste hier utilitaristisch argumentieren, dass beispielsweise subtile, minimale Exklusionen, umfassenderen Ausschließungen in anderen Verfahren vorzuziehen seien. Eine solche asymptotische Annäherung an den moralischen Standpunkt dürfte jedoch auf durchaus nachvollziehbaren Widerspruch stoßen.195 Sollen Ästhetik der Existenz und praktischer Diskurs als konkrete Praktiken miteinander verbunden werden, wie es eine ethisch-moralische Arbeitsteilung vorsähe, dann bedürfen diese Fragen jedenfalls einer genaueren Klärung. Doch die Diskursethik wird nicht nur als konkrete Praxis, sondern oftmals auch als Ideal eines Normbegründungsverfahrens angesehen, das selbst in seiner Kontrafaktizität noch als kritischer Maßstab bezüglich der Verfahren, in denen Normen überprüft bzw. generiert werden, fungieren kann.196 Es ist also zumindest in Ansätzen zu klären, wie sich diese alternative Version der Diskursethik, die sich aus einer diesbezüglichen Ambivalenz im Ansatz Habermas’ ergibt, auf die weiter oben hingewiesen wurde (vgl. Kap. III 1.2.4), zu Foucaults Konzeptionen in Beziehung setzen lässt.

195 Auf diese Probleme wird im Folgenden zurückgekommen. 196 Maus sieht in dieser Funktion, die sich aus der Kontrafaktizität ergibt, den eigentlichen »Stachel der Kritik« der Diskursethik (Maus 1999: 728). Allerdings gibt es auch andere Stimmen in der Literatur. So ist sich die »Tübinger Schule« mit einigen HabermasSchülern darüber einig, dass eine in erster Linie kontrafaktisch zu verstehende Diskursethik »politisch uninteressant« sei (vgl. Bonß et al. 1985: 102 f.).

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Grenzen der Diskursethik als kontrafaktisches Ideal Allerdings bringt die Anwendung der Diskursethik auch in der Funktion als kontrafaktisches Ideal gewisse Schwierigkeiten mit sich, die dem skizzierten Problem einer quantitativen Annäherung an den moralischen Standpunkt ähneln. Auch als kontrafaktisches Ideal bietet sie keine zureichenden Kriterien, um eine Hierarchie zwischen unterschiedlichen »second-best-Lösungen« zu etablieren.197 Wir können zwar mit Hilfe einer als Ideal verstandenen Diskursethik Verfahren zur Begründung von Normen insoweit kritisieren, als diese Verfahren mit Ausschlüssen einhergehen. Wir wissen jedoch nicht, ob Diskurse, die Frauen ausschließen, näher am Ideal liegen als Diskurse, die Migranten und Migrantinnen ausschließen. Da es gemäß dem Verständnis der Diskursethik als ideales im Sinn von unrealisierbares Verfahren zur Normbegründung nur Second-best-Lösungen gibt, wären solche Kriterien von enormer Bedeutung. Soll sie schon einzig als kontrafaktische Messlatte fungieren, als ein Ideal, an welches eine asymptotische Annäherung aufgegeben ist, so müsste sie zumindest spezifizieren, was als eine zunehmende Annäherung zu gelten hat. Doch mit diesen Fragen sind diejenigen, welche die Diskursethik in einer solchen Weise anwenden wollen, im Moment noch weitgehend allein gelassen. Gewisse Intuitionen, wie die Vorstellung, dass der Ausschluss einer Person weniger problematisch sein dürfte als der Ausschluss einer Vielzahl, erweisen sich bei genauerem Hinsehen oftmals als trügerisch bzw. verweisen auf Dilemmata, die aus der Demokratietheorie vertraut sind: Gegeben sei der Fall, Gruppe A, zu der zehn Personen gehören, wird von einer Norm negativ betroffen, an deren Begründung sie nicht beteiligt war. Wie verhielte sich dieser Fall im Vergleich zum Fall einer Gruppe B, zu der 100 Personen gehören und die ebenfalls im Verfahren der Begründung einer sie negativ betreffenden Norm nicht beteiligt wurde. Eine rein quantitative Betrachtung reicht in diesem Fall kaum aus, da Gruppe A möglicherweise die negativen Auswirkungen einer Norm subjektiv um ein Vielfaches unerträglicher erlebt als Gruppe B.198 Für die Abwägung, welche der beiden Verfahren näher am Ideal liegt, bedürfte es mithin Informationen über die Präferenzstruktur der Beteiligten und vor allem müssten diese Präferenzen bzw. 197 Vgl. zum Problem eines Vergleichs von »second-best-Lösungen« im Rahmen normativer Theorien Ullmann-Margalit 1983 und Peters 2000: 279. 198 In der Demokratietheorie wird dieses Dilemma zumeist bezüglich der Frage einer Gewichtung von Stimmen in Wahlen und insbesondere Abstimmungen thematisiert. Die oft zitierte Frage in diesem Zusammenhang: »Überstimmen 1000 matte ›Ja‹ ein leidenschaftlich geschrienes ›Nein‹?«

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die Nutzeneffekte, die sich auf der Basis dieser Präferenzen ergeben, quantifizierbar sein. Doch von einer solchen intersubjektiven Vergleichbarkeit von Nutzen ist die politische Theorie nach dem Niedergang des quantitativen Utilitarismus eines James Mill weit entfernt. Von ihr kann die Diskursethik keine Hilfe erwarten und steht damit auch noch als kontrafaktisches Ideal vor gewichtigen Problemen.199 Eine grundsätzlich vorstellbare Kombination der Ästhetik der Existenz als konkreter Praxis mit der Diskursethik als kontrafaktischer kritischer Messlatte hinsichtlich Normbegründungsverfahren, würde Weiterentwicklungen im Evaluativ-Wissen der Diskursethik voraussetzen, um zu einer tatsächlich fruchtbaren Kooperation der Ansätze zu gelangen. Das Potential einer solchen Kombination mag nicht ganz so hoch zu veranschlagen sein, wie das einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung, wie sie oben skizziert wurde, dennoch könnten auch hier Defizite beider Ansätze ausgeglichen werden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kombinationsmöglichkeiten der Ansätze, die bis hierher vorgestellt wurden, an Weiterentwicklungen geknüpft sind, die vor allem auf dem Gebiet der Diskursethik stattfinden müssten. Dass hier vor allem auf Weiterentwicklungen der Diskursethik gedrängt wird, liegt selbstverständlich nicht an der vermeintlich schlechteren Qualität von Habermas’ Konzepten, sondern daran, dass man sich die Lösung der hier skizzierten Probleme sicherlich eher auf der vergleichsweise elaborierten Grundlage der Diskursethik als der Ästhetik der Existenz erhoffen kann. Wie schon mehrmals erwähnt, dürfen die hier vorgenommenen Problematisierungen der diskursethischen Konzepte daher keinesfalls als apodiktische Aufforderung verstanden werden, das Projekt der Diskursethik aufzugeben. Sie sollen vielmehr diejenigen Sektoren des Theoriegebäudes identifizieren, die einer Modifizierung bedürfen, um das volle Potential eines Habermas-Foucault-Eklektizismus auszuschöpfen. Ist dies das langfristige Ziel, so ist nun abschließend der Frage nachzugehen, ob sich die beiden Ansätze mit all ihren sicherlich vorhandenen Unzulänglichkeiten nicht auch schon kurzfristig in einer durchaus fruchtbaren Konzeption zusammenführen lassen.

199 Vgl. hierzu auch Blaug, der das gleiche Dilemma herausarbeitet, indem er das diskursethische Verfahren als Mehrkomponenten-Ideal begreift und zeigt, dass es nicht möglich ist, Verbesserungen in einer Komponente mit Verschlechterungen in anderen zu verrechnen. So gelte bezüglich Habermas’ Theorie: »As such, it can illuminate the components of fair communication and prompt us to ask the right questions. Yet, the ideal remains insufficiently discerning to guide our actions.« (Blaug 1997: 117)

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3.4 Habermas und Foucault: Ethik des Dialoges und Ästhetik der Existenz Die positiven Aspekte einer Diskursethik, verstanden als konkrete Praxis, lassen sich meines Erachtens in einem ernüchterten Diskursrealismus zur Geltung bringen. Der Diskurs dient dann nicht mehr dazu, allgemein bindende Verhaltensregeln zu begründen, sondern stellt den Versuch dar, »das Spektrum der strittigen Themen und Gründe zu erweitern und die [...] Kommunikation offenzuhalten« (IK: 97). Habermas hat diese Formulierung benutzt, um das Wirken des Intellektuellen zu kennzeichnen, doch dies könnte auch als die Funktion des Diskurses aufgefasst werden. Könnte er doch als ein Verfahren bezeichnet werden, das auf eine möglichst umfassende Sättigung mit Gründen abzielt und als prozeduraler Wissensgenerator gelten kann. Zudem kann der Diskurs dazu dienen, latente in manifeste Konflikte zu verwandeln. Nicht nur das Finden eines Konsenses, auch das Offenlegen eines Dissenses ist von Wert. Der Zielpunkt eines Diskurses wäre dann auch nicht mehr der Konsens, sondern eine interessante und fruchtbare Nicht-Übereinstimmung, wie beispielsweise Richard Rorty vorschlägt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer treten nicht in den Diskurs ein, um auf seiner Basis bindende Verhaltensregeln beschließen zu können, sondern fassen ihn eher als mehr oder weniger informatives Gespräch auf, an dessen Ende Konsens, aber auch Dissens stehen können. Sie unterstellen nicht einen vollständigen Rollentausch, also das, was für Benhabib durch »Symmetrie und Reziprozität«200 möglich wird, als möglich, sondern die von Young propagierte »asymmetrical reciprocity«201. »Asymmetrical reciprocity« geht davon aus, dass ein Rollentausch nie vollständig gelingen wird, und zwar nicht nur aufgrund kognitiver Hindernisse, sondern auch aufgrund von nicht völlig egalisierbaren Machtdifferentialen, die den Versuch, die Perspektive eines anderen einzunehmen, oftmals in eine Projektion eigener Bedürfnisse und Wünsche münden lassen. Im Wissen über das Vorhandensein von Macht und der Möglichkeit solcher Mechanismen gilt es, eine gewisse Distanz zu anderen Diskursteilnehmern zu wahren, die ihre Grundlage in gegenseitigem Respekt hat: »Thus the ethical relation of asymmetrical reciprocity looks like this. We meet and communicate. We mutually recognize one another, and aim to understand one another. Each is open to such understanding by recognizing our asymmetry. A condition of our communication is that we acknowledge difference, interval, that others drag behind them shadows and histo200 Benhabib 1992: 32. 201 Young 1997: 350.

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ries, scars and traces, that do not become present in our communication. Thus we each must be open to learning about the other person’s perspective, since we cannot take the other person’s standpoint as our own.« »This implies that we have the moral humility to acknowledge that even though there may be much I do understand about the other person’s perspective through her communication to me and through the constructions we have made common between us, there is also always a remainder, much that I do not understand about the other person’s experience and perspective. […] A respectful stance of wonder toward other people is one of openness across, awaiting new insight about their needs, interests, perceptions, or values.«202

Der Diskurs wäre dann die Möglichkeit einer Verständigung, die von dem Willen getragen ist, den Anderen als solchen unversehrt zu lassen, der Versuchung einer Assimilierung durch eine scheinbar ideale Rollenübernahme zu widerstehen und dem Anderen einen Rest an Fremdheit zuzugestehen.203 Ein Verfahren, das sich des Dilemmas annimmt, das Roberto Unger (1984) in den Worten gefasst hat: »We present to one another both an unlimited need and an unlimited threat.« Dieses Dilemma lässt sich folgendermaßen ausformulieren: »We need each other in order to become human and to sustain our lives as viable projects. Our identities are initially formed by processes of intersubjective recognition, and they are then sustained by practices and institutions which protect that intersubjectivity. But we also threaten one another’s existence: we may neglect or isolate others, dominate or assimilate them.« 204

202 Young 1997: 354 bzw. 358. Die Tatsache, dass bei Young diese Art einer Gesprächsethik an die Perspektive eines in seinen Prämissen oftmals fragwürdigen Standpunktfeminismus gekoppelt ist, entwertet das Modell noch keineswegs. Insbesondere muss man nicht den starken Essentialismus des Standpunktfeminismus teilen, um dennoch eine Sensibilität für die Gefahren und Frustrationen eines versuchten gegenseitigen Verstehens zu entwickeln. Dessen grundsätzliche Möglichkeit auszuschließen, wie dies bei Young tendenziell der Fall ist, halte ich für eine Überreaktion, und natürlich wäre eine solche Haltung mit Habermas’ kommunikationsphilosophischer Ausrichtung schlichtweg nicht mehr vereinbar. Doch es handelt sich um eine Überreaktion auf durchaus reale Probleme, denen unter anderem durch Youngs Modell Rechnung zu tragen ist. 203 Mit einer solchen Intention scheint auch Habermas selbst zumindest in manchen Momenten übereinzustimmen: »Seitdem stochere ich, mal hier, mal da, nach Spuren einer Vernunft, die zusammenführt, ohne Abstände zu tilgen, die verbindet, ohne Verschiedenes gleichnamig zu machen, die unter Fremden das Gemeinsame kenntlich macht, aber dem Anderen seine Andersheit läßt.« (VZ: 158). 204 Thompson 1999: 195.

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Daher stelle sich die Frage: »How can we be with others while maintaining a suitable distance from them?« 205 Der hier vertretene Diskursrealismus stellt eine mögliche Antwort auf diese Frage dar. Könnten beide Theoretiker einer solchen Verbindung zustimmen? Die Habermas’sche Haltung würde zwar in ihren Ansprüchen radikal beschnitten, das Verfahren an sich wäre aber nach wie vor haltbar und könnte sich der Ethik Foucaults als sehr dienlich erweisen. Gewänne doch sein Bekenntnis zu agonistischen Machtspielen mit minimalen Herrschaftseffekten erheblich an Substanz, wenn Verfahren identifiziert werden könnten, die zur Herbeiführung solcher Situationen dienen. Hier scheinen mir die diskursethischen Verfahren durchaus aussichtsreich zu sein. Sicher, auch hier gibt es Herrschaftseffekte, aber immerhin ist die Diskursethik bemüht, diese zu minimieren. Für den Ethiker Foucault, der sich so intensiv mit dem Phänomen der Freundschaft auseinandersetzt, dem aber die konzeptionellen Mittel fehlen, um diese Form von Intersubjektivität in seinen Ansatz zu integrieren, dürfte die Diskursethik ein interessantes Modell sein. Der Versuch, die Reversibilität von Positionen soweit wie nur möglich zu institutionalisieren, ist in ihrem Verfahren deutlich sichtbar, und diese Reversibilität hatte sich schließlich für den späten Foucault zum entscheidenden Charakteristikum einer herrschaftsfreien Situation entwickelt. Wie nahe Foucault teilweise der Diskursethik, verstanden als eine Ethik des Dialoges, steht, zeigt sich in einer Äußerung, in der es um »the morality that concerns the search for the truth and the relation to the other« geht: »In the serious play of questions and answers, in the work of reciprocal elucidation, the rights of each person are in some sense immanent in the discussion. They depend only on the dialogue situation. The person asking the questions is merely exercising the right that has been given him: to remain unconvinced, to perceive a contradiction, to require more information, to emphasize different postulates, to point out faulty reasoning, etc. As for the person answering the questions, he too exercises a right that does not go beyond the discussion itself; [...] Questions and answers depend on a game [...] in which each of the two partners takes pains to use only the rights given him by the other and by the accepted form of the dialogue.« (PPP: 381 f.)206 205 Ibid.: 195. 206 Möglicherweise zeigt sich Foucaults Suche nach einer der Diskursethik sehr verwandten Ethik des Dialoges sogar noch deutlicher ex negativo. Sollte das obige Zitat das Ideal einer Diskussion charakterisieren, so wendet sich Foucault im unmittelbaren Anschluss mit folgenden Worten gegen die Polemik bzw. den Polemiker: »The person he confronts is not a partner in the search for the truth, but an adversary [...] For him, then, the game does

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Mit dem Begriff der Reversibilität lässt sich auch quasi a posteriori das Problem des Krypto-Normativismus beim Genealogen Foucault entschärfen. In Sexualität und Wahrheit und insbesondere Überwachen und Strafen hatte Foucault implizit auf Maßstäbe Bezug genommen, die er im Zuge seines Anti-Normativismus eigentlich nicht in Anspruch nehmen wollte. Als prominentes Beispiel gilt Foucaults durchaus kritische Beschreibung der Disziplinarmechanismen als »jene wesenhaft ungleichen und asymmetrischen Systeme der Mikromacht« (ÜS: 228).207 Der implizite Maßstab, der sich aus dieser Charakterisierung ergibt, ist der der Symmetrie und der Gleichheit, Maßstäbe, die intuitiv wohl eher mit dem Namen Habermas in Verbindung gebracht würden. Doch sicherlich wäre es verfehlt, Foucault zu unterstellen, nur ein verkappter Habermasianer zu sein. Die Einsichten aus der Machttheorie hindern Foucault daran, insbesondere natürlich die Ubiquität der Macht. Eine machtfreie Symmetrie, wie sie Habermas vorschwebt, stellt daher keine reale Option für Foucault dar. Die Reversibilität ist nun, soweit ich sehen kann, Foucaults Versuch, sich der Möglichkeit symmetrischer Intersubjektivität anzunähern, ohne die Annahme beständiger Asymmetrien aufzugeben. Deutlich wird dies in einem Interview Foucaults, in dem er Machtverhältnisse, die »changeable, reversible and unstable« seien, mit Herrschaftsverhältnissen, für die gelte, »[they are, T. B.] fixed in such a way that they are perpetually asymmetrical and allow an extremely limited margin of freedom« (EC: 12), kontrastiert. Asymmetrie fungiert hier offensichtlich als Antonym für Reversibilität und daraus folgt, dass aus der Perspektive des späten Foucault Reversibilität die größtmögliche Annäherung an die Idee von Symmetrie oder auch Reziprozität darstellt. Geht es darum, Gesprächssituationen zu erzeugen, die sich an einem solch weniger anspruchsvollen Symmetrie-Begriff orientieren, dann muss die Diskursethik durchaus als ein leistungsfähiges Verfahren angesehen werden. Am Ende dieses Vergleichs der Ethiken Foucaults und Habermas’ steht also eine letzte Schlussfolgerung. Reduziert man im Zuge eines Diskursrealismus die Erwartungen an den praktischen Diskurs und begreift die entsprechenden Vernot consist of recognizing this person as a subject having the right to speak, but of abolishing him, as interlocutor, from any possible dialogue; and his final objective will be, not to come as close as possible to a difficult truth, but to bring about the triumph of the just cause [...]« (PPP: 382). Mit der Vorstellung einer kooperativen Wahrheitssuche, Dialog und Rederechten finden sich hier Elemente, die den Kern der Diskursethik ausmachen. 207 Daneben ist auffallend oft von dem hierarchisierenden Effekt der Disziplin die Rede.

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fahren weniger als Normgenerator, sondern im Sinne einer Ethik des Dialoges, kann die Diskursethik ihre Fruchtbarkeit besser entfalten.208 Wird von ihr nur noch die Minimierung von Herrschaftseffekten, d. h. die Schaffung reversibler Gesprächsverhältnisse erwartet, kann sie diesen Anforderungen in umfassendem Maße nachkommen. Damit kann sie eine wichtige Rolle im Paradigma der Foucault’schen Ethik spielen. Die Suche der Ästhetik der Existenz nach Möglichkeiten einer als reversibel interpretierten symmetrischen Intersubjektivität ist sicherlich bis dato noch unbefriedigend geblieben. Dementsprechend erscheint eine Kombination beider Ansätze auf diese Art und Weise wünschenswert und praktikabel.

208 Auch die Diskursethik-Interpretationen von Benhabib 1995: 199 und Warnke 1995b: 255 ff. weisen zumindest implizit in die Richtung einer solchen Ethik des Dialoges, deren Fruchtbarkeit Warnke in der Anwendung auf die feministische Debatte über Gleichheit und Differenz pointiert herausarbeitet.

IV. Staat, Politik, Demokratie

1.

Habermas’ deliberative Politik – Kritik als normative Demokratietheorie1

In den Jahren nach der Veröffentlichung der TKH verzweigt sich Habermas’ Werk zunächst in zwei Richtungen: Einerseits verteidigt und präzisiert er sein vernunftphilosophisches Konzept bzw. nutzt es als Grundlage einer Auseinandersetzung mit »postmodernen« Positionen, auf die schon eingegangen wurde. Andererseits versucht Habermas, dem hier ebenfalls schon behandelten Projekt der Diskursethik stärkere Konturen zu verleihen, die auf moralphilosophischem Gebiet angesiedelt ist. Eine Denkbewegung, die Habermas dagegen erst wieder um 1988 aufnimmt, ist die Gesellschaftstheorie im engeren Sinne: Die wenigen Bemerkungen, die die TKH zu Massendemokratie und gesellschaftlicher Praxis gemacht hatte, waren vage geblieben und spätestens 1992 macht Habermas im Rahmen von Faktizität und Geltung den Versuch, dieses Defizit mit einer diskurstheoretischen Demokratietheorie zu beheben. Aber auch in den späteren Veröffentlichungen zur Diskursethik finden sich verstärkt Erwägungen über die Rolle, die das Recht im Verhältnis zur Moral spielt. So verweist auch diese Phase auf die Diskurstheorie des Rechts, die Habermas ebenfalls in Faktizität und Geltung entwickelt.2 Die durch die Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates geprägte letzte große Werkphase erstreckt sich von dem 1 Habermas’ Äußerungen sind hier etwas widersprüchlich. Noch 1991, ein Jahr vor dem Erscheinen von Faktizität und Geltung, heißt es von seiner Seite, er habe »niemals den Ehrgeiz, eine normative politische Theorie zu entwerfen« (VZ: 133) gehabt. 1994 findet sich wiederum die Aussage, Faktizität und Geltung »[...] only provides a normative model of democracy« (HRPS: 13). 2 In seinen Tanner Lectures von 1988 entwickelt Habermas bereits eine Konzeption des Verhältnisses von Recht und Moral, die aber durch die Diskurstheorie des Rechts vier Jahre später obsolet wird und hier daher unberücksichtigt bleibt.

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1988 gehaltenen Vortrag Volkssouveränität als Verfahren über Faktizität und Geltung bis hin zu den entsprechenden Abschnitten in Die Einbeziehung des Anderen von 1996. In der folgenden Darstellung der Konzeption werde ich mich auf Habermas’ Vorstellungen über deliberative Politik und Öffentlichkeit konzentrieren, da eine Erläuterung aller Themenkomplexe, die in Faktizität und Geltung angesprochen werden, den Rahmen dieses Kapitels bei Weitem sprengen würde. 1.1 Diskursive Demokratie Habermas konstruiert eine für ihn selbst theoriestrategisch gesehen durchaus attraktive Konstellation, indem er seine eigene Theorie als gewogenes Mittel der zeitgenössischen populären Demokratietheorien darstellt: Er kann überzeugend darlegen, dass z. B. die »wertneutralen« systemtheoretischen und ökonomischen Theoriemodelle im Rahmen ihrer jeweiligen Paradigmen Erklärungsengpässe eingestehen müssen, da sie letztendlich den Bestand einer integrierten, demokratisch verfassten Gesellschaft nicht mehr erklären können. Im einen Fall müsste die Gesellschaft konsequenterweise in neo-hobbesianische Nutzenmaximierer, im anderen Fall in sich gegenseitig beobachtende autopoietische Systeme desintegrieren. Was diese Theorien zu wenig an normativer Substanz besitzen, haben andere, z. B. sozialistische oder anarchistische Theorien zuviel. Habermas situiert sich selbst also zwischen der Scylla der »Systemblindheit der normativen Demokratietheorie« und der Charybdis der »verfremdeten Fetischisierung einer Systemtheorie« (VV: 620). Auf einer anderen Ebene sieht Habermas zwei weitere Pole, zwischen denen es zu vermitteln gilt: Liberalismus und Kommunitarismus, den Habermas Republikanismus nennt. Habermas sympathisiert zwar mit dem republikanischen Konzept »im radikaldemokratischen Sinn einer Selbstorganisation der Gesellschaft« (DMD: 283), da hier Politik mehr ist als die Vermittlung von privat-(wirtschaftlichen) Interessen und der Staat mehr als der Hüter einer Wirtschaftsverfassung, wie es im Liberalismus manchmal den Anschein habe. Andererseits moniert Habermas, dass der Republikanismus »zu idealistisch ist und den demokratischen Prozess von den Tugenden gemeinwohlorientierter Staatsbürger abhängig macht« (EA: 283). Indem hier immer noch das Rousseau’sche Bild einer aus citoyens bestehenden Bürgerschaft, die sich in gemeinsamen Beratungen und Beschlüssen kontinuierlich neu konstituiert, weiterlebe, werde der für den Republikanismus zentrale

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Begriff der Volkssouveränität überstrapaziert, bis er in eine »Tugendzumutung« münde. Habermas versucht, diese Probleme in seiner eigenen Theorie wie folgt zu entschärfen: In ihr wird »der Verfahrensbegriff der deliberativen Politik zum normativ gehaltvollen Kernstück der Demokratietheorie« (DMD: 285). Habermas entwickelt die Demokratietheorie im Rahmen seiner Diskurstheorie des Rechts: Das Recht bestehe als Kategorie zwischen Faktizität und Geltung. Faktizität komme ihm insofern zu, als es gewaltsam durchgesetzt werden könne. Aber andererseits müsse es als »Recht« idealerweise auch auf seine Geltungsdimension, d. h. seine Legitimität verweisen können. Diese Geltungsdimension verweist auf den demokratischen Prozess, der in modernen Demokratien dieses Legitimationspotential bereitstellen müsse, soll nicht auf Naturrecht etc. zurückgegriffen werden müssen. Habermas vertritt hier das Prinzip »Legitimation durch Verfahren«, aber natürlich in einer anspruchsvolleren Variation dieser insbesondere in der systemtheoretischen Jurisprudenz häufig verwendeten Denkfigur. Das Verfahren bezieht sich zunächst auf das »formelle Verfahren der institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung« (FuG: 366), für welches Habermas bestimmte Verfahrensregeln vorschlägt, die er im Wesentlichen von Joshua Cohen übernimmt. Diese orientieren sich weitgehend an den Bindungsenergien der illokutionären Rede, sollen also die Möglichkeit des Zustandekommens eines rationalen Konsenses sichern.3 Doch diese normative Verfahrenskonzeption, die offensichtlich auf die TKH zurückgeht, jedoch auch von der Diskursethik inspiriert ist, reicht natürlich nicht aus, um Legitimation bereitzustellen, obwohl sie andererseits schon eine gewisse Herausforderung gegenüber existierenden parlamentarischen Geschäftsordnungen darstellt. Immerhin sieht Habermas diese anspruchsvollen Kommunikationsbedingungen schon so weit institutionalisiert, »dass das demokratische Verfahren Argumente filtert und legitimitätserzeugende Gründe privilegiert zum Zuge kommen lässt« (FuG: 413). Sie reicht nicht aus, da Habermas die parlamentarischen Körperschaften »als Rechtfertigungszusammenhang strukturiert ansieht« (FuG: 373), denen ein Entdeckungszusammenhang notwendig vorausliegen muss. Es gibt nun zwei Möglichkeiten bezüglich der Lokalisierung dieses Entdeckungszusammenhanges, denen zwei Machtkreisläufe entsprechen: Die autopoietische Systemtheorie verlegt ihn in die Administration, die das Parlament und damit sich selbst gemäß den eigenen Codes programmiert. Der Machtkreislauf ist hier zirkulär. In diesem Modell manifestiert sich »jene Massendemokratie, die Züge 3 Vgl. FuG: 370 f. bzw. Cohen 1989: 17 ff.

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eines administrativ gesteuerten Legitimationsprozesses« (VV: 619), d. h. einer Selbstprogrammierung der Verwaltung annimmt. Als zweite Möglichkeit bestimmt Habermas den »Entdeckungszusammenhang einer nicht durch Verfahren regulierten Öffentlichkeit, die vom allgemeinen Publikum der Staatsbürger getragen wird« (FuG: 373). Dieser Möglichkeit entspricht ein Machtkreislauf, in dem sich öffentlich erzeugte kommunikative Macht über das Rechtsmedium in bindende administrative Macht verwandelt und als policy-output wieder auf die Gesellschaft trifft. Habermas will nun nicht der von ihm selbst gerügten »Systemblindheit« anheim fallen und sieht davon ab, den ersten, inoffiziellen Kreislauf in seiner Existenz zu kritisieren. Er sei Routine und diene »einer gleichsam unschädlich problemzerkleinernden Entlastung des offiziellen Kreislaufes von unvermeidlicher Komplexität« (FuG: 432). Jedoch müsse das politische System grundsätzlich gegenüber »erneuerten Anstößen« (FuG: 433) porös bleiben. Habermas postuliert ein politisches System, »das sich aufgrund seiner rechtsstaatlichen Verfassung nicht von der Zivilgesellschaft losmachen und gegenüber der Peripherie verselbständigen darf« (FuG: 463). Eine derartige Abkoppelung werde in dem Maße verhindert, »wie die Peripherie a) fähig ist und b) oft genug Anlass hat, latente (und nur politisch bearbeitbare) gesellschaftliche Integrationsprobleme aufzuspüren, zu identifizieren, wirksam zu thematisieren und über die Schleusen des parlamentarischen Komplexes (oder der Gerichte) in das politische System so einzuführen, dass dessen Routinemodus gestört wird« (FuG: 434). Damit verschiebt sich der Fokus von Habermas’ Demokratietheorie in Richtung jener Peripherie, die er in den Begriffen Öffentlichkeit/Zivilgesellschaft fasst, da Bedingung a) maßgeblich über den Umfang entscheidet, in dem eine Demokratie dem normativen Modell deliberativer Politik entspricht. 1.2 Das Konzept der Öffentlichkeit Habermas betrachtet Öffentlichkeit als »ein Netzwerk für die Kommunikation von Inhalten und Stellungnahmen«, wobei »Kommunikationsflüsse so gefiltert und synthetisiert« werden, »daß sie sich zu themenspezifisch gebündelten öffentlichen Meinungen verdichten« (FuG: 436). Er kann insofern von einer Öffentlichkeit sprechen, da er die vielfältigen Sub-Öffentlichkeiten für grundsätzlich durchlässig hält. In ihnen können Themen und Diskurse »wandern« und die Öffentlichkeiten transformieren. Die öffentliche Meinung herrscht nicht, dies

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ist den beschlussfassenden Institutionen vorbehalten, von daher ist sie vom Entscheidungszwang entlastet und somit eine »schwache« Öffentlichkeit im Habermas’schen Sinn. Ein Stück weit lebt hier die raisonierende Öffentlichkeit aus Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit wieder auf, der wiederum Arendts Öffentlichkeitsbegriff nahe verwandt ist.4 Entscheidend für Habermas ist nun das »diskursive Niveau der Meinungsbildung« (FuG: 438): Idealerweise bilden sich öffentliche Meinungen in der Folge von erschöpfenden Kontroversen, welche die rationale Verarbeitung von Informationen und Gründen umfassen. Derartige Diskurse erzeugen kommunikative Macht. Diesen Machtbegriff übernimmt Habermas von Arendt, bei der es heißt: »Macht entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen«.5 Die kommunikative Macht beruhe auf der »Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben«6. In Habermas’ Modell wird diese kommunikativ erzeugte Macht dann, wie oben erwähnt, in das politische System eingespeist und in administrative Macht transformiert. Um die Entstehung von kommunikativer Macht zu ermöglichen, bedarf es zunächst eines Sets von Freiheits- und Partizipationsrechten, zu denen Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die Freiheit von Presse und Rundfunk, aber auch die Freiheit, Vereine, Gesellschaften und Parteien zu gründen gehören (vgl. FuG: 445). Doch dies ist nur eine notwendige Bedingung. Habermas wird nicht müde, die quasi-hinreichende Bedingung zu formulieren: »Das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt« (FuG: 434), also eine aufgeklärt-liberale politische Kultur sowie eine Sozialisation, die in ein dezentriertes Weltbild mündet. Die beiden Bedingungen zusammengenommen bilden die Basis für eine »funktionierende« Öffentlichkeit, wie sie Habermas versteht: Ein sensibler Resonanzboden, der mit feinen und unreglementierten Sensoren gesellschaftliche Probleme entdeckt, thematisiert und kommunikativ aufbereitet, dessen Herausbildung aber immer gleichwie spontan bleibt, also nie durch eine hinreichende Bedingung im strengen Sinn sichergestellt werden kann (vgl. FuG: 366). Habermas’ demokratisches Ideal lässt sich also vorläufig folgendermaßen zusammenfassen: In einer normativ verstandenen Öffentlichkeit vollziehen sich 4 Allerdings ist Habermas nicht im selben Maße anfällig für die immer wieder gegen Arendt vorgebrachte Kritik, ihr Öffentlichkeitsbegriff lasse entscheidende Themen außen vor und zementiere die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem, vgl. dazu FuG: 442. 5 Arendt 1960: 194. 6 Arendt 1965: 96.

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diskursive Meinungsbildungsprozesse, die kommunikative Macht erzeugen. Die Regeln, welche diese normative Öffentlichkeit strukturieren, fungieren als ein erster Filter gegenüber übertriebenen Forderungen, falschen bzw. unzulänglichen Informationen und unhaltbaren Begründungen. Die so gefilterten Kommunikationsflüsse müssen dann die »Schleusen demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren am Eingang des parlamentarischen Komplexes oder der Gerichte [...] passieren« (FuG: 432) und können so ihren Aggregatszustand von kommunikativer in administrative Macht transformieren. Damit tritt Erstere in Konkurrenz mit der Selbstprogrammierung administrativer Macht und dem intermediären Einfluss sozialer Macht. Die Pointe dieser diskurstheoretischen Demokratietheorie gegenüber der »Tugendzumutung« des Republikanismus liegt nun darin, dass bei Habermas die subjektphilosophische Figur des anwesenden Volkes, das sich selbst Regeln gibt, kurz die Volkssouveränität, intersubjektivisch umgedeutet wird und in die »subjektlosen Kommunikationsformen, die den Fluß der diskursiven Meinungsund Willensbildung so regulieren, daß ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben« (FuG: 365) verlegt wird. »Damit zieht sich die praktische Vernunft [...] in jene Diskursregeln und Argumentationsformen zurück, die ihren normativen Gehalt der Geltungsbasis verständigungsorientierten Handelns [...] entlehnen« (DMD: 286). Vom bourgeois muss nicht mehr seine kontinuierliche Selbsttransformation zum citoyen verlangt werden, da der dafür notwendige Restbestand kantischer praktischer Vernunft durch die Kommunikationsregeln wirkt.7 Worin liegt die kritische Stärke dieses Ansatzes? Die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates ist eine normative Demokratietheorie und damit lässt sie sich als kritischer Maßstab für empirische Demokratien verwenden. Vergleicht man die Ausgestaltung dieser normativen Messlatte mit dem Programm der Diskursethik, so fällt vor allem eine größere Realitätsnähe ins Auge, deren relatives Fehlen viele Positionen der Diskursethik schwächte, sie jedenfalls in gewisse Erklärungsnöte brachte. Handelte es sich bei der Diskursethik um ein moralphilosophisches Programm, dessen Operationalisierung und Anwendung auf konkrete gesellschaftliche und politische Zusammenhänge nicht immer gänzlich unproblematisch erschien, so schließt die Demokratietheorie wieder stärker an die explizit gesell7 An dieser Stelle sei angemerkt, dass Habermas die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure, auf das politische System Einfluss zu nehmen, »zurückhaltend« (FuG: 458) einschätzt. In Krisensituationen nehme der Einfluss der Öffentlichkeit jedoch zu.

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schaftstheoretische Perspektive der TKH an und lässt sich nicht zuletzt deshalb leichter als kritischer Maßstab handhaben. Die kritische Stärke der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates scheint mir insofern auf der Hand zu liegen, als Habermas mit einer normativen Demokratietheorie einen klassischen Kritikmodus wählt, der daher wohl keiner eingehenderen Erläuterung bedarf. Im Feld dieser normativen Demokratietheorien zeichnet sich der vorliegende Ansatz vor allem durch seine rekonstruktive Methodologie aus: »Der diskurstheoretische Ansatz erlaubt gerade die Anknüpfung der Kritik an das Selbstverständnis der eingewöhnten politischen Kulturen, der bestehenden Institutionen und geltenden Rechtssysteme mit dem Ziel, das darin angelegte Potential zur Selbsttransformation auszuschöpfen.« (VZ: 145) Hier sei nur kurz auf die Ähnlichkeiten hingewiesen, welche die Methode der rationalen Rekonstruktion in der Anwendung auf demokratische Rechtsstaaten mit der immanenten Kritik der frühen Frankfurter Schule aufweist. In beiden Fällen werden empirische Gesellschaften mit Standards konfrontiert, die diesen selbst entnommen sind, entweder als normative Ansprüche oder als (noch) nicht realisiertes Potential. Neben diesem relativ klaren Kritikmodus verdient allerdings ein Punkt im Zusammenhang mit der Behandlung der Frage nach kritischen Stärken besondere Beachtung: Es ist der Eklektizismus Habermas’ der in Faktizität und Geltung wohl seinen Höhepunkt erreicht. Bevor das kritische Potential dieser normativen Demokratietheorie genauer bestimmt wird, ist jedoch zunächst ihr Verhältnis zur TKH und der Diskursethik zu klären. 1.3 Kontinuitäten und Revisionen Faktizität und Geltung wurde vor allem in der Jurisprudenz rezipiert, in den Sozialwissenschaften rief das Werk zwar ein überwiegend positives Echo hervor,8 konnte aber nicht mehr in dem Umfang Debatten initiieren, wie es noch die TKH oder Der Philosophische Diskurs der Moderne getan hatten. Dies dürfte unter anderem daran liegen, dass die Topographie des Habermas’schen Entwurfs aus der TKH in seinen Grundkoordinaten unverändert bleibt und viele der vorgenommenen Akzentverschiebungen nur diverse Kritikpunkte umsetzen, die 8 Vgl. z.B.: »The complexity, scope, and sophistication of Habermas’s analyses [...] make this book a rich and suggestive source of social criticism.« (Rehg 1996: 185)

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schon seit dem Erscheinen der TKH im Raum standen. Ähnliches gilt für das Verhältnis zur Diskursethik. In weiten Teilen stützt sich die Demokratietheorie auf die diskursethische Systematik, allerdings nicht, ohne implizite Veränderungen vorzunehmen, die aber als solche nur für Rezipienten wahrnehmbar sind, die mit der diskursethischen Problematik vertraut sind. Im Folgenden soll zunächst das Verhältnis zur TKH thematisiert werden, um im Anschluss einen Blick auf die Revisionen hinsichtlich der Diskursethik zu werfen. 1.3.1 Demokratietheorie und Theorie des kommunikativen Handelns Die demokratietheoretische Phase in Habermas’ Werk steht größtenteils im Zeichen der Kontinuität mit der TKH, da Habermas weiterhin das Konzept der kommunikativen Rationalität als normative Basis verwendet und die Gesellschaft im Lebenswelt-System-Schema analysiert. Abermals greift er methodisch auf das in Formalpragmatik und Diskursethik bewährte Verfahren der rationalen Rekonstruktion zurück: Die demokratietheoretischen Postulate sind kein abstraktes Sollen, sie finden sich – wenn auch rudimentär – in bestehenden Institutionen und Praktiken wieder. Entsprechend soll auch in diesem Fall die Kluft zwischen Norm und Wirklichkeit in gewissem Sinne minimiert und zugleich der erkenntnistheoretischen Problematik eines kantischen Dualismus die Spitze genommen werden. Habermas nimmt die Demokratietheorie nicht zum Anlass einer expliziten Selbstkritik an der TKH, wie dies noch in früheren Phasen der Fall war, aber es kommt zu einigen Akzentverschiebungen, die durchaus als implizite Revisionen angesehen werden können. An erster Stelle steht hier die veränderte Einschätzung des Rechts. In der TKH hatte Habermas die These von der Kolonialisierung der Lebenswelt anhand von Verrechtlichungsschüben ausbuchstabiert. Wie weiter oben gezeigt, verliert die These einer Kolonialisierung durch Verrechtlichung in dem Maß an Eindeutigkeit, in dem sie bei Habermas konkretisiert wird. Dennoch hafteten Recht und Verrechtlichung jedenfalls ein problematischer Charakter an, zumindest dem Medium Recht, das »als Organisationsmittel für mediengesteuerte Subsysteme dient« (TKH II: 536), im Gegensatz zu Recht als Institution, das Habermas in Verfassungen oder Strafgesetzbüchern verkörpert sieht. Von diesem problematischen Aspekt ist zumindest auf den ersten Blick keine Rede mehr in Faktizität und Geltung: Das Recht erscheint als Möglichkeit, kommunikative in administrative Macht zu verwandeln. Damit ist es das entscheidende Instrument, mit dessen Hilfe zumindest ein Minimum an Kontrolle

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gegenüber den verselbständigten Systemen realisiert werden kann: Das Recht ist ein »verstärkender Transformator der schwachen sozialintegrativen Stromstöße einer kommunikativ strukturierten Lebenswelt« (FuG: 217). Es ist wenig überraschend, dass Habermas eine derart positive Würdigung des Rechts sofort den Vorwurf der Idealisierung eingebracht hat,9 aber dieser ist nicht wirklich angebracht, da Habermas in den letzten beiden Kapiteln von Faktizität und Geltung durchaus auf die problematischen Aspekte des Rechts zurückkommt, wenn er die Schwierigkeiten feministischer Gleichstellungspolitiken mit Hilfe der neu entwickelten Diskurstheorie des Rechts zu erklären versucht und sogar Ansätze zu einer Lösung präsentiert. Die Herangehensweise an das Problem, in dem abermals die Denkfigur von Freiheitsverbürgung, die in Freiheitsentzug umschlägt, aufleuchtet, scheint sich zunächst grundlegend von Habermas’ Vorgehensweise in der TKH zu unterscheiden. Die Paradoxie von Gleichstellungspolitiken, die doch nur Ungleichheit zementieren, hat nun in einer falschen Trennung von öffentlicher und privater Autonomie ihren Ursprung. Die subjektiven Freiheitsrechte, auf deren Grundlage private Autonomie gewährleistet werden soll, bleiben so lange paternalistisch, bis ihnen die rechtssetzende öffentliche Autonomie von Staatsbürgerinnen gegenübersteht. Mit Bezug auf das feministische Dilemma bedeutet dies: »Die subjektiven Rechte, die Frauen eine privatautonome Lebensgestaltung gewährleisten sollen, können gar nicht angemessen formuliert werden, wenn nicht zuvor die Betroffenen selbst in öffentlichen Diskussionen die jeweils relevanten Hinsichten für die Gleich- und Ungleichbehandlung typischer Fälle artikulieren und begründen.« (ZRD: 305)

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass dieser Gedanke schon in der TKH in seiner grundsätzlichen Intuition vorhanden ist. Hier will Habermas nämlich »die Verdinglichungseffekte, die sich am Beispiel der staatlichen Sozialpolitik nachweisen lassen, damit erklären, daß die Rechtsinstitutionen, die sozialen Ausgleich verbürgen, nur über ein als Medium genutztes Sozialrecht wirksam werden« (TKH II: 539), das wiederum auf pathologische Weise in kommunikativ strukturierte Handlungskontexte eingreift. Problematisch ist also nicht Verrechtlichung per se, sondern der Eingriff durch das Medium Recht im Gegensatz zum Recht als Institution. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Rechtstypen liegt in ihrer Legitimation. Während das Medium nicht materiell, sondern »durch den positivistischen Hinweis auf Verfahren« (TKH II: 536) legitimiert wird, bedürfen die Normen, die zum Recht als Institution gehö9 So Dews 1993: 363.

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ren der materiellen Rechtfertigung, »weil sie zu den legitimen Ordnungen der Lebenswelt selbst gehören und zusammen mit den informellen Handlungsnormen den Hintergrund kommunikativen Handelns bilden« (ibid.). Stellt man nun in Rechnung, dass zum damaligen Zeitpunkt aus Habermas’ Perspektive ein legales, durch Verfahren legitimiertes Gesetz in erster Linie auf eine Selbstprogrammierung der Bürokratie zurückzuführen ist, wohingegen eine materielle Rechtfertigung auf eine diskursive Begründung verweist, so wird deutlich, dass der Lösungsansatz eigentlich der gleiche geblieben ist: Im Recht als Institution, das lebensweltliche Bereiche strukturiert, setzen sich private und öffentliche Autonomie gegenseitig voraus. Unkenntlich gemacht wird diese Kontinuität durch zwei Revisionen. Erstens unterscheidet Habermas nun nicht mehr zwischen Recht als Institution und Recht als Medium aufgrund unterschiedlicher Begründungsfähigkeit bzw. -bedürftigkeit, sondern spricht von einer einheitlichen Kategorie des Rechts. Zweitens verändert sich Habermas’ Haltung zu einer prozeduralen Legitimation, die er unter den Vorzeichen einer Entkoppelung und Selbstprogrammierung des politischen Systems als normativ gehaltlos angesehen hatte. Die in Faktizität und Geltung postulierte Legitimation durch Verfahren ist dagegen eine normativ anspruchsvolle, da in ihr schließlich die öffentliche Autonomie der Staatsbürger zum Tragen kommen soll, woraus ein gesteigerter Optimismus Habermas’ bezüglich demokratischer Verfahren im Sinne des offiziellen Machtkreislaufs ersichtlich wird. Das Recht ist damit ein exemplarischer Fall der Überlagerung von Kontinuitäten und Revisionen zwischen den verschiedenen Phasen in Habermas’ Werk. Eine weitere Akzentverschiebung, für die ebenfalls die Rechtsanalyse als Katalysator fungiert, zeigt sich mit Blick auf das Verhältnis Lebenswelt-System: Noch 1988 heißt es: »Kommunikative Macht wird ausgeübt im Modus der Belagerung.« (VV: 626) Dies entspricht der defensiven Ausrichtung der TKH, die im Wesentlichen Dämme gegenüber den Systemübergriffen errichten will. Doch spätestens in Faktizität und Geltung finden sich Formulierungen, die auf eine Abwendung von dieser dezidiert defensiven hin zu einer vorsichtig offensiven Ausrichtung schließen lassen, wenn es heißt, dass sich der Staat nicht völlig von der Zivilgesellschaft abkoppeln dürfe und die Kontrolle über ihn letztlich, d. h. wenigstens in Krisensituationen, von der Lebenswelt übernommen werden können müsse. Damit vollzieht sich eine beträchtliche Wendung in Habermas’ Denken. Eine derartige Rückbindung des Staates an eine diskursive Willensbildung hätte sich unter den Prämissen der TKH noch dem Vorwurf einer mit Dysfunktionalitäten verbundenen Entdifferenzierung ausgesetzt. Nun

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scheinen Habermas’ systemtheoretische Haltungen, die ihm immer wieder als Hypostasierungen vorgeworfen wurden, zumindest bezüglich des Staates zu verwässern. Die goldene Brücke, die sich Habermas selbst baut, um die Revision zu begründen, ist die Analyse der Rechtskategorie. Aufgrund der rechtsstaatlichen Verfasstheit des Staates sowie dem Aspekt der Geltung, welcher der Faktizität im Recht zur Seite tritt, kann Habermas eine Rückkoppelung der Legislative an eine diskursive Meinungs- und Willensbildung einfordern. Mit dieser Wendung öffnet sich der Staat bzw. das politische System wieder in gewissem Maße dem kritischen Blick, wenn Habermas auch diese Erweiterung des Kritikradius beständig relativiert: Die Chancen der zivilgesellschaftlichen Einwirkung seien gering, bzw. sie könne nur indirekt Einfluss nehmen, nämlich nur bezüglich des Pools aus dem legitimationserzeugende Gründe bezogen würden. Und natürlich wendet sich Habermas abermals beinahe gebetsmühlenartig gegen eine Fundamentaldemokratisierung der Gesellschaft, die er als Projekt spätestens seit den Legitimationskrisen aufgegeben hat (vgl. FuG: 369 f., 427, 396). Vom »begrenzten Handlungsspielraum« der Zivilgesellschaft und vom »Verzicht auf jene Aspirationen einer sich im ganzen selbst organisierenden Gesellschaft« (FuG: 449 f.) ist immer wieder die Rede, worin sich wieder die grundsätzliche Kontinuität zeigt, in der die demokratietheoretische Phase steht. Die dargestellte Revision bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf die Kolonialisierungsthese, die auf einer grundsätzlich unproblematischen Entkoppelung von Systemen und Lebenswelt basierte. Die jetzt erhobene Forderung einer letztinstanzlichen Rückkoppelung raubt der Kolonialisierungsthese einiges an Substanz. Allerdings bedarf dieses Argument einer gewissen Qualifizierung, da nicht vollständig klar ist, wie sich die Verdinglichungsproblematik zur Demokratietheorie verhält. Ist die Letztere nur eine Explikation der TKH, so wird durch sie die Kolonialisierungsthese völlig eingezogen. Aber das Verdinglichungsphänomen taucht in den Werken nach 1982 bei Habermas nicht mehr auf, wenn auch nach wie vor Probleme thematisiert werden, die ihrer Struktur nach an das erinnern, was Habermas früher unter dem Begriff Verdinglichung gefasst und kritisiert hatte. War es früher die sozialstaatliche Überformung kommunikativ strukturierter Lebensbereiche, so ist es in Faktizität und Geltung die Ambivalenz feministischer Gleichstellung mit rechtlichen Mitteln. Doch diese Entsprechung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die letztere Problematik eine eher periphere Stellung einnimmt, die nicht zu vergleichen ist mit der zentralen Position, die das Phänomen der Verdinglichung noch in der TKH innehatte. Im Übrigen stellt Habermas selbst keinerlei Verbindung zwischen den Themenkomplexen

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in den jeweiligen Werken her. Die zumindest als solche interpretierbare Akzentverschiebung macht darüber hinaus auch deutlich, dass Habermas nicht mehr alle Probleme der Moderne in systemisch induzierten Verdinglichungsphänomenen aufgehen lassen will, was ihm ja beispielsweise von Fraser vorgeworfen wurde (vgl. oben Kap. II 1.6). McCarthy betont zu Recht, dass Habermas in der demokratietheoretischen Phase eine größere Varianz in den Ursachen bestimmter Probleme zulässt. Er habe eingesehen, »dass Probleme des Patriarchats und des Rassismus auch in der Lebenswelt entstehen und nicht nur Folgen der wirtschaftlichen und staatlichen Gefüge und ihres Funktionierens sind.«10 Retrospektiv hat es den Anschein, als ob sich Habermas in der TKH gezwungen sah, mit Hilfe der Kolonialisierungsthese die Kategorie der Verdinglichung gleichsam als Erblast der frühen Kritischen Theorie abzuarbeiten, die entsprechenden Probleme aber Anfang der neunziger Jahre nur noch sekundären Status haben, wie überhaupt die Demokratietheorie im Ganzen völlig aus dem Schatten von Horkheimer/Adorno heraustritt und damit auch größeren Anschluss an aktuelle Debatten, z. B. die Steuerungskontroverse, gewinnt. Faktizität und Geltung und die TKH scheinen von ihrem Objektbereich her – nicht von ihren Grundlagen – auf unterschiedlichen Ebenen zu liegen oder doch zumindest scharf unterschiedene Akzentsetzungen vorzunehmen: Hier wird versucht, Sozialpathologien zu erklären, dort wird versucht, eine normative Demokratietheorie zu entwerfen. Daher ist es nur bedingt zulässig, im Fall der Kolonialisierungsthese die Argumentation aus einem Werk im Maßstab 1:1 dem anderen Werk als Gegen-Argumentation zu implantieren, was ja auf den ersten Blick aufgrund einiger geteilter Grundkoordinaten in beiden Werken nahe läge. Auch die Ausdifferenzierung des Machtbegriffs ist eine Revision, die ein Stück impliziter Selbstkritik beinhaltet. In den Analysen der achtziger Jahre war stets nur undifferenziert von »Macht« die Rede. In diesem Begriff flossen, überspitzt gesagt, Elemente des Luhmann’schen und Weber’schen Machtbegriffs zusammen. Macht als systemtheoretisches Steuerungsmedium war begrifflich nicht geschieden von Weber’scher Macht – die Möglichkeit etwas gegen den Willen anderer durchzusetzen –, die Habermas’ kommunikative Rationalität nicht kontaminieren sollte. Während nun administrative (Luhmann), soziale (Weber) und kommunikative (Arendt) Macht differenziert unterschieden werden, hätte der Begriff der kommunikativen Macht, den Habermas nun im Rückgriff auf Arendt einführt, aufgrund der Weber’schen Dimension um 1981 10 McCarthy 2001: 644.

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noch als Oxymoron gelten müssen. Der Vorwurf der »falschen begriffsstrategischen Weichenstellungen« (FuG: 400), den Habermas Wilke und Luhmann macht, die eben auch ohne das Konzept der kommunikativen Macht operieren, trifft somit auch implizit seine eigenen Analysen aus der TKH, die noch ohne das Konzept operiert hatten. Zuletzt geht Habermas auch das schon mehrfach in unterschiedlichen Kontexten skizzierte Motivationsproblem noch einmal in offensiver Weise an: Offensiv insofern, als die »Tugendzumutung«, die er am Republikanismus kritisiert, ja nichts anderes ist, als die polemische Zuspitzung jenes Motivationsproblems, das auch in der TKH vorhanden ist: Seine Argumentation gewinnt hier an Plausibilität, da Habermas nun noch stärker auf die Institutionalisierung von Regeln verweist, was die Ermöglichung von Diskursen angeht, um so die Motivationslast nicht mehr gänzlich bei individuellen Dispositionen zu belassen. Die Institutionalisierung dieser Regeln wirkt zumindest in gewissem Umfang als Filter gegenüber strategischen Kommunikationen. Nichts anderes bedeutet Habermas’ These, die praktische Vernunft ziehe sich in die Verfahren zurück. Natürlich ist das Problem nicht völlig behoben, da sich die Regeln nicht von selbst institutionalisieren und eine funktionierende diskursive Meinungs- und Willensbildung auch von kommunikativ handelnden Akteuren abhängig bleibt. Aber bezüglich des ersten Punktes kann er wiederum mit Hilfe der rekonstruktiven Methode darauf verweisen, dass derartige Regeln jedenfalls in Ansätzen schon institutionalisiert sind. In diesem Zusammenhang muss abschließend klargestellt werden, dass sich das Motivationsproblem nicht im eigentlichen Sinn lösen lässt, denn dies wäre nur um den Preis einer funktionalistischen Subjektphilosophie, wie sie oben in Franks Kritik skizziert wurde, möglich. Doch die Demokratietheorie enthält nicht nur Korrekturen gegenüber der TKH, auch manche Probleme und Fragen der Diskursethik erscheinen vor allem aufgrund der veränderten Stellung des Rechts in einem neuen Licht. 1.3.2 Demokratietheorie und Diskursethik Das Verhältnis der demokratietheoretischen zu den diskursethischen Konzepten ist vor allem durch Habermas’ Auffassung geprägt, nach der das Recht der Moral zur Seite tritt und eine Komplementärfunktion ihr gegenüber einnimmt: »Unter funktionalen Gesichtspunkten läßt sich begründen, warum die posttraditionale Gestalt einer prinzipiengeleiteten Moral auf die Ergänzung durch positives Recht angewiesen ist.« (FuG: 21) Demnach ist eine rationalisierte Lebens-

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welt in ihren Integrations- und Koordinationspotentialen überfordert, will sie sich nur auf die Leistungen der Moral verlassen. Das Recht kann und muss diese Leistungen zu einem großen Teil erbringen.11 Mit dem Auftauchen dieses neuen Elementes und seiner spezifischen Eigenschaften werden bestimmte Vorwürfe gegenüber der Diskursethik obsolet, andere Kritiken, die in Kapitel III thematisiert wurden, werden zumindest abgeschwächt. Die Behandlung dieser veränderten Konstellation orientiert sich an Aufbau und Abfolge der Kapitel, in der die Kritiken an der Diskursethik in Kapitel III diskutiert wurden (vgl. Kap. III 1.2.1 bis III 1.2.5). Zunächst wurden im Zusammenhang mit der Diskursethik in Kapitel 1.3.1 gewisse Bedenken gegenüber der Begründung von U und D bzw. der Möglichkeit, ein Prinzip eindeutig aus dem anderen abzuleiten, thematisiert. Auf die Konfusionen, die sich hinsichtlich dieser Fragen in Faktizität und Geltung ergeben, wurde schon im entsprechenden Diskursethik-Kapitel ausblickhaft hingewiesen: Hieß es in der diskursethischen Phase noch, dass sich U aus unhintergehbaren Argumentationsvoraussetzungen gewinnen lasse, und aus U wiederum D gewonnen werden könne, so heißt es nun: »In meinen bisher veröffentlichten Untersuchungen zur Diskursethik habe ich zwischen Diskurs- und Moralprinzip nicht hinreichend differenziert [...]. Der Universalisierungsgrundsatz U ist gewiss durch D inspiriert, aber vorerst nicht mehr als ein abduktiv gewonnener Vorschlag.« (BGM: 60) Schon dieser letzte Satz macht deutlich, dass Habermas eine stark veränderte Position in den formallogischen Fragen einnimmt. Nicht nur bezeichnet D nun das allgemeine Prinzip, das bezüglich der moralischen Sphäre die Form von U, dem Universalisierungsprinzip, annimmt, aber eben nun auch in der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates die Form des Demokratieprinzips annehmen kann. Auch ist hier keine Rede mehr von Ableitungen, sondern nur noch davon, dass es sich bei U um einen »Vorschlag« handelt, der durch D »inspiriert« ist. Hinzu kommt eine weitere Modifikation: »Die diskursethische Begründungsidee besteht also darin, daß sich der Grundsatz U, in Verbindung mit der in D ausgesprochenen Vorstellung von Normenbegründung überhaupt, aus dem impliziten Gehalt allgemeiner Argumentationsvoraussetzungen gewinnen lässt.« (BGM: 61. Die Idee einer Ableitungskette wird hier aufgegeben zugunsten einer Begründung, in der sich U aus einer Verbindung von D und den Argumentationsvoraussetzungen ergeben soll. Zuletzt scheint 11 Vgl. die beinahe dramatisch klingende Formulierung: »Today legal norms are what is left of the crumbled cement of society [...] Law stands in as substitute for the failures of other integrative mechanisms.« (IRJ: 329)

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mir auch der weitere Verlauf des soeben zitierten Satzes symptomatisch für Habermas’ Haltung in der Begründungsfrage zu sein: »Intuitiv ist das leicht einzusehen (während jeder Versuch einer formalen Begründung umständliche Diskussionen über Sinn und Durchführbarkeit ›transzendentaler Argumente‹ erfordern würde).« (Ibid.) Habermas sieht offensichtlich die Möglichkeit formaler Begründung, derer sich die Diskursethik noch einigermaßen sicher schien, in weite Ferne gerückt und begnügt sich mit intuitiven Einsichten. Habermas zieht mit diesem ermäßigten Begründungsanspruch die Konsequenzen, die sich auch aus der Kritik bezüglich der formallogischen Schwächen in der Ableitungskette, die in Kapitel III 1.2.1 formuliert wurde, ergeben. In der Kritik der Diskursethik schloss sich an die Behandlung der formallogischen Fragen eine Diskussion des postulierten Universalismus der Diskursethik in Kapitel III 1.2.3 an. Die beiden Themen sind insofern eng miteinander verknüpft, als eine Strategie, um den Nachweis der universellen Geltung diskursethischer Regeln nachzuweisen, in der Durchführung des Verfahrens des performativen Widerspruchs bestand, dessen Möglichkeit jedoch wiederum vom formallogischen Verhältnis der verschiedenen Variablen voneinander abhängt. Im entsprechenden Kapitel konnte darüber hinaus nachgewiesen werden, dass der performative Widerspruch nur eine Strategie darstellt, die durch eine zweite allerdings nur implizite ergänzt wird, wobei in dieser der Großteil der Beweislast überhaupt nicht von Habermas’ Diskursethik, sondern vom genetischen Strukturalismus Piagets getragen wird. Nur für den Fall, dass sich dessen Vorstellung eines dezentrierten Weltbildes als normativer Zielpunkt eines ontobzw. phylogenetischen Entwicklungsprozesses auszeichnen ließe, hat die Argumentation Habermas’ Bestand, auch wenn er selbst dies an keiner Stelle offen legt. Das Eingeständnis dieser Beweislast findet sich nun in lapidaren Worten: »Die hier nur skizzierte Begründungsstrategie teilt sich die Bürde der Plausibilisierung mit einer genealogischen Fragestellung, hinter der sich gewisse modernitätstheoretische Annahmen verbergen.« (BGM: 63) Unter diesen Umständen gewinnt natürlich auch wieder die Frage der Rationalität von Weltbildern an Bedeutung, auf die Habermas in der Diskursethik nie systematisch eingegangen war, voraussetzend, dass seine Interpretation und »Auflösung« der Rationalitätsdebatte, die schon weiter oben kritisiert wurde, zutreffend sei. Nun spricht er von einer »verzweigten und einstweilen noch offenen Rationalitätsdebatte« (KuA: 250), was deutlich macht, dass auch in diesem Kontext offensichtlich noch nicht alle Fragen geklärt sind, was die Diskursethik jedoch vorausgesetzt hatte, um ihren universalistischen Anspruch zu begründen.

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Zeigt sich in diesen Zusammenhängen eine gewisse Relativierung der Ansprüche, die noch in der Diskursethik erhoben wurden, so lässt sich doch auch eine Stärkung anderer Positionen verzeichnen, die vor allem mit der veränderten Stellung des Rechts zusammenhängen: In der Frage der Motivation zum Eintritt in Diskurse und der Umsetzung ihrer Ergebnisse musste sich Habermas auf Kohlbergs nach wie vor kontrovers diskutierten Studien zur Moralentwicklung stützen und sah sich aufgrund dessen in Debatten um die Existenz und Verbreitung von Individuen auf postkonventioneller Entwicklungsstufe verwickelt, in denen schwierige Positionen zu verteidigen waren. Nun ist lapidar von der »Unwahrscheinlichkeit von Sozialisationsprozessen, die derart anspruchsvolle Kompetenzen fördern« (FuG: 146) die Rede. Mit der weitgehenden Übernahme der Integrations- und Koordinationsleistungen, die in der diskursethischen Phase allein von der Moral erbracht werden mussten, durch das Recht wird das Motivationsproblem in diesem Zusammenhang entschärft – wobei es allerdings in der Ausübung öffentlicher Autonomie virulent bleibt. Das Individuum wird von normativen Ansprüchen entlastet. Ihm wird nicht mehr die motivationale Leistung der Bindung des eigenen Willens an Normen zugemutet. Zwar muss das Individuum auch aus moralischen Gründen Rechtsnormen befolgen können, aber eine Normbefolgung aufgrund der Faktizität der Rechtsordnung, deren Einhaltung im Notfall mit Hilfe von legitimer Gewaltanwendung erzwungen werden kann, ist ebenso akzeptabel.12 Mit der Entlastung von motivationalen Leistungen geht im Übrigen auch die Entlastung von kognitiven Leistungen der Individuen durch das Recht einher. Musste die allgemeine Fähigkeit zur Lösung von kognitiven Problemen in praktischen Diskursen in der Diskursethik noch unterstellt werden, so heißt es nun: »Begründungs- und Anwendungsprobleme überfordern bei komplexen Fragen oft die analytische Kapazität des einzelnen.« (FuG: 147) Diese Kapazitäten stellt mit dem Auftauchen des Rechts nun der juristische Expertendiskurs bereit. Zuletzt wird auch die Zumutbarkeit normkonformen Verhaltens durch das Recht sichergestellt, die im Vergleich der Ethiken kurz angesprochen wurde (vgl. Kap. III 3.2.3), da eben die allgemeine Einhaltung rechtlicher Normen mit Zwangsmitteln erzwungen werden kann.

12 »Das Recht ist beides zugleich: Wissenssystem und Handlungssystem. [...] Weil Motive und Wertorientierungen im Recht als Handlungssystem miteinander verschränkt sind, kommt den Rechtssätzen unmittelbar eine Handlungswirksamkeit zu, die moralischen Urteilen fehlt.« (FuG: 106)

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In der Kritik der Diskursethik wurde im Zusammenhang mit der Frage von Inklusion und Exklusion in Kapitel III 1.2.4 der von Honneth vorgetragene Einwand thematisiert, nach der sich die Diskursethik auch um eine »normative Infrastruktur« bemühen müsse, die Diskurse erst möglich mache. Honneth spielte damit auf eine Art »materielle Basis« der Diskursethik an. Im Kontext jenes Kapitels konnten nur potentielle Entgegnungen Habermas’ rekonstruiert werden, die dazu tendierten, einer solchen Forderung eine weitgehende Absage zu erteilen. In Faktizität und Geltung macht Habermas hingegen deutlich, wie entscheidend eine in Ansätzen egalitäre Ressourcen-Verteilung für eine funktionierende Öffentlichkeit ist: »Die Öffentlichkeit muß sich ihrerseits auf eine gesellschaftliche Basis stützen können, in der die gleichen Staatsbürgerrechte soziale Wirksamkeit erlangt haben. Nur auf einer Basis, die aus Klassenschranken hervorgetreten ist und die jahrtausendealten Fesseln gesellschaftlicher Stratifikation und Ausbeutung abgeworfen hat, kann sich das Potential eines freigesetzten kulturellen Pluralismus voll entfalten.« (FuG: 374) Auch scheint Habermas der Vorstellung eines Verfassungsgerichts in der »Wächterrolle für deliberative Politik« (FuG: 335) gegenüber nicht abgeneigt zu sein, das auf eine materielle Chancengleichheit hinwirken soll.13 Auch in dieser Frage ist also eine Modifikation von Habermas’ Haltung zu verzeichnen. Ausgehend von Honneths Einwand konnte im gleichen Kapitel die problematische Rolle der Kontrafaktizität thematisiert werden, die der Konzeption des praktischen Diskurses eine gewisse Unschärfe verleiht und im Falle einer weichen Interpretation der Diskursregeln Tore für mögliche elitäre Eingriffe öffnet. Hier ist festzuhalten, dass es in der Frage der Kontrafaktizität keinerlei Ambivalenzen mehr gibt: Habermas lässt keinen Zweifel an einer weichen Interpretation: »Wegen ihres idealisierenden Gehaltes sind die allgemeinen Kommunikationsvoraussetzungen von Argumentationen nur annähernd zu erfüllen.« (FuG: 219) Es finden sich keinerlei widersprüchlichen oder vieldeutigen Formu13 So auch Chevigny 2000: 318; vgl. auch: »Die Zivilgesellschaft muß die Ungleichverteilung sozialer Machtpositionen und der aus ihnen resultierenden Machtpotentiale abfedern und neutralisieren, damit soziale Macht nur so weit zum Zuge kommt, wie sie die Ausübung staatsbürgerlicher Autonomie ermöglicht und nicht beschränkt.« (FuG: 215) An anderer Stelle fordert Habermas – nicht nur formale – Rechte auf politische Teilnahme und Kommunikation. Vgl. RRP: 167. Besonders Ingram arbeitet diese Aspekte energisch heraus. Mit Habermas’ Betonung der Verschränkung von privater und öffentlicher Autonomie gewinne die reale Möglichkeit, an politischer Willensbildung teilzunehmen, massiv an Bedeutung. Mit dieser Verschränkung leiste Faktizität und Geltung »a libertarian justification for a radically egalitarian democracy« (Ingram 2000: 305).

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lierungen mehr, wie dies noch im diskursethischen Kontext der Fall gewesen war. Allerdings legt Habermas auch die nach wie vor bestehenden Schwierigkeiten offen, wenn er von einer »kontroversen und noch klärungsbedürftigen Konzeption« (FuG: 32) im Zusammenhang mit kontrafaktischen Unterstellungen spricht. Am Schluss der kritischen Diskussion der Diskursethik stand die Frage nach einer möglichen Trennung von Moral und Ethik, den Sphären des Gerechten und des Guten. Diese Möglichkeit musste als eine wichtige Voraussetzung für eine mögliche Durchführung des praktischen Diskurses als Herzstück der Diskursethik gelten und wurde im Rahmen der in Kapitel III 1.2.5 formulierten Kritik auf unterschiedlichsten Ebenen in Zweifel gezogen. Dieses Problem der deontologischen Differenzierung entspannt sich zunächst etwas, da im Verfahren legitimer Rechtsetzung nicht mehr die Notwendigkeit besteht, nicht verallgemeinerbare Positionen und strategische Intentionen herauszufiltern. In der Diskursethik hatte es vielfach den Anschein, als sollten/könnten gesellschaftliches Zusammenleben oder, mit anderen Worten, politische Probleme auf der Grundlage praktischer Diskurse geregelt werden.14 Nun stellt Habermas klar, dass sich Politik nicht in Fragen der Moral erschöpft. Das Spektrum der Gründe, die in die politische Willensbildung einfließen, welche dann wiederum in legitimer Rechtsetzung endet, erweitert sich um ethische und pragmatische Erwägungen und öffnet sich sogar für Ergebnisse fairer Verhandlungen (vgl. FuG: 188 f.). Mit diesem breiten Diskursbegriff gewinnt die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates wieder Anschluss an die politische Realität und zeigt im Gegenzug der Diskursethik die Grenzen ihrer Anwendungsfähigkeit in politischen Kontexten auf. Im Zusammenhang mit dem Problem der deontologischen Differenzierung versucht Habermas auch, eine weitere Ambivalenz zu beseitigen, die der Diskursethik anhaftete. Eindeutige Aussagen zum Verhältnis von Ethik und Moral, 14 Zwar wendet sich Habermas in Faktizität und Geltung ausdrücklich gegen eine solche Vorstellung: »Eine unvermittelte Anwendung der Diskursethik oder eines ungeklärten Diskursbegriffs auf den demokratischen Prozeß führt zu Ungereimtheiten; diese bieten dann den Skeptikern Vorwände, um den Entwurf einer Diskurstheorie des Rechts und der Politik schon im Ansatz zu kritisieren.« (FuG: 196) Dieser Vorwurf einer zu politischen Lesart der Diskursethik könnte auch dieser Studie gemacht werden. Allerdings liegt eine solche Lesart schon allein aufgrund der intersubjektiven Ausrichtung dieser Moralphilosophie nahe. Wo sich alle Beteiligten/Betroffenen über die Regeln einigen, unter denen sie leben wollen, fällt es schwer, eine Assimilierung an politische bzw. demokratische Fragen zu vermeiden.

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von Gut und Gerecht, ließen sich kaum in den entsprechenden Erläuterungen finden. Zwar lag es intuitiv nahe, von einem Vorrang der Moral auszugehen, aber darüber, ob dieser grundsätzlich zu gelten hatte, ob mögliche Ausnahmen denkbar erschienen etc. schwieg sich Habermas aus. Über den kategorischen Vorrang der Moral besteht nun kein Zweifel mehr: »Vorrang hat die Frage, wie eine Materie im gleichmäßigen Interesse aller geregelt werden kann.« (FuG: 343) Zwar fließen in juristische Diskurse, die in Gesetze münden, ethisch-politische und pragmatische Erwägungen ein, aber dennoch müssen die aus einem solchen komplexen Pool der Gründe entstehenden Regeln immer im Einklang mit moralischen Normen stehen: »[...] ist der politische Wille einer Rechtsgemeinschaft, der gewiß mit moralischen Einsichten im Einklang stehen soll, auch Ausdruck einer intersubjektiv geteilten Lebensform, von gegebenen Interessenlagen und pragmatisch gewählten Zwecken« (FuG: 188). Besteht nun Klarheit über das unbedingte Primat der Moral, so hat es zunächst den Anschein, als ob ein massives Problem der Diskursethik seine späte Lösung gefunden hätte: Im Rahmen der Überprüfung der Durchführbarkeit einer deontologischen Differenzierung, wie sie Habermas vorschwebt, wurde schließlich bemängelt, dass Fragen, die intuitiv der moralischen Sphäre zugeordnet würden, allzu leicht in den diskursethischen Verfahren dem Bereich ethischer-politischer Selbstverständigungsdiskurse zugewiesen und damit einer gänzlichen Subjektivierung überantwortet werden. Wenn nun moralische Normen eindeutig als »Trümpfe« im Dworkin’schen Sinn gegenüber den Ergebnissen von Selbstverständigungsdiskursen fungieren, dann scheint der Gefahr einer Subjektivierung zunächst Einhalt geboten. Doch dies täuscht insofern, als die Überzeugungskraft eines Primates der Moral davon abhängt, dass deren Unabhängigkeit von der Sphäre der Ethik plausibel gemacht werden kann. Eben diese Möglichkeit einer klaren Trennung der Sphären ist aber in der Kritik der Diskursethik auf unterschiedlichen Ebenen in Zweifel gezogen worden. Daher treffen die Vorwürfe Habermas’ an die Adresse kommunitaristischer Theoretiker, deren Konfundierung von Ethik und Moral die unbedingte Sollgeltung moralischer Normen verwische, auch mutatis mutandis auf seinen eigenen Ansatz zu: »Aber solange Verpflichtungen allein unter dem ethischen Gesichtspunkt betrachtet werden, läßt sich ein absoluter Vorrang des Gerechten vor dem Guten, der erst den kategorischen Geltungssinn moralischer Pflichten ausdrücken würde, nicht begründen.« (BGM: 41) Gelingt Habermas keine überzeugende Differenzierung, so bleibt dieser absolute Vorrang auch bei ihm nicht mehr als eine Behauptung.

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Doch als ob sich Habermas selbst über die noch unzureichende Umhegung der Ethik durch die Moral im Klaren wäre, finden sich nun in der demokratietheoretischen Phase auch gewisse Präzisierungen, was ethische Selbstverständigungsdiskurse selbst angeht. Der unbestimmte Charakter dieser Diskurse, soweit sie dies überhaupt sind, wurde in der Kritik der Diskursethik bereits thematisiert. Zu leicht entsteht der Eindruck, die Frage des guten Lebens werde hier gänzlich privatisiert und subjektiviert. Dies erschien umso problematischer, als in der vorliegenden Studie mit Blick auf Habermas’ Ansatz die Gefahr einer hypertrophen Ethik herausgearbeitet wurde, der eine Moral gegenübersteht, die bestenfalls noch ein paar wenige Fundamentalnormen begründen kann. Gewinnen ethische Diskurse damit massiv an Bedeutung, dann bedarf auch ihre Funktionsweise einer eingehenderen Klärung. Habermas versucht nun deutlich zu machen, dass Selbstverständigungsdiskurse keine gänzliche Willkürfreiheit des Individuums begründen sollen: »Die Perspektive der ersten Person bedeutet hier nicht die egozentrische Beschränkung auf meine Präferenzen, sondern sichert den Bezug zu einer Lebensgeschichte, die immer schon in intersubjektiv geteilte Traditionen und Lebensformen eingebettet ist.« (BGM: 40)15 Allerdings sollten die hier erkennbaren Bestrebungen, den Selbstverständigungsdiskurs von seinen subjektivistischen Konnotationen zu befreien, nicht überbewertet werden, da Habermas in anderen Zusammenhängen nach wie vor den Begriff der »Präferenzen« im Zusammenhang mit ethischen Fragen gebraucht, der für eine Kontinuität zu der eher voluntaristischen Konzeption der Diskursethik steht (vgl. WR: 333). Zuletzt findet sich in Faktizität und Geltung eine Formulierung, die – wenn sie auch in einem völlig anderen Kontext steht – ein Argument zu bestätigen scheint, das im Rahmen von Kapitel III 1.2.5 gegen die Möglichkeit einer Sequenzierung von Normbegründung und Normanwendung vorgebracht werden konnte und damit indirekte negative Wirkungen auf die Möglichkeit der Trennung von Moral und Ethik entfaltete: Lässt sich die Bedeutung einer Norm 15 Diese Präzisierung könnte auch auf Anregungen durch die Arbeiten von Rainer Forst zurückgehen, der sich nachdrücklich für die Dreidimensionalität ethischer Fragen ausspricht, die bei Habermas oftmals übersehen werde (vgl. Forst 2001: 349). Allerdings darf diese Dreidimensionalität nicht als Aufladung der Ethik mit moralischen Pflichten missverstanden werden. Die intersubjektive Dimension ethischer Fragen impliziere keine allgemeine Rechtfertigungspflicht, »so daß hier in einer rechtstheoretischen Betrachtung von einem Freiraum persönlicher Entscheidungen gesprochen werden kann« (ibid.: 357).

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überhaupt unabhängig von ihren Anwendungskontexten verstehen? Vieles sprach dafür, dass dies nicht der Fall ist und in Begründungsdiskurse immer schon Anwendungserwägungen einfließen müssen, was Habermas vehement bestritt. Nun lobt er die Hermeneutik für folgende Einsicht, die in einer Theorie der juristischen Argumentation Niederschlag finden müsse: »Ein regelkonformer Sachverhalt konstituiert sich erst dadurch, daß er in Begriffen einer auf ihn angewendeten Norm beschrieben wird, während die Bedeutung der Norm eben dadurch, daß diese auf einen regelspezifischen Sachverhalt Anwendung findet, konkretisiert wird.« (FuG: 244)

Diese Formulierung konstatiert nach meinem Verständnis ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis von Norm und Sachverhalt bzw. Norm und Anwendungsfall. In diesem Fall müsste Habermas allerdings die Konsequenzen für die Diskursethik ziehen und konzedieren, dass eine Sequenzierung von Normbegründung und Normanwendung jedenfalls nicht in der strikten Art und Weise möglich ist, die er immer wieder postuliert hatte. Ruft man sich aber in Erinnerung, dass hierauf ein beträchtlicher Teil der Argumentationen ruht, der den universalistischen Charakter der Diskursethik begründen soll, so geraten auch diese Ansprüche ins Wanken. Wie schon in den zuvor behandelten Werkphasen, wirft auch die demokratietheoretische Phase Habermas’ ein neues Licht auf viele Zusammenhänge der vorhergehenden Forschungsprogramme. Das komplexe Geflecht von Kontinuitäten, Revisionen, Präzisierungen und Ergänzungen stärkt manche der vertretenen Positionen, führt aber auch zu Relativierungen, die teilweise einer Rücknahme bestimmter Thesen gleichkommen. Doch auch dieser bis dato letzte große Entwurf löst Kritik aus, die im Folgenden diskutiert werden soll. 1.4 Die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates – Unpraktikabel und entradikalisiert? Soweit ersichtlich erweisen sich zwei Themenkomplexe innerhalb der Demokratietheorie als besonders kritikanfällig: Es handelt sich zum einen um die Operationsweise des Diskurs- bzw. Demokratieprinzips sowie zum anderen um das Verhältnis zwischen Öffentlichkeit und politischem System, das besonders augenfällige Ambivalenzen aufweist. Der erste Kritikstrang führt eine Debatte um die Möglichkeit einer Unterscheidung von moralischen und ethischen Fragen fort, welche eine grundsätzli-

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che Voraussetzung für eine deontologische Diskursethik darstellt, wie sie Habermas konzipiert. Mit der Übertragung des Diskursprinzips auf die Politik stellt sich a fortiori die Frage, ob zwischen Materien bzw. Gründen, die unterschiedlichen Sphären angehören – in politische Fragen bzw. Entscheidungen fließen nicht nur moralische und ethische, sondern auch pragmatische Gründe ein – unterschieden werden kann bzw. wie das Diskursprinzip noch zur Geltung gebracht werden kann, wenn keine Entwirrung der miteinander verquickten Materien gelingt. Der zweite Kritikstrang, der hier zu thematisieren ist, rekurriert auf Habermas’ Anspruch, die normative Theorie einer »radikalen Demokratie« (FuG: 13) entwickelt zu haben. Entsprechend ist zu überprüfen, inwieweit sich aus der Demokratietheorie Forderungen oder Schlussfolgerungen ergeben, die tatsächlich auf eine »radikale Demokratie« abzielen. Damit wird auch hier eine Diskussion weitergeführt, die mit der Veröffentlichung der TKH eingesetzt hatte, und in der vor allem die zu defensive Haltung von Habermas’ kritischer Gesellschaftstheorie gegenüber politischem und ökonomischem System moniert wurde. Wie hier nun im entsprechenden Kapitel zu zeigen ist, weist Habermas’ demokratietheoretische Konzeption insbesondere, was das Verhältnis zwischen politischem System und Zivilgesellschaft bzw. Öffentlichkeit angeht, beträchtliche Ambivalenzen auf, die sich in der Form sehr unterschiedlicher Schlussfolgerungen und Forderungen manifestieren, welche im Grad ihrer Radikalität teilweise stark variieren. Im gleichen Maß, in dem die Argumentation Habermas’ vom Abstrakten zum Konkreten fortschreitet, lässt sich auch eine Entradikalisierung der Implikationen des Konzeptes verzeichnen. 1.4.1 Anwendungsprobleme des Diskursprinzips auf die Politik Das Diskursprinzip ist ein aus dem Konzept der kommunikativen Rationalität entwickeltes Meta-Prinzip, das nicht über einzelne Handlungen, sondern über Handlungsnormen (Recht, Moral) Auskunft gibt: »Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.« (FuG: 138) Dieses Diskursprinzip lässt sich spezifizieren, indem es durch Argumentationsregeln verschiedener Diskurstypen operationalisiert wird, so nimmt es z. B. in moralischen Diskursen die schon aus der Diskursethik bekannte Form des Universalisierungsgrundsatzes an. In Abgrenzung zu diesem Moralprinzip führt Habermas nun das Demokratieprinzip ein, das entscheidend für die demokratische Willensbildung ist. Es

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besagt, dass »nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden könnten« (FuG: 141). Demokratie- und Moralprinzip unterscheiden sich nicht nur bezüglich der Art der Handlungsnormen, auf die sie sich beziehen, nämlich einerseits Recht, andererseits Moral, sondern auch, was den Bezugsrahmen angeht: Moralische Normen müssen eine »unterstellte Republik von Weltbürgern« (FuG: 139) akzeptieren können, für das Recht ist nur die Zustimmung der Rechtsgenossen einer spezifischen politischen Gemeinschaft gefordert. Vor allem aber fließt, wie schon angedeutet, in die politische Willensbildung, auf welche sich das Demokratieprinzip bezieht, ein viel breiteres Spektrum von Gründen, oder allgemeiner gesprochen, Faktoren ein. Eine moralisch richtige Norm ist das Resultat eines Diskurses über die Frage, was für alle Betroffenen gleichermaßen gut und in diesem Sinne gerecht ist. Legitime Gesetze gehen laut Habermas aus einem Geflecht von pragmatischen, ethisch-politischen sowie moralischen Diskursen, verfahrensregulierten Verhandlungen und der Übersetzung dieser Ergebnisse in die Sprache des Rechts im Rahmen von juristischen Diskursen hervor.16 Habermas hatte in den Erläuterungen zur Diskursethik, die am Ende jener Phase stehen, selbst auf die »diskursive Komplexität« demokratischer Willensbildung aufmerksam gemacht (vgl. EDE: 99 ff.), die sich nicht unter den moralischen Diskurs subsumieren lasse, da hier moralische, ethische und pragmatische Fragen miteinander verquickt seien. Entsprechend führt er nun das in seinen Anforderungen »schwächere« Demokratieprinzip ein, um das Diskursmodell nicht überzustrapazieren. Es ist dieses vermeintlich schwache Demokratieprinzip, das als immer noch zu anspruchsvoll bzw. unrealistisch und unpraktikabel kritisiert wird. Das schon reduzierte Demokratieprinzip gehe unzulässigerweise davon aus, politische, also diskursiv komplexe Probleme, könnten in modernen, heterogenen Gesellschaften konsensuell gelöst werden: »Certainly ›ethical‹ and hence culturally specific elements of interpretation will enter into such processes; they do not admit of convergence towards consensus, especially as diverse and potentially conflicting cultural self-understandings enter into the debate of particular issues.«17 Habermas reagiert auf die vor allem von McCarthy geäußerte

16 Vgl. das Prozessmodell, das Habermas vorschlägt: FuG: 207. 17 Bohman 1996: 206; vgl. auch: »[...] können wir durchaus zu dem Schluß gelangen, daß Urteile über Besser und Schlechter in diesem Bereich ihrem inneren Wesen nach be-

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Kritik,18 die eigentlich nur eine konsequente Weiterentwicklung dessen darstellt, was er schon an der Deontologie der Diskursethik moniert hatte, mit einer mehrgleisigen Antwort: Zunächst verweist er auf mögliche Mechanismen einer rechtsstaatlichen Neutralisierung von Wertkonflikten, wobei er deren noch immer sub-optimalen Charakter einräumt (vgl. Symp.: 321 f.). Existiert ein ethisch hartnäckig kontroverser Sachverhalt, so bedarf es eines Wechsels der Ebenen. Der ethisch-politische Diskurs muss in einen moralisch-praktischen Diskurs übergehen, in dessen Rahmen nach einer neutralen Regelung gefahndet wird, die über die Grenzen konfligierender Wertvorstellungen akzeptiert werden kann und so eine Art friedliche Koexistenz ermöglicht.19 Hier greifen natürlich die Bedenken der Kritiker um McCarthy, die schon im Rahmen der Deontologie der Diskursethik die Möglichkeit eines solchen Perspektivenwechsels aus epistemologischen, aber auch motivationalen Gründen angezweifelt hatten. Und tatsächlich sieht sich Habermas auch in dieser Frage zu einer gewissen Relativierung genötigt, die sich in der Präzisierung des Adjektivs »neutral« findet. Eine solche »neutrale« Regelung sei im Hinblick auf das Ziel einer friedlichen Koexistenz in gleichem Maße gut für alle, aber »eine ungleiche Verteilung der ›Härten‹, die eine gerechte Lösung für das ethische Selbstverständnis der einen oder der anderen Seite bedeutet, ist nicht auszuschließen, eher wahrscheinlich« (Symp.: 322). Dies erscheint durchaus plausibel und gibt den Begriffen »neutral« und »gerecht« eine realistischere, wenn auch relativierte Bedeutung. Was Habermas hier im Sinn hat, sind beispielsweise ethisch kontroverse Praktiken wie das Schächten von Tieren. Tendenziell würde eine neutrale Regelung wohl darauf hinauslaufen, eine solche Praxis zu erlauben, da die Integrität der Lebensform der Gegner, die die Praxis weiterhin für verwerflich halten können und nur tolerieren müssen, durch die Zulassung kaum beeinträchtigt wird, während die Lebensform derjenigen, welche die Praxis aus kulturellreligiösen Gründen befürworten, durch ein Verbot zumindest in weit stärkerem Maße beeinträchtigt wird. Dementsprechend konstatiert Habermas, die Absträchtliche Variationen zulassen, daß Einmütigkeit in Streitfragen der praktischen Politik nicht immer zu erzielen ist.« (McCarthy 1993: 323) 18 Vgl. zum Folgenden vor allem McCarthy 1998. In eine ähnliche Richtung weisen die Bedenken von Cohen 1999: 395. 19 Man beachte, dass hier vom ethisch-politischen Diskurs als Einstieg in das diskursive Verfahren ausgegangen wird, wohingegen die Diskursethik noch vom praktisch-moralischen Diskurs ausging, um beispielsweise im Falle des Scheiterns die Ebene in Richtung ethischer Selbstverständigungsdiskurse zu wechseln.

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traktion des moralischen Diskurses arbeite im Allgemeinen »zugunsten einer vergleichsweise ›liberalen‹ Regelung« (ibid.). Kann dieses Argument auch einiges an Plausibilität für sich verzeichnen, so bleiben doch auch gewisse Fragen offen: Wie soll beispielsweise in Fällen verfahren werden, in denen auch Toleranz eine massive Beschädigung der Integrität einer Lebensform beinhaltet, da eine Praxis massive Externalitäten beinhaltet; wenn etwa Juden zugemutet wird, antisemitische Äußerungen zu tolerieren? Und abgesehen von solchen Detailfragen werden durch diese Präzisierung Habermas’ natürlich keineswegs alle Bedenken bezüglich eines scheinbar problemlos durchführbaren Perspektivenwechsels zwischen verschiedenen Diskursund Verhandlungsformen, die er in seinem Prozessmodell politischer Willensbildung (vgl. FuG: 207) voraussetzt, ausgeräumt.20 Es bleibt die Grundfrage einer möglichen Aufsplittung diskursiv komplexer Materien und die Behandlung der spezifischen Elemente in den adäquaten Diskurs- bzw. Verhandlungsarenen. Die Formulierungen Habermas’ sind hier nicht immer eindeutig: Einerseits ist die Rede davon, die verschiedenen Materien, seien »verflochten« und verschränkt (FuG: 345), andererseits seien sie eben nicht »ununterscheidbar« (FuG: 346). Aufschlussreicher als diese für viele Interpretationen offenen Charakterisierungen sind Habermas’ konkrete Vorschläge zum Umgang mit diskursiver Komplexität, die als zweites und drittes Gleis der Entgegnung auf McCarthy verstanden werden können. In Faktizität und Geltung wird das Prozessmodell vernünftiger politischer Willensbildung dahingehend erläutert, dass im Anschluss an die zunächst zu führenden pragmatischen Diskurse je nach Materie die Wahl zwischen moralisch-praktischen und ethisch-politischen Diskursen anstehe.21 Doch Habermas räumt ein: »In komplexen Gesellschaften wird aber selbst unter idealen Bedingungen oft weder die eine noch die andere Alternative offenstehen, nämlich immer dann, wenn sich herausstellt, daß alle vorgeschlagenen Regelungen vielfältige Interessen auf je verschiedene Weisen berühren, ohne daß sich ein verallgemeinerbares Interesse oder der eindeutige Vorrang eines bestimmten Wertes begründen ließen. In diesen Fällen bleibt die Alterna20 Vereinzelt finden sich sogar Formulierungen, in denen Habermas eine praktisch durchführbare Differenzierung selbst zu bezweifeln scheint: »In der Regel sind politische Fragen so komplex, daß sie gleichzeitig unter allen diesen – analytisch sehr wohl zu trennenden – Aspekten erörtert werden müssen.« (Symp.: 331) 21 Dies ist im Übrigen die dritte Version eines Prozessmodells der verschiedenen diskursiven Verfahren.

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tive von Verhandlungen.« (FuG: 204) Dem Faktum von diskursiver Komplexität soll hier offensichtlich mit einer Verlagerung von der Diskurs- auf die Verhandlungsebene begegnet werden. Natürlich kommen hierfür keine naturwüchsigen, nicht regulierten Verhandlungen in Betracht. Vielmehr schlägt sich das Diskursprinzip auch hier insofern nieder, als mit seiner Hilfe faire Verfahrensregeln für die Verhandlungen begründet werden sollen, auf deren Grundlage es zu fairen Kompromissen kommen soll. Dieser Vorschlag zeichnet sich durch einen ungezwungenen Pragmatismus aus: Im Falle von Zuordnungsschwierigkeiten werden die kontroversen Themen in fairen Verhandlungen geregelt. Die misslichen Konsequenzen könnten allerdings erstens darin bestehen, dass aufgrund der Verquickung eines Großteils der politischen Routine-Materien mit bestimmten Interessen die Verhandlungslösung wohl eher zur Regel als zur Ausnahme werden dürfte. In diesem Fall kommt es zu einer doch beträchtlichen Marginalisierung des Diskursprinzips in Habermas’ Konzeption, das dann nur noch indirekt über die Begründung fairer Verhandlungsregeln wirksam wird. Sicherlich kann man Habermas zustimmen, dass die »diskursive Kette einer rationalen Willensbildung« (FuG: 205) mit dieser indirekten Geltung des Diskursprinzips nicht reißt, aber die kritische Messlatte für legitime demokratische Gesetzgebungsprozesse liegt nun doch um einiges tiefer. Darüber hinaus könnte der vorgebrachte Vorschlag zum Umgang mit diskursiver Komplexität schon wieder zu pragmatisch sein, um noch realistisch zu bleiben. Habermas führt die Verhandlungslösung für Fälle ein, in denen unklar ist, ob ethische oder moralische Diskurse angebracht sind. Dann ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass hier Positionen vertreten werden, die wohl kaum verhandlungs-, also kompromissfähig sind. Die Verhandlungslösung müsste hier zumindest einigen Beteiligten zumuten, sich von ihren starken Wertungen oder moralischen Empfindungen so weit zu distanzieren, dass sie zu Verhandlungsmasse werden können, was für die Teilnehmer kaum akzeptabel sein dürfte. Auf einem dritten und letzten Gleis nutzt Habermas die oft bewährte Strategie, e contrario zu argumentieren. Schließe McCarthy eine unparteiliche Lösung von Wertkonflikten kategorisch aus, so könne demokratische Legitimität in seiner Konzeption nicht mehr gedacht werden: »Es bleibt unerfindlich, wie die von rational unlösbaren Wertkonflikten durchzogenen, von gegnerischen Identitäten beherrschten politischen Auseinandersetzungen überhaupt anders als durch Oktroy, bestenfalls durch oktroyierte [...] Kompromissverfahren sollten beigelegt werden« (Symp.: 325). Solle ein solches Schmitt’sches Politikverständnis vermieden werden, müsse man zumindest aus der Teilnehmerperspektive

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unterstellen, dass eine richtige Antwort existiere, wenn sich dies auch aus der Beobachterperspektive oft als unzutreffend erweise. Hier kehrt also die Idee der kontrafaktischen Unterstellungen zurück. McCarthy besteht wiederum darauf, beide Perspektiven müssten verbunden bleiben, jedenfalls nicht in einen kontradiktorischen Zusammenhang zueinander geraten. An dieser Stelle verzweigt sich die Debatte abermals, da Habermas einerseits versucht, seine Idee der Prämisse der einen richtigen Lösung plausibel zu machen, andererseits die von McCarthy geforderte Perspektivenkongruenz auf einer anderen Ebene erwidert. Habermas will an der Prämisse der einen richtigen Lösung von Konflikten festhalten, ist nun aber bereit zu konzedieren, dass es möglicherweise eines gewissen Konstruktivismus bedürfe, um die Lösung für schwierige Fragen zu finden. Hier geht es nicht so sehr um die »Entdeckung«, sondern um mehr oder weniger kreative »Konstruktionen« von Lösungen: »Angesichts schwieriger Probleme müssen uns die richtigen Konstruktionen ›einfallen‹.« (Symp.: 336) Damit geht Habermas indirekt von der Möglichkeit aus, dass es Norm- oder Wertkonflikte gibt, für die bis dato noch keine richtige Lösung konstruiert werden konnte. Doch natürlich bedürfen auch solche Fragen der Regelung, und Habermas beschließt diese Erwägungen mit den folgenden Worten: »Wenn unsere Vermutung zutrifft, würden wir in solchen normativ ausweglosen Situationen mit der (im allgemeinen gültigen) Prämisse der ›einen richtigen Antwort‹ nur operieren wie mit einem ungedeckten Wechsel auf die Zukunft.« (Ibid.)22 Abgesehen von diesem Plädoyer für einen diskursiven Konstruktivismus geht Habermas auch direkt auf McCarthys Postulat einer notwendigen Minimalkongruenz von Beobachter- und Beteiligten-Perspektive ein und wechselt hierbei auf eine andere Diskussionsebene. Er versucht zu zeigen, dass in seiner Variation der Legitimation durch Verfahren beide Perspektiven integriert werden: Indem diskursive Willensbildung rechtlich institutionalisiert werde, könnten aus der Beobachterperspektive notwendig erscheinende Entscheidungszwänge bindend eingeführt werden, ohne dass die legitimitätserzeugende Kraft der Diskurse aus Teilnehmerperspektive eingeschränkt werde. Als Beispiel führt Habermas die Mehrheitsregel an: Politische Fragen müssten letztendlich unter 22 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der epistemischen Qualität von Diskurslösungen: Generieren deliberative Prozesse rationalere, kreativere oder allgemein bessere Lösungen als alternative Entscheidungsverfahren? Auf diese umfangreiche und kontroverse Diskussion kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Vgl. Stokes 1998, Fearon 1998, Przeworski 1998 und Peters 2001 zu den unterschiedlichen Positionen.

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Zeitdruck entschieden werden, doch »demokratische Mehrheitsentscheidungen bilden nur Zäsuren in einem [...] Argumentationsprozeß« (Symp.: 327, Hervorhebung T. B.). Die Minderheit müsse nicht ihre Überzeugung ändern, und insofern der demokratische Prozess der Minderheit erlaube, den Diskurs fortzuführen und selbst möglicherweise Mehrheit zu werden, könne dieses Verfahren tatsächlich beide Perspektiven integrieren. Doch Habermas scheint sich über den problematischen Charakter des Mehrheitsprinzips nicht vollständig im Klaren zu sein: Spätestens eine Mitte der achtziger Jahre von deutschen Politikwissenschaftlern und Juristen geführte Debatte über die »Grenzen des Mehrheitsprinzips« hat akute Legitimationsdefizite der Mehrheitsregel, wie sie auch konkret in der Bundesrepublik Deutschland praktiziert wird, zu Tage gefördert. Die besonders von Guggenberger und Offe pointiert formulierte Kritik an den fehlenden Voraussetzungen für die Anwendung des Mehrheitsprinzips war in der Analyse völlig überzeugend – nur waren die Verbesserungsvorschläge aufgrund mangelnder Praktikabilität nicht sonderlich fruchtbar.23 Entsprechend bestand am Ende der Debatte weitgehender Konsens über die mangelnde Legitimation, aber eben auch die faktische Alternativlosigkeit des Mehrheitsprinzips. Die Legitimation des Mehrheitsprinzips ist an unterschiedlichste substantielle und formelle Voraussetzungen geknüpft, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann und muss. Habermas könnte in den meisten Fällen argumentieren, dass diese eben als gegeben unterstellt werden müssten – auch wenn sie gänzlich unpraktikabel sind –, aber an einer bestimmten Voraussetzung lässt sich zweifelsfrei zeigen, dass Habermas ein harmonisierendes Bild der diskursiven Willensbildung zeichnet: Es handelt sich um die faktische Irreversibilität von Mehrheitsentscheiden auf bestimmten Gebieten. Als augenfälliges Beispiel kann die Entscheidung zum Bau von Atomkraftwerken angeführt werden. Hier ist die Entscheidung keine bloße »Zäsur«, denn sie beinhaltet einen faktischen Abbruch des Diskurses bzw. eine Festlegung auf, vorsichtig geschätzt, Jahrzehnte (was das Abschalten von Kraftwerken betrifft) oder gar Jahrtausende (was die Entsorgung angeht). Spätestens hier bricht Habermas’ Einheit von legitimationsstiftendem Diskurs und Mehrheitsregel, von Teilnehmer- und Beobachterperspektive, irreparabel auseinander und das Diskursprinzip stößt damit an seine Grenzen. Es besteht ein Trade-Off zwischen Legitimation und Effizienz, wobei ein Minimum Letzterer durch den Einsatz 23 Vgl. hierzu Guggenberger 1984 sowie Offe 1984.

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des Mehrheitsprinzips gewährleistet wird. Habermas’ Konzept einer Willensbildung, die beide Attribute in vollem Umfang in sich vereinigt, scheint selbst auf der theoretischen Ebene kaum haltbar zu sein. 1.4.2 Die Ambivalenz der Demokratietheorie Der zweite Kritikstrang führt letztlich eine Diskussion in der Nachfolge der TKH fort. Zwar hat Habermas das politische System wieder ein Stück weit einer kritischen Betrachtung zugänglich gemacht, doch noch immer wird dieses Zugeständnis an die geäußerten Bedenken im Gefolge der TKH teilweise als unzulänglich empfunden. Allerdings scheint diese Kritik auch teilweise auf Missverständnissen zu beruhen. Bohman schreibt: »Whereas informal spheres of opinion formation remain directly subject to the norms of communicative association, the formal institutions in which decisions made are not. [...] With or without complexity, too strong a distinction between will and opinion forming institutions not only undermines any actual democratic sovereignty; will formation is entirely given over to institutional actors who are only ›influenced‹ by the public or ›open to‹ reasons it puts forward.«24

Der erste Satz missversteht Habermas: Verfahrensregeln gelten a fortiori für den parlamentarischen Willensbildungsprozess – wenn Habermas sie auch nicht für alle staatlichen Institutionen vorsieht. Ist eine derartige Unterscheidung nicht zu begründen, so spielt in den zweiten Satz doch ein Bild hinein, das Habermas selbst manchmal zu evozieren scheint und das durchaus Anlass zur Kritik böte: Zwei hermetisch voneinander abgetrennte Entitäten, wobei sich die eine von Zeit zu Zeit dem Einfluss der anderen öffnet, aber auch wieder entzieht. Die Zugriffsrechte auf das politische System scheinen der Öffentlichkeit mehr oder weniger häufig »zuzufallen« (nämlich in Krisensituationen) und selbst dann bleibt ihr Einfluss minimal.25 Habermas spricht beispielsweise von politischem Wandel, »dessen Richtung von politisch gestalteten Eingriffen zwar nicht gesteuert, aber indirekt beschleunigt oder gehemmt werden kann« (VV: 629). 24 Bohman 1996: 208 f. 25 Diese Konzeption Habermas’ ist um so überraschender als er in Faktizität und Geltung gerade eine solche »exzeptionalistische Beschreibung der politischen Praxis« (FuG: 338) an Michelmans Vorstellungen bezüglich der Rolle von Verfassungsgerichten kritisiert. Auch bei Michelman (1996) wollen oder können die Staatsbürger im Normalfall ihre Volkssouveränität nicht realisieren, an deren Stelle dann das Verfassungsgericht als Ausfallbürge treten muss.

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Man wird Habermas nicht dahingehend verstehen dürfen, dass das politische System sich ab und an öffnet, um den Einfluss einer im Übrigen sinnlos debattierenden und im Wesentlichen passiven Öffentlichkeit aufzunehmen. Natürlich versuchen zivilgesellschaftliche Akteure beständig aktiv über das Medium der kommunikativen Macht auf das politische System einzuwirken, doch dieses ist eben auch mehr als ein passiver, zu bearbeitender Block und ist verletzlich bzw. immun gegenüber unterschiedlichen Inputs. Daher scheint die eigentliche konzeptionelle Schwachstelle Habermas’ im Nichtvorhandensein einer Theorie zu liegen, die diese Selektivität des Staates erklären kann, um diese Einsichten dann im Sinne seiner normativen Demokratietheorie für zivilgesellschaftliche Akteure nutzbar zu machen. Sein systemtheoretischer Ansatz kann dies nur in groben Zügen. Dieser Themenkomplex verweist auf die schon im Vergleich der Ethik/Moral thematisierte Frage, inwieweit Habermas es für akzeptabel hält, die Ergebnisse aus diskursiven Willensbildungsprozessen auch mit strategischen Mitteln dem politischen System aufzunötigen. Lässt Habermas nur den berühmten »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes«, dem sich das politische System manchmal eben nicht entziehen könne, zu, dann verurteilte er die zivilgesellschaftlichen Akteure tatsächlich in bedenklicher Weise zur Machtlosigkeit, da es sehr idealisierend wäre, Zugang zum politischen System allein aufgrund eines überzeugenden Argumentes für möglich zu halten. Doch die Alternative hierzu, Akteure, die mit Präsentations- und Vermarktungsstrategien operieren, d. h., strategisch handelnd an den Staat herantreten, stünden zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Habermas’schen Konzepten, die eine explizite Auseinandersetzung mit der Frage der Akzeptabilität strategischen Handelns weitgehend vermieden hatten. Zumindest in den expliziten Äußerungen Habermas’ stellte strategisches Handeln gerade die Antipode kommunikativer Rationalität bzw. kommunikativen Handelns dar. Die Zivilgesellschaft vermag unter bestimmten Umständen auf das politische System einzuwirken. Dies ist die Botschaft Habermas’. Doch es ist fraglich, was von dieser Botschaft der normativen Demokratietheorie, die sich teilweise sogar »radikaldemokratisch« nennt, nach den unzähligen Bedingungen, Voraussetzungen, Relativierungen und Filterungen noch übrig bleibt. Aufgrund dessen erscheint die Demokratietheorie zumindest höchst ambivalent. Einerseits finden sich äußerst ambitionierte Aussagen und Forderungen in Faktizität und Geltung: »Die sozialintegrative Kraft der Solidarität, die nicht mehr aus Quellen des kommunikativen Handelns allein geschöpft werden kann, soll sich über weit ausgefächerte autonome Öffentlichkeiten und rechtsstaatlich institutionali-

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sierte Verfahren der demokratischen Meinungs- und Willensbildung entfalten und über das Rechtsmedium auch gegen die beiden anderen Mechanismen gesellschaftlicher Integration, Geld und administrative Macht, behaupten können.« (FuG: 363) Überhaupt lässt die Rede vom Recht als »verstärkender Transformator« moralischer oder allgemeiner lebensweltlicher Imperative es wieder möglich erscheinen, die ehemals völlig entkoppelten Bereiche des politischen und sogar des ökonomischen Systems wieder an die Willensbildung der Staatsbürger zurückzukoppeln. Dies sind Positionen, die sich zum letzten Mal so in den Werken der siebziger Jahre bei Habermas fanden. Auch die schon weiter oben erwähnte Forderung nach einer egalitäreren Öffentlichkeitsstruktur und das Plädoyer für eine Redistribution materieller Ressourcen zu diesem Zweck versprühen eine Radikalität, die vor dem Hintergrund der Werke der achtziger Jahre beinahe überrascht. Doch je weiter Habermas in der Demokratietheorie vom Abstrakten zum Konkreten fortschreitet und die Realitätsnähe des Konzepts belegen will, desto stärker entradikalisieren sich die von ihm vertretenen Positionen, wie dies schon weiter oben dargelegt wurde, und die anfangs noch ambitionierten Forderungen finden sich in den Kapiteln über deliberative Politik kaum noch wieder.26 Dementsprechend lässt sich in der Literatur eine Vielzahl von Kommentaren antreffen, die bezweifeln, ob man das Projekt von Habermas noch als beispielsweise radikaldemokratisch bezeichnen könne, wie er es selbst verstanden wissen will: »Sporadische Bewegungen« reichten für einen solchen Anspruch kaum aus; Habermas’ Zurückhaltung riskiere, »daß emanzipatorischen Bewegungen der Wind aus den Segeln genommen wird«27. Von Volkssouveränität könne kaum gesprochen werden, bestünde diese einzig darin, punktuell der Selbststeuerung des Systems gegenzusteuern, und überhaupt sei eine diffuse Öffentlichkeit zu schwach, um dies zu leisten, nur Referenden könnten Volkssouveränität adäquat realisieren.28

26 Scheuerman sieht diese Ambivalenz des Ansatzes in einem unbedachten Eklektizismus begründet. Vgl. Scheuerman 1999: 169. 27 Dews 1993: 361, ebenso: Abraham 1994: 943 f.; Benhabib geht sogar so weit, den Praxisbezug der Demokratietheorie anzuzweifeln: »The deliberative democracy is not a theory in search of practice, rather it is a theory which claims to elucidate some aspects of the logic of existing democratic practices better than others.« (Benhabib 1994: 42) 28 Vgl. Bohman 1996: 209.

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Demokratie werde bei Habermas auf »a source of new ideas in periods of crisis« reduziert.29 Diese Bedenken sind nicht schwer zu verstehen. Zwar lassen sich dieser vorläufig letzten großen Phase im Werk Habermas’ einige weitreichende und ambitionierte Forderungen entnehmen, doch an vielen anderen Stellen werden nur noch aufreizend zurückgenommene emanzipatorische Potentiale umrissen. Dies ist nicht zuletzt der Preis, den er für den von ihm nach wie vor hoch veranschlagten systemtheoretischen Realismus zahlt.30 Zwar ist die Demokratietheorie zumindest offensiver als die TKH, insofern sie zumindest eine mehr oder weniger enge Rückbindung des politischen Systems an lebensweltliche Kontexte einfordert. Gleichwohl finden grundlegendere Demokratisierungsbestrebungen bezüglich des Staates, vor allem aber Reformen im Bereich der Ökonomie in Habermas’ Demokratietheorie alles andere als eine entschlossene Anwältin. Die Rolle der Diskursethik im Rahmen der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates lässt sich ein weiteres Mal nur als ambivalent charakterisieren. Einerseits steht der Moral mit dem Recht ein mächtiger Verbündeter zur Seite, mit dessen Hilfe es sogar möglich sein soll, ihre Imperative in die entkoppelten Systeme einzuspeisen, wobei dies vor allem für das politische System gilt. Andererseits hat die Diskussion um das Problem diskursiver Komplexität gezeigt, dass das Diskursprinzip für die große Mehrzahl tagespolitischer Fragen nur noch periphere Bedeutsamkeit beanspruchen kann und nur noch vermittelt über faire Verhandlungsregeln zur Geltung kommt. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Problematik, die sich in der Diskursethik aus den Schwierigkeiten einer klaren Unterscheidung zwischen Werten und Normen ergab, in der Demokratietheorie zurückkehrt als die nur schwer durchführbare Differenzierung von moralischen, ethischen und pragmatischen Gründen, die in der diskursiven Komplexität politischer Fragen zusammenfließen. Die verschiedenen Argumentationen, die Habermas’ als Erwiderung auf diese Problemdiagnose vorgebracht hat, beinhalten jeweils weitere Entschlackungen des Diskursprinzips. Insbesondere werden Verhandlungslösungen, die nach fairen Regeln zustande kommen stärker betont und daneben

29 Cohen 1999: 415. Er führt weiter aus, der klassische demokratische Prozess werde in Habermas’ Konzept »foreign to the settled institutional routines of a modern polity« (Cohen 1999: 410). Ähnliche Kritik findet sich bei Michelman 1996. 30 »Damit ist für Habermas immer noch die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie zentral.« (Mehring 1993: 187)

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die Möglichkeit der »einen richtigen Lösung« nur noch als Unterstellung postuliert. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen politischem System und zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit lässt sich zunächst feststellen, dass Habermas’ Forderungen und Schlussfolgerungen in ihrer Radikalität über die äußerst defensive Ausrichtung der TKH hinausgehen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber ein gewisses Gefälle innerhalb der Demokratietheorie. Je weiter die Analyse vom Abstrakten zum Konkreten fortschreitet, desto weiter werden die anfangs noch ambitionierten Forderungen, die sich aus dem Ansatz ergeben, zurückgenommen und relativiert, so dass letztendlich nur bedingt von einer »radikalen« Demokratietheorie Habermas’ gesprochen werden kann. Im Anschluss an diese kritische Analyse der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates, gilt es nun, Foucaults staatsanalytisches Projekt vorzustellen und zu diskutieren.

2.

Kritik als Analyse der Regierungsrationalitäten – Foucaults Gouvernementalité

Ähnlich dem Denken Habermas’ verzweigt sich auch Foucaults Denken im Anschluss an die genealogische Phase in zwei komplementäre Richtungen. Aufbauend auf dem Schlüsselbegriff der »Führung« (conduit) gewinnt er einerseits Raum für ethische Fragestellungen, denen insbesondere Anfang der achtziger Jahre sein Interesse gilt. Gleichursprünglich wurzelt aber auch eine andere, komplementäre Denkbewegung im Begriff der Führung, die sich Ende der siebziger Jahre in Foucaults Vorlesungen am Collège de France entfaltet. Es handelt sich um staatstheoretische31 Fragen bzw. einer Genealogie des moder-

31 Dabei ist Foucault kein Staatstheoretiker im klassischen Sinne. Er hat sehr deutlich gegen eine gewisse Art, den Staat zu theoretisieren, Stellung bezogen: »Jawohl, ich erspare mir eine Theorie des Staates, ich will und ich muß mir eine Theorie des Staates ersparen – so wie man sich eine ungenießbare Mahlzeit ersparen kann und muß.« Foucault hat insbesondere eine essentialistische Staatstheorie im Sinn: »Es kann nicht darum gehen, die Gesamtheit der Praktiken aus einem angeblichen Wesen des Staates an und für sich abzuleiten [...] aus dem zweifellos wichtigeren und schwerer wiegenden Grund, daß nämlich der Staat kein Wesen hat.« (SPH: 69) In Analogie zur Analytik der Macht, die Foucault ebenfalls von einer Theorie der Macht unterschieden wissen wollte, wird in der Folge von Staatsanalytik die Rede sein.

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nen Staates, die Foucault auf der Basis des Begriffs der »Gouvernementalité« in Angriff nehmen möchte. Die »historische Analyse dessen, was man – mit einem veralteten Begriff – Regierungskunst nennen könnte« (KpV: 91), geht also chronologisch gesehen der hier schon diskutierten ethischen Wende voraus. Obwohl sich diese Studie an einem genetisch-chronologischen Aufbau orientiert, soll dieser Vorsatz hier aus mehreren Gründen verletzt werden: Im Fall der Gouvernementalité deckt sich die inhaltliche Entwicklung nicht mit der chronologischen Entwicklung. Wie oben schon erwähnt, wurzeln beide Phasen, Ethik und Staatsanalytik, gleichursprünglich im Begriff der »Führung«. Ein wichtiges Motiv, einen genetischchronologischen Ansatz zu verfolgen, nämlich die Möglichkeit, Korrekturprozesse zwischen den verschiedenen Phasen nachzuzeichnen, entfällt damit für Ethik und Staatsanalytik weitgehend, so dass die Qualität der kritischen Analyse des Foucault’schen Werkes durch diese punktuelle Missachtung der Zeitachse nicht beeinträchtigt wird. Ist diese methodische Freiheit also unbedenklich, was die erste AnalyseEbene der Arbeit angeht, so verspricht sie umgekehrt auf der zweiten Ebene große Vorteile, da nun die ethischen/moralphilosophischen und die demokratietheoretischen/staatsanalytischen Phasen aufeinander bezogen werden können. Für eine fruchtbare Gegenüberstellung sind dies die besten Voraussetzungen. Zuletzt spricht gegen die Möglichkeit, der chronologischen Abfolge der Werkphasen Foucaults zu folgen und bei Habermas die Analyse der Diskursethik und der Demokratie zu vertauschen, die Tatsache, dass die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates große Teile ihres Fundamentes aus den Konzepten der Diskursethik bezieht und vor allem, dass die Demokratietheorie gegenüber der Diskursethik schon wieder eine partielle Selbstkorrektur Habermas’ darstellt. Damit scheint mir der hier gewählte Weg die größten Vorteile auf der zweiten Analyse-Ebene mit den geringsten Beeinträchtigungen auf der ersten Analyse-Ebene zu verbinden. Nach diesen methodischen Ausführungen ist nun zunächst zu klären, welche Modifikationen im Übergang von der Genealogie zur Analyse der Gouvernementalité auftreten.

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2.1 Diszipliniertes Individuum und regulierte Bevölkerung – Zur Verteidigung der Gesellschaft Foucaults Forschungen zur Gouvernementalité müssen – sicherlich auch aufgrund der problematischen Quellenlage – insbesondere was den deutschen Diskurs angeht, weitgehend als terra incognita bezeichnet werden. In der kaum vorhandenen deutschsprachigen Sekundärliteratur zu Foucaults entsprechenden Vorlesungen am Collège de France kommt den Arbeiten Thomas Lemkes herausragende Bedeutung zu, von dem die einzige Monographie zu Foucaults »Kritik der politischen Vernunft«32 stammt. Doch auch wenn man die umfassende anglo-amerikanische Literatur im Bereich der »Governmentality-Studies« mit einbezieht, verdient die Arbeit Lemkes besondere Beachtung, da er sich im Unterschied zu den anwendungsorientierten Studies in Governmentality auch für die Einordnung der Gouvernementalité in Foucaults Gesamtwerk interessiert. Die Frage, ob und wie sich die Analyse der Gouvernementalité methodisch von den Arbeiten des Genealogen Foucault unterscheidet, soll daher im Folgenden in Auseinandersetzung mit der rezeptionsprägenden Position Lemkes erörtert werden.33 Lemkes Argumentation bezüglich der Genese des neuen Forschungsprogramms von Foucault kann folgendermaßen zusammengefasst werden:34 Dieser habe in seinen Genealogien der Disziplinarinstitutionen, mithin der Disziplinen, Macht im Wesentlichen in Begriffen des Krieges und der Unterdrückung gedacht. In der Nachfolge von Überwachen und Strafen, das als Hauptwerk im Bereich der Analyse der Disziplinarmechanismen gelten muss, gerate Foucaults Denken in eine Krise, da die in Überwachen und Strafen entwickelte Analytik der Macht noch immer im Gravitationsfeld der überkommenen Modelle der juridischen bzw. Souveränitätsmacht verbleibe. Aus Lemkes Perspektive stellen die Vorlesungsreihe Zur Verteidigung der Gesellschaft Anfang 1976 und Der Wille zum Wissen, ebenfalls 1976 erschienen, zwei komplementäre Schritte aus dieser Krise heraus dar. Die Analytik der Macht als Disziplin habe in den Begriffen der Repression und des Krieges gedacht, die jedoch immer wieder in das Modell der 32 Lemke 1997. 33 Soweit ich sehen kann, hat sich neben Thomas Lemke nur Beatrice Hanssen in ihrem Werk Critique of Violence (2000) mit dem Verhältnis von Disziplin und Regierung als zweier Machtmodi bei Foucault auseinandergesetzt, wobei sie ausschließlich die Übergangsphase betrachtet, die auch im Mittelpunkt des vorliegenden Kapitels steht. 34 Vgl. zum Folgenden: Lemke 1997: 126 ff.

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juridischen Macht zurückführten. In Zur Verteidigung der Gesellschaft leiste Foucault nun eine umfassende Kritik des Krieges als Analyseraster von Politik und Geschichte, breche also mit der von Foucault so genannten »Hypothese Nietzsches« (VG: 27). Komplementär dazu stehe die ausführliche Kritik der Repressionshypothese in Der Wille zum Wissen. Das Ergebnis dieser Transformation der Macht-Analytik fände sich dann in Form der Untersuchungen zur Gouvernementalité in den Vorlesungsreihen 1977/78 und 1978/79, die sich einer stark revidierten Methodik bedienten. Tatsächlich finden sich insbesondere am Beginn der Vorlesungen am Collège de France Äußerungen Foucaults, welche die Einschätzung Lemkes jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt stützen: »Was also wollte ich Ihnen in diesem Jahr sagen? Daß ich ein wenig genug davon habe und gerne versuchen würde, zum Abschluß zu kommen und bis zu einem gewissen Punkt einen Schlußstrich unter eine Serie von Forschungen zu ziehen [...], die ich seit vier oder fünf Jahren betrieben habe, [...] und die, wie mir jetzt klar wird, Ihnen und mir nur noch mehr Schwierigkeiten in den Weg gelegt haben. Es handelt sich um Forschungen, die sehr nahe beieinander lagen, ohne indes ein zusammenhängendes Ganzes zu bilden oder eine Kontinuität aufzuweisen, von denen keine wirklich zum Abschluß gelangt ist [...] die ständig dieselben Wege, dieselben Themen, dieselben Begriffe wiederaufgenommen haben.« (VG: 10)

Eine gewisse Unzufriedenheit kommt in diesem Zitat nur allzu deutlich zur Geltung. Die These, dass sich Foucaults Denken zu jener Zeit in einer Krise befand, ist an sich auch weitgehend unbestritten, fraglich ist jedoch, wann genau sie einsetzt, auf was sie sich gründet und wie umfassend ihre Auswirkungen auf die Methodik Foucaults sind.35 Die genaue Datierung der Krise ist natürlich zunächst von sekundärer Bedeutung, doch an die unterschiedlichen Zeitpunkte knüpfen sich auch jeweils andere Gründe für die Krise. Während Lemke die Auffassung vertritt, die Krise liege zwischen Überwachen und Strafen einerseits und Der Wille zum Wissen sowie Zur Verteidigung der Gesellschaft andererseits und gehe auf die oben erläuterten Probleme zurück, vertritt Eribon die Meinung, Foucault sei aufgrund der sehr zurückhaltenden Aufnahme, die Der Wille zum Wissen gefunden hatte, erst im Anschluss an die Veröffentlichung in eine Art intellektuelle Paralyse verfallen. Während für Lemke also Der Wille zum Wissen einen ersten Schritt aus der Krise darstellt, ist er für Eribon der eigentliche An35 Pasquale Pasquino, ein Mitarbeiter Foucaults hat die Krise ebenso bestätigt wie Gilles Deleuze und der Foucault-Biograph Didier Eribon. Vgl. Eribon 1991: 395; zuletzt hat auch Foucault selbst retrospektiv von einem »Bruch« (Rückkehr: 133) in seinem Werk um 1975/76 gesprochen.

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lass. Unstreitig ist, dass jenes Werk und die Vorlesungen Anfang 1976 von entscheidender Bedeutung für die Frage sind, wie die Entwicklung hin zur Gouvernementalité zu bewerten ist, ob hier schon Selbstkorrekturen zu sehen sind, und auf welche Werke sie sich in diesem Fall beziehen, so dass im Folgenden noch einmal kurz auf Der Wille zum Wissen zurückzukommen ist. Die Schrift ist eine umfassende, ja, beinahe polemische Auseinandersetzung mit der von Foucault so genannten Repressionshypothese.36 Foucault versucht gegen diese Konzeptionalisierung der Macht als Verbot, Zensur und erzwungenem Schweigen ihre produktiven Aspekte in der Identitätsbildung der Individuen, ihre subjektivierenden Effekte, und ihre diskurserzeugende Wirkung geltend zu machen. Der überwiegende Teil des Buches ist als eine Streitschrift gegen die verschiedenen Spielarten der Repressionshypothese, sei es diejenige Reichs oder diejenige Lacans, zu verstehen. Lemke deutet nun die Kritik der Repressionshypothese folgendermaßen: »Foucault verändert seinen theoretischen Ansatz und präsentiert uns die Repressionshypothese nun nicht mehr als eine Alternative zu der juridischen Machtkonzeption, sondern als ihre konsequente Verlängerung.«37 Die Konzeptionalisierung der Macht als Disziplin habe auf der Basis der Repressionshypothese operiert38 und daher die produktiven Machteffekte nicht ausreichend erfassen können. Der Wille zum Wissen bezeichne einen Bruch mit dieser Ausrichtung der Machtanalytik und bilde den Ausgangspunkt für eine Konzeptionalisierung der Macht als Gouvernementalité. Dieses Bild eines Bruches zwischen Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen scheint sich nicht zuletzt auf Foucaults Aussage stützen zu können: »Es ist klar, daß alles, was ich im Laufe der vergangenen Jahre gesagt habe, vom Modell Kampf-Repression geprägt war.« (VG: 29)39 Doch Foucault ist in diesem, wie in vielen anderen Zusammenhängen, alles andere als eindeutig. Es folgt nur etwa dreißig Zeilen später die einem offenen Widerspruch gleichkommende Feststellung: 36 Eribon spricht zu Recht von einem »schneidend-scharfen, leidenschaftlichen Text voller Ironie« (Eribon 1991: 393). 37 Lemke 1997: 129. 38 Lemke 1999: 422. 39 In der gleichen Vorlesung vom 7. Januar 1976 erwähnt Foucault die Namen Reich und Marcuse im Zusammenhang mit lokaler Kritik, die sich auf ihre Theorien stütze. Wie er diese lokalen Kritiken oder »Angriffe«, wie er sie nennt, bewertet, bleibt unklar. Die Äußerungen ließen sich aber durchaus im Sinne Lemkes als eine bedingt positive Würdigung interpretieren. Vgl. VG: 12 f.

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»Ohne mich allzusehr zu rühmen, kann ich, glaube ich, sagen, dass ich mich seit langem vor diesem Begriff der ›Repression‹ in acht nehme und im Hinblick auf die vorhin erwähnten Genealogien wie in bezug auf die Geschichte des Strafrechts, der psychiatrischen Macht, der Kontrolle der kindlichen Sexualität usw. zu zeigen versucht habe, daß die Mechanismen, die in diesen Machtformationen wirksam sind, etwas ganz anderes waren, auf jeden Fall viel mehr als Repression.« (Ibid.)

Dies klingt keineswegs nach einer Bestätigung der These Lemkes, der ja eine Distanzierung von den Ergebnissen oder der Methodik aus Überwachen und Strafen und den übrigen, kleineren Genealogien, die Foucault hauptsächlich im Rahmen von Vorlesungen entwickelt hatte, aus Zur Verteidigung der Gesellschaft herausliest. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Foucault sich bei seinem Eingeständnis, selbst mit der Repressionshypothese operiert zu haben, vor allem auf Werke bezieht, die noch vor Überwachen und Strafen liegen. Hier gibt es einen reichen Schatz von Schriften, die der Idee der Unterdrückung bzw. einer daraus resultierenden Notwendigkeit befreiender Überschreitung auf unterschiedliche Weise verpflichtet sind: Allen voran natürlich die Vorrede zur Überschreitung, jenem Aufsatz über Bataille von 1963, daneben aber auch die Ordnung der Dinge und die Archäologie des Wissens, in denen die Lacan’sche Psychoanalyse ausdrücklich von der Kritik der Humanwissenschaften ausgenommen blieb, und zuletzt die 1971 am Collège de France gehaltene Antrittsvorlesung über die Ordnung des Diskurses, in der noch die Befreiung des wilden Wucherns und ereignishaften Rauschens der Diskurse von den repressiven Diskursregeln angestrebt worden war40. Dass Foucault Überwachen und Strafen in diese Selbstkritik mit einbezieht, erscheint auch vor dem Hintergrund der Tatsache unwahrscheinlich, dass die Kapitel in Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen, die der Methodik der Machtanalyse gewidmet sind, inhaltlich nahezu identisch sind. Zwar wird die Methodik in Überwachen und Strafen noch nicht so systematisch ausgearbeitet und dargestellt, aber die Grundkoordinaten der »Mikrophysik der Macht« bleiben in den beiden Werken zumindest in den Passagen zur Methodik unverändert. Dies verweist auf den letzten Einwand gegen Lemkes Sichtweise: Er glaubt, eine Modifikation sei notwendig geworden, weil die Machtanalytik ihren eigenen 40 Später sagt Foucault über jene Vorlesung: »This text I wrote at a moment of transition.« Hier verändere sich die Machtkonzeption von einer negativen hin zu einer positiven: »So that I would rather willingly abandon everything in the order of discourse that might present the relations of power to discourse as negative mechanisms of rarefaction.« (PAB: 207 f.)

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Ansprüchen, die Produktivität der Macht konzeptionell zu fassen, nicht gerecht geworden sei. Dies scheint mir nicht ganz zutreffend zu sein, da schon in Überwachen und Strafen vielfältige produktive Effekte der Macht analysiert werden können, sei es die menschliche Seele, wissenschaftlich-juridische und psychopathologische Diskurse, gelehrige und nützliche Körper sowie nicht zuletzt die Delinquenz. Lemke behält natürlich insoweit Recht, als er der Meinung ist, die Machtanalytik aus Überwachen und Strafen könne sich letztlich nicht vollständig von der Repressionshypothese lösen. Aber dies gilt, wie die oben diskutierte Kritik an Foucaults Kryptonormativismus gezeigt hat, im gleichen Maße für Der Wille zum Wissen. Die von Lemke apostrophierte Transformation im Denken Foucaults zwischen 1974/75 und 197641 scheint mir aufgrund der angegebenen Gründe also zumindest mit etwas zu starken Farben gezeichnet.42 Die Kontinuitätselemente überwiegen in der Frage der Repression zu diesem Zeitpunkt doch eindeutig. Von einer entschlossenen Selbstkorrektur Foucaults kann in dieser Frage und zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht gesprochen werden. Komplizierter liegen die Dinge im Fall von »Nietzsches Hypothese«, die dem Krieg einen Platz als universales Erkenntnisraster des Gesellschaftlichen zuweist. Foucault hat sich selbst, spätestens mit dem Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie ausdrücklich in dieser Tradition der Geschichtsschreibung verortet. Die Genealogie, wie sie Nietzsche und insbesondere Foucault verstehen, ist eine »Gegen-Geschichte« (VG: 76), die sich um eine »Entzifferung der Asymmetrien, der Ungleichgewichte, der Ungerechtigkeiten, der Gewaltsamkeiten, die trotz der Gesetzesordnung, unterhalb der Gesetzesordnung, durch sie hindurch und dank ihrer funktionieren« (VG: 92), bemüht. Die Genealogie wollte sichtbar machen, dass hinter dem, was sich universal, legitim, natürlich und gerecht gibt, eine Geschichte der Kämpfe, der Kriege, der Strategien, kurz, der Macht liegt. Diese Art der Geschichtsschreibung, die unter anderem von großer Bedeutung für Foucaults Selbstverständnis ist,43 wird von ihm zunehmend hinterfragt, 41 Überwachen und Strafen erscheint 1975, Der Wille zum Wissen Mitte 1976. 42 Ein wichtiger Grund für diese Einschätzung und damit ein weiterer Einwand gegen Lemkes These ist dessen selektive Wiedergabe der Primärtexte: In der Argumentation bezüglich der Transformationen von 1975/76 beruft sich Lemke in starkem Maße auf Foucaults Text The Subject and Power, der jedoch erst vier Jahre später erscheint und daher nicht als geeigneter Beleg in der Frage der Genese der Gouvernementalité erscheint. Vgl. vor allem Lemke 1999. 43 Foucault beschreibt das Geschichtsverständnis Boulainvilliers, einem Historiker des 17. Jahrhunderts, den Foucault zu den Gründungsvätern der genealogischen Ge-

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was in der Vorlesungsreihe Anfang 1976 kulminiert, in der Foucault eine Genealogie der Genealogie unternimmt und ihre historischen Wurzeln freizulegen versucht. Aus seiner Perspektive taucht der Kriegsdiskurs in der Geschichtsschreibung im England des 17. und im Frankreich des 18. Jahrhunderts auf. In England wird das Verhältnis zwischen Angelsachsen und Normannen im Rahmen dieses »Diskurs[es] des Krieges und des Rassenkampfes« (VG: 76) theoretisiert. In Frankreich steht das Verhältnis zwischen gallischen Ureinwohnern und römischen sowie fränkisch-germanischen Invasoren im Mittelpunkt. Foucault betont dabei die taktische Polyvalenz des Kriegsdiskurses: Zwar ist dieser in gewisser Weise eine Gegen-Geschichte bezüglich der von Foucault so genannten römischen Geschichtsschreibung, die er als eine Selbstbespiegelung der Macht versteht und die bis zum Beginn der Neuzeit der vorherrschende Typus der Historie gewesen sei. Gegen diese Geschichtsschreibung, die alles in der nationalen Einheit und im »Körper« des Souveräns aufgehen lässt,44 insistiert der Bürgerkriegsdiskurs darauf, dass »die Geschichte der einen [...] nicht die Geschichte der anderen« (VG: 81) ist. Er gibt die Fiktion der Einheit auf, und an seine Stelle tritt ein binäres Schema der Gesellschaft, ein Bild des Kampfes zweier »Rassen« in einem umfassenderen Sinne, ein Kampf, in dem die genealogische Geschichtsschreibung zunächst »von der Seite des Schattens, aus diesem Schatten heraus [spricht]. Sie wird zum Diskurs jener, die keinen Ruhm genießen, oder jener, die ihn verloren haben und sich jetzt vielleicht für eine gewisse Zeit, sicherlich aber für lange, im Dunkel und Schweigen aufhalten.« (VG: 82) Im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts sind dies zunächst Angehörige des einstmals mächtigen fränkischen Besatzungsadels. In der aristokratischreaktionären Geschichtsschreibung jenes Milieus, das sich nach altem Glanz zurücksehnt, der ihm durch Täuschung, List und Erpressung genommen wurde, wird der Kriegsdiskurs nach Meinung Foucaults in Frankreich geboren. Seine schichtsschreibung zählt, folgendermaßen: »Die Geschichte ist nicht nur ein Analysator oder Kräfteentzifferer, sondern bringt Veränderung. Folglich bedeuten die Kontrolle und die Tatsache, im Bereich des historischen Wissens Recht zu haben, kurz die Wahrheit der Geschichte zu sagen, eine entscheidende strategische Position zu besetzen.« (VG: 198) Dies deckt sich mit Foucaults Intention mit seiner genealogischen Geschichtsschreibung strategisches Wissen, das im politischen Kampf genutzt werden kann, bereitzustellen. Am Rande sei hier noch einmal erwähnt, dass Foucaults Begeisterung für Boulainvillier nicht ganz unbedenklich ist, ist dieser doch ein reaktionärer Aristokrat, der manchen Kommentatoren als einer der Väter des modernen französischen Rassismus à la Gobineau gilt. Vgl. Hanssen 2000: 100. 44 Foucault hat hier natürlich die berühmte Illustration zu Hobbes’ Leviathan vor Augen.

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taktische Polyvalenz zeigt sich darin, dass sich die Struktur des »Rassenkampfes« sehr schnell auf allen Seiten findet: Sowohl die Monarchie als auch das Bürgertum deuten die Geschichte der Invasionen, der Kämpfe und Kriege, gemäß ihrer politischen Interessen jeweils um. Es entsteht eine perspektivische Geschichtspolitik, die erst mit der französischen Revolution ihre Dominanz einbüße. Mit diesem Ereignis trete zunächst wieder eine Hobbes’sche Figur in den Vordergrund, nach der die ewige Abfolge von Kämpfen und Rechten, die nur die Herrschaft kaschieren, im Ereignis der Revolution ein Ende findet. Die Revolution erscheint als ein Moment der Versöhnung, Foucault erinnert an den Ausspruch Baillys, der anlässlich des Zusammenkommens aller drei Stände sagt: »Nun haben wir die Familie vereint.« (Zit. nach VG: 270) Als Folge dieses Ereignisses verschwinde das binäre Schema der Gesellschaft zusehends: »Zum anderen ist das wesentliche Element nicht mehr die Herrschaftsbeziehung, die sich zwischen den einen und anderen, zwischen einer Nation und einer anderen, einer Gruppe und einer anderen abspielt, sondern die fundamentale Beziehung ist der Staat.« (VG: 274) In dem Maß, in dem der Staat Gegenstand und Austragungsort von Konflikten wird (vgl. dazu: VG: 260), büßen diese ihren genuin kriegerischen Charakter ein: »Wir haben eine zivilen Kampf [...], den man nun in Begriffen nicht des Krieges, sondern der Herrschaft, nicht in militärischen, sondern in zivilen Begriffen fassen muß.« (VG: 260) Neben dieser Transformation der Konflikte gilt Foucaults Interesse insbesondere einer weiteren Veränderung: Aus dem Kampf der Rassen wird ein rassistischer Diskurs: »Die Polarität und binäre Spaltung, die wir in der Gesellschaft beobachten, ist nicht der Zusammenstoß zweier Rassen, die sich gegenüberstehen; es ist die Verdoppelung ein und derselben Rasse in eine Überrasse und eine Unterrasse.« (VG: 74) Die Gesellschaft, so dieser neue, medizinische Diskurs, produziert aus sich selbst heraus abweichende Elemente, gegen die Staat und Gesellschaft verteidigt werden müssen – auf diese Sicht der Dinge nimmt der Titel der Vorlesungsreihe ironisch Bezug: »Der Krieg ist nicht länger Bedingung der Existenz der Gesellschaft und der politischen Verhältnisse, sondern Bedingung ihres Überlebens in ihren politischen Verhältnissen. Es kommt nun zur Vorstellung von einem inneren Krieg, der die Gesellschaft gegen die in ihrem Körper entstehenden und von ihrem Körper ausgehenden Gefahren verteidigen soll; hier haben wir, wenn Sie so wollen, im Gedanken des sozialen Krieges die große Überführung des Historischen ins Biologische, des Konstitutiven ins Medizinische.« (VG: 250)

Aus dieser Transformation des Kriegsdiskurses, so Foucault, entstünden letztendlich die großen Staatsrassismen des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus

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und Stalinismus. Auch insofern muss hier von einer massiven taktischen Polyvalenz gesprochen werden: Der Kriegsdiskurs gilt Foucault über weite Strecken der Vorlesung als das Instrument einer durchaus positiv bewerteten GegenGeschichte, als welche sich ja auch die Genealogie versteht. Andererseits bilde dieser Diskurs die Grundlage für Faschismus und Stalinismus, und es ist bekannt, dass in jener kurzen, stark von Deleuze/Guattari geprägten Phase derartige Totalitarismen das zentrale Objekt der Foucault’schen Kritik bezeichnen.45 Die letzte Vorlesung beginnt mit einer Zusammenfassung, in deren Rahmen er ausführt: »Beim letzten Mal habe ich Ihnen zu zeigen versucht, wie sogar der Begriff des Krieges [...] schließlich aus der historischen Analyse verdrängt wurde« (VG: 276). Soll dies im Sinne Lemkes bedeuten, dass auch Foucault »Nietzsches Hypothese« nicht länger verwenden will? Ich bin der Meinung, dadurch würde ein Bruch zwischen Genealogie und Gouvernementalité konstruiert, der als solcher allenfalls bedingt vorliegt. Betrachtet man die Vorlesungen, so fällt auf, dass Foucault in den allermeisten Vorlesungen, nämlich allen bis auf die letzten beiden, die »Gegen-Geschichte« äußerst positiv beschreibt. Sie habe die vielfältige lokale Kritik der letzten zehn bis fünfzehn Jahre möglich gemacht, historisch gesehen habe sie die Französische Revolution vorbereitet und in der Vorlesung vom 4. Februar findet sich die Ankündigung: »Ich würde nun gerne die Geschichte dieses Diskurses des politischen Historismus [damit meint Foucault eine Spielart des Kriegsdiskurses in der Geschichtsschreibung, T. B.] erzählen und zugleich seine Lobeshymne anstimmen.« (VG: 132) Dies klingt nicht unbedingt nach einer Abkehr von dieser Art der Historie und Hanssen ist sogar der Meinung, Foucaults geradezu bellizistisch anmutende Rhetorik radikalisiere sich sogar in der Vorlesung gegenüber Überwachen und Strafen: »Foucault now rescripted his own techniques of archeology and genealogy, drawing on the rhetoric of war and struggle to define the practice of critique as battle.«46 Ande45 Vgl. Hanssen 2000: 109. 46 Ibid.: 107. Vgl. auch andere Zitate, welche diese Einschätzung stützen: »I think we must try to analyze it [power, T. B.] in military rather than in juridical terms of strategy and tactics.« SCI: 158 (1975); ähnlich positiv äußert er sich auch noch 1977 zum Krieg als Analyseraster, dem gegenüber dem juridischen der Vorzug gegeben werden solle: »I believe that this analysis of power relations should be tightened up.« (EMS: 224); ein letztes Zitat von 1983 spricht dafür, dass Foucault sich weiterhin intensiv mit der Kriegshypothese auseinandergesetzt hat: »And if god grants me life, after madness, illness, crime, sexuality, the last thing that I would like to study would be the problem of war and the institution of war in what one could call the military dimension of society.« (WOP: 415)

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rerseits liegt es auf der Hand, dass Foucault wohl kaum die Genealogie eines Phänomens in nichtkritischer Absicht unternehmen würde. Die Genealogie des Kriegsdiskurses zeigt, dass der Krieg nicht das universale Erkenntnisraster für Geschichte und Gesellschaft darstellt, für das Foucault es selbst wohl teilweise hielt. Auch dieser Universalie lässt sich ihre Kontingenz nachweisen. Zudem weist die von Foucault selbst vorgenommene Genealogie nicht nur nach, dass es den Kriegsdiskurs nicht immer gab, dass er vielmehr erst in einer bestimmten geschichtlichen Epoche auftaucht, sondern sie zeigt auch, wie dieser Diskurs in der Historie zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder verschwindet bzw. verdrängt wird und erst wieder in neuester Zeit wiederbelebt wird. Geht man mit Hanssen davon aus, dass Foucault im Rahmen der Vorlesungsreihe auch mit der Frage beschäftigt war, »whether ›war‹ functioned as just one possible historical matrix for force relations, or whether it operated as a more general, primary arche-principle of sorts, indispensable to an analysis of power«47, dann muss die Genealogie des Kriegsdiskurses zumindest zu Zweifeln an letzterem Verständnis führen. Zuletzt wird Foucaults Skepsis gegenüber der Hypothese Nietzsches unübersehbar, wenn er von ihr und der Repressionshypothese sagt: »Diese Hypothesen sind nicht unvereinbar, im Gegenteil; mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit sind sie sogar miteinander verknüpft.« (VG: 27) Natürlich äußert Foucault hier streng genommen nur eine Vermutung, aber es steht außer Frage, dass das Kriegsparadigma nach diesen Vorlesungen – trotz allen Lobes – für ihn nur noch bedingt akzeptabel ist. Lemke scheint nun der Meinung zu sein, das Kriegsparadigma werde in der Foucault’schen Methodik vollständig ersetzt durch die Gouvernementalité, wenn diese auch diverse Charakteristika der Mikrophysik der Macht in ihre Herangehensweise aufnehme. Um diese Sichtweise mit einer differenzierteren These zu konfrontieren, bedarf es einer Analyse der letzten Vorlesung des Zyklus am 17. März 1976, die noch stärker einem unerwarteten Paukenschlag gleicht als das inhaltlich beinahe identische Schlusskapitel in Der Wille zum Wissen. Jenes Kapitel bzw. jene Vorlesung bezeichnen das eigentliche Scharnier, das die Genealogie mit der Gouvernementalité in Foucaults Werk verbindet. Sie sind ein Ausblick auf die Themen, denen in den darauffolgenden drei Jahren Foucaults größtes Interesse gilt, und dieser prospektive Charakter verleiht ihnen eine gewisse Fremdheit im Rahmen des Buches bzw. der Vorlesungsreihe. Nur hinsichtlich dieses Kapitels bzw. dieser Vorlesung lässt sich mit Lemke davon sprechen, dass es sich hier um komplementäre 47 Hanssen 2000: 123.

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Schritte heraus aus der Krise handelt, die allerdings – so muss hinzugefügt werden – zu diesem Zeitpunkt noch wie ein nicht gänzlich zu Ende gedachter Geistesblitz wirken. Folgerichtig hat Foucault retrospektiv festgestellt, das Schlusskapitel enthalte die »Hauptsache« (ESUP: 165) des Buches. In der Vorlesung vom 17. März spricht Foucault zunächst davon, das bisher Vorgetragene abrunden zu wollen, doch seine Rede von der »Lebensmacht« greift kaum noch auf die detaillierte Genealogie des Kriegsdiskurses, ja, nicht einmal mehr auf sein Verschwinden zurück. Foucault geht es nun um die Unterscheidung einer Souveränitätsmacht, die sich im Wesentlichen im Recht, »sterben zu machen oder leben zu lassen« (VG: 278) äußert, von neuen Technologien der Macht, die mit einem neuen Recht korreliert sind: »das Recht, leben zu machen und sterben zu lassen« (VG: 278). Diese Veränderung der Machttechnologien ist keineswegs ein neuer Aspekt in Foucaults Werk. Überwachen und Strafen zeichnet diese Entwicklung schließlich am Beispiel der Strafpraxis und anderer Praktiken sehr präzise nach. Und so kommt Foucault auch sehr schnell auf die Machttechniken zu sprechen, die auf den individuellen Körper gerichtet waren: Die Disziplinen. Doch im unmittelbaren Anschluss stellt Foucault klar, dass die Macht nicht als deckungsgleich mit den Disziplinen angesehen werden kann, was zumindest Überwachen und Strafen noch suggeriert hatte: Er geht von dem Aufkommen einer anderen, nichtdisziplinären Machttechnologie aus, welche zwar die Disziplinartechnologie nicht ersetzt, sie jedoch »umfaßt, integriert, teilweise modifiziert und sie vor allem benutzen wird, indem sie sich in gewisser Weise in sie einfügt und dank dieser vorgängigen Disziplinartechnik wirklich festsetzt. Diese neue Technik unterdrückt die Disziplinartechnik nicht, da sie ganz einfach auf einer anderen Ebene, auf einer anderen Stufe angesiedelt ist, eine andere Oberflächenstruktur besitzt und sich anderer Instrumente bedient.« (VG: 279) In der Lebensmacht oder Bio-Macht verbinden sich also zwei Elemente: die »Disziplinen: politische Anatomie des menschlichen Körpers« sowie die »regulierenden Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung« (WW: 166). Es ist wichtig, die Unterschiede dieser komplementären Machttechnologien festzuhalten: Was den Zeitpunkt ihres Aufkommens betrifft, geht Foucault davon aus, dass die Disziplinen den Regulierungen historisch vorausgehen: Träten jene schon im 17. Jahrhundert auf, so würden die Regulierungen erst Mitte des 18. Jahrhunderts entstehen (vgl. VG: 279). Korrespondiert mit der Disziplin das Objekt Körper bzw. der Körper-Mensch, so entspricht den Regulierungen das Objekt der Bevölkerung oder das des Gattungs-Menschen. Sind die Machteffekte im einen Fall individualisierend, so sind sie im anderen Fall massenkonsti-

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tuierend (vgl. VG: 280). Auch die Träger unterscheiden sich: Treten die Disziplinen auf der Basis bestimmter Institutionen auf (Schule, Fabrik, Hospital und später Gefängnis), so operieren die regulatorischen Machttechnologien auf der Ebene des Staates.48 Beide Technologien, so Foucault, dürfen trotz ihrer Unterschiede nicht isoliert voneinander analysiert werden, da sie auch in der Realität »zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole« (WW: 166) darstellen49 und als zwei Seiten einer politischen Rationalität angesehen werden müssen, die auf Kontrolle des einzelnen lebenden Körpers und das Leben der gesamten Bevölkerung gerichtet ist. Auf der Basis dieser Ausführungen scheint mir Lemkes Auffassung, »in den Vorlesungen [...] steht die Kriegshypothese auf dem Prüfstand und wird schließlich aufgegeben«50 zu weit zu gehen.51 In der Folge ist weniger eine Abkehr von der Kriegshypothese als deren Transformation zu beobachten, die Foucaults zunehmenden Bedenken in gewisser Weise Rechnung trägt und sich an Hand des schon im Rahmen der ethischen Wende thematisierten Textes The Subject and Power belegen lässt. Zwar behält er auch noch in diesem Zusammenhang die Kriegshypothese aufrecht, wenn er schreibt: »One can therefore interpret the mechanisms brought into play in power relations in terms of strategies.« (SaP: 225) Schließlich verweisen Begriffe wie Strategie und Kampf auf die Kriegshypothese. Dennoch reproduziert der Text nicht deren klassischen Inhalt, wie 48 Dies ist jedoch eine Unterscheidung, die Foucault sofort unter anderem mit Rekurs auf einige Einsichten aus Überwachen und Strafen relativiert: Die Disziplinen neigten erstens zu einer »Deinstitutionalisierung«, Institutionen könnten zudem leicht eine staatliche Dimension annehmen, wie das Beispiel der Polizei beweise, und zuletzt lasse sich bezüglich der Regulierungen im 19. Jahrhundert eine Tendenz zur »Entstaatlichung« hin zur Institutionalisierung feststellen, so dass man den »Gegensatz zwischen Staat und Institutionen nicht verabsolutieren dürfe« (VG: 289). 49 Foucault hat unterschiedliche Antworten bezüglich des Verbindungsgliedes zwischen beiden Technologien gegeben: »Die Norm, das ist das, was sich auf einen Körper, den man disziplinieren will, ebensogut anwenden läßt wie auf eine Bevölkerung, die man regulieren will.« (VG: 292) Daneben muss aber auch gerade der Begriff der politischen Rationalität bzw. der Gouvernementalité als einendes Band zwischen beiden Technologien angesehen werden; diese Interpretation scheint zumindest KpV: 92 zu suggerieren. 50 Lemke 1999: 424; Lemke hat jedoch insofern Recht, als sich eine Entradikalisierung des Kriegsdiskurses im Rahmen der Gouvernementalitätsanalysen vollzieht. 51 Dieser Meinung ist auch Hanssen. Ihrer Meinung nach gibt Foucault nur den Begriff der Repression auf, da er seinen Platz sowohl in der Hypothese Reichs als auch in der Hypothese Nietzsches hat. Dies geschehe jedoch nicht um damit auch die zweite Hypothese zu verwerfen, sondern um diese zu konsolidieren. Vgl. Hanssen 2000: 121.

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Hanssen meint,52 denn Foucault hat mittlerweile die Begriffe des Agonismus und der Führung zur Beschreibung von Machtverhältnissen eingeführt, und beide verweisen auf eine nichtphysische Art von Konflikten (vgl. SaP: 221 f.)53, wohingegen die Vorlesungsreihe zum Kriegsdiskurs auf einem materialen, physischen Kriegsbegriff insistiert hatte.54 Die angesprochene Transformation äußert sich also in einer zunehmenden Entmaterialisierung bzw. Metaphorisierung der Kriegshypothese. Foucault denkt Macht weiterhin in Strategien und auch Kämpfen, aber diese bezeichnen nicht mehr notwendigerweise reale Schlachten und Kriege, nach deren Spuren noch der politische Historismus in Verteidigung der Gesellschaft in der Geschichte gefahndet hatte. Wie ist es nun um das Verhältnis der Disziplin zur neu eingeführten Regulation bestellt? Die Bio-Macht erweitert die Perspektive der Macht-Analytik um den Bereich der regulatorischen Bio-Politik, was auch deren Träger, den Staat, zunehmend in Foucaults Blick geraten lässt. Die Analyse jener Bio-Politik entzieht sich den Mitteln der Disziplinaranalyse und sie liegt damit auch jenseits der konzeptionellen Grenzen des damit verbundenen Kriegsparadigmas, aber dies kann nicht bedeuten, die klassische Genealogie, in der sich die beiden Elemente verbinden, sei damit obsolet geworden. Die Gouvernementalité als Antwort auf die Herausforderung einer nun notwendigen Untersuchung des Staates bzw. der Bio-Politik, die sich einer Aufbereitung mit den Mitteln der Disziplinaranalyse entziehen, suspendiert die Disziplinen in ihren Wirkungen keineswegs. Diese operieren weiterhin – jedoch nur auf einer spezifischen Ebene, mit spezifischen Mitteln und spezifischen Objekten.55 Ein Neben- bzw. Über- und Untereinander von Disziplin und Regulierung, so stellt sich die Relation beider 52 Vgl. ibid.: 155. 53 So auch ibid.: 147. 54 »But the problem still remained that Foucault did glean the differential play of forces and politics of difference from the real, bloody tussle of armed struggle.« (Ibid.: 137) 55 Eine völlige Abkehr von der Kriegshypothese scheint mir auch insofern unwahrscheinlich, als Foucaults Selbstverständnis als spezifischer Intellektueller, der parteiische Wahrheitseffekte innerhalb von strategischen Machtbeziehungen produziert, gänzlich auf jenem Erkenntnisraster fußt (vgl. VG: 159). Darüber hinaus erlangt für die ethischen Konzepte Foucaults die Vorstellung eines »agonistischen Kräftespiels« auf intersubjektiver Ebene große Bedeutung. Ist das agonistische Kräfteverhältnis als Konzept sowohl Teil der Genealogie als auch der Ethik, so müsste Lemke eine partielle Rückkehr zur Kriegshypothese im Rahmen der ethischen Wende nachweisen können, um seine These aufrechterhalten zu können. Dafür gibt es aber, soweit ich sehen kann, keinerlei Hinweise.

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Technologien zumindest innerhalb der Genese des Begriffs der Gouvernementalité dar. Im weiteren Verlauf der Analyse wird sich allerdings zeigen, dass sie Foucault nicht zur Ruhe kommen lässt und er ihre Konzeptionalisierung auf immer neue Weise zu bewerkstelligen versucht. Weiter unten werde ich noch einmal auf das Verhältnis von Gouvernementalité und Disziplin zurückkommen, um zu klären, inwiefern sich dieser Versuch der Erweiterung der Machtanalytik auf das kritische Potential des Foucault’schen Ansatzes auswirkt. Zunächst gilt es nun, die Bedeutung des Begriffs der Gouvernementalité und die damit einhergehende Analyse politischer Rationalitäten zu erörtern. 2.2 Die historische Analyse der Regierungsrationalitäten – Von der Staatsraison zum Liberalismus Wie schon weiter oben erwähnt, wird eine Analyse von Foucaults Programm der Gouvernementalité durch eine wenig befriedigende Quellenlage problematisiert. Nie wurden die diesbezüglichen Gedanken in der Form eines Buches zusammengefasst und systematisiert. Schwerer noch als dies wiegt die Tatsache, dass die einzigen umfassenderen Zeugnisse des Analytikers der Regierungsrationalität die Vorlesungen von 1977/78 sowie 1978/79 darstellen, von denen die zweite nach wie vor nicht öffentlich zugänglich ist bzw. nur als Tonbandmitschnitt existiert und die erste nur als wenig verlässliche und jedenfalls fragmentarische Vorlesungsmitschrift unter dem Titel Der Staub und die Wolke publiziert ist. Dennoch werde ich im Folgenden versuchen, eine Rekonstruktion dieses fragmentarisch gebliebenen Projektes zu leisten,56 das Foucault schon nach vergleichsweise kurzer Zeit zu Gunsten seines Ethik-Projektes aufgibt, das mit dem Begriff der Führung den gleichen Wurzeln wie die Gouvernementalité entstammt. Dabei werde ich mich auf die öffentlich zugänglichen Quellen beschränken, auf deren Basis das Projekt zumindest in seinen Grundzügen durchaus zu erkennen und zu bewerten ist. Für eine umfassendere Rekonstruktion, die auch ergänzende Arbeiten von Foucault-Schülern jener Zeit und unveröf-

56 Die unmittelbar folgende Darstellung des Foucault’schen Projektes geht mit beträchtlichem hermeneutischen Wohlwollen vor und wird bewusst versuchen, die Gouvernementalité als kohärentes und stringentes Programm vorzustellen. In der darauf folgenden Analyse werde ich auf die vielfältigen Ambivalenzen und Widersprüche hinweisen.

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fentlichtes Material mit einbezieht, ist an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich auf Lemkes hervorragende Arbeit hinzuweisen. Eine chronologische Aufarbeitung des Foucault’schen Projektes einer Genealogie von Regierungsrationalitäten57 – so ließe sich der Begriff der Gouvernementalité anhand seiner Bestandteile gouverner und mentalité wohl am besten übersetzen – muss genau genommen im orientalischen Denken der Antike ansetzen. Denn hier entdeckt Foucault einen Begriff der Führung, der – vermittelt über das christliche Denken des Mittelalters – auch noch für Regierungstechniken der Moderne von Relevanz sei. Dieses Modell der Führung bezeichnet Foucault als »Pastoralmacht« (KpV: 68), da er es in der Figur des Hirten in seinem Verhältnis zur Herde exemplifiziert sieht. Es handele sich hier um ein Denken, das in eigentümlichem Kontrast zu griechisch-römischen Regierungstechniken stehe: Ein Modell der Menschenführung, dessen zentrale Vorstellungen der unbedingte Gehorsam der Herde gegenüber dem Hirten, dessen Pflicht zur Machtausübung über die Herde sowie seine Verantwortung für das Wohl eines jeden Schafes und der Herde als ganzer (»omnes et singulatim«) darstellten (vgl. SW: 18 ff.). Als weltliche Regierungstechnik verliere dieses Modell der Menschenführung nach dem Vorbild des Verhältnisses zwischen Hirte und Herde für viele Jahrhunderte an Bedeutung, da es im Zuge des Imports in das christliche Denken zu einem Modell der Seelenführung umgedeutet werde und als solches in der Anwendung auf die kirchliche Sphäre beschränkt bleibe (vgl. SW: 21 u. KpV: 80). Offensichtlich geht Foucault davon aus, dass dieses Hirtenmodell im Mittelalter wieder seinen Weg zurück in die Sphäre politischer Führung findet, denn im Zuge einer umfassenden »Problematik des Regierens im Allgemeinen« (GO: 42), zu der es im 16. Jahrhundert komme, gerät auch die Vorstellung eines welt57 Foucault spricht von Regierungsrationalitäten, aber auch von politischen Rationalitäten. Zu diesen synonym verwendeten Begriffen ist anzumerken, dass sie kein neutrales Wissen darstellen, das an einer unverfälschten Repräsentation der Wirklichkeit interessiert ist. Vielmehr wird diese aufbereitet und strukturiert, um Zugriffsmöglichkeiten für politische Technologien zu eröffnen. Allerdings dürfen diese Überlegungen auch nicht zu einer Dichotomisierung von Denken und Handeln, von Idee und Anwendung führen, da in den »reflektierten Praktiken«, als welche sich die Regierungsrationalitäten bezeichnen ließen, beides zusammenfließt. Zuletzt gelten in der Frage, ob denn tatsächlich die historische Wirklichkeit der Regierung durch diese Rationalitäten beschrieben werde, Foucaults Erläuterungen zu Benthams Konzept des Panopticon: Selbst wenn Programme und Konzepte in der Realität nicht oder nur in Ansätzen umgesetzt werden, lässt ihr Entwurf vielfältige Rückschlüsse über diese Realität zu.

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lichen Hirten-Herrschers in die Krise. Es beginnt eine sphärenübergreifende Suche nach Techniken der Führung seiner selbst, der Kinder, der Seelen und der Reiche oder Staaten. In dieser Umbruchphase entsteht aus einer doppelten Opposition heraus das, was Foucault bezogen auf den Staat eine neue »Kunst des Regierens« (GO: 46) nennt. Dieses neue Regierungsdenken ist einerseits eine Reaktion auf die Krise des Hirten-Herrschers, wie er für das mittelalterliche Staatsdenken etwa eines Thomas von Aquin kennzeichnend war. Das Ideal weltlichen Herrschens ergibt sich hier noch aus der Analogie zu der Art und Weise, in der Gott die Welt regiert, die wiederum im Bild des Hirten gedacht wird. Die Regierung des Staates ist eingebunden in kosmologische Ordnungsvorstellungen, die analogisch strukturiert sind; in diesem Denken gibt es kein spezifisches Problem staatlicher Regierung. Doch mit der Entstehung der modernen Wissenschaften in jener Zeit gehe aus deren Erkenntnissen hervor, dass Gott die Welt vermittelt über die allgemeinen Gesetze der Mathematik, der Physik oder der Grammatik regiert: »D. h., daß Gott die Welt nicht nach Art des Hirten regiert, sondern sie souverän beherrscht.« (SW: 28) Hieraus zieht die neue Regierungskunst die Schlussfolgerung, dass in jeder Sphäre der Realität spezifische Gesetze herrschen, an denen sich auch menschliches Handeln orientieren muss. Für das Problem staatlicher Führung bedeutet dies, dass sich die Regierung des Staates an dessen spezifischer Wirklichkeit ausrichten und aus ihr ihre eigenen Prinzipien entwickeln muss. Andererseits entstehe das neue Regierungsdenken in Opposition zu einer ersten Antwort auf die Frage nach einer prinzipiengeleiteten Regierung jenseits kosmologischer Ordnung und mittelalterlichem Gerechtigkeitsstaat: Il Principe von Machiavelli. Foucault versucht, die Differenzen zwischen Regierungskunst und Machiavellis Lehre anhand von Gegensatzpaaren zu illustrieren: Während der Fürst über ein Territorium herrscht, regiert das neue Denken über »eine Art Komplex, gebildet aus den Menschen und den Dingen« (GO: 51). Während der Zweck fürstlicher Souveränität zirkulär ist, da er nämlich im Gehorsam gegenüber dem Fürsten liegt, der Zweck der Souveränität also die Souveränität ist, liegt der Zweck der Regierung darin, die von ihr regierten »Dinge« einem angemessenen Zweck zuzuführen. Während das Mittel der Souveränität das Gesetz ist und beide somit einen »absolut einheitlichen Körper« (GO: 54) bilden, bedient sich die Regierung laut Foucault eher bestimmter Taktiken und Technologien, um ihre Ziele zu erreichen. Ein letzter, entscheidender Unterschied zwischen beiden Denkschulen ist ihre unterschiedliche Problematik: Während Machiavelli den Prinzen und sein Reich in einem Verhältnis der Exteriorität

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oder Transzendenz sieht und daher die Kunst des Fürstseins darin besteht, das »zerbrechliche Band, das den Fürsten mit seinem Fürstentum verbindet« (GO: 45), zu erhalten, geht die Regierungskunst von einem Verhältnis der Immanenz zwischen Herrscher und Reich aus und löst damit die Frage staatlicher Regierung aus ihrer Fixierung auf die Problematik des Fürsten. Das neue Regierungsdenken muss also einer doppelten Anforderung genügen: Angesichts der Krise eines kosmologischen Ordnungsdenkens des Mittelalters bedarf es hiervon unabhängiger Prinzipien staatlicher Regierung, ohne dass diese auf das Handeln eines machtmaximierenden bzw. machterhaltenden Fürsten im Sinne Machiavellis reduziert bleiben. Aus Foucaults Perspektive findet diese neue Regierungskunst Anfang des 17. Jahrhunderts »eine erste Kristallisierungsform, die im thematischen Umfeld einer Staatsraison zustande kommt« (GO: 56). Die Umrisse dieser neuen Regierungsrationalität sind schon aus der doppelten Opposition, der sie ihre Entstehung verdankt, erkennbar: Anders als das kosmologische Denken bricht es mit der Vorstellung der Kontinuität zwischen den Regierungen in verschiedenen Sphären und verschreibt sich der Prämisse: »Der Staat läßt sich nach rationalen Gesetzen regieren, die ihm eigen sind.« (GO: 56) Diese Herauslösung staatlicher Fragen aus dem Kontext kosmologischer Ordnungsvorstellungen bezeichnet laut Foucault die eigentliche Geburtsstunde der Politik. Im Gegensatz zur zweiten Antipode der neuen Regierungskunst, dem Denken Machiavellis, gibt es für die Staatsraison kein spezifisches Problem des Fürsten mehr, da dieser Teil des Staates bzw. dessen erster Diener ist – wie es im Anti-Machiavell von Friedrich II. heißt – und die Problematik des Fürsten somit in der Problematik des Staates im Allgemeinen aufgeht. Foucault definiert den Zweck der neuen Rationalität folgendermaßen: »Die Staatsraison ist das Wesen des Staates und der Regierungskunst selbst. Es muß festgelegt werden, was genügend und notwendig ist, damit der Staat in seiner Integrität erhalten bleibt.« (SW: 31) Ziel der Staatsraison ist also der Staat: »Der Staat ist das, was endlich erreicht werden soll« (SW: 34); die Sicherung seiner Existenz gegen äußere und innere Feinde sowie gegen Erscheinungen der Dekadenz. Mit der Idee der Staatsraison sind vielfältige neue Fragen verbunden, die zu umfassenden Diskursen Anlass geben: So wird festgestellt, dass der Staat nicht in Isolation existiert, sondern von anderen souveränen Staaten umgeben ist, die seinen Erhalt gefährden können. Entsprechend kommt es zu Überlegungen, die sich heute noch als prägend für die realistische Schule der internationalen Beziehungen erweisen. Die Rede ist von Machtgleichgewichten, der Vermeidung

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von Machtvakuen und Bündnissen kleinerer Staaten, um drohende Hegemonien auszubalancieren; die hieraus folgenden praktischen Konsequenzen sind »die Entwicklung eines dauerhaften militärischen Potentials«58 sowie die Geburt der klassischen Diplomatie. Der Erhalt des Staates kann nur in einem internationalen Umfeld gelingen, das von Stabilität geprägt ist. Von entscheidender Bedeutung für stabile Konstellationen ist die Stärke der Staaten, die in der Folge zu einer zentralen Kategorie der Staatsraison wird. Besteht eine zu große Differenz zwischen der Stärke des eigenen Staates und der umliegenden Staaten, so kann dies leicht zu fatalen Instabilitäten führen und so wird nicht nur der Erhalt, sondern vor allem die Vermehrung der Stärke des Staates zur Maxime der Staatsraison.59 Eine solche Zielbestimmung verweist auf die zunehmende Notwendigkeit eines neuen Wissens über den Staat, denn schließlich sollten nicht nur die Prinzipien staatlicher Herrschaft aus der spezifischen Wirklichkeit des Staates generiert werden, darüber hinaus muss die Staatsraison auch wissen, wie sich die Stärke des Staates vermehren lässt. Die Funktion der erforderlichen Wissensproduktion übernimmt eine erstmalig in dieser Form existierende Wissenschaft vom Staat, die so genannte »Statistik«. Eng verknüpft mit der Formierung dieses neuen, spezifischen Wissens ist das Postulat einer Technologie, die zum einen das neue Wissen anzuwenden vermag und zum anderen selbst zu dieser Wissensproduktion beiträgt. In den Augen Foucaults ist der Merkantilismus diese Technologie, eine Art erste Konkretisierung des Denkens der Staatsraison.60 Das Regime des Merkantilismus lässt sich an seiner deutschen Ausformung, dem Kameralismus, oder auch dem klassischen Beispiel der Politik Colberts in Frankreich illustrieren: Es handelt sich um einen extremen Interventionismus, in dessen Instrumentarium die Polizei eine zentrale Rolle spielt. Ziel ist die Ausweitung der inländischen Produktion sowie die Entwicklung der Produktivkräfte. Durch staatliche Subventionen werden Gewerbebetriebe gefördert, der inländische Handel wird durch Infrastrukturmaßnahmen erleichtert und neue Gewerbe sowie Manufakturen in staatlichem Besitz werden angesiedelt. Diese 58 Lemke 1997: 164. 59 »In diesem Raum europäischer Konkurrenz verbessert sich die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts nur in dem Maß, in dem jeder einzelne Staat seine Kräfte auf ein Maximum anwachsen läßt.« (SW: 38) 60 »Der Merkantilismus war sicher die erste Anstrengung, ich möchte sogar sagen, die erste Bestätigung dieser Regierungskunst, und zwar sowohl auf der Stufe der politischen Praktiken als auch auf der des Wissens vom Staat.« (GO: 57)

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Intensivierung der Produktion wird flankiert durch eine Bevölkerungspolitik, die auf eine Maximierung des Arbeitsfaktors Mensch ausgerichtet ist. Neben der Struktur- und Wirtschaftspolitik ist die Außenhandelspolitik von entscheidender Bedeutung für das merkantilistische Regime: Durch die massive Subventionierung von Exporten und der gleichzeitigen Erhebung von Zöllen auf Importe zielt sie auf eine maximale Aktivierung der Außenhandelsbilanz ab, d. h. Devisen bzw. Geldmittel im Allgemeinen sollen im größtmöglichen Ausmaß angehäuft werden. Der Merkantilismus ist also ein System maximaler Anreizung von Produktion und inländischer Zirkulation mit dem Ziel maximaler finanzieller Abschöpfung durch den Staat. Die Polizei, die als Begriff laut Foucault »den gesamten neuen Bereich, in den zentralisierte politische und administrative Macht eindringen können« (KpV: 88), bezeichnet, ist für dieses Regime insofern von entscheidender Bedeutung, als diese Politik der »Anreizung« einen extremen Interventionismus über alle gesellschaftlichen Sphären hinweg notwendig zu machen scheint. In den sich neu formierenden Polizeiwissenschaften Frankreichs oder Deutschlands zeigt die Aufzählung der Bereiche, für welche die Polizei zuständig sei, dass deren Überwachung und Intervention sich auf alle Lebenszusammenhänge des Menschen erstrecken muss: »Kurz, Gegenstand der Polizei ist das Leben: das Unabdingbare, das Nützliche und das Überflüssige. Die Polizei hat sicherzustellen, daß Leute überleben, leben und noch mehr als das vollbringen.« (Ibid.)61 Und vor allem muss sie dafür sorgen, dass dieses »Mehr-Leben« sich in einer Form manifestiert, die der Stärkung des Staates dient. Doch laut Foucaults Genealogie der Regierungsrationalitäten erweist sich diese erste Konkretisierung der Staatsraison bald als Blockade für eine weitere Entwicklung der Regierungskunst, wobei sie allerdings auch den Ansatzpunkt für eine Überwindung dieser Blockade mitliefere. Foucault versteht die merkantilistische Staatsraison als ein Denken, das sich noch nicht genug von den Gegenpolen distanziert hat, denen es in seiner Entstehung gegenüberstand. So lassen sich zum einen Reste einer mit Blick auf Machiavelli ursprünglich abgelehnten Fixierung auf die Person des souveränen Herrschers auch noch im merkantilistischen Denken finden, da es streng genommen nicht um den Machtzuwachs des Staates, sondern den des Fürsten/Souveräns geht. Zudem gleichen die Mittel des dirigistischen Interventionsmodus, Gesetz, Verordnung 61 Vgl. auch: »Was die Polizei zu regieren hat, wären also alle Formen allgemeinen Zusammenlebens, diese ganze ›Sozialität‹.« (SW: 39)

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und Bestimmung, noch zu sehr den Mitteln des Souveränitätsdenkens bei Machiavelli. Foucault gelangt zu dem Schluss: »Der Merkantilismus versuchte, die durch eine reflektierte Regierungskunst gegebenen Möglichkeiten in eine institutionelle und mentale Struktur der Souveränität einzuführen, die sie blockierte.« (GO: 58) Zum anderen gelinge es dem merkantilistischen Denken ebenso wenig, sich gänzlich vom mittelalterlichen Denken der Homologien zwischen den Regierungen in verschiedenen Sphären zu lösen. Wollte die Staatsraison mit einer Regierungsweise brechen, die ihre Prinzipien aus den Analogien zwischen Gottes Herrschaft über die Welt, der väterlichen Herrschaft über den Haushalt und der fürstlichen Herrschaft über den Staat gewinnt, so zeige der dirigistische Interventionismus, dass sich der Merkantilismus noch immer am Modell der väterlichen Herrschaft über den oikos orientiere. Volkswirtschaft und Haushalt gelten noch immer als analog; wie der Familienvorstand über jede Einzelheit seines Gutes wacht, so muss auch der Staat mit Hilfe der Polizei über jede wirtschaftlich relevante Handlung – im Prinzip also alle – auf seinem Territorium eine rigide Kontrolle ausüben. Foucault resümiert: »Hausgemeinschaft und Familienvater auf der einen, Staat und Souverän auf der anderen – so konnte die Regierungskunst ihre eigene Dimension nicht finden.« (GO: 59). Der Weg zur Überwindung der auf diese Weise charakterisierten Blockade führt in den Augen Foucaults über einen Begriff bzw. eine Kategorie, die schon in den klassischen Schriften der Polizeiwissenschaft immer größere Dominanz erlange und letztlich über deren Rahmen hinausweise: die Bevölkerung. Im Gegensatz zu den Frühwerken der Polizeiwissenschaft, in denen das Leben als Objekt der Polizei erscheine, finde sich etwa bei von Justi eine zunehmende Spezifizierung des Aufgabenbereiches auf die Bevölkerung, verstanden als »eine Gruppe lebender Individuen« (KpV: 90). Das Denken der Staatsraison war ursprünglich davon ausgegangen, dass eine spezifische Wirklichkeit des Staates existiert und dieser dementsprechend regiert werden müsse. Daher musste in Form der Statistik Wissen über den Staat und seine Stärke generiert werden. Damit ergab sich für Statistik und Polizeiwissenschaft jedoch zwangsläufig die Notwendigkeit, Vorgänge außerhalb der engeren Sphäre des Staates in den Blick zu nehmen, da diese wirtschaftlichen Zusammenhänge offensichtlich von eminenter Bedeutung für die Stärke des Staates waren. So wie über den Staat Wissen generiert werden sollte, so muss nun Wissen über diese Vorgänge produziert werden, und mit der fortschreitenden Formierung dieses neuen Wissens taucht der Gedanke auf, nicht nur der Staat, sondern auch die Bevölkerung verfügten über eine spezifische Wirklichkeit, der gemäß sie regiert werden müs-

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se. Diese Idee ist für Foucault der Schlüssel zur Überwindung der merkantilistischen Blockade und werksystematisch bezeichnet dieser Punkt innerhalb der historischen Analyse der Regierungstechniken den Andockpunkt für das Verbindungselement zwischen Genealogie und Gouvernementalité, dem Schlusskapitel aus Der Wille zum Wissen bzw. der Abschlussvorlesung in der Reihe Zur Verteidigung der Gesellschaft. Foucault beschreibt diese »Entdeckung« der Bevölkerung durch die Wissensproduktion der Statistik, die nun zunehmend zur Politischen Ökonomie wird, mit den gleichen Worten, wie schon in jenem Schlusskapitel: Die spezifischen Regelmäßigkeiten dieser neuen Größe treten immer deutlicher hervor, ihre Sterbe- und Geburtsraten, ihre Unfallhäufigkeiten, ihre Verteilung im Raum des Territoriums etc. Die Schlussfolgerung hieraus ist die Disqualifizierung der Führung eines Haushaltes bzw. einer Familie als Modell für staatliche Regierung. Die produzierende Bevölkerung kann nicht auf die gleiche Weise wie eine Familie gelenkt werden. Durch die nun offensichtliche Eigengesetzlichkeit Ersterer wird das polizeiliche Postulat der unendlichen Gefügigkeit der Dinge, das noch auf der Analogie zur Familie fußt, obsolet. An die Stelle der Vorstellung einer voluntaristischen Reglementierung bis in jedes Detail tritt die Idee einer Regulierung, welche die Natürlichkeit der Bevölkerung und deren auto-regulative Mechanismen achtet (vgl. SW: 41). Auf dieser Grundlage verdichtet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Kritik am Merkantilismus in Form der physiokratischen Schule um Quesnay. Dieser stellt der bestehenden sozioökonomischen Ordnung (Ordre positif) zunächst das Ideal einer natürlichen und somit vollkommenen Ordnung (Ordre naturel) gegenüber. Diese vollkommene Ordnung entwickelt er später im Rahmen seines Tableau économique, der ersten volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung der Geschichte, weiter, in dessen Rahmen ein vollkommener, weil von außerökonomischen Faktoren unbeeinflusster Wirtschaftskreislauf einer geschlossenen Volkswirtschaft entworfen wird. Das physiokratische Denken muss keineswegs als eine Abkehr von den grundsätzlichen Zielen der Staatsraison betrachtet werden. Vielmehr lässt sie sich auch als eine weitere und gegenüber dem Merkantilismus verbesserte Konkretisierung verstehen.62 Denn schließlich münden die Vorstellungen der Physiokraten über die Natürlichkeit der Bevölkerung keineswegs in die Forderung, nicht mehr zu regieren. Vielmehr müssen die 62 »Zu Beginn des 18. Jahrhunderts tritt eine neue Sekte auf, die Ökonomen, Häretiker des Polizeistaates. Sie erfinden eine neue Regierungskunst in den Begriffen einer von der Ökonomie modifizierten Staatsraison: die ökonomische Vernunft verleiht der des Staates neue Züge. Wir sind immer noch in der Ordnung der Staatsraison.« (SW: 42)

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Instrumente der Regierung auf diese Natürlichkeit abgestimmt werden. Foucault erwähnt hier vor allem den »Wunsch« (le désir), den er als »Aktionsmotor« (SW: 11) der Bevölkerung bezeichnet. Dieser Wunsch oder das, was man in modernen Termini wohl als Kalkül des Eigennutzes oder Prinzip der Nutzenmaximierung bezeichnen würde, muss der Ansatzpunkt für die Interventionen der Regierung sein. Zwar kann sie die Bevölkerung nicht willkürlich disziplinieren, doch über Handlungsanreize, die das Nutzenkalkül der Individuen in Rechnung stellen, kann eine Regulierung gemäß der Natürlichkeit der Bevölkerung gelingen.63 Mit dieser Regierungsrationalität, welche erstmals den Markt als autonomen Regulationsmechanismus, der nur durch den Staat zu flankieren ist, schätzen lernt, zeichnet sich eine fundamentale Trendwende in der Geschichte der Regierungstechniken ab. So ist Foucault der Meinung, dass diese neue Regierungstechnik nicht mehr als Kunst bezeichnet werden könne, sondern angeleitet werde durch eine Erkenntnis mit wissenschaftlichem Anspruch, »einer politischen Wissenschaft« (GO: 62),64 die gleichwie unabhängig von der Regierung selbst existiere. Die Trendwende zeigt sich jedoch vor allem in der Funktionsweise der Regierungstechniken. Ist der Weg zum merkantilistischen Polizeistaat gekennzeichnet durch eine Intensivierung des Zugriffs von Machttechniken auf die Individuen, also dem, was Foucault an anderer Stelle als Mikrophysik der Macht bezeichnet hatte, so lässt sich mit dem Aufkommen der physiokratischen Bewegung von einer bedingten Lockerung dieses Griffs sprechen, denn »die Freiheit ist unabdingbares Element des Regierungsdenkens selbst geworden« (SW: 43). Die Zielvorstellung totaler Kontrolle werde aufgegeben, stattdessen verbleibe den Akteuren ein gewisser Handlungsspielraum, der jedoch durch die am Nutzenkalkül ansetzenden Regierungstechnologien strukturiert und somit indirekt beeinflusst werden könne und durch nun in der Formation begriffene Dispositive der Sicherheit (vgl. SW: 8 ff.) begrenzt sei. Doch obwohl das physiokratische Denken auf dieser Ebene zumindest die ersten Ansätze einer tief greifenden Transformation enthält, verbleibt es auf einer anderen Ebene in einer Konstellation, die schon für die merkantilistische Konkretisierung der Staatsraison charakteristisch war. Trotz des Versuchs, den Ideen Machiavellis einerseits und denen Thomas von Aquins andererseits zu 63 Mit diesen Gedanken illustriert Foucault abermals die klassische These der Genealogie, nach der Macht und Wissen in einem zirkulären Verhältnis zueinander stehen. 64 An anderer Stelle spricht Foucault allerdings von dieser Wissenschaft als der Ökonomie. Vgl. SW: 42.

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entkommen, fanden sich im Merkantilismus nach wie vor Restbestände beider Traditionen. Auch die Physiokraten, so Foucault, verbleiben im Gravitationsfeld von Machiavellis Fixierung auf den Souverän, da sie die Regierbarkeit einer eigenwillig strukturierten Bevölkerung bzw. Ökonomie durch den Souverän nicht in Frage stellen. Grundsätzlich ist eine reibungslose Lenkung dieser Größen durch den Souverän möglich, Voraussetzung ist ein erschöpfendes Wissen und der immer wieder postulierte Einsatz adäquater Techniken. Damit vernachlässigen die Physiokraten das, was neoliberale Vordenker wie F. A. v. Hayek später als unseren konstitutiven Mangel an Wissen oder bezogen auf staatliche Wirtschaftslenkung als Wissensproblem bezeichnen werden. Dem Souverän wird von den Physiokraten unterstellt, er sei grundsätzlich in der Lage, Informationen in der gleichen Quantität und mit der gleichen Geschwindigkeit zu verarbeiten wie Marktmechanismen, der Umfang von Regierung wird daher noch nicht in Frage gestellt. Diese Bezogenheit auf den Herrscher als allwissendem Lenker sieht Foucault als Restbestand des Machiavellischen Souveränitätsdenken an.65 Diese Einschätzung macht deutlich, dass die Geschichte der Regierungsrationalitäten tatsächlich bis zu diesem Punkt als »Geschichte der Staatsraison geschrieben werden« (SW: 43) kann: Eine Bewegung der sukzessiven Angleichung von Realtypen an einen Idealtyp der Staatsraison, der den Anspruch des Bruchs mit vorhergehenden Traditionen einlöst. Foucault beschließt die Vorlesungsreihe 1978 mit kursorischen Bemerkungen zu einer weiteren Transformation, der die Regierungsrationalität in der Folge der physiokratischen Bewegung unterliegt. Es handelt sich um den Liberalismus.66 Diese neue Rationalität vollzieht nun den Bruch, der sich schon mit der physiokratischen Bewegung angedeutet hatte. Nicht nur das Ziel der Staats65 Lemke formuliert: »Wenn der Souverän seinen Subjekten Freiheiten einräumen kann, dann deswegen, weil er ohnehin in jedem Moment weiß, was geschieht. Das Prinzip des ›laisser faire‹ wird im Kontext einer despotischen Souveränität eingeklagt, die nicht mehr an göttliche Gesetze, Traditionen und Gewohnheiten gebunden ist, sondern allein an ein Wissen, das sie mit den ökonomischen Agenten teilt.« (Lemke 1997: 176) 66 Ich werde die Regierungstechnologie des Liberalismus hier nur in ihren Grundkoordinaten skizzieren, da Foucault ihre Analyse fast gänzlich in den Vorlesungen von 1979 unternimmt, die mir nicht zugänglich sind. Vgl. hierzu Lemke 1997: 172 ff. Foucaults eigene Analysen gehen nicht über die Epoche des Frühliberalismus hinaus. Zwar endet die Vorlesung mit einigen knappen Bemerkungen zum Ordo-Liberalismus der Freiburger Schule und dem Neoliberalismus der Chicago-Schule, auf eine Untersuchung dieser höchst fragmentarischen Äußerungen an Hand der Sekundärliteratur werde ich jedoch verzichten.

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raison, die Stärkung des Staates, auch die noch durch die Physiokraten bestätigte allumfassende Zuständigkeitsvermutung des Staates wird in Frage gestellt. Eine Tendenz, die schon bei den Schülern Quesnays erkennbar war, wird nun zur dominanten Annahme: Es wird nicht zu wenig regiert, sondern zu viel. Nicht nur die Interventionstiefe, sondern auch die Interventionsbreite des Staates wird nun problematisiert, seine Ziele ebenso wie die Geeignetheit seiner Instrumente, diese Ziele zu erreichen. Die Pointe der Frühliberalisten Smith oder Ferguson gegenüber der physiokratischen Lehre liegt in ihrer Apostrophierung des staatlichen Wissensproblems, vor dessen Hintergrund nun konsequenterweise jede staatliche Intervention auf ihre Effizienz hin überprüft werden muss. Kann mit der liberalen Lehre nicht mehr von der Möglichkeit eines allwissenden Souveräns ausgegangen werden, so steht die staatliche Steuerungskapazität grundsätzlich in Frage, »da die ökonomische Welt ihrer Natur nach opak ist«67. Die Zuständigkeitsvermutung zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Regulierungsmechanismen kehrt sich daher um: Der Staat muss zunächst einmal die Effizienz seiner Mittel für jeden Einzelfall beweisen, und damit bezeichnet der Liberalismus das erstmalige Auftauchen eines »kritischen Prinzips« mit Hinblick auf den Staat, eine Begrenzung staatlicher Zuständigkeit und Handlungskompetenz. Doch die Prinzipien des Liberalismus lassen sich keineswegs nur als Trade-Off verstehen, in dessen Rahmen staatliche Intervention zugunsten der Freiheitsrechte von Bürgerinnen und Bürgern zusehends reduziert werden. Zwar betont die neue politische Rationalität die Freiheit der Individuen, welche sie als konstitutiv für eine effiziente Regierung ansieht. Allerdings handelt es sich hier nicht um eine natürliche Freiheit, die unabhängig von staatlicher Regierung existieren könnte. Ständig droht die Gefahr, dass die Ausübung bestimmter Freiheitsrechte durch einzelne Individuen die Freiheit anderer einschränkt oder gänzlich zunichte macht. Das System des Liberalismus ist also keineswegs nachhaltig, sondern vielmehr auto-destruktiv, wird es nicht durch regulierende Interventionen des Staates stabilisiert. Im gleichen Maße, in dem die Freiheiten der Individuen zunehmen, müssen die Dispositive der Sicherheit wachsen, welche diese Freiheiten garantieren, sie umhegen, aber auch eine gewisse Berechenbarkeit der mit ihr einhergehenden Kontingenz ermöglichen.68 67 Ibid.: 177. 68 Im Paradigma der Sicherheit gewinnen Begriffe wie »Wahrscheinlichkeit« und »Risiko« an Bedeutung, da sie eine Operationalisierung dieser Kontingenz ermöglichen und in der Lage sind, staatliches Handeln vor dem Hintergrund unvollständigen Wissens – diese Annahme bezeichnete ja den Bruch mit den Physiokraten – anzuleiten.

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Entsprechend sieht Foucault in ihnen das dominante Charakteristikum einer »liberalen« Gesellschaft. Mit diesen Ausführungen endet Foucaults Genealogie des modernen Staates bzw. der Regierungsrationalitäten, zumindest soweit ich sie unter der gegebenen Quellenlage rekonstruieren kann. Wie auch in seinen vorhergehenden Forschungsprogrammen sieht Foucault das hier skizzierte Projekt als einen Beitrag zur kritischen Analyse der Gegenwart: »Wir leben im Zeitalter der Gouvernementalität, die im 18. Jahrhundert entdeckt wurde.« (GO: 65) Im Folgenden werde ich versuchen, das kritische Potential eines solchen Projektes herauszuarbeiten, bevor ich es abschließend dem demokratietheoretischen Denken Habermas’ gegenüberstelle. 2.3 Das kritische Potential der Gouvernementalité – kritische Stärken und ihre Ambivalenzen Eine Analyse des kritischen Potentials von Foucaults GouvernementalitéProjekt sieht sich aufgrund des schon mehrfach angesprochenen fragmentarischen Zustandes mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert. Sowohl der Versuch, Stärken als auch Schwächen der Konzeption einzuschätzen, verleitet aufgrund der ungünstigen Primärquellenlage dazu, verstärkt Sekundärliteratur heranzuziehen, die sich nach eigener Einschätzung in ihrer Vorgehensweise durch Foucaults Vorlesungen von 1978/79 maßgeblich inspiriert sieht. Da jedoch der vage Charakter des Konzeptes zu höchst unterschiedlichen Folgeuntersuchungen geführt hat, die teilweise nur sehr unsystematisch und selektiv auf die Foucault’schen Untersuchungen und die entsprechenden Begriffe rekurrieren, dürfte eine solche de facto Rückprojektion der Stärken und Schwächen der Governmentality Studies auf den ursprünglichen Ansatz Foucaults diesem kaum gerecht werden.69 Soll allerdings diese Sekundärliteratur im Rahmen der Analyse weitgehend ausgeblendet werden, so bleibt nur ein Theorie-Fragment, das kaum den Begriff »Torso« rechtfertigt und gegenüber welchem die hohen Maßstäbe, die im Verlauf dieser Studie an die verschiedenen Konzepte angelegt wurden, völlig überzogen wirken und daher unfruchtbar bleiben müssten.70

69 Zu einer pointierten Analyse dieser Governmentality-Literatur vgl. Lemke 2000. 70 Nicht zuletzt deshalb dürften sich in der Sekundärliteratur kaum kritisch-analytische, sondern fast ausschließlich anwendungsorientierte Studien finden.

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Ich werde folgendermaßen versuchen, diesen Problemen zu begegnen: Zunächst sollen die kritischen Stärken oder zumindest diesbezügliche Ansätze innerhalb der Analyse der Gouvernementalité identifiziert werden, wobei zunächst zugunsten Foucaults seine Entwürfe in einzelnen Punkten auch mit Rückgriff auf Untersuchungen der Governmentality Studies weitergedacht werden sollen, allerdings auch mit Hinweis auf gewisse Ambivalenzen, die in diesen Folgestudien sichtbar werden. Eine minimale Anreicherung der ursprünglichen Konzepte scheint mir hier unabdingbar. Hieran schließt sich keine umfassende kritische Diskussion, die sich um eine Auslotung der Schwächen und Probleme des Konzeptes bemüht, wie es in den übrigen Kapiteln der Untersuchung der Fall war, da dies unangebracht wäre. Vielmehr werde ich es bei dem Versuch einer Einordnung des Gouvernementalité-Projektes in die Systematik des Gesamtwerkes belassen. In diesem Rahmen können dann die schon weiter oben thematisierten Fragen hinsichtlich bestimmter Revisionen der Genealogie durch die Gouvernementalité noch einmal aufgenommen werden, und die diversen Widersprüche und Inkohärenzen, die sich im Zuge dieser Thematisierung offenbaren, reichen vollauf aus, um die Schwächen und Probleme von Foucaults Genealogie der Regierungsrationalitäten zu umreißen. Mit Blick auf die klassischen Genealogien der siebziger Jahre ließ sich von einer komplementären Problematik bzw. zwei komplementären Leerstellen sprechen. Einerseits drohte das Individuum und seine Akteurschaft im Geflecht der Machttechnologien verloren zu gehen. Als Reaktion hierauf lässt sich Foucaults Ethik-Projekt verstehen, in dem das Subjekt und seine Selbsttechnologien einen zentralen Platz einnehmen. Der komplementäre blind spot der Mikrophysik der Macht bestand in deren fehlendem Instrumentarium zur Erklärung bzw. Analyse staatlicher Machtausübung.71 Zwar fanden sich verstreute Anmerkungen über die Rolle des Staates, der teils als Kodifizierungsinstanz mikrophysikalischer Machtverhältnisse, teils als deren Verstetigung auf einer Makro-Ebene oder auch als in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis mit den Mikromechanismen der Macht stehend beschrieben wurde (vgl. WW: 121 sowie TaP: 122 f.), doch zu einer Systematisierung kam es nicht. Diese Andeutungen verweisen zusammengefasst auf ein mit dem Staat verbundenes Dilemma des Genealogen Foucault: Dessen Intuition nach bezeichnet der Staat mehr als nur ein weiteres Machtverhältnis neben vielen anderen, doch diese spezifische Qualität 71 Vgl. »Macrological forces are seriously undertheorized in his work.« (Kellner/Best 1991: 71). Ebenso Jessop 1990a: 220 ff.

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des Staates lässt sich nicht mit dem analytischen Instrumentarium der Mikrophysik der Macht erfassen. Verkompliziert wird dieses Problem durch den antistaatlichen Akzent seiner Machtanalytik, mit dem Foucault gegen den Mainstream »linker« Sozialwissenschaft in den siebziger Jahren rebelliert, deren Schulen eine zusehende Fixierung auf den Staat attestiert werden muss, und den er nicht aufzugeben bereit ist.72 (Vgl. GO: 65) Die Analyse der Gouvernementalité bezeichnet also den Versuch, den Staat als zweiten blind spot der Genealogie nun zu konzeptionalisieren, ohne dadurch gezwungen zu sein, konventionelle Staatstheorie zu betreiben: »Jawohl, ich erspare mir eine Theorie des Staates, ich will und ich muß mir eine Theorie des Staates ersparen, so wie man sich eine ungenießbare Mahlzeit ersparen kann und muß.« (SPH: 68 f.) Was genau Foucault unter einer solchen »Theorie des Staates« versteht, wird noch genauer zu klären sein. Der Begriff der Gouvernementalité bezeichnet den Ansatzpunkt zur Lösung dieses Problems: »Es geht darum, das Problem des Staates von den Praktiken der Gouvernementalität her zu erkunden.« (SPH: 70) Wie die »reflektierte Praxis« der Disziplin die Analyse von diversen Institutionen angeleitet hatte, so soll nun die Gouvernementalité eine historische Analyse des Staates ermöglichen, wie sie im vorhergehenden Kapitel skizziert wurde. Dieser Ansatz zeitigt einige Effekte, die sich durchaus als kritische Stärken verbuchen lassen: Zunächst lässt sich schon allein die Verbreiterung des Kritikradius, der nun auch den Staat umfasst, als Stärkung der Kritik im Binnenverhältnis gegenüber dem klassisch genealogischen Rahmen verbuchen. Darüber hinaus gelingt es der Gouvernementalité durch ihren Zugang zum Problem des Staates über historisch variante Regierungsrationalitäten eine Kritikdimension aufrechtzuerhalten, die schon Archäologie und Genealogie gekennzeichnet hatte. Sie spart die in diesem Kontext herkömmlich zur Anwendung kommenden Erkenntnismuster, in deren Mittelpunkt das staatliche Institutionen-Ensemble, deren (verfassungs-)rechtliche Kodifizierung sowie Fragen der Legitimation aus bzw. lässt diese Thematiken in einem neuen, unvertrauten Licht erscheinen, um so einen Effekt der Entnaturalisierung zu erreichen. Foucault meidet die ausgetretenen Pfade der 72 Vgl.: »Es ist bekannt, welche Faszination heute die Liebe zum Staat und das Erschrecken vor dem Staat ausüben; es ist bekannt, wie sehr man sich die Geburt des Staates, seine Geschichte, seine Vorstöße, seine Macht und seine Mißbräuche angelegen sein läßt. Diese Überbewertung des Problems des Staates [...]« (GO: 65). Gerade im Marxismus erlebt die Staatstheorie mit Althussers Studien und der Debatte zwischen Nicos Poulantzas und Ralph Miliband zu jener Zeit eine massive Renaissance.

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Staatstheorie, die vornehmlich damit beschäftigt sei, »die Natur, die Struktur und die Funktionen des Staates an und für sich zu analysieren« (SPH: 69) und unternimmt damit ein weiteres Mal das, was sich als welterschließende oder weltkonstituierende Kritik bezeichnen lässt. Die Möglichkeiten kritischer Praxis, die eine solche »Denaturalisierungsstrategie«73 eröffnet, bedürfen keiner detaillierten Erläuterung mehr: Die in der historischen Analyse offensichtlich werdende Kontingenz moderner Staatlichkeit sowie die unorthodoxe Art und Weise Foucaults, sich dem Staat jenseits der verdinglichten Kategorien der Staatstheorie zu nähern,74 eröffnen Akteuren neue Handlungsoptionen und Transformationsmöglichkeiten, da die Dinge nicht so sein müssen, wie sie sind und nicht so gedacht werden müssen, wie sie normalerweise gedacht werden. An dieser Stelle ist jedoch eine erste Ambivalenz zu verzeichnen, die schon aus der Genealogie bekannt ist. Schon in jenem Kontext musste eine starke funktionalistische bzw. holistische Tendenz registriert werden, die teils durch eine genauere Textanalyse relativiert, teils als rhetorische Strategie mit zentraler Bedeutung für den Foucault’schen Kritikmodus verstanden werden konnte. Die Effekte dieser Strategie für eine kritische Praxis mussten jedoch schon in jenem Zusammenhang als ambivalent charakterisiert werden (vgl. Kap. II 3.2.1). Auch die Genealogie der Gouvernementalité zeichnet sich zumindest durch einen funktionalistischen Unterton aus, denn selbst wenn dies auch teilweise von Anhängern des Paradigmas verneint wird,75 erscheint die Geschichte der Regierungsrationalitäten in erster Linie als eine Geschichte ihrer Optimierung. Weniger effiziente Techniken werden offensichtlich durch effizientere ersetzt, die in ihrer Subtilität dem Individuum noch vorgaukeln, es nehme seine Handlungen auf der Grundlage freier Wahl vor. Da die diesbezüglichen Fragen schon weiter oben ausführlich diskutiert wurden, sei dieses Kennzeichen des Gouvernementalité-Projektes hier nur als Ambivalenz vermerkt, deren Problematik jedoch mit Foucaults Hinwendung zur Ethik erheblich gemildert wird. 73 Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 21. 74 Als Beispiele ließen sich hier die Dichotomien von Staat und Zivilgesellschaft sowie Öffentlichkeit und Privatsphäre anführen. Weit davon entfernt, die erste Unterscheidung als Ausgangspunkt der Staatsanalyse zu betrachten, untersucht Foucault die Existenz einer Zivilgesellschaft als Effekt bestimmter, vor allem liberaler Regierungsrationalitäten (vgl. SPH: 70). Ebenso gilt die zweite Unterscheidung als zentraler Bestandteil der »Taktiken des Regierens« (GO: 66) und nicht als deren Voraussetzung. In diesem Sinne auch Lemke 2000: 37. 75 Vgl. Lemke 2000: 42 f.

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Auch eine zweite Kritikdimension der Genealogie findet sich in Foucaults Analyse der Gouvernementalité wieder. Der Genealoge hatte seine Untersuchungen vor allem als Werkzeugkisten verstanden, durch die strategisches Wissen für Widerstand leistende Akteure bereitgestellt werden sollte. Ein solches strategisches Wissen vermag auch das Programm von 1978/79 zu generieren, zumindest finden sich hier diesbezügliche Ansätze. Das Problem des Genealogen im Umgang mit dem Staat bestand unter anderem in der Frage, unter welchen Umständen sich in seinem Rahmen Machtverhältnisse verstetigen und stabilisieren. Die gemeinhin als selbstverständlich angesehene Existenz einer Entität »Staat« konnte im Paradigma ewiger instabiler Machtspiele nicht adäquat erklärt werden. Diese relative Schwäche wird nun zu einer Stärke der Gouvernementalité, die sich den Sinn der Genealogie für die »Unwahrscheinlichkeit« des Staates erhält. Der Staat ist keineswegs seiner Natur nach ein einheitliches Institutionen-Ensemble zentralisierter Herrschaftsausübung, vielmehr ist die Tatsache, dass der Staat als eine solche Entität reibungsloser Herrschaft erscheint, erst ein Effekt der Regierungsrationalitäten, die sich in ihn einschreiben.76 Der Staat der Moderne, wie wir ihn kennen, ist also keineswegs ein Datum, keine Maschine, die unabhängig von ihren Betreibern kontinuierlich die gleiche Leistung liefert. Vielmehr handelt es sich um eine Ansammlung von Einzelteilen, die immer wieder aufs Neue auf mehr oder weniger geschickte Art und Weise zusammengesetzt und gewartet werden muss, um in der bildhaften Illustration zu bleiben, wobei der Erfolg dieser Operationen nicht von vorneherein garantiert ist und natürlich auch von gewissen strukturellen Zwängen abhängig sein kann. Entsprechend ist der Staat laut Foucault »nur eine zusammengesetzte Wirklichkeit« (GO: 65) und der »bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität« (SPh: 70). Die für ein solches Bild des Staates zentralen Regierungsrationalitäten existieren jedoch nicht im luftleeren Raum. Ihre Formulierung und Reformulierung, ihr Erfolg und ihr Scheitern sind auch eine Funktion sozialer, nicht notwendigerweise physischer Kämpfe und Konflikte, die sich in ihnen widerspiegeln.77 Mit dieser Annahme vervollständigt sich Foucaults analytisches Instrumentarium zu einer nichtessentialistischen »Theorie« des Staates, der sich aufgrund dessen in Anlehnung an Poulantzas’ Formulierung als eine Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse verstehen ließe.78 Mit 76 Vgl. Dean 1994: 179. 77 Vgl. Lemke 2000: 42. 78 »Ich meine, und dabei präzisiere ich einige meiner vorhergehenden Analysen, daß der Staat, in diesem Fall der kapitalistische Staat, nicht als ein sich selbstbegründendes Gan-

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dieser Konzeption, die dem Staat weder ein Primat zuerkennt noch nach seinem Wesen forscht, ihn jedoch trotzdem als Einsatz und Schauplatz sozialer Kämpfe begreifen kann, gelingt es Foucault auch, strategisches Wissen zu formulieren. Denn wenn die Ausrichtung des Staates durch politische Rationalitäten geprägt ist, die wiederum als Resultate sozialer Konflikte zu verstehen sind, dann ist es auch möglich, mit Hilfe des genealogischen Wissens über die Geschichte von sozialen Kämpfen die strategische Selektivität des Staates zu erfassen und zu erklären, um, wie schon im Zusammenhang mit der Mikrophysik der Macht, Stärken und Schwächen, Immunitäten und Verletzlichkeiten des Staates zu identifizieren und Widerstandsstrategien an diesem Wissen auszurichten.79 Doch auch an diese kritische Stärke bleiben gewisse Ambivalenzen geknüpft. Einer der großen Vorteile der Foucault’schen Konzeptionalisierung des Staates als Feld von Kräfteverhältnissen sind seine Vorbehalte gegenüber einer Überschätzung und daraus resultierenden Fixierung auf den Staat. Die Analyse der Gouvernementalité läuft unter diesen Umständen allerdings Gefahr, den komplementären Fehler zu begehen und das Eigengewicht des Staates, seine Bedeutung für mikrophysikalische Machtverhältnisse, nicht hinreichend in Betracht zu ziehen. Zwar sind Foucaults eigene Ausführungen zu vage, um einen solchen Vorwurf zu erheben, doch in den Governmentality Studies lässt sich durchaus eine derartige Strömung identifizieren, die als ein Rückfall in klassisch genealogische Erkenntnisraster und deren »bracketing« des Staates betrachtet werden kann.80 Eine letzte Stärke des Gouvernementalité-Projektes lässt sich in der Vermittlung von Makro- und Mikro-Ebene sehen, wobei diese Vermittlung in einer radikaleren Lesart auch als ein Versuch Foucaults gedeutet werden kann, diese Unterscheidung zu unterlaufen.81 Sein Analysemodus ist explizit darauf ausgerichtet, den Zusammenhang zwischen staatlichen Regierungstechnologien und Subjektivierungsprozessen zu erhellen, indem er aufzeigt, wie beispielsweise der Liberalismus das Feld möglicher Handlungen des Individuums strukturiert. Mit

zes begriffen werden darf, sondern [...] als ein Verhältnis, genauer als die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses [...]« (Poulantzas 1978: 119). 79 Vgl. zu solch einer Konzeption auch Jessop 1990b. 80 Vgl. z. B. Rose/Miller 1992. 81 Vgl. zu dieser radikaleren Lesart Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 31.

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den jeweiligen Technologien korrelieren bestimmte Subjektformen, zumindest als Zielpunkt einer bestimmten Technologie.82 In den von Foucault inspirierten Studien ist der Gouvernementalité aufgrund dieser Vermittlung zwischen politischen Rationalitäten und Subjektausformungen eine besondere Eignung als Analyseraster bezüglich neoliberaler Regierungspraktiken attestiert worden. Mit ihrer Hilfe lässt sich der Neoliberalismus nicht nur als Kapitulation der Politik gegenüber ökonomischen Imperativen oder als ein Rückzug des Staates aus bestimmten Handlungsbereichen, in denen nun die freie Wahl der Individuen herrscht, verstehen. Neoliberalismus bezeichnet hier weder Kapitulation noch Rückzug des Staates, sondern eine Restrukturierung von Regierungstechniken mit dem Ziel ihrer Optimierung. Die freie Wahl der Individuen ist entscheidender Bestandteil in einer effizienten Regierungspraxis, zumal sie nicht gänzlich frei ist, sondern eingerahmt und strukturiert von Anreizen, die auf nutzenmaximierende Akteure ausgelegt sind und damit Subjektivierungsprozesse initiieren, in denen Individuen sich diesem »Ideal« tatsächlich zusehends angleichen, was wiederum die Steuerung durch die auf der Grundlage von »Wahrscheinlichkeit« und »Risiko« operierenden Dispositive der Sicherheit erleichtert. Die von Foucaults Begriff der Gouvernementalité ausgehende Analyse des Neoliberalismus folgert, dass dieser eine Optimierung von Regierung darstellt, da in die Freiheit des rational choice entlassene Individuen auf der Basis entsprechender Handlungsanreize nicht nur höchst produktiv und effizient sind, sondern auch minimale Kosten für den Staat verursachen, da ihnen aufgrund von Wahlfreiheit auch individuelle Verantwortung für ihr Handeln – und Scheitern – zugesprochen werden kann, für das eine staatlich organisierte Solidargemeinschaft nicht mehr zu haften hat.83 Auch zu diesem Kritikstrang, der aufgrund zeitgenössischer polit-ökonomischer Entwicklungen besondere Beachtung erfahren hat, lassen sich bestimmte Vorbehalte formulieren. So finden sich vor allem in der Analyse des Neoliberalismus Elemente eines impliziten Funktionalismus, der schon weiter oben diagnostiziert wurde. Die zeitgenössische Regierungsrationalität erscheint allein als Effizienzsteigerung, die Dominanz des Marktes und der Rückzug des 82 Das starke Übergewicht struktureller Faktoren gegenüber der Akteursseite, das eine solche Sichtweise beinhaltet, wird in der folgenden Phase des Ethik-Projektes durch Foucaults Betonung von Selbsttechnologien relativiert. 83 An dieser Stelle ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Foucault selbst nur die Grundlagen und Ansätze für eine solche kritische Analyse geliefert hat, die ich hier mit Rückgriff auf entsprechende Folgestudien ergänzt habe.

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Staates werden als mehr oder weniger gewolltes politisches Programm verstanden. Dies läuft auf eine undifferenzierte Überbewertung von Staat bzw. Politik hinaus, der man noch die eigene Abschaffung sowie die Schwächung des eigenen Machtapparates als subtile Strategie zurechnet. Eine differenzierte Betrachtungsweise müsste dagegen beides im Auge behalten: Sicherlich sind Globalisierungsprozesse, die Aushöhlung nationalstaatlicher Souveränität und Kostendruck auf kollektive Sicherungssysteme in keinster Weise naturwüchsige, sondern politische Phänomene, insofern sie auf Entscheidungen politischer Akteure und deren Strategien zurückgehen. Dennoch muss die Möglichkeit, ja, sogar die Wahrscheinlichkeit in Betracht gezogen werden, dass diese Strategien unintendierte Nebeneffekte mit sich gebracht haben, die durchaus negative Auswirkungen auf vitale Interessen politischer und/oder staatlicher Akteure haben. Dezentralisierung und Abgabe von Handlungskompetenzen können wichtige Instrumente der Herrschaftsstabilisierung sein, aber auch aufgrund der resultierenden relativen Handlungsunfähigkeit zu Legitimationsproblemen staatlicher Politik führen und damit zu einem dysfunktionalen Faktor für eine Regierungspraxis werden. Die Ambivalenz einer neoliberalen Regierungspraxis für die Möglichkeit effizienter Regierung gerät in der Mischung aus Erschrecken und Ehrfurcht, mit der die Governmentality Studies teilsweise vor dem Phänomen des Neoliberalismus zu stehen scheinen, aus dem Blick. Darüber hinaus ist im Zusammenhang mit der Analyse des Neoliberalismus eine gewisse Schwammigkeit in der kritischen Ausrichtung zu monieren, die nominell aber sowohl für Foucault, der von einer »Kritik der politischen Vernunft« sowie von einem »Angriff [...] auf die Wurzeln der politischen Rationalität selbst« (KpV: 93) spricht, als auch für die meisten der Anhänger dieses Paradigmas einen Leitgedanken ihrer Untersuchungen darstellt. Hier spielt der Foucault’sche Anti-Normativismus eine gewichtige Rolle, der politische Rationalitäten natürlich nicht nach dem Vorbild von Habermas’ Kritikmodus an einer unverkürzten Vernunft messen will, sondern vielmehr um die historische Analyse ihrer Abfolge bemüht ist, wobei jedoch nach wie vor die genealogische Intention eine Rolle spielt, »das historisch-spezifische Netz von Kräfteverhältnissen, Interessen und Strategien«84, die mit der Etablierung einer politischen Rationalität verknüpft sind, aufzudecken. Doch im Gegensatz zu den oftmals drastischen und höchst beunruhigenden Beschreibungen, die sich vor allem in Überwachen und Strafen finden, erscheinen Foucaults Darstellungen des Libera84 Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 21.

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lismus und die entsprechenden Charakterisierungen des Neoliberalismus in der durch ihn begründeten Forschungstradition manchmal als eine Verdoppelung des (neo-)liberalen Harmonismus. Die Steuerung der freien Individuen sowie die Vergrößerung ihrer Leistungsbereitschaft bzw. Leistungsfähigkeit wirken derart subtil, reibungslos und jenseits von Zwang und Gewalt, dass die Kritikwürdigkeit einer solchen Ordnung ernsthaft in Frage gestellt wird. Dies gilt wie gesagt nicht nur für Foucaults Ausführungen, sondern a fortiori für manche Studie aus der Sekundärliteratur.85 Hier wird oftmals mit einem Gestus der Enthüllung festgestellt, wie die Zwangsmitgliedschaft in kollektiven Sicherungssystemen durch individuelle Wahlfreiheit beispielsweise in der Absicherung von Lebensrisiken ersetzt wird, die das Individuum auf sich selbst zurückwerfen und ihm, wie schon erwähnt, alleinige Verantwortlichkeit aufbürden. Nur reichen diese Ausführungen nicht aus, um die Problematik neoliberaler Wohlfahrtsstaatspolitik deutlich zu machen, vielmehr verschweigen sie, was der Neoliberalismus auch verschweigt: Tatsächliche Wahlfreiheit, etwa beim Krankenkassenwechsel oder bei privater Altersvorsorge, ist für reale Individuen in sehr unterschiedlichem Umfang gegeben, der vor allem von ihrem sozioökonomischen Status abhängt. Solange eine ihrem Anspruch nach kritische Analyse des Neoliberalismus nicht diese differentielle Wirkungsweise des Regimes thematisiert, lässt sie sich auf dessen Fiktion abstrakter, formal gleicher Individuen ein und gerät in massive Gefahr, sein harmonistisches Bild der Gesellschaft, in der sowohl Staat als auch Individuen durch seine Regierungspraxis profitieren, zu reproduzieren. Mit diesen Einschätzungen möchte ich die Diskussion kritischer Stärken und der damit verbundenen Ambivalenzen beschließen. Es hat sich gezeigt, dass die Analyse der Gouvernementalité einige Stärken der Genealogie bzw. für sie charakteristische Kritikdimensionen auch in einem erweiterten bzw. verlagerten Rahmen aufrechterhalten kann, wobei jedoch auch das Wiederauftauchen bestimmter Probleme aus der Genealogie zu verzeichnen ist. Da die Quellenlage genauere Festlegungen verbietet, sind diese jedoch nur als Ambivalenzen aufgefasst worden. Im Folgenden ist nun das Verhältnis von Gouvernementalité und Disziplin zu klären.

85 Lemke erwähnt in diesem Sinne Barry et al. 1993, aber auch Passagen in: Bröckling/Krasmann/Lemke 2000 weisen Tendenzen in dieser Richtung auf.

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2.4 Sicherheit versus Disziplin: Verschiebungen der Machtanalytik? Die folgende Diskussion setzt dort an, wo die weiter oben vorgenommene Untersuchung von Zur Verteidigung der Gesellschaft und Der Wille zum Wissen geendet hatte, um noch einmal der Frage einer möglichen Verschiebung in der machtanalytischen Methodik nachzugehen. Ließ sich für den Übergang zur Analyse der Gouvernementalité 1976/77 – etwas vereinfachend – von einer Erweiterung der Machtanalytik um die Dimension der Bevölkerung sprechen, durch welche jedoch der Analysemodus der Mikrophysik der Macht nicht diskreditiert wurde, so bringen die Vorlesungen von 1978 noch einmal bestimmte Modifikationen dieser Sichtweise mit sich. Die Geschichte politischer Rationalitäten, wie sie Foucault skizziert, legt eine Abfolge von dominanten Machttypen nahe, in der auf den Typus der Souveränität die Disziplin und schließlich die Sicherheit bzw. die Gouvernementalität86 folgt. Damit verbunden sind die Regierungsrationalitäten Machiavellis, auf den die Staatsraison und zuletzt der Liberalismus folgen. Den gleichen Dreischritt vollzieht Foucault in der Funktionsweise der Machttechnologien, die er anhand des Umgangs mit Epidemien beschreibt. Der Umgang der Souveränitätsmacht lässt sich am Ausschluss der Kranken demonstrieren, während die Pest durch die Disziplinarmacht auf der Grundlage des isolierenden Einschlusses der Individuen bekämpft wird, wohingegen sich die Wirkungsweise der Sicherheit am Umgang mit den Pocken im 18. Jahrhundert illustrieren ließe: Die Epidemie erscheint als empirisches Phänomen mit quantifizierbaren Regelmäßigkeiten (Krankheitsverläufen, Ansteckungs- und Todesraten etc.), das in dieser Natürlichkeit anerkannt werden muss und dementsprechend nicht detaillierter Kontrolle und Steuerung zugänglich ist, wie noch der disziplinäre Umgang mit der Pest glaubte. »Für die Mediziner des 18. Jahrhunderts ist die Realität nicht mehr das, was negiert werden muß, sondern das, was sich nicht verhin86 An dieser Stelle muss auf die Unschärfe des Begriffs hingewiesen werden. Der Begriff der Regierung, den Foucault teilweise synonym mit dem der Gouvernementalité verwendet, taucht in der historischen Analyse schon mit der Regierungskunst im 16. Jahrhundert auf und wird von Foucault auch mit dem Begriff der politischen Rationalität im Allgemeinen gleichgesetzt. Andererseits bezeichnet Foucault an manchen Stellen nur die zeitgenössische politische Rationalität als Gouvernementalité (vgl. GO: 64). Darüber hinaus soll der Begriff jedoch auch nicht nur einen Zustand, sondern auch einen Prozess bezeichnen, in dessen Rahmen sich der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters zum Verwaltungsstaat der Moderne transformiert (vgl. GO: 65). Der Begriff entbehrt also sowohl historischer wie auch analytischer Klarheit.

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dern läßt – und da sie sich nicht verhindern läßt, muß von ihr ausgegangen werden, sie muß ins Spiel gebracht werden.«87 – Die Krankheit wird unterbunden, indem Tiere und Menschen mit ihren Erregern geimpft werden. Deutet soweit also alles auf eine Abfolge von Machttechnologien hin, die auf jeweils unterschiedliche Objekte, das Territorium, den individuellen Körper und die Bevölkerung wirken, so wäre die entsprechende Schlussfolgerung doch vorschnell, da Foucault auf eine entsprechende Auflistung der Technologien und ihrer Objekte den Satz folgen lässt: »Diese Definition ist nicht haltbar.« (SW: 3)88 Die Vorstellung sich gegenseitig ablösender Machttechnologien, mit denen sich auch der Analysemodus ändern müsste, trifft also nicht zu, denn Foucault insistiert auf einer ungebrochenen Relevanz von Souveränität und Disziplin auch im Zeitalter der Dispositive der Sicherheit: »Die Idee der Regierung der Bevölkerung verschärft noch das Problem der Begründung der Souveränität [...] und verschärft auch die Notwendigkeit, die Disziplinen zu entwickeln [...] Daher darf man die Dinge mitnichten als Ersetzung einer Gesellschaft der Souveränität durch eine Gesellschaft der Disziplin und anschließend durch eine, sagen wir, Regierungsgesellschaft verstehen. In Wirklichkeit hat man ein Dreieck: Souveränität – Disziplin – gouvernementale Führung, dessen Hauptzielscheibe die Bevölkerung ist und dessen wesentliche Mechanismen die Sicherheitsdispositive sind.« (GO: 64)

Doch auch der in diesem Zitat zunächst aufkommende Eindruck einer Trinität von Machttechnologien mit gleicher Bedeutung täuscht: Schließlich wirkt das Dreieck vor allem auf die Bevölkerung sowie über Sicherheitsdispositive, und etwas später sieht Foucault eine »Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ›Regierung‹ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat« (GO: 65).

Dementsprechend hätten wir es mit einer Überlagerung von Machttechnologien zu tun, in der jedoch eine die Dominanz über die anderen gewonnen hat, also gleichwie auf der Spitze des Dreiecks steht, wohingegen die anderen beiden nur flankierende Bedeutung haben. Das Bild der Überlagerung von Machttechnologien mit der Dominanz eines Typs ist keine Neuerung in Foucaults Denken. Schon die genealogischen Schrif87 Lemke 1997: 189. 88 Diese Aussage steht übrigens in einem Spannungsverhältnis zu den weiter oben referierten Ausführungen in Der Wille zum Wissen. Vgl. Kap. IV 2.1.

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ten waren schließlich nicht von einer Ablösung der juridischen (Souveränitäts-) Macht durch die Disziplin ausgegangen und hatten ebenso wenig die Repressionshypothese geleugnet, als vielmehr für unvollständig gehalten, da der alte Machttypus zwar durchaus noch wirksam sei, jedoch eher die Rolle eines taktischen Einsatzes innerhalb der Strategie eines neuen Machttyps mit weitaus stärkeren Effekten spiele. Der Genealoge Foucault zog daraus die Schlussfolgerung, dass dem König der Kopf abgeschlagen werden müsse: Wolle man nicht auf dieses Täuschungsmanöver hereinfallen, dann müsse die Analyse der Macht nach dem Modell der Souveränität der Analyse der Disziplin weichen, da sie zum dominanten Machtmodus geworden sei. Wendet man diese Schlussfolgerung analog auf die Regierungsproblematik an, so bedeutet dies tatsächlich eine tendenzielle Diskreditierung der Disziplinaranalyse und somit eine wichtige methodische Verschiebung im Denken Foucaults. Bestätigung findet diese Einschätzung durch Foucaults Gleichsetzung von disziplinärer und juridischer Macht innerhalb der Vorlesungen von 1978, wenn er beispielsweise dem Dispositiv der Sicherheit »das eines juridisch-disziplinären Systems« (SW: 6) gegenüberstellt. War der Genealoge Foucault noch von einem Gegensatz zwischen juridischer und disziplinärer Macht ausgegangen um in der Folge seine Machtanalytik auf der Grundlage dieses zweiten Typs zu entwickeln, so erscheinen dem Historiker der Gouvernementalité beide in gleichem Maße als veraltete Machttypen, die daher auch die ihnen entsprechende Machtanalytik obsolet werden lassen. Doch Foucaults Selbstkritik endet nicht mit der Feststellung, dass nach der Souveränitätsmacht nun auch die Disziplinarmacht tendenziell historisch überholt sei, vielmehr versucht er darüber hinaus, sich selbst nachzuweisen, dass schon der Begriff der Disziplin eigentlich nicht vollständig in der Lage war, einen neuen Machttypus zu konzeptionalisieren, da er noch zu sehr dem Denken der Souveränität verhaftet geblieben sei.89 Dies soll über eine Kritik des Normbegriffs der Disziplin geschehen, an den sich auch seinerzeit die entsprechende zeitdiagnostische Einschätzung einer Normalisierungsgesellschaft geknüpft hatte. Foucault argumentiert nun, der disziplinäre Normbegriff teile mit dem Recht der Souveränität dessen präskriptiven Charakter sowie das dazugehörige binäre Denkschema und könne daher 89 Einen solchen Zusammenhang hatte Foucault schon 1976/77 in Erwägung gezogen. Doch wie weiter oben gezeigt werden konnte, zog er noch nicht die soeben beschriebenen Konsequenzen. Lemke hat meiner Ansicht nach die Erwägungen Foucaults von der Hochzeit der Gouvernementalité in ihre Entstehungsphase zurückprojiziert. Vgl. oben Kap. IV 2.1.

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nicht als konsequente Loslösung von diesem obsoleten Machtdenken verstanden werden: »In der Disziplin wurde von einer Norm ausgegangen und das Normale vom Anormalen unterschieden.« (SW: 9). Foucaults Genealogie der Regierungsrationalitäten bestätigt diesen Befund, schließlich kennt der disziplinäre Polizeistaat der Staatsraison demnach keine Vorstellung von Normalität im Sinne einer Natürlichkeit. Sozioökonomische Zusammenhänge erscheinen hier noch als Stoff, der gemäß einer willkürlich wählbaren Norm beliebig formbar ist. Dieser Künstlichkeit der Norm stellt Foucault nun den Begriff des Normalen gegenüber, der kein Maximum oder Optimum, sondern eher einen empirischen Mittelwert, eine Normalverteilung bezeichnet. Die Sicherheit geht nun laut Foucault von dieser empirischen Normalität aus und versucht die Abweichungen in einem Korridor des Akzeptablen zu halten. Das Normale werde also nicht vom Abnormalen geschieden, eine gewisse Bandbreite von Variationen werde durch die Dispositive der Sicherheit zugelassen. Die zeitdiagnostische These einer Normalisierungsgesellschaft bleibt davon unberührt, nur bedeutet Normalisierung nun ausschließlich das soeben beschriebene Funktionieren der Sicherheitsdispositive, während Foucault für die disziplinären Mechanismen den Begriff der Normierung einführt. Dieser Versuch einer methodologischen Selbstkritik verdient eine etwas genauere Betrachtung, denn die Trennung zwischen Normalisierung und Normierung ist weniger eindeutig, als es zunächst scheint. So lässt sich die These einer Reproduktion des binären Schemas des Rechts (erlaubt – verboten) durch den disziplinären Normbegriff (normal – anormal) mit Blick auf die diesbezüglichen Erläuterungen in Überwachen und Strafen keineswegs bestätigen. Hier dient die Norm zur Kontrolle von Elementen in einem Raum, die durch ihren differentiellen Abstand zur Norm klassifiziert werden können.90 Zwar lässt sich hier tatsächlich von einer präskriptiven Norm sprechen, einer binären Unterscheidung wird jedoch eine klare Absage erteilt. Doch auch die strenge Trennung zwischen präskriptiver Norm und empirischer Normalität kann nicht gänzlich überzeugen. Schließlich ließen sich Foucaults Überwachen und Strafen und Der Wille zum Wissen auch als eine Kritik von gesellschaftlichem Konformismus verstehen, in dem sich Individuen gegenseitig überwachen und auf Abweichungen mit informellen Sanktionen reagieren: »Strafbar ist alles, was nicht konform ist.« (ÜS: 231) Im Phänomen des Konformismus fallen aber Norm und Normalität zusammen, da sich seine präskriptive Norm schließlich gerade aus der em90 Vgl. die Vielzahl von Zitaten, die dies belegen. Vor allem ÜS: 235 u. 237.

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pirischen Normalität ergibt. Diese Gedanken scheinen mir zu belegen, dass der Begriff der Norm in der Disziplin offen sowohl für eine künstliche, präskriptive als auch für eine empirische Ausformung im Sinne eines Mittelwertes ist. Darüber hinaus wird schon in Überwachen und Strafen explizit auf eine solche empirische Norm abgestellt: »Die Individuen werden untereinander und im Hinblick auf diese Gesamtregel differenziert, wobei diese sich als Mindestmaß, als Durchschnitt oder als optimaler Annäherungswert darstellen kann.« (ÜS: 236; Hervorhebung T. B.) Foucaults Selbstkritik muss in diesem Aspekt also mit einem Fragezeichen versehen werden. Die Schwierigkeiten beim Versuch einer konsistenten Weiterentwicklung enden nicht mit diesem Versuch der Unterscheidung zwischen Disziplin und Regierung. Insbesondere Bedeutung und Einordnung des Begriffs der Pastoralmacht, um den Foucaults Denken in jener Zeit in immer neuen Anläufen kreist, bereiten massive Probleme. Wie auch bei dem weiter oben in seiner Unschärfe erläuterten Begriff der Gouvernementalité überlagern sich auch im Falle der Pastoralmacht historische und analytische Bedeutung sowie die entsprechenden Thesen. Versucht man, diese beiden Aspekte zu trennen, so bleiben zunächst die historischen Fragen an die Pastoraltechnologie: Wann sie als politisches Modell auftaucht, ob und wann sie verschwindet, ob und wie sie weiterwirkt. Laut Foucault wird das ursprünglich orientalische Modell der Hirtenführung durch die katholische Kirche adaptiert und fungiert nun als ein Modell der Seelenführung, das von einer politischen, weltlichen Macht zu unterscheiden sei. Die diesbezüglichen Erläuterungen erwecken den Eindruck, dass das Hirtenamt ausschließlich auf die kirchliche Sphäre begrenzt war (vgl. SW: 20 f., KpV: 80). Doch wenn dies der Fall ist, dann bleibt völlig unklar, wie eine als Hirte interpretierte Rolle der weltlichen Herrscher im Mittelalter im 16. Jahrhundert in eine Krise geraten soll, was ja in Foucaults Analyse einen entscheidenden Impuls für die Entwicklung der neuen Regierungskunst darstellt: »Wie ist jene Krise des Hirtenamtes entstanden, die zum Regierungsdenken geführt hat?« (SW: 25) Gibt es eine Krise des weltlichen Hirtenmodells, so wäre zunächst zu klären, wann und wie dieses überhaupt aufkam. Zwar formuliert Foucault diese Frage im Rahmen einer Vorlesung, doch die Antwort ist nicht wirklich überzeugend: »Es ist kein Übergang vom religiösen Hirtenamt zu anderen Formen [...] sondern eine Multiplizierung, ein Wuchern dieser Führungs-Techniken« (SW: 28). Dieses Phänomen war von Foucault in einer anderen Vorlesung noch als »eine Problematik des Regierens im allgemeinen« (GO: 42) verstanden worden, die im

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Aufkommen der neuen Regierungskunst bzw. der späteren Staatsraison resultiere. Dies würde jedoch bedeuten, dass der Mechanismus, der zu einer Übertragung des kirchlichen Seelenführungsmodells auf die weltliche Menschenführung führt, der gleiche ist, durch welchen dieses Modell des Hirten-Herrschers in eine Krise gerät. Der Eindruck einer gewissen Inkonsistenz ist hier unvermeidlich. Das nächste Problem entspringt der Foucault’schen Idee einer Krise der Pastoralmacht: Kommt es zu einer Transformation der Pastoraltechnologie, zu einer Adaption bestimmter Elemente durch andere Technologien oder verschwindet sie gänzlich zu deren Gunsten? Im Sinne dieser letzten Interpretation lässt sich die folgende Aussage verstehen: »Die politische Rationalität hat im Laufe der Geschichte der abendländischen Gesellschaften zugenommen und sich durchgesetzt. Erst hat sie sich in der Vorstellung der Pastoralmacht verwurzelt, dann in der der Staatsraison.« (KpV: 93) Folgt in dieser Charakterisierung auf die politische Rationalität der Pastoralmacht die der Staatsraison, so räumt Foucault doch Ersterer in den meisten Zusammenhängen einen weit wichtigeren Status ein. Sie erscheint als eines mehrerer Elemente, von denen die »Gouvernementalisierung des Staates« (GO: 67) ausgegangen sei und taucht entsprechend zumindest in bestimmten Elementen unterschiedlicher Regierungsrationalitäten in modifizierter Weise wieder auf: So sind die Übereinstimmungen der Charakteristika der Pastoralmacht mit Foucaults Beschreibungen einer die Menschen führenden Polizei nicht zu übersehen, und entsprechend kann von dieser als »einer säkularisierten Form pastoraler Macht«91 gesprochen werden, deren Motto – »omnes et singulatim« – in Form polizeilicher Überwachung und Kontrolle »aller und jedes einzelnen« (GO: 49) Anwendung findet. Die ursprünglich dem Hirtenmodell entstammenden Elemente des Heilsgedanken, der in der Staatsraison zum Heil des Staates wird, und der Notwendigkeit des Gehorsams um seiner selbst Willen, der sich in der Ordnung der Souveränität findet (vgl. GO: 53), fließen ebenfalls in historisch jüngere politische Rationalitäten ein. Auch das, was Foucault als die zeitgenössische Gouvernementalité bezeichnet, ist offensichtlich affiziert von der Pastoraltechnologie: Die Dispositive der Sicherheit scheinen nach dem Vorbild des pastoralen Mottos zu funktionieren: »Das Interesse [...] jedes einzelnen der Individuen [...] und das Interesse als Interesse der Bevölkerung [...] werden die Zielscheibe und das fundamentale Instrument der Regierung der Bevölkerungen sein« (GO: 61). Zuletzt lasse sich 91 Lemke 1997: 167.

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auch die problematische Rolle des modernen Wohlfahrtsstaates zumindest teilweise als der Effekt einer Pastoralmacht, deren Rolle in stetigem »Sichern, Unterstützen und Verbessern des Lebens eines jeden einzelnen besteht« (KpV: 75), verstehen. Im Laufe seiner historischen Analyse will Foucault also immer wieder Aspekte der Pastoralmacht identifizieren können, die sich wie ein verborgener Faden durch die Geschichte der Gouvernementalité zieht und auf immer neue Weise durch die aktuellen Regierungsrationalitäten hindurchscheint. Wird diese historische These allerdings mit der inhaltlichen Charakterisierung der Pastoralmacht abgeglichen, so ergeben sich einige Unklarheiten. Die Untersuchung der Funktionsweise von Foucaults Pastoralmacht kann an ihrem zentralen Motto ansetzen: Omnes et singulatim, alle und jeder Einzelne. Der Hirte ist nicht nur für die Herde als ganze, sondern auch für das Wohl jedes einzelnen Schafes verantwortlich.92 Nicht zuletzt aufgrund dieses doppelgesichtigen Inhaltes ist Foucault von der analytischen Kraft des Konzeptes der Pastoralmacht überzeugt, da mit seiner Hilfe das Janusgesicht des Staates, der »sowohl individualisierend als auch totalitär ist« (KpV: 92), erklärt werden könne. Geht man von dieser Definition der Pastoralmacht aus, so könnte sie als Versuch aufgefasst werden, die doppelte Wirkungsweise von Disziplin und Regulierung, die Foucault in der Genese des Gouvernementalité-Projektes apostrophiert hatte, auf einen Begriff zu bringen. In diesem Fall werden jedoch die historischen Thesen Foucaults relativiert, da eine derart definierte Pastoralmacht erst mit dem Begriff der Bevölkerung auftauchen könnte, der dem disziplinären Polizeistaat des Merkantilismus schließlich noch völlig fremd gewesen sei. In einer zweiten Version der inhaltlichen Charakterisierung einer Pastoraltechnologie bricht Foucault wiederum mit der Doppelausrichtung der Omneset-singulatim-Definition und spricht nur noch von einer »individualisierenden Macht« (KpV: 66). Dieser zweite Definitionsstrang unterwirft also die Pastoralmacht gegenüber der ersten Definition einer spiegelbildlichen Reduktion, indem ihre historische Wirkkraft tendenziell auf die Zeit vor dem Auftauchen der Bevölkerung begrenzt bleibt und damit ihre Relevanz für das Zeitalter der 92 Die Zentralität dieses Mottos belegt auch sein Auftauchen in Foucaults Vortrag über die Pastoralmacht im Rahmen der Tanner-Lectures 1979: Omnes et Singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft. Vgl. auch das hieraus entnommene Zitat: »Allen schenkt er Aufmerksamkeit und verliert dabei keines aus den Augen. Er muß seine Herde insgesamt und im einzelnen kennen.« (KpV: 70)

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Sicherheitsdispositive in Frage gestellt wird. Bei genauerer Betrachtung erinnert diese Individualisierungs-Definition in den betreffenden Erläuterungen (vgl. vor allem KpV: 77) stark an Foucaults Ausführungen zu Bekenntniszwang und Gewissensprüfung in Der Wille zum Wissen; Phänomene, die schon in jenem Rahmen im Umfeld geistlicher Machtpraktiken verortet worden waren, jedoch ohne sie vom disziplinären Machtmodus abzugrenzen. Dies verweist auf das zentrale Problem des Verhältnisses zwischen Pastoralmacht und Disziplin. Zunächst ließe sich aufgrund der soeben erwähnten Ähnlichkeit vermuten, dass die Pastoralmacht nun in Foucaults Denken an die Stelle der Disziplin tritt, schließlich teilen beide Technologien das Ziel, einer lückenlosen Ausforschung und Kontrolle der Individuen. Auch ein weiterer Gedanke Foucaults weist in die Richtung einer solchen Interpretation. In Überwachen und Strafen wurden die Disziplinen in komplementärer Koexistenz mit dem Recht gesehen und bildeten eine Art »Gegenrecht« (ÜS: 287). Diese Rolle scheint nun das Pastorat zu übernehmen, denn Foucault unterscheidet »zwischen der auf Rechtssubjekte ausgeübten politischen und der auf lebendige Individuen ausgeübten Pastoralmacht« (KpV: 75). Aber diese Lesart der Pastoralmacht als Substitution der Disziplin hat schnell mit Inkonsistenzen zu kämpfen. Eine Bedeutungskongruenz zwischen beiden Begriffen kann nicht bestehen, da Foucault sich von dem einen zusehends zu lösen versucht, während der andere in den Mittelpunkt seines Denkens rückt. Vor allem kann ja unmöglich von einer Ersetzung gesprochen werden, da Foucault klarstellt, die Disziplin sei keineswegs »eliminiert« (GO: 63). Die Bedeutung des Begriffs der Pastoralmacht bleibt damit unscharf. Die im vorhergehenden Abschnitt herausgearbeiteten Probleme machen deutlich, dass Foucaults Versuch einer revidierenden Erweiterung der Machtanalytik viele Fragen offen lässt und weit davon entfernt ist, den Eindruck inhaltlicher Konsistenz zu erwecken. Die apostrophierte Homologie von Souveränität und Disziplin, denen nun die neue Technologie der Regierung und der Sicherheitsdispositive mit dem entsprechend revidierten Analyseraster gegenübergestellt wird, kann nicht überzeugen und zieht damit auch Foucaults neue Unterscheidung in Zweifel. Verstärkt werden diese konzeptionellen Schwierigkeiten durch den unklaren Status der Pastoralmacht, die sowohl in Richtung einer modernen Technologie der Sicherheitsdispositive als auch in Richtung einer individualisierenden Disziplin interpretiert werden kann – wenn auch beide Interpretationen in einem Spannungsverhältnis zu anderen Thesen Foucaults stehen. In beiden Versionen problematisiert die Pastoralmacht jedoch den Versuch der erweiternden Revision, da sie im Falle einer Interpretation in

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Richtung der Disziplin doch nicht in dieser aufgehen kann und damit der Verortung hinsichtlich der Unterscheidung Foucaults zwischen SouveränitätDisziplin und Regierung bedarf, wobei ihr Querstehen zu dieser Relation möglicherweise zur Relativierung des Unterschiedes führen könnte. Wird das Pastorat in Richtung einer integrierten Technologie der Sicherheitsdispositive interpretiert, die sich um alle und jeden Einzelnen sorgt, so beinhaltet sie einen Aspekt, der zumindest disziplinär anmutet und damit die Foucault’sche Unterscheidung unterläuft. Kurz, der schillernde Begriff der Pastoralmacht steht quer zu der Unterscheidung, die für Foucaults neue Machtanalytik entscheidend ist, und erweist sich damit als massives Hindernis für eine konsistente Weiterentwicklung, die den Epigonen der Gouvernementalité weiter aufgegeben bleibt. Die hier vorgelegte Kritik versteht sich nicht zuletzt als Kontrapunkt zu einer in den Governmentality Studies »immer wieder anzutreffenden Tendenz, die theoretische und methodologische Originalität Foucaults [...] zu überhöhen«93, der auch die Grenzen und vielfältigen Unwägbarkeiten seines Denkens gegenübergestellt werden müssen. Ebenso ist sie an einer Ausbalancierung der schon mehrfach positiv gewürdigten Arbeit Lemkes durch eine stärkere Betonung von Brüchen und Inkonsistenzen innerhalb des Gouvernementalité-Projektes interessiert. Nach dieser kritischen Analyse von Foucaults Denken des Staates, soll dieses nun mit Habermas’ Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates verglichen werden.

3.

Gouvernementalité und deliberative Politik – Staats- und Demokratietheorie im Vergleich

Die Umrisse beider Ansätze sind im Falle der hier verglichenen Phase unschwer zu erkennen. Foucault versucht, mit Hilfe einer historischen Untersuchung der Regierungsrationalitäten eine Analytik des Staates zu leisten, die strategisches Wissen über diesen bereitstellen soll. Habermas überträgt das Diskursprinzip auf Politik und Recht und entwirft eine zwar empirisch informierte, aber vornehmlich normativ ausgerichtete Demokratietheorie. Es liegt nahe, hier Potential für eine Komplementarität beider Ansätze zu vermuten. Dementsprechend sollen im Rahmen des folgenden Vergleichs anhand einiger Schlüsselbegriffe die 93 Lemke 2000: 44 f.

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Möglichkeiten einer Kompatibilität ausgelotet werden. Ausgehend von einer Betrachtung der Stellung des Rechts in beiden Konzepten werden die Haltungen in den Fragen von Zivilgesellschaft/Öffentlichkeit sowie des strategischen Handelns auf ihre Vereinbarkeit hin untersucht. Aufgrund des fragmentarischen Charakters der Gouvernementalité wird es für einen sinnvollen Vergleich erforderlich sein, auch auf Zusammenhänge aus anderen Phasen Bezug zu nehmen und die kritische Praxis Foucaults, sein gesellschaftliches Engagement, stärker mit einzubeziehen. Gerade Letzteres gewinnt für die Frage einer Kompatibilität der beiden Ansätze in dieser Phase an Bedeutung. 3.1 Das Recht Ein Vergleich der Kategorie des Rechts ist vor allem hinsichtlich des Foucault’schen Ansatzes mit Schwierigkeiten verbunden. Das Recht spielt über die unterschiedlichen Werkphasen hinweg in seinem Denken nur eine sekundäre Rolle.94 Dieser vergleichsweise niedrige Stellenwert hat zur Folge, dass Foucaults Position in dieser Frage alles andere als eindeutig ist. Die vielen verstreuten Bemerkungen, die sich sowohl in der Genealogie, der Ethik und auch in der Gouvernementalité finden, können als Indikatoren für sehr unterschiedliche Auffassungen Foucaults interpretiert werden. Daher soll hier zunächst ein Überblick über die schillernde Rolle des Rechts in Foucaults Konzepten gegeben werden. Allgemein lässt sich feststellen, dass mit Foucaults Neuorientierung hin zur Genealogie Anfang der siebziger Jahre eine weitgehende Marginalisierung des Rechts verbunden ist, die auf historischen wie methodologischen Erwägungen beruht. Das juridische Machtmodell, das laut Foucault um die Souveränität des Königs kreist und Macht in Begriffen der Unterdrückung und des Verbots zu fassen versucht, gilt für den Genealogen als prämodern. Da in der Gegenwart das disziplinäre Machtmodell eine relative Dominanz erlangt habe, müsse sich auch die Methode der Untersuchungen des Phänomens Macht anpassen. Das Resultat ist Foucaults Machtanalytik, die sich statt auf Recht und Gesetz auf Disziplin und Norm konzentriert, was auf eine weitgehende Vernachlässigung des Rechtsmediums hinausläuft. Doch schon in der Genealogie ist Foucault

94 »Therefore, if you like, I never stop getting into the issue of law and rights without taking it as a particular object.« (WOP: 415)

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nicht gänzlich entschlossen bezüglich des Verhältnisses beider Machtmodi.95 Hier lassen sich verschiedene Konzeptionen unterscheiden: Wohl am bekanntesten ist Foucaults Charakterisierung der Disziplinen als »eine Art Gegenrecht« (ÜS: 285). In der Erläuterung, die im unmittelbaren Anschluss folgt, scheint es so, als ob die Implikation dieser Einschätzung eine doch überraschend positive Würdigung des Rechts wäre. Das Recht wird in seiner Funktionsweise der Disziplin beinahe diametral gegenübergestellt, und geht man davon aus, dass es die Disziplinen sind, denen Foucaults kritische Aufmerksamkeit gilt, so erscheint das Recht in einem günstigen Licht. Gehe es im Recht um eine »vertragliche Verpflichtung« zwischen Individuen, so konstituiere die Disziplin ein davon zu unterscheidendes »Zwangsverhältnis«. Kommt es durch das Recht zu symmetrischen Beziehungen zwischen zwei Seiten, so zeichnet sich die Disziplin gerade durch die »ungleichen Positionen der verschiedenen ›Partner‹« (ÜS: 285 f.) aus. Doch der Eindruck einer Gegenüberstellung von Disziplin und Recht, die eine Möglichkeit der Wahl suggeriert, täuscht, denn Foucault sieht Recht und Disziplin in einer Art von Dualität vereinigt96 Dies bedeutet, dass das formal gleiche Recht mit seinen symmetrischen Beziehungen ein notwendiges Korrelat, ja, sogar die Voraussetzung für die Funktionsweise disziplinärer Macht darstellt. Die Disziplin verbirgt sich hinter den formalen Gleichheiten des Rechts, doch ihr so gesichertes Funktionieren unterminiert das Recht Stück für Stück, das zuletzt seiner realen Bedeutung weitgehend beraubt ist und nur noch die Mechanismen der Disziplin kaschiert.97 Das Recht wird damit zum Erfüllungsgehilfen der Disziplin, denn »nur unter der Bedingung, daß sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist die Macht erträglich« (WW: 107). Aus Foucaults Perspektive stellt sich dann das Verhältnis folgendermaßen dar: »Andererseits ermöglichte die Theorie der Souveränität und die Ausarbeitung auf ihr beruhender Gesetzesbücher, die Mechanismen der Disziplin einem Rechtssystem zu unterstellen, das deren Verfahrensweisen verschleierte und die der Disziplin eigene Herrschaft und immanen95 Wie oben erläutert, gilt diese Unentschlossenheit a fortiori für das Verhältnis von Souveränität (Recht), Disziplin und Sicherheit als unterschiedliche Machtmodi. 96 Vgl. Wickham/Hunt 1994: 46. 97 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass diese Interpretation Foucault auf eine Linie mit Horkheimer und Adorno bringen würde, da sich dann wie bei der frühen Frankfurter Schule hinter einer oberirdischen Geschichte des Rechts die eigentliche unterirdische Geschichte der Disziplin verbergen würde. Doch wie im Folgenden deutlich werden wird, existiert eine Vielzahl von Foucault’schen Hypothesen bezüglich des Verhältnisses von Recht und (Disziplinar-)Macht.

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te Herrschaftstechniken zum Verschwinden brachte.« (VG: 47) Diese in der Nähe marxistischer Rechtskritiken angesiedelte Vorstellung vom Recht als »Ideologie«,98 welche die Funktionsweise der tatsächlichen Machtmechanismen verschleiert, findet sich in noch radikalerer Form in Texten der frühen siebziger Jahre und während des Übergangs zur Gouvernementalité. Hier erscheint schon die grundsätzliche Vorstellung eines symmetrischen Rechts als Fiktion, das stattdessen immer eine Art »Siegerrecht« bleibe, da es immer die notwendigerweise asymmetrische Institutionalisierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse in Rechtsform darstelle.99 Diametral dieser Version entgegengesetzt ist die Formulierung, die Foucault an anderer Stelle benutzt. Hier ist die Rede von einer Kolonisierung des Rechts bzw. der Justiz durch die Disziplin (VG: 49). Foucault beobachtet beispielsweise »bei den Richtern ein rasendes Verlangen nach dem Messen, Schätzen, Diagnostizieren, Unterscheiden des Normalen und Anormalen« (ÜS: 392) und sieht dies als Beleg für das an, was man als eine zusehende Disziplinierung des Rechts bezeichnen könnte. Hiermit verbunden ist die von Foucault herausgearbeitete Verschiebung des strafrechtlichen Diskurses von der Bestrafung der Tat hin zur Klassifikation des Täters. Offensichtlich entspricht diese Konzeptionalisierung des Verhältnisses am ehesten den substantiellen Untersuchungen in Überwachen und Strafen. Daher überrascht es, dass sie sich gerade hier nicht explizit findet, wo stattdessen die Sichtweise eines nur noch »ideologischen« Rechts vorherrscht, das in seiner substantiellen Bedeutung im Verschwinden begriffen ist. Zuletzt findet sich eine Formulierung, die das Verhältnis von Recht und Disziplin in einem Kontinuum der Macht zwischen Zentrum und Peripherie verortet: »Ich habe die Macht am äußersten, immer weniger vom Recht bestimmten Rand ihrer Ausübung zu erfassen versucht.« (VG: 36) Während das Zentrum der Macht eher vom Recht geprägt erscheint, zerfasert die Macht zur Peripherie hin und kann hier als disziplinär erkannt werden. Dieses Bild lässt sich insofern in die Vorstellung vom Recht als Kaschierung der disziplinären 98 Vorwürfe bezüglich eines Klassenrechts bzw. einer Klassenjustiz im marxistischen Sinne leuchten nicht nur in Überwachen und Strafen, sondern auch in Foucaults Kommentar zur Affäre Bruay 1972 auf. Vgl. hierzu Eribon 1991: 355. 99 Vgl.: »Humanity does not gradually progress from combat to combat until it arrives at universal reciprocity, where the rule of law finally replaces warfare; humanity installs each of its violences in a system of rules and thus proceeds from domination to domination.« (NGH: 85) Ebenso: VG: 26. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass Foucault sich in der Vorlesung Zur Verteidigung der Gesellschaft mit seiner Relativierung der Kriegshypothese auch von dieser radikalen Rechtskritik entfernt.

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Macht integrieren, als Foucault damit seine Forschungsstrategie darlegt, um diese Funktion des Rechts sichtbar zu machen. Aber das Bild kann auch als ein weiterer Vorschlag bezüglich des Verhältnisses von Disziplin und Recht verstanden werden, nämlich dann, wenn die Formulierung nicht nur epistemologisch, sondern auch ontologisch verstanden wird: Macht kann nicht nur ausschließlich an der Rändern erkannt werden, sondern sie existiert auch nur dort. Die kurz dargestellten Vorstellungen über das Verhältnis von Disziplin und Recht dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dieser Relation nur um einen Nebenschauplatz handelt. Im Allgemeinen geht Foucault davon aus, dass das Recht als Steuerungsinstrument und Machtmodus völlig obsolet ist und es daher ebenso wenig wie sein Verhältnis zur Disziplin genauere Beachtung verdient. Das Juridische ist eine Art Dinosaurier der Macht, »ist es doch den neuen Machtverfahren völlig fremd, die nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der Kontrolle.« (WW: 110 f.) Zumindest für den Genealogen liegt die Annahme nahe, dass das ineffektive Instrument des Rechts als solches zusehends verschwindet und nur noch in seiner »ideologischen« Funktion weiterlebt. Läuft Foucaults Ansatz also zumindest in der genealogischen Phase auf eine »expulsion of law«100 hinaus, so scheint sich diese Marginalisierung nicht nur auf das Recht, sondern auch auf die Bedeutung von Rechten zu erstrecken. Im Vorwort zum Anti-Ödipus lautet eine der Widerstandsmaximen: »Verlange von der Politik nicht die Wiederherstellung der ›Rechte‹ des Individuums, so wie die Philosophie sie definiert hat!« (AÖ: 229. Darüber hinaus erscheint es Foucault naiv, sich gegen die Disziplin auf das Recht bzw. die Rechte zu berufen (vgl. VG: 50). Vor allem hat jedoch folgende Formulierung zu einer vorherrschenden Interpretation geführt, die Foucault unterstellt, die Bedeutung von Rechten für Widerstand und politische Kämpfe zu verkennen: »The liberty of men is never assured by the institutions and laws that are intended to guarantee them [...] Not because they are ambiguous, but simply because ›liberty‹ is what must be exercised.« (SKP: 339) In den Augen vieler Kommentatoren verrät sich vor allem in diesem Zitat eine problematische Ignoranz gegenüber der Bedeutung kodifizierter Rechte, die implizit eine Vielzahl politischer Kämpfe delegitimiert, in denen es gerade um das Einfordern solcher kodifizierter Rechte geht.

100 Wickham/Hunt 1994: 55.

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Doch diese scheinbar gänzliche Marginalisierung von Recht und Rechten von Seiten Foucaults ist nicht eindeutig, und gerade in den post-genealogischen Phasen weicht seine radikal rechtskritische Haltung doch zumindest in gewissem Maße auf. Dies ist nicht zuletzt auf Foucaults Versuch einer Revision der Machtanalytik zurückzuführen, die weiter oben diskutiert wurde. Einerseits tritt nun an die Stelle des Gegensatzes zwischen Recht und Disziplin die Gegenüberstellung von Recht und Disziplin auf der einen und Sicherheit auf der anderen Seite. Damit würden die oben erläuterten Entwürfe zum Verhältnis von Disziplin und Recht in gewisser Weise obsolet. Allerdings konnte in der Diskussion dieses Revisionsversuchs gezeigt werden, dass die neu eingeführte Unterscheidung keineswegs gänzlich plausibel ist. Wichtiger noch als dieser Punkt ist jedoch Foucaults Festlegung auf ein Nebeneinander verschiedener Machttypen, die in der Rede vom Dreieck Souveränität-Disziplin-Sicherheit zum Ausdruck kommt. Damit gewinnt natürlich auch wieder die Analyse des Rechts und seines Verhältnisses zu den anderen Machtmodi an Relevanz. Im Rahmen der Untersuchungen zur Gouvernementalité betont Foucault ebenfalls stärker die Bedeutung des Rechts – auch für moderne Regierungsrationalitäten. Insbesondere die Analyse der liberalistischen Gouvernementalité kann nur schwer über die Bedeutung des Rechts und der Rechte für diese Rationalität hinweggehen.101 Je nachdem, aus welcher Perspektive betrachtet, fungiert das Recht einerseits als Steuerungsinstrument, das gerade durch seine Allgemeinheit, welche es zuvor in den Augen Foucaults als effektives Regulationsinstrument disqualifiziert hatte, die für den Liberalismus zentrale Freiheit und Initiative der Individuen zum Zuge kommen lässt und sie nur im Sinne eines äußeren Rahmens beschränkt. Andererseits wird aus der Perspektive der Individuen ihre Willkürfreiheit durch verbriefte Rechte umhegt, die der Staat aus mehreren Gründen zu achten hat: »Die Freiheit ist unabdingbares Element des Regierungsdenkens selbst geworden. Sie nicht zu achten, ist ein Mißbrauch des Rechts im Bezug aufs Gesetz, aber es bedeutet auch, nicht zu regieren wissen.« (SW: 43) Es ist unklar, ob Foucaults Festlegung auf ein Nebeneinander der Machtmodi die Voraussetzung für diese materialen Studien darstellen, oder ob sie es sind, die zu der historisch-methodologischen Entscheidung geführt haben. Jedenfalls kann kein Zweifel daran bestehen, dass es in Foucaults Denken in der Phase der Gouvernementalité im Vergleich zu den vorgehenden Phasen zu einer relativen Renaissance des Rechts kommt. In diesem Zusammenhang ist 101 So auch Wickham/Hunt, ibid.: 55.

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auch eine gewisse Entdogmatisierung der Vorstellung bezüglich des Rechts zu verzeichnen, das zuvor immer als Negativfolie für die Disziplin herhalten musste und oftmals vor allem die Funktion hatte, in seiner Ineffizienz und grobschlächtigen Stumpfheit die feinen Regulationsmechanismen der Disziplin in einem umso »helleren« Licht erstrahlen zu lassen. Diese verzerrende Darstellung weicht in den Untersuchungen zur Gouvernementalité einem differenzierteren Verständnis bezüglich der Rolle des Rechts: »The previous conception of law as a totalising and transcendent unity is superseded by the historically specific production of regulatory devices that mediate between state and civil society and between state and individual.«102 Diese Neuorientierung Foucaults hätte Anlass sein können, die Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und Disziplin, ergänzt durch das neue Element der Sicherheit noch einmal aufzunehmen, und es gibt Äußerungen Foucaults, die dafür sprechen, dass das Recht stärker in den Mittelpunkt seines Denkens rücken sollte,103 aber dazu ist es nicht gekommen. Auf der Grundlage der differenzierteren Sichtweise des Rechts wäre es vor allem möglich gewesen, Foucaults Kolonisierungsthese des Rechts durch die Disziplin – und auch die Sicherheit – weiter auszuarbeiten. Gerade die Untersuchungen zur Gouvernementalité legen nahe, dass das Recht durchaus in der Lage ist, die Imperative unterschiedlicher Regierungsrationalitäten in sich aufzunehmen und keineswegs das starre prämoderne Steuerungsmittel ist, das daher in den Augen des Genealogen Foucault relativ obsolet werden musste. Wie sehr das Recht den disziplinären Machtmodus aufnehmen kann, hatte sich schon in Foucaults Analysen in Überwachen und Strafen sowie dem Willen zum Wissen gezeigt: Die Bestrafung der Tat aufgrund allgemeiner Gesetze wich hier zusehends der individuellen Klassifikation der Täter mit dem Ziel ihrer Normalisierung. Im Rahmen der Gouvernementalité-Phase wird sich Foucault bewusst, dass auch die »disziplinäre« Regierungsrationalität der Staatsraison durchaus auf das Recht zurückgreift, das zunehmend auf der Basis minutiöser Verordnungen operiert.104 Doch entgegen Foucaults Perspektive, der in dieser Phase ja auch deshalb dazu geneigt ist, ein Einwandern der Disziplin in das Recht 102 Ibid. 103 Kurz vor seinem Tod formuliert Foucault noch eine zukünftige Forschungsagenda und erläutert sie mit den Worten: »There again I would have to cross into the problem of law, the rights of people and international law.« (WOP: 415) 104 Vgl.: »Wir sehen uns einer Welt unbegrenzter, permanenter Verordnung gegenüber, die immer detailreicher wird. Trotz allem eine juridische Form, eine Welt der Disziplin.« (SW: 41)

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plausibel zu machen, weil beiden Machtmodi ja nun die Sicherheit als tatsächlich produktiver zeitgenössischer Machtmodus gegenübergestellt werden soll, ließe sich mit Blick auf aktuelle Strafrechtsentwicklungen durchaus argumentieren, dass sich das Recht auch den Imperativen der Sicherheit öffnen kann. Hervorstechendstes Beispiel wären hier wohl die Novellen im britischen Jugendstrafgesetz, die Foucaults Rede von einer aufkommenden Sicherheitsgesellschaft retrospektiv einiges an Relevanz verleihen.105 Nicht nur in der Frage des Rechts, vor allem auch in der Frage der Rechte lassen sich gegen die Foucault im Allgemeinen unterstellte Marginalisierung Einwände formulieren. An erster Stelle muss hier eine veränderte Bewertung von Foucaults Rede über die Freiheit als Praxis, die niemals durch kodifiziertes Recht garantiert werden könne, stehen. Nur wenn hier ein falsches Nullsummenspiel zwischen Freiheit als Recht und als Praxis aufgebaut wird, lässt sich aus dem Zitat eine Unterbewertung von verbrieften Rechten ableiten. Tatsächlich müssen Rechte praktiziert werden, sie müssen ausgeübt, immer wieder neu gefordert und in Anspruch genommen werden, denn ansonsten enden sie im rechtssoziologischen Sinn als »totes« Recht.106 Aus dieser Perspektive entdramatisiert sich Foucaults Einlassung zu einer rechtssoziologischen Trivialität, und als solche steht sie einer veränderten Bewertung bezüglich Foucaults Wertschätzung von Rechten nicht länger im Wege. Diese erscheint angebracht, denn gerade in Interviews der späten siebziger und frühen achtziger Jahre betont Foucault wiederholt die Wichtigkeit von Rechten: »Human rights regarding sexuality are important and are still not respected in many countries.« (SPPI: 383) Er spricht sich dagegen aus, »daß wir die Menschenrechte oder die Freiheit fallen lassen sollten« (FS: 22) und die Neuen Sozialen Bewegungen lobt er, da sie sich für ein Recht des Andersseins einsetzten (vgl. SaP: 211 f.). Grundsätzlich hält er Rechtsregeln auch für relevant im Zusammenhang mit dem Ziel, Machtspiele mit möglichst geringen Herrschaftseffekten zu spielen: »Ich meine, man muß dieses Problem in Ausdrücken der Rechtsregeln, der vernünftigen Regierungstechniken und des Ethos, der Praxis des Selbst und der Freiheit 105 Vgl. Hoyle/Rose 2001 und Morris 2001. Natürlich ist das Thema »Sicherheit« vor allem durch die Ereignisse des 11.09.2001 in den Vordergrund gerückt. Die Vielzahl der in der Folge verabschiedeten «Sicherheitspakete» liefern beredtes Zeugnis hiervon. Allerdings scheinen mir in den gesetzlichen Regelungen eher disziplinäre Effekte als diejenigen des Sicherheitsdispositivs im Foucault’schen Sinne zu überwiegen. 106 Vgl. hierzu die Erläuterungen von Honig 2001: 800, die sich mit Habermas’ Rechtsverständnis auseinandersetzt.

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fassen.« (FS: 26) Darüber hinaus hält Foucault zwar die Bezugnahme auf das Recht gegen die Disziplin für naiv, doch im unmittelbaren Anschluss spricht er von einem »neuen Recht«, auf das gegen die Macht Bezug genommen werden müsse/könne, »das anti-disziplinarisch, aber zugleich vom Prinzip der Souveränität befreit wäre« (VG: 50), wobei diese doppelte Negation, wie bei Foucault üblich, mit keiner positiven Formulierung ergänzt wird, so dass vage bleibt, was mit diesem neuen Recht gemeint sein könnte. Am deutlichsten kommt die gesteigerte Bedeutung, die der späte Foucault Rechten zumisst, wohl in der berühmten Boat-People-Erklärung zum Ausdruck: »Es gibt eine internationale Bürgerschaft, die ihre Rechte und Pflichten hat und sich dafür einsetzt, jedem Machtmißbrauch entgegenzutreten, von wem er auch ausgehen mag und welches auch seine Opfer sein mögen. [...] Es ist eine Pflicht dieser internationalen Bürgerschaft, den Regierungen fortgesetzt mit den Mißgeschicken der Menschen in Augen und Ohren zu liegen [...] Das Unglück der Menschen darf nie ein stummer Rest der Politik bleiben. Es begründet ein absolutes Recht, sich zu erheben und gegen diejenigen zu wenden, die über die Macht verfügen.«107

Diese Würdigung von Rechten darf nicht unterschätzt werden. Zwar finden sich die hier wiedergegebenen Formulierungen vor allem im Zusammenhang mit Fragen kritischer Praxis – auch diejenige Foucaults108 –, aber dennoch handelt es sich um Indikatoren für eine nicht zu vernachlässigende Entwicklung in Foucaults Denken. Eine explizite Inanspruchnahme von Rechten gegenüber den Regierenden wie auch die Betonung von Rechten im Kontext von Widerstandspraktiken wären in den Hochzeiten der Genealogie undenkbar gewe107 Zitiert nach Eribon 1991: 400 f. In die gleiche Richtung weist das schon im Vergleich der Ethiken zitierte Postulat Foucaults. Demzufolge »haben wir als Regierte das gute Recht, Fragen nach der Wahrheit [an den Staat, T. B.] zu stellen« (Ästhetik: 139). 108 Betrachtet man die Aktivitäten Foucaults, so fällt auf, wie sehr er sich auf die Existenz und Einhaltung von Rechten beruft. Schon einem Fragebogen, den Foucaults GIP Anfang der siebziger Jahre verteilt, liegen die Zeilen bei: »Man behandelt die Inhaftierten wie Hunde. Die wenigen Rechte, die sie haben, werden nicht respektiert.« Zitiert nach Eribon 1991: 323. Noch viel deutlicher tritt diese Betonung ab Mitte der siebziger Jahre hervor. In der Affäre Croissant meldet sich Foucault im Nouvel Observateur zu Wort: »Es ist allgemeines Recht, einen Anwalt zu haben, der für Sie spricht, mit Ihnen spricht, der es Ihnen ermöglicht, sich Gehör zu verschaffen und Ihr Leben zu schützen [...] Dieses Recht ist keine juristische Abstraktion und kein verträumtes Ideal, dieses Recht ist Bestandteil unserer historischen Realität und darf nicht daraus getilgt werden.« Zitiert nach Eribon 1991: 371. Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Wortmeldungen folgert Ingram, dass Foucault bestimmte Rechte in seinem Engagement immer schon voraussetzen müsse. Vgl. Ingram 1994: 230 f.

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sen.109 Erst mit der Relativierung der Kriegshypothese, dem Eintritt in die Phase der Gouvernementalité und der damit einhergehenden Neubewertung des Rechts werden diese Einschätzungen Foucaults möglich. Wie lässt sich nun diese Vielfalt der Positionen zum Rechtsverständnis Habermas’ in Bezug setzen? Fest steht, dass Habermas’ Position in der Diskurstheorie des Rechts nicht einmal ansatzweise Gemeinsamkeiten mit der Position des Genealogen Foucault aufweist. Dessen völlige Marginalisierung des Rechts, das allenfalls noch die »wirklichen Machtmechanismen« (ÜS: 285) der Disziplin verschleiern kann, aber immer ein parteiliches Recht der Überlegenen in gesellschaftlichen Machtspielen bleibt, lässt sich schlechthin nicht mit Habermas’ doch weitgehend positiver Würdigung des Rechts vermitteln. Ein punktuelle Berührung gibt es zwischen der Behauptung Foucaults, das Recht versuche disziplinäre Mechanismen zu recodieren, und dem Habermas der TKH, da beide von einem Verrechtlichungseffekt ausgehen. Von einer systematischen Kompatibilität kann hier jedoch nicht die Rede sein, zumal die vornehmlich vertretene Position des Genealogen ja eher auf eine »Entrechtlichung« zugunsten der Disziplin hinausläuft und damit eher einen Kontrapunkt zur Diagnose Habermas’ liefert. Vermittelbar wären wiederum Foucaults Kolonisierungsthese und die kritischen Anmerkungen, die Habermas zu den normalisierenden Effekten des liberalen und des sozialstaatlichen Rechtsparadigmas macht. Um den Gehalt dieses von Foucault geprägten Begriffs, den Habermas tatsächlich in neueren Publikationen verwendet, in stärkerem Maße auszuschöpfen,110 wäre die Analyse des Rechts als eines Machttyps, der die Imperative anderer Machtmodi in sich aufzunehmen vermag, von großem Wert. Doch trotz allem ist festzuhalten, dass zwischen den beiden Konzeptionalisierungen und Bewertungen des Rechts eine beträchtliche Kluft besteht: Schließlich bietet Habermas mit dem Diskursparadigma einen Lösungsvorschlag für das Dilemma eines zwischen liberalem und sozialstaatlichem Paradigma hin und her pendelnden Rechts und kann daher unter der Voraussetzung, dass das neue Paradigma tatsächlich umgesetzt wird, zu einer äußerst positiven Würdigung gelangen. Die Hoffnungen, die Habermas hier an ein richtig, also diskursiv verstandenes Recht knüpft, dürften selbst der im Ver109 Coles’ Meinung, nach der für Foucault gilt, »yet for all this, he does not claim that we should reject the discourse of right but belongs to this discourse, ironically [...]« bedarf daher zumindest der Qualifizierung (Coles 1992: 89). 110 Ashenden betont zu Recht, dass Habermas die Gehalte des Begriffs nicht aufnimmt. Vgl. Ashenden 1999: 155.

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gleich zur Genealogie weit weniger radikalen Sichtweise des Foucaults der Gouvernementalité immer noch recht fremd bleiben. Immerhin geht Habermas so weit, dem Recht die Einspeisung im lebensweltlichen Diskurs gewonnener moralischer Imperative in die ehemals völlig entkoppelten Systeme zuzutrauen. Als Regulationsinstrument kehrt das Recht zwar wieder zurück in die Analysen zur Gouvernementalité, doch als Analytiker von Regierungsrationalitäten, deren Mittel unter anderem das Recht ist, muss Foucault skeptisch gegenüber jeglicher Art von Steuerungsinstrument bleiben, zumal der für Habermas’ Sichtweise konstitutive Nexus zwischen Recht und Demokratie in Foucaults Analyserahmen keinen Platz hat. Am ehesten ließe sich diese Sichtweise der Gouvernementalité wohl wiederum auf Habermas’ Unterscheidung zweier Rechtstypen – Recht als Institution und Recht als Medium – aus der TKH beziehen. Das beständig anwachsende Recht als Medium erscheint hier ebenfalls weitgehend entkoppelt von demokratischer Willensbildung, exekutivisch geprägt und ganz auf seinen Aspekt als Regulationsinstrument verengt. Die Analysen der problematischen Wirkungsweisen eines solchen Rechts könnten sich durchaus sinnvoll ergänzen. Betrachtet man die Gesamtheit dieser Vielzahl von Relationen so wird deutlich, dass es in der Frage des Rechts allenfalls einige punktuelle Berührungen gibt, in denen sich die Ansätze auf sinnvolle Weise ergänzen können. Mit besonderem Blick auf das Verhältnis der Gouvernementalité zur Diskurstheorie des Rechts lässt sich wohl noch am ehesten von einem fruchtbaren Spannungsverhältnis sprechen, in dem eine möglicherweise zu optimistische Sichtweise Habermas’ durch eine nüchterne Skepsis von Seiten Foucaults ausbalanciert wird. Etwas günstiger liegen die Dinge in der Frage der Rolle von Rechten. Dass Habermas Rechten, nicht zuletzt Kommunikations- und Teilhaberechte, eine grundlegende Bedeutung für das Funktionieren deliberativer Politik zumisst, steht außer Frage. Mit dem Eintritt in die Phase der Gouvernementalité lässt sich auch für Foucault eine deutlich gestiegene Wertschätzung bezüglich der Relevanz von Rechten als Grundlage und Ziel von Widerstandspraktiken verzeichnen. Im Falle einer tief gehenden Kontroverse in diesem Punkt hätte hieraus eine gewichtiges Sperrpotential gegenüber einer Vermittlung von strategischer Staatsanalyse und normativer Demokratietheorie erwachsen können. Mit Blick auf Foucaults Entwicklung kann dies jedoch verneint werden.

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3.2 Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft Auch wenn die Begriffe der Lebenswelt in der TKH und der Öffentlichkeit in Faktizität und Geltung auf den ersten Blick mehr Raum einnehmen, so bildet dennoch das Konzept der Zivilgesellschaft eine nicht zu vernachlässigende Ressource für das Denken Habermas’. Immer wieder betont Habermas die Bedeutung dieser Sphäre entstammender Akteure, und die Anstöße, die über eine funktionierende Öffentlichkeit in das politische System eingebracht werden sollen, stammen letztlich aus den Peripherien einer Zivilgesellschaft. In Foucaults Denken taucht der Begriff erst mit den Studien zur Gouvernementalité auf. Da die Genealogie noch keinen Staat kennt bzw. diesem wenig konzeptionelle Beachtung schenkt, bleibt auch die Zivilgesellschaft als dessen Pendant irrelevant. Doch insbesondere im Zusammenhang mit der liberalen Regierungsrationalität stößt Foucault auf die Frage des Verhältnisses zwischen diesen beiden Sphären, das schließlich eine zentrale Problematik des Liberalismus darstellt: Welchen Freiraum muss die post-disziplinäre Regierungsrationalität den Individuen lassen und welchen Rahmen muss der Staat diesen Freiheiten setzen? Da Foucault das Konzept der Zivilgesellschaft als ein Produkt liberaler Gouvernementalité ansieht, überrascht seine skeptische Haltung mit Bezug auf diesen Begriff keineswegs: »I hold that the theoretical opposition between the state and civil society which traditional political theory belabors is not very fruitful.« (RoM: 163 f.) An anderer Stelle spricht Foucault vom »Problem des Staates in seinem Gegensatz zur Zivilgesellschaft« und der im Vergleich hierzu weit wichtigeren »Analyse der Art und Weise, wie man diesen Gegensatz in Gang gebracht hat« (SPH: 70). Foucault denkt die Zivilgesellschaft von den Regierungsrationalitäten her und entfaltet damit eine recht ernüchternde Wirkung bezüglich des Konzeptes. Aus dem liberalistischen Denken, so heißt es in lapidaren Worten, ergibt sich folgende politische Aufgabe: »Der Staat hat für eine Zivilgesellschaft zu sorgen und muss deren Verwaltung sicherstellen.« (SW: 42) Mit diesem Ansatz werden die emanzipatorischen Konnotationen entzaubert, die oftmals mit dem Begriff der Zivilgesellschaft verbunden sind; aus Foucaults Perspektive ist der vermeintlich autonome Widerpart des Staates kaum mehr als dessen Anhängsel, entstanden aus den Erwägungen einer bestimmten Regierungsrationalität. Die Zivilgesellschaft in autonomer Staatsferne zu konzeptionalisieren wäre inadäquat, »denn eben die Taktiken des Regierens gestatten es, zu jedem Zeitpunkt zu bestimmen, was in die Zuständigkeit des Staates gehört und was nicht in die Zuständigkeit des Staates gehört, was öffentlich ist

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und was privat ist, was staatlich ist und was nicht staatlich ist.« (GO: 66) Damit verbietet es sich, die Trennung der beiden Sphären als reifizierte Grenzziehung aufzufassen: Diese Grenzziehung ist Gegenstand staatlichen Handelns, aus einer scheinbar naturwüchsigen wird eine staatlich konstituierte Zivilgesellschaft. Inwieweit konfligiert nun Habermas’ relative Wertschätzung mit Foucaults Skepsis gegenüber den emanzipatorischen Potentialen einer Zivilgesellschaft? In der Sekundärliteratur findet sich die Einschätzung, dass am Konzept der Zivilgesellschaft eine Kooperation der beiden Ansätze scheitern müsse. Der für Habermas so wichtige Begriff sei für Foucault inakzeptabel, denn »it is based on a juridical account of power inadequate to the task of analysing modern strategies of government«111. Doch wie in vielen anderen Fällen muss auch hier vor einer vorschnellen Umdeutung eines graduellen Konflikts zu einer kategorischen Unvereinbarkeit beider Positionen gewarnt werden. Tatsächlich müsste in zwei Extremfällen von einer grundsätzlichen Divergenz ausgegangen werden, die eine sinnvolle Vermittlung zwischen beiden Haltungen wohl undenkbar machen würde. Einer der beiden Fälle läge dann vor, wenn für Habermas’ Seite eine Idealisierung und Naturalisierung der Zivilgesellschaft unterstellt werden müsste. Wird die Zivilgesellschaft zu einer naturwüchsigen Sphäre der Emanzipation hochstilisiert, deren Bewohner vom Standpunkt einer vollständigen Exteriorität mit ihren Bedürfnissen und Interessen an das politische System herantreten und umgekehrt in beständiger Gefahr leben, in ihrer natürlichen Freiheit von diesem und anderen Systemen unterdrückt zu werden, so bildet die Foucault’sche Skepsis ein unüberwindliches Sperrpotential für eine Kompatibilität. Wie weiter oben ausführlich erläutert, ist Habermas insbesondere im Zusammenhang mit der TKH einer Idealisierung der Lebenswelt vorgeworfen worden; ein Vorwurf, der mutatis mutandis auch dem Begriff der Zivilgesellschaft gilt, ist doch der erste Begriff in seinem gesellschaftlichen Aspekt eng mit dem zweiten verwandt. Die Diskussion dieses Vorwurfs hat jedoch gezeigt, dass er in dieser Schärfe keineswegs aufrechterhalten werden kann, da die Lebenswelt bzw. die Zivilgesellschaft in der TKH keineswegs als Hort einer schon realisierten Emanzipation gelten, sondern hier allenfalls diesbezügliche Potentiale lokalisiert werden, deren Verwirklichung Habermas an bestimmte Bedingungen knüpft, die durchaus zur Skepsis Anlass bieten können.

111 Ashenden 1999: 143.

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Foucaults Position wäre dann unvermittelbar, wenn das Verhältnis von Staat/Regierungsrationalität und Zivilgesellschaft in den GouvernementalitéStudien analog zum Verhältnis von Macht und Subjekt in der Genealogie gedacht würde, insofern, als die vermeintlich mit Widerstandspotentialen ausgestattete Variable als ein Effekt der Variablen verstanden wird, gegen die Widerstand geleistet werden soll. So wie es kein Außen der Macht gab, gäbe es nun keine Exteriorität zu den Regierungsrationalitäten, und etwaige Widerstandspotentiale der Zivilgesellschaft würden so schon auf der theoretischen Ebene frustriert. Doch auch diese Extremposition würde Foucault wohl zu Unrecht zugeschrieben. Auch wenn die Zivilgesellschaft in ihrer staatlichen Konstituierung ernst genommen wird, so bedeutet dies noch nicht automatisch, dass sie als Sphäre, in der Interessen artikuliert, Bewegungen initiiert und Konflikte mit dem Staat ausgetragen werden können, disqualifiziert wäre, weil hinter all dem letztlich doch nur die Rationalität der Regierung steht. Gerade im Vergleich zur holistischen Rhetorik der Genealogie in Fragen der Disziplinargesellschaft erweisen sich die Formulierungen der Gouvernementalité als relativ moderat. Foucault geht es offensichtlich nicht um eine gänzliche Disqualifizierung der Zivilgesellschaft, wohl eher um eine Problematisierung. Anhand dieser Explikationen lässt sich zeigen, dass die Ansätze von Habermas und Foucault durchaus geeignet sind, sich in der Frage der Zivilgesellschaft auf fruchtbare Weise zu ergänzen: Die Selbstverständlichkeit, mit der Habermas die Zivilgesellschaft dem politischen System entgegensetzt und damit zumindest ansatzweise ihren konstituierten Charakter aus dem Blick verliert, wird durch Foucaults Skepsis gegenüber dieser Unterscheidung auf fruchtbare Weise in Frage gestellt. Umgekehrt wird Foucaults Neigung, die Zivilgesellschaft einzig als Effekt des Staates zu denken, durch Habermas’ Betonung rechtsstaatlich-demokratischer Elemente ausbalanciert, durch die der Staat wiederum zumindest in minimalem Umfang Rückbindung an die Individuen und Assoziationen der Zivilgesellschaft erfährt. Durch eine Kombination beider Ansätze lassen sich so die jeweilig vorhandenen Gefahren einer zu einseitigen Betrachtung dessen, was letztlich eine bestimmte Ausformung der allgemeinen Dialektik von Strukturen und – in diesem Fall zivilgesellschaftlichen – Akteuren darstellt, vermeiden. Nahe verwandt mit dem Konzept der Zivilgesellschaft ist das der Öffentlichkeit. Die Diskussion über mögliche Vermittlungen beider Haltungen in diesem Punkt nimmt die Frage aus dem Vergleich der Ethiken wieder auf, inwieweit Habermas’ Betonung der Notwendigkeit von Diskursen mit Foucaults

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Skepsis hinsichtlich der Machteffekte jeglicher Kommunikation vereinbar ist. Betrachtet man Habermas’ Öffentlichkeitskonzept so bezeichnet sie vor allem einen gesellschaftlichen Raum, in dem kommunikatives Handeln stattfinden kann. Durch den Fluss der Kommunikation sollen Argumente ausgetauscht und Meinungen formiert werden können, um am Ende das zu bilden, was Habermas nun in Anschluss an Hannah Arendt kommunikative Macht nennt. In diesem Begriff vereinen sich Konnotationen von Einverständnis und Solidarität mit dem Aspekt von Macht, der sich auf die Ausübung von Druck bezieht. Inwieweit ist es nun möglich, diese Vorstellungen Habermas’ mit Foucaults Ansichten über Öffentlichkeit zu vermitteln? Um diese Frage mit Blick auf Foucault zu beantworten, müssen mehrere Umwege gegangen werden, da die Bedeutung von Öffentlichkeit nur selten thematisiert wird. Abgesehen von diesen wenigen verstreuten Anmerkungen tragen vor allem Foucaults Ansichten zur Bedeutung von Kommunikation zu einer Beantwortung der Frage bei, nämlich dann, wenn die öffentliche Sphäre in ihrer Funktion als Ermöglichung von Kommunikation – im Habermas/KantJargon dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft – betrachtet wird. Lässt so zum einen Foucaults Haltung zur Bedeutung von Kommunikation Rückschlüsse zu, so gilt dies zum anderen auch für seine eigene kritische Praxis, die hier abermals mit einbezogen werden sollte. In Kombination liefern beide Herangehensweisen ausreichende Hinweise, um Foucaults weitgehend implizite Haltung zum Thema Öffentlichkeit zu rekonstruieren. Die wenigen Passagen, die ausdrücklich auf Fragen im Zusammenhang mit der öffentlichen Sphäre oder auch Medien eingehen, lassen eine Verbindung der Ansätze in dieser Hinsicht durchaus als denkbar erscheinen. Foucaults Bild ist das einer im Normalfall von hegemonialen Diskursen beherrschten Öffentlichkeit, in der Informationen nicht frei flottieren können und vor allem die unterworfenen Wissen keinen Zugang zum Informationssystem haben. Entsprechend postuliert Foucault eine zumindest punktuelle Erschütterung dieser Hegemonie, die sich mit Hilfe mehrerer komplementärer Strategien erreichen lassen soll:112 »Das Problem besteht darin, die Informationskanäle, -brücken, -mittel, die Radio- und Fernsehnetze, die Zeitungen zu vervielfältigen.« (MP: 17) Dementsprechend solle sich eine Medien- und Öffentlichkeitskritik nicht auf das Ziel beschränken, schlechte Informationen aus dem Informationssystem 112 Die zweite Strategie wird im Zusammenhang mit Foucaults eigener kritischer Praxis erläutert.

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herauszufiltern: »Man müßte eher die Hin- und Her-Wege und -Möglichkeiten vermehren.« (MP: 18) Den restriktiven Effekten hegemonialer Diskurse soll also durch eine Proliferation der Kommunikationsketten begegnet werden.113 Die Logik dieser Strategie scheint entsprechend darauf abzuzielen, die Kontrollversuche, die sich keineswegs ausschließlich als Verbot manifestieren müssen, durch eine unübersichtliche Vielzahl der Kommunikationsmittel und -kanäle zu frustrieren. Suggeriert Foucault hier die Notwendigkeit, Kommunikationen und Diskurse zu vervielfältigen, so ist diese Forderung weit von dem Genealogen entfernt, der gerade die Anreizung zu Diskursen als eine Strategie der Macht bezeichnet hatte. Konnte im Vergleich der Ethiken zumindest schon plausibel gemacht werden, dass Foucaults Haltung nicht auf die Extremposition einer völligen Diskurs- bzw. Kommunikationsverweigerung hinausläuft, so stellt sich nun die Frage, ob vor allem der späte Foucault sogar tatsächlich noch weiter geht und Kommunikation und Diskurs nicht nur toleriert, sondern auch als Grundlage möglicher Widerstandsstrategien gelten lässt.114 Zwar finden sich bis hin zu Der Wille zum Wissen Formulierungen, die diese Möglichkeit auszuschließen scheinen,115 aber schon in Überwachen und Strafen lässt sich ex negativo eine gewisse Wertschätzung von Kommunikation, und genauer, horizontaler/symmetrischer Kommunikation erkennen, auf die auch schon weiter oben hingewiesen wurde (vgl. Kap. III 3.2.5). Foucault beschreibt die Wirkungen der Macht vor allem als isolierend. Die Voraussetzung hierfür ist die Unterbindung oder Kontrolle von Kommunikation zwischen den Subjekten, da es ansonsten zur Entwicklung solidarischer Beziehungen und »gefährlicher« Assoziationsbildung kommen kann: Die Disziplin »muß die Wirkungen der Gegenmacht neutralisieren, die der beherrschenden Macht Widerstand entgegensetzen: Unruhen, Aufstände, spontane Organisationen, Zusammenschlüsse – alle Formen horizontaler Verbindung« (ÜS: 282).116 Zumindest für die Disziplin gilt explizit, dass sie auf 113 Foucault spricht auch von einer »Differenzierung und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Netze« (MP: 18). 114 In der Sekundärliteratur findet sich allein bei Owen eine solche Einschätzung, der von einem »commitment to publicity« bei Foucault spricht (Owen 1996: 136). 115 In Überwachen und Strafen heißt es: »Die Kreise der Kommunikation sind die Stützpunkte einer Anhäufung und Zentralisierung des Wissens« (ÜS: 278). Vgl. auch: »In other words: the more talking goes on, the more power there is.« (SCI: 157) 116 Vgl. auch andere Charakterisierungen, die sich im weitesten Sinne auf die Disziplin beziehen: »jede Beziehung nach der Seite ist unmöglich; Kommunikation gibt es nur im Sinne der Vertikalen« (ÜS: 305); »die zwanghafte Individualisierung durch den Abbruch

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Isolierung und Individualisierung abzielt und damit die Bildung genau dessen verhindert, was Habermas mit Rückgriff auf Arendt kommunikative Macht nennt: Kommunikation, die in Solidarität und Gemeinsamkeit einer Mehrzahl von Menschen münden kann und auf dieser Grundlage ein Machtpotential im Weber’schen Sinn begründet.117 Die These eines implizit vorhandenen Konzepts der kommunikativen Macht bei Foucault lässt sich auch mit Blick auf Foucaults eigenes politisches Engagement belegen, das in Kongruenz mit der weiter oben umrissenen, generellen Perspektive auf Öffentlichkeit und Medien steht. Durch fast alle Aktivitäten Foucaults zieht sich als roter Faden das Ziel, vergessenem, disqualifiziertem oder schlicht isoliertem Wissen die Möglichkeit einer Vermittlung zu geben. Informationen müssen gesammelt und kommuniziert werden, um so Solidarität oder auch strategisches Wissen zu bilden. In jedem Fall ist die Möglichkeit der Kommunikation eine entscheidende Ressource des Widerstandes. Als Beleg lassen sich beispielsweise die von Foucault mitinitiierten Aktivitäten der GIP heranziehen. Im ersten Heft, das die Gruppe herausbringt, heißt es: »Der GIP erwägt nicht, im Namen der Häftlinge verschiedener Gefängnisse zu sprechen: er beabsichtigt im Gegenteil, ihnen die Möglichkeit zu verschaffen, selbst und über das zu sprechen, was in den Gefängnissen vor sich geht. [...] Wir müssen die von den Häftlingen selbst gemachten Enthüllungen so schnell wie möglich und so umfassend wie möglich verbreiten – das einzige Mittel, Innen- und Außenwelt in ein und demselben Kampf zu vereinen.«118

In dieser Zielsetzung der GIP spiegelt sich sehr deutlich die Vorstellung kommunikativer Macht auf der Grundlage frei kommunizierbarer Information wider, die als Ressource des Widerstandes fungiert. In die gleiche Richtung weisen die Ausführungen, die Foucault zum Thema einer Art »Volksgedächtnis« macht: »There’s a real fight going on. Over what? Over what we can roughly describe as popular memory. It’s an actual fact that people – I’m talking about those who are barred from writing, from producing books themselves, from drawing up their own historical accounts – that these people nevertheless do have a way of recording history, or remembering it. […] Now a whole number of apparatuses have been set up […] to obstruct the flow of this popular jeder Beziehung, die nicht von der Macht kontrolliert oder hierarchisch geordnet war« (ÜS: 307). Vgl. darüber hinaus: PSC: 193. 117 Die hieraus folgende Notwendigkeit für Widerstand, diesen isolierenden und individualisierenden Wirkungen entgegenzuwirken, bleibt auch mit Foucaults Eintritt in die Phase der Gouvernementalité offensichtlich bestehen. Noch 1980 betont er die Wichtigkeit einer solchen Ausrichtung von Widerstand. Vgl. SaP: 211 f. 118 Zitiert nach Eribon 1991: 323.

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memory. […] The historical knowledge the working class has of itself is continually shrinking. […] Memory is a very important factor in struggle.« (FPM: 123 f.)

Auch wenn von der proto-marxistischen Radikalität dieser Aussagen in der Phase der Gouvernementalité kaum noch etwas übrig ist, bleibt festzuhalten, welch hohe Bedeutung Foucault auch über die Genealogie hinaus dem »historischen Wissen der Kämpfe« (VG: 17) als einer Widerstandsressource zumisst. In seinem persönlichen Engagement spiegelt sich diese Haltung beispielsweise in einem Projekt wider, das Foucault »Chronik des Arbeiterbewußtseins« nennt; eine wöchentlich in der Libération erscheinende Kolumne, in der Foucault einen Arbeiter interviewt. Foucault beschreibt in einem dieser Interviews seine eigene Funktion folgendermaßen: »Diesem Arbeiterwissen zu ermöglichen, in das Informationssystem einzutreten, sich zu verbreiten und folglich anderen Arbeitern oder Leuten zu helfen, die nicht in der Lage sind, ein Bewußtsein von dem, was passiert, zu entwickeln.«119 Foucaults Denken und Handeln kreist immer wieder um die Notwendigkeit, die Stabilität der hegemonialen Diskurse zu erschüttern, denen ja auch gleichsam eine Stellung zukommt, die unter dem Begriff der Herrschaft zu fassen wäre, was zeigt, dass Theorie und Praxis Foucaults durchaus miteinander verzahnt werden können. In diese Strategie passt sich auch das Projekt der Gründung einer neuen Zeitung ein. Die Libération wird von Foucault und anderen 1973 ins Leben gerufen, um »eine linke Volkszeitung auf den Markt [zu] bringen, die zum Reflex der Kämpfe wird, ohne das Organ einer politischen Strömung zu sein«120. Vor dem Hintergrund einer zumindest als solche wahrgenommenen Hegemonie rechtslastiger Medien im Frankreich der damaligen Zeit verkörpert die Libération eben jene Vorstellung von »Gegennachrichten« (ÜS: 373), die in Überwachen und Strafen erwähnt werden. Insgesamt lässt sich also konstatieren, dass Foucault der Notwendigkeit, Informationen zu verbreiten, Assoziationen zu bilden, sich gegen die Isolierung zu sperren und die hegemonialen Diskurse zu erschüttern eine zentrale Stellung in der Praxis des Widerstandes zuerkennt.121 Als vordringlichste Arena für all 119 Ibid.: 361. 120 Ibid.: 359. 121 Vgl.: »Rather, it is because to speak on this subject, to force the institutionalised networks of information to listen, to produce names, to point the finger of accusation, to find targets, is the first step in the reversal of power and initiation of new struggles against existing forms of power. If the discourse of inmates or prison doctors constitutes a form of struggle, it is because they confiscate, at least temporarily, the power to speak.« (I/P: 214)

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diese Ziele muss vor allem die öffentliche Sphäre – in gewisser Weise auch die Zivilgesellschaft – gelten. Betrachtet man die so explizierte Position Foucaults, so zeigt sich, dass sie mit Habermas’ Sichtweise der Öffentlichkeit durchaus harmoniert. Das hier schon mehrfach betonte Verbindungsglied ist das Konzept kommunikativer Macht, deren Bildung sowohl Foucault als auch Habermas gefördert sehen wollen. Will Foucault das vergessene Wissen wiederbeleben, um auf der Basis seiner Verbreitung die herrschaftlichen Diskurse zu unterminieren, so sieht Habermas die Tatsache, dass sich der Peripherie entstammende zivilgesellschaftliche Akteure in Ausnahmesituationen gegen die hegemonialen Akteure der Öffentlichkeit durchsetzen und in der Folge sogar die »normale« Selbstprogrammierung des politischen Systems unterbrechen können, als Zeichen für eine funktionierende Öffentlichkeit. Die öffentliche Sphäre wird von Habermas als Entdeckungszusammenhang konzipiert, aus dem heraus eine möglichst breite Palette von Bedürfnissen, Interessen etc. artikuliert werden können soll. Foucault will die Informationskanäle vervielfältigen und in diese beispielsweise Informationen über die »Geheimzonen unseres Sozialsystems«122 einspeisen und so neues, strategisch relevantes oder solidarisierendes Wissen verbreiten. Zwar lassen sich unterhalb dieser grundsätzlichen Übereinstimmungen unterschiedliche Akzentuierungen erkennen, aber diese haben abermals eine fruchtbare Komplementarität beider Ansätze zur Folge. Während Habermas sich stärker auf das Verhältnis zwischen politischem System und deliberierender Öffentlichkeit konzentriert und deren Machtkonstellationen nur erwähnt, sind es eben jene Macht- bzw. Herrschaftskonstellationen und die Möglichkeiten, diese aufzubrechen, die Foucault vor allem interessieren. Dessen Vernachlässigung des Zusammenhangs zwischen Öffentlichkeit und Staat wird wiederum mit dem Ansatz Habermas’ aufgefangen. 3.3 Die Frage des strategischen Handelns Eine entscheidende Voraussetzung für eine mögliche Verbindung von normativer Demokratietheorie und strategischer Staatsanalytik liegt in einer Vermittlung 122 Die Formulierung entstammt einem mit Gründung der GIP verbundenem Aufruf. Zitiert nach Eribon 1991: 318 f. Die Forderung nach Öffentlichkeit im Sinn von Transparenz findet sich auch in anderen Passagen: »There is no doubt that in France justice is a secret [...] In my opinion the uncensored publication of the debates is indispensable, whatever your reserves.« (AJ: 242)

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der beiden Ansätze in der Frage des strategischen Handelns. Insbesondere auf der Seite Habermas’ könnte sie zu einem massiven Sperrpotential für einen fruchtbaren Eklektizismus werden, nämlich dann, wenn Habermas an einer moralischen Pflicht zu verständigungsorientiertem bzw. nichtstrategischem Handeln festhielte. In diesem Fall würde es schlicht keinen Sinn ergeben, strategische Betrachtungen des Staates mit der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates zu kombinieren, da die Akteure ohnehin das sich hieraus ergebende strategische Wissen nicht anwenden könnten/dürften. Auf die Realitätsferne, die man dann dem Ansatz Habermas’ attestieren müsste, der sich offensichtlich darauf verlassen müsste, dass das politische System sich allein dem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« gegenüber offen zeigt, ist schon hingewiesen worden.123 Sieht Habermas allerdings das Verhältnis von Staat und zivilgesellschaftlichen Akteuren doch als auch partiell strategische Relation, so bedarf sein Ansatz dringend der Anreicherung durch eben die strategische Staatsanalytik, die Foucault zumindest in Ansätzen zu leisten sucht und der nur eine kategorische Ablehnung strategischen Handelns von Seiten Habermas’ entgegenstehen kann. Der vorliegende Abschnitt nimmt abermals den Faden einer Diskussion auf, die schon im Vergleich der Ethiken thematisiert wurde (vgl. Kap. III 3.2.3). Schon dem Projekt der Diskursethik konnte nachgewiesen werden, dass sie aus konzeptionellen Gründen die Möglichkeit eines legitimen, wenn auch nicht zur moralischen Pflicht werdenden strategischen Handelns zulassen muss, auch wenn Habermas dies an keiner Stelle explizit macht. In den Überlegungen zu den Modalitäten eines legitimen strategischen Handelns, das für Habermas akzeptabel sein könnte, wurde vor allem das Konzept eines rechtlich eingerahmten strategischen Settings hervorgehoben. Eben diese Vorstellung taucht nun auch in Faktizität und Geltung auf. Die Analyse des Rechts fungiert auch hier als Katalysator für Weiterentwicklungen und Explikationen. Aus Habermas’ Perspektive stellt sich dies folgendermaßen dar: Durch die Ausdifferenzierung zweckrationaler Sub-Systeme wird der institutionalisierte Umgang mit strategischem Handeln notwendig, dessen Entfesselung ja gerade eine entscheidende Ressource der Effizienz jener Systeme darstellt. Daher kommt es zur sukzessiven Herausbildung subjektiver Privatrechte, »die legitime Spielräume individueller Handlungsfreiheiten auszeichnen und insofern auf die 123 Vgl. hierzu auch die scharfsinnige Kritik in Young 2001 an einer deliberativen Politik, die allein auf der Grundlage von kommunikativem Handeln realisiert werden soll.

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strategische Verfolgung privater Interessen zugeschnitten sind« (FuG: 45). Das auf diese Weise ermöglichte strategische Handeln ist insofern für Habermas akzeptabel, als es sich um eine »normative Regelung strategischer Interaktionen, auf die sich die Aktoren selbst verständigen« (FuG: 44), handelt. Selbstverständlich darf dieses Modell eines rechtlich eingefassten strategischen Handelns nicht gänzlich auf Verhalten in systemischen Kontexten reduziert werden. Subjektive Rechte eröffnen auch in anderen Lebensbereichen Räume legitimen strategischen Handelns und dementsprechend kann das Modell auch auf die Frage, auf welche Weise zivilgesellschaftliche Akteure ihre Ansprüche und Interessen gegenüber dem politischen System vertreten, übertragen werden. Hieraus ergibt sich ein kumulativer Prozess, der sich auch in manchen Formulierungen Habermas’ widerspiegelt: »Dieser Streit um die Interpretation und Durchsetzung historisch uneingelöster Ansprüche ist ein Kampf um legitime Rechte« (KuA: 238), heißt es an einer Stelle, und zur Verwirklichung von Rechten notiert er: »Um die wäre es allerdings ohne soziale Bewegungen und ohne politische Kämpfe schlecht bestellt.« (KuA: 243) Hier ist natürlich zunächst festzuhalten, dass Habermas explizit von Kämpfen spricht und diese offensichtlich nicht nur als legitim, sondern sogar als unabdingbar für das Erreichen bestimmter Ziele ansieht. Von einer kategorialen Ablehnung strategischen Handelns kann also nicht mehr die Rede sein. Deutlich wird aber auch der Zusammenhang, in dem soziale Kämpfe und Rechte für Habermas stehen. Letztere stellen den Rahmen für legitimes strategisches Handeln, welches wiederum als Mittel zur tatsächlichen Durchsetzung, zur Ausweitung oder Forderung nach gänzlich neuen Rechten fungiert, was sich wiederum auf die strategischen Spielräume auswirkt. Mit Habermas’ Perspektivenwechsel weg von der Moral und hin zu Politik und Recht ist auch strategisches Handeln nicht länger Anathema. Nicht nur die hier erwähnten Formulierungen, auch die schon in der Analyse der Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates herausgestellte hohe Bedeutung, die Habermas fairen Verhandlungen und daraus resultierenden Kompromissen für eine normativ akzeptable Regelung von Konflikten zumisst, legen diesen Schluss nahe. In diesem Zusammenhang spricht er in aller Deutlichkeit von einer »Kompromißbildung zwischen Parteien, die sich auf Macht- und Sanktionspotentiale stützen« (FuG: 344). Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass es von Habermas’ Seite keine Basis mehr für eine Ablehnung von strategischem Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure mit Bezug auf das politische System geben kann, solange sich dieses in einem grundrechtlichen Rahmen

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bewegt.124 Damit ist auch ein hieraus erwachsendes Sperrpotential bezüglich einer Kombination der Ansätze ausgeräumt. Kann so von einer grundsätzlichen Kompatibilität ausgegangen werden, was normative und strategisch-analytische Herangehensweisen betrifft, so lässt sich im Anschluss die speziellere Frage ansprechen, wieweit sich die Position Foucaults der von Habermas hinsichtlich einer rechtlichen Umrahmung strategischen Handelns annähern könnte: Finden sich Anzeichen dafür, dass auch Foucault die Legitimität oder Akzeptabilität strategischen Handelns an bestimmte Bedingungen, rechtliche oder andere, knüpft? Zunächst ist festzustellen, dass sich auf Foucaults Seite mit dem Übergang zur Gouvernementalité eine beträchtliche Entradikalisierung im Zusammenhang mit der Frage strategischen Handelns beobachten lässt. Unterstellte und suchte der Genealoge der frühen siebziger Jahre noch die realen Kämpfe hinter allen Phänomenen, so erfährt die so genannte Kriegshypothese, die ja mit dem physischen Kampf von der extremsten Form strategischen Handelns ausgeht, in Zur Verteidigung der Gesellschaft eine Relativierung, die sich am ehesten als zusehende Metaphorisierung beschreiben lässt. Dementsprechend gilt auch für die Gouvernementalité, dass sie zwar nach wie vor vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, in Strategien und Konflikten denkt, sich diese aber nicht als reale Kämpfe, sondern möglicherweise auch als politisches bargaining darstellen können. Die grundsätzliche ontologische Dominanz strategischen Handelns im Ansatz Foucaults wird dadurch jedoch nicht geschmälert. Bezieht man Foucaults späte Wertschätzung von (Grund-)Rechten mit in die Betrachtung ein, so zeigt sich, dass Foucault und Habermas wohl weitgehend übereinstimmen würden, was die Bedeutung strategischen Handelns für die Durchsetzung bzw. Einforderung von Rechten angeht. Solche subjektiven Freiheits- und Teilnahmerechte zu sichern bzw. für sich zu beanspruchen, ist für den späten Foucault ein durchaus bedeutsames Ziel von Widerstand, wie weiter oben gezeigt werden konnte. Doch der bei Habermas identifizierte kumulative Zusammenhang zwischen Rechten und strategischen Handlungsspielräumen lässt sich so bei Foucault sicherlich nicht antreffen. Die Legitimität strategischen Handelns an rechtliche Rahmen zu binden, würde aus seiner Perspektive wohl einer Verkehrung des Problems 124 Einen Sonderfall dieses »Legalitätsprinzips« bilden Formen des zivilen Ungehorsams, die Habermas schließlich ebenfalls als legitim ansieht. Allerdings fließt auch in deren Rechtfertigung eine Art Legalitätsprinzip zweiter Ordnung ein, da sich nach Habermas ziviler Ungehorsam »nur mit den Prinzipien, die in der Verfassung selbst verankert sind« (MRUM: 66), rechtfertigen lässt.

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gleichkommen: Strategisches Handeln ist gerade da von Bedeutung, wo es keine Rechtsansprüche und -positionen gibt, durch die Widerstand auch ein Stück weit vor dem faktischen Sanktionspotential staatlicher oder nichtstaatlicher politischer Akteure geschützt wird. Foucaults Interesse an der Praxis der parrhesia,125 in der sich die parrhesiastes völlig ungeschützt der Faktizität der Macht aussetzen und bewusst diese Gefährdung ihrer eigenen Person in Kauf nehmen, mag als Indiz hierfür dienen. In der Frage des strategischen Handelns lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass der Aufnahme von strategischen Analysen in einen integrierten Ansatz nichts Grundlegendes entgegensteht, wenn auch in der spezielleren Frage, unter welchen Umständen strategisches Handeln akzeptabel ist, nach wie vor Dissens besteht. 3.4 Normative Demokratietheorie und strategische Staatsanalytik – Kooperationspotentiale Die vorhergehenden Analysen haben gezeigt, dass zwischen beiden Ansätzen ausreichende Konvergenzen und fruchtbare Komplementaritäten bestehen, um eine Kombination von normativer Demokratietheorie und strategischer Staatsanalytik als sinnvoll und möglich erscheinen zu lassen. Nachdem im letzten Abschnitt ein mögliches Sperrpotential von Habermas’ Seite bezüglich der Integration von strategischen Analysen ausgeräumt werden konnte, bleibt nun abschließend zu klären, ob nicht Foucaults Konzepte mit einer normativen Betrachtung des Staates völlig unvereinbar sind und somit einer sinnvollen Kooperation im Wege stehen. Es steht außer Frage, dass die Gouvernementalité-Studien diesen Schluss durchaus nahe legen, denn die Analyse der Regierungsrationalitäten atmet den für Foucault charakteristischen Geist des Anti-Normativismus. Zwar erscheint das Geflecht der Regierungsrationalitäten in gewisser Weise gerade aufgrund seiner Subtilität als kritikwürdig – hier kommt abermals der schon bekannten Rhetorik Foucaults große Bedeutung zu –, aber von normativen Betrachtungen, die beispielsweise nach der Legitimität staatlicher Macht fragen, kann hier keine Rede sein. Dies überrascht keineswegs, handelt es sich doch bei den Fragen

125 Im Folgenden komme ich noch einmal ausführlicher auf diesen Begriff zurück.

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nach Legitimität und Souveränität etc. gerade um den staatstheoretischen Diskurs, den Foucault mit seinem Ansatz umgehen wollte. Und doch lassen sich in Foucaults Spätwerk Ansätze für eine normative Betrachtung des Staates entdecken, wenn hier auch tatsächlich kaum von mehr als bloßen Ansätzen gesprochen werden kann. Betrachten wir noch einmal die schon weiter oben angeführte Boat-People-Erklärung Foucaults: »Es gibt eine internationale Bürgerschaft, die ihre Rechte und Pflichten hat und sich dafür einsetzt, jedem Machtmißbrauch entgegenzutreten, von wem er auch ausgehen mag und welches auch seine Opfer sein mögen [...] Es ist eine Pflicht dieser internationalen Bürgerschaft, den Regierungen fortgesetzt mit den Mißgeschicken der Menschen in Augen und Ohren zu liegen. [...] Das Unglück der Menschen darf nie ein stummer Rest der Politik bleiben. Es begründet ein absolutes Recht, sich zu erheben und gegen diejenigen zu wenden, die über die Macht verfügen. [...] Den Individuen soll es anstehen, sich zu empören und zu sprechen, den Regierungen zu reflektieren und zu handeln. Zwar lieben die guten Regierungen die gerechte Entrüstung der Beherrschten, sofern sie nur lyrisch bleibt. [...] Der Wille der Individuen muß sich einer Realität aufprägen, an der die Regierungen sich das Monopol bewahren wollten, jenes Monopol, das man ihnen allmählich und Tag für Tag streitig machen muß.«126

Diese Formulierungen sind weit von den distanzierten Betrachtungen der Gouvernementalité entfernt. Es ist die Rede von »Machtmißbrauch«, ein Begriff, der die Frage legitimer Machtausübung streng genommen voraussetzt. Zudem korrespondiert mit dem postulierten Recht, »sich zu empören und zu sprechen«, eine Pflicht des Staates/der Regierungen »zu reflektieren und zu handeln«, woraus sich wiederum ein kritischer Maßstab ableiten lässt, um Staaten je nach dem Maß, in dem diese Pflicht erfüllt wird, normativ einzuschätzen. Im Ganzen ist die Erklärung eine Polemik gegen die Arroganz staatlicher Macht, die nur vor dem Hintergrund normativer Maßstäbe, wie etwa der Responsivität des Staates gegenüber zivilgesellschaftlichen Inputs, Sinn macht.127 In die gleiche Richtung weist eine andere Formulierung von Foucault: »Gewiß kann man von einer Regierung nicht verlangen, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Hingegen ist es möglich, von den Regierenden eine gewisse Wahrheit zu verlangen, was ihre Hauptprojekte, die allgemeinen Entscheidungen ihrer Taktik und eine bestimmte Zahl besonderer Punkte in ihrem Programm anbelangt [...] 126 Zitiert nach Eribon 1991: 400 f. 127 Auf die Entsprechungen zwischen diesen Forderungen und Habermas’ Vorstellung einer funktionierenden Öffentlichkeit, die sich zumindest in bestimmten Fällen gegenüber der Selbstprogrammierung des politischen Systems behaupten und auf dessen Responsivität rechnen können muss, sei hier nur am Rande hingewiesen.

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Dennoch haben wir als Regierte das gute Recht, Fragen nach der Wahrheit zu stellen.« (Ästhetik: 139)

Hier taucht abermals die Idee von Rechten der Regierten auf, mit denen eine normative Verpflichtung der Regierenden bzw. des Staates korrespondiert. Nun ließe sich zunächst gegen die beiden Formulierungen einwenden, dass es sich hier um Äußerungen im Zusammenhang mit kritischer Praxis handelt, die keine systematische Entsprechung in der theoretischen Arbeit Foucaults finden, und wie schon erwähnt, kann tatsächlich nicht geleugnet werden, dass den Studien zur Gouvernementalité derartige Betrachtungen eher fremd sind. Dennoch lassen sich diese Passagen mit einem theoretischen Themenkomplex in Verbindung bringen, den Foucault sich erst kurz vor seinem Tode erschließt und mit dem er ein weiteres Mal den Bogen von ethischen Praktiken zu Fragen des Staates schlägt, wie er es schon Ende der siebziger Jahre mit dem Begriff der Führung getan hatte: Es handelt sich um die Praxis der parrhesia, der Foucault seine letzten Vorlesungen in Berkeley 1983/84 widmet. Parrhesia wird im Deutschen zumeist mit Freimütigkeit übersetzt. Der Begriff bezeichnet eine Praxis, in welcher »der Macht die Wahrheit gesagt wird«. Es handelt sich um eine »Sprechtätigkeit« (DWA: 11), durch welche ein Individuum einem anderen, das an faktischer Macht überlegen ist, mit einer unangenehmen Wahrheit gegenübertritt und sich hierbei sogar bewusst der Gefahr aussetzt, das Opfer dieser faktischen Macht zu werden. Die klassische Konstellation für die parrhesia ist das Gespräch des Philosophen mit dem Tyrannen im antiken Griechenland. Zwar führt Foucault diese Praxis, die er auch zeitweise das »Wahrsprechen des Anderen« nennt, im Zusammenhang mit der Sorge um sich ein, und als ethische Praxis wurde sie in dieser Arbeit auch schon thematisiert (Vgl. Kap. III 3.2.2), aber davon ausgehend will er das Problem der parrhesia mit Blick auf den politischen Berater, den Minister und den Kritiker untersuchen. Der Begriff soll sogar Ansatzpunkt für eine Genealogie dessen sein, »was man als den politischen Diskurs bezeichnen könnte« (DWA: 39 f.).128 Diese Praxis der parrhesia, die laut Foucault in den alten athenischen Verfassungen noch als »Recht«129 auf freie Rede den Bestandteil einer guten Ordnung bildet, in der Folge zusehends zu einer Tugend privatisiert wird und auch in Foucaults Verwendung zwischen 128 Am Ende der Vorlesungsreihe formuliert Foucault retrospektiv ein anderes, aber kaum weniger interessantes Ziel. Mit der Analyse der parrhesia sei man auf die Wurzeln dessen gestoßen, »was wir die ›kritische‹ Tradition im Westen nennen könnten« (DWA: 178). 129 Die Vorstellung eines subjektiven Rechts nach unserem zeitgenössischen Verständnis war den antiken Verfassungen jedoch fremd.

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diesen beiden Möglichkeiten oszilliert, ist eben das, was Foucault in den beiden angeführten Passagen praktiziert und generell als Recht gegenüber dem Staat einfordert. Den Regierten müssen bestimmte Ansprüche gegenüber den Regierenden eingeräumt werden. Sie dürfen nicht von der Allmacht des Staates eingeschüchtert werden (Rechtsposition) bzw. sich nicht einschüchtern lassen (Tugend) und ihre Bedürfnisse und Interessen artikulieren, auch wenn diese von den Regierenden nicht gern gehört werden. Dieses Konzept der parrhesia, von dem aus Foucault immerhin eine Genealogie des »politischen Diskurses« (ibid.) zu unternehmen plante, impliziert eine normative Betrachtung von Staat und Politik. Vor seinem Hintergrund bedarf das Verhältnis zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern einer bestimmten Ausgestaltung, was eine normative Betrachtung unvermeidlich macht. Sicherlich sind dies nur Rudimente eines stärker normativ orientierten Ansatzes, aber zumindest verdeutlicht Foucaults Untersuchung der parrhesia, dass sich seine Analyse des Staates nicht gänzlich in den nüchtern-beunruhigenden Studien zur Gouvernementalité erschöpft und somit eine Verbindung mit dem normativen Ansatz Habermas’ durchaus möglich erscheint. Das Ergebnis dieser vergleichenden Untersuchung einer Kompatibilität beider Ansätze fällt also grundsätzlich positiv aus. In der einerseits normativen, andererseits strategisch-analytischen Ausrichtung, stellen beide ideale Komplementär-Elemente für einen fruchtbaren Eklektizismus dar. Abschließend ist hier noch einmal kurz die Argumentation zusammenzufassen. Aufbauend auf der kritischen Analyse der jeweiligen Konzeption ließen sich komplementäre Stärken bzw. Schwächen oder Grenzen herausarbeiten. Von Bedeutung ist hier vor allem der blind spot in Habermas’ Ansatz. Die Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates kann zwar darauf verweisen, dass die Legitimität eines politischen Systems entscheidend davon abhängt, dass es sich nicht gänzlich entkoppelt von der politischen Öffentlichkeit. Dies bedeutet, dass es grundsätzlich auch der Peripherie entstammenden zivilgesellschaftlichen Akteuren möglich sein muss, ihre Bedürfnisse und Forderungen gegenüber dem politischen System zur Geltung zu bringen und sie von einer grundsätzlichen Chance der Responsivität des politischen Systems ausgehen können müssen. Diese kritische Demokratietheorie liefert wichtiges kritisch-normatives Wissen, um die Legitimität existierender Demokratien einzuschätzen, doch damit sind auch ihre Grenzen beschrieben: Strategisches Handlungswissen, dass zivilgesellschaftliche Akteure in ihren Bemühungen anleitet, entsprechende Bedürfnisse und Interessen so an das politische System heranzutragen, dass sie auch aufge-

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nommen und umgesetzt werden, kann sie nicht bereitstellen. Um diesen blind spot auszufüllen, eignet sich nun der Ansatz von Foucault, da es sich bei ihm um eine Kritikkonzeption handelt, die eine strategische Staatsanalyse zu leisten vermag. Auf der Grundlage der Analyse einer Regierungsrationalität lassen sich Stärken und Schwächen einer bestimmten Art von »Regierung« identifizieren, und diese Einsichten können die Strategien zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Vertretung ihrer Bedürfnisse und Interessen anleiten. Hier liegt also ein recht umfassendes Kooperationspotential, da beide Ansätze aus einer Ergänzung der normativen Demokratietheorie Habermas’ durch die strategische Staatsanalytik Foucaults profitieren könnten: Habermas’ blind spot der strategischen Staatsbetrachtung verschwände und Foucaults gänzliche Vernachlässigung demokratischer Zusammenhänge würde durch Habermas’ Ansatz aufgefangen. Um eine Vermittlung plausibel zu machen, muss aber nachgewiesen werden, dass dieser keine tief gehenden Sperrpotentiale von einer oder beiden Seiten entgegenstehen. Entsprechend war hier nachzuweisen, dass Habermas nicht mehr kategorisch an einer Pflicht zu kommunikativem Handeln von Seiten zivilgesellschaftlicher Akteure festhält. Wäre dies der Fall gewesen, wäre die Integration strategischer Betrachtungen und die Generierung eines entsprechenden Handlungswissens schlicht sinnlos gewesen, da die Akteure die moralische Pflicht gehabt hätten, sich auch bei der Vertretung ihrer Interessen gegenüber dem politischen System letztlich auf den »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« zu verlassen. Da Habermas aber in dieser letzten Werkphase strategisches Handeln unter bestimmten Umständen zulässt, steht einer Kooperation in diesem Punkt nichts Grundsätzliches im Wege. Entsprechend war zu zeigen, dass von Foucaults Seite keine Sperrpotentiale existieren, die eine Vermittlung gänzlich unmöglich machen würden. Habermas’ Ansatz räumt Recht und vor allem (Grund-)Rechten eine zentrale Position ein. Erstens hängen die Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure, ihre Interessen gegenüber dem politischen System zur Geltung zu bringen, entscheidend davon ab, dass diese Akteure Träger bestimmter Rechte sind, wie etwa der Versammlungsfreiheit. Darüber besteht das Ziel dieser Akteure in Habermas’ Vorstellung im Wesentlichen darin, dass bestimmten Interessen bzw. Bedürfnissen durch das politische System Rechnung getragen wird, indem den entsprechenden Akteuren Rechtsansprüche zugesprochen werden. Mit dieser Sichtweise wäre Foucaults Ansatz völlig inkompatibel, wenn sich bei ihm die Geringschätzung von Rechten nachweisen ließe, die ihm oft unterstellt wird. Dies ist jedoch

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nicht der Fall, wie die obige Analyse gezeigt hat. Zumindest der späte Foucault erkennt die Bedeutung von subjektiven Rechten für Widerstandspraktiken grundsätzlich an, so dass sich dieses mögliche Sperrpotential auflöst. Eine potentielle Spannung zwischen beiden Ansätzen könnte auch bei den jeweiligen Vorstellungen hinsichtlich Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft bestehen. Habermas’ Ansatz misst dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft zentrale Bedeutung zu. Schließlich ist es eine deliberierende Öffentlichkeit, an welche die Legitimation des politischen Systems gekoppelt ist. Ließe sich in Foucaults Ansatz eine grundlegende Skepsis gegenüber der Bedeutung öffentlicher Kommunikation nachweisen, so wären die Ansätze wohl gänzlich unvermittelbar. Doch betrachtet man die Vorstellungen Foucaults zu kritischer Praxis, so wird deutlich, dass auch in seiner Vorstellung kritischer Praxis Kommunikation, und damit eben auch eine Sphäre, in der sie sich öffentlich vollziehen kann, einen wichtigen Platz einnimmt, so dass auch hier keinesfalls von einem grundsätzlichen Sperrpotential die Rede sein kann.130 Zuletzt ließen sich Bedenken bezüglich einer Ergänzung der normativen Theorie Habermas’ durch Foucaults strategischen Ansatz vorbringen, falls Letzterer jegliche normative Betrachtung des Staates kategorisch ausschlösse. Hier kann sicherlich nicht von einer Übereinstimmung zwischen Habermas und Foucault gesprochen werden, aber es existieren zumindest gewisse Ansätze einer solchen normativen Betrachtung, die mit dem Begriff der parrhesia zusammenhängen, um den Foucaults Denken bis kurz vor seinem Tode kreist. Von daher lässt sich zumindest von einer gewissen Aufweichung des diesbezüglichen Sperrpotentials sprechen, das aber ohnehin für den hier vertretenen Vermittlungsvorschlag nicht von zentraler Bedeutung ist, da es ja um eine Ergänzung des Habermas-Ansatzes durch Foucaults Analysen geht. Entscheidend ist also nicht, ob Foucault normative Betrachtungen des Staates ablehnt, sondern ob Habermas’ Ansatz mit einer strategischen Sichtweise des Staates vereinbar ist. Auf der Grundlage dieser Ausführungen wird also ein integrierter Ansatz vorgeschlagen, dessen Stärke gegenüber den ursprünglichen Konzeptionen darin liegt, dass er zwei Arten kritischen Wissens bereitzustellen vermag, indem er den Ansatz Habermas’ um eine Dimension erweitert, die dieser unbeachtet gelassen hatte: Mit Hilfe einer integrierten Kritikkonzeption kann einerseits nor130 Auf den Punkt der Zivilgesellschaft, der etwas umstrittener ist, gehe ich hier nicht noch einmal ein.

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mativ-evaluatives Wissen bezüglich existierender Demokratien generiert werden, indem an sie der Maßstab diskursiver Demokratie angelegt wird. Darüber hinaus kann strategisches Handlungswissen generiert werden, das die Praxis zivilgesellschaftlicher Akteure anleitet, deren Erfolgschancen sich ja wiederum auf die normative Einschätzung eines bestimmten Systems auswirken. Hiermit scheint mir zumindest die Skizze eines interessanten Ansatzes vorzuliegen, der sich sowohl in empirisch orientierten Forschungskontexten über soziale Bewegungen, aber vor allem eben auch für an kritischer Praxis orientierte Akteure selbst als durchaus fruchtbar erweisen könnte. Mit einem solchen Kritikansatz, der zumindest einige blinde Flecken und Verkürzungen der ursprünglichen Konzepte von Habermas und Foucault zu überwinden vermag, dürfte auch der Nutzen unvoreingenommener Versuche belegt sein, scheinbar in tiefem Konflikt stehende Ansätze miteinander ins Gespräch zu bringen und auf dieser Grundlage ein vorsichtig eklektizistisches theory-building zu betreiben.

Schluss / Ausblick

Im Schlusskapitel sollen zunächst die inhaltlichen Ergebnisse auf der zweiten Analyse-Ebene mit Bezug auf die jeweiligen Hypothesen noch einmal vorgestellt und zusammengefasst werden, um herauszuarbeiten, welchen Beitrag die Arbeit zur Frage einer Selbstkritik der Moderne leisten kann.1 Darüber hinaus werden mit Blick auf diese Ergebnisse noch einmal kurz die methodischen Entscheidungen, die in dieser Studie vorgenommen wurden, reflektiert, um zu klären, inwieweit sie sich bewährt haben. In einem abschließenden Ausblick sollen dann noch einmal Vorschläge bezüglich der Frage formuliert werden, in welchen Bereichen der beiden Analyse-Ebenen zukünftige Forschungen in besonderem Maße wünschenswert und lohnend erscheinen. Auf der zweiten Analyse-Ebene sollte zunächst eine Hypothese belegt werden, die sich auf das Verhältnis der Werke Habermas’ und Foucaults insgesamt bezog. Demnach sollte es im Laufe der Entwicklung zu einer sukzessiven Annäherung der Werke kommen. Tatsächlich haben die frühen Wissenschaftskritiken von Habermas und Foucault relativ wenig gemeinsam. Die Gegenüberstellung zeigt, dass beide zwar das Projekt einer Historisierung der kantischen Erkenntnistheorie verfolgen, das Ziel einer Historisierung jedoch in Habermas’ Fall zu einem Modell kritischer Wissenschaft führt, das dem Begriff der Reflexion eine zentrale Stel1 Bezüglich der ersten Analyse-Ebene, in der es um das kritische Potential der jeweiligen Ansätze ging, wurden keine Hypothesen formuliert. Das Ziel dieser Analyse-Ebene war es, die spezifischen kritischen Potentiale, welche die Ansätze jeweils bezogen auf bestimmte Werkphasen aufweisen, herauszuarbeiten. Die diesbezüglichen Ergebnisse, in die jeweils eine Vielzahl von Faktoren eingehen, die sich auf Möglichkeiten und Grenzen, Stärken und Schwächen einer bestimmten Kritikkonzeption auswirken, lassen sich im gedrängten Raum eines Schlusskapitels nicht auf sinnvolle Weise zusammenfassen. Daher konzentriere ich mich auf die Ergebnisse im Zusammenhang mit den zu Anfang formulierten Hypothesen.

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lung einräumt, während Foucaults Weg der Historisierung in die archäologische Diskursanalyse mündet, welche die Regeln eines Diskurses in ihrer Positivität objektiv beschreiben und analysieren können will. In diesem Sinn handelt es sich bei beiden Ansätzen um methodenkritische Ansätze, da die Erkenntnisleistung bestehender Wissenschaften kritisiert und stattdessen eine überlegene Methode vorgeschlagen wird – wenn dies in Foucaults Fall auch nur das Selbstverständnis des Archäologen bezeichnet, da es sich eigentlich um eine inkonsequent durchgeführte Erkenntniskritik handelt. Doch Habermas’ Vorschlag einer kritischen Wissenschaft beinhaltet mit der Denkfigur der Reflexion genau das, was Foucault als unwissenschaftlich kritisiert. Umgekehrt ist es der Objektivitätsanspruch, wie ihn auch Foucault erhebt, den Habermas so entschieden an den positivistischen Wissenschaften kritisiert. Neben diesen massiven Meinungsverschiedenheiten ist es vor allem das gänzliche Fehlen einer Verknüpfung von diskursiven und nichtdiskursiven Faktoren sowie einer Verknüpfung von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik in Foucaults Ansatz, die diesen von Habermas’ Kritikkonzeption unterscheidet. Massive Divergenzen existieren zuletzt im Umgang mit Kausalität. Während Foucaults Ansatz von großer Skepsis gegenüber der Analysefähigkeit komplexer kausaler Verhältnisse gekennzeichnet ist, weist Habermas’ Konzeption im Hinblick auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Transformation das auf, was man überspitzt gesagt als eine gewisse Naivität im Umgang mit Kausalitäten bezeichnen könnte. Dieses unterkomplexe Verständnis gesellschaftlicher Kausalzusammenhänge bringt einige problematische Implikationen mit sich, so dass die Verbindung zwischen Wissenschafts- und Gesellschaftskritik in Habermas’ Ansatz zwar vorhanden ist, jedoch mit gewichtigen Schwierigkeiten verbunden ist. Die gesellschaftstheoretischen Werkphasen beider Denker enthalten zumindest einige Korrespondenzen, wenn dies auch in bestimmten Punkten nur zur Folge hat, dass es nun zu massiven Kontroversen kommt. Von diesen kann streng genommen in den wissenschaftstheoretischen Phasen überhaupt nicht die Rede sein, weil die Positionen so extrem weit auseinander liegen. Korrespondenzen konnten jedoch in folgenden Aspekten herausgearbeitet werden. In beiden Kritikkonzeptionen lässt sich eine mehr (Foucault) oder weniger (Habermas) radikale Entprivilegierung des eigenen Standpunktes verzeichnen. Doch trotz dieser geteilten anti-elitären Ausrichtung stehen die resultierenden Konzeptionen in einem gewissen Gegensatz zueinander. Foucaults Betonung der Bedeutung marginalisierter und unterworfener Wissen dürfte Habermas zu weit gehen, Habermas’ an Poppers Wissenschaftsideal orientierte

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Demokratisierung der Kritik geht Foucault wiederum nicht weit genug, um Hierarchisierungen im kritischen Diskurs auszuschließen. Beide stimmen des weiteren konsequenterweise darin überein, dass die Frage ›Was tun?‹ von Kritik nicht mehr in der Art und Weise beantwortet werden kann, wie dies in der Tradition von Marx bis Lukács und Lenin noch der Fall war. Der Grund liegt in der Entprivilegierung des eigenen Standpunktes, der sich kein Wissen mehr über den notwendigen Verlauf der Geschichte anmaßt. Auch in der Abkehr von einem bestimmten Kritikobjekt besteht eine Korrespondenz: Sowohl Habermas als auch Foucault vollziehen eine Abkehr von klassischer Ideologiekritik. Und auch positiv lassen sich gewisse Korrespondenzen in beider Kritik an wohlfahrtsstaatlichen Formen von Governance erkennen. Zuletzt lässt sich eine doppelte Gemeinsamkeit im Verhältnis zur Bewusstseins- bzw. Subjektphilosophie verzeichnen: Sowohl Habermas als auch Foucault versuchen mit ihren Kritikansätzen aus deren begrifflichen bzw. konzeptionellen Rahmen auszubrechen – und beiden gelingt dies nur sehr bedingt. Unterschiede lassen sich vor allem im Hinblick auf den Macht- sowie den Subjektbegriff feststellen. Auch die jeweiligen Kritikradien stehen in einem beträchtlichen Kontrast zueinander: Während der Kritikradius der Genealogie alle gesellschaftlichen Sphären und Phänomene erfasst, ist dieser bei Habermas auf die systemischen Übergriffe auf die Lebenswelt und die entsprechende Gefahr einer Kolonialisierung begrenzt. Vor allem ist das Verhältnis der Ansätze in jener Phase jedoch durch massive Kontroversen geprägt, die sich an der Charakterisierung von Macht und Vernunft, sowie deren Relation entzünden. Habermas’ Vorstellung einer normativen Kritik, die auf Universalien beruht, welche einer kommunikativen Rationalität entstammen, die noch über ein letztes Moment von Unbedingtheit verfügt, steht im Gegensatz zu Foucaults Vorstellung einer anti-normativistischen Kritik, der vor allem auch an einer Detranszendentalisierung von Universalien gelegen ist, und die Kritik von einem machtfreien Standpunkt aus, wie es Habermas vorschwebt, für unmöglich hält. Aber trotz dieser massiven Kontroversen lässt sich von einer Annäherung in dieser zweiten Phase sprechen, denn die »Problematiken« – um einen Foucault’schen Begriff zu verwenden – beider Denker liegen nun enger beieinander als dies noch in der wissenschaftskritischen Phase der Fall war. In den folgenden Werkphasen, in denen sich Habermas und Foucault der Ethik bzw. Moral zuwenden, kommt es nun zu beträchtlichen Annäherungen, die von Foucaults Seite vor allem auf die Modifikationen der Machtanalytik

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zurückzuführen sind, die mit seiner »ethischen Wende« einhergehen. Mit der Wiedereinführung des Subjektbegriffs und der Unterscheidung von Herrschaft und Macht vollzieht sich eine Entradikalisierung von Foucaults Kritikansatz, die ihn in vielen Aspekten anschlussfähiger macht – unter anderem an die Konzeptionen Habermas’. Auf Habermas’ Seite fallen vor allem die schon in dieser Phase erkennbaren Ansätze einer veränderten Bewertung strategischen Verhaltens auf. Hatte zuvor eine klare Dichotomie zwischen kommunikativem oder konsensualem Handeln auf der einen und strategischem Handeln auf der anderen Seite bestanden, die eine kategorische normative Ablehnung von letzterem beinhaltete, so weicht diese Dichotomie in Habermas’ diskursethischer Phase auf. Habermas muss schon in den Arbeiten jener Zeit implizit die Möglichkeit strategischen Handelns, das unter bestimmten Bedingungen normativ akzeptabel ist, unterstellen, ohne jedoch diese Bedingungen ausreichend spezifizieren zu können. Doch mit dem impliziten Ende einer kategorischen Ablehnung strategischen Verhaltens gewinnt auch Habermas’ Ansatz beträchtlich an Anschlussfähigkeit im Hinblick auf Foucaults Kritikkonzeption. Zuletzt ist auf die demokratietheoretische (Habermas) bzw. staatsanalytische Phase (Foucault) zu sprechen zu kommen. Hier ist noch einmal ein weiterer Annäherungsschub zu verzeichnen, der vor allem mit Habermas’ expliziter Anerkennung legitimen strategischen Handelns in einem rechtlich eingerahmten Setting in Zusammenhang steht. Umgekehrt finden sich beim späten Foucault die auffälligsten Annäherungen im Hinblick auf die Bedeutung von (Menschen-)Rechten und Öffentlichkeit bzw. öffentlicher Kommunikation. Hatte der Genealoge noch Grund- oder Menschenrechten keinerlei Bedeutung für den Widerstand zugemessen, so finden sie beim Analytiker der Regierungsrationalitäten eine weit höhere Wertschätzung. War die genealogische Diskurskritik noch überaus skeptisch gegenüber (öffentlicher) Kommunikation als Mittel des Widerstandes, so findet sich in den Ausführungen des späten Foucault zur kritischen Praxis vielfach der Hinweis auf die Wichtigkeit, Wissen – sei es strategisches und/oder solidarisierendes – zu verbreiten, Informationen über institutionelle Machtmechanismen transparent zu machen etc. In beiden Aspekten besteht auf der Basis dieser Neubewertungen eine erhebliche Korrespondenz mit Habermas’ Ansatz, in dessen normativer Demokratietheorie Recht(e) und Öffentlichkeit zentrale Positionen einnehmen. Es zeigt sich also tatsächlich eine sukzessive Annäherung der beiden Ansätze über die Phasen hinweg, wobei nicht vergessen werden darf, dass trotz der

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stärkeren Korrespondenzen zwischen den Kritikkonzeptionen in den späteren Phasen auch dort in manchen Bereichen massive Differenzen bestehen bleiben. Im Anschluss an diese auf das Gesamtverhältnis der Werke bezogene Hypothese können nun die Ergebnisse im Hinblick auf die mit spezifischen Werkphasen verknüpften Hypothesen vorgestellt werden. Für die gesellschaftstheoretischen Phasen wurde eine sehr begrenzte Kooperationshypothese formuliert, die auf eine Ergänzung der kritischen Diagnose Habermas’ bezüglich einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch Einsichten auf der Grundlage genealogischer Analyse abzielt. Wie gezeigt werden konnte, bezieht sich eine solche Ergänzung vor allem auf die Rolle der Sozialwissenschaften im Prozess der Kolonialisierung. In Habermas’ Diagnose bleibt deren Bedeutung in diesem Zusammenhang weitgehend unthematisiert. Dieser blinde Fleck kann mit Hilfe der Integration einer genealogisch inspirierten Sichtweise in die Betrachtung überwunden werden: Als Schauplatz einer Kolonialisierung können zumindest in ihrem bürokratisierenden Aspekt vor allem wohlfahrtsstaatliche Institutionen angesehen werden. In dieser Einschätzung stimmen Habermas und Foucault überein. Während Habermas es bei dieser eher makroskopischen Feststellung belässt und allgemeine Auswirkungen der Kolonialisierung untersucht, interessieren den Genealogen gerade die Mikro-Machtmechanismen, die im Kontext jener Institutionen existieren, und mit Hilfe einer solchen Betrachtungsweise gelingt es auch, die Bedeutung der Sozialwissenschaften im Rahmen jener institutionellen Machtmechanismen zu thematisieren. Mit ihrer Definitionsmacht und Einschätzungsprärogative im Hinblick auf Individuen und deren Bedürfnisse spielen sie eine entscheidende Rolle im Prozess der Kolonialisierung. Hier zeigt sich also, dass die Tiefenschärfe der kritischen Analyse Habermas’ durch eine Verbindung mit dem Foucault’schen Ansatz zumindest punktuell erhöht werden kann. Im Hinblick auf die ethische (Foucault) bzw. moralphilosophische (Habermas) Phase waren zwei Hypothesen zu behandeln, die schon umfassendere Kooperationsvorschläge enthielten als es bei der scharf begrenzten Vermittlung in den gesellschaftstheoretischen Phasen der Fall war. Zunächst war eine Hypothese zu prüfen, die zumindest in ihren Umrissen auf Hans Herbert Kögler zurückgeht. Diese wurde hier zunächst in Richtung eines ambitionierten Kooperationsmodells einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung zwischen Habermas und Foucault spezifiziert. Hier würde Habermas’ diskursethische Moral mit der Ethik einer Ästhetik der Existenz von Seiten Foucaults verbunden.

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Tatsächlich zeigt sich, dass hier grundsätzlich ein interessantes Ergänzungsverhältnis besteht. Während der Schwerpunkt von Habermas’ Diskursethik auf der Begründung moralischer Normen liegt und die Frage von Werten tendenziell untertheoretisiert bleibt, ist Foucaults Ästhetik der Existenz vor allem eine Ethik im Sinne Habermas’, in der es dementsprechend um Wertfragen bzw. Fragen des guten Lebens geht, in welcher jedoch der Aspekt intersubjektiv gültiger Normen weitgehend ausgespart bleibt. Das wirklich immense Potential einer entsprechenden Verbindung, in der die Stärken der Ansätze verbunden und die Schwächen durch den jeweils anderen Ansatz ausgeglichen würden, kann jedoch, so das Ergebnis der Analyse, auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes noch nicht ausgeschöpft werden. Dementsprechend muss die Hypothese, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, verworfen werden. Voraussetzung für eine derartige Vermittlung wäre ein analytisches Instrumentarium, das es erlaubt, bestimmte Materien klar und plausibel entweder der Sphäre der Ethik oder der Moral zuzuweisen. Doch wie die kritische Analyse gezeigt hat, bestehen in der Diskursethik, von welcher man diese Leistung aufgrund des elaborierteren Ansatzes am ehesten erwarten kann, zumindest auf dem aktuellen Entwicklungsstand noch große Schwierigkeiten mit einer solch klaren Differenzierung bzw. Zuweisung, so dass die Bedingungen für eine sinnvolle Vermittlung dieser Art (noch) nicht gegeben sind. Darüber hinaus wurde aber eine zweite Hypothese formuliert, in der eine etwas anders gelagerte Kooperation zwischen den Ansätzen vorgeschlagen wird, die eine Ergänzung der Ästhetik der Existenz durch eine umgedeutete Diskursethik anvisiert. Eine kritische Analyse der Foucault’schen Ethik zeigt, dass sie zwar bemüht ist, ihre starke Akzentuierung einer subjektiven oder gar als egoistisch zu bezeichnenden Perspektive durch eine intersubjektive Komponente abzufedern. Allerdings finden sich nur diesbezügliche Ansätze, etwa in Foucaults Betrachtungen zum Phänomen der Freundschaft, das er durch eine gewisse Symmetrie und Reziprozität gekennzeichnet sieht. Die Diskursethik kann diesem Defizit der Ästhetik der Existenz in einer Kooperation entgegenwirken, und zwar dann, wenn sie nicht mehr als Verfahren zur Generierung von universellen Normen, sondern als eine Ethik des Dialoges verstanden wird, die dazu beitragen kann, durch Reversibilität gekennzeichnete intersubjektive Verhältnisse herzustellen. Derartige Formen von Intersubjektivität, in welcher die Differenz des Anderen gewahrt bleibt, strebt zwar auch die Ästhetik der Existenz zumindest teilweise

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an, doch erst mit Hilfe einer uminterpretierten Diskursethik kann deren Konzeptionalisierung und Integration in die Foucault’sche Ethik gelingen. Die umfassendste Kooperationshypothese wurde im Hinblick auf die letzte, demokratietheoretische (Habermas) bzw. staatsanalytische (Foucault) Phase formuliert und schlug eine Verbindung strategischer und normativer Betrachtungsweisen vor. Die kritische Analyse von Habermas’ Diskurstheorie des demokratischen Rechtsstaates verweist auf eine Leerstelle in seinem Konzept. In diesem Konzept hängt die Legitimität eines demokratischen politischen Systems entscheidend davon ab, ob es zivilgesellschaftlichen Akteuren, die der Peripherie der Öffentlichkeit entstammen, zumindest in manchen Fällen möglich ist, ihre Bedürfnisse und Interessen erfolgreich gegenüber dem politischen System zur Geltung zu bringen. Die Frage, wie politische Akteure die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, in diesem Sinne erfolgreich zu sein, findet in Habermas’ Konzept allerdings keinerlei Beachtung. In ihm wird einzig normativ-evaluatives und kein Handlungswissen generiert. Diese Leerstelle kann ausgefüllt werden durch die Staatsanalytik Foucaults. Sie bietet die Möglichkeit einer strategischen Betrachtung des Staates, welche auf der Grundlage einer Analyse der Regierungsrationalitäten dessen differentielle Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Strategien unterschiedlicher politischer Akteure herauszuarbeiten vermag. Wird dieses strategisch-analytische Instrumentarium in Habermas’ normativen Ansatz integriert, dann entsteht eine Kritikkonzeption, die sowohl kritisches EvaluativWissen bezüglich der Legitimität eines politischen Systems als auch kritisches Handlungswissen bezüglich geeigneter Strategien zivilgesellschaftlicher politischer Akteure zu bieten hat. Auf eine beträchtliche Verflüssigung der möglichen Sperrpotentiale, die einer solchen Kooperation grundsätzlich im Wege stehen könnten, ist schon weiter oben in diesem Schlusskapitel hingewiesen worden. Dementsprechend kann auch diese Kooperationshypothese auf der Grundlage der vorliegenden Studie gestützt werden. Auf der Grundlage dieser Ausführungen kann nun abschließend noch einmal die Frage thematisiert werden, wo zukünftige Forschungen als in besonderem Maße wünschenswert erscheinen bzw. wo sie an die vorliegende Untersuchung anschließen können. Teilweise ergeben sich diese Bereiche schon aus dem, was weiter oben mit Bezug auf die verschiedenen Hypothesen ausgeführt wurde, und hieraus ergibt sich auch in gewisser Weise der Ansatzpunkt, den die vorliegende Studie bietet.

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Soweit es sich hier um Kooperationsmodelle handelt, bedürfen diese natürlich grundsätzlich einer kritischen Überprüfung. Betrachtet man die einzelnen Werkphasen, so lassen sich innerhalb der jeweiligen gesellschaftstheoretischen Phasen folgende Bereiche hervorheben: Wie oben schon angedeutet, wurden die Verbindungsmöglichkeiten in der kritischen Analyse wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und deren Effekte hier nur in einem sehr begrenzten Rahmen analysiert. Spezifischere Studien sollten hier in der Lage sein, weitergehende Vermittlungsmodelle zu entwickeln. Abgesehen davon könnten zwei weitere Themenkomplexe von besonderem Interesse sein: Zum einen wäre das, was in der Arbeit als fruchtbares Spannungsverhältnis in Fragen der Vernunft bezeichnet wurde, genauer zu untersuchen, um zu überprüfen, wie es um die Möglichkeiten eines quasi zweigleisigen Ansatzes bestellt ist, der die gegenläufigen Analysemodi Habermas’ und Foucaults zwar integriert, aber nicht synthetisiert. Zum anderen ist hier ein Bereich zu erwähnen, der in der vorliegenden Arbeit nicht explizit zum Gegenstand des Vergleichs gemacht wurde: Das Verhältnis von Foucaults teilweise als welterschließend oder gar fiktional charakterisierter Kritik zu Habermas’ Kritikmodus. Auch zwischen der eruptiven Kraft der Foucault’schen Kritik und Habermas’ Suche nach Begründung und Maßstäben der Kritik besteht einerseits ein gewisses Spannungsverhältnis, andererseits eine fruchtbare und interessante Komplementarität. So dürften auch in diesem Bereich spezifischere Studien zu aufschlussreichen Ergebnissen gelangen. Auch auf die Richtung, die zukünftige Arbeiten bezüglich der moralphilosophischen/ethischen Phasen einschlagen könnten, ist schon weiter oben hingewiesen worden: Vor allem bestimmte Weiterentwicklungen des diskursethischen Ansatzes wären wünschenswert, um das Potential der ethisch-moralischen Arbeitsteilung zwischen den Ansätzen ausschöpfen zu können. Als Ansatzpunkt könnte unter anderem die Analyse dieses Themenkomplexes in der vorliegenden Studie dienen. Bis dahin bedürfen die Modalitäten einer Verbindung der Ansätze in Form einer Ästhetik der Existenz, die durch eine als Ethik des Dialoges interpretierte Diskursethik ergänzt wird, genauerer Klärung. Gleiches gilt für die letzten Phasen und die hier formulierte Kooperationshypothese. Auch die Details dieser Verbindung müssen noch genauer untersucht werden, bevor hier tatsächlich von einem robusten Modell die Rede sein kann. Mit Blick auf dieses letzte Vergleichskapitel muss auch ein Übergewicht eingeräumt werden, dass sich spiegelbildlich zum Vergleich der gesellschaftstheoretischen Entwürfe verhält: Lag dort der Schwerpunkt auf der reinen Ge-

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genüberstellung, so konzentriert sich hier die Darstellung auf die Untersuchung der Kooperationspotentiale. Entsprechend bedarf es vor allem bezüglich dieser letzten Werkphasen noch weiterer Forschungsleistungen, um das Verhältnis der Ansätze zueinander besser einschätzen zu können. Diesbezügliche Untersuchungen könnten an die entsprechenden Vergleichskapitel in dieser Studie anschließen. Jenseits all dieser Fragen sollte das, was in der vorliegenden Studie bezüglich der Frage einer Selbstkritik der Moderne erarbeitet wurde – die in den Binnenanalysen ermittelten kritischen Potentiale, aber vor allem auch die Möglichkeiten der Ergänzung beider Ansätze in den vergleichenden Analysen – in einer Vielzahl von Kontexten fruchtbar gemacht werden können. Die Debatte um die Modalitäten von Kritik wird unter teilweise sehr ähnlichen Vorzeichen nicht nur zwischen den Anhängern Habermas’ und Foucaults, sondern auch zwischen Liberalisten und Kommunitaristen oder zwischen unterschiedlichen feministischen Ansätzen geführt, in manchen Fällen sogar mit direktem Bezug auf Habermas und/oder Foucault. Bestimmte in der vorliegenden Studie entwickelte Argumentationen dürften also auch für diese Diskussionskontexte von Belang sein. Vor allem können die hier vorgeschlagenen Vermittlungsmodelle zwischen Foucaults und Habermas’ Kritikkonzeptionen als Ansatzpunkt dienen, um zu überprüfen, ob nicht analoge Kooperationspotentiale beispielsweise zwischen bestimmten feministischen Kritikentwürfen bestehen. Schließlich verlaufen etwa die Konfliktlinien zwischen den Positionen von Judith Butler und Seyla Benhabib oder Wendy Brown und Andrea Maihofer in einer Art und Weise, die beträchtliche Korrespondenzen zu einigen Aspekten des Verhältnisses Habermas/Foucault erkennen lässt. Die Vermittlungsvorschläge dieser Studie könnten demnach als Ansatzpunkt für eine Suche nach neuen Kritikentwürfen jenseits der strengen Dichotomien auch in diesen Kontexten dienen. In diesem Bereich – der Entwicklung innovativer und kreativer Formen von Kritik – erscheinen verstärkte Forschungsanstrengungen in der Zukunft überhaupt am notwendigsten und darüber hinaus auch lohnenswert. Die vorliegende Studie hofft, zu diesem Diskurs über die Selbstkritik der Moderne einen Beitrag leisten zu können.

Siglenverzeichnis

Michel Foucault Aesthetics Foucault, Michel 1988e: An Aesthetics of Existence, in: Lawrence D. Kritzman (Hg.), Michel Foucault: Politics, Philosophy, Culture. Interviews and other writings 1977–1984, London. Ästhetik Foucault, Michel 1984h: Eine Ästhetik der Existenz. Gespräch mit Alessandro Fontana, in: Ders., Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin, S. 133–141. AG Foucault, Michel 2001b: Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben [Gespräch mit R. Bellour], in: Daniel Defert (Hg.), Michel Foucault. Schriften. Band 1, Frankfurt/M., S. 750–768. AJ Foucault, Michel 1989z: The Anxiety of Judging, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 241-254. AÖ Foucault, Michel 1978b: Der ›Anti-Ödipus‹ – Eine Einführung in eine neue Lebenskunst, in: Ders., Dispositive der Macht, Berlin, S. 225–230. AW Foucault, Michel 1990a: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. (4. Auflage). B/P Foucault, Michel 1980b: Body/Power, in: Colin Gordon (Hg.), Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings by Michel Foucault, Brighton, S. 55–62. CfT Foucault, Michel 1989v: The Concern for Truth, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 455–464. CI Foucault, Michel 1994a: Critical Theory/Intellectual History, in: Michael Kelly (Hg.), Critique and Power. Recasting the Foucault/Habermas Debate, Cambridge, S. 109–138. CQP Foucault, Michel 1989m: Clarifications on the Question of Power, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 255–263. CS Foucault, Michel 1989b: Confining Societies, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 83–94. DCS Foucault, Michel 1989n: The Danger of Child Sexuality, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 264–274. DdM Foucault, Michel 1978c: Nein zum König Sex, in: Ders., Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. (3. Auflage), S. 15–38.

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DME DP DWA EC EMS EP

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MODERNE

Foucault, Michel 2001g: Was ist ein Autor?, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Frankfurt/M., S. 1003–1041. Foucault, Michel 1996: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Duccio Trombadori, Frankfurt/M. Foucault, Michel 1979: Discipline and Punish. The Birth of the Prison, New York. Foucault, Michel 1988g: Das Wahrsprechen des Anderen: Zwei Vorlesungen von 1983/84, Frankfurt/M. Foucault, Michel 1994e: The ethic of care for the self as a practice of freedom, in: James Bernauer (Hg.), The Final Foucault, Cambridge, S. 1–20. Foucault, Michel 1989l: The End of the Monarchy of Sex, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 214–225. Foucault, Michel 1980e: The Eye of Power, in: Colin Gordon (Hg.), Power/ Knowledge. Selected Interviews and Other Writings by Michel Foucault, Brighton, S. 146–165. Foucault, Michel 1978a: Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräche mit Angehörigen des Departement de Psychoanalyse der Universität Paris/Vincennes, in: Ders., Dispositive der Macht. Michel Foucault. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, S. 118-175. Foucault, Michel 2001e: Foucault antwortet Sartre [Gespräch mit J.-P. Elkabbach], in: Daniel Defert (Hg.), Michel Foucault. Schriften. Band 1, Frankfurt/M., S. 845–852. Foucault, Michel 1985: Freiheit und Selbstsorge, in: Helmut Becker (Hg.), Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt/M., S. 7–28. Foucault, Michel 1989f: From Torture to Cellblock, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 146–149. Foucault, Michel 1989y: Film and Popular Memory, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 122-132. Foucault, Michel 1984a: On the Genealogy of Ethics, in: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, New York, S. 340–372. Foucault, Michel 1988f: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blickes, Frankfurt/M. Foucault, Michel 1997: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt/M. (5. Auflage). Foucault, Michel 2000a: Die Gouvernementalität [Vorlesung vom 1.2.1978 am Collège de France], in: Ulrich Bröckling et al. (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., S. 41–67. Foucault, Michel 1980f: Preface, in: Ders., Herculine Barbin: Being the Recently discovered Memoirs of a 19th Century Hermaphrodite, New York, S. 1–18. Foucault, Michel 1989c: An Historian of Culture, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 95–104.

SIGLENVERZEICHNIS

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Foucault, Michel 1989r: How Much Does it Cost for Reason to Tell the Truth?, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 348–362. Foucault, Michel 1980a: The History of Sexuality, in: Colin Gordon (Hg.), Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings by Michel Foucault, Brighton, S. 183–193. Foucault, Michel 1977b: Intellectuals and Power, in: Donald F. Bouchard (Hg.), Language, Counter-Memory, Practice. Selected Essays and Interviews by Michel Foucault, Ithaca, S. 205–217. Foucault, Michel 2001d: Interview mit Michel Foucault [Gespräch mit I. Lindung], in: Daniel Defert (Hg.), Michel Foucault. Schriften. Band 1, Frankfurt/M., S. 831–844. Foucault, Michel 1988c: Iran: The Spirit of a World without Spirit, in: Lawrence D. Kritzman (Hg.), Michel Foucault: Politics, Philosophy, Culture. Interviews and other writings 1977–1984, London. Foucault, Michel 1994f: Omnes et singulatim. Zu einer Kritik der politischen Vernunft, in: Joseph Vogt (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/M., S. 65–93. Foucault, Michel 1976: Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin. Foucault, Michel 1984e: Der maskierte Philosoph, in: Ders., Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin, S. 9–24. Foucault, Michel 1984g: Nietzsche, Genealogy, History, in: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, New York, S. 76–100. Foucault, Michel 1989d: On Attica, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 113–121. Foucault, Michel 1995: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. (13. Auflage). Foucault, Michel 1974: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France – 2. Dezember 1970, München. Foucault, Michel 1988a: On Power, in: Lawrence D. Kritzman (Hg.), Michel Foucault: Politics, Philosophy, Culture. Interviews and other writings 1977–1984, London. Foucault, Michel 1989u: Problematics, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 416–422. Foucault, Michel, 1980d: Powers and Strategies, in: Colin Gordon (Hg.), Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings by Michel Foucault, Brighton, S. 134–145. Foucault, Michel 1989k: Power Affects the Body, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York. Foucault, Michel 1988b: Practicing Criticism, in: Lawrence D. Kritzman (Hg.), Michel Foucault: Politics, Philosophy, Culture. Interviews and other writings 1977–1984.

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Foucault, Michel 1994d: Politik und Ethik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42, S. 703–708. PG Foucault, Michel 1968: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt/M. PPP Foucault, Michel: 1984b: Polemics, Politics, and Problematizations, in: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, New York, S. 381–390. PSC Foucault, Michel 1989i: The Politics of Soviet Crime, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 190–195. PSD Foucault, Michel 1991b: Politics and the Study of Discourse, in: Graham Burchell/Colin Gordon/Peter Miller (Hg.), The Foucault Effect. Studies in Governmentality, London, S. 53–72. Questions Foucault, Michel 1987: Questions of Method, in: Kenneth Baynes/James Bohman/Thomas McCarthy (Hg.), After Philosophy. End or Transformation?, Cambridge, S. 100–118. R Foucault, Michel 2001f: Richtigstellung, in: Daniel Defert (Hg.), Michel Foucault. Schriften. Band 1, Frankfurt/M., S. 980. RA Foucault, Michel 1977a: Revolutionary Action: »Until Now«, in: Donald F. Bouchard (Hg.), Language, Counter-Memory, Practice. Selected Essays and Interviews by Michel Foucault, Ithaca, S. 218–234. RE Foucault, Michel 1989a: Rituals of Exclusion, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 68–73. Return Foucault, Michel 1988d: The Return of Morality, in: Lawrence D. Kritzman (Hg.), Michel Foucault: Politics, Philosophy, Culture. Interviews and other writings 1977–1984, London. RoM Foucault, Michel 1991a: Remarks on Marx. Conversations with Duccio Trombadori, New York. Rückkehr Focault, Michel 1990c: Die Rückkehr der Moral (Interview), in: E. Erdmann et al., Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/New York, S. 133–145. SaM Foucault, Michel 1984c: Sex als Moral, in: Ders., Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin, S. 69–84. SaP Foucault, Michel 1982: The Subject and Power, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault, Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago, S. 208–226. SC Foucault, Michel 1989h: Schizo-Culture: On Prison and Psychiatry, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 168–180. SCI Foucault, Michel 1989g: Schizo-Culture: Infantile Sexuality, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 154–167. SCSA Foucault, Michel 1989p: Sexual Choice, Sexual Act, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 322–334. SEN Foucault, Michel 1989j: The Social Extension of the Norm, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 196–199. SKP Foucault, Michel 1989q: Space, Knowledge, Power, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 335–347.

SIGLENVERZEICHNIS

SM SPH

SPPI SPS SS SW TaP

TF TIP TL TS ÜS VdF

VG WA

WE WG WK WOP WP

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Foucault, Michel 1989x: Socery and Madness, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 200–202. Foucault, Michel 2000b: Staatsphobie [1984], in: Ulrich Bröckling et al. (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt/M., S. 68–71. Foucault, Michel 1989s: Sex, Power and the Politics of Identity, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 382–390. Foucault, Michel 1983: Structuralism and Post-Structuralism: An Interview with Michel Foucault, in: TELOS 55, S. 194–205. Foucault, Michel 1988h: Social Security, in: Lawrence Kritzman (Hg.), Michel Foucault. Politics, Philosophy, Culture, New York, S. 159–177. Foucault, Michel 1993: Der Staub und die Wolke, Grafenau (2. Auflage). Foucault, Michel 1980c: Truth and Power, in: Colin Gordon (Hg.), Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings by Michel Foucault, Brighton, S. 109–133. Foucault, Michel 1989o: Truth is in the Future, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 298–301. Foucault, Michel 1989: The impossible Prison, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 275–286. Foucault, Michel 1994c: Two Lectures, in: Michael Kelly (Hg.), Critique and Power. Recasting the Foucault/Habermas Debate, Cambridge, S. 17–46. Foucault, Michel 1989e: Talk Show, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 133–145. Foucault, Michel 1994b: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. Foucault, Michel 1984d: Von der Freundschaft als Lebensweise, in: Ders., Von der Freundschaft als Lebensweise. Michel Foucault im Gespräch, Berlin, S. 85– 94. Foucault, Michel 1999: Zur Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975/76, Frankfurt/M. Foucault, Michel 1990b: Was ist Aufklärung?, in: Eva Erdmann/Rainer Forst/ Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt/M., S. 35–54. Foucault, Michel 1984f: What is Enlightenment?, in: Paul Rabinow (Hg.), The Foucault Reader, New York, S. 32–50. Foucault, Michel 1973: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. Foucault, Michel 1992: Was ist Kritik?, Berlin. Foucault, Michel 1989t: What Our Present Is, in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live. Interviews 1961–1984, New York, S. 407–415. Foucault, Michel 2001a: Was ist ein Philosoph? [Gespräch mit M.-G. Foy], in: Daniel Defert (Hg.), Michel Foucault. Schriften. Band 1, Frankfurt/M., S. 712– 713.

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Foucault, Michel 2001c: Wer sind Sie, Professor Foucault? [Gespräch mit P. Caruso], in: Daniel Defert (Hg.), Michel Foucault. Schriften. Band 1, Frankfurt/M., S. 770–793. Foucault, Michel 1998: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt/M. (10. Auflage).

Jürgen Habermas AK

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EA EDE Entg.

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Habermas, Jürgen 1997d: Nützlicher Maulwurf, der den schönen Rasen zerstört. Lessing–Preis für Alexander Kluge, in: Ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt/M., S. 136–149. Habermas, Jürgen 1999d: A Short Reply, in: Ratio Juris 12, S. 445–453. Habermas, Jürgen 1999g: Eine genealogische Betrachtung zum kognitiven Gehalt der Moral, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M., S. 11–64. Habermas, Jürgen 1999j: Bestialität und Humanität, in: DIE ZEIT vom 29. April, S. 1–10 (http://www.zeit.de/1999/18/199918_krieg.html). Habermas, Jürgen 2000: Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit »Erkenntnis und Interesse«, Frankfurt/M., S. 12–20. Habermas, Jürgen 2001b: Constitutional Democracy. A Paradoxical Union of Contradictory Principles, in: Political Theory 29, S. 766–781. Habermas, Jürgen 1983c: Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm, in: Ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt/M., S. 53–126. Habermas, Jürgen 1999k: Drei normative Modelle der Demokratie, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M., S. 277–292. Habermas, Jürgen 1999e: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. Habermas, Jürgen 1992e: Erläuterungen zur Diskursethik, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M., S. 119–226. Habermas, Jürgen 1988b: Entgegnung, in: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«, Frankfurt/M., S. 327–405. Habermas, Jürgen 1973a: Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt/M. Habermas, Jürgen 1992f: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Frankfurt/M. Habermas, Jürgen 1987a: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: Ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/M., S. 27–54.

SIGLENVERZEICHNIS

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MPM MRUM ND NLR PhDM PPI PT Replik

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UNI VEDE VP

VV

VZ WHHK

WLR WnP WME WR

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