Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert: Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne 9783839446980

This volume examines the transformations of Europe in the 20th and 21st centuries as intercultural transfers of aestheti

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German Pages 398 Year 2019

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Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert: Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne
 9783839446980

Table of contents :
Editorial
Inhalt
Einleitung
I. DISKURSRÄUME
Grenzen! Welche Grenzen?
Was hat die Interkulturelle Germanistik der Gedächtnistheorie zu sagen?
›Krise‹ und ›Kap‹
Transformationen von Grenzverhandlungen Europas
Grenzüberschreit/bungen als Lebens-&Sprach-Form
II. GENEALOGIEN
Grenzraum Osteuropa
Transit des Europäischen
Deutsche Täter, internationale Autoren, deutsche Exegeten
Transformationen von Debattenund Erinnerungskultur
Kakanien und Habsburg als Zukunftsmodell Europas?
III. TRANSFERS
»Das Recht auf Fremdheit«
Pier Paolo Pasolini und die Frage nach einem europäischen Nachkriegskino
Verführtes Denken: Das ›Schöne‹ und das ›Wahre‹ im Kalten Krieg
Hubert Fichte im Übergang des transatlantischen Umbruchs
Übergangshaftigkeit und Interkulturalität
Zu Schiffbrüchigen gewordene Utopien…
»Instabile Texte«
Literarische Grenzbewegungen
Harmonie ist eine Strategie
Autorinnen und Autoren

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Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.) Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert

Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft  | Band 18

Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut, Reto Rössler (Hg.)

Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne

Dieser Band geht zurück auf die Tagung »Europa im Übergang. Interkulturelle Transferprozesse – Internationale Deutungshorizonte« der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik (GiG) an der Europa-Univerisät Flensburg (2017), die von der Europa-Universität Flensburg, dem DAAD und der GiG gefördert wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Sebastian Dräger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4698-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4698-0 https://doi.org/10.14361/9783839446980 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Editorial Differenzen zwischen Kulturen – und die daraus resultierenden Effekte – sind seit jeher der Normalfall. Sie zeigen sich in der Erkundung der »Fremden« schon seit Herodot, in der Entdeckung vorher unbekannter Kulturen (etwa durch Kolumbus), in der Unterdrückung anderer Kulturen im Kolonialismus oder aktuell in den unterschiedlichen grenzüberschreitenden Begegnungsformen in einer globalisierten und »vernetzten« Welt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit »Interkulturalität« erfuhr entscheidende Impulse durch die »anthropologische Wende« in den Geisteswissenschaften und durch das seit den 1970er Jahren etablierte Fach der Interkulturellen Kommunikation. Grundlegend ist dabei, Interkulturalität nicht statisch, sondern als fortwährenden Prozess zu begreifen und sie einer beständigen Neuauslegung zu unterziehen. Denn gerade ihre gegenwärtige, unter dem Vorzeichen von Globalisierung, Postkolonialismus und Migration stehende Präsenz im öffentlichen Diskurs dokumentiert, dass das innovative und utopische Potenzial von Interkulturalität noch längst nicht ausgeschöpft ist. Die Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft greift die rege Diskussion in den Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften auf und versammelt innovative Beiträge, die den theoretischen Grundlagen und historischen Perspektiven der Interkulturalitätsforschung gelten sowie ihre interdisziplinäre Fundierung ausweiten und vertiefen. Die Reihe wird herausgegeben von Andrea Bogner, Dieter Heimböckel und Manfred Weinberg.

Wolfgang Johann (Dr.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Kritische Theorie, Holocaust-Literatur und Repräsentation des Holocaust in der deutschen Gesellschaft sowie auf der Deutsch-Jüdischen Literatur. Iulia-Karin Patrut (Prof. Dr.), geb. 1975, lehrt und forscht an der Europa-Universität Flensburg im Bereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft im europäischen Kontext. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatur und Interkulturalität, deutsch-jüdische Literatur, Paul Celan sowie die literarischen Verhandlungen Europas und der »Nation« seit 1770. Reto Rössler (Dr. des.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Literatur- und Wissensgeschichte, Metaphorologie und Literaturtheorie.

Inhalt Einleitung Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne

Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut und Reto Rössler | 9

I.

DISKURSRÄUME

Grenzen! Welche Grenzen? Zur Bedeutung von Vergangenheit, Imaginärem und Regionalität für ein Europa im Übergang

Manfred Weinberg | 31

Was hat die Interkulturelle Germanistik der Gedächtnistheorie zu sagen? Über das Konzept eines interkulturellen Gedächtnisses

Dominik Zink | 43

›Krise‹ und ›Kap‹ Figurationen Europas in/als Literatur- und Kulturtheorie (Husserl/Derrida)

Reto Rössler | 69

Transformationen von Grenzverhandlungen Europas Von Georg Philipp Harsdörffers Verkörperungen zu Thomas Manns Figurationen des Übergangs

Iulia-Karin Patrut | 93

Grenzüberschreit /b ungen als Lebens- &Sprach- Form Europäische Kulturinstitutionen und poetische Multilingualität in der Gegenwartslyrik – am Beispiel von Dagmara Kraus

Maren Jäger | 113

II. GENEALOGIEN Grenzraum Osteuropa Inter- und transkulturelle Narrative bei Joseph Roth

László V. Szabó | 135

Transit des Europäischen Poetik und Politik bei Anna Seghers

Till Breyer und Philipp Weber | 149

Deutsche Täter, internationale Autoren, deutsche Exegeten Exilierte Nazis in der spanischsprachigen Literatur und ihre Rezeption in der deutschsprachigen Literaturkritik

Marco Thomas Bosshard | 165

Transformationen von Debatten- und Erinnerungskultur Identität, ›Vergangenheitsbewältigung‹ und der ›europäische‹ Institutionenroman. Ein kooperativer Kommentar nach dem ›Ende der Theorie‹

Wolfgang Johann und Reto Rössler | 175

Kakanien und Habsburg als Zukunftsmodell Europas? Zur Aktualisierung und Funktionalisierung eines Mythos bei Ilma Rakusa und Robert Menasse

Lena Wetenkamp | 203

III. TRANSFERS »Das Recht auf Fremdheit« Invertierte Mythopoetik und mikrophilologische Deutungsspielräume in Paul Celans Schibboleth

Wolfgang Johann | 225

Pier Paolo Pasolini und die Frage nach einem europäischen Nachkriegskino

Isabelle Chaplot | 239

Verführtes Denken: Das ›Schöne‹ und das ›Wahre‹ im Kalten Krieg Literarische Aushandlungen zwischen Ost und West

Anna Grutza | 259

Hubert Fichte im Übergang des transatlantischen Umbruchs Gesellschaften im Wandel

Isabelle Leitloff | 289

Übergangshaftigkeit und Interkulturalität Figurationen einer Ästhetik des Brüchigen in Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee

Nadjib Sadikou | 301

Zu Schiffbrüchigen gewordene Utopien… Auflösungsprozesse der DDR in der Ambiguität ihrer Bilder: Lutz Seilers Inselroman Kruso

Withold Bonner | 315

»Instabile Texte« Poesie und Poetik migratorischer Text-Bild-Transformationen

Beate Laudenberg | 331

Literarische Grenzbewegungen Zu den »Autogeographien« Katja Petrowskajas und Juri Andruchowytschs

Sabine Egger | 345

Harmonie ist eine Strategie Gattungs- und Formwissen in Ali Smiths ›Brexit-Roman‹ Autumn (2016)

Florian Kläger | 371

Autorinnen und Autoren | 389

Einleitung Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert. Zur Ästhetik und Wissensgeschichte der interkulturellen Moderne Wolfgang Johann, Iulia-Karin Patrut und Reto Rössler

An Europa scheiden sich die Geister. Das beginnt schon damit, dass man sich bis heute weder über die Außen- noch über die Binnengrenzen des Kontinents endgültig verständigen konnte. Einigkeit scheint nur darin zu bestehen, dass sich Europa beständig wandelt, doch jede Frage nach der Gestaltung dieses Wandlungsprozesses fördert Uneinigkeit zutage. Als die Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GiG) ihre Jahrestagung 2017 an der Europa-Universität Flensburg unter die Überschrift »Europa im Übergang. Interkulturelle Transferprozesse – Internationale Deutungshorizonte« stellte, war nicht nur an den Einigungsprozess seit dem Zweiten Weltkrieg gedacht. Die Debatte um Europa ist älter, reicht tiefer und berührt den Selbstentwurf von Menschen und Gesellschaft in einer Art und Weise, die historische Forschung verlangt und gerade die Literatur und Sprachwissenschaften, die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften vor neue – auch interdisziplinäre – Herausforderungen stellt. Die Vorträge in den einzelnen Sektionen, die Foren und die Fachgespräche auf dieser Tagung haben immer wieder deutlich gemacht, wie unterschiedlich der Blick auf Europa ist, wie verschieden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus West-, Mittel-, Ost- und Südosteuropa, aus Afrika und Asien, aus Indien und Lateinamerika auf den Kontinent blicken und seine Rolle in der Welt beurteilen – was angesichts ihres gemeinsamen Gegenstandes bezeichnend für das Wechselspiel von Einigkeit und Uneinigkeit in und über den Kontinent ist. Deutlich wurde auch, dass Übergänge und Transformationsprozesse nicht unbedingt dasselbe sind.

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Zwar kann man sagen, dass jeder Transformationsprozess einen Übergang gestaltet, doch längst nicht jeder Übergang ist ein reflektiert gestalteter Prozess. 1 Aus heutiger Sicht legt das Wort ›Transformation‹ nahe, darunter einen Vorgang zu verstehen, bei dem Menschen sich als Initiatoren und formgebende Akteure verstehen können. Damit handelt es sich um einen politischen Prozess, über dessen Verlaufsform nach heutigen Standards demokratisch entschieden werden muss. 2 Demgegenüber können sich ›Übergänge‹ auch ohne Anstoß und Mitwirkung des Menschen vollziehen. 3 Vor diesem Hintergrund stellt sich besonders dringlich die Frage nach dem Verhältnis von Übergängen und Transformationsprozessen, die eine interkulturelle Dimension aufweisen, die also nicht nur mit Blick auf die Form, sondern auch mit Blick auf Macht, Machtasymmetrien und Anerkennungsfragen besonders heikel sind. Seitens der mit Europa befassten Wissenschaften – seien es die etablierten Disziplinen der Soziologie, der Geschichts- und Literaturwissenschaften, der Politik-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, der Geographie, der Religionswissenschaft und der Psychologie, seien es die jüngst entstandenen interdisziplinären Europa-Studien – wird diese Problematik als eine Herausforderung gesehen, die auch innerhalb von Forschung und Lehre Transformationsprozesse nötig macht. Diese Herausforderung geht weit über die Aufgabe der Politikberatung hinaus, sie betrifft gesellschaftliche Selbstentwürfe, die Erinnerungskulturen der Welt und die Beiträge, die Kunst und Literatur bei der Formgebung leisten können. Eine zusätzliche Herausforderung ergibt sich dabei aus der Vermittlung unterschiedlicher, mitunter sogar gegensätzlicher Positionen, die sich nur historisch erklären und klären lassen. Diese genealogische Tiefendimension erfordert eine Neubewertung, vielleicht sogar Umstrukturierung jener Übergänge und Transformationsprozesse, die man Geschichte nennt. Dieser Band richtet das Augenmerk auf jene Umbrüche von einem Denken in Kontinuitäten, geschlossenen Formen und Genealo-

1

Michel Foucault hat unter Verweis auf die unhintergehbare Verstrickung von Wissen, Macht und assujettissement zurecht auf die Unmöglichkeit individueller Kontrolle und Steuerung von Transformationsprozessen, die das Selbst und die Gesellschaft betreffen, aufmerksam gemacht.

2

Gerade anders als Polanyi, der die nicht steuerbaren Transformationsprozesse beschrieb (Polanyi 1977).

3

Der Begriff des ›Übergangs‹, der von Friedrich Hölderlin prominent in Das Werden im Vergehen eingeführt wurde, ist um einiges offener als der Begriff der Transformation, weil er das zu benennen versucht, was sich sogar der Illusion von Gestaltbarkeit und weitgehend auch der Wahrnehmung entzieht.

Einleitung | 11

gien zu einem Denken in Diskontinuitäten, das sich ohne mit einem bestimmten Ereignis zusammenzufallen, im langen 19. Jahrhundert vollzogen hat. Es lässt sich ablesen an Nietzsches Überlegung, Inwiefern es in Europa immer künstlerischer zugehen wird, jener Passage im fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft (1882/1887), in der der Philosoph behauptet, den Kollektiven sei ihr sinnstiftender Charakter abhanden gekommen. »Wi r A l l e s i n d ke i n M a t e r i a l me h r f ü r e i n e G e s el l s ch af t : das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist!« (Nietzsche 1980 [KSA 3]: 597; Herv. i. Orig.). Dieser Auffassung Nietzsches gibt die heutige Soziologie – allen voran die Systemtheorie – Recht: die Möglichkeiten und Spielräume des Individuums sind so vielgestaltig, die Funktionen, die Einzelne einnehmen, so unterschiedlich, die gesellschaftlichen Abläufe schließlich so spezialisiert und ausdifferenziert, dass Versuche, Gesellschaft als ein Verhältnis von klar abgegrenzten Teilen zu einem Ganzen darzustellen, obsolet geworden sind (vgl. z.B. Reckwitz 2017). Die Individuen sind kein »S t ei n i n e i n e m g ro s s en B au e « (Nietzsche 1980 [KSA 3]: 597; Herv. i. Orig.) mehr, und sie sind nicht »f es t « (ebd.) im Sinne klar abgegrenzter Identitäten, sondern sie entwerfen sich selbst immer wieder von Neuem: Es entsteht ein Raum, »wo Jeder mit sich versucht, improvisiert, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird . . . « (Nietzsche 1980 [KSA 3]: 596). Wenn jeder Mensch sein eigenes ständig in Transformation befindliches ›Kunstwerk‹ – im Sinne ständig selbst entworfener und modifizierter Identitäten – wird, kann Europa ebenso wenig ein Ganzes sein wie Gesellschaften als Totalität gedacht werden können. Interessant und bedenkenswert ist, dass Nietzsche in diesem Zusammenhang das Aufkommen eines neuen Menschentypus, des Schauspielers, gegen jenen älteren Typus stellt, der im Zuge dieses Übergangs benachteiligt wird, nämlich den des ›Baumeisters‹. Denn wenn er mit dieser Diagnose recht hat, muss man sich fragen, inwiefern Europa überhaupt noch als Bauwerk – sei es als transnationale Regierungsarchitektur, sei es als ›Festung‹, sei es als Stammsitz bestimmter ›Völker‹ – gedacht werden kann. Die beständige Versuchung, zu solchen und anderen mehr oder weniger statischen Raumvorstellungen zurückzukehren, die gerade in jüngster Zeit, bedingt durch das Aufkommen nationalkonservativer oder gar rechtsextremer Bewegungen verstärkt zu beobachten ist, scheint umso größer zu sein, als der Übergang zum Dauerzustand, zum modus operandi Europas wird. Die komplementäre Versuchung, zu schauspielern, zum planlosen Rollen- und Maskenspiel, kann keine echte Alternative sein. Weiterführend und produktiver sind an dieser Stelle womöglich literarästhetische Verhandlungsräume, die dieses Dilemma zuspitzen und an die Leserschaft zurückspielen – etwa Kafkas Erzählungen Beim Bau der chinesischen Mauer und Der Bau sowie

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sein Romanfragment Das Schloss. Liest man diese Texte mit Blick auf Europa, kann man das Aufeinanderprallen jenes Anspruchs auf architektonische Geschlossenheit, den institutionalisierte Macht und nationalistische Ideologien erheben, und der erlebten Wirksamkeit des Übergängigen förmlich spüren. Zwischen diesen beiden Polen vollziehen sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts Transformationen Europas, denen die Beiträge dieses Bandes in interkultureller und internationaler Perspektive nachgehen. Die neue, architektonisch nicht mehr einzuhegende Dynamik und Diversität von Übergängen und Transformationsprozessen ist von der modernen Literatur aufmerksam registriert und ausbuchstabiert worden: In der poetischen Entgrenzung des Stadtraums (paradigmatisch hierfür Joyces Ulysses), in der multiplen Neuordnung der Geschlechteridentitäten und -verhältnisse (Woolfs Orlando), in der romanhaften Vernetzung von Gedächtnisspuren (Prousts À la recherche du temps perdu), Traditionssträngen (Brochs Tod des Vergil), in der ironischkomplexen Vermittlung von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn (Musils Mann ohne Eigenschaften) oder in jener Überblendung von Mythos und Moderne (Thomas Manns Joseph und seine Brüder), die sich gegen die antihumanitäre Wende der Geschichte während des Nationalsozialismus zu richten versucht. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie angesichts der Fragmentarisierung von Erfahrungswelten Übergänge poetisch formen – eine paradoxe Operation, die zu den selbst- und weltreflexiven Vermögen literarischer Texte gehören und die durch das Sistieren der unmittelbaren Verweisungsfunktion von Sprache, mithin durch Fiktionalität, möglich werden. Dass diese Fähigkeit der Literatur, interkulturelle Begegnungen und Übergänge zu gestalten, keineswegs im Modus selbstgefälligen Konfabulierens erfolgt, lässt sich an der Debatte über die Krise des Erzählens ablesen, die zeitgleich geführt wird, und ihrerseits eng verzahnt ist mit den Umbrüchen im Medienhaushalt der Moderne, denen seitdem bis hin zur Digitalisierung immer neue ›disruptive‹ Übergänge gefolgt sind. Gerade an ihnen wird die Notwendigkeit gesellschaftlich gestalteter Transformationsprozesse evident. Die Erkenntnis dieses Vermögens existiert bereits seit der Zeit um 1800. Schon Novalis schrieb: »Nichts ist poetischer als alle Übergänge und heterogene Mischungen« (Novalis 1977 [Bd. 3]: 587). In Friedrich Schlegels Geschichte der europäischen Literatur und in seinem Gespräch über die Poesie finden sich vergleichbare Bemerkungen, die neben der Würdigung von Übergängen und dem auf Transformationsprozesse bezogenen Gestaltungswunsch eine weitere Gemeinsamkeit mit der Moderne und den Avantgarden des 20. Jahrhunderts aufweisen: das Interesse an Interkulturalität. Ob es um das Erkenntnispotential geht, das die poetische Auseinandersetzung mit anderen Sprachen, Schriften, Wissen-

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schaftssystemen oder Kunsttraditionen enthält (paradigmatisch in Novalis’ Begriff der ›Hieroglyphistik‹) oder um das Potential interkultureller Verständigung als Chance, politische, religiöse und ökonomische Machtasymmetrien und die eigene Befangenheit in Vorurteilen und Gewaltbereitschaft, aber auch die erinnerte Geschichte zu revidieren (paradigmatisch in der Begegnung zwischen Heinrich und Zulima in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen): die poetische Gestaltung von Übergängen wird in der Frühromantik im wahrsten Sinne präfiguriert. Nicht umsonst greifen im 20. Jahrhundert Walter Benjamin, Paul Celan, Yoko Tawada sowie Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach der Jahrtausendwende, gerade was die ›heterogenen Mischungen‹ angeht, Denkfiguren der Frühromantik auf und hinterlegen damit Erfahrungen, Herausforderungen und ästhetische Szenarien der interkulturellen Moderne. Nichtsdestotrotz verändern sich die Darstellungsweisen und der Stellenwert der Reflexionen über ›Transformation‹ im 20. und 21. Jahrhundert maßgeblich: Beides rückt allmählich ins Zentrum der Arbeit am individuellen und europäischen ›Selbst‹. Spätestens mit dem radikalen Nihilismus vieler Avantgarde-Bewegungen wie dem Dada stehen Schnitte und Brüche im Mittelpunkt, und es ist die nahezu wichtigste Aufgabe der Rezipientinnen und Rezipienten, ›Übergänge‹ zwischen einzelnen Elementen zu konstruieren, um Collagen, Performances und Installationen Sinn abzugewinnen. Die Abgrenzung beider Begriffe ist überaus schwierig; unbestritten dürfte aber sein, dass sich der Imperativ politischer Gestaltung ebenso aufdrängt, wie sich für Literatur als Kunst hier Möglichkeiten auftun: durch ihre Fiktionalität, durch Mehrfachcodierung von textinternen Relationen, die sich reflexiv oder modifizierend auf Erkenntnis und letztlich auf die Episteme auswirken können, sowie durch eine Vielzahl weiterer Verfahren, die von den Beiträgen in diesem Band angesprochen werden, gestalten literarische Texte ›Übergängliches‹. Dies gilt auch und gerade mit Blick auf – immer auch anders mögliche – Binnen- und Außengrenzziehungen Europas: auf deren Formbarkeit, Durchlässigkeit und Wandlungsfähigkeit. Jeder Umbruch, jeder Übergang, jeder Transformationsprozess stellt Überkommenes, Überliefertes, ›Überständiges‹ (Thomas Mann) infrage, ist mit Grenzüberschreitungen und -verschiebungen verbunden, die Einfluss auf individuelle und kollektive Identitäten, den politischen Einigungsprozess und die kulturelle Entwicklung hin zur Vielfalt haben. Dies ist ein Befund, in dem sich die jüngere Europa-Forschung durchaus einig ist (vgl. Ette 2001; Schlögel 2002; Schlögel 2015; Osthues/Beck 2016; Steidl 2017).

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Nicht einig sind sich die Forscherinnen und Forscher hingegen, sobald es um die Rollenverteilung, Zuständigkeit und Deutungshoheit der Fächer, Teilöffentlichkeiten, politischen Ebenen, der Medien und der Kunst geht. Den Wissenschaften, der Politik, den breiten Öffentlichkeiten und Künsten bedeutet der Name des Kontinents jeweils etwas Anderes, und innerhalb dieser Denkräume erhalten Zugänge und Auffassungen von Europa einen Facettenreichtum bis hin zur Unvereinbarkeit (vgl. Breyer/Weber 2018; Kläger/Wagner-Egelhaaf 2016). Dabei versucht der neu aufgekommene interdisziplinäre Wissenschaftszweig der ›EuropaStudien‹ auch in der akademischen Lehre, Querbezüge auf diesem ebenso disparaten wie dynamischen Feld herzustellen und Heuristiken, Theorien und Methoden zu entwickeln, die fachübergreifend Geltung beanspruchen. EuropaStudiengänge an Universitäten wie der Viadrina in Frankfurt/Oder, der EuropaUniversität Flensburg, an der HU Berlin (»Europäische Literaturen«), in Hamburg, Konstanz (»Kulturen Europas in einer multipolaren Weltordnung«), Bonn oder Regensburg, in London, Cluj-Napoca, Wien oder Maastricht (um nur einige wenige zu nennen) belegen, wie vielfältig die Herangehensweisen an Europa sind, und wie intrikat deren Vermittlung sein kann. Jenseits vieler wissenschaftlicher Fachkulturen und in einem allenfalls losen Interdependenzverhältnis zu diesen stehend, werden auf der Ebene der politischen Union im Namen der Bürgerinnen und Bürger schwerwiegende ökonomische, humanitäre, aber auch kulturelle Entscheidungen getroffen – von der Geflüchteten-Politik über die Bekämpfung des Klimawandels bis hin zur Digitalsteuer. Auf der politischen Bühne agieren seit einigen Jahren auch Nationalisten, Populisten und Rechtsextreme, die neue Formen konservativer Gegenöffentlichkeiten bilden und an Identitätsmodellen festhalten, denen das Transformatorische abgeht und die auf stabile ›Feinde‹ angewiesen sind (Olschanski 2017; Stegemann 2017; Brömmel/König/Sicking 2017). Auch dies gehört in einer ganz grundlegenden Weise zum Uneins-Sein Europas. Die Vielgestaltigkeit Europas, vielleicht auch der nie zu einem Ende kommende Streit um sein Uneins-Sein, sind zweifelsohne Folgen einer Entwicklung, deren Anfänge im ›aufklärerischen‹ und demokratischen Gedankengut überall auf der Welt zu finden sind. Aus dem Recht auf Selbstbestimmung der eigenen Identität als unabschließbarer Transformation ergibt sich die Freiheit, Europa als offenes Projekt, als dynamischen Zeit-Raum zu entwerfen, innerhalb dessen Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen ebenso Verhandlungssache sind wie individuelle oder kollektive Identitäten – die plastisch und formbar sind und allenfalls als individuelle Momentaufnahmen arretiert werden können. Diese Entwicklung bringt unweigerlich die Frage nach adäquaten, neuen ästhetischen Formen mit sich. In der Natur der enormen Intensivierung interkultu-

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reller Vernetzung insbesondere nach 1989 liegt es, dass Potentiale der Vermittlung von Wissenschaftskulturen genutzt werden und die Reflexion eigener und fremder epistemischer Traditionen befördert wird. Im Sinne der ›Wissenspoetiken‹ sind ästhetische Formen und Heuristiken ohnehin so eng verwoben, dass ihre Trennung der Beschneidung eines zusammenhängenden Gegenstandes gleichkommt. In diesem Sinne befassen sich mehrere Beiträge des Bandes mit Wissensformaten und dem Wandel von Erkenntnisdispositiven – mit Phänomenen, die durchaus nicht selten in den Fokus literarischer Texte geraten. Auch die Wissenschaften unterliegen den Herausforderungen der Pluralisierung, angesichts der Vielzahl an Gesichtspunkten, unter denen Binnen- und Außenunterscheidungen – nicht nur mit Blick auf den Kontinent, sondern letztlich auf jede Heuristik – denkbar sind. Die Transformationen Europas verliehen aber unbestritten sowohl der Literatur als auch der bildenden Kunst Impulse zur Entwicklung eigener Formensprachen. War in früheren Zeiten der Entwurf Europas als einem Ganzen neu und herausfordernd (Detering 2017; Kläger/Bayer 2016), so ist es im 20. Jahrhundert die Gestaltung der Übergänge und der Transformationen, der Innovationspotential innewohnt (Braun 2018; Osthues 2017; Wetenkamp 2017; Bloch/Heimböckel/Tropper 2014). Interferenzen, Wechselwirkungen, Transfers, Übersetzungsleistungen zwischen einzelnen Sprachen, Wissenschaftszweigen oder auch Kulturen ziehen große Aufmerksamkeit auf sich und setzen künstlerische Energien frei, weil aus ihnen, so die Erwartung, Neues hervorgeht – und daran knüpft sich wiederum die Erwartung, dass literarische Reflexionen und Entwürfe positivere Auswirkungen auf die soziale Verfasstheit des Kontinents haben und möglicherweise eine demokratischere Gesellschaft befördern können (Lützeler 1992; Lützeler 2001; Lützeler 2007; Lützeler 2012). So sehr diese Überlegungen individuelle Menschenrechte und Demokratie zu stärken versprechen, so sehr sie Europa als einen Ermöglichungs-Zusammenhang entwerfen, so ist doch eine gewisse Skepsis nicht von der Hand zu weisen (vgl. Brunkhorst 2014; Bubmann 2016). Zum einen existieren weiterhin – insbesondere in Gestalt der neuen rechten Bewegungen – archaisch anmutende Identitätskonzepte, die klare Grenzen nach außen und Homogenität nach innen konstruieren, auf Ausschlüsse setzen und auch in organisierter Form sowie in politischen Vertretungen bis hin zum Europa-Parlament in Erscheinung treten. Für Literatur und Kunst seit der Jahrtausendwende ist diese Irritation der Euphorie über die Durchlässigkeit von Grenzen Anstoß zu literarischen Texten und Kunstwerken geworden, die – zuweilen fast etwas didaktisch – negative Folgen solchen Denkens veranschaulichen. In den jüngsten literarischen Veröffentlichungen seit

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2015 geht es etwa häufig um das Leid der Geflüchteten auf dem Mittelmeer. Über die Empathie für das Schicksal der Geflüchteten hinaus offenbart der Umgang mit Flucht und Vertreibung aber auch (Bauman 2017; Emcke 2016), dass an und mit den Grenzen des Kontinents grundsätzlich etwas nicht stimmt: über Jahrhunderte, insbesondere im Kolonialismus gefestigte Asymmetrien im Verhältnis zu den anderen Kontinenten, wirken fort und nach (Albrecht 2008; Göttsche/Dürbeck/Dunker 2017; Göttsche/Dunker 2014). Das vermeintlich ›europäische‹ Versprechen universeller Menschenrechte, die Emphase, mit der die Idee der Selbstbestimmung vorgetragen wurde, werden entweder als illusionär oder als exklusiv, mitunter auch als neoliberal entlarvt (vgl. Ther 2016; Ther 2017). Zweifelsohne birgt das Uneins-Sein Stoff für Konflikte. Ist beispielsweise von Religion die Rede, würdigen einige die Kulturleistungen des Kontinents auf jüdisch-christlich-muslimische Transfers zurück, während bereits für Friedrich Nietzsche »der Sieg des wissenschaftlichen Atheismus […] ein gesamteuropäisches Ereignis [war] an dem alle Rassen ihren Anteil von Verdienst und Ehre haben sollen« (Nietzsche 1954: 226). In Zum alten Probleme: was ist deutsch? – einem Essay, in dem die Abkehr von kollektiven Identitäten und die Hinwendung zu einem Geist der kritischen Selbst-Transformation beschrieben wird (vgl. Heit/Thorgeirsdottir 2016), entwirft Nietzsche ein anderes Projekt als das der Staatenunion. Niemand ist indes vor Irrtümern gefeit – auch der hier wegen seines offenen Europa-Konzeptes zitierte ›Umwerter‹ und Nihilist argumentierte zuweilen martialisch und scheute davor zurück, die Grenzen zwischen den Geschlechtern infrage zu stellen. Diesem Spannungsverhältnis zwischen produktiven Potentialen eines Europas der Übergänge einerseits und Konflikten, Kontroversen, divergierenden Interessen und Doppelbödigkeiten andererseits trägt auch die in den letzten Jahren entstandene literatur- und kulturwissenschaftliche Europaforschung Rechnung, an die viele Beiträge in diesem Band anknüpfen. Zu den neuen, sicherlich vielversprechenden Richtungen zählt dabei die Hinwendung zu Erinnerungskulturen – weil die Transformation des Erinnerten, wenn sie die Grenzen nationaler Paradigmen überschreitet, gemeinsame, von Übergängen geprägte Perspektiven auf Geschichte und Genealogie generiert (vgl. Assmann 2012; Zink 2017). Die Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen sich der Transformationen Europas mit Blick auf Theorien, Narrative und Ästhetiken in den drei Sektionen Diskursräume, Genealogien und Transfers an. Sie verstehen sich als mehrstimmige, international ausgerichtete Stellungnahmen zu aktuellen Verhandlungen Europas in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung und zielen darauf, die (künstlerischen) Potentiale von ›Übergängen‹ für Europa zu profilieren, ohne dabei die Krisen, Konflikte und Machtasymmetrien aus dem Blick zu ver-

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lieren, die gegenwärtig zu den Auseinandersetzungen um den Kontinent gehören. Jede genealogische Rekonstruktion der künstlerisch-literarischen Figurationen des Interkulturellen unter Einbeziehung wissensgeschichtlichen Wandels muss freilich ihrerseits fragmentarisch bleiben. Sie kann sich nur als Beitrag zu einem Forschungsfeld verstehen, dessen Produktivität noch für lange Zeit gewiss ist. Dieser Band versteht sich als ein solcher Beitrag, und sieht seine Aufgabe darin, internationale Perspektiven auf die interkulturelle Moderne im Gespräch zu halten – in einem Gespräch, das bereits im Rahmen der Tagung »Europa im Übergang« begann. Auf eine chronologische Ordnung der Beiträge wurde zugunsten einer systematischen verzichtet.

I. DISKURSRÄUME In der ersten Sektion Diskursräume liegt der Schwerpunkt zunächst auf im weiteren Sinne kulturwissenschaftlichen Theorieimpulsen und Interventionen, welche den Europa-Diskurs im 20. und 21. Jahrhundert auch weit über die Grenzen der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hinaus geprägt haben bzw. noch immer prägen. Wie etwa lässt sich auf den spätestens seit der sogenannten »Flüchtlingskrise« von 2015 vielerorts spürbar erstarkenden Nationalismus in Europa reagieren? Welche ›Gegennarrative‹ bieten sich an, um populistischen Forderungen nach der Wiedererrichtung harter Grenzen zu begegnen? Dieser gegenwärtig besonders drängenden Frage wendet sich MANFRED WEINBERG in seinem Beitrag zu. Er weist zunächst auf die Gefahren und Risiken hin, welche das Denken eines ›Europas in Übergängen‹ immer auch in sich birgt – dann nämlich, wenn es sich hierbei um ein Theoretisieren ›von oben‹ handelt. Beschränkt man sich etwa darauf, robusten politischen Konzepten, wie denen der ›Grenze‹ und ›Nation‹, lediglich solche der ›Permeabilität‹ oder ›Transkontinentalität‹ als bloße Gegenfiguren gegenüberzustellen, so droht ein derartiges ›Neu‹Denken ins Leere zu laufen. Weinberg plädiert daher zunächst für eine forcierte Theoriearbeit, die Europa sowohl mit Blick auf das historisch Imaginäre der Nation als auch im Kontext einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur zunächst besser zu verstehen lernt. Blickt man von dieser jüngsten Gegenwart aus theoriegeschichtlich etwas weiter zurück, so wurden Europaerzählungen in der Literatur wie auch die gesellschaftspolitische Debatte um ein gemeinsames europäisches Gedächtnis ganz entscheidend durch die ›kulturwissenschaftliche Wende‹ seit den 1980er-Jahren und in diesem Rahmen durch das – inzwischen fest etablierte – Forschungsfeld

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›Gedächtnistheorie und Erinnerungskultur‹ beeinflusst und geprägt. DOMINIK ZINK nimmt diesen Umstand zum Anlass, das Verhältnis im Sinne einer kritischen Re-Evaluation einschlägiger Modellierungen des ›kollektiven Erinnerns‹ probeweise umzudrehen, wenn er im Titel seines Beitrags fragt: »Was hat die Interkulturelle Germanistik der Gedächtnistheorie zu sagen?« Sein Beitrag beantwortet diese Frage dahingehend, dass bestehende Erinnerungstheorien zumeist ein ›ideales‹, geistiges oder kulturell Unhintergehbares behaupten, das sich jedoch mit gegenwärtigen Verhältnissen von Repression und Ausbeutung innerhalb einer globalisierten Welt oftmals nur schwer zur Deckung bringen lässt. Angesichts dessen schlägt er vor, das kulturelle Konzept ›Erinnerung‹ nicht nur unter der Bedingung gelingender, sondern ebenso scheiternder – weil nicht artikulierbarer – Erinnerungsakte zu sehen. In der Darstellung eines ›interkulturellen europäischen Gedächtnisses‹ erweise sich die Gegenwartsliteratur nicht selten als der Theoriebildung bereits voraus – wenn etwa Autorinnen wie Julya Rabinowich oder Nino Haratischwili in ihren Romanen gerade von Marginalisierung und vom Unsagbaren der Erinnerung – etwa den Lebenswirklichkeiten von Migrantinnen und Migranten, Sexarbeiterinnen oder politisch Verfolgten – erzählen. Die narrativen Verschiebungen bzw. Umbesetzungen von Europanarrativen am Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts rekonstruiert sodann der Beitrag von RETO RÖSSLER, indem er entlang der jeweils struktur- bzw. paradigmenbildenden Europa-Figurationen ›Krise‹ und ›Kap‹ die enge Verschränkung von Literatur- bzw. Kulturtheorie und der politischen Imaginationsgeschichte Europas herausarbeitet. Wenn nach dem Ersten Weltkrieg die Frage nach Europa auffallend häufig im Zusammenhang mit kulturellen Krisendiagnosen gestellt wird, so implizieren die hier vorgenommenen Rekonstruktionsversuche innerhalb des literarischen Feldes der Weimarer Republik zum einen nicht selten ein Telos der Geschichte sowie die Behauptung erster europäischer ›Anfänge‹ (darunter ›Griechenland‹, ›Rom‹, die ›Philosophie‹; die ›Aufklärung‹ oder schlicht ›die neuzeitlichen Wissenschaften‹). Zum anderen bildet sich hier ein Habitus philosophischer Analyse und Gründlichkeit aus, dessen Bemühen, die gegenwärtige europäische Situation zu ›verstehen‹ zugleich in die Ausarbeitung einer philosophischen bzw. literatur- und kulturtheoretischen ›Methode‹ mündet: so etwa in Edmund Husserls Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie (1936). Nach dem Fall der Berliner Mauer ist es dagegen Jacques Derrida, der in seinem Essay L’autre cap (1992) in Auseinandersetzung mit Husserls Krisis-Schrift die Metaphorik des ›Kaps‹ als eine nichtteleologische und dynamisch-fluide Denkfigur für ein ›Europa der Übergänge‹ ins Spiel bringt. Stellvertretend stehen beide Figuren seitdem auch – dies zeigt

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ein kurzer Ausblick auf die Entwicklung seit den 1990er Jahren – für die literatur- und kulturtheoretischen Debatten zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion im Kontext von Europa und dem politischen Imaginären. Der Beitrag von IULIA-KARIN PATRUT zeigt, dass ästhetische Figurationen von Interkulturalität zu den Möglichkeiten, die Beschaffenheit und das Selbstverständnis Europas zu verhandeln, gehörten. Dies war schon in der Frühen Neuzeit im Drama Japeta von Georg Philipp Harsdörffer der Fall, das in Reaktion auf den Dreißigjährigen Krieg das Frieden stiftende Europa als interkulturelle Vermittlungs- und Friedensfigur entwirft. Tut er dies noch unter Einsatz allegorischer Verkörperungen, die klare Grenzen und Hierarchien suggerieren, wird ein Europa des Friedens angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkriegs mit ganz anderen ästhetischen Figurationen des Interkulturellen literarisch evoziert: Thomas Mann fokussiert mit seinem Konzept des ›Kosmopolitismus‹ gerade nicht auf die für Literatur und Kunst lange schon obsolet gewordenen Grenzen, sondern auf Übergänge, und entlarvt völkische wie nationale Prägungen von Literatur als unkünstlerische, der interkulturellen Moderne nicht mehr gemäße Auswüchse. In ihrem diese erste Sektion beschließenden Beitrag macht MAREN JÄGER schließlich in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik eine poetische »Sprachund Lebensform« der Grenzüberschreitung aus. Im Rückgriff auf Theorieansätze des postcolonial turn, darunter Homi K. Bhabhas Konzept der cultural hybridity, liest sie ausgewählte Gedichte der Lyrikerin Dagmara Kraus (*1981) als poetische Realisierungen eines ›Dritten Raums‹ (Third Space): als nichthegemonialen Ort der Verhandlung sprachlicher Bedeutungen sowie als Praxis einer ›translingualen Lyrik‹, die »sich tief in die Sprachschichten Europas hineinbohrt« und dabei aus heterogenem Sprachmaterial unterschiedlicher Nationalsprachen einen vielstimmigen Klangkörper erzeugt.

II. GENEALOGIEN Europa hat sich im 20. Jahrhundert vorzugsweise über sein ›Anderes‹ konstituiert: über jene politischen Formationen und Verkörperungen, die – sei es räumlich oder zeitlich – vermeintlich leicht abseits seiner unmittelbaren Präsenz und/oder Gegenwart lagen und die ihm dabei dennoch als zugehörig erschienen: Gleichwohl gestalten sich derartige Versuche, Identität qua Differenz zu bestimmen, als stets ambivalente und nicht selten problematische Unternehmungen. So dienten die im vergangenen Jahrhundert vielfach bemühten Rekurse auf einstige Imperien und Großmächte der Antike, des Mittelalters oder der Frühen

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Neuzeit dazu, robuste Identitäten, wenn nicht sogar Ideologien und (rassistische) Feindbilder zu erzeugen und zu festigen. Die Genealogien, die diese zweite Sektion versammelt, unterscheiden sich hiervon jedoch insofern, als sie Europa gerade nicht mehr definitorisch/genealogisch festschreiben, sondern im bewussten Bruch mit ebendieser Tradition die Historizität, Gemachtheit und Veränderbarkeit politischer Gebilde, normativer Ordnungen und Grenzen darzustellen suchen: sei es im Blick auf Europa aus der Außenperspektive der marginalisierten Exilautorin, dessen Perspektivierung im ›Diskursraum Osteuropa‹, in Formen und Praktiken der ›Erinnerung‹ an Ausgrenzung, Gewalt und Völkermord im Namen Europas und/oder seiner Nationen sowie in der Dekonstruktion politischhegemonialer Erzählmuster. Ein besonderes Augenmerk auf Inter- und Transkulturalität in der Zwischenkriegszeit wirft zunächst LÁSZLÓ V. SZABÓ in seinem Beitrag zu Joseph Roth. In den Romanen Hiob (1930) und Radetzkymarsch (1932) weist er die Konstruktion Galiziens als (ost)europäischer ›Chronotopos‹ im Sinne Bachtins sowie als ›(poli)kulturelle‹ contact zone Osteuropas nach, in der – in dieser Phase – Menschen unterschiedlichster Herkunft, Religion und Weltanschauung zusammenkamen und miteinander friedlich koexistierten. Dass zur Transformation Europas im 20. Jahrhundert ganz wesentlich auch die Erfahrungsrealitäten während der beiden Weltkriege zählen, darauf machen TILL BREYER und PHILIPP WEBER anhand von Anna Seghers’ im mexikanischen Exil entstandenen Roman Transit (1941/42) aufmerksam. Dieser Roman kann, wenngleich nicht vordergründig von Europa handelnd, doch als »Transit des Europäischen« gelesen werden, weil er emphatische Beschwörungen eines ›europäischen Geistes‹ seit der Romantik mit der Unmittelbarkeit von Grenzen, den Erfahrungen von Flucht, Verfolgung, Staatenlosigkeit und Gewalt konfrontiert und so der Figur des ›Übergangs‹ das ihr notwendige materiale Komplement der Betrachtung hinzufügt. Der fiktionalen Darstellung des Nationalsozialismus in weltliterarischer Perspektive geht MARCO THOMAS BOSSHARD mit zwei Beispielen aus der spanischsprachigen Welt nach. Er untersucht die fiktionale Repräsentanz von Nazi-Protagonisten in den beiden Werken von Lucía Puenzo (Wakolda) und Menédez Salmón (Medusa) insbesondere hinsichtlich der deutschsprachigen Reaktionen im Feuilleton anlässlich der deutschen Übersetzungen beider Werke. Der überraschende Befund, wonach beide ›Nazifiktionen‹ gänzlich unterschiedlich rezipiert wurden, lässt sich, so die These des Beitrags, mit einer moralischen Erwartungshaltung der deutschen Rezensenten erklären, denen die beiden Werke unterschiedlich zu genügen scheinen.

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Der bundesdeutschen Debatte um die Erinnerungskultur wie auch ihren gegenwärtigen Tendenzen im Hinblick auf Europa und eine gesamteuropäische Kultur des ›Erinnerns‹ ist ebenfalls der gemeinsame Beitrag von WOLFGANG JOHANN und RETO RÖSSLER gewidmet. In ihrem »kooperativen Kommentar« arbeiten sie Transformationen des Erinnerns in der Bonner und Berliner Republik heraus und weisen die Nachwendezeit der 1990er Jahre als einen diskursiven Umschlagpunkt aus, um daran anschließend im Rekurs auf unterschiedliche literatur- und kulturtheoretische Perspektiven dieser Zeit die Relevanz, die Möglichkeiten und Grenzen von Fiktionen und ›Narrativen‹ für die Geschichtsschreibung zu diskutieren. Als eine ausgesprochen wirkmächtige Europa-Erzählung im 20. und 21. Jahrhundert hat sich – so paradox dies vielleicht klingen mag – auch der Habsburg-Mythos erwiesen, dessen Nachleben in der Gegenwartsliteratur schließlich LENA WETENKAMP in ihrem Beitrag nachspürt. Gereichte die nostalgische Erinnerung an die vermeintliche Glanzzeit der untergegangenen k.u.k-Monarchie insbesondere in den Jahren der Zwischenkriegszeit noch dazu, Kakanien als Modell für ein künftiges Europa anzusehen, so ist die moderne Rezeption dieses Mythos seit der Nachwendezeit vorwiegend durch ›gebrochene‹ bzw. ›durchkreuzende‹ Bezugnahmen gekennzeichnet. Exemplarisch hierfür können die literarischen Werke Ilma Rakusas und Robert Menasses stehen, denen die Verwendung von Techniken der Verfremdung, des einmontierten Zitats oder der versteckten, Komplexität erzeugenden Anspielung gemeinsam ist, die in beiden Fällen nicht zuletzt auch dazu dient, die Grenzen und Fallstricke einer solchen Mythopoetik hinsichtlich der Möglichkeit, Europa gegenwärtig ›erzählen‹ zu können, auszuloten. Dessen ungeachtet fokussieren beide Autor*innen auf die transnationale Dimension des Habsburg-Mythos: Während Rakusas autobiographisch geprägte Texte dabei stärker die Differenz zwischen bestehender nationaler Grenze und Erinnerung, Tradition und Zugehörigkeitsgefühl hervorheben, betont Menasse eher die Relevanz, Reichweite und Wirkmächtigkeit politischer Narration, deren Ziel es sein sollte, möglichst alle Bürgerinnen und Bürger Europas an demokratischen Prozessen zu beteiligen.

III. TRANSFERS Die dritte Sektion des Bandes versammelt schließlich exemplarische Einzellektüren der neueren und neuesten Literatur (bzw. auch des Films) zu Europa. Die hier besprochenen und analysierten Werke sowie die ihnen zugrundeliegenden Autor*innenpoetiken eint dabei eine besondere Sensitivität für das mehrdeutige,

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verfremdende Spiel der Kunst, der es schon seit jeher eigen gewesen ist, soziale und historische Wirklichkeiten einerseits genau zu beobachten (d.h. auch die sich hier ereignenden Prozesse von Inklusion und Exklusion, Machtasymmetrien etc. zu rekonstruieren), andererseits aber auch Spielräume für Veränderung auszuloten und damit ihr utopisches Potenzial zu realisieren. Die ästhetischen Produktionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts adressieren Europa dabei mittelbar wie unmittelbar von der historischen Zäsur von 1945 aus. Pars pro toto für eine solche engagierte Literatur im Gedenken an bzw. im Ausgang von ›Auschwitz‹ kann die Lyrik Paul Celans stehen, deren politische Dimension WOLFGANG JOHANN am Beispiel des Gedichtes Schibboleth hervorhebt. In seiner Analyse zeigt er auf, dass Celan mythopoetische Aspekte mit philosophischen und zeitgeistkritischen Implikationen verbindet. Zentrales Element der Interpretation, die sowohl an Celans Meridian anknüpft als auch auf seine Korrespondenz mit Petre Solomon zurückgreift, bildet zudem die Figur der Inversion, die sich vor allem in Celans Frühwerk finden lässt. Der These ISABELLE CHAPLOTS folgend, bestimmte jedoch nicht allein die Literatur, sondern ebenso auch der Nachkriegsfilm seine sujets und Darstellungsweisen ausgehend von der europäischen Situation nach 1945. So thematisieren die beiden dem Frühwerk des italienischen Regisseurs Pier Paolo Pasolini zuzurechnenden Filme Accatone (1961) und Mamma Roma (1962) Formen sozialer Exklusion und die Spirale aus Armut und Gewalt am Beispiel der prekären Existenzweisen marginalisierter junger Vorstädter Roms. Entgegen der betont unkritischen Tradition des Heimatfilms, welche das europäische Kino der 1950er Jahre maßgeblich prägte, bricht der italienische Neorealismus bewusst mit dem Tabu, dem zufolge über die Kontinuitäten zwischen faschistischen Regimes und der sich etablierenden italienischen bzw. europäischen Nachkriegsgesellschaft nicht gesprochen werden durfte. Das demgegenüber utopische, mithin transformatorische Potenzial aus dem Geist der Kunst manifestiert sich in Pasolinis Filmen in seinen überbordenden Bild- und Tonkompositionen: in den vielfältigen intertextuellen bzw. intermedialen Anspielungen auf die europäischen Künste seit der Antike, in der imposanten Bildrhetorik von terrains vagues am Rande der Ruinen und Plattenbauten der Großstadt (welche die stete Möglichkeit auf Veränderung anzeigt) sowie in den visuellen und klanglichen Epiphanien, in denen ein ›Heiliges‹ wie auch eine kommende ›Gemeinschaft‹ aufscheinen. Exemplarisch für ›Transformationen Europas‹ speziell in der osteuropäischen – hier: der polnischen und tschechischen – Literatur nach 1945 rekonstruiert ANNA GRUTZA in Romanen von Czesław Miłosz und Milan Kundera die komplexen Wechselbeziehungen und Transfers zwischen ›Ost‹ und ›West‹ während der Zeit des Kalten Krieges. In ihren Analysen zu Verführtes Denken

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(1980) und Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (1984) hebt sie zum einen die scheinbar unvergänglichen platonischen Ideen des ›Wahren‹ und des ›Schönen‹ als Distinktionsmarker hervor, über die beide Werke die unterschiedlichen Konstruktionen sozialer und historischer Wirklichkeit innerhalb der ehemaligen Ostblockstaaten anzeigen; zum anderen weist sie in den Romanen nach, »dass es gerade die unterschiedlichen Formen einer individuellen Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsanspruch und den ästhetischen Wirklichkeitsprämissen des Kommunismus bzw. real existierenden Sozialismus waren, die das erneute Zusammenwachsen Europas trotz der vermeintlichen Undurchlässigkeit des ›Eisernen Vorhangs‹ förderten«. Indes transformierte sich Europa zu keinem Zeitpunkt in und durch sich selbst, sondern immer in Auseinandersetzung mit ›dem Anderen‹, der nichtbzw. außereuropäischen Welt. Spätestens ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts implizierten derartige Relationierungen jedoch immer auch eine kritische Reflexion – sowohl des kolonialen Erbes als auch der eigenen ›westlichen‹ Kategorien und Denkschemata. Vor diesem Hintergrund beschreibt ISABELLE LEITLOFF die ethnographische Prosa Hubert Fichtes als eine ›Poetik der Transformation‹, sofern diese sich einerseits der Dekonstruktion von Dualitäten sowie der fortwährenden Aushandlung neuer kultureller Setzungen andererseits verschreibt. Dass die Versuche, Europa mit ästhetischen Mitteln zu transformieren, nicht zuletzt auch ein zentrales Anliegen der neuesten Literatur – nach 2000 – waren bzw. sind, zeigen in eindrücklicher Weise die letzten vier Beiträge dieses Bandes. Ausgehend von Marc Augés raumtheoretischen Überlegungen untersucht zunächst NADJIB SADIKOU »Figurationen einer Ästhetik des Brüchigen« in Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee (2003). In Analogie zur hierin eröffneten Perspektive auf den ›Welt-Raum‹, der ebenfalls einer ständig akzelerierenden Transformation unterworfen ist, sind auch die wahrgenommenen Grenzverläufe in Hoppes Roman durch ein spürbar hohes Maß an Verunsicherung, die stets zweierlei – Augenblicke der Gefahr, aber auch die Hoffnung auf Veränderung – impliziert, geprägt. In ganz ähnlicher, nämlich ebenfalls raumtheoretischer Perspektive interpretiert sodann WITHOLD BONNER Lutz Seilers Kruso (2014) als heterotopischen Inselroman. Den offenkundigen Gegensatz zwischen den maritimen bzw. insularen Bilderwelten des Romans sieht er dabei in offenem Widerspruch zur Lebenswirklichkeit seines Protagonisten, was wiederum die Machtasymmetrien innerhalb des bereits im Untergang begriffenen DDRSystems im Sommer 1989 deutlich hervortreten lässt. Doch bildet die Literatur, insbesondere die Lyrik, Kontexte von politischer Grenzveränderung, Migration und Exklusion nicht nur lediglich ab oder nach;

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vielmehr zeigt sich, wie BEATE LAUDENBERG ausführt, dass sich die Mehrdeutigkeit interkultureller Europa-Literatur vor allem auch auf der Ebene ihrer sprachlichen Gestaltung, ihrer Lautlichkeit und des Schriftbilds beschreiben und analysieren lässt, weshalb Analysen ohne Berücksichtigung dieser Aspekte zu kurz greifen. Komplementär zu Maren Jägers eingehender Interpretation der Gedichte von Dagmara Kraus (→ Sektion 1) stellt sich ihr Beitrag dazu als breit angelegte Querschnittsuntersuchung interkultureller Gegenwartslyrik dar. Texte von Autorinnen und Autoren wie José F. A. Oliver, Ilija Trojanow oder Yōko Tawada zeigen eindrucksvoll, dass das migratorische Potenzial literarischer Texte immer auch mit Blick auf ihre ›Instabilitäten‹, etwa ihr bricolierendes Spiel mit ›Text-Bild-Transformationen‹, zu betrachten und zu bestimmen ist. SABINE EGGER wendet sich ›literarischen Grenzbewegungen‹ ebenfalls noch einmal aus gattungspoetologischer Perspektive zu und macht dabei in den Romanen Katja Petrowskajas und Juri Andruchowytschs eine eigene, bislang unbemerkte Darstellungsform aus: die der »Autogeographie«. Gemeint sind damit Formen des Erzählens, welche Reflexionen über die Historizität – und damit immer auch: die Künstlichkeit und Veränderbarkeit – von Grenzen mit Weisen des autobiographischen Schreibens verschränken. Die Form der ›Autogeographie‹ verknüpft räumlich wie zeitlich disparate Entwicklungen Europas in transnationalen Zusammenhängen, sie kombiniert Fragen der gegenwärtigen politischen Ereignisgeschichte mit Repräsentationsweisen einer europäischen Erinnerungskultur. Neben ihrer Beschäftigung mit historischen Transformationen und der Arbeit an einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur wendet sich die Literatur aber auch den aktuellen Transformationsprozessen innerhalb Europas zu. So hat sich inzwischen der Terminus BrexLit als eigene Genrebezeichnung für literarische Texte etabliert, welche die Ereignisse rund um den Brexit verhandeln. Einen bereits kanonischen Text innerhalb dieses neuen Genres, Ali Smiths Roman Autumn (2016), interpretiert FLORIAN KLÄGER in seinem den Band beschließenden Beitrag aus gattungsgeschichtlicher Perspektive. Der Roman referiert auf die viktorianische Tradition des ›Condition-of-England‹-Romans und wendet dabei dessen Perspektive eines ›Englands der zwei Nationen‹ auf die gegenwärtige Situation im vereinigten Königreich an, befindet dabei jedoch dessen Lösungsmechanismus – einen Dialog zwischen den Kulturen – für untauglich. Zugleich aber nimmt der Roman die Perspektive der Remainers und deren Suche nach Orientierung ein, und er legt nahe, dass eine Lösung nur in einem gemeinsamen und europäischen Archiv zu finden sei.

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I. Diskursräume

Grenzen! Welche Grenzen? Zur Bedeutung von Vergangenheit, Imaginärem und Regionalität für ein Europa im Übergang Manfred Weinberg

ABSTRACT The article points out that a mere recourse to given borders and to the states designated by them, for the purpose of a proliferating nationalism on the one hand, and intercultural transfer processes on the other hand, in the present-day Europe falls too short. To deal with the subject of a ›Europe in Transition‹ must obviously also take into account the currently imaginary parts of a national, but also, if present, pan-European culture of remembrance. From a theoretical point of view, this inevitably leads to questioning the terms culture, nation, border and horizon as well as interculturality and internationality once again for their suitability for the description of Europe. Keywords: Border – Culture – Horizon – Nation – Interculturalitiy – Internationality.

Der Call for Papers zur Tagung der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 2017 in Flensburg, auf den dieser Sammelband wie andere zurückgeht, begann: »Europa wird unter Bedingungen von Transkontinentalität und Mehrsprachigkeit gegenwärtig neu gedacht.« (Call for Papers GiG-Tagung Flensburg 2016: 213) Dieser Einstieg ist wohl optimistisch gemeint und sieht noch eine Chance für Europa. Grenzen, so heißt es weiter, würden nun »in einem Spektrum wahrgenommen, das von der Permeabilität bis zur Abgrenzung reicht.« (Ebd.) Ich nehme an, dass dabei der Begriff der »Permeabilität« für die positiven Entwick-

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lungschancen Europas stehen sollte, der der »Abgrenzung« dagegen für die negative Aussicht eines noch weiter wachsenden Nationalismus. Aber kommen wir mit derlei Zuschreibungen weiter? Jedenfalls sind sie nicht neu. In seiner Auseinandersetzung mit Hannah Arendts Text Wir Flüchtlinge hat Giorgio Agamben schon 1993 formuliert: Bevor es in Europa wieder Konzentrationslager gibt (was zu geschehen droht), ist es notwendig, den Mut zu finden, in den und für die Nationalstaaten sowohl das Abstammungsprinzip selbst als auch die Dreieinigkeit Staat-Nation-Territorium, die auf diesem Prinzip gründet, in Frage zu stellen. (Agamben 2001)

Hinsichtlich der Wege dahin erinnert Agamben an Überlegungen, Jerusalem »zur Hauptstadt zweier verschiedener staatlicher Gebilde« zu machen, und zwar gleichzeitig und ohne irgendwelche territoriale Aufteilung. Damit wäre der paradoxe Zustand reziproker Extraterritorialität (oder besser: Aterritorialität) geschaffen, eine Grundlage, auf der, vorausgesetzt, sie ließe sich verallgemeinern, ein Modell neuartiger internationaler Beziehungen aufbauen könnte. An der Stelle zweier Nationalstaaten, die von gefährlichen und bedrohlichen Grenzen getrennt werden, könnte man sich vielleicht zwei politische Gemeinwesen vorstellen, die in ein und derselben Gegend heimisch sind und die ein wechselseitiger Exodus durchquert, verbunden in einer Folge reziproker Extraterritorialitäten, deren Leitbegriff nicht länger das Recht (ius) der Staatsbürgerschaft als vielmehr die Zuflucht (refugium) für den Einzelnen wäre. In ähnlicher Art und Weise könnte man Europa betrachten: nicht als das unmögliche ›Europa der Nationen‹, dessen Katastrophe schon binnen kürzester Frist zu erwarten ist, sondern als einen aterritorialen und extraterritorialen Raum, der allen Bewohnern (ob sie nun Staatsbürger sind oder nicht) der europäischen Länder Bewegungsmöglichkeit und Zuflucht bietet. (Ebd.)

Diesen europäischen Raum würde nach Agamben »ein irreduzibles Auseinandertreten von Geburt, Abstammung und Nation« (ebd.) kennzeichnen. Einerseits hat mich diese Schlussüberlegung in Agambens Text, als ich sie vor einiger Zeit wieder las, erschreckt, weil sich das, was hier – sicher gut gemeint – imaginiert wurde, als völlig aus der Zeit gefallen liest, was die Veränderungen der letzten Jahrzehnte schlagartig ins Licht treten lässt. Man machte sich heutzutage wohl lächerlich, wenn man angesichts des neuen Nationalismus nicht nur in Europa noch von einer ›reziproken Aterritorialität‹ träumte. Andererseits: In dem Vierteljahrhundert Jahren seit dem Verfassen des Textes sind weder Konzentrationslager (im herkömmlichen Sinn des Wortes) in Europa entstanden,

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noch ist es zur ultimativen Katastrophe gekommen, die Agamben »binnen kürzester Frist« erwartet hatte. Auch Giorgio Agamben träumt im Übrigen längst von Anderem. In einem Interview zu seinem Buch L’uso dei corpi (»Der Gebrauch der Körper«) von 2014 sagt er zwar: »Ein Europa, wie ich es mir wünsche, kann es erst geben, wenn das real existierende ›Europa‹ kollabiert ist.« (Agamben 2015) Das Europa seiner Wünsche aber rückt er nun ins Zeichen des Begriffs »Geschäftslosigkeit«. Gemeint sei damit »weder Nichtstun noch Muße, sondern eine besondere Form der Tätigkeit, die darin besteht, die Werke der Ökonomie, des Rechts, der Biologie und so weiter zu deaktivieren und außer Kraft zu setzen, um sie einem neuen Gebrauch zu öffnen.« (Ebd.) Als »schlagendes Beispiel« dafür nennt er die Dichtung, denn: »Was ist Dichtung anderes als eine sprachliche Operation, die darin besteht, die informativen und kommunikativen Funktionen der Sprache zu neutralisieren, um sie einem anderen Gebrauch zu öffnen [...]?« Ein weiteres Beispiel sei das Fest, das darin bestehe, »das, was wir gewöhnlich machen, auf andere Weise zu machen, das heißt zunichtezumachen oder unwirksam zu machen.« (Ebd.) Man kann das ›grundsätzlicher‹ und ›tiefgreifender‹ finden als ein Nachdenken über aufzuhebende Grenzen, vor allem aber ist es weniger konkret. Die Hoffnung auf ein anderes Europa ist für Agamben nun die alte Hoffnung auf ein anderes Leben der Menschen überhaupt, nicht mehr die auf ein anderes Zusammenleben im Rahmen überwundener Nationen. Als Beitrag zu einem Streit mit Judith Butler und Sabine Hark hat Alice Schwarzer im August 2017 in der ZEIT geschrieben, immer sei da »eine Kluft zwischen (hehrer) Theorie beziehungsweise Ideologie und (niederer) Wirklichkeit« (Schwarzer 2017). »Butler und ihre[] Anhängerschaft« hielten »ihre radikalen Gedankenspiele für Realität« – man müsse eben »[e]infach queer sein«. Schwarzer hält dagegen: »Doch die Verhältnisse, die sind nicht so. Leider sind wir in der bunten Welt der Queerness noch nicht angekommen.« Die »Butlerschen Denkkonstrukte«, so schließt Schwarzer, seien »von manchen Anhängern apodiktischer rezipiert worden, als sie gemeint sind. Diese jungen Akademikerinnen und Akademiker sind damit für ein wissenschaftliches und politisches Denken verloren.« Dabei gehe es doch »um so viel mehr; nämlich um die elementarsten Menschenrechte der Frauen in unserer Welt. Denn es gibt sie noch, die Frauen! Und ihnen macht gerade ein gewaltiger Rollback zu schaffen: von Trump bis Erdoğan, vom Konsumwahn bis zur Zwangsverschleierung. Gehen wir es an.« (Ebd.) Was so wirken mag, als sei ich mit diesem Seitenblick von meinem Thema abgekommen, ist meines Erachtens ein präziser Beitrag zu ihm. Zunächst gehört

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dieser Streit (auf beiden Seiten 1) für mich in eine lange Reihe von lautstark geführten Auseinandersetzungen, die auf einem Niveau stattfinden, das sich fürwahr kaum noch unterbieten lässt. (Ein anderes von vielen Beispielen ist der Streit um den Zustand der Germanistik vom Anfang des Jahres 2017.) Trotzdem tun alle Beteiligten dabei so, als ob sie dächten. Gilt dies etwa auch für das neue Denken über Europa, mit dem der Call for Papers zur Flensburger GiG-Tagung 2017 eröffnete? Ist dieses ›neue Denken‹ nicht allzu oft bloß ›hehre Theorie‹ und manchmal Ausblick auf eine als schon gegeben gedachte ›Queerness‹ Europas? Müsste einem zum aktuellen Europa nicht etwas anderes als ›Aterritorialität‹ und ›Geschäftslosigkeit‹ einfallen? Gilt nicht auch für Europa, dass wir mit einem »Rollback« konfrontiert sind, angesichts dessen sich auch ein bloßes »Gehen wir es an« nur lächerlich ausnimmt? Umgekehrt aber: Reicht ein Aufruf zur Tat? Müssen wir nicht erst einmal Europa besser verstehen, um überhaupt zu wissen, was anzugehen ist – und bedarf es dazu nicht eben doch der zur Not auch hehren Theorie, die Europa überhaupt erst fassbar macht und ohne die man nur – in einem anderen Rollback – die alten Forderungen perpetuiert? Die zwei eklatantesten Beispiele von Rückschrittlichkeit finde ich dabei sozusagen vor meiner Prager Haustür, denn in Polen und Ungarn wird derzeit nicht nur die Demokratie abgeschafft, sondern steht die jeweilige Regierungspolitik im Zeichen eines entschiedenen, um nicht zu sagen blindwütigen Nationalismus. Dabei ist bemerkenswert, dass die Berichterstattung selbst in deutschen Qualitätszeitungen der tatsächlichen Situation selten gerecht wird, was wohl daran liegt, dass sie zu falschen Bedingungen stattfindet. Das könnte aber auch für eine neue wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Europa gelten. Womöglich

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Schwarzer reagiert auf den ebenfalls in der ZEIT erschienenen Beitrag »Die Verleumdung« von Judith Butler und Sabine Hark (Butler/Hark 2017). Diese bezogen sich dabei auf den Text »Die Sargnägel des Feminismus«, den Vojin Saša Vukadinović in der Emma publiziert hatte (Vukadinović 2017). Vukadinović verlängerte damit eine Diskussion, die die Beiträge des Bandes Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten (l’Amour LaLove 2017) begonnen hatten. Das ›Niveau‹ der Auseinandersetzung illustriert auch folgender Passus aus dem Beitrag von Butler und Hark, der sich den Text von Vukadinović bezieht: »Liefert uns dieser Text nicht [...] ein Beispiel für eine ruchlose Rede? Ohne Achtung für Wahrheit, obwohl er selbst fordert, Feminismus müsse objektiver werden? In jedem Fall bietet er Anlass zur Sorge, ob sich inzwischen eine Form von ›Trumpism‹ im Feld des Feminismus eingerichtet hat: Sag, was immer du willst, beleidige oder verletze nach Belieben und sorge dich nicht, ob das, was du sagst, wahr ist oder ob es Schaden anrichtet in der Welt.« (Butler/Hark 2017).

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ist diesem Nationalismus gar nicht mehr vom Raummodell der Grenze resp. begrenzter Nationen her und auch nicht mehr mit einer bloßen Beschränkung auf die Gegenwart und das Faktische beizukommen. In Ungarn etwa findet sich seit einiger Zeit immer öfter ein altes, noch Transsylvanien, die Slowakei, die Vojvodina, das Burgenland und die Karpatenukraine umfassendes ›Großungarn‹ nostalgisch beschworen, das am 4. Juni 1920 mit dem Vertrag von Trianon als Folge des Ersten Weltkriegs aufgehört hat zu existieren. Man findet es auf Autohecks, T-Shirts sowie in einem – selbst in anspruchsvollen Buchhandlungen zu erwerbenden – Atlas, in dem Straßen- und Ortsnamen, auch wo sie das heutige Rumänien betreffen, auf Ungarisch zu lesen sind. Das Phänomen hat inzwischen sogar die Mode erfasst; seit 2009 trägt jedes Kleidungsstück der ungarischen Firma Harcos eine wortreiche »Warnung«, die den Liberalismus als die »schädlichste Ideologie aller Zeiten« (Ingendaay 2017) 2 tadelt und versichert, dass sich die Träger von Harcos-Produkten »vom grauen Mittelmaß, den Sklaven des Systems« (ebd.), abhöben, jenen, die nicht empfinden könnten, dass »das ungarische Volk des Karpatenbeckens eines und unteilbar ist, unabhängig von gegenwärtigen Grenzen« (ebd.). Das meint erst einmal: Die heutigen nationalen Grenzen gelten einem solchen Denken nichts; es gilt vielmehr die ruhmreiche Vergangenheit, die sich in der Gegenwart als Imaginäres zeigt. Was hilft also die Rede von einem ungarischen Nationalismus, wenn man diesen bloß als einen der derzeit real existierenden ungarischen Nation denkt? Entscheidend scheint mir: Nicht der begrenzte Staat Ungarn wird mittels dieses aus der Vergangenheit abgeleiteten Imaginären anders gedacht, sondern – was immer das ist – ›das Ungarische‹. Im Call for Papers zur Flensburger GiG-Tagung ist auch von »grenzüberschreitenden Regionen wie der Bukowina und Galizien« (Call for Papers GiGTagung Flensburg 2016: 214) die Rede. Welche Grenzen aber wären da überschritten worden? Zwar gehört die nördliche Hälfte der Bukowina heute zur Ukraine und die südliche zu Rumänien. Doch historisch war sie jahrhundertelang ein Teil des historischen Fürstentums Moldau und gehörte von 1775 bis 1918 zur Habsburgermonarchie. Die Bukowina war also keine grenzüberschreitende, wohl aber eine plurikulturelle Region. In ihrem Gedicht Bukowina II

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Paul Ingendaay bespricht in diesem Artikel einen Vortrag, den die ungarische Soziologin Virág Molnár, Professorin an der New School for Social Research, New York, und im Frühjahr 2017 ›Axel Springer Fellow‹ an der American Academy in Berlin, im Februar 2017 dort gehalten hat. Ihr an der American Academy vorangetriebenes Projekt trägt den Titel: »Civil Society and the Return of Radical Nationalism in Postsocialist Hungary«.

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schreibt Rose Ausländer von einer »Landschaft« 3, die von »viersprachig verbrüderte[n]/Liedern/in entzweiter Zeit« (Ausländer 1984: 72) geprägt gewesen sei. In Bukowina III heißt es: »Vier Sprachen/Viersprachenlieder//Menschen/die sich verstehn« (ebd.: 130). Mit den vier Sprachen sind – vielleicht muss man es doch sagen – Deutsch, Jiddisch, Rumänisch und Ukrainisch gemeint. Ausländer fokussiert also auf die Region und hebt dabei gerade nicht auf deren Grenzen ab, die sozusagen auf einer ganz anderen Ebene liegen. Auch für die mir naheliegenden Böhmischen Länder gilt, dass sie nie grenzüberschreitend waren. Sie waren bis 1918 begrenzter Teil der k.u.k.-Monarchie Österreich-Ungarn und bildeten danach – in anderen Grenzen – die Erste Tschechoslowakische Republik. Nach dem Münchner Abkommen von 1938 wurde zunächst Sudetendeutschland Teil des Deutschen Reiches, das so seine Grenzen verschob, bevor dann 1939 auch noch die sogenannte ›Rest-Tschechei‹ diesem einverleibt wurde. An der Interkulturalität der Böhmischen Länder hat keine dieser Grenzverschiebungen etwas geändert; das tat erst die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute aber kann ein tschechischer Präsident in einer Weihnachtsansprache (von 2015, also angesichts der Flüchtlingskrise) äußern: »Dieses Land ist unser Land, es ist nicht für alle da und kann auch nicht für alle da sein« (zit. nach Kokot 2016) – wobei »unser Land« eben das Land der Tschechen und nur der Tschechen meint. Man hat es hier mit einem reziproken Fall im Verhältnis zu Ungarns Imagination der eigenen großen Vergangenheit zu tun, insofern in Tschechien (jedenfalls seitens seines Präsidenten) kurzerhand die alte ›eigene‹ Interkulturalität ignoriert wird und damit ein den historischen Tatsachen nicht entsprechendes Imaginäres konstruiert wird, das dann aber als immer schon gültiges Faktum verstanden wird. Ein anderes Beispiel: das ›Studienbuch‹ Franz Kafkas an der »k.k. CarlFerdinands-Universität in Prag«, in dem es neben Angaben zu »Geburtsort, Geburtsdaten, Religion« auch die Rubrik »Vaterland« gab, die, wie Hartmut Binder in seiner Studie Kafkas Wien ausgeführt hat,

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Es scheint mir bemerkenswert, dass Ausländer mit ihrem Rekurs auf die »Landschaft« den Kulturraum, um den es ihr geht, in gleicher Weise naturalisiert wie dies bei der Rede von dem einen und unteilbaren ungarischen Volk »des Karpatenbeckens« geschieht.

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von Kafka recht nachlässig ausgefüllt wurde. Denn als Vaterland erscheint hier nicht etwa Österreich oder Österreich-Ungarn, sondern, und zwar in ganz und gar willkürlicher Abfolge, Böhmen, Prag (2., 3. und 7. Semester), Österreich, Prag (4., 5. und 6. Semester) oder Prag, Böhmen (8. Semester), einmal auch nur Böhmen (1. Semester). Ähnlich verhielt sich Max Brod, der Prag, Böhmen oder einfach Prag eintrug. (Binder 2013: 36f.; Hervorhebungen i. Orig.)

Auf die verwaltungstechnische Frage nach dem »Vaterland« antworteten Kafka und Brod also – und meiner Ansicht nach nicht aus Nachlässigkeit, sondern in Übereinstimmung mit ihrem Selbstverständnis als Mitteleuropäer – mit dem Eintragen ihrer Heimatstadt Prag oder der Region, aus der sie stammten. Das aber war keine Selbstprovinzialisierung, sondern eine Selbstbestimmung von eben jener plurikulturellen Region her, in der sie lebten, somit in Absehung von dem durch Grenzen bestimmten Staat. Übrigens hat Johannes Urzidil sein Leben als Junge in Prag so beschrieben: »›Ich bin hinternational‹, pflegte er zu sagen. Hinter den Nationen – nicht über- oder unterhalb – ließ sich leben und durch die Gassen und Durchhäuser streichen«. (Urzidil 1960: 11, Hervorh. i. Orig.) So fokussiert er auf die kulturelle Vielfalt Prags als dessen eigentliche Realität und etabliert durch das Anfügen nur eines Buchstabens an das gebräuchliche ›international‹ eine Doppelheit von vordergründiger nationalkultureller Trennung und hintergründiger, so aber grundlegender Gemeinsamkeit. Theoretisch ernst genommen wurde diese Bestimmung bisher nie. Dabei scheint mir ›Hinternationalität‹ mit den genannten Implikationen ein vielversprechenderes Konzept als die bekannte Internationalität, die auf Nationen und die Grenzen zwischen ihnen setzt. So wird auch die Geschichtsvergessenheit eines ›Großdenkers‹ wie Giorgio Agamben deutlich, denn jener von ihm beschworene »paradoxe Zustand reziproker Extraterritorialität«, in dem an die »Stelle zweier Nationalstaaten« »zwei politische Gemeinwesen« treten, »die in ein und derselben Gegend heimisch sind«, sowie ein »irreduzibles Auseinandertreten von Geburt, Abstammung und Nation« ist ja genau das, was die Wirklichkeit der Böhmischen Länder wie der Bukowina und Galiziens über Jahrhunderte ausgemacht hat. Sie waren durch eben das gekennzeichnet, was Agamben als ganz neues Prinzip in Europa erst noch implementieren will. Es könnte also gewinnbringender sein, Europa im Zeichen der Region zu denken, auch wenn dies kein neues, sondern die Wiederauflage eines alten Denkens ist, das spätestens im Kalten Krieg verloren ging, die Gegenwart Europas meines Erachtens aber immer noch mindestens genauso prägt wie seine übliche ›Fassung‹ mittels der Begriffe ›Kultur‹ (im Singular),

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›Nation‹ und ›Grenze‹, die dann zwangsläufig die Konzepte ›Interkulturalität‹ und ›Internationalität‹ zur Folge haben. Für mich steckt der Schlüssel zu einem auch handlungsleitenden Verständnis von Europa somit nicht in der Fokussierung auf die es durchziehenden Grenzen, die dadurch gebildeten Einheiten sowie auf eine von diesen abgeleitete Forderung ihrer Überwindung, sondern im Blick auf plurikulturelle Regionen. Denn nur in der präzisen Beschreibung der ›Vielheit‹ solcher Regionen lässt sich Abschied von den jeweils vereindeutigenden nationalkulturellen Gedächtnisformationen nehmen und so die jeweilige Mitwirkung von subkutan noch wirksamen Vergangenem und Imaginärem verstehen. Was ich bisher meist nur im Konjunktiv formuliert habe, setzte ich deshalb nun programmatisch in den Indikativ: Mir scheint, dass eine kulturwissenschaftliche Öffnung der Literaturwissenschaft nur dann ihre bisher immer noch ungehaltenen Versprechen zu erfüllen mag, wenn wir sie ins Zeichen eines ›regional turn‹ 4 setzen. Das Gleiche gilt für ein neues oder altes, Hauptsache angemessenes Denken von und über Europa. Dieter Heimböckel und ich haben in einem hier nicht zu resümierenden Aufsatz in der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik dafür plädiert, Interkulturalität künftig als Projekt zu verstehen (Heimböckel/Weinberg 2014). Damit wird die zeitliche Dimension in der Betrachtung plurikultureller Konstellationen gestärkt und von der Statik des im spatial turn etablierten Raumbegriffs abgerückt. Allerdings würde ich inzwischen diese ›Verlaufsform‹ von Interkulturalität sogar noch weiter fassen und auch die Vergangenheit noch stärker mit einbeziehen. Zuletzt scheint mir aber auch das noch nicht ausreichend, wenn Diachronie nur eine Berücksichtigung vergangener Fakten meint. Der Präsident der EuropaUniversität Flensburg, Prof. Werner Reinhart, hat in seinem schriftlichen Grußwort zur Flensburger GiG-Tagung an einen Satz Friedrich Nietzsches erinnert: »Ein sehr genaues Zurückdenken führt zu der Einsicht, dass wir eine Multiplication vieler Vergangenheiten sind« (Nietzsche 1988: 33f.). Wenn Gegenwart aber

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In der »Einleitung« zum Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder – dem ersten Handbuch zur »Literatur einer Region« – habe ich dazu formuliert: »Voraussetzung ist dabei, Region nicht mehr als sozusagen ›einfältig‹, sondern vielmehr als Vielfalt zu denken, in der sich einzelne Phänomene anziehen, ab- stoßen, immer aber in einem nachweisbaren Zusammenhang stehen. Weiterhin sind die vermeintlichen Grenzen einer Region und die ihr zugeschriebenen Eigenschaften nicht als einfach gegeben, sondern als je konstruierte zu betrachten – hervorgebracht von kulturellen Artefakten, von denen die Literatur sicher mit an vorderster Stelle zu nennen ist.« (Weinberg 2017: 4).

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nicht die Fortsetzung einer einsinnigen Tradierung, sondern aus geschichteter Vielfalt stets neu hervorzubringen ist, dann ist ›Interkulturalität als Projekt‹ nur en détail zu beschreiben. In einer von Dieter Heimböckel verfassten Passage unseres Aufsatzes heißt es (ohne hier die Voraussetzungen dieses Statements erläutern zu können): »Interkulturalität ist Übersetzung in eine unvertraute Sprache – und das heißt in eine Sprache, die davon absieht weiterzuwissen.« (Heimböckel/Weinberg 2014: 126) In Zusammenhang mit solchem Nicht-Wissen hat Dieter Heimböckel auch den Begriff des ›Staunens‹ eingeführt. Unter dem Zwischentitel »Vom Horizont des Staunens« (ebd.: 137-142) habe ich daran mit einem Plädoyer angeschlossen, bei der Betrachtung von Interkulturalitäten nicht mehr mit der Grenze zu beginnen, sondern auf das Raummodell des Horizonts umzustellen. In einem anderen Aufsatz unter dem Titel »Die Grenzen der Interkulturalität« habe ich dazu ausgeführt, dass [d]as von der Grenze bestimmte Kulturmodell […] mit zwei Räumen [beginne], das des Horizonts mit nur einem. Weil das, was jenseits der Grenze liegt, kategorial vergleichbar ist, denkt man die Gesamtkonstellation als zwei gegeneinander gestellte Einheiten, so dass im Modell der Grenze zwar alles mit zwei Räumen, aber eben auch mit der Figur der Einheit oder Identität beginnt [...]. Im Modell des Horizonts beginnt dagegen alles mit einer Einheit, die aber sozusagen nicht einfältig, sondern vielfältig ist: ein Raum mit vielen Entitäten, über deren Verhältnis zueinander noch nicht im Sinne der gegeneinander gestellten und voneinander abgegrenzten Einheiten entschieden ist. Vom Horizont her erscheint Kultur zwar […] als ›geschlossenes Ganzes‹, aber eben auch als ›Schauplatz‹, auf dem sich vielfältige Differenzen ereignen. (Weinberg 2014: 28) 5 (Hervorhebungen i. Orig.)

Solcher Horizont ist aber wohl immer der Horizont von Regionen, nicht von Nationalstaaten. So schließt sich der Kreis. Wenn Giorgio Agamben von einer ›reziproken Extraterritorialität‹ eines künftigen Europas geträumt hat, dann ging er eben auch von den Grenzen aus, die er überwinden oder vielleicht besser ›verwinden‹ wollte. Damit scheint mir aber Europa verfehlt zu werden. Denn wenn der Versuch, Europa zu denken und gegebenenfalls neu zu denken, mit den faktischen Grenzen beginnt, ist notwendig jenes Imaginäre, das die Horizonte in ihm lebender Gemeinschaften bestimmt, unsichtbar gemacht. So paradox und gar bedenklich es sich anhört: In jenem ›Ungarn des Karpatenbeckens‹ könnte mehr neues Denken für ein ›Europa im Übergang‹ liegen, als in der Beschwörung von Grenz-

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Hier kursiv Wiedergegebenes ist im Original fett gedruckt.

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überschreitungen und -auflösungen. Dies gilt allerdings nur unter der strikten Bedingung, dass dieses Denken vom Horizont und von der Region, vom Vergangenen und Imaginären her, nicht wieder in einen Nationalismus umgebogen wird. Von daher: »Gehen wir es an«, das neue Denken Europas, das – statt bloß zu Aktionen im Zeichen des Alten aufzufordern – auch die tieferen und immer vielfältigen, wenn nicht sogar unbegrenzten Schichten Europas reflektiert und damit dem neuen Nationalismus nicht nur hehre Verweise auf europäische Werte entgegenstellen kann, sondern endlich eine theoretisch fundierte Antwort auf ihn formuliert. Denn eine Infragestellung Europas sind diese nationalistischen Imaginationen ja vor allem darum, weil sie dem immer noch zu einsinnigen neuen Denken Europas dessen imaginäre Kehrseite vorhalten.

LITERATUR Agamben, Giorgio (2011): Jenseits der Menschenrechte; online unter: https://jungle.world/artikel/2001/27/jenseits-der-menschenrechte [Stand: 24.7.2018]. (Der Essay erschien erstmals unter dem Titel »Au-delà des droits de l’homme« in Libération, 9./10. Juni 1993.) Agamben, Giorgio (2015): Europa muss kollabieren. In: DIE ZEIT 35 v. 27. August 2015; online unter: https://www.zeit.de/2015/35/giorgio-agambenphilosoph-europa-oekonomie-kapitalismus-ausstieg/komplettansicht [Stand: 24.7.2018]. Ausländer, Rose (1984): Hügel aus Äther unwiderruflich. Gedichte und Prosa 1966–1975. Gesammelte Werke. Bd. 3. Hg. v. Helmut Braun. Frankfurt a.M. Binder, Hartmut (2013): Kafkas Wien. Portrait einer schwierigen Beziehung. Prag. Butler, Judith/Hark, Sabine (2017): Die Verleumdung. In: DIE ZEIT 32 v. 3.8.2017; online unter: https://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminis mus -emma-beissreflex/komplettansicht [Stand: 25.7.2018]. Call for Papers GiG-Tagung Flensburg (2016): Europa im Übergang: Interkulturelle Transferprozesse – Internationale Deutungshorizonte. GiG-Tagung an der Europa-Universität Flensburg vom 9. bis 15. September 2017. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7, Heft 2, S. 213-215. Heimböckel, Dieter/Weinberg, Manfred (2014): Interkuturalität als Projekt. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5, Heft 2, S. 121-146.

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Ingendaay, Paul (2017): Nicht für die Sklaven des Systems. In: faz.net, 11.2.2017; online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/viktororban-und-der-ungarische-nationalismus14870083.html?printPagedArticle= true#pageIndex_0 [Stand: 24.7.2018]. Kokot, Michał (2016): Prager Winter. In: ZEIT-Online, 05.2.2016; online unter http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-02/tschechien-fluechtlinge-russlandhass-islamophobie-feindseligkeit [Stand: 24.7.2018]. l’Amour LaLove, Patsy (Hg.; 2017): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Berlin. Nietzsche, Friedrich (1988): Nachgelassene Fragmente 1875–1879. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München. Schwarzer, Alice (2017): Der Rufmord. In: DIE ZEIT 33 v. 10. August 2017; online unter: https://www.zeit.de/2017/33/gender-studies-judith-butler-emma -rassismus [Stand: 24.7.2018]. Urzidil, Johannes (1960): Predella. Relief der Stadt. In: Ders.: Prager Triptychon. Erzählungen. München, S. 7-27. Vukadinović, Vojin Saša (2017): Die Sargnägel des Feminismus. In: Emma v. 28. Juni 2017; online unter: http://www.emma.de/artikel/gender-studiessargnaegel-des-feminismus-334569 [Stand: 25.7.2018]. Weinberg, Manfred (2014): Die Grenzen der Interkulturalität. Interkulturelle Raumkonzepte am Beispiel der Prager deutschen Literatur. In: Ingeborg Fiala-Fürst (Hg.): Prager deutsche, deutschböhmische und deutschmährische Literatur. Eine Neubestimmung. Olmütz, S. 7-32; online unter: http://ar beitsstelle.upol.cz/wp-content/uploads/2017/01/Ingeborg-Fiala-Fürst-Pragerdeutsche-deutschböhmische-und-deutschmährische-Literatur.pdf [Stand: 24.7.2018]. Weinberg, Manfred (2017): Einleitung. In: Peter Becher/Steffen Höhne/Jörg Krappmann/Manfred Weinberg (Hg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart, S. 2-4.

Was hat die Interkulturelle Germanistik der Gedächtnistheorie zu sagen? Über das Konzept eines interkulturellen Gedächtnisses Dominik Zink

ABSTRACT The paper argues that the growing interest in transcultural and transnational concepts of collective memory has a blind spot. While both focus on the fact that borders of any kind in fact almost never define or limit collective memory, the paper will introduce the concept of intercultural memory and argue that the globalized situation of the world in fact generates forms of exploitation and injustice that have not been sufficiently reflected by memory studies yet. After a summary of the attempts to define ›culture‹ within Intercultural German Studies, the paper will claim that cultures can be seen as contexts. The intercultural situation in which people are to some extent located – in-between cultures – very often creates the problem that a speech-act cannot be understood properly and therefore memorized in either culture. The problem is that there are no forms available in the inter-cultural situation, which allow the conversion of experiences into parts of collective memory. While it seems that this phenomenon has not received much attention yet in memory studies, many literary works in fact attempt to speak about it. Keywords: Memory theory – Interculturality – Hermeneutics

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Die Interkulturelle Germanistik und die Theorie des kollektiven Gedächtnisses sind auf vielfältige Weise miteinander verknüpft. Sie teilen Forschungsinteressen, Methoden, Theorien und sie stützen sich wechselseitig auf ihre Ergebnisse. 1 Die Frage, was die Interkulturelle Germanistik der Gedächtnistheorie zu sagen habe, ist daher schon auf ganz verschiedene Weise beantwortet worden, und sie hier noch einmal zu stellen, kann weder den Sinn haben, eine erschöpfende Darstellung möglicher Berührungspunkte aufzulisten, noch eine endgültige Auskunft über das Verhältnis der beiden Arbeitsfelder zu geben. Die Frage ist trotzdem berechtigt und notwendig, weil eine zentrale Gelenkstelle zwischen den beiden Forschungsfeldern noch nicht in den Fokus gerückt worden ist. Die These dieses Beitrags ist, dass die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung im Versuch, den sogenannten methodologischen Nationalismus zu überwinden, sich als transnationale und transkulturelle Gedächtnistheorie in gewisser Weise einseitig erweitert hat. 2 Sie hat – völlig zurecht – bemerkt, dass nationale Grenzen keineswegs Grenzen des kollektiven Gedächtnisses sind, und dieses Phänomen von verschiedenen Seiten in den Blick genommen und bearbei-

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Für den Teil der Interkulturellen Germanistik, der sich als postkoloniale Literaturwissenschaft begreift, ist im Präfix »post-« der inhärente Bezug auf Vergangenes und damit auf Erinnerung und Vergessen schon angezeigt. Einen Überblick über das Verhältnis der postkolonialen Literaturwissenschaft zu den memory studies bietet Göttsche 2017. Zum Verhältnis der postkolonialen Studien zur Interkulturellen Germanistik siehe Uerlings 2017. Bereits in einer der ersten zusammenfassenden und einführenden Überblicksdarstellungen der Interkulturellen Germanistik hat Ortrud Gutjahr angemerkt, dass dieses Arbeitsfeld eng mit dem kollektiven Gedächtnis zusammenhängt. (Vgl. Gutjahr 2002: 365)

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Astrid Erll (2017: 124) nennt in der dritten Auflage ihres Handbuchs Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen neben der von Ulrich Beck vorgetragenen Kritik am methodologischen Nationalismus in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften als zweiten initialen Anstoß, die in der Gedächtnistheorie dazu geführt hat, den Bezug auf die Nation zu hinterfragen, die zuerst 2001 erschienene Monographie Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust. (Levy/Sznaider 2007) Neben den im Folgenden breiter erläuterten Ansätzen von Assmann, Rothberg und Landsmann setzen sich vor allem die beiden Sammelbände Cesari/Rigney 2014 und Amelina u.a. 2012 mit einem möglichen Umgang mit dem methodologischen Nationalismus auseinander, wobei letzterer nicht auf die memory studies eingeschränkt ist, sondern versucht, ein interdisziplinäres Feld der cross-border-studies abzustecken. Ein erster zusammenfassender Ansatz, der hier nicht ausführlicher diskutiert werden kann, ist Astrid Erlls Konzept der travelling memory. (Erll 2011)

Was hat die Interkulturelle Germanistik der Gedächtnistheorie zu sagen? | 45

tet. Unbeachtet ist bis jetzt allerdings geblieben, dass in einer globalisierten und sich zunehmend globalisierenden Welt auch spezifische Formen der Ausbeutung erwachsen sind, deren Möglichkeitsbedingung darin besteht, Individuen die Artikulation ihrer Erfahrungen zu versagen, sodass diese sie nicht in das kollektive Gedächtnis einspeisen können. Literarische Texte, die versuchen, von diesem Umstand zu sprechen, können aus zwei Gründen sinnvoll als Texte des Interkulturellen Gedächtnisses bezeichnet werden: 3 Erstens bezeichnet das »Inter-«, dass es um Ausbeutungsphänomene geht, deren Nichtartikulierbarkeit als Fehlen von Formen der Erinnerung beschreibbar ist, was wiederum bedeutet, dass es um spezifische Ausbeutungserfahrungen geht, die zwischen Kulturen gemacht werden. Zweitens: Um dies gedächtnistheoretisch zu beschreiben, wird der Kulturbegriff, wie er in der Interkulturellen Germanistik profiliert wurde, in der Gedächtnistheorie operationalisiert. Somit ist die These, dass die Einführung des Kulturbegriffs der Interkulturellen Germanistik in die Gedächtnistheorie zu sehen erlaubt, weswegen gewisse Ausbeutungsphänomene nicht artikulierbar sind. Das ist die oben angesprochene Gelenkstelle, um die es hier geht. Damit soll jedoch keinesfalls behauptet werden, dass Interkulturalität lediglich auf Phänomene der Lücke, der Ortlosigkeit oder der Unverständlichkeit eingeschränkt ist und demgegenüber Transkulturalität Phänomene gelingender Kommunikation meint. Unter allen möglichen Gegenständen der Interkulturellen Germanistik gibt es auch Texte, die das Nichtverstehen zum Thema haben. Unter diesen wiederum gibt es welche, deren Anliegen es ist, auf die Unmöglichkeit der Artikulation gewisser Ausbeutungsphänomene hinzuweisen, wobei diese Unmöglichkeit zugleich als die Möglichkeitsbedingung dieser Ausbeutung begriffen wird. Diese Texte sind die Texte des hier sogenannten »Interkulturellen Gedächtnisses« und stellen damit natürlich nur einen sehr kleinen Phänomenbereich der Interkulturellen Germanistik dar. 4

3

In diesem Beitrag können leider bis auf ein sehr kurzes Beispiel am Ende des Textes nur theoretische Aspekte angesprochen werden. Ausführliche Interpretationen zu Texten des ›Interkulturellen Gedächtnisses‹ finden sich in Zink 2017.

4

Die semantischen Kämpfe, die um die Präfixe ›trans-‹ und ›inter-‹ ausgefochten wurden, müssen hier nicht noch einmal dargestellt werden. Aus den oben genannten Gründen ist es sinnvoll, aufs kulturelle Gedächtnis bezogen die Unterscheidung von transkulturellen Konzepten einerseits und dem Interkulturellen Gedächtnis andererseits zu treffen, weil damit die Untersuchungsgegenstände deutlich voneinander unterschieden werden können. Eine generelle Aussage über das Verhältnis von Trans- zu Interkulturalität wird hier ausdrücklich nicht angestrebt.

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Zunächst soll gezeigt werden, dass die prominentesten Konzepte der transkulturellen oder transnationalen Gedächtnistheorien tatsächlich die Phänomene, die die Texte des Interkulturellen Gedächtnisses im Blick haben, nicht adäquat erfassen können. Im Anschluss soll erläutert werden, wie der Begriff ›Kultur‹ in der Interkulturellen Germanistik gefasst wird, da durch ihn einsichtig wird, wie in interkulturellen Situationen die Verständlichkeit und Erinnerbarkeit von Erfahrung problematisch werden kann. Abschließend wird dann dargelegt, dass dieser Kulturbegriff auch im Theoriedesign der memory studies operationalisierbar ist, sodass sinnvollerweise von einem »Interkulturellen Gedächtnis« gesprochen werden kann. Dieses Gedächtnis besteht aus Texten, die die Frage stellen, wie man vom Leid erzählen kann, nicht sprechen zu können: 5 Da sie etwas versuchen, dessen Unmöglichkeit sie gleichzeitig anprangern, da diese Texte also versuchen, eine Sprache zu finden, die es nicht gibt, ist klar, dass diese Texte im eigentlichen Wortsinne poetisch sein müssen. Dies hat nicht zuletzt auch Konsequenzen für den Begriff des Transfers und die Fragen, die in diesem Band in übergeordneter Hinsicht in Bezug auf ihn gestellt werden. (Kultur-)Transfer muss dann in mehrfacher Hinsicht als ein dynamisches Konzept gedacht werden. Überlegungen zu diesen Implikationen beschließen den Beitrag.

TRANSKULTURELLE UND TRANSNATIONALE GEDÄCHTNISTHEORIEN Als Ulrich Beck den Vorwurf erhoben hat, dass in den Sozial-, Geistes-, und Kulturwissenschaften so etwas wie ein methodologischer Nationalismus vorherrsche, 6 hat das in der Forschung zum kollektiven oder kulturellen Gedächtnis ho-

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Diese Frage erinnert natürlich unweigerlich an Gayatri Chakravorty Spivaks Can the Subaltern Speak? (Spivak 1994) Eine Diskussion mit dieser Spielart Postkolonialer Theorie wäre sicher interessant, kann jedoch hier nicht geleistet werden. Eine prinzipielle Schwierigkeit ist, dass die paradox-aporetische Begriffsstruktur der zentralen Analysekategorie der Subalternen dazu führt, dass einem Import in andere Kontexte immer eine mehr oder weniger einschränkende oder verzerrende Interpretation vorausgehen muss. Zu den Gründen siehe Castro Varela/Dhawan 2015: 214-218.

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Zum Begriff des methodologischen Nationalismus und des wissenschaftlichen Kontexts seiner Entstehung vgl. Beck/Grande 2010. Beck darf allerdings keinesfalls als monokausale Ursache für die Transnationalisierung der Gedächtnistheorie missverstanden werden. Eher kommt seinen Analysen eine katalysatorische Funktion zu, die

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he Wellen geschlagen. Tatsächlich war es so, dass das politische Gedächtnis und das nationale Gedächtnis synonym verwendet worden sind. Bei Aleida Assmann z.B. noch 2006. Es zeigte sich, dass die nationale Ausrichtung der Wissenschaft auf einer axiomatischen Setzung beruhte und viele Fragen immer schon von der »Nation« hergestellt worden sind, weswegen der Großteil transnationaler oder auch internationaler Erinnerungen nicht angemessen erfasst werden konnte. Der erste Vorschlag, dieser Schieflage Abhilfe zu schaffen, der hier erläutert werden soll, ist der von Aleida Assmann selbst. Sie spricht von der Möglichkeit des Dialogischen Erinnerns (Assmann 2012) und behauptet, dass es klassischerweise nur drei für das Selbstkonzept akzeptable Rollen in der Erinnerung gegeben habe: die des Siegers, der das Böse überwunden habe, die des Widerstandskämpfers und Märtyrers, der gegen das Böse gekämpft habe, und die des passiven Opfers, das das Böse erlitten habe. (Ebd.: 196) Die deutsche Erinnerung an den Holocaust stelle, weil die Anerkennung der eigenen Schuld zentral sei, ein neues Erinnerungsschema zur Verfügung, das nicht mehr notwendigerweise mit der Erinnerung anderer Nationen konfligiere. Dies sei laut Assmann in der kollektiven Konflikt-Erinnerung vorher nicht möglich gewesen, da jede Wir-Gruppe nur die Möglichkeit gehabt habe, moralisch positive Selbstkonzepte zu entwerfen. Die eigene moralische Schuld anzuerkennen, ermögliche nun jedoch, Versatzstücke anderer Erinnerungstraditionen in die eigene einzubauen. So könne ein Dialog entstehen. An Assmann wäre die Frage zu richten, ob hier davon gesprochen werden kann, dass der methodologische Nationalismus überwunden sei, denn der hier beschriebene Dialog ist einer zwischen Nationen und auch Assmann sagt selbst: Dialogisches Erinnern bleibt im nationalen Gedächtnis »verankert«. (Ebd.: 200) Sie ändert weder die Methode, geschweige denn die Methodologie, sondern erweitert letztlich einfach ihr Modell um einen Untersuchungsgegenstand. Weiter geht Michael Rothberg mit seinem Konzept der Multidirectional Memory. (Rothberg: 2009) Er bricht mit einer sehr zentralen axiomatischen Setzung der Gedächtnisforschung, indem er behauptet, kollektive Erinnerung sei nicht immer an nur eine sogenannte ›Wir-Gruppe‹ gebunden und dürfe deswegen nicht als ein Nullsummenspiel konzeptualisiert werden. Er macht darauf aufmerksam, dass – ohne das je überprüft zu haben – Erinnerungspolitik immer als ein solches gesehen wurde, so als ob im kollektiven Gedächtnis nur ein begrenzter Raum zur Verfügung stünde und deswegen um diesen gekämpft werden

die Konjunktur der transnationalen Gedächtnisforschung in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts beschleunigt hat. Entwickelt wurden die wichtigsten Konzepte allerdings bereits zwischen 2001 und 2009.

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müsse. Er führt Beispiele an, in denen Opferkonkurrenzen zwischen marginalisierten Gruppen entstanden sind, um dann aber zu behaupten, dass sich die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses de facto ganz anders konstituieren: Oft sei es so, dass die Erinnerung an etwas spezifische Schemata populär mache, die dann dazu verwendet werden können, Erinnerungen an andere Dinge ins kollektive Gedächtnis zu überführen. Man müsse also korrekterweise eher davon sprechen, dass eine bestimmte Erinnerung viele andere erst ermögliche, anstatt der Vorstellung vom Nullsummenspiel zu erliegen und davon auszugehen, Erinnerungen schlössen sich gegenseitig aus. Auch sein Beispiel ist die Holocaust-Erinnerung. Er versucht zu zeigen, dass viele Sachverhalte in der Zeit der Dekolonialisierung nach 1945 überhaupt erst ansprechbar und erinnerbar geworden seien, weil Bezug auf den Holocaust genommen worden sei. Dieser Bezug war ein strukturellinhaltlicher: Man habe das Schema des Holocaust verwendet und dann die Slots ›Täter‹ und ›Opfer‹ anders besetzt. Das ist zwar deswegen kritisch zu sehen, weil Rothberg die Singularitätsthese in den Raum der Weltanschauungen verschiebt, allerdings ist nicht zu leugnen, dass die Dynamik, die Rothberg beschreibt, existiert: Erinnerungen ermöglichen oft genug andere Erinnerungen, indem sie (auch über Nationalgrenzen hinweg) Schemata zur Verfügung stellen. Eine weitere transnationale Konzeptualisierung von Gedächtnis ist Alison Landsbergs Prosthetic Memory. (Landsberg 2004) Sie untersucht massenmediale Erinnerung, wobei auch bei ihr die Erinnerung an den Holocaust im Zentrum steht. Wie die Metapher der Prothese bereits nahelegt, stellt sie sich Erinnerungen – ähnlich wie Rothberg – als etwas vor, das nicht exklusiv an eine WirGruppe gebunden, sondern mit verschiedenen Körpern koppelbar sei. Sie konkretisiert diese Metapher anhand von vier Punkten: Erstens: Die Erinnerungen entstammten nicht der eigenen Erfahrung; zweitens: Diese Erinnerungen seien aber erfahrungsförmig – d.h. in irgendeiner Weise sensuell, nicht einfach propositionales Wissen – wie die Prothese auf der Haut; drittens: Prothetische Erinnerungen seien wie Prothesen Waren, sie seien als massenmediale Dinge zu kaufen; viertens: Wie Prothesen seien die Erinnerungen hilfreich. (Ebd.: 18-21) Landsberg geht von folgender Frage aus: »Is it possible for the Holocaust to become a bodily memory for those who did not live through it?« (Ebd.: 50) und beantwortet sie mit Verweis auf den Film Schindlers Liste als »best-case scenario« mit: Ja! (Ebd.: 51) Hierdurch wird sehr deutlich, wo der Unterschied zwischen dem liegt, was das Anliegen der Texte eines Interkulturellen Gedächtnisses ist, und dem, was die transnationale und transkulturelle Gedächtnisforschung im Auge hat. Man könnte mit Fug und Recht behaupten: Kein einziger dieser Texte hätte geschrieben werden müssen, sollte das wirklich möglich sein, was Landsberg hier behauptet, denn allen diesen Texten geht es letztlich um den

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Kampf, auf eine Inkommensurabilität – auf eine irreduzible Unverständlichkeit – aufmerksam zu machen. Die größte Gefahr dabei liegt, wie Landsbergs Schlussfolgerung zeigt, nicht darin, dass man verstummt, sondern darin, dass man verführt ist, zu denken, man hätte alles je schon verstanden. Die stark verkürzten Darstellungen dieser drei transnationalen Konzepte des kollektiven Gedächtnisses werden den Theorien sicher in vielerlei Hinsicht nicht gerecht. Deutlich allerdings zeichnet sich ab, dass sie alle von einer Frage her entworfen worden sind: Was ist über die Grenzen der als Nationen und Kulturen verfassten Erinnerungsgemeinschaften hinweg möglich? Die transnationale und transkulturelle Gedächtnistheorie will Phänomene zeigen, für die die nationalen und kulturellen Grenzen keine Hindernisse sind. Das ist selbstverständlich eine legitime Fragestellung. Man kann jedoch nicht nur nach den Möglichkeiten im Positiven fragen, sondern genauso nach den Gefahren, die eine sich globalisierende Weltgesellschaft birgt. Genau dies tun die Texte des Interkulturellen Gedächtnisses. Um zu zeigen, wie genau dieses Konzept zu verstehen ist und weshalb es sowohl an die Gedächtnistheorie als auch an die Interkulturellen Germanistik angeschlossen werden muss, muss der Begriff, der diese mehrfachen Anschlüsse erlaubt, geklärt werden.

DER KULTURBEGRIFF DER INTERKULTURELLEN GERMANISTIK Es ist immer wieder behauptet worden, dass Kultur in Konzepten der Interkulturalität nicht anders denn als eine diskrete Einheit mit starren Grenzen gedacht werden könne, weil sonst das Präfix »Inter-« keinen Sinn ergäbe. 7 Dies ist sicher nicht der Fall. Im Handbuch interkulturelle Germanistik fasst Herrmann Bausinger Kultur

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Dieses Argument findet sich nicht nur in der Germanistik oder den Literaturwissenschaften. Auch in der Gedächtnistheorie wird die Wahl für das Präfix trans- mit diesem Argument gerechtfertigt. (Vgl. Erll 2011: 8) Astrid Erll ist zwar selbstverständlich auch Literaturwissenschaftlerin, schränkt das Argument hier aber nicht auf die Philologien ein, sondern wendet es gegen den vermeintlichen Kulturbegriff interkultureller Konzepte als ›Container‹ insgesamt.

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als sich wandelndes, auf Austausch angelegtes, vielschichtiges und doch kohärentes, aber nicht widerspruchsfreies und insofern offenes Regel-, Hypothesen-, Bedeutungs- und Geltungssystem, das sichtbare und unsichtbare Phänomene einschließt […]. (Bausinger 2003: 274 f.)

Bausinger verweist in dieser Definition explizit auf Alois Wierlacher (1996). De facto ist sie nicht allein aus Wierlachers Beitrag entnommen, sondern stellt eine Synthese einer ca. 30-jährigen Diskussion dar, die zu einem großen Teil im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache sowie den Publikationen der Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik (GiG) geführt wurde und in der Bausinger selbst eine entscheidende Rolle zukam. Wierlacher hat zu dieser Diskussion den initialen Beitrag geleistet, weil er als einer der ersten die Behauptung aufgestellt hat, Kultur und ihre Erforschung sei eine unhintergehbare Dimension von Philologie. (Wierlacher 1975: 131) 8 Zu Beginn dieser Diskussion stand jedoch nicht so sehr ein rein theoretisches Interesse am Kulturbegriff im Vordergrund. Vielmehr waren die Fragen von konkreten Problemstellungen aus der DaF/DaZ-Didaktik her formuliert. So ist es zu erklären, dass einzelne Aspekte am Begriff der Kultur zwar pointiert belichtet wurden, er aber insgesamt noch unterbestimmt bleibt. 9 Von Anfang an ist klar, dass – obwohl »dem Begriff […] – […] im scharfen Gegensatz zum Zivilisationsbegriff – eine nationale Definition [anhaftet]« (Bausinger 1975: 10) – er keinesfalls als diskretes »Reservoir« (ebd.: 9) aufgefasst werden darf. So heißt es auch in einem Informationsblatt der GiG zu deren Gründung: »Soweit sich die Geschichte der Kulturen überblicken läßt, lernt eine Kultur von der anderen und grenzt sich zugleich von ihr ab. Das Fremde wird so zum Ferment der Kulturentwicklung.« (zit nach: Wierlacher 1985: X) Diese Selbstbeschreibung zeigt einerseits, dass Kulturen in der Interkulturellen Germanistik niemals als fensterlose Monaden aufgefasst wurden, andererseits aber auch, dass Begriffe wie das Eigene und das Fremde als hermeneutischer Ausgangspunkt dienten, ohne dass ihre Konstruiertheit angemessen problematisiert

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An dieser Stelle bezieht sich Wierlacher theoretisch neben James Tylor, den er nur

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Auch Bausingers Beiträge, die in der frühen Phase der Interkulturellen Germanistik

namentlich, aber nicht mit einem spezifischen Werk nennt, auf Lévi-Strauss 2012. den Begriff Kultur am differenziertesten betrachten, bleiben hochschuldidaktischen Fragestellungen verpflichtet. So ist ihm besonders wichtig zu betonen, dass ein angemessenes Verständnis von Kultur und ihrer Rolle in der Sprachausbildung dafür spräche, sowohl die Ausdifferenzierung der Germanistik in Literaturwissenschaft und Linguistik für den DaF/DaZ-Bereich ein Stück weit zurückzunehmen, als auch die Lehrinhalte auf kulturelles Kontextwissen auszuweiten. (Bausinger 1980 und 1999)

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worden wäre. 10 Norbert Mecklenburg hat dies in seinem Aufsatz Über kulturelle und poetische Alterität als erster angesprochen: Die Erfahrung kultureller Andersheit in Lebenswelt und Wissenschaft hat eine solche Evidenz für sich, daß dabei die vielfältigen Probleme leicht unsichtbar bleiben, welche der Begriff einer kulturellen Alterität, als theoretisches Instrument verstanden, in sich birgt. Die terminologischen Probleme verweisen dabei durchgehend auf Sachprobleme kulturwissenschaftlicher Arbeit. Die Polysemie, die den Begriffen ›Kultur‹ und ›Alterität‹ anhaftet – der letztere ist zudem ein purer Relationsbegriff –, muß sich in dem theoretischen Konstrukt ›kulturelle Alterität‹ noch vergrößern. (Mecklenburg 1987: 563 f.) Seine Monographie Das Mädchen aus der Fremde (Mecklenburg 2009), in der der Aufsatz an zentraler Stelle erneut publiziert wurde, enthält darüber hinaus auch ein ausführliches Kapitel über den Begriff Kultur. Diese Sammlung einzelner Studien versteht sich einerseits als Zusammenfassung der Arbeiten Mecklenburgs, hat aber gleichzeitig den Anspruch »Aufgaben und Arbeitsbereiche interkultureller Literaturwissenschaft« (ebd.: 11) zu formulieren. Die Notwendigkeit zur Untersuchung des Kulturbegriffs erklärt sich daraus, dass die Interkulturelle Germanistik ein operationalisierbares Konzept von Kultur benötigt, die Untersuchung Mecklenburgs allerdings orientiert sich weit weniger als noch die Versuche Wierlachers und Bausingers an den Anforderungen eines zu konzipierenden Faches ›Deutsch als Fremdsprache‹, sodass ein Kulturbegriff entworfen wird, der weder der Geltung nach auf die Interkulturelle Germanistik eingeschränkt ist, noch auf deren spezifische praktische Anforderungen. Wie bereits Bausinger und Wierlacher unterscheidet auch Mecklenburg zwischen verschiedenen Kulturbegriffen; er geht dabei allerdings nicht so vor, dass er Alltagsbedeutungen sammelt und daraufhin prüft, ob sie möglicherweise in der Wissen-

10 So schreibt z.B. Heinz Göhring »Die Verschiedenartigkeit menschlicher Kulturen gilt als Positivum.«, (Göhring 1975: 80), um dann in Anlehnung an Leopold v. Ranke zu behaupten, jede Kultur sei »unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst.« (Ebd.) Obwohl eine Essentialisierung von Kulturen hier nicht das Beweisziel der Argumentation ist, erscheint sie doch als unreflektierte Voraussetzung. Was Göhring hier übersieht, stellt Herbert Uerlings in den 1990er Jahren dann zu Beginn seiner Monographie Poetiken der Interkulturalität direkt in Frage – »Worüber wird geredet, wenn über die ›Fremde‹ geredet wird?« (Uerlings 1997: 6) – und bezeichnet es als »das kardinale Problem jeder ›Fremdheits‹-Forschung«. (Ebd.)

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schaft operationalisierbar sind. 11 Vielmehr wählt er einen systematischen anthropologisch-semiologischen Zugang. Er unterscheidet dabei vier fundamentale Möglichkeiten: Erstens, »alles, was Menschen hervorgebracht haben«, (ebd.: 63) 12 zweitens, ein an die Philosophie Ernst Cassirers anschließender Kulturbe-

11 Wierlacher und Bausinger sehen sich z.B. noch gezwungen, den Kulturbegriff im Sinne von Hochkultur zu diskutieren. Sie haben jedoch niemals ernsthaft erwogen, dass die Interkulturelle Germanistik mit einem in dieser Art normativen Kulturbegriff operieren sollte. Eher das Gegenteil war der Fall. Das Argument war gerade, dass um einer gelingenden DaF-Didaktik willen nicht nur Hochkultur, sondern auch alltagskulturelle Inhalte gelehrt werden sollten. Es wurde zurecht behauptet, dass es für den Sprachschüler wichtiger sei, zu wissen, wie man in Deutschland Brötchen oder eine Bahnkarte kauft, als auf Deutsch Alexandriner und elegische Distichen erkennen zu können. Da in den 1970er Jahren die Semantik von Kultur jedoch noch enger an die von Hochkultur geknüpft war – auch weil die Kulturwissenschaften erst begannen, sich so zu bezeichnen –, wurde eine explizite Abgrenzung noch für nötig empfunden. 12 Diesen Kulturbegriff bezeichnet Mecklenburg als zu weit, weil er nicht nur Kultur, sondern auch Gesellschaft umfasst. Ein Kulturbegriff, der nicht zwischen Gesellschaft und Kultur unterscheidet, wäre laut Mecklenburg hypostasiert. Er bezeichnet dies als »Kulturalismus«. (Mecklenburg 2009: 75) Im Unterkapitel Kultur und Gesellschaft setzt er sich mit diesem Kulturalismus auseinander, wobei eine klare Definition dessen, was Gesellschaft ist, nicht erfolgt. Er scheint etwas Ähnliches zu meinen wie Luhmann, wenn er zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik unterscheidet, wobei Gesellschaftsstruktur der Gesellschaft entspräche und Semantik der Kultur. (Vgl. zu diesem Begriffspaar Luhmann 2004: 9-71) Andererseits nimmt Mecklenburg verwirrenderweise auch explizit positiven Bezug auf Luhmann. Treffend – aus Luhmanns Sicht – fasst er zusammen: »Kultur in der Moderne ist in funktional ausdifferenzierten Gesellschaftssystemen ein Teilsystem […].« (Mecklenburg 2009: 77) Diese Aussage konfligiert aber auf mehreren Ebenen mit Mecklenburgs Konzept, weil weder die autopoetische Schließung noch die binäre Codierung Luhmann’scher Systeme sich in sein Konzept einfügen ließe. Der Hauptpunkt aber wäre, dass Mecklenburg in diesem Teilkapitel zeigen will, dass ein kulturalistisches Konzept, das alles als Kultur (und nichts als Gesellschaft) sieht, unzureichend ist. Luhmanns Soziologie aber wäre genau das andere Extrem: Denn hier besteht Gesellschaft ja ausschließlich aus den einzelnen (miteinander gekoppelten) Teilsystemen. Wenn also Mecklenburg dem Kulturalismus vorwirft, alles als Kultur zu sehen, müsste er analog Luhmann den Vorwurf machen, gar nichts als Kultur zu sehen, weil alles Gesellschaft wäre. Wo Mecklenburg die Grenze zwischen Kultur und Gesellschaft sieht, wird also nicht ganz klar. (Zur Einführung in Luhmanns Gesellschaftskonzept: Luhmann 1998: 16-189).

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griff, der als Kultur »jene[s] symbolische […] Universum, das man auch als System von symbolischen Systemen beschreiben kann« meint. (Ebd.: 64) 13 Diese beiden Begriffe lassen sich dann entweder auf alle Menschen oder auf eine bestimmte Gruppe beziehen, weswegen der dritte Begriff dann alle Hervorbringungen einer bestimmten Gruppe von Menschen meint und der vierte alle symbolischen Hervorbringungen einer Gruppe von Menschen. Es ist klar, dass »der zweite und der vierte, also die beiden Varianten des symbolischen Kulturbegriffs, die Hauptrolle« (ebd.) spielen. Seine kürzeste Definition lautet: »In den Kulturwissenschaften breit akzeptiert und verwendet wird […] ein ›mittlerer‹ Kulturbegriff, der auch für die Literaturwissenschaft der brauchbarste ist: Kultur als gesellschaftliches Feld symbolischer Formen und Praxis, als signifying system.« (Ebd.: 15) 14 Unterscheiden lassen sich Kulturen dann laut Mecklenburg in vier verschiedenen Hinsichten: erstens hinsichtlich der Gruppen, die als jeweiliger Träger der Kultur gelten; zweitens hinsichtlich der zeitlichen Epoche; drittens hinsichtlich der patterns; worunter er implizite und explizite Regeln, Verhaltensweisen, Umgangsformen, Fähigkeiten, Gewohnheiten etc. versteht, und zuletzt viertens hinsichtlich der kulturellen Identität, die er als von der Gruppe jeweils als gültig oder treffend betrachteten Selbstbeschreibung verstanden wissen will. (Ebd.: 67) Mit Ausnahme des ersten Kriteriums gibt Mecklenburg also

13 Mecklenburg bezieht sich auf Cassirer 1995. 14 In diesem Begriff ist die normative Dimension von Kultur nicht explizit angesprochen. Tatsächlich spielt sie aber für Mecklenburg eine entscheidende Rolle, da er mit Adorno die Überzeugung teilt, dass ein Glaube an die Möglichkeit normativ-neutraler Wissenschaft und damit eines nicht-normativen Kulturbegriffs unkritisch und ein Zeichen der dem Betrieb verfallenen Ideologie wäre. Dementsprechend behauptet er in der elften der fünfzehn Thesen, die er seiner Monographie vorangestellt hat: »Das interkulturelle Potential der Literatur ist ein kritisches Potential.« (Mecklenburg 2009: 12) Was damit unter anderem gemeint ist, formuliert er in der Einleitung: »Sie [die Interkulturelle Literaturwissenschaft, D.Z.] könnte sich aber auch, im Gegenzug dazu [sich in postmoderner Beliebigkeit zu verlieren, D.Z.], dem Ziel widmen, ihren spezifischen Beitrag zu dem zu leisten, was der Inbegriff von Kultur wäre: Entbarbarisierung.« (Ebd.: 14) Dem Begriff Kultur ist also für Mecklenburg eine normative Dimension inhärent. Spricht man von Kultur im vollumfänglichen Sinn, ist damit also auch ein normativer Anspruch ausgedrückt. Damit beschreibbar wird, dass dieser Anspruch verfehlt werden kann, darf doch unter Kultur nicht nur der Fall verstanden werden, in dem ihm entsprochen wird. Daher ist die analytische Trennung zwischen dem Kulturbegriff als signifying system, der zunächst von der Normativität absieht, und dem normativen Kulturbegriff der Entbarbarisierung notwendig.

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– wie der Bezug auf Cassirer auch nicht anders erwarten lässt – im weitesten Sinne das symbolische System betreffende Kriterien. 15 Die These, die nun anschließend an Mecklenburg – ihn allerdings auf eine Richtung hin zuspitzend – aufgestellt werden soll, ist: Kultur ist Kontext. Man kann sowohl bereits bei Bausingers frühen Arbeiten 16 und Definitionen diese Bedeutung als die zentrale herauslesen als auch bei Mecklenburg und in vielen anderen Arbeiten aus dem Umfeld der Interkulturellen Germanistik. 17 Sollten

15 Das erste Kriterium steht deswegen jedoch nicht im Widerspruch zu einem Kulturbegriff als Symbolsystem, sondern ist notwendig, um einen grundlegenden Wortsinn von Kultur zu erfassen. Es erlaubt, indem es einen (nicht den symbolischzeichenhaften) Zugriff auf Kultur wählt, dass Ähnlichkeiten benennbar sind. Man kann aufgrund dieses Zugriffs z.B. beschreiben, dass die Kultur der Australier, Briten und Amerikaner in vielen Punkten gleich ist, ohne behaupten zu müssen, sie hätten dieselbe Kultur. Würde man kein nicht-symbolisches Kriterium zulassen, verlöre man dieses Unterscheidungskriterium. 16 Explizit macht Bausinger dieses Kulturverständnis hier: »So lehrt auch die Auseinandersetzung mit fremder Literatur, daß Textwissenschaft immer Kontextwissenschaft ist, daß also auch hier die Bedeutungen nur aus einem umfassenderen Kulturverständnis zu erschließen sind.« (Bausinger 1980: 25) 17 Es kann behauptet werden, dass dieses Verständnis sowohl vielen zentralen Arbeiten zum Kulturbegriff als auch vielen Überblicksarbeiten zugrunde liegt: Doris Bachmann-Medick beschreibt Kultur als »Hintergrund«, der allerdings nicht unveränderlich und starr ist, sondern in einem Bezug auf sprachliches Handeln steht, der als permanentes hermeneutisches Aushandeln gedacht wird. (Bachmann-Medick 1987: 660) Ortrud Gutjahr schreibt: »Zwischen das Bewusstsein und die dort aktualisierten Intentionen und das Verstehen durch einen Anderen ist stets die vom kulturellen Verstehenskontext abhängige kommunikative Situation gesetzt. Bei gemeinsamem sprachlichen und kulturellen Kontext können Gemeinsamkeitsfiktionen und Konsensunterstellungen Brückenfunktionen für die Kommunikation übernehmen.« (Gutjahr 2002: 362) Herbert Uerlings sieht gerade in solchen Interkulturellen Texten eine gelungene Verständigung, die »Interkulturalität und Intertextualität« (Uerlings 1993: 843) verschränkt, was so reformuliert werden könnte, dass ein solcher Text sich in einer spezifischen Weise als Intertext in zwei oder mehr Kontexten begreift und auf dieses Faktum Bezug nimmt. Ähnlich beschreibt auch Wierlacher die Funktionsweise interkultureller Texte, wenn er sagt, dass »künstlerische Texte in unterschiedlichem Referenzrahmen unterschiedlich sprechen.« (Wierlacher 1996: 554) Ebenso kann der Kulturbegriff, wie er in den einschlägigen Einführungen dargestellt wird, als Kontext begriffen werden. (Leskovec 2011: 43; Hofmann/Patrut 2015: 7; Hofmann 2006: 9)

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Bedenken geäußert werden, dass diese Definition zu weit wäre, kann darauf verwiesen werden, dass sie de facto sowohl enger ist als die Bausingers im Handbuch interkulturelle Germanistik als auch enger als Mecklenburgs, die Kultur als signifying system oder als ›System von symbolischen Systemen‹ bezeichnet. Sie trifft dabei das Wesentliche der einzelnen Kulturbegriffe, ohne aber je spezifische Einzelakzentuierungen auszuschließen. Der Kontext-Begriff müsste so verstanden werden, dass er als zeichenhaft (textlich) verfasster Hintergrund begriffen wird, der aufgrund des unendlichen Verweisungscharakters von Zeichen als Sinnhorizont erscheint. Einzelne Texte wären dann auf diesen horizonthaften Hintergrund hin entworfen und verständlich, jedoch deswegen nicht in ihrer Bedeutung festgelegt. Enger als Bausingers und Mecklenburgs Vorschläge ist die explizite Definition der Kultur als Kontext, weil implizit eine hierarchische Struktur mitgedacht wird. Der Kontext ist ein Textkorpus – ein Kanon, in dem nicht jeder Text gleich wichtig ist, sondern der, obwohl Gütekriterien verhandelt werden können und auch tatsächlich ständig verhandelt werden, eine über gewisse Zeit gültige Ordnung darstellt. 18 Ein weiterer vermeintlicher Einwand könnte erhoben werden, indem man fragt, ob sich Mecklenburg nicht ganz explizit gegen eine Reduktion des Kulturbegriffs auf eine Position gestellt hat, die er Kulturalismus genannt hat: Hat er [der Kulturalismus, D.Z.] überhaupt ein methodisches und nicht nur ein modisches Profil, so nähert es sich dem des traditionellen Kontextualismus an, der Berufskrankheit der Literaturwissenschaftler. Kontextualismus heißt, ästhetische Erfahrung, literarische Hermeneutik und Kritik auf Anhäufung von Kontextwissen zu reduzieren. Kultureller Kontextualismus ist hermeneutischer Historismus: Er legt die Bedeutung eines literarischen Werks auf das Bedeutungsgewebe seiner Entstehungskultur fest, die dabei meist holistisch aufgefasst wird, schon um als Kontext konstant und eindeutig zu sein. So ergibt sich das ebenso fatale wie verbreitete Verfahren, Literatur als ›Ausdruck‹ einer Kultur zu interpretieren. (Mecklenburg 2009: 86)

18 Dass Interkulturelle Germanistik und die Postkolonialen Studien nicht einfach jede Art von Kanon ablehnen, sondern gerade spezifisch auf den Kanon und Kanonisierungsprozesse Bezug nehmen, haben Herbert Uerlings und Iulia-Karin Patrut im Band Postkolonialismus und Kanon deutlich gemacht. (Uerlings/Patrut 2012) Uerlings argumentiert in seinem Beitrag, dass eine zentrale Möglichkeit der postkolonial informierten evaluativen Bezugnahme auf Literatur wäre, »literarische Verfahren [zu bezeichnen, D.Z.], die in postkolonialer Perspektive das differentielle Spiel der Kultur als ›Sprachspiel‹ deutlich machen.« (Uerlings 2012: 60)

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Dieser hier von Mecklenburg beschriebene und zurecht zurückgewiesene Kontextualismus stellt eine Hypostasierung von Zeichen und Text dar, die allein auf die bedeutungsfestschreibende, nicht jedoch auf die bedeutungsoffene Seite von Sprache blickt. Insofern muss dieses Konzept selbstverständlich abgelehnt werden. Ein dem Verhältnis von Text und Kontext (als Kultur) angemessenes Konzept könnte folgendermaßen formuliert werden: Den Kontext oder die Kultur in einem bestimmten Maße zu kennen, ist eine conditio sine qua non, jedoch keine causa per quam für ein angemessenes Verständnis von Literatur. Mecklenburg grenzt sich hier gegen literatur- und kulturwissenschaftliche Konzepte ab, die Literatur auf einen reinen Diskurseffekt verkürzen möchten, um so etwas wie ästhetischer Differenz jegliche Existenz abzusprechen. Mecklenburgs Standpunkt – und darin folgt ihm die Argumentation dieses Beitrags – wäre dagegen erstens, dass es in der Literaturwissenschaft gerade darauf ankommt, diese Differenz, die er mit dem Begriff poetische Alterität bezeichnet, zu benennen, und zweitens, dass Texte diese ästhetische Differenz durch ein spezifisches Spiel von Mimesis und Poiesis erzeugen können: Man kann durch ästhetische Verfremdung an etwas Bekanntem Neues entdecken. Das ist sehr abstrakt ausgedrückt das Prinzip literarischer Kommunikation und der Grund, weswegen Mecklenburg ihre Rolle für das interkulturelle Verstehen so hoch einschätzt, denn »literarische Kunstwerke gehören großenteils zu denjenigen Elementen von Kultur, die von sich her ›offen‹, beweglich, mehr transportable als rooted sind.« (Ebd.: 88) Hypostasiert man also nicht, was mit Kontext bezeichnet werden soll, sondern betrachtet ihn als relativ stabilen, dennoch selbstverständlich veränderbaren, horizonthaften Hintergrund, auf den hin sprachliche Aussagen verständlich sind, ohne dass er sie determinieren könnte, ist dieser Begriff vereinbar mit den Arbeiten Mecklenburgs und kann so als das (teils mehr, teils weniger explizite) Konzept von Kultur gesehen werden, wie die Interkulturelle Germanistik es entworfen und operationalisiert hat.

DER KULTURBEGRIFF IN DER GEDÄCHTNISTHEORIE Um zu zeigen, dass die Forschungen zum kollektiven Gedächtnis über den Kulturbegriff mit der Interkulturellen Germanistik verbunden werden können, muss nun dargelegt werden, dass sich der Kontext-Begriff von Kultur auch in den memory studies operationalisieren lässt. Hierzu muss zunächst ein Blick darauf geworfen werden, wie Kultur dort bereits konzeptualisiert ist. Eine aktuelle Zusammenfassung bietet Astrid Erll in ihrem auch als Einführung konzipierten Handbuch Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Sie bezieht sich auf

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eine kultursemiotisch-anthropologische Definition von Roland Posner und Dagmar Schmauks: Die Anthropologie unterscheidet soziale, materiale und mentale Kultur, und die Semiotik stellt diese drei Gegenstandsbereiche in einem systematischen Zusammenhang, indem sie eine soziale Kultur als eine strukturierte Menge von Zeichenbenutzern (Individuen, Institutionen, Gesellschaft) definiert, die materiale Kultur als eine Menge von Texten (Zivilisation) und die mentale Kultur als eine Menge von Codes. (Posner/Schmauks 2008: 401; in Erll 2017: 99)

Von den drei Dimensionen scheint sich zunächst nur die materiale problemlos als Kontext verstehen zu lassen, was vermuten lassen könnte, dass ein Reformulierungsversuch der Kultur als Kontext Gefahr läuft, den Begriff der Erinnerungskultur zu verfehlen. Tatsächlich warnt Erll sogar davor, dass Fragestellungen aus bestimmten Einzelwissenschaften derartige Verzerrungen zur Folge haben könnten. Wenig überraschend behauptet sie, dass die Literaturwissenschaft oft der materialen Dimension (den Texten) zu Unrecht eine herausragende Stellung beimesse. Erll mahnt zu einer ausgeglichenen Betrachtung: »Erst durch die dynamische Interaktion aller drei Dimensionen der Erinnerungskultur – Zeichenbenutzer, ›Texte‹ (im weiten kultursemiotischen Sinne […]) und Codes – wird kollektives Gedächtnis produziert[.]« (Erll 2017: 99). 19 Es stellt sich also die Frage, ob man den Begriff der Kultur auf die Weise verkürzt, die Erll explizit ablehnt, wenn man versucht, Erinnerungskultur als Kontext zu beschreiben. Hier sollen dazu folgende Thesen vertreten werden: Erstens: Die Literaturwissenschaft interessiert sich niemals nur für die Texte sondern – wenn auch nicht immer gleichen Maße – immer auch für die Codes. Zweitens: Eine Priorisierung der Texte und der Codes ist nicht abzustreiten, weswegen jedoch die soziale Dimension von Kultur nicht ignoriert wird. Vielmehr tritt das Soziale als Ordnungsmuster, Prinzip der Hierarchisierung und Strukturierung von Kultur auf. 20

19 Erll verweist hier auf das kultursemiotische Konzept von Posner 1991. 20 Eine Frage, die sich aufdrängt, die aber im Kontext dieses Aufsatzes nicht beantwortet werden kann, betrifft das Verhältnis zwischen Erlls und Mecklenburgs Kulturbegriff im Hinblick auf die Unterscheidung von Kultur und Gesellschaft. Es scheint, als stünden die Konzepte sich tatsächlich unvereinbar gegenüber, weil Mecklenburg explizit Gesellschaft und Kultur trennt (vgl. Mecklenburg 2009: 74-78), Erll hingegen das Soziale explizit als Teil von Kultur beschreibt. Diese Frontstellung kann hier allerdings ignoriert werden, da erstens – wie oben schon angesprochen – Mecklenburgs Begriff von Gesellschaft nicht deutlich genug bestimmt ist, um klar zu sagen, wie für ihn die

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Zum ersten Punkt: Der Text als materieller Träger von Sinn und der Code als Sinnsystem 21 sind allenfalls analytisch voneinander zu trennen. De facto muss jedoch immer, wenn ein Zeichen als Zeichen in den Fokus gerät, der Code mitgedacht werden. 22 Denn dann geht es um seine Bedeutung, die sich nur in Verschränkung seines Platzes im Syntagma mit seinem Platz im Paradigma (dem Code) verständlich machen lässt. Dies wird eigentlich schon implizit durch die Konzepte nahegelegt, auf die Posner und Schmauks sich beziehen, denn diese zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass Code und einzelnes Zeichen so unverbrüchlich aufeinander bezogen sind, dass das Zeichen (oder der Einzeltext) immer nur in Bezug auf den Code verstanden werden kann und der Code nur die hierarchisierte und strukturierte Abstraktion der Einzeltexte ist. Explizit genannt werden von Posner und Schmauks Ernst Cassirer und die Tartu-Moskauer Schule um Jurij Lotman. 23 Dass Cassirers Kulturbegriff das Einzelzeichen immer in Bezug auf das System, in dem es verwendet wird, denkt, ist oben schon klar geworden. Noch deutlicher scheint es bei Lotman zu sein, dass er als klassischer Strukturalist die Bedeutung – oder den sprachlichen Wert – eines Zeichens immer nur im doppelten Bezug auf Syntagma und Paradigma begreift. Im Lexikon heißt es weiter: »Der breitesten und überaus produktiven Definition der TartuMoskauer Schule zufolge ist Kultur die hierarchisch geordnete Gesamtheit aller Zeichensysteme, die in der Lebenspraxis einer Gemeinschaft verwendet werden.« (Posner/Schmauks 2008: 401) Es zeigt sich nun nicht nur, dass Literaturwissenschaft sich immer mit Text und Code beschäftigen muss, sondern auch

Grenze zwischen dem rein Kulturellen und dem rein Gesellschaftlichen verläuft, zweitens bei Erll, wie gleich gezeigt wird, das Soziale letztlich eine semiotische Struktur ist, drittens sich daraus ergibt, dass beide etwas anderes meinen, wenn sie von Gesellschaft reden und viertens für die Argumentation dieses Aufsatzes eine genaue Unterscheidung zwischen Kultur und Gesellschaft nicht notwendig ist. 21 Es liegt nahe, für Code die Definition heranzuziehen, die das Lexikon, aus dem Posners und Schmauks’ Artikel stammt, anbietet und auf die explizit verwiesen wird: »Code (lat. codex: Buch, Verzeichnis), System von Regeln, Übereinkünften oder Zuordnungsvorschriften, das die Verortung und Deutung von Zeichen oder Zeichenkomplexen erlaubt […].« (Horatschek 2008: 98) 22 Eine wirklich radikale Trennung von materialem Teil und Sinnanteil des Zeichens könnte man sich höchstens so vorstellen, dass z.B. Tinte von Handschriften zwecks Datierungsfragen physikalisch oder chemisch untersucht würde. Dann allerdings würde ›das Zeichen‹ nicht mehr als Zeichen rezipiert, sondern als Teil der physikalischen Welt. 23 Posner und Schmauks beziehen sich auf Lotman 1990.

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dass der strukturalistisch-kultursemiotische Begriff von Kultur als Kontext bezeichnet werden könnte. Damit kann zur zweiten These übergeleitet werden: Eine Priorisierung von Text und Code bedeutet nicht, dass die soziale Dimension von Kultur unterbelichtet bliebe. Die Sphäre, innerhalb derer Sinnphänomene möglich sind, was der (einzige) Untersuchungsgegenstand von hermeneutisch-phänomenologischer Kulturwissenschaft ist, ist durch Text und Code erschöpft. Menschen als biologische Organismen sind selbstverständlich überhaupt nicht von Interesse. 24 Sie sind es als Autoren und Leser von Texten, genauso als Kritiker und Literaturwissenschaftler oder im allgemeinkulturellen Sinn als Richter, Polizisten, Lehrer, Kassierer, Eltern… Jedoch immer nur in dieser Rolle. Sie sind also nur von Interesse, wenn sie als Zeichenproduzenten, Zeichenrezipienten oder (und das sind sie in den beiden vorgenannten Fällen auch immer) selbst als Zeichen in Erscheinung treten. Um zu verstehen, wer und was ein Richter ist, ist man genauso auf den kulturellen Kontext verwiesen, wie wenn man einen Text verstehen will – sei es ein Roman oder ein Strafzettel. Diese Konzeptualisierung von Kultur als Zeichensystem ist natürlich weniger ein Ergebnis der Arbeiten der Tartu-Moskauer Schule oder Cassirers, sondern vielmehr deren Ausgangshypothese. So soll hier letztlich auch verfahren werden: Es ist möglich, Kultur als Kontext zu konzeptualisieren. Tut man dies, kann, indem sowohl an die Interkulturelle Germanistik als auch an die Gedächtnistheorie angeschlossen werden kann, ein bestimmtes literarisches Phänomen beschrieben werden.

24 Man muss Erll natürlich darin Recht geben, dass durch diese Aussagen Wissenschaften wie der Biologie, der Neurologie und teilweise auch der klinischen Psychologie abgesprochen wird, einen Beitrag zur Theorie des Gedächtnisses leisten zu können, die ebenso beanspruchen, das Gedächtnis zu untersuchen. Es wäre einem Einwand von dieser Seite zu entgegnen, dass diese Wissenschaften sich in einem Grenzbereich bewegen. Insofern sie sich jedoch wirklich mit Sinnphänomenen beschäftigen, werden auch sie nicht rein naturwissenschaftlich arbeiten, sondern immer auch hermeneutisch-interpretativ. Sowenig man den Sinn eines Buchs entschlüsseln kann, indem man es chemischen Tests unterzieht, sowenig man die Bedeutung eines Denkmals bestimmen kann, indem man es mineralogisch untersucht, sowenig wird man etwas über die mentalen Zustände eines Menschen herausbekommen, indem man seinen Kopf oder seinen Körper untersucht.

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DAS INTERKULTURELLE GEDÄCHTNIS Die Texte des Interkulturellen Gedächtnisses versuchen, auf Inkommensurabilität aufmerksam zu machen, indem sie paradoxerweise über etwas zu sprechen versuchen, von dem sie behaupten, man könne es nicht sagen. Versteht man Kultur als Kontext, dann lässt sich behaupten, dass es ihnen um Erfahrungen geht, die zwischen den Kulturen herunterfallen, weil sie weder im einen noch im anderen Kontext aufgehoben werden können. Warum die Texte etwas ›eigentlich‹ Unmögliches sagen, lässt sich nun mithilfe von Erlls Konzept des Zusammenhangs von Literatur und kollektivem Gedächtnis beschreiben, warum es gerade jedoch literarische Texte sind, die durch diesen Versuch Sinn produzieren können, erschließt sich, wenn man im Auge hat, wie Mecklenburg die spezifische Verschränkung von poetischer und kultureller Alterität denkt. Die spezifische Weise, wie Literatur und das kulturelle Gedächtnis miteinander in Verbindung stehen und aufeinander Bezug nehmen können, wird von Erll anhand des Konzeptes der dreifachen Mimesis von Paul Ricœur erläutert. 25 Obwohl dieser nicht als klassischer Strukturalist, sondern eher als Hermeneutiker gilt, ist er stark vom Strukturalismus beeinflusst, was unter anderem im Konzept der dreifachen Mimesis zum Tragen kommt und es erlaubt, seine Überlegungen an oben erwähnten kultursemiologischen Thesen anzuschließen. 26 Mit dreifacher Mimesis konzeptualisiert Ricœur die Produktion von Texten. Am Anfang (Mimesis I) steht eine Auswahl dessen, worüber und mit welchen Mitteln gesprochen werden soll. Dieser Pool, aus dem geschöpft werden kann, wird klassisch strukturalistisch als das Paradigma gedacht, das das All der potentialiter verwendbaren symbolischen Formen ist. Dann (Mimesis II) muss diese Auswahl in einem konkreten Syntagma arrangiert werden. Das ist die eigentliche Textproduktion. Zuletzt (Mimesis III) folgt der konkrete Rezeptionsakt, der aber nicht nur ein privat-psychisches Erlebnis meint, sondern zeichentheoretisch auch eine Inkorporation des neuen Textes in den paradigmatischen Kontext. Obwohl Erll erinnerungstheoretisch vor allem die Mimesis I (vgl. Erll 2017: 173 f.) interessiert, weil sich in diesem Schritt zeigt, wie der Einfluss des kollektiven Gedächt-

25 Dieses Konzept entwickelt Ricœur in Zeit und Erzählung. (Ricœur 1988-91) 26 Das tut natürlich auch Astrid Erll, die in ihrem Ricœur-Kapitel (Erll 2017: 173-178) den Kontext-Begriff im Titel verwendet: »Literarischer Text und erinnerungskultureller Kontext: Mimesis« (ebd.: 173). Dies lässt den Schluss zu, dass Erll zumindest da, wo explizit vom Verhältnis von Literatur zu Kultur die Rede ist, ebenfalls Kultur als Kontext fasst.

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nisses auf literarische Texte stattfindet, ist für das Interkulturelle Gedächtnis vor allem die Mimesis II von Bedeutung, denn hier steht die poetische Dimension von Literatur im Vordergrund. Spezifik und Vermittlungsfunktion von Literatur in der Erinnerungskultur liegen in der Zusammenführung und in der Neu- und Umstrukturierung von Elementen des kollektiven Gedächtnisses – von Inhalten und Formen, wie sie sich in literarischen und nichtliterarischen Symbolsystemen materialisieren. (Ebd.: 175)

Wenn das Interkulturelle Gedächtnis etwas anderes sein soll, als die zu Beginn dieses Beitrags erläuterten transkulturellen Entwürfe, dann ist dies die Stelle an der sich dieser Unterschied theoretisch greifen lässt. Gehen die transkulturellen Entwürfe davon aus, dass hier ein Verständnis erzeugt werden kann, dann wäre das poetische Verfahren der Texte des Interkulturellen Gedächtnisses eher daraufhin angelegt, ein (vermeintliches) Verständnis zu stören. Sie versuchen, in der Mimesis II auf Lücken und blinde Flecken im Paradigma zu deuten, das der Mimesis I zu Verfügung stand. Die Texte des Interkulturellen Gedächtnisses versuchen zu zeigen, dass es keine angemessenen Formen des Erinnerns für die Dinge gibt, von denen sie sprechen möchten, aber nicht können. Dementsprechend wäre dann auch die oben stehende Aussage, das poetische Potential läge in der von Mecklenburg beschriebenen spezifischen Verschränkung von kultureller und poetischer Alterität, nur mit einer entscheidenden Einschränkung richtig. Mecklenburgs Konzept eines ›aufgeklärten Universalismus‹ (Mecklenburg 1987: 568 f.), das er mit Blick auf Goethe und im Anschluss an Ernst Gombrich (vgl. Gombrich 1986: 23) vertritt, geht von der betont vorsichtigen Voraussetzung aus, dass jede Kunst auf »anthropologischen Universalien« (ebd.: 569) fußt. Das Spiel von Mimesis und Poiesis der Kunst hat je schon (auch im eigenkulturellen Kontext) als sein Spezifikum das Moment der Verfremdung. Ist der Kontext, in dem ein literarischer Text ursprünglich steht, »ein anderer als unser eigener, so sind wir mit einer doppelten Alterität konfrontiert.« (Ebd.: 578) Prinzipiell wird die hermeneutische Aufgabe keine wesentlich andere – sie wird nur schwieriger, bietet aber auch neue und andere Chancen, sodass gilt: Die Transkulturalität von Literatur hebt ihre Kulturalität auf, ohne sie zu löschen; das ist Ergebnis einer Dialektik des Besonderen und des Allgemeinen. Kultur ist die Zwischenwelt der symbolischen Formen, die Literatur- und Kunstwerke als individuell Besonderes mit Geschichte und Gesellschaft als Allgemeinen verbindet. (Mecklenburg 2009: 88)

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Passenderweise spricht Mecklenburg hier von Transkulturalität, die (im Sinne Hegels) die Kulturalität aufhebt, also auf eine neue Stufe hebt, negiert und bewahrt. Er beschreibt den Fall, dass ein Kunstwerk aus einem kulturellen Kontext erfolgreich in einem anderen verstanden wird und beschreibt damit – genau wie die Konzepte des transkulturellen Gedächtnisses – das Phänomen gelingender Kommunikation. Es ist leicht einzusehen, dass einige Erfahrungen derer, die zwischen den Kontexten stehen – wie z.B. Flüchtlinge, Migranten, Sexarbeiterinnen – im Gegensatz dazu im Moment ihres Artikuliert-Werdens sogleich wieder verschwinden müssen. 27 Ein Beispiel ist der Roman Die Erdfresserin (2012) von Julya Rabinowich. Die Protagonistin Diana, eine sich in Österreich illegal aufhaltende Sexarbeiterin, formuliert im Prolog, dass für jedwede artikulierte Bezugnahme auf die eigene Situation die grundlegendste Bedingung ist, inne halten zu können: »Den Blick zurück kann man sich erlauben, wenn man einen Ort erreicht, der nach dem Zurück liegt.« (Rabinowich 2012: 5) 28 Der Blick zurück wäre eine erinnernde, artikulierende Stellungnahme (zunächst für sich selbst). Die Ich-Erzählerin stirbt am Ende des Romans jedoch, während sie sich vorsagt: »Diana darf man nicht vergessen, jeder, der nach Betreten des Erdreichs seinen Namen vergisst, geht darin verloren. Ich gehe weiter. Ich gehe tiefer. Tiefer. Tiefer. Ich gehe. Ich gehe. Gehe. Gehe.« (Ebd.: 235) Der Prolog muss auf

27 Man könnte einwenden, dass eine absolute Inkommensurabilität nicht möglich wäre, da sie gleichbedeutend mit absoluter Stummheit sein müsste und daher ein rudimentäres Verständnis notwendigerweise stattfinden müsse. Daraus ergäbe sich in Bezug auf die Gedächtnistheorie und in Bezug auf den aufgeklärten Universalismus die Frage, ob der Unterschied zur Theorie des Interkulturellen Gedächtnisses ein qualitativer oder nicht vielleicht doch bloß ein quantitativer sei. Bezüglich der Erinnerungstheorien kann man sagen, dass das Phänomen, das durch die Texte umkreist wird, tatsächlich bis jetzt noch nicht von Interesse war, weswegen hier die Rede von einem qualitativen Unterschied gerechtfertigt scheint. In Bezug auf Mecklenburg ist zu sagen, dass die Existenz eines Textes als kommunikativer Akt immer auch von einer Hoffnung und einem Willen zeugt, verstanden zu werden. Insofern ist auch noch die Absicht, verständlich zu machen, dass man nicht verstanden werden kann, eine hermeneutische Aufgabe, die gelingen kann. Die Texte des Interkulturellen Gedächtnisses widersprechen Mecklenburgs Konzept also nicht notwendig – nicht umsonst haben sich die Überlegungen dieses Beitrags an dieses angeschlossen. Der Unterschied ist vielleicht am besten anders zu fassen: Mecklenburg scheint sich vielmehr für das Phänomen interkulturellen Verstehens zu interessieren, nicht so sehr für das Nichtverstehen. Bei den Texten des Interkulturellen Gedächtnisses ist es genau andersherum. 28 Eine ausführliche Interpretation zu diesem Roman findet sich in Zink 2017: 137-168.

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diese letzten Worte bezogen werden: Diana hat niemals einen Ort gefunden, von dem aus sie hätte sprechen können. Sie ist im Gehen gestorben. Der Roman offenbart sich dadurch in seiner Erzählsituation als eigentlich unmöglich und stellt sich in seiner Gesamtheit unter einen radikalen Vorbehalt. Er macht deutlich, dass die, von denen er behauptet, man müsse sich ihrer erinnern, eben gerade nicht gehört werden – auch nicht durch ihn. Insofern muss Mecklenburgs Optimismus sehr stark eingeschränkt werden: Es geht diesem Text und ebenso anderen, die hier als Texte des Interkulturellen Gedächtnis bezeichnet wurden, darum, über eine tatsächliche Inkommensurabilität zu sprechen. Dies ist aber selbstverständlich auch ein hermeneutisches Anliegen, weil die Texte als Texte zumindest auf ein Verständnis hoffen. Auch wenn sie zugleich die Zwecklosigkeit dieser Hoffnung behaupten. In Bezug auf die den Begriff der »Transformationen« Europas betreffende übergeordnete Fragestellung dieses Bandes kann zusammenfassend gesagt werden, dass gerade Texte des interkulturellen Gedächtnisses in einer als Kontext konzeptualisierten Kultur (Kultur-)Transfer in einer doppelten Weise als dynamische Kategorie erscheinen lassen. Zunächst ist klar, dass der Begriff Kultur selbst dynamisch gedacht wird, indem Kulturen nur eine relative und auf bestimmte Zeit gültige Selbstidentität zukommt. Da dasjenige, was in sie hinein oder aus ihnen heraus transferiert wird, immer in Bezug auf einen kulturellen Kontext ausgehandelt werden muss, ist sowohl die Selbstidentität transferierter Semantiken als auch das, was überhaupt als Transfer gilt, auf den sich verändernden Kontext angewiesen. Insofern dürfte kein Zweifel daran entstehen, dass Transfer in dem Sinne eine dynamische Kategorie ist, als sie veränderlich erscheint. 29 Interessanter jedoch scheint eine zweite Bedeutung von dynamis, näm-

29 Es scheint in der Germanistik in letzter Zeit ein gesteigertes Interesse zu geben, dieser Art von Transfer nachzuspüren. Stellvertretend kann hier zum einen Canal 2017 und Eiden-Offe 2017 genannt werden. Canal, (S. 21) der in seiner Studie zu A.W. Schlegel ein Plädoyer und einen Baustein für eine »Kulturgeschichte der literarischen Übersetzung« vorgelegt hat, wobei der diesen Begriff von Turk (2004: 177) entlehnt hat. Zusammenfassend kann man sagen, dass hinter dieser Forderung der Gedanke steckt, dass die Geschichte einer Kultur als die Geschichte der in sie eingegangenen Übersetzungen zu schreiben wäre. Die Beispiele, die Canal nennt (Voß’ Homer, Luthers Bibel, Schlegels Shakespeare) machen es unmittelbar einsichtig, dass eine Geschichte des (dynamisch gedachten) Transfers, ein lohnenswertes Projekt wäre. Patrick EidenOffe, der antikapitalistische Semantiken der Romantik untersucht, schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er sein Anliegen im Anschluss an Raymond Williams als »Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte« bezeichnet, um unmittelbar darauf klarzustellen, dass

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lich: Kraft, bzw. Vermögen. Gerade die Texte des interkulturellen Gedächtnisses machen deutlich, dass Transferprozesse immer auch in ein gewisses interpretatives Kräftefeld eingespannt sind. Diese Texte können als Spuren von Exklusionen interpretiert werden, die – ohne sie greifen zu können – von einer sprachlosmachenden Gewalt zeugen. Will man wie Iulia-Karin Patrut und Dieter Heimböckel dies bei der GiG-Tagung Europa im Übergang ausgedrückt haben, eine »Kulturgeschichte als Exklusionsgeschichte« schreiben, 30 dann bieten diese Texte ein gewisses seismographisches Gespür dafür, wo Kräftelinien verlaufen, die die Möglichkeitsbedingungen bestimmen, wie und ob Transfers wahrgenommen und besprochen werden können.

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dies »immer auch transnationale Übersetzungsgeschichte« (S. 17) zu schreiben bedeute. 30 Zink 2018, S. 193.

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›Krise‹ und ›Kap‹ Figurationen Europas in/als Literatur- und Kulturtheorie (Husserl/Derrida) Reto Rössler

ABSTRACT The article discusses two paradigmatic metaphors which were coined in Edmund Husserl’s late work The Crisis of the European Sciences and Transcendental Phenomenology (1936) and Jacques Derrida’s essay The other heading (1991): ›crisis‹ and ›cape‹/›heading‹. These metaphors structure the discourse on and the conceptual formation of Europe in the early and late 20th century. Whereas novel writers and cultural philosophers of the Weimar Republic often addressed Europe in terms of a ›cultural crisis‹ implying the idea of a solid european ›core‹ or ›spirit‹ that has to be revoked, literary and cultural theories of the post-wall era opposed such forms of teleological and essentialist thinking – likewise, they were accused of pursuing a merely formalistic play on words themselves within the so called ›science wars‹ of the 1990s. With regard to the poetics and rhetorics of these two metaphors the article argues for a ›distinguished historiography‹ (histoire croisée) of Europe and tries to show that cultural studies, literary theory and political thinking coevolved in these periods. Keywords: Hermeneutics – Deconstruction – Cultural Studies – Conceptual History

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I. AUFTAKT Das Ende des Ersten Weltkrieges und der Fall der Berliner Mauer – zwei Ereignisse, ersteres am Beginn, letzteres am Ende des ›kurzen‹ 20. Jahrhunderts stehend, haben die politische Topographie Europas grundlegend verändert. Jenseits nationaler Geschichtsschreibung sind sie inzwischen zum festen Bestandteil einer »europäischen Erinnerungskultur« geworden (Assmann 2012), haben doch gerade diese politischen Zäsuren an den ›Rändern‹ des Jahrhunderts besonderen Anlass geboten, Europa in transnationalen Dimensionen neu zu denken und zu beschreiben. Jedoch stellten sich Fragen wie die nach Genealogien, Verortungen und Institutionen Europas sowie jene nach einer gemeinsamen europäischen Kultur (›in Übergängen‹) bereits unmittelbar ›nach 1918‹ und ›nach 1990‹ mit ähnlicher Dringlichkeit. Der sich hier jeweils ausbildende »Europa-Diskurs« (vgl. Lützeler 1992; Greiner 2014; Kläger/Wagner-Egelhaaf 2016) entwickelte dabei – so die These – mit den Figurationen der ›Krise‹ und des ›(anderen) Kaps‹ zwei genuin ›europäische‹ Transformationssemantiken (vgl. Weidner 2006), deren Differenz zu jeweils unterschiedlichen, ja konträren Diskurslogiken führte. Der Beitrag macht es sich daher zur Aufgabe, die Implikationen dieser beiden Denkfiguren in einem ersten Schritt anhand eines jeweils diskursprägenden Textes herauszuarbeiten und einander gegenüberzustellen: als exemplarisch für erstere kann dabei Edmund Husserls späte Krisis-Schrift (1936/37) gelten, die den kulturellen ›Krisen‹-Diskurs der Weimarer Republik – im doppelten Sinne – ›einholt‹ (vgl. Scheunemann 1978; Graf 2005), um diesen sodann in das eigene Projekt einer transzendentalen (als ›Rettung‹ angelegten) Phänomenologie und Kulturtheorie bzw. -philosophie zu überführen. Als späte Antwort auf und als Gegenentwurf zu Husserls Schrift versteht sich zum Ende des Jahrhunderts hin Jacques Derridas Essay Das andere Kap (L’autre cap) aus dem Jahr 1991 – ein Text, der in dieser Phase insbesondere literarische Neuentwürfe eines ›Europas im Übergang‹ inspiriert hat. In einer Art Ausblick schlägt der Beitrag schließlich die Brücke von den Figurationen Europas ›um 1920‹ und ›um 1990‹ zur gegenwärtigen Europa-Krise ›um 2020‹. Sind auch ihre figurativen Konturen bereits zu erahnen? Und ist es möglich, sich ihren Diskurseffekten von Seiten ihrer historischen Formation zu nähern?

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II. ›KRISIS‹, ›TELOS‹ UND (EUROPÄISCHE) ›KULTUR‹ (HUSSERL) »Im politisch-kulturellen Diskurs der Weimarer Republik war«, so schreibt der Historiker Rüdiger Graf, »der Begriff der Krise omnipräsent« (Graf 2005: 77). Kaum ein gesellschaftlicher Teilbereich war hiervon ausgenommen: Es gab eine Krise des Glaubens, der Kirche und der Religion (Rudolf Bultmann [1931]); eine Krise der Jugend (Ernst Fischer [1931]); eine Krise der Ehe (Rosa Mayreder [1929]) oder auch des deutschen Parlamentarismus (Willy Hellpach [1927]). Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, wenn man bereits unmittelbar nach 1918 im Rahmen kulturkritischer Reflexionen tradierter identitätsstiftender Kategorien der politischen Repräsentation (darunter ›Volk‹, ›Nation‹, ›Kulturkreis‹ oder ›Rasse‹) insbesondere ›Europa‹ unter ebenjenes Vorzeichen der ›Krisis‹ stellte. Mit dieser denkbar weitesten Referenz war eine nicht allein quantitative, sondern qualitative Differenzierung verbunden. Gegenüber den ersteren Krisendiagnosen zielte die Rede von einer ›europäischen Krise‹ auf einen grundlegenden, alle Lebensbereiche umfassenden ›kulturellen‹ Zusammenbruch. Sie bezog sich auf die sich zunehmend verfestigende Überzeugung eines tiefgreifenden geistigen Bruchs: man musste sich bewusstwerden, so beschreibt es rückblickend der Schriftsteller Stefan Zweig in seiner Autobiographie Die Welt von gestern (1942), dass jene Welt ›vor 1914‹ nicht mehr mit jener Welt ›nach 1918‹ zur Deckung zu bringen war; dass beide Welten nun vielmehr kategorial voneinander getrennt zu sein schienen und die Begriffe und Kategorien der alten Welt auf die neue noch nicht oder nicht mehr passten (vgl. Zweig 2003: 7-13). Zweigs hier zunächst auf die Zäsur des Ersten Weltkriegs gemünzte europäische Krisen-Diagnose bildete dabei keinen Einzelfall, im Gegenteil. Das Bewusstsein, an einem geistigen Nullpunkt Europas zu stehen, wurde in dieser Phase zu einer literarischen Einschreibefläche, es war Gegenstand und Anlass schriftstellerischer und intellektueller Selbstinszenierung. Die innerhalb des sich etablierenden Literaturbetriebs der Weimarer Republik geführten Diskussionen um Europa unter Beteiligung sowohl bereits etablierter intellektueller Größen als auch einer jungen und aufstrebenden Autorengeneration, darunter etwa Rudolf Pannwitz, Hugo von Hofmannsthal, Heinrich und Thomas Mann, Robert Musil oder Paul Valéry (vgl. Lützeler 1994), fungierten als Initialzündung zur Ausbildung eines breit gefächerten Spektrums ästhetischer Programme in der ›klassischen Moderne‹ (vgl. z.B. Scheunemann 1978; Kiesel 2004). Wollte man für diese literarischen Einschreibungs- und Neudeutungsversuche bei aller sonstigen, sei es politisch-weltanschaulichen, philosophischgeistesgeschichtlichen oder ästhetisch-poetologischen Verschiedenheit eine Mi-

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nimalklammer finden, so ließe sich diese – weniger diskursiv als latent – in einem noch weitgehend unerschütterten Grundvertrauen auf die eigene theoretische Diagnoseleistung, wenn man so will einer Art ›Absolutismus der Theorie‹, ansehen. So paradox es klingen mag, waren die europäischen ›Krisen‹Deutungen dieser Zeit mit Blick auf ihre eigene Hermeneutik höchst optimistische Unternehmungen. Besonders stark tritt dieser Kontrast zwischen Diagnose und intellektueller Haltung beispielsweise in Edmund Husserls Spätwerk Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936/37) zutage. Husserls Verhältnis zum Krisen-Diskurs der Weimarer Zeit ist zunächst nicht ganz einfach zu bestimmen, und es scheint gerade dieses bewusste Spiel mit Nähe und Distanz zu sein, mit der er die Rezeption der Schrift bewusst zu steuern versuchte. Auf der einen Seite spielte Husserl mit der Wahl seines Titels und dessen nicht zu unterschätzender »Suggestionskraft« auf die populäre Debatte innerhalb des literarischen Feldes wie auch die philosophische Debatte im Speziellen an (vgl. Orth 2010: bes. 160-170). Ebenso lässt sich anhand seiner brieflichen Korrespondenz mit immerhin zweien ihrer Protagonisten, Arthur Liebert und Karl Joël, über ebenjene Themen seine genaue Kenntnis des Debattenstandes belegen (vgl. Orth 1999: 46-49). Doch so suggestiv und scheinbar dem Zeitgeist verhaftet die Krisis-Schrift ihrem Titel nach anmutet, so sehr bricht sie auf der anderen Seite mit den Erwartungen damaliger Leser. Es scheint, als habe Husserl mit der Wahl des Publikationsortes, der 1936 neu gegründeten Belgrader Zeitschrift Philosophia, keinen Zweifel darüber entstehen lassen wollen, dass es sich bei dem ihm vorschwebenden Unternehmen nicht bloß um eine der zahllosen kulturkritischen Krisen-Stellungnahmen handeln sollte. An früherer Stelle hatte Husserl diesbezüglich ironisch bemerkt: »Die europäischen Nationen sind krank, Europa selbst ist, sagt man, in einer Krisis. An so etwas wie Naturheilkundigen fehlt es hier durchaus nicht. Wir werden ja geradezu überschwemmt von einer Flut naiver und überschwänglicher Reformvorschläge.« (Husserl 1976b: 315). Um daran die Frage anzuschließen: »Aber warum versagen die so reich entwickelten Geisteswissenschaften hier den Dienst, den die Naturwissenschaften in ihrer Sphäre vortrefflich üben?« (Ebd.) Die Divergenz von (populärer) Nähe und (phänomenologischer) Distanznahme unterstreicht so zum einen den Anspruch des Vorhabens, sollte doch die Husserl’sche Krisis der Debatte nicht nur lediglich eine weitere Krisendiagnose hinzufügen, sondern sah sie es vielmehr als ihre Aufgabe an, die laufende Debatte als Teil einer fehlgeleiteten Gegenstandsbestimmung der Geisteswissenschaften zu begreifen und die ›Krise‹ selbst demgegenüber neu und »tiefer«-liegend, auf der Ebene ihrer »Subjektivität«, zu fundieren (vgl. Bermes 2017: 99).

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Doch gibt es, darauf weist etwa Christian Bermes hin, angesichts der nacheinander publizierten drei Textteile (der dritte Teil blieb unvollendet und erschien postum) nicht die eine Krisis-Schrift, so dass man viel eher von einem unabgeschlossenen (und erst noch zu vollendenden) Krisis-Projekt sprechen müsse (vgl. ebd: 97). Dieser Umstand ist für Husserls Behandlung der Europa-Frage insofern von besonderem Belang, als dieser Aspekt in den ersten beiden 1937 gedruckt erschienenen Teilen noch eher im Hintergrund zu stehen scheint. So gestaltet sich etwa der erste Teil als eine umfassende neuzeitliche Wissenschaftskritik. Formuliert findet sich hierin bereits die für das ›Projekt‹ zentrale These einer Abkopplung der sich zunehmend vereinzelnden Naturwissenschaften von der Philosophie seit der Frühen Neuzeit, ein Prozess, dessen Fortwirken in der Moderne zu einem Verlust der »Lebensbedeutsamkeit« der Wissenschaften und damit ihrer ›Krisis‹ geführt habe. »Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen« (Husserl 1976: 4) – auf diese einprägsame Formel bringt Husserl seine Diagnose gleich zu Beginn der Schrift. Während sich der erste Teil der Krisis mit seiner Kritik an ›Positivismus‹, ›Naturalismus‹ und ›Objektivismus‹ auf eine sich seit dem späteren 19. Jahrhundert ausbildende und in die unmittelbare Gegenwart des frühen 20. Jahrhunderts hineinragende Wissenschaftspraxis bezieht, wendet sich Husserl im zweiten Teil den komplexen Entkopplungsprozessen von Philosophie und Wissenschaften zu. Einen von mehreren Entwicklungssträngen der ›Krisis‹ macht er dabei etwa zu Beginn des 17. Jahrhunderts bei Galilei aus, dessen wissenschaftliche Leistung Husserl hier weniger als die eines empirisch-experimentellen Naturwissenschaftlers denn als eines mathematischen Naturphilosophen darstellt. Demnach war es die vollständige ›Mathematisierung der Natur‹, die zu einem unmittelbaren Evidenzverlust derselben führte. Damit einher gingen wiederum, wie zunächst in der Subjektphilosophie Descartes’ zu beobachten, eine Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, die in den nachfolgenden Jahrhunderten weder die kantische Philosophie noch die Idealismen und Materialismen des 19. Jahrhunderts zu überwinden vermochten. Erst der von Husserl zunächst zur weiteren Bearbeitung zurückgehaltene dritte und umfangreichste Teil formuliert über den zentralen Begriff der ›Lebenswelt‹ einen Ausweg aus der so rekonstruierten Krisis der Wissenschaften. Dominieren also in der publizierten Krisis-Schrift die Kontexte der wissenschaftlichen ›Krise‹ zum einen und das Programm einer transzendentalen Phänomenologie zum anderen, die sich hier gewissermaßen wie ›Frage‹ und ›Antwort‹, wie ›Krise‹ und ›Rettung‹, zueinander verhalten, so ergibt sich mit Blick auf die beiden von Husserl ein Jahr zuvor gehaltenen Vorträge, insbesondere den vor dem Wiener Kulturbund gehaltenen ersten Vortrag Die Krisis der europäischen Wissenschaften als Ausdruck der radikalen Lebenskrisis des europäischen

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Menschentums, ein ganz anderes Bild. Hier nun ist Europa nicht mehr Flucht-, sondern Ausgangspunkt seines Krisis-Projekts. Wie in der späteren Zeitschriften-Publikation verzichtete Husserl – mit wenigen Ausnahmen, so etwa seiner dezidierten Kritik an Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1918) (»Es gibt wesensmäßig keine Zoologie der Völker« [Husserl 1976b: 320]) – auch hier bereits auf Bezugnahmen im unmittelbaren Umkreis der Debatte. Doch ist der Ton dieses Vortrags nun ein merklich anderer. An die Seite des ›strengen‹ Reduktionismus der eigenen phänomenologischen Analyse treten hier Passagen mit stark emphatischem, ja appellativem Charakter, in denen Husserl in mehreren Anläufen wiederholt die historische Gewordenheit der Krise der europäischen Wissenschaften mit der unmittelbaren Gegenwärtigkeit dieses Ereignisses verknüpft, zu der es sich theoretisch zu verhalten gelte. Dies macht bereits der erste Satz seiner Rede deutlich: »Ich will in diesem Vortrage den Versuch wagen, dem so viel verhandelten Thema der europäischen Krisis ein neues Interesse dadurch abzugewinnen, daß ich die geschichtsphilosophische Idee (oder den teleologischen Sinn) des europäischen Menschentums entwickle.« (Husserl 1976b: 314) Und noch deutlicher wird der Gestus der ›Rettung‹ aus dem Geist der Philosophie am Ende seines Vortrags: Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit. Kämpfen wir gegen diese Gefahr der Gefahren als ›gute Europäer‹ in jeder Tapferkeit, die auch einen unendlichen Kampf nicht scheut, dann wird aus der großen Müdigkeit der Phoenix einer neuen Lebensinnerlichkeit und Vergeistigung auferstehen, als Unterpfand einer großen und fernen Menschenzukunft: Denn der Geist allein ist unsterblich. (Ebd.: 348)

Doch von welcher »Krise«, welcher europäischen »Idee« und welchem europäischen »Geist« ist hier genau die Rede? Tatsächlich lässt sich die implizite Anspielung auf den Krisen-Diskurs der Weimarer Zeit nicht allein vor dem Hintergrund der philosophischen Profilschärfung, sondern überdies auch im Sinne eines – freilich notwendigen – rhetorischen Manövers lesen, sofern es den eigentlichen Fluchtpunkt der Analyse zumindest oberflächlich kaschierte. Gerade die Schlussanmerkungen des Wiener Vortrags machen deutlich, dass die Krise Europas zwar auch auf 1918, vor allem aber auf die unmittelbare Gegenwart nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und die ›Machtergreifung‹ Hitlers zu beziehen war (vgl. Ströker 1996: 311). Wenn Husserl, ohne ansonsten explizit zu werden, wiederholt vom »dunklen Schicksal«, der »europäischen Not« oder dem »Verfall in die Barbarei« spricht, so lässt er keinen Zweifel daran, dass die ›Krise‹ zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr Krise war, sondern die ›Katastrophe‹ bereits stattfand.

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Husserl war als jüdischer Intellektueller von den politischen, sozialen wie kulturellen Zäsuren von 1933 ganz unmittelbar und als einer der Ersten betroffen, wenngleich er sich, wie er in Rückblicken beschreibt, Zeit seines Lebens den antisemitischen Tendenzen des universitären Lehrbetriebs in Deutschland ausgesetzt gesehen hatte. Dies hatte unter anderem dazu geführt, dass man ihn ungeachtet der bedeutenden Wirkung seiner phänomenologischen Philosophie seit der Jahrhundertwende erst im Alter von 57 Jahren, im Jahr 1916, auf eine ordentliche Professur in Freiburg (als Nachfolger des Neukantianers Heinrich Rickert) berufen hatte. 1934 jedoch, also nur ein Jahr vor seinem Wiener Vortrag, hatte das Freiburger Rektorat dem inzwischen Emeritierten, der trotz seiner bereits in den 1880er erfolgten Konversion als »rassisch verfemt« galt (vgl. Ströker 2000: 135), die Lehrbefugnis entzogen und ihm die Mitwirkung in allen akademischen Ämtern und Gremien untersagt. Aus den Briefwechseln dieser Zeit geht hervor, dass diese Exklusion für Husserl die »größte Kränkung [s]eines Lebens« bedeutete (Husserl 1994, Bd. 9: 92). Ihr versuchte er, davon zeugen unter anderem die mehr als 1000-seitigen handschriftlichen Aufzeichnungen zum KrisisProjekt im Husserl-Archiv, schreibend zu begegnen, bedürfe es doch »einer gewaltigen Überkraft philosophischer Konzentration, [um] dagegen aufkommen zu können« (Husserl 1994, Bd. 9: 128f.) Erst dieser Hintergrund erhellt schließlich auch die für einen Absolutismus der Theorie votierende Pathosformel der Schlusswendung des Krisis-Vortrags: »Die Menschen, die auf jene Ideen hinleben, werden geächtet. Und doch: Ideen sind stärker als alle empirischen Mächte.« (Husserl 1976b: 335) Husserls Zugang zur Idee Europas erfolgt dazu im Rückgriff auf seine bewährte phänomenologische Methode, das heißt auf die Verfahren der ›eidetischen Variation‹ bzw. ›Reduktion‹, die es vorsehen, den zu untersuchenden Gegenstand auf seine denkbaren Möglichkeiten hin zu befragen und dabei alles bloß Akzidentelle auszublenden, um das so ›Eingeklammerte‹ schrittweise in seinem ›Wesen‹ betrachten zu können (vgl. Jacobs 2017: 126). Als nichtwesensmäßige Eigenschaften Europas erscheinen Husserl dabei zunächst alle räumlich-territorialen Festlegungsversuche: Wir stellen die Frage: Wie charakterisiert sich die geistige Gestalt Europas? Also Europa nicht geographisch, landkartenmäßig verstanden, als ob danach der Umkreis der hier territorial zusammenlebenden Menschen als europäisches Menschentum umgrenzt werden sollte. (Husserl 1976b: 318)

Eine phänomenologische Wesensschau Europas erfordere stattdessen den Rückgang in die Geschichte, genauer: die Geistesgeschichte dieses Kontinents. Im

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Unterschied zur späteren Krisis-Schrift ›überspringt‹ Husserl in der Analyse des Wiener Vortrags die neuralgischen Anfänge der Krisis der Wissenschaften in der Frühen Neuzeit, um stattdessen die wesenhafte ›Einheit Europas‹ selbst zu untersuchen. Dass er diese dabei ausgerechnet in der Polis der griechischen Antike realisiert sieht, mag auf den ersten Blick wenig überraschen und wie ein kulturgeschichtlicher Allgemeinplatz anmuten. Doch hebt Husserl mit dem Verweis auf die ›alten Griechen‹ nicht etwa auf die Blüte einer Zivilisation, die Anfänge einer demokratischen Einrichtung des Staatswesens oder aber auf die kulturelle Etablierung eines Kunst- und Kulturbetriebs ab, sondern es geht ihm hier – qua ›Reduktion‹ – einzig und allein um die Rolle und Funktion der Philosophie in dieser Zeit, die er dazu mit dem Begriff der »theoretischen Einstellung« näher qualifiziert: »Die theoretische Einstellung, obzwar schon wiederum eine Berufseinstellung, ist ganz und gar unpraktisch.« (Husserl 1976b: 328) Europa ist demzufolge seinem Wesen nach untrennbar verbunden mit der Idee philosophischer Theoriebildung – auf eine Formel gebracht: Europa ist das Projekt der Philosophie. Husserl gesteht an dieser Stelle freilich ein, dass auch bereits frühere und spätere Kulturen Wissenschaften und Philosophien ausgebildet hätten, doch sieht er das Alleinstellungsmerkmal der griechischen Philosophie (das sich von hier aus und allein in Europa weitertradiert habe) in dem ihr eigenen Verhältnis zur Wahrheit wie auch zur Zweckfreiheit ihres Philosophierens. Im Unterschied zu allen anderen Formen der Religion, der Lebenskunst, aber auch der Wissenschaften, habe es einzig jene vermocht, entgegen der Möglichkeiten und Verlockungen ihrer unmittelbaren Verwertung, ihren philosophischen ›Eigensinn‹ zu wahren. Philosophieren bedeutete demnach nicht, »dem Menschen in seinen menschlichen Zwecken zu dienen, auf daß er sein Weltleben möglichst glücklich gestalten, es vor Krankheit, vor jederlei Schicksal, vor Not und Tod behüten kann« (Husserl 1976b: 331); sondern es handelte sich »um Theoria und nichts als Theoria« (ebd.: 326), deren Ziel dabei – das ist entscheidend – in einer neuen Art des Verhältnisses ihrer selbst zur Praxis lag: der »der universalen Kritik alles Lebens und aller Lebensziele, aller aus dem Leben der Menschheit schon erwachsenen Kulturgebilde und Kultursysteme, und damit auch einer Kritik der Menschheit selbst und der sie ausdrücklich und unausdrücklich leitenden Werte.« (Ebd.: 329) Ebenjenes in der Antike verwirklichte Ideal einer Synthese von Theorie und praktischem Leben sieht Husserl – hier nimmt seine Argumentation nun Kurs auf die später publizierte Krisis-Schrift – noch bis in die Frühe Neuzeit fortgeschrieben, bevor es sich seitdem wieder in mehreren Etappen auflöste. Im Wiener Krisis-Vortrag führt Husserl hierzu nicht nur die bereits benannte Mathematisierung der Natur an; er sieht überdies in der Reaktion auf die neuzeitliche Evidenzkrise in Gestalt der Ermittlung ›klarer‹ und

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›deutlicher‹ Begriffe sowie der Errichtung vermeintlich unumstößlicher Begriffssysteme einen »sich verirrenden Rationalismus« der Aufklärung (ebd.: 337), dessen metaphysischer Zusammenbruch sodann erst die ›Tatsachenwissenschaften‹ des 19. Jahrhunderts ermöglicht habe. Doch ist diese ›Krise‹ für Husserl keine bloß historische, sie ist weder auf die Wissenschaften allein noch auf den ›Geist‹ bezogen, sondern betrifft ganz unmittelbar und konkret die politische und soziale Gegenwart nach dem Ende der Weimarer Republik. Zwei Jahre nach der ›Machtergreifung‹ Hitlers sieht Husserl das Europa am Ende des Wiener Vortrags an einem historischen Kreuzungspunkt angelangt: Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft. (Husserl 1976b: 347f.)

Bis in die Diktion hinein erinnert die Rekonstruktion einer sich ›verirrenden‹ und von sich selbst ›entfremdenden‹ Vernunft, die (spätestens) in der Aufklärung ihren Ausgang nahm und in letzter Konsequenz in den Nationalsozialismus führte, an den Bogen, wie ihn nur wenige Jahre später im amerikanischen Exil Theodor W. Adorno und Max Horkheimer formulieren und sich dabei auch auf Husserls Krisis-Schrift beziehen sollten. 1 Während die philosophische ›Rettung‹ zu diesem Zeitpunkt noch auf ihre Aufarbeitung wartete, beschließt Husserl seinen Vortrag mit einem Appell. Wie ein solcher Heroismus der Vernunft aus phänomenologischer Sicht ganz grundsätzlich aussehen sollte, lässt er dabei zumindest anhand einiger weniger Hinweise erahnen: Zum einen soll gegen die ›Tatsachenwissenschaften‹ und den Naturalismus jene alte ›ratio‹ wiederbelebt werden, welche eine »radikale Selbstverständigung« des Geistes wie auch ein Verständnis von Wissenschaft in »universaler Verantwortlichkeit« umfasst (Husserl 1976b: 346). Zum anderen sieht Husserl die hier vorgenommene Analyse offensichtlich nur als den Spezialfall für eine Restitution der Philosophie als Instanz einer umfassenden und permanenten kritischen Selbstreflexion der Vernunft:

1

Vgl. Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. (1947): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam, S. 38.

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Die heute so viel beredete, sich in unzähligen Symptomen des Lebenszerfalls dokumentierende ›Krise des europäischen Daseins‹ ist kein dunkles Schicksal, kein undurchdringliches Verhängnis, sondern wird verständlich und durchschaubar auf dem Hintergrund der philosophisch aufdeckbaren Teleologie der europäischen Geschichte. (Husserl 1976b: 347)

Doch wirft Husserls Krisis-Projekt nicht nur in Bezug auf seine Unvollendetheit eine Reihe von Problemen und kritischen Nachfragen auf. Neben den bereits benannten rhetorischen wie methodischen Eigenheiten, durch die Husserl sein Programm als genuin und ›streng‹ philosophisches auswies und damit den Kreis zeitgenössischer Adressaten merklich einschränkte, lassen sich auch theorieimmanente Gründe anführen, die die Rezeption des Krisis-Komplexes im Hinblick auf Theorien der Interkulturalität, der Transkulturalität oder aber eines ›Europas der Transformationen und Übergänge‹ rückblickend eher behindert als befördert haben. 2 Zwar lässt sich Gabriela Baptist, die Husserls Europa-Entwurf in den Kontext einer ›Philosophie der Möglichkeit‹ rückt, in gewisser Hinsicht zustimmen (vgl. Baptist 2000). Husserls Schlussbild des sich aus der Krise erhebenden »Phönix’« des europäischen Geistes offeriert einerseits eine utopisch-offene und insofern auch historisch-variable Idee einer gemeinsamen geistigen ›Kultur‹ Europas. Andererseits gilt solche Offenheit und »Handlungskontingenz« (Makropoulos 1998: 24) für Husserls historisch-genealogische Rekonstruktion der europäischen Krise im Ganzen jedoch wiederum gerade nicht. So hält Husserl entschieden an einer teleologischen Betrachtungsweise Europas fest, aus der heraus er den »Begriff Europa« als die »historische Teleologie unendlicher Vernunftziele« bestimmt (Husserl 1976b: 347). An derartige philosophische bzw. historiographische Essentialismen haben Theorieansätze nach 1945 mehrheitlich und aus guten Gründen nicht mehr angeschlossen, und auch noch während der Zeit der Weimarer Republik wurden, mit Blick etwa auf Aby Warburg oder Ernst Cassirer, Kulturphilosophien etabliert, die demgegenüber viel stärker das transformatorische Potential eines Europas permanenter kultureller Übergänglichkeiten und Transfers hervorgehoben haben. Schwerer noch wiegt der damit im direkten Zusammenhang stehende und seit den 1990er Jahren seitens der postkolonialen Theoriebildung oder eben auch von Derrida erhobene Vorwurf des Eurozentrismus. Auch wenn sich Husserl an verschiedenen Stellen um Relativierung und Würdigung der kulturellen Leistun-

2

Dazu im Widerspruch steht indes nicht, dass innerhalb der phänomenologischen Forschung verschiedentlich versucht wurde, Husserls Denken im Sinne einer Philosophie der Interkulturalität neu zu perspektivieren. Siehe hierzu z.B. Wang 2011.

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gen außereuropäischer Gesellschaften bemüht, mag doch Dipesh Chakrabartys Kritik, die hier Husserls Wiener Vortrag als erstes Beispiel anführt, wie auch die daraus abgeleitete Forderung eines ›Provincializing Europe‹ als prinzipiell zustimmungswürdig erscheinen: »The dominance of ›Europe‹ as the subject of all histories is a part of a much more profound theoretical condition under which historical knowledge is produced in the third world.« (Chakrabarty 2000: 29) Der aus solchem Essentialismus wie auch aus dem Eurozentrismus unmittelbar resultierende hochgradig exkludierende Charakter einer ›geistigen‹ Bestimmung Europas zeigt sich besonders an jenen vermeintlichen ›Rändern‹ des Kontinents, an denen sich Husserl gezwungen sieht, klar zu entscheiden, wer zu Europa gehört und wer nicht: »Im geistigen Sinn gehören offenbar die englischen Dominions, die Vereinigten Staaten usw. zu Europa, nicht aber die Eskimos oder Indianer der Jahrmarktmenagerien oder die Zigeuner, die dauernd durch Europa herumvagabundieren.« (Husserl 1976b: 318f.) Derartige, nicht nur exkludierende, sondern überdies rassistische Äußerungen Husserls bleiben – auch dies ist zu betonen – im Wiener Vortrag und auch in der Krisis-Schrift eine singuläre Erscheinung. Die nachfolgende Konfrontation der Position bzw. Figuration Husserls mit jener Derridas soll daher auch nicht der einseitigen Kritik der ersteren durch letztere dienen. Es gilt vielmehr, den paradoxalen Charakter der Konzeption herauszuarbeiten, um so eine tieferliegende Differenz der Europa-Figuration am Anfang und am Ende des 20. Jahrhunderts freizulegen. Denn trotz der ganz eigenen – eben phänomenologischen – Ausprägung, die sich einer jeden populären Krisen-Diskussion Europas geradezu versperrte, kann Husserls Krisis-Projekt doch in einer Hinsicht als geradezu exemplarisch für den Europa-Diskurs nach 1918 gelten: nämlich auf der Ebene seiner Affektpoetologie. Der optimistische, geradezu unerschütterliche Glaube an eine Rettung der europäischen Situation durch Analyse, philosophisches Schreiben und ›Theorie‹ mag im Fall Husserls persönliche und biographische Gründe haben, und doch erweist er sich mit Blick auf die Deutungen Europas nach 1918 wie auch das Selbstverständnis der Schriftsteller- und Intellektuellengeneration dieser Zeit als durchaus repräsentativ. Europa erschien den Autoren der Zwischenkriegszeit mehrheitlich als ein »Symptom«, ein Problemkomplex, dessen Ursachen dabei weit in die Geschichte dieses Kontinents zurückreichten, die es wiederum zu analysieren und ›zu verstehen‹ galt, und der gegenüber man sich deshalb mit philosophischen und/oder künstlerischen Mitteln angemessen verhalten musste. Ebendies verbindet Husserls phänomenologischen Ansatz beispielsweise mit Robert Musils Essay Das hilflose Europa (1922), in dem bezogen auf die europäische Situation nach dem Ersten Weltkrieg ein ganz ähnliches Problembewusstsein zutage tritt. Musil bedient

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sich für den Umgang mit derartigen Deutungsproblemen freilich gänzlich anderer ästhetischer Strategien, die demgegenüber viel stärker auf die subversiven Reflexions- und Ausdrucksmittel der Dichtung rekurrieren. Auf die Beobachtung, dass auch ein Jahrzehnt nach Kriegsbeginn noch keine »Begriffe« entwickelt worden seien, um die veränderte europäische Erfahrungswelt adäquat erfassen zu können, folgt in Musils Konzeption daher nicht etwa eine essentialistische Wesensschau, sondern schließt eine diskursive Bestandsaufnahme an, auf die sich seine Darstellung sodann ganz bewusst beschränkt. Doch wenngleich es auch nicht abwegig erscheint, diesen Essay etwa mit Blick auf Musils späteres Romanprojekt des Mann ohne Eigenschaften (1930-1942) mit einer ›avantgardistischen Poetik‹ oder auch mit dekonstruktiven Verfahren in Verbindung zu bringen (etwa wenn Musil hierin die Kontingenz geschichtlicher Abläufe anhand der Spezialeffekte des Films illustriert), lässt sich letztlich aber auch seine Argumentation noch im Sinne eines ›hermeneutisch‹-rekonstruierenden Beschreibungsversuchs der europäischen Situation auffassen: »[E]ine Zeit, die solche Arbeit nicht geleistet und solche Disziplin nicht erworben hat, wird nie zur Lösung großer Ordnungsaufgaben fähig werden.« (Musil 1978: 1094; Herv. R.R.)

III. ›VIELHEITEN‹, ›RÄNDER‹, ›ÜBERGÄNGE‹: EUROPA ALS ›L’AUTRE CAP‹ (DERRIDA) Wie konzeptualisiert sich demgegenüber Europa nun am Ende des 20. Jahrhunderts mit Blick auf Derridas Figur des (anderen) Kaps? L’autre cap erschien erstmals 1991 als Artikel in Liber, einer im Jahr 1989 neu gegründeten – so der Untertitel – europäischen Kulturzeitschrift, die, als europäisches Gemeinschaftsprojekt ins Leben gerufen, mit möglichst hoher Auflage breite Leserkreise erreichen sollte. Zu diesem Zweck waren die ersten Ausgaben den vier großen nationalen Tageszeitungen FAZ, L’Indice, El País und Le Monde in der jeweiligen Landessprache als Beilage beigefügt worden. 3 Derrida selbst weist im Vorwort zur späteren Buchausgabe auf diesen besonderen Publikationsumstand hin, durch den die historische Zäsur – das Jahr 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und dem beginnenden Zusammenbruch der UdSSR – seinem Text unwiderruflich eingeschrieben ist. Derridas Beschreibungsversuch lässt sich dabei als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Europa- bzw. Krisen-Diskurs der 1920er Jahre ansehen, in

3

Nach den ersten fünf Ausgaben erschien die Zeitschrift bis 1995 weiter als Beilage der von Pierre Bourdieu herausgegebenen Actes de la recherche en sciences sociales.

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dessen Zentrum er Husserls Krisis-Schrift verortet. Gleich zu Beginn seines Essays identifiziert er dazu den problematischen Kern des Europa-Diskurses der Zwischenkriegszeit, deren Hauptprotagonisten er in die Tradition der abendländischen Subjekt- und Identitätsphilosophie einordnet: Bestimmt, gebildet, kultiviert hat sich Europa stets dadurch, daß es die Gestalt des westlichen Kaps angenommen hat, die Gestalt der Spitze als Endzweck. […] Wir kennen dieses Programm der Selbstreflexion oder der Selbstdarstellung Europas. Denn – lassen Sie es mich wiederholen – wir sind alt. Das alte Europa scheint alle Möglichkeiten erschöpft zu haben, Diskurse und Gegendiskurse über seine eigene Identifikation hervorzubringen. […] Ich weise lediglich darauf hin, daß der traditionelle Diskurs, der von Hegel zu Valéry, von Husserl zu Heidegger reicht, bereits ein Diskurs des modernen Westens ist (ungeachtet der Unterschiede, die all diese großen Beispiele voneinander trennen […]). Es handelt sich um einen Diskurs der Epoche macht, der Epoche gemacht hat und der deshalb überkommen ist. Kein Diskurs ist aktueller, nichts verfügt über eine größere Aktualität als dieser Diskurs; zugleich ist er aber ein überkommener Diskurs. […] Unsere Aufgabe besteht darin, auf diesen Diskurs zu antworten und uns ihm gegenüber verantwortlich zu zeigen. (Derrida 1992: 23f.; Herv. i. Orig.)

Das gemeinsame Merkmal aller europäischen Krisendiagnosen dieser Zeit bestand demnach in einem geradezu manischen Begehren nach philosophischer ›Identifikation‹. Am Ende des 20. Jahrhunderts und nach einer anhaltenden Phase theoriegeschichtlicher Paradigmenwechsel sollte doch, so könnte man meinen, Bestimmungsversuchen dieser Art allenfalls mit der ihnen eingeschriebenen historischen Distanz begegnet werden. Was derartige Theoriefiguren jedoch nach 1989 wider Erwarten aktuell erscheinen ließ, ist laut Derrida zum einen auf ihr geradezu ›gespenstisches‹ Nachwirken jenseits des philosophischen Diskurses zurückzuführen: im Aufkommen neuer fremdenfeindlicher, populistischer Bewegungen in ganz Europa. Was für Valéry, Heidegger und Husserl zunächst – vor 1933 – noch eine Krise der Philosophie bzw. der Kultur bedeutete, manifestierte sich am Ende des 20. Jahrhunderts ganz unmittelbar in Hass, Gewalt und Ausgrenzung: und dieser Umschlag vollzog sich hier paradoxerweise wiederum »im Namen der Identität« (Derrida 1992: 10). Vor diesem Hintergrund formuliert Derrida die Frage nach einer europäischen Identität daher neu: »Kennt also Europa ein völlig neues Heute, jenseits aller erschöpften und erschöpfenden Programme des Eurozentrismus und des Anti-Eurozentrismus?« (Ebd.: 14; Herv. i. Orig.) Neben dieser im Zeichen einer exkludierenden Identität stehenden Gewalt auf den Straßen und Plätzen Europas macht Derrida darüber hinaus jedoch auch

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eine verdeckte Kontinuität des essentialistischen Denkens in zu dieser Zeit neu aufkommenden geschichtsphilosophischen Selbstverortungen des Westens aus – selbst oder gerade dann, wenn diese dazu ein »Ende der Geschichte« behaupteten. Derrida bezieht sich dabei auf das im gleichen Jahr wie L’autre cap publizierte und viel diskutierte Buch The End of History and the Last Man (1992) des amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama. Dieser hatte hierin bekanntlich die These vertreten, dass mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks das antagonistische Prinzip als ›Motor‹ der Weltgeschichte ausgefallen sei und mit der ›Durchsetzung‹ des Liberalismus und des westlichen Kapitalismus als global dominierender Gesellschafts- und Wirtschaftsform ›die Geschichte‹ nun gewissermaßen ›an ein Ende‹ gelangt sei. Die Referenz auf Fukuyama weist hier bereits auf Derridas ausführliche Beschäftigung mit dessen Geschichtsphilosophie in seinem Folgebuch Spectres de Marx (1993) voraus. Hierin ersetzt er die dialektischen Figuren der ›Ablösung‹ (der ›Synthese‹ und des ›Endes‹) durch jene der ›Wiederkehr‹ im Sinne einer ›gespenstischen Heimsuchung‹: In dem Augenblick, wo eine neue, weltweite Unordnung ihren Neokapitalismus und ihren Neoliberalismus zu installieren versucht, gelingt es keiner Verneinung, sich aller Gespenster von Marx zu entledigen. Die Hegemonie organisiert immer die Unterdrückung und also die Bestätigung einer Heimsuchung. Die Heimsuchung gehört zur Struktur jeder Hegemonie. (Derrida 2004: 67)

Was für das Erbe des Marxismus und die damit einhergehende Verantwortung gelte, betreffe ebenso jene alten Eurozentrismen und Teleologien, die Derrida wiederum in Fukuyamas geschichtsphilosophischer Argumentation realisiert sieht. Da Fukuyama überdies, wie Derrida in einem Nebensatz bemerkt, nicht nur als Philosoph, sondern zugleich als Berater des Weißen Hauses der BushAdministration auftrat, zielt seine Kritik zugleich auch auf die Institutionen selbst, welche herrschende Diskurse und Ideologien überhaupt erst produzierten (vgl. Lüdemann 2013: 135). In L’autre cap bezieht sich Derridas Kritik und Dekonstruktion jener alten Identitätsphilosophie noch vor allem auf den klassischen Krisen-Diskurs; dessen Argumentationsweisen macht er hier vor allem an Husserls Krisis-Schrift fest: Die [Husserl’sche; R.R.] Teleologie, die bestimmend ist für die Geschichtsanalyse und auch für die Geschichte dieser Krise, dieser Verdeckung des transzendentalen Motivs, die mit und seit Descartes stattgefunden hat, richtet sich an der Idee einer transzendentalen Gemeinschaft aus, an der Subjektivität eines »Wir«, das den Namen Europa trägt und dessen beispielhafte Gestalt Europa sein soll. (Derrida 1992: 28)

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Unter allen kontinentaleuropäischen Strömungen hatte neben Heideggers Existenzphilosophie Husserls Phänomenologie auf die Entwicklung von Derridas Denken den wohl prägendsten Einfluss, insbesondere auf seine frühen philosophischen Schriften. Husserls Philosophie war nicht nur Derridas Dissertation [Le Problème de la genèse dans la philosophie de Husserl (1954)] gewidmet; auch übersetzte er die Beilage III zur Krisis-Schrift und versah sie mit einer umfangreichen Einleitung, die 1963 separat unter dem Titel Edmund Husserl. L’origine de la géometrie erschien; und auch der wichtige Essay La voix et le phénomène (dt.: Die Stimme und das Phänomen), der im selben Jahr wie das ›Hauptwerk‹ De la grammatologie (1967) erschien, wendet sich, wie der Untertitel expliziert, dem Problems des Zeichens in der Philosophie Husserls zu. Umso bemerkenswerter muss es angesichts von Derridas eingehender Husserl-Lektüre erscheinen, wenn er dessen Bestimmung Europas in L’autre cap ohne den ›Umweg‹ der eingehenden Beschäftigung mit seiner Argumentation weitgehend ablehnt und den Prinzipien der Teleologie und Identität mehr oder weniger entschieden das eigene Prinzip der ›Differenz‹ entgegenstellt: Jede »Monogenealogie«, die davon ausgehe, dass Kultur allein einen einzigen Ursprung habe, stelle sich somit »immer als Mystifikation in der Geschichte der Kultur dar«; es sei vielmehr einer »Kultur eigen, daß sie nicht mit sich selber identisch ist«. (Derrida 1992: 12f.) Doch gilt ebenjenes Prinzip der ›Differenz‹ nicht nur für eine gegenwärtige bzw. zukünftige Bestimmung Europas, es betrifft ebenso bereits den historischen Krisen-Diskurs selbst – hatte dieser doch nicht nur die Philosophien Husserls und Heideggers (mit letzterer geht Derrida an anderer Stelle noch deutlich schärfer ins Gericht), sondern ebenso die Position Paul Valérys hervorgebracht. In seinem Essay La crise de l’esprit (dt.: Die Krise des Geistes) hatte dieser 1919 nach dem Zusammenbruch Europas erstmals die ›kulturelle Größe‹ Europas (die Valéry zu diesem Zeitpunkt noch durchaus ernst nahm) mit seiner geographischen Randlage konfrontiert und mit Blick auf die Doppelsemantik des Begriffs und Europas künftiger Stellung die Frage gestellt: Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge [cap] des asiatischen Festlands? Oder aber wird Europa bleiben, was es scheinbar ist: der kostbarste Teil unserer Erde, die Krone unseres Planeten, das Gehirn eines umfänglichen Körpers? (Valéry 1995: 34; vgl. Derrida 1992: 21; Herv. i. Orig.)

In Valérys ambiguer Deutung Europas als ›Kap‹ macht Derrida ein ›Anderes‹ des Krisen-Diskurses der Zwischenkriegszeit aus; nicht nur, weil die Figur mit der Inversion der Perspektive vom Zentrum zur Peripherie der Welt einen Kont-

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rapunkt setzt, sondern auch, weil sie nicht teleologisch verfährt und demgegenüber viel eher auf eine offene, kontingente Zukunft verweist, deren Ausgestaltung sich sowohl zum Guten als auch zum Schlechten hin beeinflussen lasse. An einem ebensolchen Kipppunkt, an dem sich das Pendel der Geschichte sowohl in die eine als auch in die andere Richtung bewegen lasse, sieht Derrida Europa nach 1989 erneut, weshalb er – deutlicher umfänglicher als Valéry dies tat – die semantische Breite der ›Kap‹-Metaphorik auf geradezu virtuose Weise ausschöpft, um deren interne Differenzen herauszuarbeiten: Als ›Kap‹ war Europa demnach einerseits stets der »Kopf eines Kapitels«, eine »Überschrift«; ferner das »Haupt« (des Kontinents, der Nationen und Institutionen); sodann das »Ziel« (telos), die »äußerste Spitze«, der »Phallus«, in seiner stets männlichen Konnotation auch der »Kapitän«, der das Steuerruder in der Hand hält und die Befehle erteilt; aber auch das »Ende aller Dinge« (escaton); schließlich das Zentrum der Macht: die »Kapitale«, das »Kapital« (vgl. Derrida 1992: 15-18). Das Andere dieses hegemonialen europäischen Selbstverständnisses, welches in allen Fällen dem nominalistischen Gebrauch des ›Kaps‹ eingeschrieben ist, macht Derrida demgegenüber in seinem verbalisierten Gebrauch aus. Hier nun bezeichnet es keinen Zustand, keine Identität, sondern es gibt stets eine Bewegungsrichtung an, faire cap: ansteuern, Kurs nehmen; changer de cap: seinen Kurs ändern (vgl. ebd.). Unterwegs-Sein zeitigt somit immer schon eine ›Differenz zu sich selbst‹. Das ›Kap‹ erweist sich für Derrida als geeignete Denkfigur Europas, weil es sowohl die prekäre Spannung zwischen Identität und Differenz als auch das (problematische) »Erbe« des alten Europas nicht einfach negiert, »dekapitalisiert«, sondern es stattdessen präsent hält und es doch gleichwohl immerzu von Neuem unterläuft: Doch mit der Erfahrung des anderen Kaps oder des anderen des Kaps stellt sie [die Frage nach Europa; R.R.] sich auf vollkommen neue Weise, sie stellt sich auf neue Weise neu, nicht wie ›wie immer‹ oder ›wie gewöhnlich‹ neu. Wie, wenn Europa nichts anderes wäre als die Eröffnung, Auftakt einer Geschichte, für die die Kursänderung, der Wechsel des Kaps, der Bezug zum anderen Kap oder zum anderen des Kaps sich als eine fortwährend bestehende Möglichkeit erweist? (Derrida 1992: 17f.; Herv. i. Orig.)

Ein Europa jenseits des Mit-Sich-Identischen: der Ränder, des steten Werdens und der Möglichkeiten. Was zunächst als rein formaldiskursive bzw. figurative Dekonstruktion europäischer Essentialismen, eines teleologischen Denkens sowie eines ›Endes der Geschichte‹ angelegt war, hat man Derrida in den Wissenschaftsdebatten der 1990er Jahre um die sogenannte ›Postmoderne‹ immer wieder als leere philosophische Behauptung jenseits der politischen Gegebenheiten

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ausgelegt (vgl. Ashman/Barringer 2001). Tatsächlich jedoch bleibt die Dekonstruktion Europas in L’autre cap kein reiner Selbstzweck. So überführt Derrida die Figur des ›Kaps‹ zum einen in eine Art Minimalvariante einer interkulturellen Ethik – in Form eines kaleidoskopischen, sich selbst und die Wahrnehmung des Anderen stets vervielfältigenden Blicks: Europa im Sinne eines SichZubewegens auf das, »was nicht es selber, auf das andere Kap oder das Kap des anderen, ja auf das anderes des Kaps – […] ein Jenseits der modernen Tradition, eine andere Struktur des Randes, ein anderes Ufer« (Derrida 1992: 25f.). Auch der bereits von Bjung-Chul Han bemerkte messianische bzw. »kerygmatische« Ton der Derrida’schen Rede trägt dabei zur ambiguen Semantik der ›Kap‹-Figur bei (vgl. Han 2000: 184). Indem diese die von Valéry akzentuierte Aktualität und Prozessualität Europas über die wiederholte und von Derrida im Text hervorgehebene Wendung des »HEUTE« wiederaufnimmt (Kapit. i. Orig.), partizipiert sie einerseits am traditionellen Europa-Diskurs der Moderne, um andererseits wiederum den Essentialismen nach 1989 ein möglichst kontraststarkes Bild einer offenen, veränderbaren Zukunft entgegenzusetzen. 4 Während es also das alte Europa der Teleologen nach Derrida de facto nie gegeben hat, es jedoch dennoch qua Selbstbeschreibung zum unüberwindlichen Erbe europäischer Identitätsbildung geworden ist, sieht er die gegenwärtige europäische Situation als eine, für die sich erneute Essentialisierungen, Extrembildungen – und zwar nach beiden Rändern hin – als besonders gefährlich erweisen: Auf der einen Seite kann sich die kulturelle Identität Europas nicht zersplittern und zerstreuen. […] Sie kann und sie darf sich nicht einer Zerstreuung überantworten, die eine Unzahl nichtiger Provinzen hervorbringt, eine Vielzahl fest verorteter Idiome und eine Reihe kleinlicher Nationalismen, die, von Eifersucht erfüllt, sich nicht ineinander überfüh-

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Auch Valéry selbst war im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen nicht nur von einer Veränderbarkeit der Geschichte ausgegangen, sondern hatte diese Perspektive zumindest auch an einer Stelle seines Essays mit der anderen, dunklen Seite Europas kurzgeschlossen. Derrida zitiert diese Passage wiederum in seiner Schrift De l’esprit: »Valéry wirft also folgende Fragen auf: ›Soll man das Phänomen der Ausbeutung des Erdballs, das Phänomen der technischen Vereinheitlichung und das Phänomen der Demokratisierung, die eine deminutio capitis Europas in Aussicht stellen, als endgültige Entscheidungen des Schicksals hinnehmen? Oder vermögen wir uns die Freiheit zu bewahren, uns gegen die Bedrohung, die von dieser Verschwörung der Umstände ausgeht, zu wehren?‹« (Derrida 1988: 74; Herv. i. Orig.)

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ren, wechselseitig übersetzen lassen. […] Auf der anderen Seite indes kann und darf sie nicht die Kapitale einer vereinheitlichen Autorität hinnehmen, die durch transeuropäische Kulturapparate […] Kontrolle ausübt und Gleichförmigkeit herstellt. (Derrida 1992: 31f.; Herv. i. Orig.)

Weder Monopolisierung noch erneute Zerstreuung oder Zersplitterung. Europa hier im Sinne eines ›anderen Kaps‹ zu denken, bedeutet demnach nicht, das ›Schiff‹ einfach auf einem mittleren Kurs, gewissermaßen zwischen beiden Landmassen hindurch zu steuern, sondern fordert vielmehr, auch diese Pole wiederum auf ihr jeweils anderes hin zu befragen und sie »mit sich [zu] differieren«. (Ebd.: 36) Kehren wir an dieser Stelle zur Ausgangsfrage, der nach paradigmatischen Figurationen Europas am Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts, zurück. Inwiefern kann Derridas Figur des ›Kaps‹ für dieses jüngst vergangene Jahrhundert überhaupt als exemplarisch gelten? Diese Frage wäre wiederum am ehesten in Derrida’scher Differenzierung zu beantworten. Sie ist es und sie ist es nicht. Sie ist es sicherlich nicht im Hinblick auf ihre historische Rekonstruktion, d.h. auf Derridas kenntnisreiche und differenzierte Auseinandersetzung mit dem Krisen-Diskurs der Weimarer Republik. Dagegen scheint sie es zu sein, wenn man demgegenüber auf die Rezeption von L’autre cap seit seinem Erscheinen blickt. Denn während Derridas Position – rückblickend sicherlich zu Unrecht – als rein dekonstruktiv und gar als latent ›unpolitisch‹ angesehen wurde, scheint eine allzu oberflächliche Lektüre, welche ebenjene historische Kritik nicht selten übersah, zu offenkundigen Missverständnissen und Fehlrezeptionen geführt zu haben, der unterstellten Position etwa, dass die bloße Performanz dekonstruktiver Sprechakte bereits zu einer Änderung bestehender Verhältnisse in Europa hätte führen können. Dementgegen ließe sich allerdings Derridas Beobachtung zum KrisenDiskurs der 1920er Jahre ex negativo auch wiederum auf die im Wesentlichen nicht stattgefundene Europa-Diskussion der 1990er Jahre beziehen. Sein Insistieren darauf, das ›Erbe‹ des ›klassischen‹ Diskurses präsent zu halten, zielt dabei nicht ausschließlich auf eine Kritik der hier ausgebildeten essentialistischen Tendenzen, sondern verweist darüber hinaus in seiner Differenzierung eben auch auf die hier bereits geleistete und durchaus zu würdigende philosophische und vor allem ›materiale‹ Reflexionsarbeit. Vergleichbare Bemühungen sind, so scheint es, ›nach 1989‹ zunächst nicht unternommen worden. Dieser ›Lücke‹ gilt daher ein abschließender kurzer Ausblick.

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IV. AUSBLICK: EUROPA NACH DEM ›ENDE DER THEORIE‹? Die hier gezogene figurative Transformationslinie wie auch die mit ihr verfolgte Theorieperspektive mag in ihrem Zuschnitt zugegebenermaßen als vorläufig und skizzenhaft erscheinen. So ließe sich gegen eine figurative Perspektivierung Europas von den Rändern des 20. Jahrhunderts her etwa einwenden, dass sie dessen eigentlichen, auf das Jahr 1945 zu datierenden ›Mittel‹ bzw. ›Nullpunkt‹ gerade ausgespart habe. Dem ist so. Doch zielte die hier vorgenommene Rekonstruktion weder auf eine durchgängige kontinuierliche Betrachtung ›des‹ 20. Jahrhunderts noch auf diskursive Geschlossenheit auf der Ebene ihrer Aussagen. Vielmehr bezogen sich beide Figuren auf die Ebene diskursiver Latenzen und damit auf dominierende intellektuelle Haltungen in diesen beiden Phasen des EuropaDiskurses im 20. Jahrhundert. Husserls Krisis-Schrift und die Figur der ›Krise‹ erschienen deshalb als exemplarisch für Verhandlungen Europas im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit, weil sie nicht nur ein emphatisches Plädoyer auf Europa hielten, sondern überdies einen Ausweg aus der kulturellen Krise aufzeigten, den sie wiederum in der Leistung von Literatur- und Kulturtheorie bzw. -philosophie sahen. An dieser Stelle kann nun gerade der Kontrast der beiden Figurationen und der ihnen korrespondierenden intellektuellen Haltungen wiederum auf eine diagnostische Lücke innerhalb des Europa-Diskurses der 1990er Jahre hinweisen, deren Konsequenzen noch bis die in aktuelle Europa-Diskussion reichen. Dass sich Derridas Figur des ›anderen Kaps‹ für die postkoloniale Theoriebildung nach der Wende, aber auch für die literarischen Entwürfe eines ›Europas im Übergang‹ (man denke etwa an die Poetiken Yōko Tawadas oder Hans Magnus Enzensbergers in/seit dieser Zeit) als hoch anschlussfähig erwiesen hat (vgl. Wetenkamp 2017; Osthues 2017), deutet darauf hin, dass man sich Europa in dieser Zeit vor allem von seiner konzeptuellen bzw. figurativen Seite her zu nähern suchte, was wiederum jedoch auch den Umkehrschluss nahelegt, dass vergleichbar eingehende materiale Analysen zu Europa, seien es nun ›große Erzählungen‹ (vgl. Lyotard 1994: 112) oder essayistische Versuche, hier in nicht ausreichendem Maße formuliert bzw. angestellt worden sind. Wo sie jedoch angestellt wurden, so ließe sich bezogen auf Derridas Fukuyama-Kritik sagen, erfolgten sie meist im Rückgriff auf eine verfehlte und theoretisch nur noch schwer zu rechtfertigende Teleologie und/oder Eurozentrik. Wenn es stimmt, dass zwar nicht die ›Geschichte‹, wohl aber die ›Theorie‹ in den Jahren unmittelbar nach der Wende zu einem zeitweiligen ›Ende‹ kam (vgl. Felsch 2015: 238-240), so verweist dies mit Bezug auf das werdende Europa dieser Zeit sicherlich auch auf einen Man-

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gel an Krisenbewusstsein sowie auf eine in der Rückschau eher schwach ausgebildete Bereitschaft, die sich hier neu formierenden Machtasymmetrien, heterogenen Interessensgruppen, Gefühlskulturen, medialen Dispositive in und um Europa theoretisch zu beschreiben. Aus einer Distanz von nun mittlerweile drei Jahrzehnten heraus wäre diese Entwicklung nun weniger zu bedauern, würden die Effekte dieses Versäumnisses nicht auch gegenwärtig noch spürbar nachwirken. So entbrannten die ›science wars‹ der 1990er Jahre nicht nur zwischen selbsterklärten ›Rationalisten‹ und sogenannten ›Postmodernen‹, sondern ebenso zwischen Vertretern ›alter‹ (marxistischer bzw. ideologiekritischer) neuerer Theoriebildung, ohne dass die hier entstandenen Gräben bis heute gänzlich hätten überwunden werden können. Als Beleg eines solchen gegenseitigen Missverstehens mag man etwa eine von ersterer Seite her partiell wahrnehmbare Reserviertheit gegenüber Perspektivierungen wie der eines ›Europas im Übergang‹ ansehen, insofern derartige ›Narrative‹ de facto bestehende Machtasymmetrien ausblendeten; wohingegen letztere dementgegen eher die Notwendigkeit solcher Reaktualisierungen betonten, um ebenjene gerade auch in ihren Transformationen beobachtbar zu machen. Seit einigen Jahren mehren sich erfreulicherweise jedoch die Bemühungen, derartige Schulstreitigkeiten (Konstruktivismen versus Realismen) endgültig zu überwinden. So gesehen böte die gegenwärtige Krise Europas im Kontext von Finanz- und ›Flüchtlingskrise‹, neu aufkommenden Populismen wie Pegida bis hin zu Abspaltungstendenzen wie dem Brexit in theoretischer Hinsicht durchaus auch Anlass zur Hoffnung auf einen künftigen ›Gemeinsinn‹ der Theorie. Die jüngst zu beobachtenden Ansätze zu einer Theorie und Erzählung Europas im 21. Jahrhundert (vgl. z.B. Brunkhorst 2014; Menasse 2014; Menasse 2015; Olschanski 2015; Offe 2016; Guérot 2017; Krastev 2017; Leggewie 2017; Breyer/Weber 2018; Maci 2018) beziehen in ihren Analysen mehrheitlich auch die jüngere Vergangenheit seit den 1990er Jahren mit ein, so dass man ebenso hoffen dürfte, den auch diesbezüglich noch bestehenden Theorierückstand schrittweise aufzuholen. Die Schlusswendung von Musils Europa-Essay scheint so gesehen nichts von ihrer Aktualität verloren zu haben – noch immer scheint sie das Motto der Stunde für eine ›Arbeit an Europa‹ zu bieten: »eine Zeit, die solche Arbeit nicht geleistet und solche Disziplin nicht erworben hat, wird nie zur Leistung großer Ordnungsaufgaben fähig werden.« (Musil 1978: 1094)

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Transformationen von Grenzverhandlungen Europas Von Georg Philipp Harsdörffers Verkörperungen zu Thomas Manns Figurationen des Übergangs Iulia-Karin Patrut

ABSTRACT Literary texts participate in the deliberation of imaginary and political, inner and outer borders in Europe. Two selected analyses are presented in the article to show that literary texts in different periods of time develop specific aesthetical forms in order to reflect upon European border regimes; they also react to specific forms of conflicts in Europe such as the Thirty Years War (in the case of Georg Phillip Harsdörffer) or World War I (in the case of Thomas Mann, Robert Musil and Joseph Roth). Whereas Harsdörffer developed an aesthetical border regime of a holistic Europe with distinct parts, especially Mann depicts borders as being in transition. Both literary representations of Europe interact with societal transformations in the Early Modern Times or the beginning of the 20th century, retrospectively. Keywords: Transition – Europe – Literature and Borders – Societal and Literary Transformation – Georg Phillip Harsdörffer – Thomas Mann

Grundsätzlich steht Anfang des 20. Jahrhunderts das Modell von Europa als einem Totum cum partibus fest. Europa erscheint als Ganzes – allerdings als eines, dessen Teile ebenso vage definiert sind wie deren Beziehungen untereinander, und dessen Selbstverständnis insgesamt klärungsbedürftig ist. Dass Europa als

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gemeinsamer Resonanz- und Verständigungsraum aufgefasst wurde, bedeutete aber noch nicht, dass seine Außengrenzen sowie die Kriterien für die Definition seiner Teile eindeutig geklärt waren. Ob auf Personen oder Personengruppen bezogene Kriterien (z.B. Sprache, Religion, Ethnie), ob historisch tradierte, geographische und kulturelle Raumeinteilungen (Region, geographisch situierte Kulturgemeinschaft) oder politische Unterscheidungen (Staat/Bundesstaat) die maßgeblichen seien, was also letztlich die eigentlichen ›partes‹ ausmachen sollte, war noch offen – und ist es auch heute noch, wenngleich der politische Staatenzusammenschluss und die wirtschaftliche Union, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive herausbildeten, eine realpolitische Grundlage des gemeinsamen Europa entstehen ließen. Gerade die Uneindeutigkeit des Verhältnisses von Teilen und Ganzem scheint jedoch als Medium für die Entstehung immer neuer Europa-Figurationen zu fungieren. Das heißt: Durch die Vielfalt möglicher Arten der Grenzziehung innerhalb des Kontinents kommt eine enorme Polyvalenz Europas als ›Totum‹ zustande. Dieser semantische und symbolische Reichtum, der aus den miteinander interferierenden, unterschiedlichen Arten möglicher Grenzziehungen innerhalb Europas entsteht, wird zum schier unerschöpflichen Nährboden für genealogische Narrative und für diachrone Identitätskonstruktionen, aber auch zum semantischen ›Baukasten‹ zur Rechtfertigung von Werten und Ideologien. Der erste Teil des Aufsatzes befasst sich mit der Figuration Europas als ›Totum cum partibus‹, und zwar in Form eines Exkurses in die Literatur der Frühen Neuzeit, anhand dessen deutlich wird, inwiefern diese Figuration bereits im 17. Jahrhundert als Idee kursierte. Das Verhältnis Europas zu den anderen Kontinenten ist im Allgemeinen weniger facettenreich und auch semantisch weniger produktiv, weil die Grenzziehungen weitaus eindeutiger sind im Vergleich zu den Binnengrenzziehungen innerhalb des europäischen Kontinents. Die Unterscheidungen zwischen Europa und Afrika, Nord- und Südamerika sowie Australien erscheinen klar und recht eindeutig, wenig erklärungsbedürftig und daher auch weniger ergiebig für die Entstehung bedeutsamer Narrative und Identitätskonstruktionen, die ja im Allgemeinen gerade auf der Möglichkeit der Grenzüberschreitung, auf ambigen Grenzregimes, auf unklaren Kriterien der Grenzziehung beruhen. Die produktive Ausnahme ist das interkontinentale Verhältnis zu Asien. Die Außengrenze Europas im Osten ist die mit Abstand am wenigsten eindeutige. Die Debatte, die in den 2000er Jahren um die ›Osterweiterung Europas‹ geführt wurde, zeugt noch von der Prozessualität dieser Außengrenze und von der Vagheit der Kriterien, die über die Zugehörigkeit entscheiden; neben den ökonomischen Zugangsvereinbarungen, die maßgeblich waren, wurden insbesondere in den öffentlichen Debatten auch Wertvorstellungen sowie kulturelle Genealogien und Traditionen

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als Kriterien herangezogen. Die Vorstellung von einer ›Erweiterung eines Kontinents‹ ist jedenfalls ein Widerspruch in sich selbst. Sie steht außerdem in einem Spannungsverhältnis zur Tatsache, dass der geographische Kontinent Europa, zu dem beispielsweise Serbien, Bosnien und Herzegowina, die Ukraine, Weißrussland, das westliche Russland bis zum Ural-Gebirge und die westliche Türkei bis hin zum Bosporus gehören, keine Mitlieder der Europäischen Union sind. Das unscharfe, aber gerade deshalb produktive Verhältnis von Teilen und Ganzem wird heute gerade in der Semantisierung und Verhandlung dieser Teile des Kontinents manifest. Zu Asien gehören sie eindeutig nicht, zu Europa nur halb. Niemand würde in Abrede stellen, dass Länder wie die Schweiz, Schweden, Dänemark oder Norwegen zu Europa gehören. Die genannten Territorien im Osten und Südosten des Kontinents sind hingegen schon seit Längerem ein kontinentales ›Niemandsland‹. Der zweite Teil des Aufsatzes befasst sich daher mit der Semantisierung dieses Grenzstreifens zwischen Europa und Asien im beginnenden 20. Jahrhundert.

HARSDÖRFFERS JAPETA UND DAS FRÜHNEUZEITLICHE EUROPA KLARER GRENZEN Die Retrospektive auf die frühneuzeitliche Phase literarischer Grenzverhandlungen ›Europas‹ erfüllt die Funktion, aufzuzeigen, dass die Konstellation, in der Europa als ›Ganzes‹ ein optimales Gleichgewicht zwischen ›Teilen‹ ermöglicht, keineswegs erst in Zeiten des politischen Staatenzusammenschlusses aufkam. Im Gegenteil entstand diese Figuration als eine literarische Fiktion, die bewusst quer stand zu den realpolitischen Verhältnissen der Zeit. Literarische Imaginationen Europas als Wertegemeinschaft und als ›Gleichgewicht der Kräfte‹ sind also einem Staatenbund mit entsprechendem Selbstverständnis nicht nachgelagert, im Gegenteil: Poetische Verhandlungen der Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Bundes entstehen bereits 300 Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg. Während des Dreißigjährigen Krieges wurden literarische Werke verfasst, in denen ›Europa‹ allegorisch oder auch metaphorisch, personifiziert im Rahmen von Familienkonstellationen oder räumlich versinnbildlicht dargestellt wird. Ein Überblick dieser Darstellungen bietet die jüngst erschienene Monographie von Nicolas Detering, Krise und Kontinent (2017), die eindrucksvoll nachweist, dass Verhandlungen Europas in ganz unterschiedlichen Öffentlichkeiten und Medien stattfanden: von Flugblättern über Zeitungen und Zeitschriften sowie Kalenderblättern bis hin zu literarischen Texten aller drei Großgattungen. Zu den eindrucksvollen Beispielen zählt ein Drama, das 1643 sowohl in Frankreich als auch in Deutsch-

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land erschien, in zwei Ländern also, die im Dreißigjährigen Krieg Konfliktparteien waren. In Frankreich, wo es von Jean Desmarets de Saint-Sorlin verfasst und in Paris als Comédie Héroïque veröffentlicht wurde, trug es den Titel Europe, und auf dem Gebiet Deutschlands, wo Georg Philipp Harsdörffer eine deutsche, leicht umgedichtete Fassung in Frankfurt 1 veröffentlichte, Japeta. Der geänderte Titel sollte vom politischen Charakter des Dramas ablenken und helfen, die Zensur zu umgehen, indem er den christlichen Kontext der drei Söhne Noahs – Sem, Ham und Japeth – evozierte. Ein falscher Schlüssel trug zur Verschleierung des politischen Charakters des Stücks bei, denn die Figuren werden als (vermeintliche) Personifizierungen der Tugenden ausgewiesen, was jedoch bei eingehender Textlektüre kaum kohärente Aufschlüsse der Sinn- und Handlungszusammenhänge bietet. Während bei Desmarets offengelegt wird, dass die Figuren Staaten personifizieren, bleibt dieser Schlüssel bei Harsdörffer nicht nur ungenannt, er wird auch durch einen anderen cachiert. 2 Der Fünfakter läuft – wenig überraschend für ein Drama, das unter Einbeziehung des Cardinals de Richelieu entstand – darauf hinaus, dass die Dynastie der Bourbonen eine ausgewogene, ausgeglichene Ordnung Europas herstellen könnte, nicht aber das Haus Habsburg und die Allianz zwischen Spanien und dem Haus Österreich. Es ist ein Leichtes, dem Stück Europe Parteilichkeit vorzuwerfen. Die rezeptionsästhetischen Vorzeichen ändern sich jedoch – und mit ihnen auch die Frage nach der Befangenheit –, wenn Harsdörffer die deutsche Fassung im gleichen Jahr veröffentlicht und offenkundig darauf setzt, dass die bevorstehende Frankfurter Messe zur Verbreitung der im Drama enthaltenen Szenarien beitragen würde, und dass dies auch die Teilnehmer des Reichsdeputationstags beeinflussen könnte. Letztere tagten ebenfalls in Frankfurt und besprachen auch die Modalitäten der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden. 3 Das Besondere an dieser Schrift, die für den Verfasser, wäre er erkannt und der falsche Schlüssel enttarnt worden, nicht ungefährlich gewesen wäre, besteht darin, dass Deutschland erstens in eine unbedeutende, geradezu unrühmliche Nebenrolle gedrängt wird; als Vasall eines gefährlichen Despoten, der sich die

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Der Erscheinungsort wurde von Harsdörffer nicht angegeben, vielmehr enthielt das Buch einen irreführenden Verweis auf Holstein als Erscheinungsort; auf Harsdörffer als Verfasser wird an keiner Stelle verwiesen. Die Zuordnung erfolgte erst im 20. Jahrhundert ausgehend von einem Brief Harsdörffers.

2

Vgl. Detering 2017: 265-288; Hinweise zur Forschung zu Desmarets’ Europe finden

3

Vgl. Detering 2017: 274 (für weiterführende Quellen und Forschungsarbeiten insb.

sich in Fn. 129 (265-266). Fn. 161).

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Weltherrschaft anmaßt, steht Deutschland in der Gefahr, Handlanger einer ›falschen‹ europäischen Ordnung zu werden. Außerdem rückt es Frankreich – durchaus kein Alliierter Deutschlands – in eine überaus positive, selbstlose Rolle als Retter und Beschützer des ›guten Europas‹, während das Haus Habsburg und Spanien als Usurpatoren auftreten: Sie wollen Europa unterwerfen und streben nichts Geringeres als die Weltherrschaft an. Dieser Gedanke ist alles andere als eine frühe Verschwörungstheorie. Spanien war vielmehr als Kolonialmacht auf dem Weg, nicht allein Lateinamerika, sondern auch Teile Afrikas zu unterwerfen und ökonomisch auszubeuten, was im Drama als illegitimes Handeln, ja als ›Schändung‹ gebrandmarkt wird. Durch Übersetzung und Veröffentlichung in einem anderen Land und in einem in vielerlei Hinsicht – trotz der Reformationskriege – gegenläufigen politischen Kontext ändert sich die poetische Valenz des Dramas. Es wird zu einem widerständigen Text insofern, als es implizit dazu aufruft, von den aktuellen politischen Allianzen und von den eigenen ökonomischen und politischen Machtvorteilen abzusehen und diejenigen zu unterstützen, die für ein Europa der ausgewogenen Interessen kämpfen. Zumindest im Drama ist Frankreich die einzige Großmacht, die am Ende siegreich für eine ausgeglichene europäische Ordnung kämpft, für einen Bund, dessen Mitglieder gleiches Gewicht und gleiche Rechte besitzen. Da die Staaten und Freien Städte personifiziert werden, kommt die Metapher gleichwertiger Geschwister zum Einsatz. Das Drama läuft auf zwei zentrale Aussagen hinaus: Erstens spricht es sich für ein Europa der ausgeglichenen politischen Interessen aus, für einen Bund unter Gleichwertigen, und zweitens für eine andauernde Friedensordnung. Diese beiden Richtungen des Dramas muten recht aktuell an; auf die literarischen Verfahren trifft freilich das Gegenteil zu. Europa, gleichsam die personifizierte Emanation des vollzogenen Friedensbundes unter Gleichen, wirkt als Zielvorstellung für die zu erreichende Zukunft und als Korrektiv bezogen auf den von Intrigen, Verrat und Machtspielen geprägten politischen Alltag des Dreißigjährigen Kriegs. Der Kontinent wird als Königin personifiziert, die über die Edelleute als Herrscherinnen bzw. Herrscher der einzelnen Länder und Stadtstaaten herrscht. Der Versuch eines einzelnen Landes – in diesem Falle Spaniens –, Europa zu ehelichen und damit symbolisch zu unterwerfen, wird als illegitimer Übergriff abgelehnt, indem er mit den Bildern des ›Muttermordes‹ oder der sexuellen Schändung der Mutter überblendet wird: »Die Blutschand/die du denckst/verdient der Hellen Pfulen«. (Harsdörffer 1643: 16) Die herrschenden Edelleute, die ›Kinder‹ Europas, sind sowohl männlich als auch weiblich. Es lässt sich nur insofern eine Asymmetrie zwischen den Geschlechtern auf dieser Ebene feststellen, als die beiden wichtigsten Kontrahenten, Spanien und Frankreich – bei Harsdörffer Iberich und Liliwerth – männlich

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sind und diesen eine etwas größere Handlungsmacht eignet als weiblichen Staatspersonifikationen, etwa der Italmund (Italien). Italmund, die sich in einem Gespräch mit der Königin Europa als überaus vernünftig erweist, ist eine ebenso überzeugte Unterstützerin des Friedensbundes unter Gleichwertigen wie Liliwerth – bloß verfügt sie nicht über die Mittel, dafür zu kämpfen, sondern muss letztlich selbst von Frankreich beschützt werden, um nicht ebenfalls von Iberich ›geschändet‹ zu werden. Die geschlechterasymmetrisch codierte Metaphorik sexueller Übergriffe führt in den Handlungsverlauf dann doch eine Polarisierung ein, die zur Fixierung der Asymmetrie führt: mit seinem exzessiv ausgeprägten sexuellen Appetit droht Iberich selbst Europa, die jungfräuliche Mutter, in Besitz zu nehmen; würde Europa ihre Jungfräulichkeit aufgeben, verlöre sie in der Textlogik nicht nur ihre Vormachtstellung, sondern auch das Privileg, Neutralität und Ausgleich zu verkörpern. Im Gegensatz dazu geht eine sexuelle Verbindung für die als männlich personifizierten Staaten mit der Möglichkeit des Aufstiegs einher. Genau diese Möglichkeit wird im Drama als Missbrauch verworfen: »Wie solt ich lieben den der meine Schwester schänd«, (Harsdörffer 1643: 17) fragt Japeta (Europa) und meint den lateinamerikanischen Kontinent, den die Kolonialmacht Spanien zum großen Teil in Besitz genommen hatte. Es ist die Art und Weise, zu wirtschaften, die dabei als ›Schändung‹ angeprangert wird. Hierbei handelt es sich durchaus um eine frühe Form der Kolonialismuskritik. Die spanische Aneignung der Reichtümer und Bodenschätze Lateinamerikas wird als illegitim dargestellt. Im Drama sind die schlechten Charaktereigenschaften sowie das Ungleichgewicht zwischen den Sinnen Iberichs Ursache der Ausbeutung Lateinamerikas. Iberich und Spanien sind wiederum wie alle Figuren, Länder und Kontinente allegorisch zu deuten; sie stehen für bestimmte Bündel von Eigenschaften, für Arten politischen Handelns, für unterschiedliche Interessen sowie für die Art, mit ihnen umzugehen. Spanien war in Harsdörffers Zeit die europäische Großmacht mit den größten kolonialen Eroberungsambitionen und -erfolgen. Umso bemerkenswerter ist es, dass die Darstellung der ÜberseeKolonien keineswegs von Neid und Missgunst zeugen, sondern von einer reflektierten Ablehnung. Diese erfolgt als Grenzverhandlung Europas. Die Grenzen zwischen den Kontinenten werden allegorisch durch Personen figuriert, deren Haut gleichsam eine unüberwindliche, natürliche Außengrenze darstellt. Zudem wählt Harsdörffer eine Familienanalogie, die unter den Kontinenten Gleichwertigkeit herstellt: Die Schwestern unterscheiden sich lediglich dadurch, dass einigen von ihnen Gewalt angetan wurde, ihr Status ist aber gleich. Europa wiederum als Kontinent erhält und wahrt seinen Status durch das Verhältnis zu anderen Kontinenten. Die vorherrschende Relation ist nicht die der

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Identität, sondern der Ähnlichkeit. Dies gewährleistet es, dass die Kontinente grundsätzlich statusgleich und dennoch hierarchisch gewertet werden. Lateinamerika entbehrt in der Darstellung Harsdörffers der internen Grenzziehungen – im Gegensatz zu Europa, wo genau diese Anlass zu Konflikten und Verhandlungen geben. Interessanterweise sind genau diese Grenzverhandlungen für Europa identitätsstiftend. Die Verständigung über das Grenzregime macht Europa aus. Wenn Iberich als Allegorie der europäischen Großmacht Spaniens erklärt: »[ich möchte] behalten nur für mich die neue Wunderwelt/ da Goldberg innen sind und Silberbäche fliessen/ die mich mit Macht und Pracht so reichlich übergiessen« (Harsdörffer 1643: 5), dann greift er nicht nur allein in die Architektur der Kontinente ein, indem er sich aus niedrigen Motiven fremden Reichtum aneignen möchte, sondern er transportiert auch ein bestimmtes Bild Europas nach Lateinamerika. Auch diesen Effekt registriert der Text sorgfältig, wenn Europa spricht: Ich bleibe wer ich bin/ mein Stand vergnüget mich/ dem Geitz und Ehrensucht hierunter trüget dich. dein fallender Gewalt macht deine Hoffnung sincken/ du magst in jener Welt den stummen Wilden wincken. Dort hersche wie du willst/ die unbekleiden Leut/ entfliehen deinem Grimm; und lassen dir zur Beut/ was deinen Sinnen liebt. (Harsdörffer 1643: 9)

Europa erklärt hier dem um sie werbenden Iberich, sie beabsichtige nicht, ihre Unabhängigkeit aufzugeben, die ihr Vergnügen bereite; Iberich, ein Opfer seiner eigenen Selbstsucht, täusche sich selbst, wenn er sich siegessicher wähnte, zumal er gerade militärische Verluste in Kauf nehmen müsse – allenfalls gegenüber den Kolonisierten in Lateinamerika könne er noch seinen Machtvorsprung geltend machen. Diese könne er vielleicht, so Europa weiter ironisch, mit falschen Winken und Versprechungen vorübergehend täuschen, auf dem europäischen Kontinent würde er allerdings kaum Freiwillige finden, die offen und anerkennend mit ihm interagieren würden. Die ›Wilden‹ verfügen in der Rede Europas zunächst nicht über die notwendigen sozialen Differenzierungs- und Artikulationsformen (Stände, Kleidung, Sprache, Religion), um mit Iberich zu interagieren. Die Herrschaft über Lateinamerika ist gegenüber der Beherrschung Europas, die mit ganz anderen Anerkennungs-Verhältnissen einhergehen würde, damit minderwertig. Doch hier folgt nun eine überraschende Wendung: Selbst diese ›Wilden‹ verweigern sich der Interaktion mit dem winkenden Iberich. Sie wenden sich von

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ihm ab, fliehen und unterbrechen damit die Kommunikation. Kein Austausch, kein Geben und Nehmen bestimmt das Verhältnis Iberichs zu Lateinamerika, sondern eine bewusste Zurückweisung erfolgt vonseiten der vermeintlichen ›Wilden‹, die augenscheinlich nur notgedrungen ihre Schätze demjenigen überlassen, der von seinen Sinnen getäuscht und beherrscht wird. Dies bedeutet: Der verblendete Iberich ist kein legitimer Vertreter Europas, und die vermeintlichen ›Wilden‹, die Nichten und Neffen Europas, kommunizieren dem aus der Art geschlagenen Sohn ihre Ablehnung, obwohl sie ›stumm‹ sind und nicht über die europäischen Kommunikations- und Verhandlungsformen verfügen. In der Rede Europas agieren die Kolonisierten jedenfalls so, als teilten sie das Urteil über die spanischen Kolonisierer: »Wie solt ich lieben den der meine Schwester schänd.« (Harsdörffer 1643: 9) Als ein Teil Europas sollte Spanien in Lateinamerika – bei der ›Schwester‹ Europas – Werte und Normen vertreten, die der oben beschriebenen ›guten Ordnung‹ entsprechen; dagegen verstößt es aber in anmaßender Weise und erweist sich als schlechter ›Botschafter‹ und dessen Art, ›Botschafter‹ Europas, der Schwester Lateinamerikas, zu sein, wird hier verworfen; die ›Grenzverletzung‹, der Übergriff auf die Integrität und Würde des Kontinents mit deutlichen Worten zurückgewiesen. Die Bilder des sexuellen Übergriff und des Inzests, die dafür gewählt werden, markieren im doppelten Sinne Überschreitungen verbotener Grenzen. Bereits geschehen ist, so der Vorwurf, die Vergewaltigung der Tante (der Schwester Europas), und nun richten sich die Begierden Iberichs auf die eigene Mutter, die dies im Text als »Blutschand« brandmarkt (Harsdörffer 1643: 16). Gemeint ist der Wunsch eines einzigen Staates, also Spaniens, nach Dominanz und in letzter Konsequenz Alleinherrschaft über Europa. Dies würde bedeuten, dass der Status und die Qualität der Grenzen zwischen den europäischen Staaten modifiziert würden. Sie trennten nicht mehr Gleichwertige, die sich im Einvernehmen zu einem größeren Ganzen fügen, sondern Rivalen, die mit roher Gewalt danach trachten, die anderen zu beherrschen. Wenn das zweitgenannte Grenzregime herrscht, so die Textlogik, hört Europa auf zu existieren. Die Figur Japeta denkt an Flucht, als Iberich dem Sieg nahe scheint; die ›Heirat‹ – also das In-Eins-Gehen – mit Iberich käme, das spricht Europa deutlich aus, einer SelbstAuslöschung gleich, denn schon allein das Ansinnen, die ›Mutter‹ Europa zu ehelichen, zeugt davon, dass Spanien das rechte Maß verloren hat. Die Sinnes-Täuschung Iberichs ist eine, die insbesondere durch seinen Sehsinn hervorgerufen wird. Verblendet von allem, was glänzt – dem Gold Lateinamerikas, dem Glanz der Sonne, die in seinem Reich niemals untergeht, nicht zuletzt von dem Glanz Europas, der ebenfalls die niederen Begierden Iberichs

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weckt – ist Spanien vom Weg der Mäßigung abgekommen. Die Bereitschaft, die intergenerationelle Grenze zu überschreiten, bringt dies auf den Punkt. Japeta/Europa entlarvt diese Bereitschaft zur megalomanen Grenzüberschreitung als Verblendung: Ist nichts so groß / als du? Was uberstolze Reden! Wie kann der Ubermut dich Blinden so entblöden? (Harsdörffer 1643: 19)

Mit der Formulierung von dem ›Blinden‹ greift sie die Reihe optischer Bilder auf, die die Unausgewogenheit, geradezu die Krankheit Iberichs zum Ausdruck bringen. Die Übergriffe, Symptom eines Ungleichgewichts der Sinne, verweisen auf eine Schwäche im Bereich der Erkenntnis, die einseitig – eben ›geblendet‹ – ist: der Sehsinn Spaniens wird hypertroph und verdrängt die weiteren Sinneseindrücke. Das Ungleichgewicht der Sinne korreliert wiederum mit einem Ungleichgewicht, in das die Hierarchie der politischen Ebenen gerät, indem ein untergeordneter Teil, ein pars, über das Totum herrschen will. Diese Kritik an der Kolonialpolitik Spaniens war für Harsdörffer durchaus gefährlich, stand doch Deutschland im Bund mit den Habsburgern und tagte doch gerade der Ständetag in Frankfurt, wo der ›Spielende‹, so der Name des Schriftstellers in der Fruchtbringenden Gesellschaft, seine Neudichtung des französischen Dramas anlässlich der Buchmesse veröffentlichte, ohne es jedoch in den offiziellen Katalogen anzumelden (vgl. Detering 274) und ohne seinen Namen zu nennen. Insgesamt präsentiert sich Harsdörffers Europa somit als hierarchisches Konstrukt, dessen Ebenen, Außen- und Binnengrenzen klar und stabil sind. Drei Ebenen sind erkennbar: Europa bildet auf der höchsten Ebene das Totum, das nur unter einer Bedingung existiert: dass eine Ebene ›tiefer‹ das Grenzregime eingehalten wird. Dessen Grundprinzip ist denkbar einfach: klare Grenzen trennen gleichwertige Verwandte auf ein und derselben Hierarchieebene; angesichts des Friedens unter ihnen formiert sich Europa als übergeordnetes Ganzes von Staaten – als Ursache und Folge konfliktloser wechselseitiger Anerkennung unter Gleichen. Die Untertanen dieser Staaten – die dritte Hierarchieebene – tritt, repräsentiert durch das Landvolk, das entweder als Bauern eingesetzt oder als Soldaten für eine grundsätzlich falsche Sache missbraucht wird, in Erscheinung. Dazwischen wird nur noch die Entourage der Fürsten angedeutet. Das Gleichgewicht der Kräfte und das stabile Grenzregime erscheint als ›heile Ordnung‹, deren Störung Unheil bringt. Der Versuch eines der Teile des Kontinents, ganz Europa in Besitz zu nehmen, scheitert; Spanien kommt nicht zu diesem Ziel, weil Europa und seine Verbündete Widerstand leisten und denjenigen, der die Ordnung gefährdet, in die

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Schranken weisen. Europa etabliert sich als weibliches, alleinstehendes Familienoberhaupt, dem es gelingt, die Friedensordnung zu stiften. Über die in Ausicht stehende Aussöhnung von Iberich und Liliwerth sagt Europa am Ende des fünften Aktes: »Weil beide sind vereint/so hab ich was ich wil.//den Frieden den Ich sucht/als mein erwünschtes Ziel.« (Harsdörffer 1643: 76) Auch ermahnt Europa, alias Japeta, ihre ›Kinder‹ dazu, allgemein »Kriegsbeschwerden« zu meiden, »[w]ann ihr nicht gantz verwildt/wolt Mutter-Mörder werden«. (Ebd.: 76) Neben Iberichs Griff nach der Weltmacht – einer vertikalen Störung innerhalb der Hierarchieebenen – wird ein weiteres Beispiel eines gestörten Grenzregimes vorgeführt, diesmal auf gleicher Ebene. Auch diesmal ist Iberich die Quelle des Übels, und auch hier wird der Übergriff letztlich ›geheilt‹. Lothringen, die sich durch Iberich zweimal hat verführen lassen, wird verziehen und ihr auf Gleichheit basierendes Eheverhältnis zu Frankreich wird wiederhergestellt. Auffällig ist im Hinblick auf die literarischen Verhandlungen von Grenzziehungen und Grenzüberschreitung zweierlei: Erstens werden die Grenzen für sich genommen als eindeutig dargestellt, zweitens wird der als solcher ausgewiesene ›illegitime Übergriff‹ dafür genutzt, Veruneindeutigungen des Grenzregimes als Problem vorzuführen und letztlich zu korrigieren. Die Personen (die Staaten verkörpern) handeln nur dann richtig, wenn sie die Integrität ihrer Leiber schützen und niemanden zu nahe an ihre Haut herankommen lassen. Die Zeichenoperation der Grenzziehung wird bei Harsdörffer über die Dramaturgie politischer Körper hergestellt; die Einheitsmetaphorik mehrerer ›unversehrter‹ politischer Verkörperungen der Nation ermöglicht die Vorstellung Europas, das aus der friedlichen und unhierarchischen Interaktion zwischen den Verkörperungen entsteht. Europa als Figur ist deren Emanation und zugleich eine eigene, selbständige Verkörperung; die Frau ›Europa‹ kann nur zugegen sein, wenn die gute Ordnung eingehalten wird. Ein gutes Beispiel für die große Bedeutung der Metaphorik eindeutiger und klarer Grenzen ist der Fall Austerwigs (Lothringens); diese ist eigentlich Liliwerth (Frankreich) ehelich anvertraut, lässt sich aber gleich zweimal durch Iberich (Spanien) blenden und verführen und trägt schließlich dessen Porträt in ihrem Busen versteckt: »Beschencke mich jetzund mit diesem Büchselein// das du gestecket hast/bey deinen Brüsten ein« (Harsdörffer 1643: 44), fordert Liliwerth, und die Entgegnung Austerwigs, »Ach/köntest du dein Bild in meinem Hertzen sehen« (ebd.: 45) sowie ihr Hinweis darauf, dass es sich bei dem Porträt lediglich um ein »Gemähl« (ebd.: 45), um einen zweiten Aufguss der Realität ohne Wahrheitswert handle, entfaltet keine Überzeugungskraft: »Es bildet auf der Brust/diß Bild/deß Hertzens Fehl« (ebd.: 45), entgegnet Liliwerth. Der naheliegende Verweisungscharakter des Porträts auf die reale Person Iberichs wird auf-

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gehoben, denn die Indizierung der Person könnte in der Tat mit unterschiedlichen Situationen, Absichten und Kontexten zusammenhängen. Stattdessen verzichtet Liliwerth auf die mimetische Funktion des Porträts und deutet es anders, nämlich als Index für das irregeführte Herz Austerwigs. Diese hat ihre körperliche ›Grenzsicherung‹ Iberich gegenüber fallen lassen. Diese Episode in der Handlungsführung des Dramas koinzidiert mit dem realen Kriegsgeschehen im Dreißigjährigen Krieg, als sich Lothringen tatsächlich zeitweise mit Spanien verbündete und gegen Frankreich agierte. Indizien an der Grenze, hier allegorisch das im Busen verborgene Portrait, weisen also auf einen ›Fehltritt‹ hin, der sich als verbotenes Passieren einer eigentlich gut erkennbaren Schranke äußert. Im Spiel von Schein und Sein tritt, so die Textlogik, die Wahrheit unweigerlich ans Licht – und zwar indem der Schein – die Kunst – die Wahrheit zeigt. Liliwerth, Vertreter der Redlichkeit, deutet sie richtig, kann Austerwig zur Rede stellen, ihr die Chance zur Besserung geben und die gute Ordnung restituieren. Das deutsche Drama Harsdörffers und das französische Desmarests treffen sich darin, dass sie den Habsburgisch-Spanisch-Deutschen Griff nach der Herrschaft über Europa und die Welt ablehnen zugunsten eines multilateralen Staatenbundes auf dem europäischen Kontinent, in dem jeder Teil – also jeder Staat – vertikal im selben Verhältnis zu Europa als einem Friedensbund steht, und horizontal im gleichen Verhältnis zueinander als gleichrangige Partner und nahe Verwandte. Frankreich und die Bourbonen, die damaligen Feinde des ›Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation‹, stehen im Stück für diese Unterordnung unter Europa ein: Sie erkennen die eigene Begrenztheit und die Gleichrangigkeit selbst mit kleinsten Stadtstaaten wie Mailand oder Neapel, mit Lothringen an; Frankreich fordert aber gemeinsam mit der übergeordneten Figur Europa Spanien dazu auf, sich ebenfalls zu diesem Gleichrangigkeitsverhältnis zu bekennen und den Krieg sowie alle darüber hinaus gehenden Forderungen einzustellen. Von Belang ist dieses Beispiel im hiesigen Zusammenhang insofern, als es deutlich macht, dass selbst in einer Zeit, in der ein allgemeiner Staatenbund in Europa in weiter Ferne lag, in einer Zeit, in der Allianzen innerhalb Europas nur geschmiedet wurden, um Macht gegen (ebenfalls europäische) ›Feinde‹ zu akkumulieren, die Vision eines auf Gleichberechtigung basierenden und auf Frieden zielenden Bundes bereits Gestalt angenommen hatte. Während des Dreißigjährigen Krieges, als die Gewalt allgegenwärtig war, lebte die Idee Europas als Friedensfiguration auf.

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THOMAS MANNS KOSMOPOLITISMUS UND EUROPÄISCHE GRENZVERHANDLUNGEN ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS Anfang des 20. Jahrhunderts vervielfältigen sich die Imaginationen Europas: Sie werden konkreter und zugleich kontroverser; der abstrakte, zuweilen noch allegorische Charakter, der Darstellungen des Kontinents seit der Frühen Neuzeit geprägt hatte, weicht klar ausgestalteten Konzepten von Politik und Kultur. Das frühneuzeitliche Bildarsenal der Verkörperungen hat in der Moderne des 20. Jahrhunderts seine erklärende Kraft eingebüßt. Der politische Körper wurde im Zuge revolutionärer Bewegungen sukzessive dezentriert und enthierarchisiert, und die Etikette und Regelhaftigkeit ›höfischer Kommunikation‹ ist inadäquat geworden. Frieden innerhalb eines Europäischen Staatenbundes kann sie jedenfalls nicht herstellen, und es ist fraglich, welche Art der Kommunikation angesichts der Pluralisierung von Weltbezügen, Handlungsspielräumen und gesellschaftlichen Funktionsbereichen dies überhaupt gewährleisten kann. Inwiefern sich die Kontinente zur Welt als Teile zum Ganzen verhalten, stand Anfang des 20. Jahrhunderts im Falle Nord- und Südamerikas, Afrikas, Australiens und Asiens weitgehend außer Frage; Europa im transkontinentalen Feld neu zu denken, gehört wohl zu den Aufgaben des 21. Jahrhunderts. Die Frage, wie Binnengrenzziehung innerhalb Europas gedacht und gewertet werden konnten, zählte dagegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den großen Herausforderungen der Zeit. Thomas Manns Essays reagieren auf diese Veränderungen, indem sie von Europa unter Absehung von dem persona-Konzept und Versuchen der Identifikation handeln. Stattdessen entwerfen sie lose Konfigurationen des Übergänglichen. Dies geschieht, indem Mann Literatur in interkulturellen Szenarien denkt (Biebuyick 2016), durchaus suchende Denkbewegungen vollzieht (Bischoff 1995); Thomas Mann hat, wie die Forschung in den letzten Jahren erarbeitet hat, durchaus Lehren aus dem Ersten Weltkrieg gezogen (Günther 2009); er erkannte auch, dass das ›Deutsche‹ nach dem Ende des ›alten Europa‹ neu gedacht werden musste (Gut 2008). Im Folgenden wird es vor diesem Hintergrund um seine Europa-Vorstellungen als Figurationen des Übergängigen gehen. Thomas Mann verfasste 1925 einen bemerkenswerten Essay als Antwort auf eine Umfrage in der Zeitschrift Die Literarische Welt, im Rahmen derer er sich dazu äußern sollte, was er »dem deutschen Geist« verdanke, und was »der kosmopolitischen Idee«. (Kurzke/Stachorsky 1993: 395) Darin zitiert Thomas Mann aus dem Artikel Neue erzählende Prosa des Essayisten Jonas Lesser (bei Mann Leszer geschrieben), dem Czernowitzer Altphilologen und Germanist, der später

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selbst zum Mann-Interpreten werden sollte. In dem Artikel, den Lesser in der Juli-Ausgabe von Wissen und Leben. Neue Schweizer Rundschau (redaktionell geleitet von Max Rychner) veröffentlicht hatte. (Ebd.: 396) Der insgesamt zustimmende, stellenweise identifikatorische Bezug auf Lesser steht im Mittelpunkt des Thomas Mann’schen Essays. Lessers Thema ist dabei die »Europäisierung der deutschen Prosa« (Mann 1993: 262). Diese sei, so referiert Thomas Mann den damals von Wien aus schreibenden Publizisten, zuerst durch Friedrich Nietzsche angemahnt worden. Friedrich Nietzsche habe die Befangenheit der »mehr seelischen Deutschen von gestern« erkannt und einen Transformationsprozess eingeleitet (ebd.: 263). Wie Thomas Mann an einer früheren Stelle im Essay polemisch formuliert, sei von den »Herrn Volksdeutschen« der deutschen Kultur und Kunst ein ganz und gar unkünstlerischer Stil oktroyiert worden (ebd.: 262), etwa dem Ansinnen, »unsere nationalen Grenzen nach allen vier Windrichtungen hermetisch« zu sperren oder sich »unter der Wotanseiche unter wilden Verwünschungen zu dem Schwure, weder im Urtext noch auf deutsch eine Silbe europäischer Literatur noch zu lesen« zu vereinen (ebd.: 262). Unter dieses Verdikt würde dann auch Harsdörffers Japeta fallen. Thomas Mann wendet sich mit dem deutsch-jüdischen Publizisten Lesser und mit Nietzsche gegen das, was er als »Ideal ethnischer Verdummung« bezeichnet (ebd.: 262) – gegen eine künstliche Beschränkung des Denkens (ausgehend von dem Postulat, sich selbst ethnisch zu definieren und nach außen zu schließen), und auch gegen die Etablierung eines sentimentalen Tons in der Kunst, der das Schwelgen im Volks- und Sprach-Kollektiv zelebriert. Es gebe bereits eine ›europäische‹ Literatur in deutscher Sprache, hält Mann weiter dagegen, und diese sei die eigentlich wertvolle – nicht jene, die sich sebst (vermeintlich) ethnische, nationale Muster in Ton, Inhalt und Form auferlegt. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass eine hermetische Begrenzung von Staaten oder ›Völkern‹ – im Gegensatz zur Grenz-Architektur Harsdörffers – nicht als conditio sine qua non für die Existenz Europas aufgefasst werden kann, sondern im Gegenteil, als blindwütiger Versuch, Europa zu zerstören bzw. zu verunmöglichen. Eine ähnliche Rolle wie jene, die bei Harsdörffer Iberich innehat, kommt bei Thomas Mann ethnisch-national gesinnten Literaten zu. Auch Letztere sind verblendet – denn sie schwelgen in »Wunschträumen« ihres »nebelhaften Gemüts« (ebd.: 262) – aber die Selbsttäuschung und der Irrtum, von dem sie betroffen sind, hängt gerade nicht mit Grenzüberschreitung zusammen, sondern mit der phantasmatischen Überbewertung von Grenzziehungen. Diesen wird ein identitätsstiftender und vor allem die Kunst regulierender Charakter zugeschrieben, den sie nicht nur de facto nicht einlösen, er wäre, wenn er denn be-

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stände, im Gegenteil trivialisierend, anti-intellektuell und letztlich gerade antikünstlerisch. War bei Harsdörffer die Entfaltung der jeweiligen Anlagen und Eigenarten an die Bedingung unangefochtener Grenzziehungen geknüpft, entwirft Thomas Mann ein Europa offener Grenzverhandlungen. ›Transformation‹, ›Übersetzung‹ und ›Übergang‹ werden zu zentralen Konzepten, die europäische – auch und gerade deutschsprachige Kunst – ausmachen. Um sich für das so aufgefasste Europa stark zu machen, hebt Thomas Mann einige Nuancen aus Lessers Aufsatz hervor, die er zum eigentlichen Kernstück seiner Argumentation macht. Lesser argumentiert in seinem Aufsatz, Nietzsche sei es darum gegangen, »den mehr seelischen Deutschen von gestern in einen immer mehr geistigen zu wandeln« (ebd.: 263). Der Verzicht auf Reflexion, Formung, Abstraktion und Individualität – so die unausgesprochene Annahme – sei von gewissen Schriftstellern als Verzicht auf ›Europäertum‹ intendiert, allerdings sei letztlich missratene, unterkomplexe, ›deutschtümelnde‹ Kunst das Ergebnis dieser Ideologie. Besonders interessant ist, dass die Binnenunterscheidung zwischen jenen Deutschen, die sich als ›Europäer‹ auffassen, und jenen, die dem Konzept identitäts- und kunststiftender Grenzen anhängen, ihrerseits bei Thomas Mann durchlässig wird. Die in die Zukunft gerichtete Vision, die Thomas Mann mit Lesser und Nietzsche entwirft, zielt auf nichts Geringeres als auf eine Transformation der ›Deutschen‹ dahingehend, dass sie sich als Europäer in einer als offen imaginierten Architektur durchlässiger Grenzen verorten. Überwunden werden sollen jene »abschätzige[n] Kunsturteile«, die dem Deutschland- und Europa-Konzept der »engherzig Beharrenden und Rückwärtsgewandten, die nur die intimdeutsche, versponnen-sehnsüchtige, treuherzig-dumpfe, naturhaft-einfältige Gemütsdichtung als eigentliche und vollwertige Dichtung gelten lassen wollen« (ebd.: 263), entstammen. Bemerkenswerterweise findet Thomas Mann das ›Deutsche‹ wie gleichermaßen das ›Europäische‹ gerade dann am besten entfaltet, wenn sich beide in einem aufeinander bezogenen Transformationsprozess befinden. Einer positiven Bestimmung beider, die über miteinander korrelierende Grenzverhandlungen hinausgeht, verweigert sich Thomas Mann. Deshalb findet er das ›Deutsche‹ interessant, wenn es sich als Übergang äußert – in dem Sinne, in dem Lesser von einer »allgemach deutsch werdende[n]« »Lust am Geordneten, Übersichtlichen, Formstarken, an trockener Luft und hellem Himmel« spricht (ebd.: 263). »Das gibt es also?«, fragt Thomas Mann rhetorisch an die Adresse der Sympathisanten des Völkischen und der »naturhaft-

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einfältige[n] Gemütsdichtung« 4 – »Etwas kann deutsch werden, was es früher nicht war, und man wird es dann nicht mehr undeutsch schelten dürfen?« (ebd.: 263). – Der Kosmopolitismus und insbesondere das Europäische sind in der Auffassung Thomas Manns keine Gegensätze zum ›Eigenen‹, im Gegenteil ist jede Konstruktion des Eigenen, die auf Isolation und starrer Abgrenzung beruht, nicht tragfähig. »Begegnungen, Durchdringungen des Individuellen und des Nationalen« schützen davor (ebd.: 263), in »Rat- und Zukunftslosigkeit« zu geraten und sind in Manns Auffassung der eigentliche Normalfall (ebd.: 263). Es ist ganz in diesem Geiste, dass er von dem deutsch-jüdischen Publizisten aus Czernowitz als seinem ›Bruder‹ spricht (»meinen Bruder und mich« [ebd.: 263]).

AUSBLICK Diese kleinen exemplarischen Einblicke in den Essay und die Konzeptualisierung des ›Europäischen‹ in seinem Verhältnis zum ›Nationalen‹ bei Thomas Mann reichen aus, um zu veranschaulichen, dass nicht Grenzziehung, sondern Grenzüberschreitung, Übergang und Begegnung das Eigene, Nationsspezifische ausmachen, und in diesen Übergängen und in deren Reflexion manifestiert sich gerade das Europäische. Mit Thomas Manns Essay zum Kosmopolitismus wird freilich nur eine Tiefenbohrung hinsichtlich des Wandels identitätsstiftender Funktionen von Grenzen unternommen. Weder steht sie stellvertretend für Thomas Mann insgesamt, 5 noch und erst recht nicht für die Zeit der 1920er Jahre. Vielmehr ging es darum, mit Harsdörffer und Mann zwei Anker zu werfen – den ersten in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs und den zweiten in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen – um auf das große Potential der Analyse textlicher ›Grenzverhandlungen‹ für die im Foucaultschen Sinne genealogisch verfahrende Europa-Forschung hinzuweisen. Die Modi der Imagination von Grenzen bewegen sich zu jeder Zeit innerhalb einer spezifischen Spannweite, innerhalb der nur ein bestimmtes Maß an Plastizität und Transformabilität des imaginären (und politischen) Grenzregimes möglich ist. Tiefenbohrungen in unterschiedlichen Epochen lassen vorsichtige Rückschlüsse auf Diskursverschiebungen zu. So ist die statische, hierarchische Ordnung fester Grenzziehungen, die Harsdörffer als

4

Ebd., S. 263. Hier handelt es sich um eine von Mann wiedergegebene Formulierung

5

Relevant sind für den hiesigen Zusammenhang u.a. die Schriften zu Judentum,

Lessers. Deutschland und Europa sowie der berühmte Essay Achtung, Europa! von 1935.

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Grundlage einer Friedensordnung in Europa beschwört, in der Zwischenkriegszeit zu einer Ordnung geworden, die das Gegenteil bewirkt: Konflikt- und Gewalteskalation. Europa als Totum cum partibus – wobei die Teile klar abgegrenzte Entitäten sind – ist in der Zwischenkriegszeit infolge des gesellschaftlichen Wandels und (damit einhergehend) infolge modifizierter Selbstbilder zu einem umstrittenen Modell geworden, das nicht mehr als friedensstiftende imaginäre Architektur taugt und eher von jenen beschworen wird, die an Konflikten interessiert sind. Die Weimarer Republik ist auch die Zeit, in der nationalistische, antisemitische und militaristische Organisationen wie der ›Stahlhelm‹ am ›Deutschen Eck‹ aufmarschierten und den Geist der Abgrenzung in einer zuvor kaum vorstellbaren Radikalität beschworen. Auch die Publizistik dieser Zeit ist gespalten. Einerseits finden sich beispielsweise in der jüdischen Presse engagierte Plädoyers für ein transnationales Europa mit einem Selbstverständnis, das in der Literatur, Kunst und Intellektualität des Kontinents seit der Zeit um 1800 allmählich entworfen wurde. »Hat dieser französische Katholik keine Ahnung davon, daß ihm, wenn er nur katholisch ist, der weißrussische Chassid näher ist als sein eigener Verleger aus Paris?« (Roth 1931/32: 293), schreibt kein Geringerer als Joseph Roth in Der Morgen. Andererseits propagieren selbsternannte Beschützer der ›Volksreinheit‹ vermeintlich wissenschaftliche Lehren – etwa in den Publikationsorganen der bereits 1905 von Alfred Plötz in Berlin gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene, deren Gedankengut auch in populärwissenschaftlichen Medien aufgegriffen und reproduziert wurde. In der eben zitierten Monatsschrift Der Morgen dagegen werden die rassehygienischen Begründungen der Grenzziehungen zwischen Völkern, Staaten und Individuen – die extremste je aufgekommene Form der Etablierung statischer, unüberwindbarer Grenzen – scharf kritisiert. Alfred Marx beruft sich letztlich auf Individualität – jenem um 1800 zentral gewordenen Paradigma, das zum großen Gegenspieler von Typisierungen wurde: »weil eben die Beziehung zweier Menschen nicht nur vom ›Zuchtstandpunkt‹ aus betrachtet werden darf. (Marx 1928: 255) Individuen werden zunehmend als selbstgesteuerte Hersteller von Übergangs- und Übersetzungsleistungen denkbar – und gerade nicht als austauschbare Exemplare eines (Volks-)Typus. Befremdlich und archaisch mutet dagegen aus heutiger Sicht Robert Musils im September 1914 geäußerte Auffassung an, das gemeinsame Europäertum sei wohl nur ein dünner Firnis, der im Ernstfall zerfalle – zugunsten der im Numinosen entspringenden Grenzen, die Kollektive voneinander trennen:

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Wir wissen nicht, was es ist, das uns in diesen Augenblicken von ihnen [anderen Völkern; I. P.] trennt und das wir trotzdem lieben; und doch fühlen wir gerade darin, wie wir von einer unnennbaren Demut geballt und eingeschmolzen werden, in der der einzelne plötzlich wieder nichts ist außerhalb seiner elementaren Leistung, den Stamm zu schützen. (Musil 1978: 1021f.)

Musils Essay veranschaulicht unwillkürlich, wogegen sich Lesser – und mit ihm Thomas Mann – später wendet: dumpf-sentimentale Beschwörung des ›Volks‹, Entindividualisierung und Entwertung des menschlichen Lebens: »Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich«. (Ebd. 1022) Die »europäische Kultur« wiche (ebd.: 1020), so Musil, einer »Urmacht« (ebd.: 1022). Die Verfahren der Grenzziehung haben sich auch bei Musil spürbar dahingehend verschoben, dass ›Europa‹ als eines der Übergänge und der sich »immer enger verbindenden großen Völker« (ebd.: 1020) erscheint. Wenngleich sich dies in Musils Auffassung von 1914 als Irrweg darstellt – auch er imaginiert, freilich als Gegenfolie der numinosen ›Urmacht‹ des Volks-Kollektivs, ein Europa der Übergänge. Die Idee, dass es die Übergänge sind, die Europa eigentlich ausmachen, entwickelt sich während der Weimarer Republik in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen weiter; geradezu polygenetisch kommt sie in weit auseinander liegenden Argumentationen auf. Als letztes Beispiel sei Hermann Graf Keyserling angeführt, ein Brieffreund Thomas Manns, der in seiner Monographie Das Spektrum Europas (1928) eigentlich eine Art Völkertypologie verfasst, denn deren Kapitel heißen beispielsweise »England«, »Frankreich«, »Spanien«, »Deutschland«, oder gegen Ende »Der Balkan«. (Keyserling 1928) Hier werden die damals überwiegend negativ konnotierten Merkmale des Balkans wie Mehrsprachigkeit, Interkulturalität, Kulturtransfers positiv gewendet und als Stärke Europas dargestellt: »Auch Europa ist seinem Wesen nach ein Balkan. […] Europa ist klein und zerklüftet, physisch sowohl als psychisch. Sein frühester Geist war auf dem Balkan geboren.« (Keyserling 1928: 403) Zwar überwindet Keyserling die Vorstellung von kollektiven (Volks-)Merkmalen nicht, immerhin sieht er aber Europa als »Interferenzgebiet« (ebd.: 403), dessen Stärke gerade in den Spannungsverhältnissen liegt. Es wird somit deutlich, dass die Literatur Konzepte und Modalitäten der Grenzziehung und Grenzüberschreitung als ›Figurationen Europas‹ dargestellt und zur Disposition gestellt hat. Dabei fällt sowohl im Dreißigjährigen Krieg wie auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, wie nah an den politischen Verhandlungen die literarischen und essayistischen Texte operieren. Harsdörffer gelingt

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in Anlehnung an Jean Desmarets ein Stück deutsch-französischer ›europäischer‹ Literatur, das sich bewusst gegen ein Europa der Hegemonien stellt – und mutigerweise auch gegen die damaligen Kriegsinteressen Deutschlands. Literarische Texte restituieren die Deutungshoheit über Europa (die sich Herrschafts- bzw. politische Eliten angeeignet hatten) und übertragen sie einer immer breiteren Öffentlichkeit; damit machen sie Europa zum ›Projekt‹, zum ›Interferenzgebiet‹ unterschiedlicher möglicher Auffassungen von dem, was den Kontinent als realen wie als imaginären Zeit-Raum der Übergänge ausmacht – Auffassungen, die durchaus in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen können. Dadurch werden Reflexions- und Wandlungsprozesse angestoßen und zunehmend als demokratische Prozesse strukturiert. Die Transformationen der Literatur seit der Frühen Neuzeit sind somit in vielen Fällen auch Transformationen Europas.

LITERATUR Biebuyck, Benjamin (2006): Interkulturalität und Krise. Erlebtes Europa bei Thomas Mann und Annette Kolb. In: Florian Kläger u. Martina WagnerEgelhaaf (Hg.): Europa gibt es doch. Krisendiskurse im Blick der Literatur. Paderborn 2016, S. 159-184. Bischoff, Doerte (1995): Repräsentanten für Europa? Thomas und Heinrich Mann als Grenz-Gänger eines Europa-Diskurses in ihren Essays 1914-1933. In: Jürgen Wertheimer (Hg.): Suchbild Europa. Künstlerische Konzepte der Moderne. Amsterdam, S. 18-37. Detering, Nicolas (2017): Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln/Weimar/Wien. Gut, Philipp (2008): Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. Frankfurt am Main. [Harsdörffer, Georg Philipp]: Japeta das ist: Ein Heldengedicht gesungen in dem Holsteinischen Parnasso [Nürnberg] 1643. Keyserling, Hermann (1928): Das Spektrum Europas. Heidelberg. Kurzke, Hermann und Stachorski, Stephan (1993): Kommentar. In: Thomas Mann: Essays. Band 2. Für das neue Deutschland. 1919-1925. Hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main, S. 285-409. Mann, Thomas (1993): Kosmopolitismus. In: Ders.: Essays. Band 2. Für das neue Deutschland. 1919-1925. Hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt am Main, S. 260-266. Marx, Alfred (1928): Kritische Bemerkungen zur Rassenhygiene. In: Der Morgen: Monatsschrift der Juden in Deutschland, H. 3, S. 255-264.

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Musil, Robert (1978): Europäertum, Krieg, Deutschtum. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 8. Reinbek bei Hamburg, S. 1020-1022. Roth, Joseph (1931/32): Ein Franzose unter der Wodans-Eiche. In: Der Morgen. Monatsschrift der Juden in Deutschland 7, H. 3, S. 289-393. Rüther, Günther (2009): Thomas Manns Blick auf das Ende Alteuropas im »Großen Krieg«. In: Axel Gotthard/Andreas Jakob (Hg.): Studien zur politischen Kultur Alteuropas. Festschrift für Helmut Neuhaus zum 65. Geburtstag. Berlin, S. 125-145.

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Europäische Kulturinstitutionen und poetische Multilingualität in der Gegenwartslyrik – am Beispiel von Dagmara Kraus Maren Jäger

ABSTRACT While, towards the end of the 20th century, German poetry underwent a ›globalisation‹, since the turn of the millennium, it has experienced a significant ›europeanisation‹: Fuelled by festivals, magazines, anthologies, translation workshops, prizes etc., ›cultural institutions‹ have sprung up, where Europeans emphatically get together – not only virtually, but also physically, in many places all over Europe. In the 21st century, thus, a »third space« of poetical discourse, collaboration and interaction emerged, which transgresses boundaries without effort – and which renders borders of ›national‹ languages and literatures permeable and questionable. This »third space« is reflected in participative »scenes of joint attention«, in intertextual dialogue, as well as in language transfer (i.e. through translation, multilinguality, collective authorship etc.) – and, not least, in the polyphony of poetic utterance. Outlining a rough sketch, and furnishing it with a remarkable example – the poet Dagmara Kraus (*1981) – is the aim of this essay. Keywords: ›Cultural institution‹ – Contemporary poetry – Europe – Multilinguality – Translation

Seit der Institutionalisierung des Programms Kultur 2000 durch das Europäische Parlament am 5.11.2001 ist die Schaffung eines »gemeinsamen Kulturraums« erklärtes Ziel der Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten (Programm

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»Kultur 2000«). 1 Dass es diesen europäischen Kulturraum längst gibt – ebenso wie Akteure, die sich auf diesen gemeinsamen Kulturraum berufen, ihn gar als unabdingbar voraussetzen, um nachhaltig wirken zu können –, bleibt unberücksichtigt. Während Politik und Wirtschaft als Nährboden neuer Leitideen für Europa zunehmend an Glaubwürdigkeit verloren haben, scheinen von der Zivilgesellschaft aussichtsreichere Impulse auszugehen – wenn man sie nur wahrnimmt. Gemeinsam ist jenen ›Kultur-Institutionen‹, 2 die seit Jahrzehnten diejenige Aufgabe übernehmen, die das Europäische Parlament auf die Tagesordnung gesetzt hat, ihre bemerkenswerte Stabilität, Kreativität und Handlungsfähigkeit, aber auch ihr Reflexions- und Innovationspotential, der Idealismus ihrer Akteur*innen – und nicht zuletzt ihre emphatische Identifikation mit Europa als Kultur- und Lebensraum. Die jüngste Lyrik und ihre multiplen Realisationsformen spannen ein Feld auf, in dem europäische Integration und ›Supranationalität‹ realisiert sind, dem eine Dynamik innewohnt, die von der europäischen Idee zugleich zehrt und ihr Vorschub zu leisten vermag. Hat die deutschsprachige Lyrik im ausgehenden 20. Jahrhundert bereits eine ›Globalisierung‹ erfahren (vgl. Jäger 2015), so lässt sich

1

Eine Begriffsbestimmung sucht man in offiziellen europäischen Dokumenten vergeblich. In einer Broschüre über »Die Europäische Union und die Kultur« ist zu lesen: »Allmählich entsteht ein europäischer Kulturraum.« (Europäische Kommission 2002) Aus offizieller Sicht ist der europäische Kulturraum noch nicht existent, sondern ein in unbestimmter Ferne liegendes Ziel. So vage dies auch anmutet, so deutlich lässt sich in der Offenheit der Bestimmung auch die Intention erkennen, den »Kulturraum« nicht schlechterdings ›implementieren‹ zu wollen.

2

Freilich mutet der Begriff ›Kultur-Institution‹ wie eine contradictio in adiecto an, gilt doch Institutionskritik seit Beginn der Moderne als elementare Aufgabe der Kunst, i.S. einer künstlerischen Intervention, die gegen den ›Betrieb‹ mitsamt seinen Anmaßungen und Deformationen opponiert, die Inhumanität und Repressivität seines Apparats und seiner Vertreter entlarvt und autonome Gegen-Räume erhellt oder eröffnet. Dessen ungeachtet hat die Kunst (hier exemplarisch: die Literatur) – sei es in Interaktion mit Multiplikatoren oder Wirtschaftsorganisationen bzw. -unternehmen wie Verlagen oder Stiftungen, mit politischen Institutionen wie (Kultus-)Ministerien oder ihrer eigenen Logik bzw. Dynamik folgend – selbst Institutionen ausgebildet, die von informellen Netzwerken über Rituale (Festivals und Preise), Publikationsorgane und Vereine mit ausgehandelten Statuten und fester Agenda bis hin zu Häusern mit Budget, Personal und Programm bzw. Curriculum reichen.

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seit der Jahrtausendwende ihre emphatische ›Europäisierung‹ beobachten: 3 Durch Festivals, Zeitschriften- und Anthologieprojekte, Übersetzung(swerkstätt)en, Preise etc. sind Orte, Netzwerke und Kulturinstitutionen geschaffen worden, an denen Europäer emphatisch zusammenkommen – und zwar nicht nur virtuell, in sozialen Medien, Foren und Blogs, sondern auch real, an zahlreichen Orten Europas. So ist im 21. Jahrhundert ein ›Dritter Raum‹ des poetischen und poetologischen Austauschs entstanden, der Ländergrenzen mühelos, fast unbemerkt überwindet und die Grenzen von Nationalsprachen und -literaturen fragwürdig erscheinen lässt. Er schlägt sich in partizipatorischen »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit« 4 ebenso nieder wie im intertextuellen Dialog, in formalen Spezifika der Gedichte ebenso wie im Sprachtransfer (d.i. durch Übersetzungen, Mehrsprachigkeit, kollektive Autorschaft usw.). Ein kleines Panorama zu skizzieren und dieses mit einem besonders markanten Beispiel – der Lyrikerin Dagmara Kraus (geb. 1981) und ihrer in vielfacher Weise grenzüberschreitenden Dichtung – zu illustrieren, soll Ziel dieses Beitrags sein.

EUROPÄISCHE GEGENWARTSLYRIK Die Annäherung an die Lyrik der Gegenwart ist leicht und schwierig zugleich. Leicht, weil sie einem fast allerorts begegnet: real wie virtuell, in Büchern und Zeitschriften, bei Lesungen und auf Festivals, in Internetforen und auf Plattformen. Leicht auch deshalb, weil sie in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom erfuhr – sofern man die zahllosen Autorendebüts, die sprunghafte Vermehrung von Anthologien und Periodika, die Erschließung neuer Leserschichten und Verbreitungsformen und die Auszeichnungen von Gegenwartslyriker*innen mit renommierten Preisen als Indikatoren gelten lässt. Schwierig ist das Unterfangen einer Annäherung an die jüngste europäische Lyrik nicht nur, weil die Gegenwartslyrik durch die Literaturwissenschaft habituell vernachlässigt wird, sondern auch, weil sie sich selbst für gestandene Literaturwissenschaftler*innen als Irrgarten darstellt. Man sieht sich – sofern man

3

Die Internationalisierung der deutschsprachigen Lyrik beginnt freilich nicht erst mit der Jahrtausendwende, sondern ist Resultat einer Entwicklung, die sich bereits über mehrere Jahrzehnte erstreckt; sie erlebte einen ersten Kulminationspunkt in der sog. Klassischen Moderne der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts (vgl. Jäger 2015).

4

Vgl. zu den »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit« Tomasello 2002 sowie zur medien- und kulturwissenschaftlichen Verwendung des Begriffs Bauer 2003: 95f.

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sich auf sie einlässt – nicht nur mit ungleich mehr schlechten als guten Gedichten konfrontiert, mit bibliophilen Gedichtbänden in Kleinstauflagen von selten mehr als 200 Exemplaren, sondern auch mit einer Reihe von (bedauerlicherweise) nahezu unbekannten Verlagen. Man gerät in einen veritablen Dschungel von Anthologien, Preisen, Veranstaltungsformaten und -reihen – und nicht zuletzt (Online-)Foren und Zeitschriften. Ist die Situation allein in Deutschland schon diffus, so muss im internationalen Kontext konstatiert werden, dass eine ›europäische Öffentlichkeit der Poesie‹, analog zu vielen anderen Kultursphären, (noch) kaum kartographiert ist, aber bereits seit den 1990er Jahren existiert und seit der Jahrtausendwende zunehmend Fahrt aufnimmt – als wolle man dem Zweifel am europäischen Projekt immer aufs Neue die Gewissheit entgegensetzen: Seht her, Europa gibt es! Die Personalunion Lyriker*in/Übersetzer*in wird um die Jahrtausendwende zu einem typischen (Über-)Lebens-Modell, das Übersetzen zugleich ›Brotberuf‹, Schule des Handwerks und Inspirationsquelle – sind doch die Impulse, die von dieser Tätigkeit auf die je eigene schriftstellerische Arbeit ausgehen, keineswegs zu unterschätzen. Nicht selten bilden sich dabei produktive Wahlverwandtschaften, da die Lyriker*innen ›ihre‹ fremdsprachigen Autor*innen (wenn möglich) nach Neigungen, ggf. einer zweiten Muttersprache oder eigenen poetologischen ›Bedürfnissen‹ auswählen. Besonders Gertrude Steins Gedichte werden um die Jahrtausendwende zu einem inspirierenden Fundus, wie die Nachdichtungen u.a. von Barbara Köhler, Ulrike Draesner, Oskar Pastior und Ulf Stolterfoht sowie Daniela Seels homophone Übertragungen beweisen. Die Lyriker*innen der jüngeren und jüngsten Generation sind ungleich stärker als diejenigen der älteren international ›vernetzt‹ und erhalten – u.a. durch ihre Übersetzertätigkeit und ihre Teilhabe an den o.g. Kulturinstitutionen – vielerlei Impulse aus dem gesamt- wie außereuropäischen Raum. Aber auch einem zunehmenden ›Nischenbewusstsein‹ mag es geschuldet sein, dass die Lyriker*innen des 21. Jahrhunderts sich über Sprach- und Landesgrenzen hinaus öffnen und wuchtige Impulse aus dem Ausland (ob von Inger Christensen, Gertrude Stein, Welimir Chlebnikow, John Ashbery, Charles Bernstein, Zbigniew Herbert u.v.a.) nicht selten interessanter finden als das Sprach(en)-, Formen- und Themeninventar der ›gesamtdeutschen‹ Lyrik. Ein nicht unerheblicher Teil der nach 1970 geborenen Autor*innen, die die deutschsprachige Szene bereichern, hat einen sog. ›Migrationshintergrund‹ (wie Orsolya Kalász, Huchelpreisträgerin 2017, oder Farhad Showgi, Preisträger des Jahres 2018); manche sind Kinder einer früheren oder späteren Einwanderergeneration (etwa Safiye Can, Norbert Lange oder Uljana Wolf), zwischen den Kulturen, mehrsprachig bzw. in mehrsprachigen Regionen aufgewachsen, haben

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Freunde und Lebenspartner im Ausland, arbeiten in der Fremde – und/oder sind per se ›Grenzgänger‹ zwischen den Sprachen und Nationen Europas, wie die 1981 in Wrocław geborene und nun in Paris und Berlin lebende europäische Citoyenne Dagmara Kraus.

»ZUHAUSE IST DAZWISCHEN«: DAGMARA KRAUS’ ENTGRENZTE, MULTI- UND TRANSLINGUALE LYRIK Dagmara Kraus wuchs in und mit ihrer polnischen Muttersprache auf – bei ihrer Großmutter, als ihre Eltern nach Schließung der polnischen Grenzen während der revolutionären Ereignisse in den 1980er Jahren als ›Spätaussiedler‹ bereits nach Deutschland ausgereist waren. Erst 1988, im Alter von sieben Jahren, kam Dagmara Kraus nach Deutschland: Von einem Tag auf den anderen in eine unverständliche Klangwelt versetzt, durchlief das Kind zum zweiten Mal den Prozess der Sprachaneignung. Diese Erfahrung bestimmt noch heute Kraus’ poetische Arbeit: Als Sammlerin, die Gedichte ›baut‹, hält sie Ausschau nach Sprachmaterial, das Bedeutungen konzentriert und generiert. (Trahms 2012)

Nach einem Studium der Komparatistik und Kunstgeschichte in Leipzig, Berlin und Paris und Literarischem Schreiben am Deutschen Literaturinstitut promoviert Kraus an der Friedrich Schlegel-Graduiertenschule der FU Berlin über eine ›Poetik des Sprungs‹. Seit zehn Jahren veröffentlicht sie Gedichte in Zeitschriften und Anthologien. Ihr Debütband kummerang erschien 2012 bei kookbooks, gefolgt von einem weiteren Band (Kraus 2015) sowie zwei ›roughbooks‹ bei Urs Engeler (Kraus 2013; 2016). Ebenfalls 2012 publizierte sie u.d.T. Wir Seesterne Übersetzungen von Gedichten des sprachexperimentellen polnischen Lyrikers Miron Białoszewski (Białoszewski 2012; vgl. ders. 2014; 2015). Nach Übersetzungen aus dem Polnischen 5 – liegen nun erste Nachdichtungen französischer Lyrik vor, etwa von Frédéric Fortes Minutenopern (Forte 2017; 2016). Die Laudator*innen des Basler Lyrikpreises, mit dem Dagmara Kraus 2018 ausgezeichnet wurde, erkennen die unauflösbare Dialektik von übersetzerischer Tätigkeit und eigener schriftstellerischer Arbeit:

5

Neben den Übersetzungen von Miron Białoszewski sind dies: Stachura 2013, Mueller 2016.

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Das poetische Schaffen der Lyrikerin ist mit ihrer Arbeit als Übersetzerin eng verbunden, ja das Übersetzen ist ein wesentlicher Teil davon. Das Deutsche ist dabei nicht eigentlich Zielsprache: Der Ausdruck Zielsprache unterstellt, dass das Übersetzte von einer Sprache in die andere gebracht, in ihr Gefüge integriert wird und darin aufgehoben bleibt. Das Prinzip Dagmara [Kraus’ ] besteht darin, die eigene Sprache nicht nur für Wörter und Ausdrücke aus andern Sprachen offenzuhalten, sondern sie auch mit der Einbeziehung von grammatikalischen und syntaktischen Fremdanleihen zu bereichern, zu verändern, aus ihren Systemzwängen zu befreien. (Bussmann/Lappert 2018: 3)

Das Leben im Zwischenraum der Sprachen (um der autobiographischen Lesart vorsätzlich auf den Leim zu gehen) verhandelt ein Gedicht, welches das Jahrbuch der Lyrik 2018 eröffnet (Kraus 2018: 9). Es trägt ein franko-polnischdeutsches Dreifachwort als Titel, welches in seiner Schrift- und Lautgestalt zugleich romanisch-vertraut und doch rätselhaft anmutet. Die letzte Strophe gibt Aufschluss: »alles dreimal: […] 3 ça-to-das« [frz. ›ça‹ wie poln. ›to‹ = dt. ›das‹]. çatodas 6 drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind kau dir an der kruste hier muskeln an, nimm an floskeln tuste gut daran, te tłusteste zu meiden ah, das wusstest du schon, na dann drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind die eine hockt noch schief im rachen, indes die anderen auf angenähte tanten machen, wie damals die aus liza stara vom saalrand der parade rara drei sprachen sind zu groß für deinen mund, mein kind sagst du bélier, verbrauchst du zu viel spucke meinst du wichurę, zeigst aufs regenzuckeln und rührst dir was aus drei familien, führst krudes durch die fleur-de-lilien und setzt dort wechselbälger aus kuckuckskinder, bülbülschinder, wie du wörtchen aus drei sprachen klaubst, wie du urkreol verschraubst was syntaktisch, synku, sich nie binden ließe

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Bei der hier wiedergegebenen Fassung handelt es sich um die bis Redaktionsschluss jüngste Version des Gedichts, die der Verf. freundlicherweise von der Autorin zur Verfügung gestellt wurde.

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pfui, du fiese mutter, biest du, arge hast dein kind betrogen um die eine muttersprache; alles dreimal: 3 x strachy 3 ça-to-das, selbdritt fällst durchs fehlerfach deine zunge, kindlein, splisst: co quoi to ist, äquator für L., für A.

Das Gedicht führt die polylinguale Poetik von Dagmara Kraus vor, die Sprachen dreier Sprachfamilien (germanisch, romanisch, slawisch) zu einem europäischen ›urkreol‹ bzw. Individualkreol amalgamiert, ihre Phoneme und Lexeme zunächst analytisch aus den Sprachleibern ›klaubt‹, um sie dann wiederum synthetisch im akustischen und semantischen Hallraum des Gedichts in (Sprach-)Kontakt treten zu lassen oder sie zu ›verschrauben‹ – wie hier polnische Adjektive mit deutschen Superlativsuffixen (»tłusteste« = fetteste). Wenngleich die Autorin beklagt, »wirklich in keiner Sprache richtig zu Hause zu sein«, da ihr »eigentlich gar keine Sprache so richtig gehör[e]« (Küchenmeister 2017: 13), ringt sie der Trilingualität poetisches Potential ab; das Gedicht lässt sich als poetologische Auflehnung gegen den schulmeisterlichen Rat verstehen, sich zwischen den Sprachen entscheiden zu müssen. Denn Dagmara Kraus schert sich nicht um grammatikalische Aufenthaltserlaubnis, die Mehrsprachigkeit durchdringt ihr dichterisches Schaffen auf allen Ebenen. (Bussmann/Lappert 2018: 1)

Die gebotene Akrobatik der Artikulationsorgane, das erforderliche Training an den harten Krusten der Sprachen, die mehrfach gespaltene Zunge, die Erstsprache, die wie eine zähe Speise im Hals steckt – all diese Bedrängnisse führen zu Deformationen der (früher oder später) erlernten Sprachen, die – so problematisch sie aus psycholinguistischer Sicht für die Sprachentwicklung des Individuums auch sein mögen – in der Poesie Funken schlagen. Wechselbälger, Kuckuckskinder – allesamt Kreaturen prekärer Abstammung, gezeugt im Verborgenen, die ihren Eltern untergeschoben wurden, führen zu denkwürdigen Durchmischungen von (Sprach-Patchwork-)Familien. Was die Syntax der Einzelsprachen nicht erlaubt, gestattet und gestaltet das Gedicht; die dreifachen Ängste (»strachy«) und der leidvoll erlebte Betrug um die eine Muttersprache werden zur Gabe. »Zuhause ist dazwischen« (Küchenmeister 2017: 26), diese Erfahrung entspricht der Lebensrealität der Autorin wie derjenigen von Kindern in europäischen Metropolen – und sie wird nicht als Handicap begriffen, sondern zum Ideal einer dynamischen, mobilen europäischen Identität: »Ja, irgendwo fest zu sein, das sieht gleich so nach Ende aus, als würde man da begraben, und diese

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Idee macht mir Angst. So lange ich gehen kann, möchte ich, dass es immer weitergeht und woanders hingeht und Neues sehen. Weg.« (Küchenmeister 2017: 26) Die Binnenreime und der alternierende Rhythmus, die insistierenden Verswiederholungen in besserwisserisch-herablassender Du-Anrede – von all dem metrischen Säbelrasseln in »çatodas« ließe sich die Verfasserin selbst keineswegs einschüchtern: Drei Sprachen sind keineswegs zu groß für die Lyrik von Dagmara Kraus; im Gegenteil scheint sie den Hals nicht voll zu bekommen. Der Dichter als »bülbülschinder« lässt seine Nachtigall dreistimmig singen – je mehrsprachiger, desto besser. Kraus schreibt in der Ankündigung ihres Seminars über »Polylinguale Lyrik« am DLI im Wintersemester 2015/16: »Die schönen Bücher sind«, so Proust, »in einer Art fremden Sprache geschrieben«. Müssten Bücher, die nicht nur in einer einzigen, sondern darüber hinaus in mehreren fremden Sprachen geschrieben sind, demnach nicht doppelt und dreifach schön sein? Jedenfalls sind schöne Sprachen in befremdliche Bücher geschrieben. Und diese schönsten lengevitches (U. Wolf) internationaler Poesie sollen uns neben eigenen Gedichten in diesem Werkstattseminar beschäftigen, sofern Interesse besteht an Fremdsprachen in der Poesie und Fremdsprachenverfremdung, an Exotismus, erfundenen Sprachen, linguistischer Dichtung (M. Białoszewski), falschem Deutsch, Falschpanischem (N. Richter), Falschösischem (A. G. de Zúniga) und so weiter... 7

Eine für diese emphatische Mehrsprachigkeit fundamentale Operation besteht darin, dass Kraus Fragmente aller ihr verfügbaren Sprachen (vorzugsweise Deutsch, Französisch, Polnisch) auf ihr poetisches Potential abklopft, tief in die Sprachen und ihre Wörterbücher eindringt – und zeigt, wie die Kollisionen von Wortkörpern und -fragmenten verschiedener Nationalsprachen poetisch fruchtbar gemacht werden können: Kontaminationen und bewusst ›falsche‹, teils homophone Übertragungen, die von der phonetischen Gestalt, meist nur von Sprachsplittern, Einzelsilben ausgehen, erzeugen – auf der (Mikro-)Ebene der poetischen Sprache – einen Effekt, den Glissant – bezogen auf kulturelle Elemente – »créolisation«, »Kreolisierung« nennt. 8 Durch diese Operation werden

7

http://www.deutsches-literaturinstitut.de/files/dll/pdf/vorlesungsverzeichnisse/KV%20 WS15-16.pdf [Stand: 1.6.2018]. »Meine schönste lengevitch« ist der Titel eines Gedichtbands von Uljana Wolf (Wolf 2013).

8

Vgl. den Aufsatz »Kreolisierung in der Karibik, in Nord- und Südamerika« (Glissant 2013: 7-22), in dem Glissant konstatiert, »daß die Welt sich kreolisiert. Schlagartig

2

und dabei in vollem Bewußtsein, werden die Kulturen der Welt miteinander in Kon-

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Übersetzung und poetischer Akt einander ähnlich – als poiesis, die Bezüge zwischen allen Sprachen und Kulturen der Welt herstellt. Denn da sie einen Durchgang schafft zwischen den Sprachen, verweist jede Übersetzung ihrem Prinzip nach auf die Souveränität aller Sprachen der Welt. […] Die Ausdrucksweise des Übersetzers arbeitet wie die Kreolisierung und wie die weltweite Beziehung, das heißt, sie stellt Unvorhersehbares her. Als Kunst des Imaginären ist die Übersetzung eine wahrhaft kreolisierende Operation, ein neues und unverzichtbares Verfahren für die bereichernde Vermischung der Kulturen. (Glissant 22013c: 36f.)

Dagmara Kraus schöpft ihr poetisches Material bevorzugt aus entlegenen Quellen; sie sucht (und findet) Worte aus alten Sprachschichten (»selbdritt«) und ›exotischen‹ Wörterbüchern natürlicher oder künstlicher Sprachen – oder sie schafft sich ihre Sprachen selbst, wenn ihr das vorhandene Sprachmaterial nicht genügt: Verfahren der Fragmentierung, Verfremdung, Permutation, Komposition, (Re-)Montage/Collage, Anagramm und Palindrom sind bevorzugte Techniken; sie nutzt die Kompositbildung für Neologismen (»Fehlerfach«), schüttelt und behaut das Sprachmaterial (etwa anagrammatisch: der »Saalrand« lässt das Saarland anklingen), um durch Verfremdung semantische Ambiguität herzustellen. In kummerang wird die barocke kombinatorisch-aleatorische Sprachmaschine Georg Philipp Harsdörffers, der »Fünffache Denckring der Teutschen Sprache« aus den Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden (Harsdörffer 1651: 519), 9 in Gang gebracht und speist einen Teil des anagrammatisch und palindromisch permutierten Sprachmaterials in Kraus’ Gedichte ein; so sind die Texte des 5. Kapitels von kummerang – nach Auskunft der Verfasserin in »funde« (Kraus 2012: 77) – »an Georg Philipp Harsdörffers Denckring erdreht worden« (ebd.).

takt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch« (ebd.: 11), wobei »Kreolisierung bedeutet, daß die in Kontakt gebrachten Elemente unbedingt als ›gleichrangig‹ gelten müssen, sonst kann die Kreolisierung nicht wirklich stattfinden« (ebd.: 13). 9

Digitalisat unter http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb100 57917_00537.html [Stand: 1.6.2018]. Eine digitale Version der Sprachmaschine findet sich unter: http://permutations.pleintekst.nl/harsdoerffer/denckring/denckring.cgi [Stand: 1.6.2018].

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zerkrenckling ob hinor enternig geif nachoss umaper kluckich zereill verorler verutter geist pluftig verhielt fortoten zupling ?

(Kraus 2012: 53)

Harsdörffers ›Denckring‹ besteht aus fünf konzentrischen Kreisen bzw. Scheiben, auf denen 264 Buchstaben bzw. Wortbildungsmorpheme angeordnet sind, die insgesamt 101.606.400 Wortkonstellationen ermöglichen (vgl. Hundt 2000: 285); indem man die Kreise mit- bzw. gegeneinander dreht, sollen mechanischkombinatorisch alle möglichen deutschen Wörter entstehen. Es ist, so Harsdörffer, »verhoffentlich kein Wort in unsrer gantzen Sprache finden/welches nicht auf diesem Ring zu weisen seyn sollte« (Harsdörffer 1651: 519). Tatsächlich generiert die barocke ›Sprachmaschine‹ über das Lexikon hinaus natürlich viel ›sinnloses‹ Sprachmaterial, ein willkommener Fundus, der »zu poetischkreativen Zwecken benutzt werden« kann (Eco 1997: 148f.). 10 Die Lyrik von Dagmara Kraus bezieht zentrale Impulse aus den Experimenten des Dadaismus und sprachphilosophischer und -experimenteller Traditionen wie der Wiener Gruppe, der Laut- und visuellen Poesie unterschiedlicher Länder Europas und der linguistischen Dichtung. Das Diktum auf dem Cover von kleine grammaturgie: »nullum poema sine lege« – eine Permutation des Gesetzlichkeitsprinzips im Strafrecht: ›[nullum crimen,] nulla poena sine lege‹ (›[kein Verbrechen,] keine Strafe ohne Gesetz‹) – kann man auch auf ihre Gedichtpublikationen anwenden, denn viele Bände oder Gedichtzyklen beziehen maßgeblich Anleihen aus einem poetischen Gesetz – ähnlich den ›contraintes‹ des Autorenkreises OuLiPo. In kleine grammaturgie (2013) werden Dagmara Kraus vier Plansprachen zur poetischen Quelle, mit denen man seit 1900 ein für alle Mal der universalen Sprachverwirrung Herr zu werden gedachte, »Myrana«, »Volapük«, »Tcatcalaqwilizi«, im zweiten Teil des Buches (Kraus 2013: 8-29) »wechselreden auf langue bleue«, nach ihrem Erfinder Léon Bollack auch »Bolak« genannt, auf dessen Lehrbuch Dagmara Kraus zurückgriff. Bollacks Wunsch war es, dass Bücher in »Langue bleue« auch in blauer Farbe gedruckt werden sollten – und diesem Wunsch ist der Verleger Urs Engeler mit dem roughbook nachgekommen. Hatte der Sprachkonstrukteur Bollack jedoch erwartet, dass seine Kunstsprache

10 Zur englischen Übersetzung des Bandes (Kraus 2014) vgl. Staff 2015.

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allein für merkantile Zwecke genutzt werde, wird er eines Besseren belehrt: Dagmara Kraus überführt sie in Literatur. volч if me spika ate lanku of gev110 volч if me spika is ate bistu vilted111 is ate vatu ad pfos112 ate tralbu113 m eia ferka rig ade nomu114 ate vortu re tenka an sinf115 ate vortu re nu tenka an sinf116 is esmipo enч anto117 ________ 110

spräche ich alle sprachen der erde

111

spräche ich wie alle wilden tiere

112

wie alle wasser des abgrunds

113

alle blumensamen

114

würde ich den ursprung der namen vergessen

115

alle worte, die eine bedeutung haben

116

alle worte, die keine bedeutung haben

117

und einfach singen.

(Kraus 2013: 17)

Aus der Sehnsucht nach der einen adamitischen oder poetischen weltumspannenden Ursprache wird (in radikaler Umkehrung der monoglottogenetischen Theorie) der Wunsch, alle Sprachen der Erde zu sprechen; Verstehen, Miss- oder Nicht-Verstehen, ja Semantik schlechthin würden hinfällig. Doch auch die zum Klingen gebrachte, 11 überraschend melodische Plansprache ist defizitär, bedarf sie doch der Fußnoten, in denen zeilenweise am unteren Seitenrand die Vision einer totalen Polyglossie entsteht. Tatsächlich findet das Gedicht im ›Dazwischen‹ der »wechselreden« statt: Im Auf- und Ab des Blicks zwischen Versen und Fußnoten entsteht der Raum für die poetische Vision, die Kraus in das Ideal reinen Gesangs münden lässt. Statt sich in den Zustand der Unschuld, der menschenvereinigenden Einheitssprache zurückzuwünschen, nimmt das Gedicht die Herausforderung der Vielfalt an. Übersetzen heisst die Andersartigkeit bejahen und die andere Sprache als gleichwertigen Teil des universellen Sprechens anerkennen. (Bussmann/Lappert 2018: 4)

11 Hier bei einer Lesung im Haus der Kulturen der Welt im Juni 2016: https://www. youtube.com/watch?v=06cFxY6CZSw [Stand: 1.6.2018].

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Übersetzen ist weit mehr als nur Brotberuf, mehr als nur Gegenstück, Korrektiv und Inspiration der schriftstellerischen Tätigkeit von Dagmara Kraus, es ist Materialfundus, Sujet und – als gesellschaftliche Utopie – der Fluchtpunkt ihres poetischen Projekts. War es in kleine grammaturgie ein »Langue bleue«-Handbuch, das der Autorin als poetisches Reservoir diente, zog sie für das vogelmot schlich mit geknickter schnute (Kraus 2015) ein altes Deutsch-Lehrwerk für Franzosen heran, dessen Reiz u.a. darin besteht, dass die Lautschrift zum Zeitpunkt seiner Entstehung noch nicht normalisiert war: Die Verfasser verwendeten daher eine eigen(willig)e Transkription, die die deutsche Lautung für französische Sprecher*innen aufbereitete, indem sie sie an das vertraute romanische Phoneminventar anglichen. Aus diesen Umschriften des Lehrbuchs bastelt Kraus »falschösische« Collagen und – in mehreren Transkriptionsschritten – wiederum Umschriften in »fatrastisches« Deutsch. Die Collage- und Montage-, Transkriptions- und Permutationsverfahren, deren Resultate vor blauem Hintergrund neben den Gedichten erscheinen, sind gewissermaßen der ›Maschinenraum‹ für die zweiundzwanzig Elfzeiler, 12 für die Kraus auf mittelalterliche Formen französischer Unsinnspoesie aus dem 13. Jahrhundert rekurriert. 13 Fatrasien waren streng reguliert – und präfigurieren so das Regelwerk für die Gedichte des Bandes: Sie umfassen je elf Verse mit dem Reimschema aab aab babab, wobei die ersten zwei Terzette fünf, die folgenden fünf Verse je fünf bis sieben Silben umfassen. 14

12 Zu finden sind drei von ihnen – kategorisiert als »Visuelle Poesie« ohne Tonspur (wenngleich man die Gedichte durchaus laut lesen kann, ja lesen muss, damit sie ›funktionieren‹) – auch online auf lyrikline.org, das vorliegende unter: https:// www.lyrikline.org/de/gedichte/schscht-vogel-heiser-11417#.WwR0-a35z-Y

[Stand:

1.6.2018]. 13 Im 21. Jahrhundert verhalf Ralph Dutli den »Fatrasien« durch seine Anthologie (Dutli 2010) zu einiger Bekanntschaft. 14 Über Historie und Sujets gibt der Wikipedia-Artikel Aufschluss: »Die ersten Beispiele enthielten die anonymen Fatrasies d’Arras, eine aus fünfundfünfzig Gedichten bestehende, in einem einzigen Manuskript erhaltene Sammlung des 13. Jahrhunderts. […] Der Name Fatrasie geht auf die lateinischen Wörter farcire (vollstopfen) und farsura (Füllung) zurück, von denen auch die Farce abstammt, vermutet wird aber auch eine Verballhornung der Fantasie (von griech.-lat. phantasma/phantasia). [Vgl. Dutli 2010: 112; M.J.] Alles, was in der Fatrasie geschieht, hat ›unmöglich‹ oder ›unvernünftig‹ zu sein. […] Die Gedichte reihen Widersinn und Absurditäten (Paradoxa, Oxymora), ihr Ziel ist es, Verblüffung, Verwirrung und Lachen hervorzurufen. Sie

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Kraus lockert das rigide Reglement insofern, als bei ihr die Terzette gelegentlich die aus fünf Versen bestehenden Gruppen rahmen und auch die Silbenzahlen vom Muster abweichen können: schscht, vogel heiser die kragen sind zu die absätze sind zu alles ist zu ich hänge meine zunge an den großen zeiger die kuckuckssau muss ein wenig unter den pantoffel mir fiel auf, der kleine zeiger hat sich den fuß kariert er hat zu viel bekommen sagen sie, darf ich seine socke haben ich kann sie nicht einfädeln, Sonntag ist jetzt der heuler kehlkrank oder nur halb von den himbeeren (Kraus 2015: 4f.)

Der Elfzeiler bewegt sich im Absurden zwischen Sinn und Unsinn – und in einem graphemisch-phonetischen Zwischenraum: Beim lauten Lesen der Collage aus dem französischen Deutschlehrbuch entsteht ein verblüffend-oszillierendes Lautgemisch, das zwar die deutsche Semantik der montierten Wortfolgen erkennen, aber im selben Moment fremd klingen lässt; ihnen wohnt gleichsam ein französischer Zungenschlag inne, der den/die Lesende*n plötzlich in eine*n französische*n Muttersprachler*in verwandelt, der/die Deutsch mit französischem Akzent spricht – eine bizarre zweifache Alteritätserfahrung, die der multiplen europäischen (Sprach-)Realität und Identität entspricht: »Ob in der Fremde oder Zuhause«, sagt Dagmara Kraus: »Ich glaube, immer ist man sich ein bisschen fremd.« (Küchenmeister 2017: 18) Wenngleich es ›schief‹ anmuten mag, Glissants Sprachtheorie, die tief in den politischen Kämpfen um die Unabhängigkeit der Karibik und im Mikrokosmos Martinique wurzelt, auf die poetische Praxis einer Mitteleuropäerin im 21. Jahrhundert abzubilden, so teilen beide doch eine Poetik der Beziehung (»Poétique de la Relation«), den Glauben an ihr kreatives Potential – und die Gewissheit, »nicht mehr nur in einer Sprache schreiben zu können.« Bei Glissant heißt es: sind Ausdruck der ›Verkehrten Welt‹, der ›karnevalistischen‹ Lachkultur im Sinne Michail Bachtins.« (›Fatrasie‹)

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Ich spreche und vor allem schreibe ich angesichts aller Sprachen der Welt. […] Aber angesichts aller Sprachen der Welt zu schreiben, bedeutet nicht, sie alle zu kennen. Im Kontext der heutigen Literaturen und des Bezugs der Poetik zur Chaos-Welt bedeutet dies, nicht mehr nur in einer Sprache schreiben zu können. Es heißt, daß ich meine Sprache mit mir schleppe und ihr Gewalt antue, aber nicht, um zu einer Synthese zu gelangen, sondern zu sprachlicher Offenheit, die es mir erlaubt, die heutigen Beziehungen der Sprachen untereinander auf der gesamten Erdoberfläche zu erfassen – Beziehungen der Herrschaft, der Zustimmung, der Absorption, der Unterdrückung, der Aushöhlung, der Berührung etc. – als Tatsachen in einem großen Drama, einer großen Tragödie, aus der ich meine Sprache nicht ausnehmen und vor der ich sie nicht in Schutz nehmen kann. (Glissant 22013b: 30)

Die sprachlichen Tatsachen in einer großen Tragödie und ihre problematischen hierarchischen, ja zutiefst feindseligen Beziehungen untereinander verhandelt das vierteilige Gedicht »deutschyzno moja« (Kraus 2017). 15 Der Beginn zitiert in homophoner Übertragung Adam Mickiewicz: Pan Tadeusz (1834), 16 das Nationalepos der Polen, dessen Eingangsverse jedem polnischen Kind geläufig sind: »Litwo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie; Ile cię trzeba cenić, ten tylko się dowie, Kto cię stracił.« (dt.: »Litauen! Mein Vaterland! Wie die Gesundheit bist du; Wer dich noch nie verloren, der hat dich nicht erkannt.«)

Mit den ersten zwei Apostrophen, die in Polen ›Volksgut‹ sind, hebt ein eminent politisches Gedicht von Dagmara Kraus an, das gleichwohl nicht auf elementare Verständlichkeit zielend, leitartikelnd oder pamphletartig daherkommt, sondern sprachsuggestiv-subversiv Assoziationsräume öffnet: Litauen wird zum Lied (bzw. »Litwo« zu »liedvoll«), das polnische Vaterland (von poln. ojciec = ›Vater‹) ›verdeutscht‹ – indem die erste Silbe ›ojcz-‹ gegen ›deutsch‹ ausgetauscht wird:

15 Das Gedicht erschien erstmals in der Neuen Rundschau (2016) H. 1: Gegenwart vs. Futur zwei, S. 90-94, und entstand – angeregt durch die Mitherausgeberin der Ausgabe, Kathrin Röggla – im Dezember 2015. 16 Der vollständige Titel des Versepos von Adam Mickiewicz lautet: Pan Tadeusz, czyli ostatni zajazd na Litwie. Historia szlachecka z roku 1811 i 1812 we dwunastu księgach wierszem (dt.: Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen. Eine Adelsgeschichte aus dem Jahre 1811 und 1812 in zwölf Versbüchern).

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Literatur kann eine Form von Heimat sein und ist es wahrscheinlich auch. Literatur, vielleicht kann man auch sagen, Sprache oder diese Zwischensprache oder dieses Interlinguale oder Translinguale, ich denke, da kann man sich verorten. Ich habe ja versucht, in einem Gedicht meinen Heimatbegriff so ein bisschen zu umschreiben oder Synonyme zu finden, wenn ich sage: dojczyzno ((auch: »deutschyzno«)) – (das) wäre für mich das, was ich als Zuhause oder Heimat begreife. (Küchenmeister 2017: 24)

Aber weit entfernt davon, ein Nationalhymnus aus der Emphase zu entwickeln, entsteht ein bedrohliches Szenario von ›Drinnen‹ und ›Draußen‹, von Fremdheit, Alterität und opaken Ängsten. Angereichert wird das Szenario durch polnische Sprachfetzen, die wiederum assoziativ-suggestiv neue Spracharabesken generieren. deutschyzno moja 17 1 liedvoll, dojczyzno moja ... millionen flüchtige wörter stehen an der grenze zu diesem gedicht die beine in den bauch sich schlange an der grenze dunkle wörter, dunkle fremde suchen nach zuflucht, wollen hier wohnen verjaschmakt, betschadort, da warten mummen von jenseits der pole es sind welche von ungarn gekommen zupełnie niedeutschałe słowa drängen sich hier in die futura ręce błagają, bebeten die grenzen deine, deutschyzno moja […].

(Kraus 2017: 62)

Nicht Menschen sind es in den Versen, die – über osteuropäische Routen gekommen – an Landesgrenzen warten, sondern – in metonymischer Geste – ihre Sprachen, ihre Worte (»słowa«), die unvertraut, vermummt und verschleiert (mit 17 Dagmara Kraus’ Vortrag des Gedichts (bei einer Lesung im Haus der Kulturen der Welt im Juni 2016) ist zu hören ab Min. 12:22 unter: https://www.youtube.com/ watch?v=06cFxY6CZSw [Stand: 1.6.2018].

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Jaschmak und Tschador, den traditionellen Schleiern und Kopftüchern muslimischer Frauen) um Einlass in das Gedicht bitten, an den Grenzen der poetischen Sprache stehen, mit Gesten der Verzweiflung eine bessere Zukunft erflehen – oder, in subtilem Doppelsinn: die Futura als (west-)deutsche Type schlechthin bedrängen. Gibt sich das ›gedicht‹ als Subjekt – wie die ›Festung Europa‹ – auch borniert und abweisend (»aber was soll ein gedicht mit den millionen/flüchtigen wörtern nur anfangen«, ebd.), so besteht für die fremden Worte doch Grund zur Hoffnung, da die Versgrenzen durchlässig sind, 18 sie in der Dichtung von Dagmara Kraus einen Ort finden und dort in eine Polyphonie eingehen, als integrale Bestandteile einer idealen Multilingualität, die kein politischer Akt herzustellen vermag – sondern nur ein poetischer. Mit Glissant bedeutet »multilinguisme« im emphatischen Sinn die »Gegenwart aller Sprachen der Welt in der Praxis der eigenen«: Mit der unvermeidlichen Verteidigung der Sprachen führen wir auch den Kampf gegen sprachliche Einebnung. Zugleich wenden wir uns auch gegen die Verwässerung des Eigenen, denn […] die Poetik der weltweiten Beziehung ist nicht eine Poetik des Magmas, des Undifferenzierten, keine neutrale Poetik. Damit eine Beziehung hergestellt wird, sind zwei oder mehr Identitäten, also eigenständige Gebilde notwendig, die bereit sind, sich im Austausch zu verändern. […] Aber indem man innerhalb der eigenen Sprache neue Formen des Sprechens, eine neue Ausdrucksweise entwickelt, verhilft man sich ebenfalls zu einer Ausrichtung auf die Chaos-Welt, denn so stellt sich der Bezug zwischen allen denkbaren Sprachen der Welt her. (Glissant 22013b: 32)

Dagmara Kraus entwickelt diese neue Ausdrucksweise – mit großem Respekt vor den Schönheiten und Skurrilitäten der Einzelsprachen –, indem sie in ihrer Lyrik immer aufs Neue Prozesse der Sprachaneignung vorführt. So entsteht eine multi- und translinguale Lyrik, die die Begrenzungen der Nationalsprachen überschreitet und die – auch wenn sie sich tief in die Sprachschichten Europas hineinbohrt oder luftige experimentelle Höhen erreicht – doch mit beiden (oder mit drei) Beinen auf dem Boden des Kontinents Europa steht, das Ohr am vielstimmigen Klangkörper seiner Sprachen: Grenzen also öffnen, anstatt sie zu schliessen: Mit ihrer selbstverständlichen Mehrsprachigkeit, mit ihrem stetig weitermigrierenden Vokabular, stehen Dagmara Kraus’ Gedichte nicht zuletzt auch für die Möglichkeit eines offenen Europas. Für eine weltgewandte

18 Auch im metrischen Sinne, d.h. in den markanten Enjambements des Gedichts, die Ambiguität provozieren.

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Haltung, ohne Angst vor dem Verlust von Regeln und Traditionen. Sie fordern einen mutigen Umgang mit dem, was uns fremd erscheint und sind ein Plädoyer für das Neue, das aus einer Begegnung entsteht, auf die man sich einlässt. (Bussmann/Lappert 2018: 4)

LITERATUR Bauer, Matthias (2003): Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit – Medien der Kulturpoetik. Zum Verhältnis von Kulturanthropologie, Semiotik und Medienphilosophie. In: Christoph Ernst/Petra Gropp/Karl Anton Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie. Bielefeld, S. 94-118. Białoszewski, Miron (2012): Wir Seesterne. Gedichte. polnisch und deutsch. Übers. u. hg. v. Dagmara Kraus. Leipzig. Ders. (2014): Das geheime Tagebuch. Ausgewählt und mit einer Einleitung versehen von Tadeusz Sobolewski. Aus dem Polnischen von Dagmara Kraus. Berlin. Ders. (2015): Vom Eischlupf. Nachdichtungen. Herausgegeben und aus dem Polnischen übersetzt von Dagmara Kraus. Sechs Texte in synoptischen Nachdichtungen. Leipzig. Dutli, Ralph (Hg.; 2010): Fatrasien. Absurde Poesie des Mittelalters. Göttingen. Eco, Umberto (1997): Die Suche nach der vollkommenen Sprache. München. Europäische Kommission: Ein Europa der Völker bauen. Die Europäische Union und die Kultur. Luxemburg 2002; online unter: http://nechodimnaprednasky. sk/stiahnut/prednasku/4608/466935/txt_de.pdf [Stand: 1.6.2018]. ›Fatrasie‹; online unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Fatrasie [Stand: 1.6.2018]. Forte, Frédéric (2016): Anthologie der bulgarischen Musik vol. 2. Anthologie de la musique bulgare vol. 2. Aus dem Französischen von Dagmara Kraus. Französisch-Deutsche-Ausgabe. Wiesenburg. Ders. (2017): Minutenopern. Aus dem Französischen von Alain Jadot und Dagmara Kraus. In: Schreibheft 88, S. 3-7. Glissant, Édouard (2004): Wiederholungen. In: Manfred Metzner/Michael M. Thoss (Hg.): Pierre Verger. Schwarze Götter im Exil. Fotografien. Heidelberg, S. 278-280. Ders. (22013a): Kreolisierung in der Karibik, in Nord- und Südamerika. In: Ders.: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Heidelberg, S. 7-22. Ders. (22013b): Sprachen und Ausdrucksweisen. In: Ders.: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Heidelberg, S. 23-35.

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Ders. (22013c): Die Kunst des Übersetzens. In: Ders.: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Heidelberg, S. 36-38. Harsdörffer, Georg Philipp (1651): Delitiae Mathematicae et Physicae. Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Teil. Neudruck der Ausgabe Nürnberg 1651. Hg. u. eingel. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt [Reprint 1990]. http://permutations.pleintekst.nl/harsdoerffer/denckring/denckring.cgi [Stand: 1.6.2018]. http://www.deutsches-literaturinstitut.de/files/dll/pdf/vorlesungsverzeichnisse/ KV%20WS15-16.pdf [Stand: 1.6.2018]. Hundt, Markus (2000): »Spracharbeit« im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin/New York. Jäger, Maren (2015): Die deutschsprachige Lyrik im Jahr 1995. In: Heribert Tommek/Matteo Galli/Achim Geisenhanslüke (Hg.): Wendejahr 1995. Berlin, S. 267-299. Kraus, Dagmara (2012): kummerang. gedichte. Idstein. Dies. (2014): gloomerang. Translated by Joshua Daniel Edwin. Brooklyn, NY. Dies. (2015): das vogelmot schlich mit geknickter schnute. zweiundzwanzig elfzeiler. Berlin. Dies. (2016): wehbuch (undichte prosage). Schupfart/Berlin. Dies. (2017): deutschyzno moja. In: Jahrbuch der Lyrik 2017. Hg. v. Christoph Buchwald u. Ulrike Almut Sandig. Frankfurt a.M., S. 62-64. Dies. (22017): kleine grammaturgie. Schupfart/Berlin. Dies. (2018): çatodas. In: Jahrbuch der Lyrik 2018. Hg. v. Christoph Buchwald u. Nico Bleutge. Frankfurt a.M., S. 9. Küchenmeister, Nadja (2017): Anderswo leben, anders schreiben? Der Schriftsteller ohne Ort [Feature]. Redakteur: Jörg Plath, Regie: Beatrix Ackers. DLF Kultur. [Sendetermin:] 18.06.2017, 00.05 Uhr Skript unter http://www. deutschlandfunkkultur.de/literatur-feature-vom-18-6-2017-sendungsmanuskr ipt-als-pdf.media.d9613927f000be8851bc4fcf53942d61.pdf [Stand: 1.6.2018]. Mueller, Joanna (2016): Mistyczne masthewy/Mystische musthaves (polnisch/deutsch). Gedichte. Aus dem Polnischen übertragen von Karolina Golimowska u. Dagmara Kraus. Wiesenburg. Programm »Kultur 2000« [Entscheidung 508/2000/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Februar 2000 über das Programm »Kultur

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2000«]; online unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/ ?uri=LEGISSUM:l29006 [Stand: 1.6.2018]. Programm »Kultur« (2007-2013) [Beschluss Nr. 1855/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über das Programm Kultur (2007-2013)]; online unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=LEGISSUM:l29016 [Stand: 1.6.2018]. Stachura, Edward (2013): Der Punkt überm Ypsilon. Gedichte Polnisch/Deutsch. Aus dem Polnischen von Dagmara Kraus. Wiesenburg. Staff, Harriet (2015): Using the ›Five-fold Thought-ring of the German Language‹ to Write Poems: Joshua Daniel Edwin on Translating Dagmara Kraus; online unter: https://www.poetryfoundation.org/harriet/2015/09/ using-the-five-fold-thought-ring-of-the-german-language-to-write-poemsjoshua-daniel-edwin-on-translating-dagmara-kraus [Stand: 1.6.2018]. Tomasello, Michael (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a.M. Trahms, Gisela (2012): nach vielen zunden, vielen abern. Eine Begegnung mit der Lyrikerin Dagmara Kraus und ihrem Debüt kummerang (4.7.2012); online unter: http://www.poetenladen.de/trahms-dagmara-kraus.htm [Stand: 1.6.2018]. Wolf, Uljana (2013): Meine schönste Lengevitch. Prosagedichte. Berlin.

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ABBILDUNGEN Abb. 1: Schscht, vogel heiser

Abbildung aus Kraus 2015: 4; online unter: https://www.lyrikline.org/de/gedichte/ schscht-vogel-heiser-11417#.WwR0-a35z-Y [Stand: 1.6.2018].

II. Genealogien

Grenzraum Osteuropa Inter- und transkulturelle Narrative bei Joseph Roth László V. Szabó

ABSTRACT The German writer of Jewish descent Joseph Roth regarded his homeland, Galicia, in Eastern Europe as a contact- and conflict-zone with great national and cultural variety, which he described in several writings. The paper focuses not only on his novels Hiob and Radetzkymarsch, partially set in Eastern Europe, but also on other publications, like his accounts of his journey in the Ukraine and Russia in the 1920s, by means of which his inter- and transcultural narratives can be reconstructed. The paper also deals with Roth’s concept of an EasternEuropean cultural space full of history and cultural contact, as a place of contact and coexistence, but also of conflicts between languages, cultures and nationalities. By analyzing the cultural borderspace in Roth’s fiction and journalism the transcultural perspective of his narratives will be revealed. Keywords: Border space – Multicultural space – Stereotypes – Antisemitism – Inter- and transcultural narrative – Chronotope.

1. GRENZRAUM GALIZIEN: HIOB Der Grenzraum Osteuropa ist bei Joseph Roth ein wiederkehrender Topos, zu dem er wegen seines Geburtsortes gleichsam prädestiniert war, ist er doch in einem »Schtetl« in Galizien (Brody) geboren, das noch heute mit seinen 23.000 Einwohnern alles andere als weltweit bekannt ist (es sei denn eben als Geburtsort Joseph Roths), und auch in Roths Jugendzeit (bis 1918) zur Peripherie der

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Österreich-ungarischen Monarchie gehörte. Brody war eine zunächst unbedeutende Kleinstadt, dem fiktiven Zuchnow im Hiob-Roman sehr ähnlich, die nach der Teilung Polens 1772 an das neue Kronland Galizien und damit an die Habsburgermonarchie kam, um bald darauf, nicht zuletzt dank einer dort errichteten Freihandelszone, einen beeindruckenden wirtschaftlichen Aufschwung zu erleben. Das wirtschaftliche Wachstum nahm Anfang des 19. Jahrhunderts noch zu, als Brody zu einem österreichischen Umschlagsplatz von (inter)regionaler Bedeutung für Kolonial- und auch für Schmuggelwaren wurde. Allerdings verschlechterte sich später die ökonomische Lage der Stadt dramatisch, als 1879 das Freihandelspatent aufgehoben wurde. 1 Mit den Singers in Hiob (1930) hat Joseph Roth jedenfalls ein Beispiel für eine jüdische Familie unter dürftigen wirtschaftlichen Verhältnissen geliefert, während die Billes eine Familie repräsentieren, denen es zwar (wahrscheinlich Dank der drei ausgewanderten Söhnen) relativ gesehen besser geht, wenngleich sie »nicht im Überfluss« leben (Roth 2014:85). Der Ort Zuchnow, in dem sich der erste Teil des Hiob-Romans abspielt, wird aber als Teil des russischen Reiches dargestellt, so etwa wie die Städte Radsiwilow (Radywyliw in der heutigen Ukraine) oder Podwolotschisk (ukrainisch Pidwolotschysk), die Nachbarorte, zu denen von Brody aus grenzüberschreitende Verbindungen etabliert wurden – während Brody selbst bis 1918 Teil der Habsburgermonarchie blieb. Zuchnow wird von Roth als ein interkultureller, oder, wenn man will, als polikultureller Raum 2 dargestellt, in dem mehrere Nationalitäten, teils in Konflikte geratend, als Untertanen des Zaren nebeneinander leben. Die Loyalität der Juden zum Zar bzw. zum russischen Reich im erzählten Zeitintervall des HiobRomans, nämlich in einem Zeitraum vor dem Ersten Weltkrieg (dessen Anfangsgeschehen am Ende in die Romanhandlung einfließt), wurde infolge der bitteren Erfahrungen des vorangehenden Jahrhunderts gründlich erschüttert und schlug in eine vorsichtige Zurückhaltung, einen inneren Abstand und eine wachsende Tendenz zur Emigration um. Zwar verfügten die Juden nach 1772, der Annektierung der polnischen Gebiete, zunächst über verschiedene Rechte (»Jü-

1

Zur Geschichte der Stadt Brody vgl. Adelsgruber/Cohen/Kuzmany (2011: 29-33).

2

Den Begriff ›polikultureller Raum‹ leite ich aus Moritz Csákys Definition der Polikulturalität ab: »Polikulturalität ist zugleich ein Verfahren, mit realer Vielfalt umzugehen. Das Konzept der Polikulturalität ist daher nicht mit jenem der Multikulturalität identisch, denn letzteres nimmt an, die kulturellen Differenzen und Gegensätze durch eine harmonische Kohabitation überwinden zu können.« (Csáky 2011: 3) Der ›polikulturelle Raum‹ wäre nach meinem Verständnis ein (multiethnischer) Kulturraum, der auch Konfliktsituation mit impliziert.

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disches Statut«), wie das Recht zur Niederlassung (insbesondere an der entvölkerten Schwarzmeerküste), zum Handel, zur Erziehung und Schulung (einschließlich der Hochschulen), dennoch wurden sie gleichzeitig durch verschiedene Verbote, Restriktionen und unverhältnismäßige Besteuerungen geplagt. Immerhin wurde ihre Assimilierung anfangs nicht forciert, die jüdischen Gemeinden genossen eine gewisse Autonomie, wenngleich ihr wirtschaftlicher Aufschwung ausblieb. Die Lage der Juden wurde aber unter der Herrschaft des Zaren Nikolaus I. immer prekärer, als die ›Judenfrage‹ immer mehr in den Vordergrund geriet, sehr zu Ungunsten der Juden selbst, die sich immer mehr einer christlich ideologisierten Assimilierung ausgeliefert sahen, die sich etwa in einem Schulsystem mit zunehmenden Restriktionen niederschlug (Bartal 2010: 76-77). Eine verblüffende Form ihrer Diskriminierung war ihre Einteilung in »nützliche« vs. »nutzlose« Juden (bis 1851), wobei Letztere stärker einer Zwangsrekrutierung (der Jungen zwischen 12 und 25 Jahren) unterlagen – eine ›Tradition‹, die noch in der von Roth geschilderten Zeit fortlebt. Dass sich der Sohn Mendel Singers der Rekrutierung in die russische Armee entzieht – praktisch: desertiert – und Russland nach Amerika verlässt, lässt sich nicht nur als ein Zeichen der Illoyalität gegenüber dem Zarenreich, sondern auch als Fallbespiel für die Situation und Einstellung der Juden gegenüber der russischen Staatsmacht Anfang des 20. Jahrhunderts deuten. Ihre Lage hat sich nach dem Attentat gegen Zar Alexander II. im Jahre 1881 in Sankt Petersburg, obwohl sie nichts damit zu tun hatten, außer dass sie, wie so oft in ihrer Geschichte, von den nationalistischen Kräften zum Sündenbock gemacht wurden, drastisch verschlechtert. Denn es folgten 1881-1884 in raschem Nacheinander Pogrome, brutale Übergriffe, Plünderungen, Vergewaltigungen in Städten wie Kiew, Balta oder Nischni Nowgorod, dazu diverse gesetzliche Einschränkungen, etwa bezüglich der Niederlassung oder der Einschulung (die sog. Maigesetze): Diskriminierende Maßnahmen, die die Juden teils zu mehr oder weniger passivem Widerstand, teils zu Radikalisierung (besonders der Jungen) anregten und ihre Auswanderung entschieden vorantrieben. Die Zahl der ausgewanderten Juden aus dem Zarenrussland betrug bis 1914 etwa anderthalb Millionen (Bartal 2010: 151); das wichtigste Zielland war die USA, wo auch Mendel Singers Sohn Schemarjah ein Refugium und einen identitätsprägenden locus amoenus findet: »Amerika ist nicht Rußland. Amerika ist ein Vaterland. Jeder anständige Mensch ist verpflichtet, für das Vaterland in den Krieg zu gehn. Mac ist gegangen, Sam hat nicht bleiben können. […] Der Zar ist was anderes, und Amerika ist etwas anderes!« (Roth 2014: 119) Die Familie Singer, die in einem polikulturellen Grenzraum in Ostgalizien lebt, wird als grundsätzlich apolitisch, doch gleichzeitig als ethnozentrisch ver-

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anlagt charakterisiert, mit einem Vater, der mittels Thorastunden seine Familie über Wasser hält und die hiobschen Schicksalsschläge, wie vor allem die scheinbar unheilbare Krankheit seines jüngsten Sohns Menuchim, mit hingebungsvoller Frömmigkeit und bis zuletzt unerschütterlichem Glauben erduldet. Obwohl er jede Begegnung mit der russischen Obrigkeit bzw. Staatsmacht grundsätzlich zu vermeiden sucht, beschert ihm die Beantragung der Auswanderung die unausweichliche bürokratische Schikane in der Stadt Dubno. 3 In einer Szene, die an Kafkas Schloss erinnern mag, wobei das fremde Element durch die fremde (wenn auch offizielle) Sprache, die im Imperativ Sidaj! (setz sich!) 4 ihren konzentrierten Ausdruck findet, nur noch verstärkt wird, muss Mendel die erniedrigende Arroganz einer korrupten Macht über sich ergehen lassen. Gibt es bei Kafka einen berühmten Türhüter, der dem »Mann vom Land« den Zugang zum »Gesetz« versperrt (Kafka 1993: 229), so wird hier Mendel Singer von einem Türsteher in einen Raum eingewiesen, in dem er sich an die Wand drückt, um »so flach zu werden wie die Mauer« (Roth 2014: 72), während ein arroganter Beamter, mit dem symbolischen Bild des Zaren über dem Kopf, ihn mit Fragen wie »Was willst du hier?« oder »Wer hat dir erlaubt, hier ohne weiteres einzutreten?« (Roth 2014: 73) anherrscht. In einer durchaus unwürdigen Situation muss Mendel, er, der Thoralehrer, seine Schreibunfähigkeit (»Ich kann nicht schreiben, Euer Hochwohlgeboren« [Roth 2014: 73]) bekennen – wobei sich dieses Unvermögen auf das Schreiben in russischer Sprache beziehen mag –, worauf er als »Esel« (Roth 2014: 74) apostrophiert wird und einen Schreiber zugewiesen bekommt, der seinerseits wegen des ausfallenden Trink- oder Bestechungsgeldes in Wut gerät. Am Ende wird, wie es sich für eine schwerfällige Bürokratie Osteuropas gehört, die Abwicklung von Mendels Angelegenheit vertagt. Mendel, der mit seiner einfältigen, strikt religiös geprägten Redlichkeit einen typischen, von Jahrhunderten osteuropäischer Geschichte geplagten Kleinjuden verkörpert, fühlt sich schließlich genötigt, für weitere Kosten, seine Angelegenheit dem in

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Im Unterschied zu Zuchnow ist Dubno kein fiktiver Ortsname: Die Kleinstadt, die bereits im Mittelalter viele Juden anzog, befindet sich in der heutigen Ukraine.

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Russisch sollte es eigentlich heißen: садись (sadjisj). Richter (1995: 318) spricht in Bezug auf diese Stelle von zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder geht es um einen Sprachwechsel ins Russische und dann wieder ins Jiddische, weil wohl Mendel Singer Russisch nicht versteht; oder verweist das russische Wort darauf, dass der Diskurs eigentlich auf Russisch verläuft. Letztere Variante ist, wie auch Richter annimmt, in der Tat plausibler, zumal sich Mendel auch mit anderen Russen, z.B. mit Samenschkin unterhält. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass die Dialoge im Roman latent auf Jiddisch bzw. Russisch (latenter Sprachwechsel!) stattfinden.

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bürokratischen Bestechungsmechanismen versierten Kapturak zu überlassen, den man heute wohl als Schleuser bezeichnen würde, hilft er doch den Juden (darunter auch Schemarjah) über die Grenze. Für seine Unschlüssigkeit muss Mendel allerdings noch eine stereotypisierte Schelte des russischen Kutschers Sameschkin in Kauf nehmen: »Mit einem Juden kann nur der Teufel etwas Gewisses ausmachen!« (Roth 2014: 76) Der osteuropäische Grenzraum, in dem sich der erste Teil des Romans abspielt, erscheint als ein konfliktträchtiges historisches Gebiet, das zwar einer starken Zentralmacht untersteht, dennoch von Stereotypen und interethnischen Konflikten durchdrungen ist. So wie sie im Roman beschrieben, oder vielmehr nur stellenweise angedeutet werden, scheinen diese Konflikte eher latent zu sein, wobei sie in manchen Momenten greifbar werden. Es lag offenbar nicht in Roths Absicht, eine breite historische Folie zu entfalten und dabei blutige Konflikte in Erinnerung zu rufen, um gewisse Konfliktsituationen geschichtlich zu erklären, sondern er begnügte sich vielmehr mit einer Art Querschnitt durch die ostgalizische Gesellschaft um 1900 mit einer armen jüdischen Familie im Mittelpunkt. Auch wollte er interethnische Konflikte nicht unbedingt in den Vordergrund stellen, sondern eher den Alltag eines jüdischen Familienlebens in der ostgalizischen Region mit den typischen Merkmalen einer konservativen und bescheidenen Lebensführung unter die Lupe nehmen. In diesen scheinbar normalen Alltag brechen aber die einzelnen Hiobsschläge sukzessive ein, zunächst die Botschaft über die unheilbare Krankheit Menuchims, dann die Beziehung der Tochter Mirjam zu einem Kosaken. Letztere wäre an sich noch kein Grund für Konflikt oder Verzweiflung, sie wird von den Eltern dennoch als Hiobsbotschaft empfunden. So erschrickt die Mutter schon beim Hören des Wortes »Kosake«: »Vor dem Wort ›Kosaken‹, das sie [Mirjam] gesagt hatte, war Deborah erschrocken. Es war, als ob erst der Klang ihr die Furchtbarkeit des Tatbestands bewußt gemacht hätte.« (Roth 2014: 67) Doch auch der sonst zurückhaltende Mendel betrachtet die Liebeleien seiner Tochter mit Abneigung, während die Tochter selbst von Amerika als einem Ort frei von religiösen, moralischen oder interethnischen Barrieren träumt. Woher letztere herrühren, wird allerdings vom Erzähler nicht expliziert, Roth verzichtete selbst auf die schlichte Erwähnung jener Pogrome gegen die Juden, deren sich Kosaken wie Russen mehrfach schuldig gemacht hatten (selbst das Wort Pogrom ist russischer Herkunft!). Stattdessen lässt sich in der Geschichte Mirjams mit dem Kosaken der Keim eines transkulturellen Narrativs entdecken, insofern darin die Hoffnung auf die Überbrückung nationaler und ethnischer Grenzen aufschimmert, etwa im Sinne jenes Satzes von Joseph Roth von 1924: »Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein, nationale und sprachli-

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che Vielfältigkeit ist es immer.« (Roth 2015: 18) Ein transkulturelles Narrativ würde bedeuten, dass nicht etwa Konflikte zwischen Kulturen und Nationen oder Ethnien im Fokus des Erzählens stehen, sondern vielmehr ihr friedliches Zusammenleben in einer ethnisch-national vielfältigen Gesellschaft. Wird im ersten Teil des Romans, im Kulturraum Ostgalizien, das transkulturelle Narrativ letztendlich von den interethnischen Konflikten sozusagen überschrieben, so wird er im zweiten Teil, im Erzähl- und Handlungsraum New York wieder aufgenommen. Zumindest was Schemarjah betrifft, der in Amerika den Namen Sam annimmt, und der im Roman als Musterbeispiel für eine gelungene, um nicht zu sagen: perfekte Assimilation steht, während sein Vater praktisch aus einem (inter)kulturellen Konfliktraum in einen anderen gerät. Im Falle Mendel Singers bleibt der Kulturraum New York ebenso ein Konfliktraum wie der Grenzraum Ostgalizien; der Grund dafür liegt zum einen in der religiös-konservativen Weltsicht, die sich der Außenwelt schwer öffnen kann, aber auch in einer psychischen Veranlagung, die ihn selbst von seiner Frau unterscheidet. Dieses SichEinschließen ins eigene Traditionsbewusstsein, das jedes Lebensereignis sozusagen der Deutungshoheit der biblischen Hiobsgeschichte unterordnet, erreicht aber einen Wendepunkt nach dem Verlust der zwei Familienmitglieder, und entlädt sich in eine verzweifelte Klagerede, in der Gott als »grausamer Isprawnik« bezeichnet wird: Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt seinen Zorn. Er ist ein großer, grausamer Isprawnik. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Willst du ihn bestechen, so macht er dir einen Prozeß. Und gehst du redlich mit ihm um, so lauert er auf die Bestechung. In ganz Rußland gibt es keinen böseren Isprawnik! (Roth 2014: 134)

Das Wort Isprawnik, das im russischen einen Polizeichef bezeichnet, das aber hier in einem amerikanischen Kontext neben englischen Sprachelementen auftaucht, erscheint zunächst einmal als lexikalische Reminiszenz, als sprachliches Überbleibsel eines physisch zwar verlassenen, aber bewusstseinsmäßig noch vorhandenen und nachwirkenden Kulturraums, als Zeichen einer – sei es politischen, sei es religiösen – Macht, welche gleichzeitig eine Projektionsfläche einer gequälten und mit seinen Leiden nicht mehr zurechtkommenden Psyche darstellt. Die Verzweiflung endet aber in keiner Katastrophe, da mit der wundersamen – obzwar vom Rabbi anfangs prophezeiten – Heilung Menuchims und seiner Ankunft in Amerika eine Versöhnung bzw. Annäherung zwischen den zwei Kulturräumen erfolgt.

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2. RADETZKYMARSCH Der Grenzraum Galizien, diesmal als Teil der österreich-ungarischen Monarchie, wird auch in Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932) als ein Konfliktraum am Vorabend des Ersten Weltkrieges präsentiert. Zeit und Raum fallen hier im Sinne eines Chronotopos zusammen, insofern der Raum, die galizische Kleinstadt, in der sich der Roman teilweise abspielt, mit der erzählten Zeit, die Monate vor dem Ausbruch des Krieges bzw. der Auflösung der Monarchie verbunden ist. Darüber hinaus erhalten Zeit und Raum eine (inter)kulturelle Dimension, insofern die zunächst als (in doppeltem Sinne) uniform erscheinende K.u.K.Militärwelt sich plötzlich, beim Bekanntwerden des Attentats gegen den Thronfolger, als ein Konfliktkonglomerat aus unterschiedlichen nationalen Standpunkten offenbart. Wird das Leben der Soldaten der kaiserlichen Armee an einem verschlagenen Grenzort der Monarchie, zunächst hauptsächlich durch eine Art betäubenden Hedonismus bestimmt – Ausschweifungen, Feiern, Trinksucht, Unterhaltungssucht, Spielsucht und daraus resultierenden Schuldenanhäufungen –, der die berühmte fröhliche Apokalypse der letzten Jahre der Monarchie in Erinnerung ruft, so treten mit dem plötzlichen geschichtlichen Ereignis, das bekanntlich den Ersten Weltkrieg zu Folge hatte, bis dahin eher latente nationale Konflikte zum Vorschein. Vor diesem Wendepunkt scheint aber die Monarchie, nicht zuletzt auch ihre Vergangenheit, eine transkulturelle Sphäre darzustellen, in der nationale Unterschiede und Interessen eine eher geringe Rolle spielen. Dass auch in Radetzkymarsch Juden vorkommen, verwundert angesichts von Roths eigener Herkunft allerdings nicht. Doktor Demant, der Regimentsarzt jüdischer, und zwar galizischer Herkunft und einziger Freund des jungen Trotta in seiner seelischen Einsamkeit an der russischen Grenze, wird aber Opfer seiner Eifersucht und der Charakterlosigkeit mancher Soldaten. Demant wird als ein assimilierter Jude dargestellt, der sich zudem mit der makellosen Kaisertreue seines Vaters, eines Postoffizianten, rühmen kann, beschrieben als »ein alter, großer Jude mit silbernem Bart« (Roth 2008: 108). Antisemitismus im Radetzkymarsch ist nicht vordergründig, wenn auch ab und zu manifest, 5 so in den Vorstellungen des alten Bezirksmanns Trotta, der meint, die Juden in den Randgebieten der Monarchie, fern von einem zivilisierten Österreich, würden »grausam gegen fremdes Hab und Gut« wüten – wobei die Absurdität dieser Stereotype noch dadurch prägnanter wird, dass sie verbunden wird mit einer anderen, nach der die ruthenischen Bauern »heidnischen Göttern« ihre Opfer bringen (Roth 2008: 185). Stereotype

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Zu Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus vgl. Ochse (1999).

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entstehen also, scheint Roth zu sagen, von der Ferne, d.h. mangels unmittelbarer erfahrungsmäßiger Kenntnisse. Nähe, bzw. die Möglichkeit eines persönlichen Kontakts, kann sogar zu engen Beziehungen führen, wie eben zwischen dem jungen Leutnant Trotta und dem Doktor Demant. Dieser erliegt seinerseits keiner antisemitischen Hetzkampagne, sondern vielmehr seiner Schwäche für seine Frau und wohl dem Ehrgeiz einer Ehrlichkeit alten Schlags. Die Soldaten selbst, wie betrunken sie auch sein mögen, lassen sich an keiner Stelle zu antisemitischen Bemerkungen hinreißen – wenn sie den Doktor ins Visier nehmen, so ist es wiederum wegen seiner schönen Frau. Anders steht es hingegen mit dem polnischen Grafen Chojnicki, einer der kuriosesten Figuren des Romans, der sich einerseits als ein großzügiger Aristokrat hervortut, anderseits als ein Koryphäe des Untergangs aller Nationen des Habsburgerreiches als Dekadenzerscheinungen katexochen abstempelt. So meint er unter anderem: »Alle Völker werden ihre dreckigen, kleinen Staaten errichten, und sogar die Juden werden einen König in Palästina ausrufen.« (Roth 2008: 164) Der Anflug von Antisemitismus im letzten Satz wird aber relativiert durch den breiteren Kontext, insofern der Graf praktisch alle reichskonstitutiven Nationen und Minderheiten an den Pranger stellt, und zwar mit einer dermaßen weit gegriffenen und maliziösen Übertreibung, dass sich das Vitriol seiner Aussagen letztendlich im Komischen auflöst: Die deutschen Österreicher waren Walzertänzer und Heurigensänger, die Ungarn stanken, die Tschechen waren geborene Stiefelputzer, die Ruthenen verkappte und verräterische Russen, die Kroaten und Slowenen, die er ›Krowoten und Schlawiner‹ nannte, Bürstenbinder und Maronibrater, und die Polen, denen er ja selbst angehörte, Courmacher, Friseure und Modephotographen. […] Die Pfaffen gehn schon mit dem Volk, man predigt tschechisch in den Kirchen. Im Burgtheater spielt man jüdische Saustücke, und jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron. (Roth 2008: 164)

Dadurch, dass solche ins Komische rückenden Stereotypisierungen den einzelnen Figuren in den Mund gegeben werden, dienen sie zum einen ihrer Selbstcharakterisierung, zum anderen der soziokulturellen Diagnose einer im Untergang begriffenen Gesellschaft. Der Erzähler kann einzelne Stereotype Revue passieren lassen, ohne sich selbst einer Stereotypisierung schuldig zu machen. Anders als bei den Figurenreden verhält es sich hingegen mit den beschreibenden Textpassagen, in denen der Erzähler gleichsam selbst das Wort ergreift, und sich dabei eine ethnische Typisierung, wenn nicht gar Stereotypisierung gönnt. So liest man etwa über die jüdischen Händler im Grenzgebiet Galizien:

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Eine Laune der Natur, vielleicht das geheimnisvolle Gesetz einer unbekannten Abstammung von dem legendären Volk der Chasaren machte, daß viele unter den Grenzjuden rothaarig waren. Auf ihren Köpfen loderte das Haar. Ihre Bärte waren wie Brände. Auf den Rücken ihrer hurtigen Hände starrten rote und harte Borsten wie winzige Spieße. Und in ihren Ohren wucherte rötliche, zarte Wolle wie der Dunst von den roten Feuern, die im Innern ihrer Köpfe glühen mochten. (Roth 2008: 155)

Da es sich hier eher um eine äußere Beschreibung der »Grenzjuden« handelt, sind diese Äußerungen wertneutral, ebenso wie die Erwähnung der jüdischen Arbeiter in der Borstenfabrik, die, aus den niederen Schichten der Gesellschaft stammend, kein Handwerk gelernt haben und nicht einmal rechnen oder handeln können. Über andere Juden heißt es, sie wurden verhaftet, wenn man sie »beim Schmuggel von Tabak ertappte« (Roth 2008: 213). Das (inter)kulturelle Narrativ des Romans bezieht sich also gleichermaßen auf die Figurenrede und die Kommentare des (auktorialen) Erzählers, wobei die zwei Erzählmodi auch Überlappungen zeigen können, und zwar an den Stellen, wo der Erzähler seine neutrale Erzählhaltung aufgibt. Das sieht man etwa bei der Charakterisierung der ungarischen Offiziere und ihrer Haltung zur Ermordung des Thronfolgers. Da die Nachricht aus Bosnien mitten in ein großangelegtes Fest einbricht, benutzt der Erzähler die Möglichkeit einer Nebeneinanderstellung bzw. Kontrastierung der einzelnen Nationen der Monarchie, indem er insbesondere die ungarischen Offiziere aufs Korn nimmt. So wird beispielweise der Baron Nagy Jenö als Repräsentant eines sehr nationalbewussten Ungarn karikiert, der zwar aus einer jüdischen Familie in Ödenburg (Sopron) abstammt, dennoch »die Magyaren für eine der adligsten Rassen der Monarchie und der Welt« hält und danach strebt, »die semitische, der er entstammte, zu vergessen, indem er alle Fehler der ungarischen Gentry annahm.« (Roth 2008: 361) Der Umstand, dass im damaligen Ungarn Barontitel relativ leicht zu beschaffen waren, wird von Roth mehrmals im Roman angedeutet, mal in einem neutralen Kontext, wie im Dialog des alten Knopfmachers mit seinem Schwiegersohn, mal in einem beißenden Ton, wie in der Tirade des Grafen Chojnicki (»jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron« [(Roth 2008: 165]), und auch der Husar Nagy Jenö hat von seinem Vater einen gekauften Barontitel geerbt. Zur Kritik der ungarischen Missstände gesellen sich aber auch Seitenhiebe auf den ungarischen Nationalismus und die mangelnde Empathie der Ungarn für die Zukunft der Habsburger, ja ihre Schadenfreude beim Hören von Franz Ferdinands Tod:

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Es war ihm gelungen, alles, was der nationalen Politik der Ungarn günstig oder abträglich erschien, zu lieben beziehungsweise zu hassen. Er hatte sein Herz angespornt, den Thronfolger der Monarchie zu hassen, weil es allgemein hieß, er sei den slawischen Völkern günstig gesinnt und den Ungarn böse. Der Baron Nagy war nicht eigens zu einem Fest an der verlorenen Grenze aufgebrochen, um es sich hier durch einen Zwischenfall stören zu lassen. Er hielt es überhaupt für einen Verrat an der magyarischen Nation, wenn sich einer ihrer Angehörigen die Gelegenheit, einen Csardas zu tanzen, zu dem er aus Rassegründen verpflichtet war, durch ein Gerücht verderben ließ. Er klemmte das Monokel fester, wie immer, wenn er national zu fühlen hatte, ähnlich wie ein Greis seinen Stock stärker faßt, wenn er eine Wanderung beginnt, und sagte in dem Deutsch der Ungarn, das wie eine Art weinerlichen Buchstabierens klang: ›Herr von Babenhausen hat sehr recht! Sehr recht! Wann der Herr Thronfolger wirklich ermordet ist, so gibt es noch andere Thronfolger!‹ (Roth 2008: 361)

Die Ungarn werden im Roman als eine eigensinnige, nur auf das eigene politische Interesse bedachte Nation 6 abgeschottet von den anderen Nationen der Monarchie, nicht zuletzt durch ihre eigentümliche Sprache, die von keinem verstanden wird bis auf den slowenischen Rittmeister Jelecich. Als Vertreter der Südslawen im Roman fühlt sich dieser als Repräsentant einer slowenischen Familie, die dem Kaiser seit hundertfünfzig Jahren die Treue hielt, befugt und sogar angespornt, Kaiser und Monarchie in Schutz zu nehmen. Dennoch lässt Roth keinen Zweifel daran, dass die Treue der Slawen zur Monarchie inzwischen brüchig geworden ist, insofern die Söhne des Jelecich bereits zu Adepten der slawischen Selbstständigkeit geworden sind. Die innere, nationale Zerrissenheit der Österreich-ungarischen Monarchie um 1916 als ein entscheidender Faktor ihrer Aufsplitterung, ist ein historischer Tatbestand, der von Roth in einem polikulturellen Konfliktraum gezeigt wird. Dieser ist im vorliegenden Fall Galizien, eine Peripherie der Monarchie, wo noch weitere Konflikte eskalieren. Es kommt zu Aufständen, blutigen Zwischenfällen, zu Desertion, Bespitzelung, voreiligen Gerichtsurteilen, einem allgemeinen Wirrwarr in den Dörfern und Lokalitäten, schließlich zum Ausbruch des Krieges. Wenn Leutnant Trotta mitten im Kampf auf eine banale wie groteske Weise sein Leben verliert, so bekommt der Ruf der ukrainischen Bauern: »Gelobt sei Jesus Christus!« (Roth 2008: 377) eine durchaus zweideutige Bedeutung: Der Ruf ist nicht nur ein Manifest des Glaubens, sondern auch Ausdruck der Freude über den Tod eines Feindes, der gestern noch ein Nachbar war – ebenso, wie auch Onufrij seinem Herrn Trotta bis zuletzt dient, bevor er ihn verlässt, um unter die seinen zurückzukehren. Jener kulturelle

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Zu Roths Ungarnbild in Roths Radetzkymarsch siehe auch Kerekes 2008: 196-204.

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Raum, der vor dem Attentat in Sarajewo noch der Ort eines friedlichen Zusammenlebens der Ethnien und Nationen war, transformiert sich in einen nationalen Konfliktraum, wobei man aus der Geschichte weiß, dass nationale Konflikte nicht nur das Resultat von politischen Konflikten, sondern durchaus ihre Auslöser sein können. Stellt sich eine Nation über und/oder gegen die andere, so kann sich ein bis dahin friedlicher Kulturraum schnell in einen Konfliktraum, häufig mit gegenseitigen Schuldzuweisungen, wandeln.

3. REISEBERICHTE AUS DER SOWJETUNION Nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution in Russland schienen nationale Konflikte im Grenzraum Osteuropa, oder zumindest in der Sowjetunion, zum Ruhepunkt gelangt zu sein – das ist zumindest der Eindruck, den Joseph Roth in seinen Reiseberichten aus der Ukraine, aus Russland bzw. dem Kaukasus in den zwanziger Jahren vermittelt. Die Artikel, die Roth während seiner Reise in die Sowjetunion 1926-1927 an deutsche Zeitungen (in Frankfurt und Berlin) schickte, entstanden zeitlich vor den zwei oben behandelten Romanen, doch während diese in der geschichtlichen Zeit einige Jahre zurückgriffen, wird in den Reisereportagen die unmittelbare Gegenwart der Sowjetunion beschrieben. Diese kleinen Texte, die gleichzeitig einen versierten Stilisten verraten, stellen die Impressionen einer langen Reise dar durch die Ukraine und durch Russland, von Sankt Petersburg nach Moskau und dann auf der Wolga hinunter nach Kazan und Astrachan. Sie bieten einen Querschnitt Sowjetrusslands in einer Zeit des etablierten Kommunismus, wobei die Zeichen der alten, zarisch-bürgerlichen Welt noch überall, von den Straßen, durch Kinos bis hin zum Schiff, auf dem der Berichterstatter reist, vorhanden sind. Roth, dem das frühere Russland bereits bekannt war, befand sich in der Lage, Altes und Neues in Russland zu vergleichen, soziale und politische Veränderungen mit der Präzision des scharfäugigen Beobachters zu registrieren. Dabei überschreitet er räumliche, zeitliche und sogar sprachliche Grenzen, skizziert soziale und kulturelle Erscheinungsphänomene, die in dieser Form wohl nirgends anders anzutreffen waren. Stets bewahrt er aber einen sachlichen Abstand, ohne Seitenhiebe auf einzelne Ethnien oder Nationen, auf soziale oder politische Zustände, indem er versucht, einen Gesamteindruck über die Sowjetgesellschaft, ihre ethnische Vielfalt und politische Lage zu übermitteln. Kein Detail entschlüpft ihm bei der Beschreibung der sozialen Unterschiede oder Veränderungen, der nationalen oder kulturellen Ausdrucksformen einer stark politisierten und ideologisierten Sowjetgesellschaft, in der aber die alte, bürgerliche Welt noch nicht ganz verschwand, wie Jahrzehnte später,

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sondern in veränderter Form noch fortlebte. Dass der »Graschdanin« (гражданин, ›Bürger‹) und der Gospodin (господин, ›Herr‹) nach wie vor tief verankert im Bewusstsein der Russen existierten, wird von Roth ebenso angedeutet und mit nicht wenig Humor thematisiert, wie die soziale Armut oder das wachsende Nationalgefühl der einzelnen Völker der Sowjetunion. Roth stellt einen inter- bzw. transkulturellen Raum dar, in dem einzelne Völker, Ethnien oder Nationen in einer bunten Vielfalt friedlich koexistieren, wobei sich die kommunistische Ideologie als eine verbindende Kraft, wenn man so will: als transkulturelle Dimension der Sowjetgesellschaft, aber gleichzeitig auch des Erzählens kundtut. Dass Nationalgefühl oder Nationalismus im Sowjetrussland der zwanziger Jahre keinen Antagonismus zum Kommunismus bildeten, sondern von diesem vielmehr gefördert wurden, ist wohl ein Kuriosum in der Geschichte dieses Landes, vor allem aus der Perspektive der späteren Entwicklung des Kommunismus in Süd-Osteuropa, wo das Verdrängen des Nationalgefühls oder der nationalen Konflikte zur Staatspolitik wurde. Mag sein, dass Roths Reiseberichte, trotz ihres Strebens nach Sachlichkeit, einer gewissen Idealisierung nicht entbehren, doch scheint die dargestellte Sowjetgesellschaft eine Dimension des friedlichen ethnisch-nationalen Zusammenlebens zu beschreiben, die aus der Perspektive einer späteren Zeit wie der heutigen fast utopisch klingt. Abstrahiert man jedoch von der Ideologie des Kommunismus, so können Roths transkulturelle Narrative bis heute eine gewisse Plausibilität oder Mustergültigkeit besitzen. Denn Staaten, Nationen und Ethnien versuchen immer wieder – und das sieht man heute ziemlich klar – sich selbst zu definieren, nicht zuletzt in ihrem Verhältnis zu den anderen. Kulturen ohne Grenzräume hat es nie gegeben, und auch eine potenzielle Konfliktträchtigkeit plurikultureller Räume wäre schwer zu leugnen. Es scheint deshalb mehr als nützlich, auf Texte wie die obigen einen Blick zu werfen, um zum einen Konflikte der Vergangenheit ins Auge zu fassen, und zum anderen Muster für jene transkulturellen Räume und Diskurse vorzufinden, die ein friedliches Zusammenleben erst ermöglichen.

LITERATUR Adelsgruber Paulus/Cohen, Laurie R./Kuzmany, Börries (2011): Getrennt und doch verbunden: Grenzstädte zwischen Österreich und Russland von 17721918. Wien/Köln/Weimar. Bartal, Israel (2010): Geschichte der Juden im östlichen Europa 1772-1881. Göttingen.

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Csáky, Moritz (2011): Kultur als Kommunikationsraum – am Beispiel Zentraleuropa. In: Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik 1, H. 1, S. 3-24. Kafka, Franz (1993): Der Proceß. Frankfurt a.M. Kerekes, Gábor (2008): Prag liegt zwischen Galizien und Wien. Das Ungarnbild in der österreichischen Literatur 1890-1945. Budapest. Ochse, Katharina (1999): Joseph Roths Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus. Würzburg. Richter, Mathias (1995): Die Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750-1933). Studien zu Form und Fiktion. Göttingen. Roth, Joseph (2008): Radetzkymarsch. München. Roth, Joseph (2014): Hiob. Roman eines einfachen Menschen. Frankfurt a.M. Roth, Joseph (2015): Reisen in die Ukraine und nach Russland. Hg. v. Jan Bürger. München.

Transit des Europäischen Poetik und Politik bei Anna Seghers Till Breyer und Philipp Weber

ABSTRACT This article focuses on a historic shift that leads from the romantic, national, and economic imagery of ›Europe‹ to a post-national concept of ›the European‹. Anna Seghers’ novel Transit, which was written between 1940 and 1943, reflects this conceptual shift because it focuses on the poetic and political consequences of a general breakdown of borders, institutions, and state citizenship during World War II. While the novel does not foreground an explicit concept of Europe, the dispersion of European societies is inscribed in the nameless figures, the fleeting encounters and vanishing spaces of narration. Cut off from any emphatic ›European spirit‹ – in fact rather driven by its spectres – Seghers’ narrative re-conceptualizes the fragments of time and space as an asylum of political resistance, hinting at a literary legacy from Robert Musil to Volker Braun that thwarts the imagery of the nation state. Keywords: Nation state – Refugees – Realism – Borders – World War II – Europe

VERSPRENGTES EUROPA Die Beschwörung eines europäischen Geistes gehört zum Erbe des romantischen Imaginären. In einem so diffusen wie ubiquitär verbürgten ›Geist‹ sollten die divergierenden politischen Bestrebungen, die Bildung separater Nationen und ihre unterschiedlichen Entwicklungstendenzen zusammenfinden. Für Novalis war das

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Ideal dieser geistigen Einheit das Christentum des Mittelalters, in dem eine das Imperium umspannende Kultur die Vergleichbarkeit von Wertorientierungen und die Leichtigkeit kontinuierlicher Machtausübung garantiert habe: Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden [...]. Keiner wird dann mehr protestiren gegen christlichen und weltlichen Zwang, denn das Wesen der Kirche wird ächte Freiheit seyn, und alle nöthigen Reformen werden unter der Leitung derselben, als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden (Novalis 1968: 524).

Dieses ironisch gebrochene und zugleich konservativ-robuste Bild eines gemeinsamen ›Geistes‹ wird spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an Verwurzelungsphantasmen geknüpft, die den aufgeklärten und kosmopolitischen Europäer vertikal zwischen dem Mutterboden der Nation und der freien Sicht im Medium des europäischen Geistes aufspannt. Dieses Schema gilt etwa für Georg Simmels während des Ersten Weltkriegs verfassten Essay über das Verhältnis zwischen den Vaterländern und der einstweilen erschütterten »Idee Europa« (Simmel 2000: 112-116). Der europäische Geist wird bei Simmel deutschnational unterfüttert und dergestalt das Verhältnis von Nation und Nationengemeinschaft zum aussichtsreichen Naturprozess verklärt: Das kriegshalber isolierte Deutsche Reich werde das »immer echter gewordene Deutschtum« hervorbringen, das »an einem fernen Tage der Idee Europa ein neues Leben [...] geben und sie an ihre Unsterblichkeit erinnern wird« (ebd.: 116). Im selben Jahr 1916 beschreibt Stefan Zweig Europa als einen ›Bau‹ oder ›Turm‹, an dem die einzelnen Völker gleichsam arbeitsteilig mitwirken. Dem alttestamentli-chen Mythos vom Turmbau zu Babel entsprechend erhebt sich ein turmförmiger europäischer Geist, der den Zwist der Völker zu überwinden verspricht: »Aus dem feinsten unzerstörbarsten Stoff des irdischen Wesens, aus Geist und Erfahrung, aus den sublimsten seelischen Substanzen war er erbaut, der neue Turm« (Zweig 1990a: 71). Wie stark sich dieser Geistbegriff Europas verselbständigen konnte, zeigt ein späterer, 1932 veröffentlichter Essay Zweigs, der das erprobte Bild nochmals aufnimmt und konstatiert, »daß wir europäischen Nationen berufen sind, die Führung der Welt zu bewahren und zu behaupten – freilich nur, wenn wir Kraft und Stärke unserer Rassen und Klassen nicht in unfruchtbarem Streit vermindern und zerstören, sondern sie binden durch leidenschaftliche Gemeinschaft« (Zweig 1990b: 203). Die Konstruktion Europas von den Grenzen des Volks und der Nation her harmoniert mit dem Bild eines sich erhebenden, phallisch codierten Geistes, der die verschiedenen sozialen Glieder organisch aufeinander bezieht, ohne sie anzutasten.

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Mit dem sich radikalisierenden Nationalismus am Beginn des 20. Jahrhunderts kippt die Idee eines ›geistigen‹ Europa ins Gespenstische. Rückblickend aus dem Jahr 1958 wird Hannah Arendt ihr Unbehagen formulieren: »Ich habe seit Jahren einen Verdacht gegen das Europa-Ideal, nämlich daß es uns in einen europäischen Nationalismus hineinführen kann, und zwar gerade dann, wenn man Europa als einen geistigen, so oder anders fest definierten Begriff gegen Amerika einerseits und Rußland andererseits abgrenzt« (Arendt 2008). Einer der Ersten, der diesen subkutanen Prozess registriert, ist Robert Musil: »Die Populärphilosophie und die Tagesdiskussion«, so schreibt Musil 1922 im Rückblick auf die Vorkriegszeit, »begnügten sich entweder mit den liberalen Fetzen eines ungegründeten Vernunft- und Fortschrittsglaubens oder sie erfanden die bekannten Fetische der Epoche, der Nation, der Rasse, des Katholizismus«, welche allesamt dem »Bedürfnis nach einem Halt, nach gigantischen Knochengespenstern« (Musil 1978: 1087) dienen. Mit der Erfahrung des Krieges, so ließe sich diese Entwicklung paraphrasieren, verkehrt sich das Phantasma des europäischen Geistes in seinen alptraumhaften, gespenstischen Gegenpart – und wird Wirklichkeit. Die konzeptuellen Anforderungen, die sich Zweigs Rhetorik ebenso einprägen wie Simmels Essay, markieren auch den historischen Abstand, der ihre Europakonzeption von einem post-nationalistischen Denken trennen muss: Europa, so vermutet Jacques Derrida kurz nach der Wende 1989, könne nicht das alte Kap, das phallische Kap sein, das letztlich zur Reproduktion des Kapitals zurückführe. Es müsse ein anderes Kap sein, ein mit sich selbst nicht-identischer Punkt, der nicht fixe Koordinaten, sondern die Figur einer kulturellen NichtIdentität in Aussicht stellt (Derrida 1992). Die folgenden Überlegungen nehmen einen literarischen Schauplatz jenes Übergangs in den Blick, der von den romantischen, nationalen und nicht zuletzt nationalökonomischen Figuren eines europäischen Geistes zu dem Feld einer post-nationalen Problematisierung des Europäischen führt, in der sich kritische Positionen heute zu verorten haben. Dieser Übergang hängt mit der politischen und materiellen ›Transformation‹, mit den Verwüstungen und der Gewalt zusammen, die der Faschismus in Europa entfesselt. Anna Seghers’ Roman Transit, der zwischen 1940 und 1943 und teilweise während der Flucht der Autorin von Frankreich nach Mexiko entstand (Walter 1985: 29-45), bildet eine dichte literarische Reflexionsfläche, die die politische Erschütterung Europas als Erschütterung und Infragestellung des Erzählens selbst verzeichnet. Ohne dass ein Europabegriff explizit thematisiert würde, schreibt sich die Versprengung der europäischen Gesellschaften in die namenlosen Figuren, die flüchtigen Begegnungen und verschwindenden Räume der Narration ein. Realhistorisch abgeschnitten von einem auf Nationalstaaten errichteten europäischen Geist und ge-

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trieben durch seine Gespenster als dessen unheimliche und schreckliche Kehrseite, treibt Seghers’ Erzählung auf ein anderes ›Kap‹ – Mexiko – zu, um es dann doch nicht anzusteuern, sondern die verlorenen Ränder Europas als Asyle des Widerstands und eines möglichen Neubeginns zu rekonzeptualisieren. Europa ist dabei nicht nur latenter Gegenstand und unscharfer Hintergrund der Erzählung. Es sind auch europäische Darstellungstraditionen, die um das Jahr 1940 an eine prekäre Grenze geraten. Während Georg Lukács in seinen Briefen an Seghers für eine strikte Kritik nicht-realistischer Kunst eintritt, plädiert Seghers für die vorsichtige Offenheit gegenüber modernistischen Schreibweisen, 1 richteten sich diese doch in der Gegenwart zwangsläufig auf eine weitgehend unkenntlich gewordene Realität, könnten also auch nicht an allgemeinen Kriterien des Realistischen gemessen werden. Transit stellt deshalb selbst ein Stück weit, wie sich im Folgenden zeigen soll, das (literarische) ›Asyl‹ einer Poetik der Moderne dar, die um 1940 zwischen Blut-und-Boden-Literatur auf der einen und sozialistischem Realismus auf der anderen Seite ihre Legitimation, ihr ›Visum‹, zu verlieren droht.

POETIK DES CAFARDS Zu den Besonderheiten des Romans Transit gehört die Exposition seiner Erzählinstanz. Wenn die Leser/innen von der Geschichte einer dramatischen Flucht durch Frankreich vor den Nazis eine hastige, atemlose und gehetzte Erzählstimme erwarten, werden sie zunächst enttäuscht. Denn der Erzähler seiner eigenen Geschichte, der im Roman auftritt, erscheint weniger eilig, als dass er sich in schmerzlicher Weise im Gedulden geübt hat. Gleich an einer der ersten Stationen der Handlung wird eine poetologische Reflexion des Erzählers auf das Erzählen aufgeboten, die eine magisch-romantische Aura allerdings nur aufscheinen lässt, um sie vor dem Horizont der geschichtlichen Situation zu zertrümmern.

1

In Erzählungen wie Der Aufstand der Fischer von St. Barbara hatte Seghers avantgardistische Verfahren wie die Montage verwendet und sich dabei implizit auf Döblin – den sie in ihren Briefen an Lukács in Schutz nimmt – bezogen. Auch Doerte Bischoff akzentuiert die modernistischen Verfahren des Romans Transit, »wodurch eine Art Kaleidoskop von Stimmen und Perspektiven entsteht, die sich nicht zu einem kohärenten Narrativ verdichten, das der Fluchterfahrung etwa einen übergeordneten Sinn beilegte« (Bischoff 2018, 5).

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Die Rahmenhandlung des Romans setzt an einem typischen touristischen Ort des 20. Jahrhunderts – der Pizzeria – ein, an dem der namenlose Ich-Erzähler die/dem höflich mit ›Sie‹ angesprochenen Leser/in seine Geschichte berichtet. In dieser Binnenerzählung kommt der Erzähler in den Besitz eines Handkoffers und besichtigt im von den Nazis besetzten Paris den Place de la Concorde. Ihn überfällt hierbei jedoch keinerlei sozial eingeübte Begeisterung oder Erstaunen, stattdessen empfindet er »nichts als Langeweile, eine gottlose Leere«, wofür die Franzosen, so der Erzähler, das Wort »Cafard« haben (Seghers 1963: 17). Der Modus des Cafards sabotiert das unmittelbare Erleben, er setzt einen Anderen an die Stelle des Ich ein und blockiert das eigene Genießen: Mein Cafard hatte sich schon gestern abend geregt, als ich die Wirtin nicht mehr hübsch fand. Jetzt verschlang mich der Cafard mit Leib und Seele. Zuweilen gluckst er in einer großen Pfütze, weil es inwendig noch ein Loch gibt, eine etwas tiefere Pfütze. So gluckste in mir der Cafard. (Ebd.: 17f.)

Der Cafard ist der Modus, der eine Differenz in die unmittelbare Erfahrung einträgt und die Inhalte des Erlebten gleichsam abfließen lässt. Die Gegenwart bietet dann nicht mehr eigene, lebendige Erfahrung, sondern »tödliche Langeweile« (ebd.: 18). Die Leerstelle des eigenen Ich wird wiederum von der Literatur besetzt, die analog zum Cafard funktioniert: Tritt doch mit der Literatur die Erfahrung eines Anderen vor die/den Lesende(n) und lässt diese(n) dadurch von der eigenen Erfahrung abrücken. »Aus lauter Langeweile« bricht der Erzähler »an diesem Abend den Handkoffer auf«, der »fast nichts als Papier« enthält und zum Lesen einlädt. Die in den Papieren enthaltene Geschichte lässt dann die literarisch vermittelte Erfahrung an die Stelle der eigenen treten – »Ich vergaß meinen Cafard« (ebd.). Die Leseszene, die nunmehr eröffnet wird, steht inmitten der dialogischen Erzählsituation zwischen Erzähler und Leser/in, welche den Roman einleitet, und bietet, in dessen Lektüre gleichsam eingefaltet, eine beinahe romantische Selbstreflexion des Romans auf: Das Ganze war eine ziemlich vertrackte Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen. Ich fand auch, daß einer darunter mir selbst glich. Es ging in dieser Geschichte darum – ach nein, ich werde Sie lieber nicht langweilen. Sie haben in Ihrem Leben Geschichten genug gelesen. Für mich war es sozusagen die erste. Ich hatte ja übergenug erlebt, aber nie gelesen. (Ebd.)

Das Auffinden eines Buches im Haus des Gastgebers, das die eigene Geschichte inszeniert, enthält eine intertextuelle Referenz auf den romantischen Roman (vgl.

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Novalis 1977: 264). Die Selbstreflexion, die die Referenz eröffnet, wird dabei aber gerade nicht bis zur selbstgenügsamen Paradoxie getrieben, sondern im Gegenteil abrupt beendet: »[I]ch werde Sie lieber nicht langweilen« (ebd.). Das bürgerliche Requisit des Romans hat seine ästhetischen Bildungseffekte längst eingebüßt und ist zur losen Blattsammlung geworden – »Überreste« (ebd.: 25) wie die Menschen, die aus ganz Europa nach Marseille fliehen. Der Erzähler intendiert keine sich ins Unendliche forttreibende Widerspiegelung, sondern berichtet, um sich die vom Cafard besetzte Zeit zu vertreiben: nicht unendliche Reflexion, sondern reflektiertes Ende. Die Referenz auf die romantische Tradition literarischer Selbstreflexion dient dennoch nicht einfach deren Parodie. Dem Briefwechsel mit Georg Lukács (zwischen Juni 1938 und März 1939) lässt sich vielmehr ein Konzept künstlerischer Produktivität entnehmen, das Seghers gegenüber Lukács’ Fokussierung auf die Darstellungsmethode ins Spiel bringt. Die Empfehlung des Literaturtheoretikers an die junge linke Schriftstellergeneration, so Seghers, drohe unbeabsichtigt ein Schreiben zu befördern, das zwar »im Vollbesitz der Methode des Realismus« sein könne, das jedoch im schlimmsten Fall »eine unerlebte Welt« schildere, sobald die »primäre Reaktion« auf die eigene Erfahrung unter allgemeinen Konzepten »verschüttet« werde (Lukács 1971: 347). Demgegenüber stellt Seghers – unter Bezug auf den von Lukács verehrten Leo Tolstoi – ein ›WiederUnbewusst-Machen‹ des Wissens und der erlernten Darstellungsmethoden an den Beginn authentischer Dichtung: Auf der ersten Stufe nimmt der Künstler die Realität scheinbar unbewußt und unmittelbar auf, er nimmt sie ganz neu auf, als ob noch niemand vor ihm dasselbe gesehen hätte, das längst Bewußte wird wieder unbewußt; auf der zweiten Stufe aber handelt es sich darum, dieses Unbewußte wieder bewußt zu machen (ebd.).

Die Leseszene in Transit lässt sich als Figuration einer solchen »unbewußten Aufnahme der Realität« (ebd.) lesen: »So habe ich nur als Kind gelesen, nein, zugehört.« (Seghers 1963: 18). Die unbewusst eingespeiste Realität aber – das eröffnet die Beschreibung des Cafards – ist hier kein ›Mehr‹ an Realität, kein unberührtes Wirkliches, sondern etwas von der Wirklichkeit Abgezogenes: die Briefe eines Toten, dessen vergangene Erlebnisse, dessen Schreibweise. Das so Erzählte scheint »schon durch ein kleines Fegefeuerchen durchgegangen, durch einen kleinen Brand, durch das Gehirn dieses toten Mannes.« (Ebd.: 19) Es ist Erfahrung eines Anderen, eines zufällig auf der Strecke gebliebenen, die an die Stelle des eigenen Erlebens tritt. In Transit ist die Rezeption von Wirklichkeit,

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die Seghers und Lukács in ihrem Briefwechsel verhandeln, zum zufälligen Verhältnis zu den literarischen ›Überresten‹ eines Toten geworden. Der Erzählmodus von Transit lässt sich als der des Cafards beschreiben: Das Erzählen befindet sich niemals am Ort des unmittelbaren Erlebens des (Ich-) Erzählers, sondern ist strukturell von diesem Erleben abgerückt. Das geschieht jedoch nicht um einer Abwendung von der Wirklichkeit willen; vielmehr wird erst mit der Distanznahme zum Erlebten das von der Realität Abgezogene als die Bedingung dieser Realität erkennbar. Die subtrahierte Realität, das Ergebnis der poetologischen Selbstreferenz, lässt jenes Unbewusste der Realität erst bewusst werden und erzeugt einen dezentrierten Blick, eine displaced perspective 2 auf die Wirklichkeit und löst damit jene Forderung nach Einsicht in »gesellschaftliche Zusammenhänge« (Lukács 1971: 348) ein, die Seghers und Lukács gleichermaßen als Zielrichtung literarischer Darstellung begreifen. Die Poetik des Cafards ist einem Realismus verpflichtet, der von der Versehrtheit des Wirklichen und der Subjekte ausgeht. Wie bereits zu Beginn der Erzählung die Eigennamen »Heinz« oder »Paulchen« auf versehrte Hände und amputierte Beine, »auf nicht-homogenisierbare[] Schnittstellen« (Bischoff 2018: 9) verweisen, so fällt auch die Poetik von Transit aus dem Gleichgewicht und der Symmetrie subjektiven Erlebens heraus und erfasst die erzählte Gegenwart als eine solche, die sich nur mehr durch Verfahren der Subtraktion und Supplementierung erschließt: In den Papieren des Dichters Weidel findet der Erzähler »neue Worte, die ich seitdem manchmal gebrauche« (Seghers 1963: 18).

GRENZE UND INSTITUTION Der Erzählmodus des Cafards und die damit verbundene narrative Dezentrierung verweisen nicht nur auf eine ästhetische, sondern auch auf eine politische und materielle Erfahrung, die die Mobilisierung von Grenzen im Europa der Kriegszeit betrifft. Die Binnenerzählung legt die Spur dieser Erfahrung immer wieder offen: Die Flucht aus einem Konzentrationslager am Rhein, die den Protagonisten zunächst zu Vorposten der französischen Armee und nach deren Niederlage nach Paris gelangen lässt, führt durch Orte, deren Lage im politischen und militärischen Raum nur erahnt werden kann, die also gemessen an den für die Flucht relevanten Koordinaten immer wieder zu einem undeutlichen ›Irgendwo‹ werden: »[W]aren die Deutschen noch zwei Tage, schon zwei Stunden weit?«

2

Patrick Farges schlägt eine Typologie von »Ent-ortung« oder »displacement« bei Seghers vor, ohne allerdings die Ebene der Erzählform einzubeziehen, s. Farges 2009.

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(Ebd.: 7) Während die politischen Grenzen der Nationalstaaten keinerlei semantische Relevanz mehr beanspruchen können, wird jener ausgefranste und flächige Raum der militärischen Grenze zu einer bewegten Bezugslinie, die die Schauplätze des Erzählten der Reihe nach passiert. Einmal wird der Erzähler, in einem französischen Bauernhof pausierend, tatsächlich von der militärischen Grenze überholt: »Ich weiß nicht, was ich mir unter der Ankunft der Deutschen vorgestellt hatte: Donner und Erdbeben. Es geschah aber zunächst gar nichts anderes als die Anfahrt von zwei Motorrädern hinter dem Gartenzaun.« (Ebd.: 9) Das Erscheinen, Bewegen und Umkodieren von Grenzen besitzt in Transit keinerlei Ereignischarakter, sondern führt lediglich zu Koordinatenverschiebungen, die die Neujustierung der Fluchtrichtung motivieren: »Jedenfalls war mein Traum zu Ende, über die Loire zu kommen. Ich beschloß, nach Paris zu gehen.« Anders als es die imaginäre Topik der Flucht erwarten lässt, welche die Literaturgeschichte seit Aischylos’ Tragödie Die Schutzflehenden immer wieder inszeniert, geht es bei Seghers nicht so sehr um Flüchtende, die eine Grenze überqueren (wollen), sondern umgekehrt um (bewegte) Grenzen, die die Subjekte überqueren: Ich zog nach Paris in fünf Tagesmärschen. Die deutschen Kolonnen fuhren neben mir her. Der Gummi ihrer Reifen war vorzüglich, die jungen Soldaten waren Elite, stark und hübsch, sie hatten kampflos ein Land besetzt, sie waren lustig. Schon lachten einzelne Bauern hinter der Straße – gesät worden war noch auf freiem Boden (ebd.: 10).

Das befürchtete Herannahen der Deutschen wird auch in Marseille, in dem der Hauptteil des Romans spielt, zum bestimmenden Zeitfaktor der verzweigten Fluchtgeschichten, in denen Namen erfunden, Pässe getauscht, Dokumente gefälscht und Konsulate bestürmt werden. In der Hafenstadt dramatisiert sich die Präsenz des Militärischen aber nochmals grundlegend: Das geographische Europa ist hier an sein Ende gekommen. Die räumlich-begrenzte Gestalt des Kontinents, die Derrida als ›Kap‹, als Auswuchs und Ausläufer der Kontinentalmasse beschrieben hat, zwingt die Flucht aus dem Modus des räumlichen Driftens in den des zeitlichen Ausharrens. Die zeitliche Dauer der Anträge auf Visen und Transitvisen steht somit im Schatten der existenziellen Zeitnot, alle Unterlagen zur Verfügung haben zu müssen, damit die Flucht per Schiff gelingen kann. Die Zeit der Verwaltungen, Konsulate und Ämter verläuft auf bedrohliche Weise in einem anderen Takt als die der geschichtlichen Situation. Im Schatten der militärischen Bedrohung Südfrankreichs verdichtet sich ein zweiter, institutioneller Grenzraum, in dem politische und bürokratische Regelungen sich überlagern und miteinander konfligie-

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ren, in dem Razzien durchgeführt und Personen willkürlich verschleppt werden, und der die Ankommenden zugleich aus Marseille forttreibt und dort festhält. In einem der ersten zufälligen Gespräche in einem Café erklärt ein »kleiner alter Mann« dem Protagonisten die groben Züge dieser bürokratischen Paradoxie: Einerseits darf niemand von den Flüchtlingen langfristig in Marseille bleiben, wenn er kein Visum für Übersee und damit die belegbare Absicht hat, die Stadt wieder zu verlassen (ebd.: 32). Andererseits darf man auch nicht abreisen, da erst ein visa de sortie beantragt werden muss: »Die Deutschen lassen sich nicht die Gelegenheit nehmen, die Menschen durchzukontrollieren, die aus Europa abziehen« (ebd.). Das Warten auf das visa de sortie aber kann das eigentliche Visum gefährden, denn dieses hat ein Ablaufdatum, das sich beispielsweise auf die – wiederum zeitlich gebundene – Gültigkeit von Arbeitsverträgen im Gastland bezieht. Ohne gültiges Visum verfallen aber auch die ihrerseits begrenzten Transitvisen. Jede Ausreise ist damit in ein Netz heterogener Zeichensysteme, Referenzen und Fristen verstrickt, die die Fluchtbewegung paralysieren und gleichsam in einer schlechten Unendlichkeit des Bürokratischen festsetzen: Sie dürfen sich aber nicht zersplittern, Sie dürfen nur an Ihr Transit denken. Sie müssen, wenn ich so sagen darf, Ihr Ziel eine Zeitlang vergessen, jetzt gelten nur die Zwischenländer, sonst wird aus der Abfahrt nichts. […] Sie könnten sich irgendwie einschiffen. Doch glauben Sie ja nicht, mein Sohn, daß damit Ihr Transit schon sicher ist, und selbst, wenn es sicher wäre! Inzwischen ist soviel Zeit vergangen, daß wieder das erste, das Hauptziel entschwunden ist. Dein Visum ist abgelaufen, und wie auch das Transit notwendig war, es ist wieder gar nichts ohne das Visum, und so immer weiter, immer weiter, immer weiter (ebd.: 32f.).

Die Erläuterung durch den erfahrenen Gesprächspartner, der die Dokumente entlang von Mittel/Zweck-Relationen zu ordnen empfiehlt, dokumentiert eine Transformation jener unendlichen Vermittlungsoperationen, die Georg Simmel am Beginn des Jahrhunderts als Kennzeichen komplexer, geldvermittelter Gesellschaften formuliert hatte (vgl. Simmel 1989). An Orten wie im Marseille des Jahres 1940 sind eben diese Mittel/Zweck-Reihen in höchstem Maße brüchig und instabil geworden, und es ist dieses Instabil-Werden des Sozialen, das die institutionalisierten Subjekte in einem »Transitärleben« (ebd.: 110) fixiert. Transit steht deshalb auch in jener Romantradition, die rückblickend als ›Institutionenroman‹ beschrieben wurde und bei Autoren wie Franz Kafka und Robert Walser die Geschichte des Subjekts konsequent von den Prozessen seiner gesellschaftlichen Instituierung her begreift und erzählt (vgl. Campe 2004; Campe 2005: 238). Wie im Proceß dem Angeklagten empfohlen wird, den Frei-

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spruch vorerst hintanzustellen und sich ganz auf Techniken der ›Verschleppung‹ des Urteils zu konzentrieren, so rückt hier das fragile Transit-Visum in den Vordergrund, das zu erlangen einen potenziell unendlichen Zeitraum in Anspruch nimmt: »Sie fahren durch Meere, durch Zwischenländer. Sie brauchen ein Transit. Das braucht Ihren Scharfsinn. Ihre Zeit. Sie ahnen noch nicht, wieviel Zeit!« (Seghers 1963: 32). Die paradoxe Instituierung des Transit-Subjekts umspannt den Roman von Beginn an. Schon die Namenlosigkeit des Erzählers trägt dem Umstand Rechnung, dass dieser Name institutionell ohne jede Relevanz ist, ganz im Gegensatz zu dem »überzähligen Flüchtlingsschein« (ebd.: 27) auf den Namen ›Seidler‹, den er in einem französischen Dorf zugesteckt bekommt. Erst in Marseille aber tritt das Bürokratische mit der Härte einer Grenze auf: Einmal scheitert ein Flüchtling, der alle Papiere gesammelt hat, kurz vor der Abreise aus dem absurden Grund, dass er keinen ›Entlassungsschein‹ aus dem Konzentrationslager vorweisen kann, aus dem er geflohen ist; ein anderes Mal wird eine Gruppe Spanier von der französischen Polizei auf Weisung der Nazis aus ihrem Hotel verschleppt, weil sie gegen Franco gekämpft haben (ebd.: 33, 35). Die existenzielle Verknappung der Zeit angesichts der politischen Situation auf der einen Seite und der Exzess zeitlicher Stagnierung im bürokratischen Vorgang auf der anderen laufen gegeneinander und bringen die transzendentalen räumlichen und zeitlichen Koordinaten des Protagonisten ins Wanken, – ein Wanken, das sich im Modus der Autodiegese auf die Darstellung überträgt: »Ich habe damals zum erstenmal alles ernst bedacht: Vergangenheit und Zukunft, einander gleich und ebenbürtig an Undurchsichtigkeit, und auch den Zustand, den man auf Konsulaten Transit nennt und in der gewöhnlichen Sprache Gegenwart« (ebd.: 182). Die Namenlosigkeit des Erzählers, der mal als Seidler, mal als Weidel, und dann als beides zugleich registriert wird, und die Zeitlosigkeit eines episodischen, versprengten Erzählens belegen eben jenes ›Zersplittern‹ der Subjekte an der Grenze des Bürokratischen, vor dem der gleichfalls namenlose Gesprächspartner den Ich-Erzähler warnt, und in dem Seghers’ Einspruch gegen Lukács’ Idee einer an Totalität orientierten Widerspiegelung anklingt: Nach dem Krieg, so hatte Seghers im Februar 1939 geschrieben, »waren [uns] Splitterchen, die irgendeinen Bruchteil unsrer eignen Welt aufrichtig spiegelten, lieber als alle Scheinspiegel. Ich nehme wieder das Wort Splitter, obwohl es etwas Zerbrochenes ausdrückt« (Lukács 1971: 365). In den Splittern von Erfahrungen, die nicht mehr je die ›eigenen‹ der Subjekte sein können, dokumentiert der Roman also die Macht eines doppelten und beweglichen Grenzraums: die Bewegung der militärischen Grenze durch Europa und die Bewegung der institutionellen durch das Subjekt. Beider Überschnei-

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dung bringt am Ort Marseille einen Raum dichter Abhängigkeiten und Aporien hervor, in denen sowohl die vertraute imaginäre Landkarte Europas als Nachbarschaft abgegrenzter Staatsgebiete als auch die Verwebung von Subjektivität und Staatsbürgerschaft zerschlagen wird. In diesem Raum wird schließlich die geographische Grenze des Kontinents in ihrer ganzen Kontingenz spürbar, und die Küste wird zum Träger eines Realitätseffekts (vgl. Barthes 2008): »Das Stück blauen Wassers da unten am Ende der Cannebière, das also war der Rand unseres Erdteils, der Rand der Welt, die wenn man will, vom Stillen Ozean, von Wladiwostok und China, bis hierher reicht. Sie heißt nicht umsonst die Alte Welt. Hier aber war sie zu Ende.« (Seghers 1963: 43)

EUROPA UND DAS EUROPÄISCHE Im Fortlauf der Erzählung wird Europa als ein Kap konzipiert, als Rand einer ›alten Welt‹, an deren Ende die verstreuten Subjekte angelangt sind. Das Kap und seine Bewohner/innen tragen die Reste dieser Welt dabei noch immer in sich: Der Konsul der mexikanischen Botschaft in Paris, der sich dann doch nur als der ›Hauswart‹ der Botschaft erweist, erscheint dem Erzähler als »Zyklop« (ebd.: 22) und appelliert gleichsam an die List seiner temporären Gäste; der Erzähler wiederum bleibt hinter den Masken seiner temporären Identitäten namenlos, nimmt während seiner Flucht beliebig andere Identitäten an und wird damit zu einer Odysseusfigur (vgl. Wagner 1985: 92-98). Schließlich verwandeln sich die Stimmen des versprengten Europa im Wartezimmer des Konsulats momentweise zum antiken »Chorgesang« (Seghers 1963: 36). Der Roman Transit sammelt die Fragmente, Splitter und Scherben der europäischen Erzähltradition jedoch nicht, um das eigene Bildungsreservoir auszustellen. Die Codierung der Erfahrung nach dem odysseeischen Muster von Fremde und Heimkehr will gerade auf die mexikanische Botschaft nicht recht passen: »Ich stellte mir alle Mexikaner wie ihn vor«, so heißt es noch in Paris, »breit, schweigsam, einäugig, ein Volk von Zyklopen.« (Ebd.: 22) Darin liegt eine induktive Wahrnehmungsroutine, die »jeden Fremden, der irgendwo in einem fremden Land auftaucht, […] zum Symbol seines ganzen Volkes« (Seghers 1984: 213) nimmt, wie Seghers einige Jahre danach in einem Essay kritisch bemerkt. Signifikant ist deshalb, dass der Erzähler später in Marseille über den mexikanischen Pförtner gleichsam empirisch nachträgt, dieser »war keineswegs ein Zyklop« (Seghers 1963: 36). Letztlich knüpft der Erzählvorgang weniger an tradierte Figuren eines ›europäischen Geistes‹ an, als dass er, von dessen Gespenstern getrieben, das Ende des Kaps ›Europa‹ als Ende eines bestimmten Nationen-Wissens vorführt. Die

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glatte Fläche des Mittelmeers, die sich vor Marseille erstreckt, steht für ein Ende nationalstaatlicher ›Kerbung‹ (vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix 1992) des Raums: Vor meinen Augen strömten sie an, mit ihren zerrissenen Fahnen aller Nationen und Glauben, die Vorhut der Flüchtlinge. Sie hatten ganz Europa durchflüchtet, doch jetzt vor dem schmalen, blauen Wasser, das unschuldig zwischen den Häusern glitzerte, war ihre Weisheit zu Ende (Seghers 1963: 46).

Seghers’ Roman inszeniert nicht das Ideal eines geistigen Europa, das dem Bildungsbürgertum aus dem Ruder gelaufen wäre, sondern zeigt vielmehr eine irreversible Zerrissen- oder Versehrtheit dieses Geistes auf. Diese kennzeichnet etwa die Familie der Binnets, die noch im besetzten Paris an den Rudimenten bürgerlicher Lebensformen festhält: Die Tochter hat kürzlich geheiratet, der Sohn geht einer Lohnarbeit nach, man sammelt Brotkarten und aktuelle Legitimationspapiere (ebd.: 11, 18). Der Weg des Erzählers von Paris nach Marseille führt von diesen Resten des bürgerlichen Europa hin zur weiten Fläche des Mittelmeers, an dem die Spuren und Markierungen europäischer Selbst- und Fremdwahrnehmung – und gerade darin besteht der Trost – keinen Halt mehr finden: »da gab es für mich keinen größeren Trost als eben diese unmenschliche Leere und Öde, in ihrer Spurlosigkeit, ihrer Unbefleckbarkeit.« (Ebd.: 29) Wie die europäischen Flüchtlinge, so ›sammelt‹ sich auch das Erzählen erst in jener Mündung aufs offene Meer, eine Sammlung, die zugleich ein Zögern und Innehalten ist. Dieser (freilich alptraumhafte) Rückstau, der die Menschen in den Gassen und Cafés der Hafenstadt verteilt und die versprengten, hoffnungsvollen und hoffnungslosen Subjekte in flüchtigen Kontakten und Gesprächen aufeinander bezieht, lässt sich – gegenüber den verschlissenen Flaggen der Nationen Europas – als Moment eines ›Europäischen‹ lesen, das an der äußersten Grenze des Kontinents und in der absurden Jagd nach immer neuen Dokumenten letztlich die Überlebtheit nationaler Identitätskonstruktionen dokumentiert. Wie der Cafard das Erleben an den Ort eines Anderen abrückt, so führt auch die Flucht zur Ansammlung einer Nicht-Identität biographischen Lebens: »Für Abgeschiedene hielt ich sie«, so heißt es von den Neuankömmlingen, »die ihre wirklichen Leben in ihren verlorenen Ländern gelassen hatten« (ebd.: 75). Anders als in Zeiten funktionierender Staatlichkeit, sind diese Nicht-Identischen oder ›Abgeschiedenen‹ in Marseille »in Überzahl […] gegen die Lebenden, die hier ihre festen Siedlungen hatten« (ebd.). Am äußersten Rand der europäischen Katastrophe taucht somit eine undeutliche Potenzialität, ein ›überzähliges Element‹ auf, in dem sich der Widerspruch zwischen der desaströsen staatlich-

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institutionellen Gegenwart und der ›leeren Fläche‹ einer möglichen neuen Ordnung verdichtet. Diese – in Seghers’ Roman latente – europäische Frage wird später Volker Braun in seinem Stück Transit Europa. Der Ausflug der Toten (1988) aufgreifen: In der Spätphase des Kalten Krieges wird hier Europa selbst als ›Transit‹ adressiert, als Zwischenstation, deren nationale und militärische Grenzen sich immer wieder um die Subjekte wickeln: »Ich, in den Draht gewickelt«, so sagt der Doktor, dessen Fluchtschiff (wie bei Seghers) sinken wird, im Braun’schen Stück, »[a]ls Senkblei über dem Mittelmeer. Ein Totenschiff« (Braun 1989: 209). Während in dem Stück Brauns die Transitäre Einzelne sind, die auf der Bühne in unterschiedlichen Konstellationen erscheinen, stellt Seghers’ Erzähltext sie als eine Menge vor: als staatenlose Transitäre, die von ihren eigenen Staaten verraten und zur Flucht getrieben wurden, gleichsam die ausgesetzten ›Körper‹ des Kontinents: »Bei uns in Europa hat kaum jemand mehr die Staatsbürgerschaft seines Ursprungslandes« (Seghers 1963: 68). Der Raum Europas, zuvor durch die territoriale und militärische Ausdehnung der Staatsgebiete gekerbt und ausgefüllt, wird plötzlich mit anderen Bildern verknüpfbar, die wie von selbst die offene Frage nach einem Zusammenleben jenseits von Herrschafts- und Verwaltungslogiken aufwerfen: »In allen Städten des Erdteils warteten jetzt diese Schlangen vor unzähligen Türen. Wenn man sie aneinanderreihte, reichten sie wohl von Paris bis Moskau, von Marseille bis Oslo« (ebd.: 107). Der namenlos bleibende Erzähler wählt letztlich nicht die Option der Flucht aus Europa. Nicht der romantische Traum eines »Jenseits hinter dem Ozean« (ebd.: 175f.) treibt ihn mehr an, wo am Ende doch »alles ebenso sein« (ebd.: 166) wird, wie hier. Das ›Europäische‹ erweist sich im Roman eben deshalb als materialistisch gedacht, weil keiner Utopie nachgeeilt wird, keine verheißungsvolle Alterität jenseits des Ozeans aufscheint. Der Ozean wird vielmehr im Subtext als Totenfluss, als Acheron semantisiert (vgl. Müller-Salget 1977). Stattdessen entscheidet sich der Erzähler für ein einfaches, bäuerliches Leben auf dem Land in der Nähe von Marseille und solidarisiert sich mit jenen Franzosen, mit denen er weder die Nationalität noch die Papiere teilt, sondern die Güter und den Willen zum Widerstand: So gibt mir denn diese Familie, gibt mir dieses Volk bis auf weiteres Obdach. Ich helfe beim Säen und Entraupen. Wenn die Nazis uns auch noch hier überfallen, dann werden sie mich vielleicht mit den Söhnen der Familie Zwangsarbeit machen lassen und irgendwohin deportieren. Was sie trifft, wird auch mich treffen. Die Nazis werden mich keinesfalls mehr als ihren Landsmann erkennen. Ich will jetzt Gutes und Böses hier mit meinen Leuten teilen, Zuflucht und Verfolgung. Ich werde, sobald es zum Widerstand kommt, mit

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Marcel eine Knarre nehmen. Selbst wenn man mich dann zusammenknallt, kommt es mir vor, man könne mich nicht restlos zum Sterben bringen (ebd.: 186).

Das Europäische, das am Ende des Romans seinen Auftritt hat, entsteht in einer Gemeinschaft der Staatenlosen. Es besteht gerade nicht in einer kollektiven Identität, sondern tritt an die Stelle derjenigen, die identitätslos wurden. 3 Die Gemeinschaft im Süden Frankreichs, die am Ende des Romans die Fluchtrichtung ein letztes Mal neu ausrichtet und umkehrt, wird im Roman nicht benannt, sie untersteht keinerlei hehrem Ideal, und dennoch macht eben diese Gemeinschaft ihre Subjekte unsterblich: »Selbst wenn man mich dann zusammenknallt, kommt es mir vor, man könne mich nicht restlos zum Sterben bringen.« Diese Gemeinschaft, aber auch der Text selbst zeigen sich als ein Transit des Europäischen, als Zwischenstation oder temporäres Asyl jener überzähligen Elemente von NichtIdentität und Abgeschiedenheit. In diesem Transit lässt Seghers’ Roman eine subkutane Tradition aufscheinen, auf die hin er nachfolgende Gegenwarten befragbar macht.

LITERATUR Arendt, Hannah (2008): »Mir ist der Ausdruck ›europäisches Denken‹ verdächtig«. Hannah Arendt auf dem Internationalen Kulturkritikerkongress in München 1958. In: HannahArendt.net, documents, 4/2008. Bischoff, Doerte (2018): Prothesenpoesie. Über eine Ästhetik des Exils mit Bezug auf Barbara Honigmann, Anna Seghers und Konrad Merz und Herta Müller. In: Metaphora. Journal for Literary Theory and Media 3, S. 1-24. Braun, Volker (1989): Transit Europa. Der Ausflug der Toten. Nach Anna Seghers. In: Ders.: Stücke, Bd. 2, mit einem Nachw. v. Klaus Schuhmann. Berlin, S. 197-222. Campe, Rüdiger (2004): Kafkas Institutionenroman. Der Proceß, Das Schloß. In: Rüdiger Campe und Michael Niehaus (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider. Heidelberg, S. 197-208.

3

Das Europäische besitzt damit zugleich die Struktur des Universalen: »The paradox is that there is no universal proper without the process of political litigation of the part of no-part, of an out-of- joint entity presenting/manifesting itself as the stand-in for the universal« (Žižek 1998: 998).

Transit des Europäischen | 163

Campe, Rüdiger (2005): Robert Walsers Institutionenroman. Jakob von Gunten. In: Roger Behrens und Jörn Steigerwald (Hg.): Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg, S. 235-250. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1992): 1440 – Das Glatte und das Gekerbte. In: Dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin, S. 657693. Derrida, Jacques (1992): Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt am Main. Farges, Patrick B. (2009): Transit/Transfer/Transgression. Das Erzählen von ›Ent-Ortung‹ in Anna Seghers’ Erzählungen (1924-1980). In: Johannes F. Evelein (Hg.): Exiles traveling. Exploring Displacement, Crossing Boundaries in German Exile Arts and Writings 1933–1945. Amsterdam/New York, S. 283-296. Lukács, Georg (1971): Ein Briefwechsel zwischen Anna Seghers und Georg Lukács. In: Ders.: Essays über Realismus. Neuwied (= Werke, Bd. 4), S. 345-376. Musil, Robert (1978): Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 8: Essays und Reden. Reinbek b. Hamburg, S. 1075-1094. Müller-Salget, Klaus (1977): Totenreich und lebendiges Leben. Zur Darstellung des Exils in Anna Seghers’ Roman Transit. In: Wirkendes Wort 27, S. 32-44. Novalis (1968): Die Christenheit oder Europa [1799]. In: Ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart, Bd. 3, S. 507-524. Novalis (1977): Heinrich von Ofterdingen. In: Ders., Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart, Bd. 1, S. 183-369. Seghers, Anna (1963): Transit. Darmstadt/Neuwied. Seghers, Anna (1984): Kulturelle Brücken zu anderen Völkern. In: Dies.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Berlin/Weimar, Bd. 13, S. 208-213. Simmel, Georg (1989): Philosophie des Geldes. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt am Main, Bd. 6, S. 254-291. Simmel, Georg (2000): Die Idee Europa [1915]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Frankfurt am Main, Bd. 13, S. 112-116. Walter, Hans-Albert (1985): Anna Seghers’ Metamorphosen. Transit – Erkundungsversuche in einem Labyrinth. Frankfurt am Main u.a.

164 | Till Breyer und Philipp Weber

Žižek, Slavoj (1998): A Leftist Plea for ›Eurocentrism‹. In: Critical Inquiry 24 H. 4, S. 988-1009. Zweig, Stefan (1990a): Der Turm zu Babel. In: Ders.: Die Schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941. Frankfurt am Main, S. 68-73. Zweig, Stefan (1990b): Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung. In: Ders.: Die Schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941. Frankfurt am Main, S. 185-210.

Deutsche Täter, internationale Autoren, deutsche Exegeten Exilierte Nazis in der spanischsprachigen Literatur und ihre Rezeption in der deutschsprachigen Literaturkritik 1 Marco Thomas Bosshard

ABSTRACT Fictional representations of Nazi protagonists in worldwide literature seem to have increased over the past few years. At the same time, they still provoke harsh debates in literary criticism with regards to their historical, political and aesthetic inadequacy in the light of the Shoah. This article focuses on two recent examples of Nazi protagonists in two novels from the Spanish-speaking world: Lucía Puenzo’s Wakolda with its literary recreation of Josef Mengele from an Argentinian point of view, and Ricardo Menéndez Salmón’s Spanish novel Medusa about a Nazi photographer and filmmaker who documented the Holocaust by transforming it into art. The surprising and quite differing reactions of German literary critics in their reviews of the German translations of the two novels will be discussed and compared. Keywords: Lucía Puenzo – Ricardo Menéndez Salmón – Holocaust – Nazi regime – Literary critique – Reviews

1

Weite Teile des vorliegenden Artikels wurden in vorgängigen Arbeiten (vgl. Bosshard 2016a und Bosshard 2016b) bereits veröffentlicht. Die Analyse der Reaktionen der deutschsprachigen Literaturkritik auf die betrachteten Romane spielte dort allerdings keine Rolle.

166 | Marco Thomas Bosshard

1. EINLEITUNG Florian Borchmeyer, Literaturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, eröffnete seine Besprechung der deutschen Übersetzung des Romans Wakolda von Lucía Puenzo über den Naziarzt und Kriegsverbrecher Josef Mengele im argentinischen Exil mit dem Hinweis auf die »polarisierte[n] Reaktionen« (Borchmeyer 2012) deutscher Kritiker auf Roberto Bolaños Erzählband Die Naziliteratur in Amerika im Jahre 1999. Er spielte dabei auf eine Debatte an, die zu jenem Zeitpunkt schon dreizehn Jahre zurücklag und erinnerte sich: »Gar nicht lachen konnten manche über den schwarzen Humor dieses Defilees apokrypher Hakenkreuzfahnendichter mit ihren haarsträubenden Biographien« (ebd.). Borchmeyer beschließt seine einleitenden Bemerkungen zu Puenzos Mengele-Roman mit der Feststellung: »Ein Roman über das Minenfeld [des Nationalsozialismus; MTB] schien für seriöse Autoren fast ein Tabu zu sein.« (Ebd.) In der Tat scheint Roberto Bolaño, der neben Die Naziliteratur in Amerika postum auch den Roman Das Dritte Reich veröffentlicht hat sowie auch in seinem monumentalen Roman 2666 einem ehemaligen Wehrmachtsoldaten breiten Raum einräumt, verantwortlich für die auffällige Zunahme von Nazifiktionen in den spanischsprachigen Literaturen der vergangenen Jahre zu sein. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass von Bolaño – trotz seines frühen Todes noch immer der Referenzautor der spanischsprachigen Gegenwartsliteratur – eine Linie zurück zu einem anderen Referenzautor der frühen Postmoderne führt: zu Jorge Luis Borges und seiner Erzählung Deutsches Requiem, die erstmals bereits im Februar 1946 in der argentinischen Zeitschrift Sur veröffentlicht wurde und später in die Sammlung Das Aleph einging. Wenn Borchmeyer noch 2012 – also selbst Jahre nach der Debatte um Jonathan Littells Die Wohlgesinnten – vom Tabu spricht, NS-Verbrecher literarisch darzustellen, so geht der früheste – und gleichzeitig ultimative – Bruch dieses Tabus auf Borges zurück. In dessen Deutschem Requiem wird konsequent die Täterperspektive durchgehalten, indem Borges nicht nur einen (fiktiven) KZ-Kommandanten, Otto Dietrich zur Linde, zum Protagonisten erhebt, sondern ihn noch dazu – relativiert allein durch die Fußnoten mit dem zensorischen Eingriff eines fiktiven Herausgebers – als autodiegetischen Erzähler installiert. Mit Blick auf die internationale Rezeption dieser Erzählung ist es übrigens bezeichnend, dass eine solche bis in die jüngste Vergangenheit kaum stattgefunden hat. Einer der ersten, der vor vielen Jahren zur internationalen Aufwertung Borges’ beigetragen hat, erwähnt das

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Deutsche Requiem selbst mit keinem Wort: Paul de Man, dessen eigene nationalsozialistische Verstrickungen damals noch nicht bekannt waren. 2 Mit Borges und Bolaño als Gewährsleute und deren Nazi-Fiktionen als Blaupausen erscheint die bereits angesprochene Häufung von Nazi-Romanen im spanischsprachigen Raum angesichts des überwältigenden Prestiges der beiden Autoren womöglich nicht mehr ganz so überraschend. Auf zwei dieser Fiktionen mit exilierten Nazis als Protagonisten soll in der Folge näher eingegangen werden: Auf den bereits erwähnten Roman Wakolda der argentinischen Autorin Lucía Puenzo sowie auf den Roman Medusa des Spaniers Ricardo Menéndez Salmón, da diese beiden Bücher (anders als andere einschlägige Texte) in deutscher Übersetzung vorliegen und daher in Deutschland zu Kenntnis genommen worden sind. Dabei geht es im Folgenden weniger um eine Analyse und Kontextualisierung dieser zwei umstrittenen, aber – so viel darf vorweggenommen werden – dennoch überaus gelungenen Romane, sondern vielmehr um deren Rezeption durch die deutsche Literaturkritik und (zumindest implizit) auch durch deutsche Leser im Allgemeinen. Dies birgt nun allerdings die Schwierigkeit, dass die beiden Romane hier nicht des Langen und Breiten zusammengefasst und ihre textuellen Strategien ebenso wenig en détail dargelegt werden können. Vielmehr muss eine kurze Skizze und Inhaltsangabe genügen – wobei betont werden muss, dass die beiden Romane um einiges vielschichtiger sind als eine kurze, notwendigerweise holzschnitzartige Handlungssynopse dies anzudeuten vermag.

2. PUENZOS WAKOLDA ALS UNERHÖRTER KRITIKERERFOLG Lucía Puenzo lässt den Lagerarzt von Auschwitz, Josef Mengele, in ihrem Roman von Buenos Aires nach Bariloche reisen, wo sich bereits mehrere sinistre Deutsche aufhalten und mit Entsetzen die Festnahme bzw. Entführung Eichmanns in Argentinien registrieren. José, wie Mengele im Roman genannt wird, begegnet dabei Lilith, einem kleinwüchsigen argentinischen Mädchen, dessen Eltern in Bariloche eine Pension übernehmen, in der sich Mengele einquartiert. Der Erzähler platziert auf den ersten Seiten des Romans gezielte Hinweise, die es dem geübten Leser erlauben, den immer nur José genannten Protagonisten

2

Zur Rezeptionsgeschichte der Erzählung vgl. Aizenberg 2005.

168 | Marco Thomas Bosshard

eindeutig als Josef Mengele zu identifizieren. 3 Puenzo generiert dadurch eine eigentümliche Spannung: Der Leser, dem anders als Lilith, fast von Anfang an klar ist bzw. klar sein muss, aus wessen Perspektive Lilith hier beschrieben wird, leidet mit dem unwissenden Mädchen mit, das in die Fänge eines Scheusals zu geraten scheint. So modelliert die Autorin, indem sie sich abwechselnd in die Perspektive Mengeles und Liliths begibt, die Begegnung zweier ›Monster‹, eines Naziarztes und Massenmörders einerseits und eines missgebildeten Mädchens andererseits, die sich an einigen Stellen des Romans überraschenderweise aber nahezu auf Augenhöhe begegnen werden. Mengele nutzt dabei die Gelegenheit, seine Hormonpräparate aus dem KZ an Lilith auszuprobieren. Er verhilft ihr dabei zu einigen Zentimetern Wachstum und rettet danach sogar den neugeborenen Zwillingsschwestern Liliths auf eine allerdings perfide Art das Leben – denn dem Leser ist immer klar, dass ihn letztlich nur die Fortsetzung seiner Experimente an Menschen interessiert. Die deutsche Übersetzung von Puenzos Roman hat bei der deutschen Kritik einhellig Begeisterung ausgelöst – was angesichts des Stoffs durchaus überrascht. Die einzige Besprechung mit einem kritischeren Unterton war diejenige von Catarina von Wedemeyer (2012) in der taz – ansonsten überbieten sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung (vgl. Borchmeyer 2012), die Süddeutsche Zeitung (vgl. Hammerthaler 2012) und auch Spiegel online (vgl. Dehoust 2012) in richtiggehenden Elogen. In ähnlicher Manier ist auch in der Schweizer Neue Zürcher Zeitung von einem »grandiosen Roman« (Knipp 2013) die Rede. Dabei attestiert der bereits eingangs zitierte Borchmeyer der Autorin, nachdem er (wie gesehen) vom »Minenfeld« des Nazi-Stoffs und dem damit einhergehenden »Tabu« gewarnt hat, dass ihre Figurenzeichnung Mengeles und dessen »[…] empfindsame Brüche ihn für uns nicht zugänglicher [machen], sondern […] nur seine Monstrosität [steigern]. In diesem Paradox liegt die Souveränität von Puenzos Erzählen.« (Borchmeyer 2012) Gleichzeitig weist Borchmeyer auf die zusätzliche erotische Komponente zwischen den beiden Hauptfiguren hin, was Mengele Nabokovs Humbert Humbert annähert (und in der Tat schriebe sich Liliths Name auf Hebräisch nicht viel anders als derjenige Lolitas). Diese pädophile Komponente fehlt allerdings in der von Puenzo selbst als Regisseurin umgesetzten Verfilmung ihres Romans. Der Kinofilm Wakolda bzw. El médico alemán (»Der deutsche Arzt«) lief weltweit in nahezu dreißig Ländern. Ausgerechnet in Deutschland aber hat er keinen Verleih gefunden – was ein Indiz dafür

3

Dem ungeübten bzw. weniger gebildeten Leser mag diese Erkenntnis erst im Verlauf der Lektüre zuteilwerden, analog dazu, wie die anderen Figuren allmählich der wahren Identität des deutschen Arztes gewahr werden.

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sein könnte, dass man hierzulande dem Kinopublikum noch weniger zutraut als dem literarisch gebildeten. Wohl aus diesem Grund – der Kombination gleich zweier, überaus heikler Themen: Nazis und unterschwellige Pädophilie – urteilt Ralph Hammerthaler in der Süddeutschen Zeitung, Puenzos Roman »[…] zählt zum Gelungensten, Heikelsten und Verbotensten, was in der Literatur von heute zu haben ist.« (Hammerthaler 2012) Hammerthalers Fazit, Wakolda sei ein »ebenso unheimlicher wie unheimlich guter Roman« ist dabei umso erstaunlicher, wenn man die anfängliche Skepsis des Rezensenten bedenkt, der am Anfang seiner Besprechung zunächst noch schrieb: »Dennoch verzieht man erst mal das Gesicht, wenn man im Klappentext zum knapp zweihundert Seiten schmalen Roman ›Wakolda‹ seinen [Mengeles; MTB] Namen entdeckt. Muss das jetzt sein?« (Ebd.) Woher rührt diese überaus positive Haltung der deutschen Rezensenten? Wir können festhalten, dass der KZ-Arzt Mengele bei Puenzo nicht einseitig dämonisiert wird, sondern zumindest stellenweise, da sich der Leser seinem Blick und seiner Sicht der Dinge nicht entziehen kann, als ›Mitmensch‹ (semblable) erscheint – denn nur in seiner Kondition als (Mit-)Mensch (und nicht etwa als Nichtmensch, Unmensch oder Tier) kann er überhaupt (im Sinne Georges DidiHubermans) zum Henker eines anderen Menschen werden. 4 Trotz des Tabubruchs, mit Mengele als Inkarnation des Bösen einen Nazitäter ins Zentrum von Roman und auch von Puenzos eigener Romanverfilmung zu rücken und sich immer wieder in dessen Perspektive zu begeben, scheint die argentinische Autorin und Regisseurin zumindest das von Claude Lanzmann in Shoah wirkmächtig bekräftigte Dogma zu respektieren, das Unsagbare selbst weder literarisch noch filmisch darzustellen. Der Holocaust wird bei Puenzo – außer Andeutungen an zwei Stellen – ausgespart, und bleibt so letztlich narrative Ellipse und Leerstelle, was die wie gesehen überaus positive Rezeption des Romans wahrscheinlich erst möglich macht.

3. MENÉNDEZ SALMÓNS MEDUSA ALS ROTES TUCH FÜR DEUTSCHSPRACHIGE KRITIKER Ganz anders hingegen liegen die Dinge im zweiten hier zu betrachtenden Beispiel: in Ricardo Menéndez Salmóns Roman Medusa. Im Gegensatz zu Puenzo werden die Bilder des Schreckens hier nicht ausgeblendet oder nur vorsichtig

4

Vgl. Didi-Huberman (2003: 192): »c’est en tant que semblable que un être humain devient le bourreau d’un autre«.

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angedeutet, sondern sie stehen vielmehr als (wiederum im Sinne DidiHubermans) schonungslose und detailgetreu beschriebene images malgré tout – als literarisch vermittelte, obendrein fiktionalisierte ›Bilder trotz allem‹ – im Zentrum des Romans. In Medusa rekonstruiert nämlich ein namenloser, kunsthistorisch bewanderter Ich-Erzähler in essayistischem Duktus und mit vielen eingestreuten, meistens allerdings fiktiven Zitaten Leben und Werk des Romanhelden, des 1911 an der Ostsee geborenen Protagonisten Karl Gustav Friedrich Prohaska. Der junge, talentierte Maler Prohaska absolviert nach der Machtergreifung Hitlers in Berlin ebendort eine Lehre als Fotograph und lernt im Rahmen dieser Tätigkeit einen Kulturfunktionär des NS-Regimes kennen. Durch diesen kommt Prohaska in Kontakt sowohl zum Medium Film als auch zu einer Anstellung als Dokumentarfilmer in Goebbels Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda: Fortan dokumentiert und stilisiert Prohaska erbarmungslos den Genozid der Nazis, vorzugsweise – aber nicht ausschließlich – auf Zelluloid. 5 Nach dem Krieg – dies wird im zweiten Teil des Romans erzählt – geht Prohaska dann ins Exil. Es verschlägt ihn in Weltgegenden, die früher mehr oder minder offen mit Hitlerdeutschland sympathisierten und teilweise gar mit ihm paktierten: notabene (und in dieser Reihenfolge) nach Spanien, Lateinamerika und Japan. An allen diesen Orten produziert er weiterhin – wenn auch nun unter anderen politischen Vorzeichen – Bilder des Schreckens: zunächst aus den Gefängnissen Francos, dann solche von Somozas Schergen in Nicaragua und schließlich auch von den Opfern Hiroshimas. Gleichzeitig avanciert Prohaska zu einer festen Größe auf dem internationalen Kunstmarkt, bevor er sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1962 dort schließlich umbringt. Die mediale und philosophische Reflexion über Darstellungen und (Wider-) Spiegelungen des Schreckens – allegorisiert durch die titelgebende Medusa – erreicht bei Menéndez Salmón eine beachtliche Tiefe und dialogisiert im Versteckten mit Sebald, Agamben, Didi-Huberman und Žižek. Doch macht ihn das nicht immun gegen Verrisse durch die deutschsprachige Literaturkritik – im Gegenteil: Der hiesigen Literaturkritik, so mein Eindruck, scheinen diese Implikationen entgangen zu sein. Ralph Hammerthaler, der Rezensent der Süddeutschen Zeitung, ist dabei noch recht zurückhaltend, wenn er meint: »Es sieht so aus, als hätte Salmón sein Thema nicht ganz gepackt. Eine Künstlerbiographie in Zeiten der Diktaturen. Obwohl völlig klar ist, was er sagen will, versteckt er sich hinter mo-

5

Die Chronologie der Medien, derer sich Prohaska im Verlauf seines künstlerischen Lebens nach und nach bemächtigt – zunächst die Malerei, dann die Fotographie, schließlich der Film –, entspricht somit vordergründig Stationen seiner Laufbahn und ist selbstverständlich signifikant.

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ralischer Rhetorik.« (Hammerthaler 2014) Interessant jedoch ist – weil eher unüblich –, dass Hammerthaler in der Beurteilung von Menéndez Salmóns Roman diesen direkt mit Puenzos Wakolda und seiner eigenen damaligen Besprechung desselben kontrastiert: Das wirkt angestrengt und verspiegelt den verwegenen Ansatz des Romans. In ›Wakolda‹, ebenfalls bei Wagenbach erschienen, hat Lucía Puenzo unlängst vorgemacht, wie man mit monströsen Figuren aus der Nazi-Zeit umgehen kann, eine Josef-Mengele-Fantasie über die argentinischen Jahre, leicht erzählt und so ungeheuerlich, dass einem der Atem stockt. Davon ist ›Medusa‹ in seiner schwitzenden Gewolltheit weit entfernt. (Ebd.)

Noch viel härter mit Menéndez Salmóns Medusa geht Erich Hackl in der Wiener Presse ins Gericht. Schon der Titel der Rezension spricht Bände: »Wo Menschen die Möbel der Welt sind. Schiefe Bilder, hohle Phrasen: Ricardo Menéndez Salmón barbarischer Roman ›Medusa‹« (Hackl 2014) – und in erwartbarer Weise findet sich in der Besprechung dann auch sehr schnell der Topos des Tabus. Ausgehend von einer erstaunlich apolitischen Stilkritik (aus der fast die gesamte Rezension besteht) spricht Hackl Menéndez Salmón jegliche Kompetenz und Berechtigung ab, aus der Warte des Anderen das Böse – in diesem Fall das eigene, deutsch-österreichische Trauma – zu repräsentieren. Implizit schwingt hier Adornos Diktum zur Kunst nach dem Holocaust genauso mit wie der Topos des Unsagbaren und dem mit ihm einhergehenden Bilderverbot. Denn Hackl selber geht in seiner fast zeitgleich zu Menéndez Salmóns Medusa erschienenen eigenen Erzählung über Wilhelm Brasse, dem tatsächlichen Fotografen von Auschwitz, ganz anders vor als der von ihm in Grund und Boden verdammte Menéndez Salmón – was seinen unobjektiven Gestus womöglich erklärt. Gleichzeitig ist es allerdings auch nicht das erste Mal, dass Hackl (der als Übersetzer aus dem Spanischen immer wieder hervorragende Arbeit geleistet hat) aus vollen Rohren gegen spanischsprachige Autoren schießt, sobald diese die Thematik des Weltkriegs und des Holocausts aufgreifen: Schon Antonio Muñoz Molinas’ Roman Sefarad wurde von ihm 2001 (allerdings aus weitaus nachvollziehbareren Gründen als im Falle Menéndez Salmóns) gnadenlos verrissen (vgl. Hackl 2001). 6

6

In einer Doppelbesprechung sowohl von Hackl als auch von Menéndez Salmón durch Jochen Rack im Büchermagazin Diwan im Bayerischen Rundfunk vom 5.7.2014 wird hingegen (ironischerweise) an Hackls Erzählung über Wilhelm Brasse harsche Kritik geübt, während Medusa im direkten Vergleich positiv bewertet wird. (Dies der Voll-

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4. DER TABUBRUCH UND DIE DEUTSCHE LITERATURKRITIK Wie kommen diese so unterschiedlichen Einschätzungen und Bewertungen von ausländischen, hier spanischsprachigen ›Nazifiktionen‹ im deutschsprachigen Raum zustande? Welche Tabubrüche werden von den Kritikern hingenommen – und wo verläuft offenbar noch immer eine Art rote Linie? In meinen abschließenden Bemerkungen versuche ich, Antworten auf diese Fragen zumindest zu skizzieren. Anders als bei Borges in seinem Deutschen Requiem und anders auch als bei Littells Die Wohlgesinnten kommen in den meisten peripheren ›Täterromanen‹ neueren Datums keine auto- oder homodiegetischen Erzählerstimmen zum Tragen, sondern die nationalsozialistischen Täter fungieren als Reflektorfiguren eines Erzählers in der dritten Person. Je nach Art der narrativen Fokalisierung werden die Täterfiguren dabei nicht ausschließlich negativ dargestellt, sondern erlauben zumindest im Ansatz, da sich der Leser ihrem Blick und ihrer Sicht der Dinge nicht entziehen kann, eine partielle Identifikation. Bei Puenzo führt dies, wie gesehen, zu keinen nennenswerten Problemen, da die Autorin den Holocaust selber nur andeutet – und stattdessen die Geschichte einer Flucht eines Nazis im Exil und einer unerhörten Begebenheit ebendort erzählt. Im Gegensatz dazu befindet sich Menéndez Salmóns Protagonist Prohaska nach dem Untergang des Dritten Reichs als ehemaliger Mitarbeiter von Goebbels’ Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda zwar ebenfalls im Exil wieder, doch lassen ihn die von ihm dokumentierten (und indirekt auch mitverschuldeten?) Bilder des Schreckens dort nicht in Ruhe. Prohaska bleibt dabei als Künstler seiner Bildsprache, die er sich im Nazi-Deutschland angeeignet hat, auch im Exil treu – nur wechselt er die politischen Fronten. Die perfide Strategie der Gleichsetzung von Juden mit Ratten im NSPropagandafilm Der ewige Jude (1940) ist auch heute noch bekannt. Aus den Filmstills und der Transkription des vom Kommentator dazu gesprochenen Texts 7 geht hervor, dass der gesprochene Text als eine Art performativ realisierte subscriptio eines rassistisch motivierten Emblems fungiert, das Bild und Bedeutung, Signifikant und Signifikat – Ratte und Jude – willkürlich miteinander koppelt.

ständigkeit halber und um zu dokumentieren, dass Medusa nicht ausschließlich Verrisse erhalten hat.) 7

Vgl. http://www.holocaust-history.org/der-ewige-jude/stills.shtml [10.01.2019].

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Prohaska greift in seinem (natürlich fiktiven) Nicaragua-Film nun genau auf dieselbe Strategie zurück wie Fritz Hippler in Der ewige Jude. Ich zitiere aus Carsten Reglings deutscher Übersetzung von Medusa: Durch die Verwendung der Parallelmontage im Stil der sowjetischen Schule verschachtelt Prohaska in einer Mise en abyme zwei Geschichten, die auf einen offensichtlichen Punkt zusteuern: Angesichts der Ratten, die Felder vernichten, Gebäude verwüsten und alles verschlingen, was ihren Weg kreuzt [...], dieser lautlosen Plage, die Somozas Regime, seinen lautlosen, absurden Despotismus symbolisiert, stirbt jede Hoffnung – längst nicht mehr auf Widerstand oder Rebellion, sondern sogar auf Würde. Die Bilder von Soldaten der nicaraguanischen Guardia Nacional, die breitbeinig rauchend zusehen, wie die Rattenflut die Straßen Managuas überschwemmt, vermögen als Metapher mehr zu leisten als irgendeine bleierne akademische Geschichtsschreibung. (Menéndez Salmón 2014: 104)

Womöglich liegt genau hier die eigentliche Provokation Menéndez Salmóns, die entsprechend negative Reaktionen bei den Rezensenten befördert. Denn wenn Menéndez Salmóns Prohaska die rassistischen Allegorien der NS-Propaganda auf den Kopf stellt und im Sinnbild der Ratte die Opfer eines totalitären Regimes – die Juden – nun einfach durch die Täter in einem anderen totalitären Regime – die Soldaten Somozas – ersetzt, dann stellt er nicht nur die Vorstellung von ›engagierter‹ Kunst an sich in Frage, sondern – schlimmer noch – er insinuiert die Austauschbarkeit von Tätern und Opfern und scheint den Holocaust und mit ihm dessen Singularität vordergründig zu relativieren. 8 Der wohlige Schauder des Unheimlichen und Unerhörten, wie ihn der Leser von Puenzos Wakolda noch verspüren mag, wandelt sich bei der Lektüre von Medusa – so die abschließende Vermutung – zu einer Zumutung: nämlich zu einer fundamentalen Abwehrhaltung, die sich von derjenigen der Deutschen nach dem Krieg, als ihnen zwangsweise die Bilder von den Leichenbergen in ihren KZs vorgeführt wurden, nur graduell unterscheiden dürfte. Nicht alle, aber viele deutschsprachige Literaturkritiker scheinen – wie gesehen – aus einer solchen Situation emotionaler Aufgewühltheit heraus gegen Medusa angeschrieben zu haben.

8

Dass dem nicht so ist, hoffe ich aber zumindest angedeutet zu haben. Die Metareflexion im Roman über das Medusa-Motiv, das bekanntlich auch in Agambens Überlegungen zu den Muselmännern in den KZs wiederkehrt (vgl. Agamben 1998), scheint mir ein eindeutiges Indiz gegen eine solche Lesart zu sein.

174 | Marco Thomas Bosshard

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Transformationen von Debattenund Erinnerungskultur Identität, ›Vergangenheitsbewältigung‹ und der ›europäische‹ Institutionenroman. Ein kooperativer Kommentar nach dem ›Ende der Theorie‹ Wolfgang Johann und Reto Rössler

ABSTRACT This article discusses different aspects of the complex constellation of Memory, Literature, and Society in (West-)Germany. It argues that a substantial theory of Europe for the post-wall era and the present age has not be formulated yet. The first part shows that the ›lack‹ of theoretical effort is based on the ›transformation‹ within the inner-German debate of memory culture from 1949 until today. It points out the difference between the historical event of and the (cultural/fictional) reference on the Holocaust. The second part then discusses the example of Robert Menasse’s novel The Capital (2017) and shows how the difference between historical event and cultural/literary reference can be embedded into a narration of contemporary Europe and its institutions. Keywords: Memory culture – Identity politics – Robert Menasse – Institutional novel

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VORBEMERKUNG Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um einen ›kooperativen‹ Schreibversuch. Er stellt als solcher das vorläufige Ergebnis einer gemeinsamen Deutung, zuallererst jedoch auch einer (literatur-)theoretischen Verständigung über die Gegenwart Europas nach dem ›Ende der Theorie‹ dar. Der perspektivische Zuschnitt der einzelnen Argumentations- bzw. Lektüreteile soll auch auf den Umstand hinweisen, dass die Bemühungen um eine Transformationsgeschichte Europas im 20. und 21. Jahrhundert ihrerseits nicht auf neutralem Boden stehen; dass ihre Historisierung und Systematisierung nicht unabhängig von der Theoriegeschichte und ihren Debatten zu sehen sind, und dass eine jede ›Arbeit an Europa‹ als Interpretation und Prozess stets Diskussion, Revision und Kritik einfordert, damit jedoch immer auch die Möglichkeit zu kollektiven und dialogischen Theorieentwürfen bietet. *** Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des ›Ostblocks‹ scheinen die sich neu formierenden Gesellschaften innerhalb Europas an historischen Standortbestimmungen und Selbstverortungen mehrheitlich gescheitert – und dies betrifft mit Blick auf die aktuelle europäische Situation sowohl grundlegende, mehr als nur Momentaufnahmen erfassende historisch-kulturelle Krisendiagnosen, als auch ›positive‹ Europaerzählungen (sofern diese sich nicht wiederum in den Identitäts- und Exklusionssemantiken des 20. Jahrhunderts verfangen). Wo also könnte die Suche nach möglichen Ursachen für eine derartige analytische, hermeneutische und erzählerische ›Schwäche‹, möglicherweise auch ein Unwille zur Erzählung und zur erneuten Deutung und Diagnose, ihren Anfang nehmen? Wesentlich für das Selbstverständnis und die Selbstrepräsentation der Gesellschaften Europas im 20. und 21. Jahrhundert waren die Erfahrungen des Holocaust und von Auschwitz. Was aber geschieht, wenn sich diese Erinnerungskultur – in der innerdeutschen Perspektive: seit dem Übergang von der Bonner zur Berliner Republik – schrittweise zu wandeln beginnt? Was, wenn demnächst die Zeit ohne Zeugen auskommen muss und die historischen Ereignisse trotz aller Erinnerungsarbeit an Präsenz verlieren, ja, wenn sie vom Diskursrauschen neu aufkommender Populismen geradezu hinweggespült zu werden drohen? »Einen Mückenschis deutscher Geschichte«, nannte ein deutscher Politiker, Alexander Gauland (AfD), zuletzt die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 und wurde dafür von nicht wenigen deutschen Bürger*innen gefeiert.

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In unserem ›Kommentar‹ verhalten wir uns zu diesem Satz auf zweierlei Art und Weise. Ihm lässt sich zum einen mit ›harter‹ Theorie und ideologiekritischer Analysearbeit begegnen, die, wie hier im ersten Teil, die einzelnen Transformationsschritte innerhalb der Debatte um die Erinnerungskultur in der Bonner und Berliner Republik rekonstruiert. Einer weiteren Möglichkeit des Umgangs – ihr ist der zweite Teil des Beitrags gewidmet – hat sich jüngst Robert Menasse mit seinem Roman Die Hauptstadt bedient. Und dies nicht nur, sofern es sich hierbei um eine literarische Behandlung über den Zusammenhang von Europa und Erinnerungskultur handelt, sondern auch, sofern er damit das riskante Manöver wagt, Europa (hier: Brüssel) und das Ereignis des Holocaust (hier: Auschwitz) als einen stets neu herzustellenden Erzählzusammenhang auszuweisen. Naheliegende Theoriefragen, wie die nach dem Verhältnis von Narration, Dekonstruktion und Kritik, wollten wir dabei bewusst aussparen. Auch und gerade, weil man sie in der Vergangenheit bereits allzu oft gestellt und nur selten produktiv gewendet hatte (so gesehen könnte man die 1990er-Jahre und ihre in sich kreisenden Theoriestreitigkeiten getrost als Teil ebenjener ›zeitdiagnostischen Krise‹ begreifen). Als produktiver – insbesondere im Hinblick auf Europa und seine Darstellbarkeit – erschienen uns demgegenüber Formen und Leitsätze der Kooperation, wie sie beispielsweise der Autor und Theoretiker Alexander Kluge einmal kurz und prägnant formuliert hat: »Keiner ist alleine schlau genug«. Auch in diesem Sinne verstehen wir unseren Untertitel.

1. ZUM BEGRIFF UND KONTEXT EINER BUNDESDEUTSCHEN ›ERINNERUNGSKULTUR‹ Die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland weist, wenngleich auch erst auf den zweiten Blick, einen engen Bezug zur kulturhistorischen Kategorie der ›Transformation‹ auf, erscheinen doch die hier etablierte DebattenKultur und das historiographische Konzept der Transformation als untrennbar ineinander verflochten. Im Speziellen waren die Debatten der Bonner und Berliner Republik verknüpft mit dem Selbstverständnis eines postnazistischen Kollektivs, welches sich der Wechselwirkungen zwischen Debatte und Identität mal mehr, mal weniger bewusst gewesen ist. Zu den Momenten, die eher unterschwellig und erst in der Reflexion darüber erheblichen Einfluss auf das Selbstverständnis der Gesellschaft im Nachkriegsdeutschland nahmen, gehört zum Beispiel das ›Wiedergutmachungsabkommen‹ aus dem Jahr 1952 zwischen der jungen Bundesrepublik und dem Staat Israel: Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer hatte für dieses historische Abkommen im Bundestag keine eigene

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Mehrheit erhalten und war somit auf die Stimmen der oppositionellen SPD angewiesen (vgl. Kloke 1994: 77). Die formale Anerkennung der Notwendigkeit einer ›Wiedergutmachung‹ wie auch die Debatte über diesen Begriff bildeten wesentliche Elemente innerhalb der so genannten ›Vergangenheitsbewältigung‹ während der Adenauer-Ära. Ein markantes Beispiel für eine bewusste und gezielte Manifestation der Erinnerungskultur als Teil des deutschen Selbstverständnisses findet sich in der Eröffnungsrede von Norbert Lammert zur 16. Bundesversammlung am 15. Februar 2017. Hier heißt es: Bequem ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nie, aber sie ist eine demokratische Tugend. ›Nur wer mit sich selbst im Reinen ist, kann mit Sinn gestalten. Ähnlich sehe ich das bei einem Staat.‹ Das schrieb mir nach der diesjährigen Gedenkstunde des Bundestages am 27. Januar, dem Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus, ein 24-jähriger Student, berührt und ›auch stolz‹, wie er schreibt, angesichts des Willens zur Aufarbeitung unserer Geschichte. Keine Schwäche, wie manche behaupteten, sei das für ihn, betonte er, sondern ›das exakte Gegenteil: Eine unserer größten Stärken‹. (Lammert 2017)

So verschieden diese Beispiele sind, sie weisen auf einen Paradigmenwechsel innerhalb der Erinnerungskultur von der Bonner zur Berliner Republik hin. 1 Diese These soll im Folgenden kurz vorgestellt werden, um daran anschließend den veränderten Umgang mit der Erinnerungskultur anhand von Robert Menasses 2017 erschienenen und im gleichen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Die Hauptstadt zu exemplifizieren. Es geht dabei also weniger um das Wie der Erinnerung im Sinne Jan Assmanns oder im Sinne einer ›Erinnerungspolitik‹ 2, sondern um das Warum; gesellschaftliche Kommunikation ist

1

Auf den narrative turn wird im Folgenden noch näher eingegangen, siehe dazu und dessen Implikationen in Bezug auf die Erinnerungskultur an die Shoah: Müller-Funk 2015. Wenn hier der Begriff ›Paradigmenwechsel der Erinnerungskultur‹ eingeführt wird, so komplementär dazu. Müller-Funk sieht die »Verantwortung von Kunst und Literatur« darin, »was sie (auch nicht) und in welcher Form sie es erzählen, darin besteht ihre ästhetische wie ethische Verantwortung.« ebd. 37. Dieser Punkt soll um Beobachtungen ergänzt werden, die die Wechselwirkung zwischen Erinnerungskultur und der erinnernden Gesellschaft in den Blick nehmen.

2

Dazu gehören unter anderem die vieldiskutierten und markanten Wendepunkte in der offiziellen deutschen Erinnerungspolitik wie etwa Brandts Kniefall in Warschau oder Weizsäckers Rede zum 8. Mai, aber auch etwa die Forderung von Volkhard Knigge

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in mehrfacher Hinsicht nicht funktionslos, was letztlich auch und besonders im literarischen Feld der Bonner und Berliner Republik beobachtbar wird. 3 Assmann bemerkt über Ersteres, das ›Wie‹: Wenn man heute über das Problem der kulturellen Erinnerung nachdenkt, stellt sich unausweichlich die Frage, inwieweit solche Modelle auf die deutsche Situation der Gegenwart anwendbar sind. Brauchen wir die Erinnerung an Auschwitz, und wenn ja: in welchen Formen kann sie erhalten bleiben? […] Ohne die nationalistischen Regungen im vereinten Deutschland verharmlosen zu wollen, die auch mich mit Sorge und Abscheu erfüllen, gilt jedoch nach wie vor, daß es auf der Welt kein zweites Land geben dürfte, das in einem vergleichbaren Ausmaß antinationalistisch denkt. Die Deutschen wollen alles sein, nur keine Deutschen. Ich sehe darin keinen Grund zu kritischen Vorhaltungen, sondern vielmehr allen Anlaß, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Die Deutschen waren als Nation ›verspätet‹ und sind als Nation gescheitert. Die nationalistische Semantik hat auf deutschem Boden ihre bösartigsten Konsequenzen entfaltet. Kein Wunder, daß sie hier keine Wurzeln mehr schlagen kann. Diesen Sinnverlust gilt es als Gewinn zu verbuchen. Dazu bedarf es einer Erinnerungskultur, die das Bewußtsein der Konsequenzen und Zusammenhänge wachhält. (Assmann 1995: 74f)

Eine Reflexion über eine so verstandene Erinnerungskultur, die sich zwischen den diskursiven Eckpfeilern einer »zweiten Schuld« (Ralph Giordano), der Möglichkeit eines »zweiten Holocaust« (Benny Morris) und einem »Erinnerungstheater« (Max Czullo) aufspannt, konzediert, dass neben dem moralischen Imperativ des Erinnerns an die Shoah – an die Opfer, an die Täter, die Orte, die Kontexte, alle rekonstruierbaren Einzelheiten sowie die Vor- und Nachgeschichte – auch immer andere Interessen oder Implikationen bewusst oder unbewusst mittransportiert werden. 4 Wenn also im Folgenden von ›Identität‹ und ›Selbstverständnis‹ die Rede ist, wird dabei an das kulturwissenschaftliche Konzept der ›kollektiven Identität‹ angeschlossen, – ein Konzept, das nicht kulturelle Normierungen voraussetzt oder unterstellt, sondern das auf empirischem Wege Selbst- und Weltdeutungen innerhalb bestehender gesellschaftlicher Ordnungen rekonstruiert. Jan Assmann schreibt dazu:

nach einem Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur: Knigge 2010a und Knigge 2010b. Zu dieser Debatte bereits: Lingen 2009 und Welzer 2010. 3

Siehe zum »Unbehagen an der Erinnerungskultur« bereits: Assmann 2016.

4

Siehe dazu die angegebenen Texte von Knigge, aber auch: Jureit/Schneider 2010; zu dem benachbarten Thema der Erinnerungspolitik etwa: Wolfrum 1999.

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Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ›an sich‹, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Denken und Handeln der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag. (Assmann 1992: 132, Herv. i.O.)

2. ERINNERUNGSKULTUR UND ›VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG‹ – ASPEKTE DES DEBATTENVERLAUFS IN DER BONNER UND BERLINER REPUBLIK Als ein markanter Wendepunkt in der Entwicklung der Erinnerungskultur kann demnach die Instrumentalisierung der Shoah für tagespolitische Entscheidungen angesehen werden. Die Begründung für einen NATO-Einsatz im Kosovo mit der Formel »nie wieder Auschwitz« nahm die Shoah in den Dienst für konkrete parteipolitische Interessen – und ging einher mit der Anlehnung der Berichterstattung über serbische Internierungslager an die NS-Terminologie in BosnienHerzegowina. Roy Gutman gewann 1993 den Pulitzer-Preis für seine Berichterstattung, die ausdrücklich Analogien zur NS-Zeit herstellen wollte und flankierte damit den Gebrauch der hochgradig moralisch aufgeladenen Formel »nie wieder Auschwitz«, die einen wichtigen Aspekt des Selbstverständnisses der postnazistischen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck brachte, welche drohte – so der zeitgenössische Vorwurf –, sich im Gebrauch für parteipolitische Interessen zu einer Leerformel zu wandeln. 5 Dies kann als Indiz dafür gelten, dass bei der Transition der Erinnerungskultur von der Bonner zur Berliner Republik auch (aber nicht nur) eine Funktionserweiterung der Bezugnahme

5

Vgl. Fischer 2014 und Gutman 1994, darunter ein Bericht vom 21.7.1992 unter dem Titel »›Wie Auschwitz‹. Serben pferchen Muslime in Güterwagen«; ebd. S. 85. In einem Interview anlässlich der Preisvergabe erklärte Gutman, er habe eine strenge Objektivität aufgegeben, um direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger zu nehmen; vgl. Ricchiardi 1993. Dies ist nach wie vor Teil der aktuellen akademischen Auseinandersetzung in ganz unterschiedlichen Disziplinen; als abgeschlossen kann weder die juristisch/historische Aufarbeitung noch die wissenschaftlich/moralische Beurteilung gelten. Vgl. Hoare 2003, Brock 2005, sowie bilanzierend: Sundhaussen 2007.

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auf die Shoah um die Möglichkeit ihrer politischen Instrumentalisierung stattgefunden hat. Das ebenso imperativisch-zwangsläufige wie nüchterne Warum der Transformation der Erinnerungskultur formulierte Golo Mann, Büchnerpreisträger des Jahres 1968, an einer viel beachteten Stelle folgendermaßen: »Jede Generation muß sich ihren Begriff von der Vergangenheit selber machen.« (Mann 1960: 11) Daran schließt eine weitere Überlegung an: Der Paradigmenwechsel der Erinnerungskultur ist verknüpft mit dem Selbstbild der deutschen Gesellschaft nach 1945, das sich in der jeweiligen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit manifestiert und damit vor dem Hintergrund einer generationellen Zuständigkeit und den jeweiligen zeithistorischen Kontexten auch das gesellschaftliche Selbstverständnis transformiert. Dass neuere soziologische Untersuchungen kaum einen generationellen Einstellungswandel in bundesrepublikanischen Nachkriegskohorten feststellen können, steht diesem Gedanken nicht entgegen, denn dabei wird nicht die ›Transformation‹ selbst bestritten, sondern vielmehr bekräftigt, dass es sich hierbei um gesamtgesellschaftliche Prozesse handelt. (vgl. z.B. Schröder 2018) Im direkten Kontext der Erinnerungskultur weist darauf auch eine Studie von Alphons Silbermann aus dem Jahre 2000 hin, deren empirischer Befund auf die Frage »Erinnern oder Vergessen. Die Menschenverfolgungen und Massentötungen im Dritten Reich sind jetzt schon länger als 50 Jahre vorbei. Für wie wichtig halten Sie es, sich auch heute noch daran zu erinnern?« zu dem Ergebnis kam, dass durch alle Alterskohorten hindurch dies 34,7% für »sehr wichtig« und weitere 37% für »wichtig« hielten. (Silbermann 2000: 230) Hinsichtlich dieses Befundes rückt das Warum der Erinnerung umso deutlicher in den Mittelpunkt, da der Umstand selbst unstrittig und das Wie weitläufig diskutiert ist. Der »unerbittliche Polemiker« 6 Eike Geisel sah bereits früh in der Erinnerungskultur den Versuch einer »Wiedergutwerdung der Deutschen«. 7 Dabei dient die Shoah als Projektionsfläche für eine politische Selbstverortung und ist Ausdruck des eigenen Standortes in einem imaginierten Spannungsfeld eines jeweils kontextuell unterschiedlich artikuliertem ›Ich‹ oder ›Wir‹ gegenüber ›den Nazis‹. Die Erinnerungskultur übernahm also auch eine Entlastungsfunktion, um sich wieder oder trotzdem positiv und affirmativ auf ein wie auch immer verstandenes ›Deutschland‹ beziehen zu können. Daran anknüpfend stellte 2018 Max Czollek seinen Betrachtungen die Prämisse voran, dass »die öffentliche

6

So Oleg Jurews Charakterisierung Geisels in der Frankfurter Rundschau (FR

7

Vgl. Geisel 2015.

19.10.2015).

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Repräsentation von Juden und Jüdinnen mehr über die Selbstwahrnehmung der Deutschen verrät als über das Judentum.« (Czollek 2018: 7) Die Polemik bei Geisel bestand nun darin, dieser Disposition generell zu unterstellen, dass sie der Konstruktion eines ›guten‹ Deutschlands gegenüber den ›bösen‹ Nazis diene. Beides, Disposition und Polemik, können dabei als jeweils zwei Aspekte desselben Gegenstandes angesehen werden, wie es etwa Thomas Mann schon sehr früh formulierte, indem er von einer dialektischen Ambivalenz ausging: […] daß es nicht zwei Deutschland gibt, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. (Mann 1974: 1146) 8

Die eingangs zitierte Rede von Lammert kann nun auch vor dem Hintergrund jener Ambivalenz gesehen werden, deren Reflexionen seit den 1990er Jahren immer stärker auch die Konzepte der ›Nation‹, ›Heimat‹ und ›Identität‹ mit berücksichtigten. 9 In der Untersuchung der Debatte im Kontext des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin kam der Historiker Jan-Holger Kirsch zu dem Ergebnis: »Der Holocaust wird in den Dienst einer Identitätspolitik genommen, bei der insbesondere die Juden trotz ostentativer Vereinnahmung erneut ausgegrenzt werden.« (Kirsch 2003: 319) 10. Damit wird das Selbstverständnis der postnazistischen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland entlang der Erinnerungskultur beobachtbar. Diese ist, mal direkt, mal indirekt, bewusst wie unbewusst, (Teil-)Ausdruck eines deutschen Selbstverständnisses nach Auschwitz. Eine solche Erinnerungskultur ist nun in dieser Form im internationalen Vergleich nicht nur singulär, 11 sondern auch alles andere als homogen und abgeschlossen: Neben der permanenten Selbsttransformation in den gesellschaftlichen Debatten sind Akteure, Interessen und Argumente beziehungsweise Argumentationsmuster heterogen, different und teilweise widersprüchlich. Die

8

Siehe zu Manns Rede Deutschland und die Deutschen auch: Bahr 2003.

9

Beispiele dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzungen sind etwa die so genannte ›Leitkulturdebatte‹ und die Debatte um Artikel 16 des Grundgesetzes in den 1990er Jahren. Diese Debatten sind alles andere als abgeschlossen. Als Beispiele zweier unterschiedlicher Standpunkte und Perspektiven seien genannt: Biebricher 2018 und Dorn 2018.

10 Siehe zu dem Thema »Opferkonkurrenz« in der Debatte um das ›Holocaustdenkmal‹ in Berlin: Patrut 2009. 11 Vgl. zu den einzelnen Differenzen im europäischen Vergleich den Band von Nagy/Wintersteiner 2015.

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Komplexität solcher Differenzierung umfasst dabei zumindest folgende Punkte: Es gibt eine Differenz zwischen staatlicher und institutioneller Erinnerungskultur sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren; es gibt ein Spannungsfeld zwischen Repräsentativität und Normativität; Perspektivierungsdifferenzen der Blickrichtung auf einen jeweiligen Gegenstand je nach staatlichem/institutionalisiertem/zivilgesellschaftlichem Akteur (Beobachtung erster Ordnung) oder die Beobachtung des jeweiligen Akteurs und seiner Rolle selbst (Beobachtung zweiter Ordnung) sowie damit zusammenhängend die Differenz zwischen historischem Ereignis und erinnerter Repräsentation. 12

3. HOLOCAUST-/REPRÄSENTATION: ZUR ENTKOPPLUNG VON EREIGNIS UND REFERENZ Insbesondere der letzte Punkt lässt sich kulturwissenschaftlich hinsichtlich einer Identitätskonstruktion und -konstitution untersuchen, da beide durch die Differenz von Ereignis und Repräsentation beobachtbar werden. Dieses Wechselspiel zwischen Ereignis und Repräsentation ist aufgespannt zwischen den beiden Polen, die Elie Wiesel und Imre Kertész jeweils folgendermaßen formulierten: »›The Holocaust as Literary Inspiration‹ is a contradiction in terms. As in everything else, Auschwitz negates all systems, destroys all doctrines.« (Wiesel 1977: 7) und: »Das Konzentrationslager ist ausschließlich in Form von Literatur vorstellbar, als Realität nicht.« (Kertész 2003: 148). Vor dem hier skizzierten Hintergrund bedeutet das: Die jeweilige Repräsentation sagt oftmals mehr über sich selbst beziehungsweise über die jeweiligen Akteure aus, als über das historische Ereignis – dies lässt sich im Anschluss an die Debatte anlässlich Hayden Whites Metahistory feststellen, worauf nachfolgend noch Bezug zu nehmen sein wird. In der Bonner Republik galt das insbesondere für Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit dem ›Historikerstreit‹. Das Jahr 1985 erscheint dabei als zentral: Mit Blick auf diesen debattengeschichtlichen Umbruchspunkt lässt sich ein Paradigmenwechsel konstatieren – nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund des sich (noch immer) vollziehenden Generationenwechsels. Wolfgang Kraushaar hat darauf hingewiesen, dass diese Verschiebung auch hinsichtlich einer Auseinandersetzung mit der so genannten ›68er‹-Generation gesehen werden muss. Diese prägte mit Persönlichkeiten – in ihrem weiteren Umkreis – wie Heinrich Böll, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas maßgeblich die Grundsatzdebatten

12 Vgl. Assmann 1997:52

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in der Bonner Republik. Zentrale Kulminationspunkte dieser Einflussnahme lassen sich auf theoretischer Ebene im ›Historikerstreit‹ verorten, sowie einige Jahre später in der politischen Auseinandersetzung innerhalb der Rot-Grünen Koalition. Die damit einhergehende Deutungshoheit werde nun, so Kraushaar, im Versuch herausgefordert, bereits erreichte gesellschaftliche Positionen wieder in Frage zu stellen. 13 Damit wird die Auseinandersetzung beziehungsweise die jeweilige gesellschaftliche Positionierung in der Debatte zu einem Marker, oder, in Anlehnung an Shulamit Volkovs wegweisende Untersuchung zum Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, zu einem kulturellen Code, 14 um damit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse oder zu einem politischen Lager zu markieren. So erschienen Anfang 2019 nahezu zeitgleich zwei Texte mit der Überschrift »Nazis rein«, zum einen von Jan Fleischhauer im Magazin Der Spiegel, zum anderen von Mely Kiyak in der Wochenzeitung Die Zeit. Während Fleischhauer argumentierte, »›Nazis rein‹ wäre als Motto sehr viel gesellschaftsdienlicher. Selbst echte Nazis hat man zu integrieren versucht.« (Fleischhauer 2019), kam Kiyak demgegenüber zu dem Schluss: Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es offenbar unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, was in diesen Tagen echter Widerstand ist. Für die einen bedeutet es, sich radikal solidarisch mit den Geflohenen, den Minderheiten, den Verfolgten und Verzweifelten zu zeigen. Und die andere Gruppe wähnt sich bereits im aktiven Widerstand, wenn sie rechtsextreme Politiker in Schutz nimmt. Sie kommen sich dann vor, als hätten sie gerade eine Aktentasche in der Baracke zur Wolfsschanze abgelegt. Wie genau schützt man als Bürger eigentlich die Demokratie? Und können sich diejenigen, die sich in den vergangenen Tagen von ›Nazis raus‹ provoziert gefühlt haben, mit der Parole ›Nazis rein‹ besser identifizieren? Würden sie es bedenkenlos twittern können? (Kiyak 2019)

Damit wird deutlich, dass es in dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Formen politischen ›Framings‹, um das Neu- und Umbesetzen von etablierten Begriffen des politischen Sprachgebrauchs, 15 aber auch ganz grundsätzlich um das eigene politische Selbstverständnis sowie um Deutungshoheiten – in diesem Fall: jene über Vergangenheit und Geschichte – geht. Mit der funktionalen Erweiterung der Repräsentation des historischen Ereignisses und seiner dadurch bedingten Neubewertung und Reaktualisierung geht also immer auch eine Identi-

13 Vgl. Kraushaar 2018. 14 Vgl. Volkov 2000. 15 Vgl. Wehling 2016.

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tätskonstruktion der jeweiligen Akteure einher, welche damit punktuelle und beobachtbare Realisationen der pluralistischen postnazistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen. 16 Dies, so könnte man schlussfolgern, ist lediglich die feuilletonistische Verlängerung der zu Beginn der 1990er Jahre entbrannten Theoriedebatte um den so genannten narrative turn, der in den historisch orientierten Kulturwissenschaften mit Hayden Whites Metahistory eingeleitet wurde, und dessen Studie der bis dahin mehr unbewusst vorgenommenen Debattenverschiebung einen Kristallisationspunkt schuf, in dessen Zentrum der Pauschalvorwurf einer poststrukturalistischen Relativierung des Holocaust steht. 17 So kommt Carlo Ginzburg, einer der ersten Kritiker von White, in der Nachbetrachtung noch zu dem Ergebnis: Wie wir gesehen haben, argumentiert White, dass Skeptizismus und Relativismus die epistemologischen und moralischen Grundlagen für Toleranz liefern können. Diese Behauptung ist jedoch aus historischer wie logischer Sicht unhaltbar. […] Tatsächlich erinnert Whites Argumentation, in der Wahrheit und Effizienz zueinander in Beziehung gesetzt werden, unausweichlich nicht an Toleranz, sondern an ihr Gegenteil […]. (Ginzburg 2013: 72)

Insofern gibt es gute Gründe, die Youngs bilanzierende Einschätzung, wonach die Argumentation Whites in dieser Debatte – welche die enormen Impulse, die Whites Metahistory für die historischen Kulturwissenschaften bot, nicht schmälerte,– »hauchdünn« (Young 1997: 148) sei, zu bestätigen scheinen: Die Authentizitätsfiktion des narrative turn richtet sich in den Debatten des Feuilletons gegen sich selbst. Beinahe zur gleichen Zeit um den Jahreswechsel 2018/2019, als der Spiegel in einem Skandal um den Nachwuchsjournalisten Claas Relotius am »Tiefpunkt in der 70-jährigen Geschichte« (Fichtner 2018: 41) des für die Bonner Nachkriegszeit maßgeblichen Nachrichtenmagazins verwickelt war, wurde bekannt, dass Robert Menasse in einer fiktionalen Konstruktion eines nichtfiktionalen Textes Auschwitz als einen Gründungsmythos Europas insinuierte. Der Holocaust wird damit zu einer Meistererzählung der Postmoderne. 18

16 Ein möglicher ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ angesichts der digitalen Medien fügt dieser Thematik eine weitere Komplexität hinzu, auf die an dieser Stelle lediglich hingewiesen werden kann. Siehe dazu Nagle 2018. 17 Siehe dazu die Diskussion bei Daniel 2001 (150-167), sowie grundlegend Young 1997 und Rexroth 2007. 18 So bereits die Schlussfolgerung von Jarausch 2002: 10-12.

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Ob sich nun die Gesellschaft durch die Debatten transformiert, die sie führt, oder umgekehrt, erscheint angesichts des Resultats, das beides konstatiert, als eine Frage, die sich schwerlich nach nur einer Seite hin auflösen und damit einseitig beantworten ließe. Mit dem historischen Ereignis stehen diese Debatten kaum mehr in einem über das eigene Selbstverständnis zu definierendem Zusammenhang. Die Vermutung besteht, dass sich mit der immer größer werdenden Distanz zwischen historischem Ereignis und erinnernder Repräsentation spätestens seit 1985 beobachtbare Phänomene in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Übergang von der Bonner zur Berliner Republik nicht voneinander ablösten, sondern diese Leerstelle mit einer negativen Sinnstiftung ausgefüllt werden musste, deren Resultate vom zeitlichen Abstand abhängig sind. Diese debattengeschichtliche Entwicklung wurde gerade nicht entlang der politischen Ereignisgeschichte und den Umbrüchen um 1989/1990 eingeleitet, 19 sondern vielmehr um das Jahr 1985, also 40 Jahre nach dem Kriegsende, 20 vorbereitet: Neben der bereits erwähnten Rede von Weizsäckers zum 8. Mai 1945 fielen in dieses Jahr die Fassbinder-Kontroverse, Ronald Reagans Besuch auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg sowie der dem Historikerstreit vorangegangene Briefwechsel zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer über die Historisierung des Holocaust. 21 Eine Antwort auf die Frage unter dem zu Beginn skizzierten Warum der Erinnerungskultur kann somit den Beginn der Debatten um die Historisierung der NS-Zeit und die Funktionstransformation anführen, da nunmehr das historische Ereignis bewusst für Identitätskonstruktionen genutzt wurde, welche sich mal mehr, mal weniger vom eigentlichen Gegenstand entkoppelten, an dessen vorläufigem Ende die Authentizitätsfiktion Menasses steht. Somit lässt sich konstatieren, dass mit dem zeitlichen Abstand zum historischen Ereignis auch und gerade die Pluralität und Komplexität der erinnerten Repräsentation tendenziell zunimmt und sich dadurch sowohl die historische als

19 Wolfgang Bergem umreißt einige der zentralen Debatten der 1990er Jahre und führt dazu sechs »Ursachen des Wandels in den Erinnerungen an die NS-Diktatur« an, von denen zwei den generationellen Wandel berücksichtigen; vgl. Bergem 2003: 88-96. 20 Dieses Argument einer Periodisierung ist auch ein Aspekt und Gegenstand der Erinnerungskultur und ihrer Betrachtung: Mit einer anderen Perspektivierung wird für das Jahr 1945 die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zentral. 21 Siehe dazu Friedländers Resümee über das Jahr 1985: Friedländer 2007. Norbert Frei vermutete, dass eine »Zäsur in unserem Verhältnis zur NS-Geschichte« der Staatsakt am 10.05.2005 zur Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas werden könne. Dieses Datum ist aus heutiger Perspektive ebenfalls wieder verblasst; vgl. Frei 2005: 8.

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auch die interpretatorische Differenz zwischen beidem, historischem Ereignis und erinnerter Repräsentation, fortlaufend vergrößert. Die Transformationen und die Pluralität der – diachron zu verstehenden – Erinnerungskulturen sagt somit mehr über die jeweilige postnazistische Gesellschaft aus, die diese Debatten führt oder geführt hat, als über das erinnerte historische Ereignis. Dies wird insbesondere durch Literatur in ihrer Funktion, gesellschaftliche Phänomene beobachtbar zu machen und zu dokumentieren, deutlich. Damit tritt die Differenz von historischem Ereignis und erinnerter Repräsentation und der sich daraus ableitenden gesellschaftlichen Funktion in den Blickpunkt. Vor dem Hintergrund differenzierender und differenzierter Transformationsprozesse, von denen die Frage nach Gedächtnis und Generation eine zentrale Rolle einnimmt, bekommt der dokumentarische Charakter der Holocaust-Literatur (im Sinne einer Zeugnisliteratur) 22 eine umso größere Relevanz und höhere Dringlichkeit, je weiter postmoderne Interpretationsschleifen den Abstand zwischen historischem Ereignis und erinnerter Repräsentation vergrößern. Diese Relevanz hat sie zwar seit jeher gehabt, diese stellt aber dem Bedürfnis einer Authentizitätsfiktion eine Faktizität entgegen, womit sich unter aktuellen Vorzeichen ein ungleich potenzierter Stellenwert ihres dokumentarischen Charakters ergibt. ***

4. TRANSFORMATIONEN DER ERINNERUNGSKULTUR – AM BEISPIEL VON ROBERT MENASSES INSTITUTIONENROMAN DIE HAUPTSTADT Robert Menasses 2017 erschienener Roman Die Hauptstadt verbindet den hier (mit Blick auf die bundesdeutschen Debatten) skizzierten Wandel der Erinnerungskultur mit der Frage nach der Darstellbarkeit und Erzählbarkeit Europas in der Gegenwart. In der Tradition der Institutionenromane der Klassischen Moderne stehend (vgl. Campe 2005), lässt sich dieser Roman als deren (post)moderne réécriture lesen, wobei sich der Fokus nun auf die nächsthöhere Ebene sozialer und politischer Organisation hin verschiebt: strukturell gekoppelt werden nun nicht mehr Institution und Nation wie etwa in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (3 Bde; 1930-1942), auf den Menasses Roman wiederholt anspielt und der zweifelsohne dessen zentralen Intertext wie auch den

22 Vgl. Roth/Feuchert 2018.

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historischen Referenz- und Kontrapunkt bildet, 23 sondern vielmehr fest etablierte politische Institutionen und die trans-nationale Ordnung der EU. Als ›moderner‹ Institutionenroman handelt Die Hauptstadt weniger von der Entwicklung oder vom Scheitern eines Helden, vom Aufstieg oder Fall eines Familiengeschlechts, sondern beschreibt und ›erzählt‹ die Arbeitsweise einer Institution: hier, die der EU Kommission in Brüssel. Über die institutionelle Verbindung der handelnden Hauptakteure verschränkt der Roman dabei zwei mit Blick auf die innerdeutsche Debatte um die Erinnerungskultur strikt getrennte Themenkreise: das Bewahren der Erinnerung an ›Auschwitz‹ einerseits und die Frage nach Europa andererseits. In Interviews zum Roman und auch bereits in früheren Essays zu Europa hatte Menasse in beiden Diskursverschiebungen eine parallele Entwicklung – wenngleich keine Korrelation – gesehen: zum einen die stetig schwindende Selbstverständlichkeit einer Erinnerung an die Shoah (der Unwille, die Vergangenheit präsent zu halten); zum anderen die kognitive wie normative Befremdung vieler europäischer Bürger mit der EU (der Unwille bzw. das Unvermögen, die Gegenwart und Zukunft Europas transnational zu denken). In seinem Essay Der europäische Landbote (2012), der als Vorstufe zum Roman gelten kann, verweist Menasse etwa auf eine großangelegte europaweite Umfrage aus dem Jahr 2011, derzufolge 42% der Befragten sich auch noch zwei Jahrzehnte nach den Maastrichter Verträgen und der Gründung der EU nicht mit dem europäischen Staatenbund identifizieren können, sie die Brüsseler Beamten als elitär und weltfremd ansähen und die von ihnen erlassenen EU-Gesetze als Bevormundung und Gängelung der ›eigenen‹, nationalen Freiheit empfänden (vgl. Menasse 2012: 20). Gegen derartige institutionelle wie konzeptuelle Entfremdungserscheinungen schreibt Menasses Hauptstadt an. Erst und gerade mit Blick auf die Institutionen der EU tritt das vermeintlich abstrakte Gebilde ›Europa‹ so in seiner materialen Konkretheit hervor. Der Roman spielt insofern auf mehreren Ebenen, als er über die Figuren Fenia Xenopoulou, Leiterin des Ressorts für Bildung und Kultur der EU-Kommission und ihrem Assistent Martin Susman, nicht nur die Arbeit der Institution – hier: an einer Imagekampagne zur Verbesserung der Außenwirkung der Kommission – beschreibt, sondern die Narration selbst auch auf performativer Ebene wiederum an dieser Imagearbeit teilhat. Indem der Roman auf einer horizontal-systematischen Ebene die innerbetrieblichen Abläufe der EU darstellt, bricht er mit hartnäckig bestehenden Klischees wie dem des elitären und weltfremden EU-Beamten wie auch mit Formen eines einseitig macht- und institutionenkritischen Blick auf die EU-Kommission. In einer Vielzahl von Episoden

23 Siehe hierzu auch den Beitrag von Lena Wetenkamp in diesem Band.

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macht der Roman dazu deutlich, dass Themen wie das europäische Rauchverbot, die Frauenquote, der freie innereuropäische Warenverkehr, Richtlinien für die Nahrungsmittelproduktion, z.B. von Schweinefleisch, als Elemente einer gemeinsamen Norm- und Alltagswelt in Europa nicht einfach ›da‹ sind, sondern sie das Resultat langwieriger Aushandlungsprozesse darstellen, als deren Vermittlungsinstanz (weniger Kontroll- und Steuerungsmacht) die Kommission dabei agiert. Für den Kontext der Erinnerungskultur grundlegender ist jedoch die historisch-vertikale Perspektive des Romans, die hier nun ebenfalls mit der (Image-) Arbeit der Institution verknüpft wird. 1914, 1918, 1945, 1957, 1968, 1989, 1992 – implizit oder explizit werden im Laufe der Handlung zentrale Wegmarken der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert aufgerufen und dabei auf eine pointierte und zugleich hoch-provokante These enggeführt. Während der Arbeit an seiner Imagekampagne wird Martin Susman im Roman als Vertreter der Kommission zu einer Gedenkfeier anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz in das ehemalige Konzentrationslager eingeladen. Als er auf dem dortigen Gelände einen Getränkeautomaten mit der Aufschrift »Enjoy« erblickt (Menasse 2017: 171), geht ihm plötzlich auf, dass selbst dieser zentrale Ort des Gedenkens an die Shoah dabei ist, seine Bedeutung peu à peu zu verlieren; er mithin im Begriff scheint, ›normal‹ zu werden. Susman wendet diese Einsicht daraufhin ›dialektisch‹, könne doch die ›Normalität von Auschwitz‹ auch so gedeutet werden, dass Auschwitz – immer noch und immer bereits – »überall« sei. Daraus ergibt sich schließlich seine Idee, ins Zentrum des 60-jährigen Jubiläums der Gründung der EU-Kommission im Jahr 1967 die Überlebenden von Auschwitz zu stellen: Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Kommission. […] Das, was die Kommission ist oder sein soll, sagte Martin, konnte man doch erst nach Auschwitz denken. Eine Institution, die die Staaten dazu bringt, nach und nach nationale Souveränitätsrechte aufzugeben […]. Die Opfer kamen aus allen Ländern Europas, sie trugen alle dieselbe gestreifte Kleidung, sie lebten alle im Schatten desselben Todes, und sie alle hatten, so sie überlebten, denselben Wunsch, nämlich die für alle Zukunft geltende Garantie der Anerkennung der Menschenrechte. Nichts in der Geschichte hat die verschiedenen Identitäten, Mentalitäten und Kulturen Europas, die Religionen, die verschiedenen so genannten Rassen und ehemals verfeindete Weltanschauungen so verbunden, nichts hat eine so fundamentale Gemeinsamkeit aller Menschen geschaffen wie die Erfahrung von Auschwitz. (Menasse 2017: 184)

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Eine weitere Figur des Romans, Walter Erhart, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, der beschließt, sich in einem der Kommission nahe stehenden Think Tank (»New Pact for Europe«) zu engagieren, spitzt diese Idee im Laufe des Romangeschehens nochmals zu: In Auschwitz muss die neue europäische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. ›Nie wieder Auschwitz‹ ist das Fundament, auf dem das europäische Einigungswerk errichtet wurde. (Menasse 2017: 394)

Als besonders brisant erscheint eine solche narrative Verschaltung von Erinnerung, Auschwitz, Europa und der Imagearbeit der Kommissionsmitarbeiter, sofern diese Kopplung unmittelbar in die zum Teil heftig geführten (und bis in die Gegenwart nachhallenden) Theorie-Debatten speziell innerhalb der Linken zwischen Konstruktivisten und Realisten zurückführt und die dort separierten Positionen – ›Objektivität des geschichtlichen Standpunkts‹/Kritik des Bestehenden/›Erinnerung‹ im Sinne einer Nicht-Dekonstruierbarkeit des Geschehenen versus die Pluralität, Multiperspektivität, Kontingenz und Narrativität von Geschichte – kurzerhand ineinander verschränkt. Während sich Vertreter der letzteren Position, darunter Philosophen wie Jacques Derrida in seinem Essay L’autre cap (dt.: Das andere Kap; 1992), aber auch Dichter und Schriftsteller*innen wie Yōko Tawada oder Hans Magnus Enzensberger nach der Wende bemühten, Europa genealogisch wie konzeptuell neu zu denken, um damit essentialistischen Festschreibungen seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert und den mit ihnen verbundenen Fallstricken zu entgehen, sahen erstere hierin Relativismen in der Geschichtsschreibung Tür und Tor geöffnet – bis hin zu der problematischen Position, Auschwitz selbst als historische Konstruktion zu begreifen, die historische Faktizität des Geschehens damit wenigstens zu unterlaufen, wenn nicht gar in Frage zu stellen. Bezogen auf diese Kontroverse spielt Menasses Die Hauptstadt nun so etwas wie einen Vermittlungsversuch durch. Der Roman greift das Diskurselement ›Auschwitz als Konstrukt‹ explizit auf, bezieht es dabei jedoch auf die (immer wieder neu zu leistende) Erinnerungsarbeit der EU-Institutionen und ihrer Bürger. Während die Romanperspektive so einerseits dem Konstruktivismus nahezustehen scheint, findet sich im Roman selbst dagegen gerade keine rein formale (lediglich diskursiv hervorgebrachte) Konzeptualisierung Europas. Der empirische bzw. realistische Grundzug der Hauptstadt – Menasse war für seine Recherchen u.a. zwei Jahre nach Brüssel gezogen, um die Arbeit der EU-Beamten längerfristig zu beobachten – besteht demgegenüber in einer Realitätsnähe fin-

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gierenden innerbetrieblichen Beschreibung der kommunikativen Akte der Kommission, an deren Ende gleichermaßen EU-Regularien wie auch eine kollektiv hervorgebrachte europäische Erinnerungskultur – oder aber auch das Scheitern all dieser Operationen stehen. Im Kreuzungspunkt all dessen befindet sich bei Menasse jedoch die Figur des einfachen EU-Beamten, der (Anti-)Held des Institutionenromans. Dessen Rolle wird hier nicht zuletzt auch dadurch aufgewertet, dass er in seiner Arbeit die einander widerstreitenden Positionen nicht nur einander annähert, sondern zugleich miteinander verwebt, indem die Konstruktionsleistung von europäischer Identität und Geschichte mit dem Bewahren ebendieser Erinnerung zusammenfällt – mit den Worten Susmans: »Wir [Beamte; R.R.] sind die Hüter der Idee« […] »Nie wieder – das ist Europa. Wir sind die Moral der Geschichte.« (Menasse 2017: 185) Als Gegengewicht zu einem solchen Lob auf die europäischen Institution(en) scheint der Realismus des Romans aber besonders überall dort durch, wo die hären Idealismen einzelner Beamter (Susman, Professor Erhart, später auch Fenia) wiederum auf die ›harten‹ Beschränkungen der Institution zurückgeworfen werfen. So erklärt etwa die polnische Regierung im Roman ›Auschwitz‹ als »ausschließlich deutsches Problem« (Menasse 2017: 334); die Briten vereinnahmen den Kommissionsvorschlag, um ihre Brexit-Pläne voranzutreiben, die Deutschen betonen, dass »die Muslime in Europa nicht aus dem europäischen Einigungswerk ausgeschlossen werden dürfen« etc. (Menasse 2017: 412). Erscheint die EU-Kommission in der Logik des Romans als institutioneller Widerspart gegen aufkommende Populismen in Europa, so scheitern ihre Vorhaben letztlich vor allem an den nationalen Interessen der Einzelstaaten – was wiederum die Notwendigkeit einer Ablösung europäischer Einzelstaaten und die Gründung einer gemeinsamen europäischen Republik nahelegt, wie sie Menasse wiederholt in Interviews und in seinen Essays gefordert hat. Den Charakter eines literarischen Gedankenexperiments erhalten die Vorbereitungen der Kommission auf das »Big Jubilee Project« – eine Anlehnung an die ›Parallelaktion‹ im Mann ohne Eigenschaften – jedoch insbesondere im Hinblick auf den Romanschluss. Dass bei einem Bombenanschlag in der Brüsseler Metrostation Maelbeek gleich alle drei ›Bewahrer‹ einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur, Martin Susman, Professor Erhart und David de Vriend, dem wie die Recherchen der Ressortmitarbeiter ergeben, letzten verbliebenen Auschwitz-Überlebenden, zu Tode kommen, lässt sich dabei allegorisch lesen und auf einen historischen Transformationspunkt der Erinnerungskultur beziehen. Die letzte Szene des Romans zeigt schließlich de Vriends Pflegerin Schwester Joséphine sowie den Hauswart des Altenheims, Monsieur Hugo, bei der Räumung des von ihm bewohnten Zimmers. Als Joséphine auf dem Schreibtisch

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eine Liste findet, in der de Vriend alle verbliebenen Überlebenden aufgelistet und nach ihrem Ableben jeweils fortlaufend durchgestrichen hatte, bis schließlich nur noch sein eigener Name übrig blieb, vermag sie die Bedeutung dieses Dokuments bereits nicht mehr zu ermessen: Joséphine fragte sich, was sie mit dieser Namensliste machen sollte. In den Karton werfen? Oder in den Papierkorb? Sollte sie den Namen David de Vriend auch durchstreichen? Hatte er das wollen? Hatte er das Blatt deswegen hier auf das Tischchen gelegt, zusammen mit dem Kugelschreiber? Damit sie dann – (Menasse 2017: 452)

Während die letzten Zeitzeugen des Holocaust bereits in wenigen Jahren verschieden sein werden und die Intellektuellen seit geraumer Zeit fortwährend ihre eigene ›Krise‹ beschwören, bleibt im Roman lediglich die Institution selbst als ›Hüterin‹ von Erinnerung und Geschichte übrig. Wie sich Joséphine am Ende entscheidet, ob sie die Liste tatsächlich wegwirft oder sie aufbewahrt, lässt der Roman, der mit einem Gedankenstrich endet, offen. Was in Musils Mann ohne Eigenschaften mit Blick auf den alten Nationalstaat der untergehenden k.u.k.-Monarchie notwendig erschien, gilt in der Hauptstadt auch noch auf transnationaler Ebene im Europa des frühen 21. Jahrhunderts: Nicht nur bedürfen die politischen Körperschaften für ihre Identitätsbildung sinnstiftender Erzählungen, die für sich genommen dabei inkludierend wie exkludierend wirken können; auch zeigt Menasses Roman, dass europäische Identität und Erinnerung gegenwärtig untrennbar miteinander verwoben scheinen. Im Sinne eines Vermittlungsversuchs ruft der Institutionenroman dazu in Erinnerung, dass Macht, Gesellschaft und Fiktion speziell mit Blick auf die Geschichte Europas stets verbunden waren. Gerade weil sich der Modus der Fiktion hinsichtlich des von ihm Repräsentierten stets als indifferent erwies, erschiene es demnach ratsam, auch seine Verantwortung möglichst unabhängigen Institutionen zu überlassen. Wenn der Roman einerseits die Auflösungserscheinungen der ›alten‹ Erinnerungskultur darstellt, er dabei das (drohende) Schwinden von Bewusstsein und Verantwortung für die Ereignisse der Geschichte bis hin zum ›Vergessen‹ des Holocaust diagnostiziert und ein solches Wegbrechen der Tatsachen und Ereignisse im Bewusstsein vieler europäischer Bürger gerade durch die Schaffung neuer ›Gründungsmythen‹ beantwortet, so verweist dies umgekehrt auch auf die Herausforderungen an eine ›neue‹ Erinnerungskultur, deren Zukunft vermutlich davon abhängen wird, ob es ihr gelingt, Epistemologien bzw. Historiographien zu erdenken, welche den Gegensatz zwischen einer Ontologie des Tatsächlichen, Wahrhaftigen und Faktischen und der Idee einer Pluralität und Performativität von Geschichte und Erinnerung überwinden.

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Menasses literarisches Gedankenexperiment zur europäischen Erinnerungskultur provoziert und polemisiert vor allem, jedoch nicht ausschließlich in so hohem Maße, weil der Roman die EU-Hauptstadt Brüssel und die »Kulturhauptstadt Auschwitz«, und damit zugleich die Idee einer Gemeinschaft im Zeichen des europäischen Friedens mit dem genius loci von Rassismus, Völkermord und Barbarei, fortlaufend überblendet. Zudem erscheint über das »Jubilee Project« das Erinnern an den Holocaust sowohl als Teil einer Event- und happening-Kultur als auch weist es der Roman als Element einer quasi-kapitalistischen Verwertungslogik innerhalb der EU-Institution aus, deren ›Arbeit‹, dies verdeutlicht etwa auch der differenzierte Blick auf die ehrgeizige und aufstrebende Ressortchefin Fenia Xenopoulou, nicht unwesentlich von persönlichen Machtinteressen, dem Bestreben, schlicht die nächsthöhere Stufe auf der Karriereleiter zu erklimmen, getrieben scheint. Der Roman trägt somit der Ambivalenz, welche den Institutionen moderner Gesellschaften praktisch seit Anbeginn des Moderne-Diskurses zukam, einerseits Rechnung, und weist die Kommission dennoch als jene transnationale Gegeninstanz aus, die es vermag, sich den Spaltungstendenzen wie auch den sich formierenden antidemokratischen, nationalistischen und rassistischen Kräften innerhalb Europas entgegenzustellen. Menasses Hauptstadt analysiert und reflektiert so einerseits die Umbrüche der Erinnerungskultur in Deutschland und Europa; zugleich steht der Roman jedoch selbst noch im Rahmen ebenjenes gegenwärtigen europäischen Transformationsprozesses. Hierauf deutet nicht zuletzt auch der jüngste Literaturskandal um Menasses Roman im Kontext von fake news und sogenannten ›alternativen Fakten‹ hin. Nachdem der Roman 2017 mit großer Zustimmung mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden war, hatte unmittelbar darauf der renommierte Historiker Heinrich August Winkler in einem Spiegel-Artikel darauf hingewiesen, dass Menasse seine literarische Fiktion einer europäischen Erinnerungspolitik im Zeichen von Auschwitz nicht allein auf den Roman selbst beschränkt, sondern auch auf das nicht-fiktionale Genre seiner Europa-Essayistik ausgeweitet hatte (vgl. Winkler 2017). Konkret hatte Menasse mehrfach behauptet, der deutsche CDU-Politiker Walter Hallstein habe 1958 als erster Präsident der neu gegründeten EU-Kommision eine Antrittsrede auf dem Gelände von Auschwitz gehalten und hierin die Abschaffnung der Nation als Kern der europäischen Idee ausgewiesen. Doch hatte Hallstein weder in Auschwitz gesprochen noch die besagte Verbindung zwischen der Gründung der EU-Institution als Lehre aus den Erfahrungen der Geschichte in dieser Weise hergestellt. Die anhaltende Kritik an diesen fingierten Behauptungen reichte bis hin zu der Forderung, Menasse die Carl-Zuckmayer-Medaille 2019, für die er im Jahr davor nominiert worden war, nicht zu verleihen.

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Darf die Literatur, zu deren Funktion und Selbstverständnis seit jeher das Operieren an der Schwelle von ›Fakten‹ und ›Fiktionen‹ zählte, so weit gehen, selbst fake news zu produzieren, insbesondere dann, wenn sie Themen wie die Shoah und die mit ihr verbundene Erinnerungskultur betrifft? Bei aller Komplexität der Sachlage – allzu offensichtlich erscheinen hier die Parallelen auch zum ›Fall Relotius‹, der die Spiegel-Herausgeber immerhin zu einer ganzen Serie von stets um Differenzierung bemühten Stellungnahmen und Aufarbeitungs-Artikeln bewog –, scheint es absehbar, dass man deratige Fragen nach dem Verhältnis von ›Faktualität‹ und ›Fiktionalität‹ innerhalb kultureller Artefakte und Kontexte künftig nicht mehr nach einer der beiden Seiten hin wird auflösen können, will man dabei nicht mehr in alte Denkstrukturen bereits geführter Theoriedebatten zurückfallen. Im ›Fall Menasse‹ jedenfalls bewegten sich beide ›Seiten‹ aufeinander zu und die Entscheidung fiel – wenigstens vorläufig – zugunsten des Autors aus. Nach einer in Abstimmung mit der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer abgegebenen Erklärung wurde Menasse die ihm zugedachte Auszeichnung im Januar 2019 schließlich verliehen. In seiner Stellungnahme hatte er dazu anstelle einer ›harten‹ Differenz zwischen fact und fiction die graduelle Unterscheidung zwischen stärker fiktionalisierenden und stärker faktualisierenden Schreibweisen vorgenommen und auf dieser Basis im Umgang mit Zitaten innerhalb von historischen Ereignisbeschreibungen eigene Fehler eingeräumt, derartige Praktiken innerhalb seiner Romanfiktion jedoch wiederum gerechtfertigt. 24 Ebenfalls Ende 2018 widmete schließlich auch die Zeitschrift für Medienund Kulturforschung dem neu aufgekommenen Begriff der ›alternativen Fakten‹ ein Themenheft, in dessen Vorwort die beiden Herausgeber Lorenz Engell und Bernhard Siegert ebenjenes ›Medienereignis‹, dass seit Anfang 2017 (der erstmaligen Verwendung des Begriffs alternative facts durch die Beraterin des amerikanischen Präsidenten Kellyanne Conway) »Glaubwürdigkeit von Unehrlichkeit« nicht mehr per se »erschüttert« wird, sondern »gar gestärkt« werden kann, zugleich zum Anlass für eine theoretische Standortbestimmung nahmen (Engell/Siegert 2018: 6). Als eine Art Minimalkonsens aus den intensiven science wars der 1990er Jahre führen sie dabei jene inzwischen weitgehend geteilte Einsicht an, dass ›Faktualität‹ insofern stets einen fiktionalen Kern aufweise, als diese sich immer schon als »Medienprodukt« herausstelle. Die Rede vom ›Medi-

24 Vgl. hierzu die Presseerklärung der Landesregierung Rheinland-Pfalz vom 7. Januar 2019: https://www.rlp.de/de/service/pressemeldungen/einzelansicht/news/detail/News/ dreyer-und-menasse-vorbehaltlose-anerkennung-von-fakten-gehoert-zumwertefundament-unserer-liberalen/ [zuletzt aufgerufen am 05.04.2019].

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en-Ereignis‹ trug demnach innerhalb der Debatte dem Sachverhalt Rechnung, »dass Medien und Geschichts-›Tatsachen‹ in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen. Was wirklich ist oder was als Realität anerkannt wird, ist nicht von den Operationen der Medien zu trennen.« (Ebd. 7) Umgekehrt benennt wiederum Albrecht Koschorke, dessen Arbeiten in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich zur Etablierung poststrukturalistischer Theoreme innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften in Deutschland beigetragen hatten, in einem Beitrag desselben Themenheftes nun auch klar die Fallstricke und Limitationen ebendieses Paradigmas. So setze Dekonstruierbarkeit stets rationale Argumentation voraus, die jedoch gegenwärtig gerade kein notwendiges Formationselement moderner Populismen in Europa mehr bilde. Wenngleich sich mit dem Besteck der Dekonstruktivisten noch ideologische Grenzziehungen der hier vertretenen Positionen enttarnen ließen, hindere es diese Bewegungen doch nicht daran, »sich immer wieder zu regenerieren, solange hinter ihnen ein ›Wille zur Macht‹ steht und kollektive Energien auf sich zieht.« (Koschorke 2018: 113) Die Frage, die Koschorke am Ende – wohl auch im Sinne einer Bilanz der Diskussion um die ›Postmoderne‹ bzw. ihres Erbes – stellt, scheint somit ebenso eine Kardinalfrage innerhalb der Diskussion um die Erinnerungskultur (wie auch eines ›Europas der Übergänge‹) zu sein: wie nämlich ein Weg aus der »toten Zone« wieder herausführen könne, wie Kritik wieder möglich werde, »ohne dabei das emanzipatorische Potenzial und die Erkenntnisleistungen der poststrukturalistischen Theorien […] preiszugeben«. (Koschorke 2018: 118) Es gehört zu den Eigenarten und Vorzügen der Literatur, dass sie, wenngleich stets eng auf Theorie-Debatten bezogen, über diese und ihre Sackgassen häufig genug hinauswies. Menasses Hauptstadt kann als ein solcher Versuch gelesen werden, Erinnerung, Europa, Empirie, Kritik und Narration zusammenzuführen. Wie bereits ein Jahrhundert zuvor könnte sich der Institutionenroman in seinen re-aktualisierten Varianten und Ausprägungen als jenes poetische Genre erweisen, das derartige Vermittlungen zwischen Dichtung, Theorie, Politik und Geschichte auch künftig unternimmt.

5. AUSBLICK. ›TRANSFORMATIONEN EUROPAS‹ IM KONTEXT VON POPULISMEN UND FAKE NEWS Dass kulturelle Diagnoseversuche konstitutiv ›zu spät‹ kommen, gehörte seit jeher zu den unliebsamen Umständen, derer sich die Interpreten bewusst und an die sie gewohnt sein mussten. Zuweilen jedoch scheint die Ereignishaftigkeit des

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›Wirklichen‹ sich in besonderer Weise zu verdichten und das so Betrachtete wiederum zu überholen. In den Abschluss dieses ›Schreibversuchs‹ fielen die politischen Enthüllungen um den österreichischen FPÖ-Politiker und Vizekanzler Heinz-Christian Strache vom 17. Mai 2019. An diesem Tag veröffentlichten die deutschen Online-Medien spiegel.de und süddeutsche.de sowie die Wiener Stadtzeitung falter Ausschnitte aus einem insgesamt siebenstündigen Video, aufgezeichnet in einer Villa auf Ibiza im Juli 2017, wenige Wochen vor der österreichischen Nationalratswahl. Zu sehen ist darin Strache, in lässiger, prahlerischer Pose, rauchend und sichtlich angetrunken, im Gespräch mit der vermeintlichen Nichte eines russischen Oligarchen, in Wahrheit einer Schauspielerin. Auf die Erkundigung der »Russin« nach Investitionsmöglichkeiten in Österreich im Umfang von mehreren hundert Millionen Euro thematisiert Strache »ganz offen« die Möglichkeit zur Übernahme der österreichischen Kronenzeitung, verbunden mit dem Angebot, Bauaufträge in großem Umfang an die Investorin zu vergeben, wenn es ihr durch die Übernahme des einflussreichen Boulevardmediums im Gegenzug gelänge, für die anstehenden Wahlen »drei, vier Leute zu pushen« bzw. »drei, vier Leute abzuservieren.« Dieses Video ist auf gleich mehreren Ebenen verstörend (die an eigener Stelle eingehender zu untersuchen wären). Seine Brisanz liegt dabei, ganz allgemein gesprochen, nicht darin, dem Diskurs zum Verhältnis von Wahrheit, Fakten und Fiktionen im politischen Sprechen neue Elemente hinzugefügt zu haben. Sie ist viel eher darin zu sehen, die Reflexionsspirale eines bereits zusammengebrochenen Koordinatensystems von ›wahrer‹ und ›falscher‹ öffentlicher Rede um eine weitere Umdrehung ergänzt zu haben. Denn musste man die von rechten Populisten bzw. amtierenden Präsidenten und Staatsoberhäuptern eingezogene Unterscheidung zwischen ›wahren‹ und ›alternativen Fakten‹ als doppelten Angriff – primär auf die Faktentreue seriöser journalistischer Berichterstattung und Geschichtsschreibung, sekundär auf das ästhetisch verfremdende, konjunktivische und utopische Potential der dichterischen und theoretischen Einbildungskraft – seitens ideologisch instrumentalisierter Fiktionalität ansehen, so bezeugt die sogennante »Ibiza-Affäre« um Strache nun nicht allein die Evidenz des schon immer Geahnten, den Inszenierungscharakter wie die Korrumpierbarkeit politischer Macht, sondern sie demonstriert darüber hinaus auch, dass selbst die Aufdeckung dieser Affäre und somit die Herstellung des Evidenten ihrerseits keinen unerschütterlichen, festen Boden besitzt: dass auch sie wiederum Resultat einer Inszenzierung, deren Initiatoren – Stand heute – unbekannt sind, war; und dass auch sie, wie bereits am Folgetag der Enthüllung von Politikern wie von Journalisten vermeldet wurde, nur um den Preis einer »Falle« möglich gewesen ist –

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eine Rhetorik, die wiederum, wie könnte es anders sein, wohletablierte, u.a. auch antisemitische Verschwörungstheorien reaktivierte. 25 Diese jüngste »Affäre« innerhalb des europäischen Staatenverbunds führte nur wenige Tage später, am 27. Mai, zu einem Misstrauensvotum des Nationalrates und zur Amtsenthebung des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz. In diskurslogischer bzw. -rhetorischer Hinsicht dürfte die Summe der mit ihr einhergehenden medialen Dopplungen, Verwerfungen und Brüche indes eine erneute Erschütterung der Glaubwürdigkeit politischer Rede nach sich gezogen haben. Der sich fast unweigerlich einstellende Gedanke, das mit jeder weiteren solchen Erosion selbst um Differenzierung bemühte Beobachter mehr und mehr in die Rolle von ›Paranoikern‹ gedrängt zu werden drohen, deren Unterscheidungen zwischen ›fact‹ und ›fake‹ sich als zunehmend schwieriger gestalten, offenbart dabei zugleich wie unter einem Brennglas das bestehende Dilemma von Wissenschaft, Theorie, Dichtung und Kunst hinsichtlich ihrer Aktions- und Positionierungsspielräume in dieser Frage. Sollte man etwa den Anbruch eines neuen »postfaktischen Zeitalters« konsequent negieren und den Angriff auf Wahrheit und Faktentreue entschieden verteidigen oder böte demgegenüber gerade die populistische Nivellierung der Unterscheidung fact/fake die Dringlichkeit zu ebendiese beobachtenden fiktiven Verdopplungen der Literatur und Theorie? So wenig dies die einzig möglichen Alternativen darstellt, und so wenig diese jeweils ohne Verluste zur Wahrung und Verteidigung einer demokratischen Öffentlichkeitskultur zu haben sein werden, so wenig notwendig erscheint es gerade vor diesem Hintergrund auch, sich allein einer dieser Alternativen zu verschreiben. Von der Zukunft und jetzigen Gegenwart her gesehen könnte der in den 1990er Jahren erreichte Theorienpluralismus so in all seiner Unübersichtlichkeit wiederum auch als Leistung und Chance angesehen werden, weil er erstmals und unmittelbar sichtbar die Koevolution, wenngleich auch noch nicht das – in jedem Falle künftig wünschenswerte – Zusammenwirken einander ehemals entgegenstehender Theorieschulen demonstriert hat. Ihr künftiger Minimalkonsens könnte dabei die Topoi von ›ästhetisierter Politik‹ und ›politisierter Künste‹ unweigerlich reaktualisieren (vgl. Benjamin 2003: 44) – unweigerlich bereits deshalb, weil die sich ereignenden Grenzverschiebungen des Politischen Ästhetiken, Theorien, Poetiken und Künste zum Widerstand mit den ihnen eigenen Mitteln auffordern.

25 Die Debatten um diesen Themenkomplex sind vielfältig und in ihrer Quantität kaum noch zu überblicken. Siehe dazu stellvertretend: Skudlarek 2019.

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Kakanien und Habsburg als Zukunftsmodell Europas? Zur Aktualisierung und Funktionalisierung eines Mythos bei Ilma Rakusa und Robert Menasse Lena Wetenkamp

ABSTRACT This article explores the aftermath of the Habsburg monarchy in the works of contemporary authors Ilma Rakusa and Robert Menasse, arguing that both authors – in different ways – highlight certain aspects of the Empire (such as transnationalism and ethnic and religious heterogeneity) in order to introduce a model for a future Europe. Keywords: Habsburg Monarchy – German contemporary literature – Nostalgia – Postnationalism – Europe

»Ich bin nie ein Nostalgiker des Habsburgerreichs gewesen. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich in gewisser Weise doch noch einer werde.« (Menasse 2014) Dieses Zugeständnis des österreichischen Autors Robert Menasse mag manche Leserin und manchen Leser genauso überraschen, wie die Aussage der in der Schweiz lebenden Schriftstellerin Ilma Rakusa über einen wichtigen Einfluss auf ihr literarisches Schaffen: »Die[] kakanische Provinz hat meine Kindheit geprägt, und wo immer ich auf ihre Bilder stoße, beginnt etwas in mir zu schwingen und zu klingen: Resonanz, Response.« (Rakusa 2006: 14) Trotz der unterschiedlichen Begriffe ›kakanisch‹ und ›Habsburg‹ verweisen beide Aussagen auf einen Topos, dem nicht erst seit Claudio Magris’ Studie aus dem Jahr

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1966 der Status eines Mythos zugesprochen wird: den Topos des polyphonen, mehrkulturellen und völkerübergreifenden komplizierten Staatsgebildes des Habsburgerreichs. Müsste man eine Geburtsstunde des damit verbundenen Mythos festlegen, wäre es nach Magris »das Jahr des Heils 1806 […], in dem Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, als Franz I. den Titel eines österreichischen Kaisers annahm« (Magris 1988: 23f.). Seit diesem Zeitpunkt sind im zentraleuropäischen Raum 1 noch vor Entstehung eines dezidiert nationalstaatlichen Denkens trotz vorherrschender kultureller und ethnischer Differenzen Vorstellungen einer übergreifenden Gemeinschaft, eines völkerübergreifenden Reichs auszumachen. Vom Kaiser überlieferte Ausdrücke wie »große Schweiz« und »meine Völker« bringen diese Vorstellungen zum Ausdruck (vgl. Magris 1988: 24; Karoshi 2003: 1; Judson 2017: 21). Heutige Aufrufungen des Mythos beziehen sich jedoch zumeist auf die von 1867 bis 1918 bestehende österreich-ungarische Doppelmonarchie. 2 Deren besondere Struktur und Atmosphäre wurde bereits während ihres Bestehens in literarischen Texten verewigt, nach ihrem Untergang ließ die literarische Beachtung jedoch nicht nach, sondern wurde im Gegenteil noch verstärkt, sodass sich ein »richtiges Genre, ein literarischer Topos« (Magris 1988: 239f.) herausbildete. Auch wenn der tatsächliche »impact der Dynastie auf die Nachwelt« (Moos 2016: 15) laut Carlo Moos bescheiden ausfällt, wird die Erinnerung an diese kontinuierlich reaktiviert. Dabei sind nach Magris Perioden auszumachen, in denen der Mythos verstärkt aufgerufen und literarisch bearbeitet wurde: Gerade in der Zwischenkriegszeit und nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges dienten nostalgisch verklärte Erinnerungen an die Donaumonarchie Schriftstellern wie Joseph Roth und

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Für die Bezeichnung der Region, die historisch mit dem Territorium des Habsburgerreichs zusammenfällt, werden in der Forschung so unterschiedliche Begriffe wie ›Mitteleuropa‹, ›Ostmitteleuropa‹ oder ›Zentraleuropa‹ verwendet. Ein Überblick über die umfangreiche Diskussion der Terminologie kann hier nicht geleistet werden. Bei Malecki (1996: 195-204) und Jaworski (1999: 2-4) lassen sich die verschiedenen Positionen nachlesen. Um den vor allem durch Friedrich Naumanns Mitteleuropakonzept vorbelasteten Begriff ›Mitteleuropa‹ zu vermeiden, der eng mit einem deutschen und österreichischen Hegemonialstreben verknüpft ist, wird im vorliegenden Aufsatz einheitlich auf den Begriff ›Zentraleuropa‹ zurückgegriffen, der durch ähnliche Begriffe in anderen Sprachen (frz. ›L’ Europe Centrale‹, engl. ›Central Europe‹) die europäische Perspektive betont. Rakusa selbst spricht vom »literarischen Kontinent Mitteleuropas« (Rakusa 2006: 8), der ihre Biografie prägt.

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Einen fundierten Überblick über die Geschichte des Habsburgerreichs bietet die aktuelle Studie: Judson (2017).

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Stefan Zweig als Gegenentwurf zu nationalistisch und rassistisch geprägten Ideologien, die das Europa ihrer Gegenwart prägten. Gleichzeitig sind insbesondere mit Karl Kraus auch bissige Kritiker der Monarchie zu verzeichnen. Zu einer zweiten Intensivierung kam es vor dem Hintergrund der Teilung Europas in der 1980er Jahren im Zusammenhang mit der von Schriftstellerinnen und Schriftstellern geführten Mitteleuropadebatte (vgl. Uhl 2003: 45). Ein vermehrtes Auftauchen des Mythos ist damit immer auch als Krisendiagnostik zu verstehen: »Je unruhiger sich die europäische Situation gestaltet[e], desto stärker treten Trauer und Erinnerung an die alten k.u.k. Zeiten hervor.« (Magris 1988: 243) Was heißt es nach dieser Auffassung also, wenn Vorstellungen von Kakanien und Habsburg auch in Texten der Gegenwart heraufbeschworen werden? Die diesem Aufsatz zugrundeliegende These ist, dass auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur an dieser Reaktivierung beteiligt ist und damit den literarisch etablierten Mythos weiterschreibt. Die Aufrufung des Mythos geschieht dabei jedoch nicht im Modus der Trauer über eine unwiederbringlich verlorene Zeit, sondern der Rückblick in die Geschichte erfolgt unter der Prämisse, ein Modell für die Zukunft zu erlangen. Der Mythos übernimmt die Funktion eines gemeinschaftsstiftenden Narrativs, das für eine gemeinsame Grundlage eines in die Krise geratenen Europas einstehen kann. Die exemplarisch gewählten Texte von Ilma Rakusa und Robert Menasse setzen dabei sehr unterschiedliche Schwerpunkte: Rakusas autobiografisch geprägte Texte betonen, dass sich (Zugehörigkeits-)Gefühle, Traditionen und Erinnerungen nicht an heutigen nationalen Grenzen, sondern an transnationalen Räumen orientieren, deren topografische Merkmale mit Bezugspunkten der Donaumonarchie zusammenfallen. Menasse dagegen scheint die mit dem Mythos verknüpften positiven Konnotationen gezielt zu instrumentalisieren, um das Habsburger Modell als Vorbild für ein zukünftiges Europa zu etablieren. Ihm dient der Rückbezug auf die vergangene Epoche zur Stärkung der These des notwendigen Sterbens der Nationalstaaten. Diese verschiedenen Aneignungen und Weiterschreibungen des Mythos werden im Folgenden genauer beleuchtet. Dabei stehen nicht die tatsächlich auszumachenden Kontinuitäten im Mittelpunkt. Die von Moos behandelte Frage, in welchen gesellschaftlichen Bereichen Strukturen, Verordnungen und Traditionen der Doppelmonarchie über ihr Ende hinaus bestehen blieben (vgl. Moos 2016: 9), bilden nicht den Fokus der Analyse, sondern es geht – wie auch Roman Dubasevych für seine Monografie über die Erinnerung an die Habsburgermonarchie in der Ukraine festhält – um Spuren dieser vergangenen Epoche in der Gegenwartskultur, um die »interne[] Struktur der Habsburger-Erinnerung sowie ih-

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re[] Funktionalisierung in der Gegenwart« (Dubasevych 2017: 24). 3 Eine wichtige Beobachtung sei der Analyse vorangestellt: Im Gegensatz zu aktuellen wissenschaftlichen Positionen, die bewusst nicht ein »multikulturelle[s] Kitschbild der Habsburger Monarchie« weiterschreiben wollen, sondern unter Stichwörtern wie ›Kakanien revisited‹ und ›Habsburg postcolonial‹ die Doppelmonarchie als »quasi-kolonialen Herrschaftskomplex und imperiale Großmacht mit kulturmissionarischem Anspruch« (Moos 2016: 11) beschreiben, weisen die literarischen Beispiele diese kritische Perspektive nur am Rande auf. Vor allem wird affirmativ auf das im Habsburgerreich herrschende Nebeneinander verschiedener Kulturen, Traditionen, Sprachen und Ethnien und damit den Aspekt der Heterogenität Bezug genommen. Damit kann die vergangene Epoche mit Moritz Csáky als »Laboratorium« (Csáky 2002b: 11) gesehen werden, in dem Prozesse ausgehandelt wurden, die Modellcharakter für die Gegenwart haben.

KAKANISCHE TRANSNATIONALITÄT BEI ILMA RAKUSA Die Gegenwartsautorin Ilma Rakusa wurde 1946 als Tochter eines Slowenen und einer Ungarin in Rimavská Sobota (Slowakei) geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich. Die Koordinaten ihrer Biografie liegen damit weitgehend innerhalb der Grenzen des ehemaligen Habsburgerreichs und bilden gleichzeitig die Bezugspunkte ihres Prosawerks, das oftmals um fiktive oder autobiografisch grundierte, aber fiktionalisierte Personen, Ereignisse und Orte kreist. Im Folgenden wird vor allem auf ihre literarische Autobiografie Mehr Meer. Erinnerungspassagen aus dem Jahr 2009 eingegangen. Die hier versammelten 69 Passagen unterliegen keiner strengen zeitlichen Abfolge, sondern fokussieren verschiedene einprägsame Erlebnisse und Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen, Kulturen, Sprachen und Orten. Schon in der Kindheit gibt sich die Ich-Erzählerin dem Vergnügen hin, sich über Karten, Globen und Atlanten zu beugen und der Fantasie freien Lauf zu lassen: »Ich sitze da, über dem Buch, und die Kopfreise beginnt.« (Rakusa 2011: 120) Die »Kopfreisen« führen dabei vor allem in einen Raum, der mit den »Pripjetsümpfe[n], den blauen Bändern von Dnjestr und Bug« konkrete Hinweise auf die extradiegetische Welt enthält, aber dennoch aus »eigenen Koordinaten, Formen, Farben« besteht: »Gehörtes klingt mythisch hinein (Urheimat der

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Dubasevych geht dabei von der Beobachtung aus, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch in Polen, Ungarn und der Westukraine eine verstärkte Bezugnahme auf die untergegangene Welt der Habsburger zu verzeichnen ist.

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Slawen etc.), und Ortsnamen wie Halytsch, Brody oder Drohobycz beginnen zu erzählen, als genügte ihre bloße Nennung.« (Rakusa 2011: 121) Halytsch in der heutigen Ukraine gehörte als Teil der Woiwodschaft Ruthenien genauso zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, wie die ebenfalls in der heutigen Ukraine liegenden galizischen Städte Brody und Drohobycz. Mit Galizien wird dabei ein Raum aufgerufen, in dem die Erinnerung an den habsburgischen Vielvölkerstaat bis heute identitätsstiftende Funktion erfüllt – wie die Studie von Dubasevych zeigt. Dieser Bezug zum Habsburgerreich wird bei Rakusa durch die Verwendung bestimmter Wörter verstärkt. So werden die auf den häufigen Reisen aufgesuchten Bahnhöfe nicht nur als »schmutziggrau[], räudig[], hinfällig[]« beschrieben, sondern explizit auch als »mariatheresiengelb[]« (Rakusa 2011: 21). Die Wortneuschöpfung sticht zwischen den geläufigen Adjektiven hervor und der Verweis auf die Kaiserin Maria Theresia, unter deren Regentschaft das Gebiet Galizien unter die Herrschaft der Habsburger fiel, ruft die Vergangenheit der besuchten Orte auf, die noch in der Gegenwart sichtbar bleibt und damit eine der Spuren darstellt, die auf die zurückliegende Epoche verweisen. Auch in anderen Erzählungen der Autorin findet sich der Topos der täuschend friedlichen Oberfläche eines Ortes, der die dort stattgefundene Gewalt aber nicht verdecken kann. So wird in der Erzählung Katica in einem Budapester Lokal getanzt, gestampft und sich im Kreis gedreht. Dennoch kann die Fidel nicht die Tatsache übertönen, »dass hier gemordet, deportiert, revoltiert und zerstört worden war, und dass es dennoch, dennoch ein Weiterleben gab.« (Rakusa 2014: 14) Neben geschichtlichen Referenzen, Farben und architektonischen Gemeinsamkeiten, die die einzelnen Orte miteinander verbinden und einen heutige Grenzen überschreitenden Raum schaffen, kommt auch Gerüchen und Geräuschen eine verknüpfende Funktion zu: »Quietschende Straßenbahnen. Wie damals in Budapest? Der Schnitt der Mäntel. Wie damals in Triest? Die Aktentaschen. Wie die meines Großvaters? Später, als mir beim Aussteigen ein scharfer Braunkohlegeruch in die Nase sticht, weiß ich, wo ich bin. Endlich zu Hause.« (Rakusa 2011: 253) Gerade Gerüchen wird in literarischen Beschreibungen von Erinnerungsprozessen häufig eine Katalysatoren-Funktion zugeschrieben. Auch Magris hebt hervor, dass viele der Texte, die den habsburgischen Mythos als literarischen Topos erst etablierten, die vergangene Zeit über Düfte und Farben heraufbeschwören, um damit die besondere Atmosphäre, die schwer fassbare »musikalische Stimmung« (Magris 1988: 9) der Epoche zu evozieren. Das literarisch geschilderte Koordinatennetz der Erinnerungspassagen weist ein klares Zentrum auf: die heute zu Italien gehörende Stadt Triest. Diese wichtige Station der Kindheit beherbergt das ›Siestazimmer‹, das Rakusa in mehreren

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poetologischen Schriften und autoreferentiellen Texten als Ausgangspunkt ihrer Schriftstellerbiografie beschreibt: Hier war das Zentrum meiner Kindheit. Im Zimmer mit den heruntergelassenen Jalousien. Zur Siestazeit. Ich bin allein, ich schlafe nicht. Liege ausgestreckt auf dem Bett, mit wachen Sinnen, aber zum Nichtstun verurteilt. Es heißt: still sein. Es heißt: ausruhen. (Rakusa 2011: 60)

Die von außen erzwungene Unbeweglichkeit ist in den Erinnerungen der Autorin unweigerlich mit der Freiheit der Gedanken verknüpft, die sich zu Sätzen und Geschichten verbinden und damit einen ersten Akt des Dichtens und Erzählens darstellen. Triest wird jedoch nicht nur mit der persönlichen Vergangenheit in Beziehung gesetzt, sondern auch das Stadtbild weist Spuren der vergangenen Epochen auf: »Soldaten, Straßenschluchten, abweisende k.u.k.-Bauten, Hafenbrachen, Ruinen, Bettler, Kriegsversehrte: mich streifte schon damals die Ahnung, daß Triest seine Schattenseiten hatte.« (Ebd.) In der Gegenwart der Stadt sind nicht nur wahrnehmbare Verweise auf die jüngere Vergangenheit anzutreffen, wie die Risiera di San Sabba, die während des Zweiten Weltkriegs als Konzentrationslager diente, sondern ausdrücklich zählen auch die als »abweisende k.u.k.-Bauten« bezeichneten Monumente der Habsburger Herrschaftsarchitektur zu den sichtbaren Schatten der Vergangenheit. Durch das Adjektiv »abweisend« wird die Erinnerung an die Doppelmonarchie an dieser Stelle zwar negativ konnotiert, eine tiefergehende Kritik erfolgt jedoch nicht. Die in Triest empfundene Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart ist auch im Hinblick auf den Habsburgischen Mythos von Interesse, war doch Triest der einzige Meerhafen der Doppelmonarchie und es lässt sich – wie Moos herausstellt – gerade in diesem Raum eine eigene Variante des nostalgischen Rückbezugs auf die vergangene Epoche ausmachen: »Die Triestiner Habsburgnostalgie ist […] ein schönes Beispiel, […] [da sie] eine Gegenwart, die man als Niedergang empfindet, an einer glorifizierten Vergangenheit misst, die mythisch überhöht wird.« (Moos 2016: 252) 4 Rakusas Ausführungen zu Triest stellen ein Nachdenken darüber dar, wie Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen an einem Ort präsent sein können. So beschreibt die Erzählung Tomaj das Karst des Triestiner Umlands ebenfalls als nur oberflächlich friedlich, denn »in seinen Höhlen und Spalten lie-

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Dabei sind auch hier bestimmte Zeiten auszumachen, in denen sich der Rückbezug verdichtet. Moos identifiziert als »Nostalgie-Wellen« insbesondere die Zeit der Zweiteilung der Stadt nach dem 2. Weltkrieg und die Zeit nach dem Vertrag von Osimo 1975, in welchem die Grenze zwischen Jugoslawien und Italien anerkannt wurde.

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gen Tausende von Kriegstoten. Täuschende Oberfläche, sagt eine Stimme. Unten sind die Schrecken, die Grabkammern, die zerschlagenen Herzen.« (Rakusa 2014: 141f.) 5 Rakusas narratives Vorgehen zeigt in einer Perspektive langer Dauer die zahllosen sich überlagernden Grenzen, Geschichten und kulturellen Formationen des zentraleuropäischen Raums. Dass die heutigen EU-Außengrenzen, die den einstmals vereinten Raum trennend durchziehen, dem eigenen Erleben der Erzählerin widersprechen, zeigt sich in der Aussage, dass Gefühle und staatlich gezogene Grenzen bei ihr auseinandertreten: »Die Regime waren eines, die Topographien ein anderes.« (Rakusa 2011: 14) Und auch ihre an anderer Stelle vorgenommene essayistische Beschreibung des Internationalen Literaturfestivals European Borderlands, das in seinem ersten Jahr in einem »kakanischen Prachtbau« (Rakusa 2009: 10) in Lemberg eröffnet wird, wirft die Frage nach der Gültigkeit heutiger Grenzen auf. Auf der gemeinsamen Reise mit den anderen Autorinnen und Autoren nach Iaşi und Chişinău macht sie die Erfahrung, dass die »EU-Rumänen […] den Moldawiern gegenüber[stehen], die außen vor sind, nämlich durch eine brutale Grenze getrennt. Während sie doch dieselbe Sprache sprechen, demselben Kulturraum zugehören.« (Rakusa 2009: 17) Das Schengener Abkommen hat zwar für große Teile Europas für Personen mit europäischem Pass freie Grenzübertritte und visafreies Reisen ermöglicht, dennoch werfen heutige und vergangene Grenzziehungen Fragen nach empfundener kultureller Zugehörigkeit auf. Die Erinnerung an eine vergangene Einheit des zentraleuropäischen Raums wird bei Rakusa aber nicht im Modus einer direkten Verlusterfahrung beschworen, wie es Magris für die Schriftstellergeneration festhält, die den Zusammenbruch der k.u.k.-Monarchie noch in ihrer Kindheit erlebt hatte. Ein »Heimweh nach einer Welt, die zugleich mit der eigenen Jugend versunken ist und nun in der Erinnerung idealisiert wird« (Magris 1988: 239f.) kann bei Rakusa nicht vorausgesetzt werden. Vielmehr greifen ihre Texte mit den Themen der Transnationalität, der Polyglossie und des anerkannten Nebeneinanders verschiedener Religionen Charakteristiken auf, die auch für das Habsburgerreich festgehalten wurden (vgl. Csáky 2002a: 45; Feichtinger 2015: 217). Zudem weisen gerade die von ihr thematisierten Räume Galizien und Triest eine besonders ausgewiesene nostalgische Verklärung des Habsburgerreichs auf, wie die Studien von Moos und Dubasevych belegen. In dem eingangs genannten Zitat spricht Rakusa von diesem Raum dezidiert aber als einem »kakanischen« und ruft damit den vielleicht wichtigsten literarischen Bezugspunkt des Mythos auf: Der Habsburger Mythos ist nicht mehr ohne

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Genauer gehe ich auf die palimpsestartige Schreibweise von Rakusa an anderer Stelle ein. Vgl. das Kapitel »Europa als Palimpsest« in Wetenkamp 2017: 276-294.

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Robert Musils im Mann ohne Eigenschaften verewigtes Kakanien zu denken, das heute kursierende Bilder und Vorstellungen über diese Epoche entscheidend geprägt hat. Dass auch bei Musil das Habsburgerreich nicht als Gegenwartsbeschreibung, sondern im Modus des Vergehenden und damit in nostalgischer Sicht aufgerufen wird, liegt auf der Hand, da die Habsburgermonarchie bei Erscheinen des Romans (ab 1930) längst nicht mehr existierte. Die Handlung jedoch bezieht sich – sollte man sie an eine konkrete Realität rückbinden wollen – auf den Zeitraum von August 1913 bis August 1914 und hält damit die letzten Monate des Friedens in der zentraleuropäischen Region fest. Musils Kakanien zeichnet sich dabei vor allem durch das Ausleben von Widersprüchen aus: Es war zum Beispiel kaiserlich-königlich und war kaiserlich und königlich; eines der beiden Zeichen k.k. oder k.u.k. trug dort jede Sache und Person, aber es bedurfte trotzdem einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden zu können, welche Einrichtungen und Menschen k.k. und welche k.u.k. zu rufen waren. Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. (Musil 2009: 33)

Der zentraleuropäische Raum, den das Habsburgerreich umfasste, zeichnet sich vor allem durch seine Heterogenität aus. Er war und ist polyzentral und polyphon, trotz der heterogenen Gemeinschaften, Sprachen und sozialen Verschiedenheiten wird aber immer wieder darauf hingewiesen, dass sich hier auch übergeordnete, verbindende kulturelle Codes herausbildeten, die die Region bis heute prägen (vgl. Csáky 2002a: 44f.; Mitterbauer 2006: 17). Die heterogenen Elemente werden laut Inka Mülder-Bach bei Musil durch die Herausstellung der »Undverbindungen« (Mülder-Bach 2013: 271) in eine traumähnliche paradoxe Relation gebracht, die es vermag, zwei sich ausschließende Dinge gleichzeitig auszudrücken. Musil führt diese Paradoxie in der Analyse des österreichischungarischen Staatsgefühls ausführlich vor:

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Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die sich, wie man dann glauben könnte, ergänzten, sondern es bestand aus einem Ganzen und einem Teil, nämlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen Staatsgefühl, und dieses war in Österreich zu Hause, wodurch das österreichische Staatsgefühl eigentlich vaterlandslos war. (Musil 2009: 170)

Was Musils Erzähler ironisch vorführt, ist ein zentrales Charakteristikum des zentraleuropäischen Raums: das Zusammenleben der pluriethnischen Gesellschaften war nicht nach einem Modell zwingender kultureller Zugehörigkeit ausgerichtet. Auch bei Musil werden Zuschreibungen wie die eines »Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen« (ebd.) nur vereinfachend gewählt, um einer Beschreibung des verwickelten Zusammenhangs zu entgehen. Eben dieses Moment ist es, dass Musils Kakanien mit Rakusas Texten verbindet, die in der Beschreibung transnationaler Räume und Biografien unterschiedliche Zugehörigkeitsmodelle entwirft, die – wie das von ihr beschriebene Beispiel der Rumänen und Moldawier zeigt – nicht mit heutigen Grenzverläufen übereinstimmen.

HABSBURG ALS MODELL FÜR EIN POSTNATIONALES EUROPA BEI ROBERT MENASSE Der 1954 geborene österreichische Schriftsteller Robert Menasse ist vor allem in seiner ersten Schaffensperiode als Österreich-Kritiker aufgetreten, als Seismograf der österreichischen Gegenwart, die er u.a. in der sogenannten Trilogie der Entgeisterung auslotet. Sowohl als Romancier als auch als Essayist gehört Menasse gegenwärtig zu den vehementesten Verfechtern der europäischen Idee. Als Meilenstein des schriftstellerischen Europa-Diskurses kann sein im Jahr 2012 veröffentlichter Essay Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss gelten. Auch Menasse bezieht sich direkt auf das Habsburgerreich, wie das Zitat des Anfangs verdeutlicht, aber auch andere aktuelle Texte zeigen. Insbesondere der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman Die Hauptstadt ruft die vergangene Zeit der k.u.k.-Monarchie auf. Der Text, der als »schwarzhumoriger Ideenroman« (Cordsen 2017), »großartiger Gesellschaftsroman« (Zeyringer 2017) und »scharfsinniger Thesenroman« (Simon 2017) vom Feuilleton gefeiert wurde, gibt einen Einblick in die Zentren der europäischen Macht, in die Büros der Brüsseler EU-Beamten, die sich um die Zukunft des europäischen Wirtschafts- und Kulturraums bemühen. Schon diese Figurenwahl lässt eine erste Verbindung zu Österreich-Ungarn zu, weist doch Timothy Sny-

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der nach, dass auch die Habsburgmonarchie vor allem durch Eliten verwaltet wurden, die als Offiziere und Bürokraten nicht an nationale Loyalitäten gebunden waren, sondern die Zentralisierung in übernationalen Institutionen vorantrieben (vgl. Snyder 2014). Dietmar Goltschnigg führt zudem aus, dass Menasse schon im Landboten die habsburgisch-josephinische Bürokratie als »beste Bürokratie Europas« (Goltschnigg 2015: 193) hervorhebt. Diese Bezüge werden in der strukturellen Anlage des Romans verstärkt. Es fällt auf, dass die einzelnen Abschnitte nicht durch Kapitelüberschriften markiert sind, sondern den Kapiteln Aphorismen vorangestellt sind. Schon der erste Aphorismus »Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen« (Menasse 2017: 15) wirft eine Doppeldeutigkeit auf, die den ganzen Text durchzieht. Natürlich lässt sich diese Aussage direkt auf den Zusammenschluss der einzelnen europäischen Länder in der Europäischen Union beziehen, gleichzeitig kann sie aber auch als Referenz auf das Habsburgerreich interpretiert werden, als Anspielung auf den weiter oben beschriebenen übergreifenden Zusammenhang trotz vorherrschender Heterogenität in der k.u.k.-Monarchie. Der Aphorismus, der das letzte Kapitel einleitet »Wenn etwas zerfällt, muss es Zusammenhänge gegeben haben« (Menasse 2017: 401) greift diesen doppelten Bezug wieder auf und legt damit eine Gleichsetzung beider plurikultureller und völkerübergreifender Gebilde nahe. Diese Lesart wird über direkte Anspielungen auf Inhaltsebene gestützt. Dazu gehören fast nebensächliche Anekdoten, wie die der Figur des Professor Erhart, der zu Beginn des Romans als Experte an der Reflection Group New pact for Europe teilnimmt. Im Zuge der Ermittlungen eines in seinem Hotel vorgefallenen Mordes nach seinem Verbleib zur Tatzeit befragt, zeigt dieser dem Kommissar seine über den Tag geschossenen Fotos von verschiedenen Touristenattraktionen Brüssels. Darunter auch: »Das Straßenschild ›Rue Joseph II‹«. Als Grund für die Wahl gerade dieses Motivs, das unter den anderen fotografierten Sehenswürdigkeiten durch seine Banalität hervorsticht, gibt Professor Erhart nur an »Ich bin Österreicher!« (Menasse 2017: 27) Schon auf den ersten Seiten des Textes wird damit über die Schlagwörter ›Österreich‹ und ›Joseph II‹ der konkrete Bezug auf das Haus der Habsburger gegeben. Die mehrmalige Anspielung und direkte Nennung von Musils Kakanien-Roman verstärkt diese Referenz. So tauschen sich die Mitarbeiter der Leiterin der Generaldirektion für Kultur über die akribische Vorbereitung ihrer Chefin Fenia Xenopoulou auf einen in Aussicht gestellten Termin mit dem Präsidenten der Kommission folgendermaßen aus:

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Die Chefin bereitet sich ja seit Tagen generalstabsmäßig auf das Gespräch mit dem Präsidenten vor. Sie will alles von ihm wissen, von seinen Seilschaften bis zu seinem Lieblingsessen, alles, sogar sein Lieblingsbuch. […] Der Präsident hat ein Lieblingsbuch? Wahrscheinlich ›Der Mann ohne Eigenschaften‹!, sagte Martin. ›Der Mann ohne Eigenschaften‹!? Das wäre ein guter Titel für seine Autobiographie!« (Menasse 2017: 52)

Und auch der österreichische Außenminister nimmt beim Ausfüllen eines Fragebogens für eine Frauenzeitschrift auf Musils Roman Bezug, wenn er auf die Frage nach dem Lieblingsbuch von seinem Mitarbeiter den Rat erhält: »›Der Mann ohne Eigenschaften‹. Darunter geht es eigentlich nicht«, da es »in Österreich Tradition« (ebd.: 333) sei, dass sich Politiker zu diesem Roman bekennen. Als präferierte literarische Figur wird ihm allerdings nicht zu Musils Protagonist Ulrich geraten, da dieser laut Google-Auskunft des Mitarbeiters »ein Problem mit Inzest« habe. Als Alternativvorschlag wird Arnheim präsentiert, der als »großer Mann«, »Politiker und Intellektueller« (ebd.) für den Minister als passender angesehen wird. Die Aufrufung der untergegangenen Doppelmonarchie über solcherart Verweise erfüllt, meiner Lesart nach, bei Menasse dabei einen ganz konkreten Zweck. Die vom Autor an vielen anderen Stellen vehement vertretene Überzeugung, dass die Zukunft Europas von der Überwindung und Abschaffung der Nationalstaaten profitiere, wird in der Diegese des Romans auch von den Figuren diskutiert. Dabei werden in der Hauptstadt ganz konkrete Vorschläge unterbreitet, wie eine postnationale Verfasstheit Europas aussehen könnte: »Zum Beispiel könnte man alle nationalen Pässe durch einen Europäischen Pass ersetzen. Ein Pass der Europäischen Union, in dem der Geburtsort vermerkt ist, aber nicht die Nationalität.« (Ebd.: 392) Wie das Beispiel der Leiterin der Kulturkommission zeigt, wird der eigenen Nationalität von den Brüsseler Beamten keine große Bedeutung mehr zugemessen, da es für Fenia keine persönliche Krise darstellt, die sehnlich erwartete Beförderung in eine andere Generaldirektion dadurch zu ermöglichen, dass sie ihren griechischen gegen einen zypriotischen Pass austauscht und somit über eine Quotenregelung in ein anderes Amt zu kommen: »Sie hatte lange genug in der Kommission gearbeitet, um diese Erfahrung zu haben: dass die Nationalisten immer brutaler auf dieses Europa einprügelten, in dem sie frei ihren Weg gehen wollte […].« (Ebd.: 427) Die Figuren scheinen also Identitätsmodelle auszubilden, die sich – ähnlich wie bei Rakusa – nicht mehr an nationalen Grenzen und Zugehörigkeiten orientieren, sondern deren Biografie auf ein postnationales Europa ausgerichtet ist. Ein solches nachnationales euro-

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päisches Modell wird auch von Professor Erhart in die Runde des Think Tanks eingeführt. Er bezieht sich dabei auf die Ideen des fiktiven Armand Moens, einem »einst vieldiskutierten und heute vergessenen Ökonomen, seinerzeit Professor an der Universiteit Leuven, der bereits in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Theorie der nachnationalen Volkswirtschaftslehre entwickelt und davon die Notwendigkeit abgeleitet hatte, eine Vereinte Europäische Republik zu gründen.« (Ebd.: 89) Die Moens zugeschriebene These »vom notwendigen Absterben der nationalen Demokratien« (ebd.), die die Figur des Professor Erhart gegen jeden Widerstand »bis zu [s]einem Tod vertreten« (ebd.: 389) will, könnte dabei direkt anderen Texten des Autors Menasse entnommen sein. Darunter fällt der Essay Das Gestern war noch nie so jung aus dem Jahr 2014. Der Text beginnt mit der Schilderung eines absurden Albtraums, in dem Staats- und Regierungschefs der EU in einer Tafelrunde zusammenkommen, unter ihnen Jacques Delors, der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission. Dieser erliegt bei Menasse während des Essens einem Schwächeanfall. Da ein Grab aufgrund des eisigen Winters draußen nicht geschaufelt werden kann, wird er kurzerhand unter dem aufgerissenen Parkettboden des Festsaals beerdigt und alle Anwesenden geben einen Löffel Eintopf als Grabbeigabe, mit den jeweils bedeutungsschweren Worten: »Eintopf aus Deutschland«, »Eintopf aus Kroatien«, »Eintopf aus Spanien« etc., bis auf einen anwesenden jüdischen Doktor, der seinen Löffel mit den Worten »Eintopf aus Europa« ausleert. Eine Erklärung für diese seltsame Szene liefert der Autor zunächst nicht, sondern bedeutet nur: »Vielleicht hatte ich diesen Albtraum, weil der Traum davor schon einmal in der Realität gescheitert ist.« (Menasse 2014) Mit der Grablegung des durch Delors verkörperten Europäischen Projekts, die unter Aufrufungen des Nationalen begangen wird, setzt Menasse die Befürchtung in ein Bild, gegen die er seit Jahren anschreibt: das Zerbrechen des europäischen Zusammenhalts an nationalistischen Interessen. Für ihn sind die Nationalstaaten ein Phänomen, das der zukünftigen Entwicklung Europas im Wege steht, ein Phänomen, »das sich schon wieder erschöpft hat und nur noch den Dümmsten ein herrisches Selbstwertgefühl gibt.« (Menasse 2014) Menasse entwickelt in seinen verschiedenen Essays die Vorstellung eines transnational agierenden Europas und sieht in der politischen Entkräftung der Nationalstaaten die Chance, Europa zu dem zu machen, was es für ihn vor allem ist: »ein Europa der Regionen.« (Menasse 2012: 67) Bereits in seinem gemeinsam mit Ulrike Guérot verfassten Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik aus dem Jahr 2013 präsentiert er die Vorstellung einer Europäischen Republik, eines Zusammenschlusses, »in der die europäischen Regionen, ohne ihre Eigenart zu verlieren, […] in den Rahmenbedingungen eines gemeinsamen Rechtszustandes« (Guérot und Menasse 2016: 56) auf-

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gehen könnten, statt als Nationalstaaten miteinander zu konkurrieren. Das Manifest greift die aus seinen anderen Texten bekannten Vorwürfe des systembedingten Demokratiedefizits in der EU und der alleinigen Ausrichtung des Rats an nationalen Interessen wieder auf, bietet aber als Lösung die Vorstellung eines postnationalen Europa der Regionen, für das Menasse an anderer Stelle die Struktur des Habsburgerreichs als Vorbild nimmt: Die kleinen Regionen, die als Kronländer in der Donaumonarchie zusammenlebten, verband weitgehender Schutz durch die gemeinsame Größe, allgemeiner Rechtszustand, gemeinsame Verwaltung und Infrastruktur, ohne auch nur den Versuch einer Vereinheitlichung der verschiedenen Kulturen und Mentalitäten. (Menasse 2016: 79)

Auch in der EU, die er als einzig zukunftsfähiges Modell des Kontinents betrachtet, sind für ihn Gegebenheiten aus dieser vergangenen Epoche reaktualisiert, wie er am Bespiel Österreichs verdeutlicht: Österreich ist Mitglied der Europäischen Union und begreift nicht, dass diese das Beste der österreichischen Geschichte wieder aufgegriffen hat und in ein Modell der Zukunft transformiert: multiethnisch, vielsprachig, multikulturell, mit hohem Ethos aufgeklärt verwaltet, auf der Basis der Unteilbarkeit der Menschenrechte. (Ebd.: 81)

Obwohl er in einem der Essays zunächst angibt, lange Zeit überzeugt gewesen zu sein, dass die untergegangene Welt des Habsburgerreichs »zu Recht auf dem Misthaufen der Geschichte gelandet war« (Menasse 2014), so bietet der Rückbezug auf die vergangene Epoche für ihn eine Möglichkeit, Europa neu zu denken: Für ihn ist die Doppelmonarchie ein »Vorläufer und geradezu […] Modell der heutigen Europäischen Gemeinschaft« (ebd.). Damit schließt er sich einer verbreiteten Lesart an, die die Habsburgermonarchie trotz aller Schattenseiten als »erstrebenswertes Zivilisationsideal« (Dubasevych 2017: 52) ansieht – eine These, für die Dubasevych auch in der Gegenwartskultur der Ukraine Belege findet. Plausibel macht Menasse diese Lesart mit der Auflistung einer Reihe struktureller Ähnlichkeiten der Donaumonarchie zur heutigen EU: [S]ie war ein multiethnisches Gebilde, vielsprachig, zentral verwaltet von einem hochentwickelten Beamtenapparat in Zusammenspiel mit lokaler Autonomie, träge und oft blockiert durch seine inneren Spannungen, aber doch immer wieder zu großen, aufgeklärten Modernisierungsschritten fähig […]. Sie hatte keine Nationsidee, auch nicht den Anspruch, sich zur Nation zu entwickeln, sie war bewusst ein transnationales Konstrukt, das als gemeinsamer Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung prosperierte. Diese war üb-

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rigens stark und stabil trotz der großen Unterschiede in den ökonomischen Strukturen der Kronländer, weil es, anders als heute, eine gemeinsame Finanz- und Fiskalpolitik gab. Die Monarchie war religiös tolerant, Judentum und Islam waren staatlich anerkannte Religionsgemeinschaften und zumindest gesetzlich nicht diskriminiert. (Menasse 2014)

Deutlich wird hier, dass Menasse die Abkehr von einer Nationsidee als entscheidendes Kriterium hervorhebt und insbesondere der Transnationalität des Habsburgerreichs Vorbildfunktion für die Gegenwart zuspricht. Das im eingangs genannten Zitat gemachte Zugeständnis, gewissermaßen doch ein »Nostalgiker des Habsburgerreichs« (Menasse 2014) zu sein, begründet sich also auf einer Deutung der k.u.k.-Monarchie als Ort der Entfaltung einer übernationalen Identität, die nicht am Gedanken einer nivellierenden Vereinheitlichung, sondern an der Erhaltung von Differenzen und Heterogenitäten orientiert ist (vgl. Karoshi 2003: 1).

SCHLUSSBETRACHTUNG Sind die Texte der Gegenwart also als Beitrag zur Weiterschreibung des Mythos zu sehen, die im Rückblick vor allem Kontinuitätslinien betonen? Und wie erklärt sich die Anknüpfung an genau diese vergangene Epoche? Vor allem Menasses Aktualisierung zeigt, dass die Attraktivität des Mythos hauptsächlich durch eine wahrgenommene strukturelle Ähnlichkeit der vergangenen Epoche und der heutigen Zeit gegeben ist. Diese – bei aller gebotenen Vorsicht des historischen Vergleichs – wahrgenommenen Ähnlichkeiten lassen sich wie folgt zusammenfassen: Sowohl die Habsburgermonarchie als auch die heutige EU standen/stehen vor ähnlichen Herausforderungen bei der Umsetzung der Idee einer pluriethnischen Integration unter ein gemeinsames Dach. In beiden Systemen funktioniert diese Integration vor allem über Zentralisierungsbestrebungen in Verwaltung und Rechtsordnung. Beide übergeordnete Konstrukte waren/sind durch aufkommende Nationalismen mit ihrem Scheitern und Auseinanderbrechen konfrontiert. Bei genauerem Hinsehen greift die strukturelle Ähnlichkeit jedoch zu kurz, denn genau genommen fungierte die k.u.k-Monarchie nicht nach einem transnationalen, sondern einem »pränationalstaatliche[n] Prinzip« (Moos 2016: 78). Ihr Niedergang wurde durch das Aufkommen von etwas Neuem – der Nationalstaaten – besiegelt, der heutige sich eventuell abzeichnende Zusammenbruch der EU wäre mit der Rückkehr zum Nationalstaatsmodell kein Schritt zu etwas Neuem, sondern eine Rückkehr zu etwas – von Menasse als überholt ausgewiesenem –

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Bekannten. Beide Systeme entwickeln jedoch auch institutionelle Strategien und Konfliktlösungsmodelle, um mit den Nationalismen umzugehen. Snyder sieht dabei sogar Ähnlichkeiten im ganz konkreten Vorgehen: »Die EU-Methode, den Ausgleich dadurch zu finden, dass man die Parteien für außergewöhnlich lange Zeiträume in Verhandlungen verstrickt, trifft auch auf die Habsburgermonarchie des frühen 20. Jahrhunderts zu.« (Snyder 2014: 2) Vorbildcharakter für die Gegenwart übernimmt vor allem der für die Doppelmonarchie als vorherrschend festzuhaltende föderalistische Gedanke, der regionale und kulturelle Heterogenitäten förderte und schützte und die übernationale Struktur als »besseres Gegenmodell zum Nationalstaat hervor[hob].« (Prutsch 2003: 37) In dieser Tatsache, dass auch in einem transnationalen Konstrukt die regionalen Verschiedenheiten nicht nivelliert werden müssen, liegt die Attraktivität des historischen Vergleichs, der all denjenigen die Angst nehmen könnte, die in den Brüsseler Unifizierungstendenzen eine Gefahr für regionale Unterschiede sehen. Die unreflektierte »Übernahme dieses Mythos als Vorbild für die Gegenwart« (Le Rider 1994: 78) wurde jedoch im Zuge der postkolonialen Forschung zunehmend kritisiert. Diese stellte heraus, dass die administrativen Zentralisierungsbestrebungen mit gewalthaltigen und trennenden Elemente und sozialen Ungleichheiten einhergingen, 6 und damit die Doppelmonarchie als »quasikolonialer Herrschaftskomplex« (Müller-Funk 2002: 19) zu sehen ist, die eine »nach innen gekehrte Kolonisierung« (Feichtinger 2003: 18) betrieb. Diese Forschungen betonen, dass in Österreich-Ungarn kein gleichberechtigter Multikulturalismus herrschte, sondern eher von einer kulturellen Asymmetrie der Völker zu sprechen ist (vgl. Müller-Funk 2002: 23). Bei Menasse taucht dieser Aspekt am Rande auf, wenn er in einem der Essays über seine bisherige Verwendung des Begriffs des »Völkerkerkers« reflektiert: »ich wundere mich heute, dass auch ich

6

Johannes Feichtinger versucht dagegen zu zeigen, dass die einsetzenden Nationalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts dazu führten, dass die zuvor bestehende Ähnlichkeit als selbstverständliche kulturelle Praxis bewusst zurückgedrängt wurde (vgl. Feichtinger 2015: 221). Seine Lesart dieses Raumes betont somit nicht die trennenden Elemente, sondern die verbindenden. Zu den einsetzenden Nationalisierungsprozessen gibt er an: »dass in der Gegenwart Vorstellungen, Begriffe und Konzepte der Vergangenheit weiter wissentlich oder naiv angeeignet, aktualisiert und verwendet werden. Der Vergangenheit werden kulturelle, ethnische oder rassische Differenzen zugeschrieben, obwohl die historischen Quellen nichtnationalistischer Provenienz keine Rückschlüsse darauf zulassen.« (Ebd.: 230) Auch Uhl betont, dass manche postkoloniale Perspektive das Moment der Machtasymmetrie zu sehr betone und damit eine Komplexitätsreduktion vornehme (vgl. Uhl 2003: 3).

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diesen Begriff völlig kritiklos mit dem Habsburgerreich assoziierte« (Menasse 2014). Diesen »Kampfbegriff der Nationalisten« findet er heute wieder von rechtspopulistischen Politikerinnen und Politikern wie Marine Le Pen aufgerufen, aber in einer aktualisierten Umdeutung, die damit die heutige Abhängigkeit der einzelnen Nationen von der EU beschreibt. Solcherart kritische Reflektionen stellen in den untersuchten Texten jedoch eine Ausnahme dar. Vielmehr stärken die Texte die Lesart der Doppelmonarchie als »Laboratorium«, als einem historisch und geografisch festgelegten Raum, »in dem in einem regional begrenzten, zentraleuropäischen Kontext bereits in der Vergangenheit Prozesse nachweisbar sind, die heute von globaler Relevanz geworden sind« (Feichtinger u.a. 2003: 10). Habsburg und Kakanien übernehmen damit eine Modellfunktion für die Zukunft Europas, auf das sich im Versuch einer Gemeinschaftsstiftung bezogen werden kann. Gleichzeitig ist die Aktualisierung des Mythos als Krisensymptom zu fassen, dem eine Vorwarnfunktion zukommt. Die Texte von Musil oder beispielsweise auch von Stefan Zweig hätte man als Warnung vor den kommenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts lesen können. Ob auch die Gegenwartstexte in dieser Funktion zu sehen sind, wird erst eine zukünftige Rückschau klären können.

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Uhl, Heidemarie (2003): Zwischen »Habsburgischem Mythos« und (Post-) Kolonialismus. Zentraleuropa als Paradigma für Identitätsdiskurse in der (Post-)Moderne. In: Johannes Feichtinger/Ursula Prutsch/Moritz Csáky (Hg.): Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck [u.a.], S. 45-54. Wetenkamp, Lena (2017): Europa erzählt, verortet, erinnert. Europa-Diskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg. Zeyringer, Klaus (2017): Die Hauptstadt von Robert Menasse: Brüsseler Mosaik. In: Der Standard v. 3. September 2017, online unter: https://derstandard.at/ 2000063486433/Die-Hauptstadt-von-Robert-Menasse-Bruesseler-Mosaik [Stand: 19.05.2018].

III. Transfers

»Das Recht auf Fremdheit« Invertierte Mythopoetik und mikrophilologische Deutungsspielräume in Paul Celans Schibboleth Wolfgang Johann

ABSTRACT Versions of Paul Celan’s poem Schibboleth have been published with and without accent on the phrase ›no pasaran‹. This article situates this fact within the poem’s mytho-poetic context and in light of its political implications. Some of the contemporary philosophical contexts of Celan’s work – especially Albert Camus’ L’Homme revolté – illuminate important features of this poem. Other context, such as Celan’s poetological Meridian speech, the ›Inversion‹ as a figure of speech, and Celan’s correspondence with Petre Solomon, also help to clarify some of the open questions regarding the poem. Keywords: Paul Celan – Poetry – Hermeneutics – Holocaust

I Eine Antwort auf die Frage, wann das Christentum denn zu sich selbst käme, findet sich im Markusevangelium: Eli eli lema sabachthani. Kaum werden die christlichen Evangelien an anderer Stelle wahrer als im Zitat des jüdischen Psalms. Damit wird eine Differenz – oder Ambiguität – von Ausdruck und Bedeutung, Chiffre und Gegenstand beobachtbar. Versteht man das Markusevangelium als Symbol seiner selbst, wirft die Frage nach der Differenz zwischen Sym-

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bol und unterlegtem Sinn nicht einen Zirkelschluss auf, sondern die hermeneutische Dialektik der Negation: Karsamstag feiern nur die Gläubigen. 1 Diese Überlegungen sind insofern relevant, als sie ein Beispiel einer identitäts- und kohäsionsstiftenden Konstruktion sind, mit deren Hilfe Loyalität konstruiert, dekonstruiert oder insinuiert wird. Literatur, ob Mythopoetiken oder – wie noch zu zeigen sein wird – die strukturell engagierte Lyrik Paul Celans, jeweils in unterschiedlicher Qualität und in jeweils zu spezifizierendem historischsozialen Kontext, ermöglicht in der »Entfaltung […] von Paradoxien« nicht nur das Beobachten im Luhmann’schen Sinne (Patrut/Uerlings 2013: 38), sondern führt auch zu Bedeutungsvibrationen von Symbol und Bedeutung. Diese Paradoxien erfahren in den Texten Celans eine Radikalisierung, wenn man das Moment der Inversion als ein Verfahren Celans mit einer gesellschaftlich-sozialen Dimension zusammendenkt. Werner Hamacher führt zur Verdeutlichung der Figur der Inversion einen frühen Aphorismus Celans aus dem Gegenlicht von 1949 an: »Der Tag des Gerichts war gekommen, und um die größte der Schandtaten zu sühnen, wurde das Kreuz an Christus genagelt.« (Celan 2014a: 19) 2 Diese Figur der Inversion findet Celan nicht nur in Büchners Dantons Tod und Lenz, sondern verbindet sie auch teilweise mit der Figur der Involution, etwa wenn es im Atemkristall heißt: DU DARFST mich getrost mit Schnee bewirten: sooft ich Schulter an Schulter mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer, schrie sein jüngstes Blatt. (Celan 1990) 3

1

Dieser Gedanke schließt an Überlegungen an, die in Theodor W. Adornos Notizen folgendermaßen notiert sind: »Das Wort, das am nachdrücklichsten gegen die Göttlichkeit Christi zeugt, ist das gleiche, das am nachdrücklichsten für seine Existenz spricht. Eli, eli, lema sabachtani erfindet sich nicht.« (Adorno 2003: 14).

2

Vgl. Hamacher 1998: 331ff.

3

Vgl. zur Figur der Involution bei Celan: Janz (2005) und Böschenstein (2002). Die Involution bei Celan geht vermutlich auf eine Beschreibung in Adornos Kafka-Aufsatz zurück.

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Für Hamacher steht fest: Insofern ist sie [die Figur der Inversion; W.J.] zugleich die kanonische Gestalt des Lyrischen. […] Die Sprache des Gedichts und ihr Gegenstand haben einander soweit durchdrungen, daß die eine, in einer weiteren Inversion, an die Stelle des anderen getreten und der Gegenstand selber zum Gedicht, das Gedicht zu seinem Gegenstand geworden ist. (Hamacher 1998: 329)

Bereits bei Peter Szondi heißt es, Celan habe »an die Stelle des traditionellen symbolistischen Gedichts, das von sich selber handelt, das sich selbst zum Gegenstand hat, ein Gedicht gesetzt, das von sich selbst nicht mehr handelt, sondern es ist.« (Szondi 1978: 344) Damit wäre auch unter den Vorzeichen der Inversion geklärt, wann das Christentum zu sich selbst kommt: Am Karsamstag, nachdem ›das Kreuz an Christus genagelt wurde‹. Dies hat nun eine besondere Relevanz hinsichtlich einer Zeit nach der Shoah, vor dessen Hintergrund sowohl die Theodizeefrage als auch Celans zitierter Aphorismus steht – denn »die größte der Schandtaten« wird, der Figur der Inversion folgend, nicht die Shoah sein, sondern das In-derWelt-Sein des Juden. Johann Baptist Metz formulierte dann auch folgerichtig die Theodizeefrage im Kontext einer »Karsamstagsatmosphäre« (Metz 2011: 8), in welche das Christentum übergegangen sei. Hinsichtlich der Mythopoetiken, auf die auch Celans Du Darfst anspielt, nämlich mit dem »Maulbeerbaum« auf Ovids Pyramus und Thisbe, könnte das bedeuten, dass ebenjene Inversionen poetisch vorgenommen werden müssen, um sie in die vom Sinnhaften abgeschnittene Welt nach der Shoah adäquat zu übersetzen. Im Kontext einer engagierten Dichtung folgt daraus die Frage nach einer Solidarität (woran sich dann die Frage anschließt: Solidarität mit wem und mit wem nicht?) und Identität (also die Frage nach dem Selbstbild und dem eigenen Standort) nach Auschwitz vor dem Hintergrund einer Machtasymmetrie: Wer konstruiert Kohäsion, Solidarität und Identität? Wer wird dabei inkludiert und wer exkludiert? Darauf verweisen bei Celan Gedichte wie Gesang der fremden Brüder, Einem Bruder in Asien oder Denk dir, 4 aber auch zentrale Aspekte von Celans wichtigstem poetologischen Text Meridian und das Gedicht Schibboleth, worauf im Folgenden vor dem hier skizzierten Hintergrund eingegangen werden soll.

4

Vgl. zur Interpretation des Gedichts Gesang der fremden Brüder unter dem Aspekt der Machtasymmetrie: Patrut 2006: 41-51. Siehe für eine weitergehende Beschäftigung mit den religionssoziologischen Implikationen von Inklusion/Exklusion bereits Kristeva 1995: 74-97, für die soziologischen Aspekte Luhmann 1997.

228 | Wolfgang Johann

II Celan arbeitet im Meridian den Unterschied zwischen Kunst und Dichtung heraus und kommt zu dem Schluss: »Dichtung: das kann eine Atemwende bedeuten.« (Celan 2014b: 42) Dies kann verstanden werden als eine Ab- oder Umwendung von bisher Gesagtem: Die Sprache ändert die Richtung, es kommt ein Einstellungswechsel oder ein Widerspruch gegen das normative Blickregime zum Ausdruck, das »Gegenwort«, das Celan an Luciles »Es lebe der König« herausarbeitet, bedeutet keine Solidarität mit der Monarchie, sondern Widerspruch gegen die normativen Verhältnisse, die eine Zwangssolidarität mit dem Unrecht fordern. Dabei kommt es Celan auf die Artikulation einer – jeweils zu kontextualisierenden und zu spezifizierenden – Freiheit an, welche sich in den machtasymmetrischen Leerstellen wiederfinden lässt: Sieht man das Bezugssystem im Gedicht Schibboleth im Kontext von Celans poetologischer Bestimmung des Meridians als die gedachte Linie zwischen Orten, an denen die Sonne gleichzeitig den höchsten Stand erreicht, so lässt sich als gemeinsamer Zenit der Kampf um diese Freiheit beschreiben. 5 Dabei wird die Kategorie des Verstummens des Gedichts zentral für Celan, der in der Sprache der Täter Semantiken der Opfer artikuliert: Der Weg der Sprache verläuft Celan zufolge »durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, […] durch furchtbares Verstummen, […] durch die tausend Finsternisse todbringender Rede.« (Celan 2014b: 24) Marlies Janz hob diese gesellschaftspolitische Komponente von Celans engagierter Poetologie hervor. Das »Verstummen« des Gedichtes kann man demnach als eine Reaktion auf den Verdacht verstehen, das »Gegenwort« könne sich noch affirmativ zu der gesellschaftlichen Unmenschlichkeit verhalten und sich somit mitschuldig machen; für Janz wird das Gedicht dem Verstummen »abgerungen«: Als Sprache, die dem Verstummen gleichsam abgerungen ist und insofern durch ihr bloßes Dasein schon gegen die Realität Einspruch erhebt, deren Inhumanität die Subjekte zum Verstummen zwingt, ergreift das Gedicht nach Celans Ausführungen [im Meridian, W.J.] Partei für eine humane Realität. (Janz 1976: 107)

5

Eine Auseinandersetzung mit Celans Texten muss konzedieren, dass man es mit Konzepten und Begriffen zu tun hat, die von den theoretischen Debatten ab den 1970er Jahren nicht mehr berührt wurden. Ohne Reflexion darauf können manche Aspekte nicht scharf gestellt werden, wie etwa ein spezifischer Zugriff auf Begriffe wie ›Freiheit‹ und ›Wahrheit‹.

»Das Recht auf Fremdheit« | 229

Die Inversion auf einer poetologischen Ebene von einer (direkten Text-) Aussage zum Verstummen, was vermutlich einen zentralen Aspekt einer als ›hermetisch‹ apostrophierten Dichtung darstellt, mit dem oftmals eine Unverständlichkeit des Gedichts unterstellt wurde und mit dieser Apostrophierung damit mehr verdeckt als erklärt wurde, verweist damit auf ein Engagement ebenjener hermetischen Dichtung, die den Rezipienten als Individuum anspricht und ihn damit aufrichtet. Das Engagement des Gedichts bei Celan verweist somit auf den Rezipienten selbst, der durch die Anrede als Individuum und in dieser Selbstkonstitution zu einer Reflexionsleistung über den eigentlichen Inhalt eines engagierten Gedichts erst in die Lage versetzt wird – Beda Allemann formulierte dies dahingehend, dass es darum gehe, »erst einmal die Sprache dieser Dichtung zu erlernen.« 6 Dabei weist Celans Beispiel aus dem Meridian, Luciles »Es lebe der König«, bereits auf eine zentrale Fragestellung hin: Wer steht im Zentrum einer Solidarität und welche Position nimmt das jeweilige Gedicht ein? Der Rekurs auf Büchner und die Französische Revolution deutet darüber hinaus auch auf den europäischen Debattenraum hin, welcher implizit mitgedacht wird: Wie lassen sich in einer europäischen Perspektive normative Blickrichtung, Solidarität und Subjektivierungsprozesse jeweils denken und darstellen? Dies sind die Fragen, denen in der folgenden Analyse des Gedichts Schibboleth nachgegangen werden soll. 7

III Schibboleth Mitsamt meinen Steinen, den großgeweinten hinter den Gittern, schleiften sie mich in die Mitte des Marktes, dorthin, wo die Fahne sich aufrollt, der ich keinerlei Eid schwor.

6

Rolf Bücher zitiert Beda Allemann nach einem Vortragstyposkript; Bücher 1994: 328.

7

Vgl. dazu bereits Johann 2018: 163-198. Dieser Beitrag stellt eine Erweiterung der dort vorgenommenen Beobachtungen dar.

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Flöte, Doppelflöte der Nacht: Denke der dunklen Zwillingsröte in Wien und Madrid. Setz deine Fahne auf Halbmast, Erinnrung. Auf Halbmast für heute und immer. Herz: gib dich auch hier zu erkennen, hier, in der Mitte des Marktes. Ruf’s, das Schibboleth, hinaus In die Fremde der Heimat: Februar: No pasaran. Einhorn: Du weißt um die Steine, du weißt um das Wasser, komm, ich führ dich hinweg zu den Stimmen von Estremadura. (Celan 2004a)

Das lyrische Ich wird in der Gedichtslogik von einem diskursiven Kollektiv exkludiert, das von diesem das Schibboleth gewaltsam als eine Gesinnungsfrage und als eine Zugehörigkeits- und Solidaritätsbekundung einfordert. Darauf weisen die Machtsymbolik der »Fahne« (V. 7), das Demütigungsritual in den Versen 4 bis 8 und der nicht geleistete Eidschwur in Vers 8 hin. In der Konstellation, in der sich das lyrische Ich befindet, muss es sich zur Selbstkonstitution in Differenz zu dem Blickregime stellen, das den Zwang ausübt. Hier findet sich nun eine zweifache Oppositionsstellung, die sich nicht gegenseitig aufhebt, sondern den Druck auf das lyrische Ich radikalisiert. Bereits Theo Buck weist darauf hin, dass eine Solidarisierung mit der republikanischen Seite des Spanischen Bürgerkriegs naheliegt; im weiteren anspielungsreichen Kontext von Französischer Revolution, Oktoberrevolution, Wiener Arbeiteraufstand bis zu den Protesten ge-

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gen den Algerienkrieg geht es also um eine Zugehörigkeits- beziehungsweise Solidaritätsbekundung mit der ›progressiven‹ Seite; die Seite der Reaktionäre und die der Faschisten bilden die ungenannte Bedrohung, die sowohl das lyrische Ich als auch das in seinem nächsten Umkreis angesprochene Blickregime zu einer gegenseitigen Solidarität zwingen. In dieser Interpretationsrichtung kommt nun dem Schibboleth eine entscheidende Bedeutung zu. Im Buch der Richter heißt es: Und Gilead besetzte die Furten des Jarden von Efrajim, und es geschah, wenn die Flüchtlinge Efrajims sprachen: Ich will hinübersetzen, so sprachen zu ihm die Männer von Gilead: Bist du ein Efrati, und sagte er: Nein; so sprachen sie zu ihm: Sage doch Schibbolet! er aber sagte Sibbolet, und vermochte nicht richtig zu reden; da ergriffen sie ihn und schlachteten ihn an den furten des Jarden. Und es fielen in selbiger Zeit von Efrajim zweiundvierzigtausend. (Richter 12, 5-6; zitiert nach Zunz 1980: 226)

Mit Rückbezug auf das Buch der Richter geht es in Celans Schibboleth um eine mythopoetische Begründung einer Eigen- und Fremdgruppe, um das Selbstbild und die Solidarität sowie die Frage nach Inklusion und Exklusion vor dem Hintergrund von Ethnizität und Religiosität. In dieser komplexen Konstellation des Gedichts in synchroner Ebene der erwähnten historischen Kriegs- und Revolutionsereignisse in Europa und unter diachronem Rückbezug auf ebenjene Mythopoetik, die – als einer von mehreren Aspekten – das jüdische Selbstverständnis erst als ein solches konstituierte. 8 Das Schibboleth interpretiert Theo Buck nun in dem anspielungsreichen Kontext als »Paßwort gegen Unrecht und Mord« (Buck 1995: 24); fasst man dies nun aber enger innerhalb der Gedichtslogik, dann stellt man fest, dass das Schibboleth des lyrischen Ichs das »no pasaran« in Vers 23 ist. Dies ist das Motto der Republikanischen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, mit welchem sie sich dem Vormarsch der Franco-Faschisten auf Madrid in den Weg stellten. Damit solidarisiert sich das lyrische Ich mit der ›progressiven Seite‹, allerdings spricht das lyrische Ich das Schibboleth falsch aus: Der fehlende Akzent, der zur Futurbildung gehört, verändert die Aussprache, da die Betonung von der letzten auf die vorletzte Silbe wechselt. Die Historisch-Kritische Ausgabe der Bonner Arbeitsstelle für die Celan Ausgabe (BCA) setzt nun den Akzent mit der Begründung nicht, dass alle zu

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Maren Jäger und Matthias Bauer verweisen darauf, dass es »[s]chlechterdings unmöglich scheint, dass sie [die Mythen, W.J.] nicht politisch gedeutet werden können.« Dabei handele es sich um einen Politikbegriff, welcher »jede Form von Selbstermächtigung und sozialen Handlung einschließt«; Bauer/Jäger 2011: 14f.

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Lebzeiten erschienenen Buchauflagen dies nicht zurücknahmen, allerdings in einigen Nachdrucken davon abweichend der Akzent auf »no pasarán« gesetzt wurde (vgl. Celan 2004b: 192); mit der gleichen Begründung setzt die zweite historisch-kritische Ausgabe, die Tübinger Ausgabe, ebenfalls den Akzent nicht, unter anderem auch, weil Celan bei einer späteren Gelegenheit den Akzent nicht nachtragen ließ. 9 Sozusagen mit der gleichen Begründung setzt Barbara Wiedemann in der Gesamtausgabe allerdings den Akzent (vgl. Wiedemann 2018: 727), da er eben in späteren Nachdrucken gesetzt wurde, worauf zwei Briefe von Celan an Herbert Greiner-Mai vom 23.02.1961 und an Karl-Eberhardt Felten vom 29.03.1962 hinweisen. 10 Somit ergibt sich in der Überlieferung eine Bedeutungsvibration zwischen fehlendem und gesetztem »Akut«, da letztlich beide Varianten überliefert sind. In der bisher entwickelten Gedichtslogik markiert nun das Schibboleth, welches vom lyrischen Ich verlangt wird, die Solidaritätsadresse an das diskursive Kollektiv, welches von der Französischen Revolution bis zum algerischen Befreiungskampf reicht; sieht man dieses Bezugssystem im Kontext von Celans poetologischer Bestimmung des Meridians als die gedachte Linie zwischen Orten, an denen die Sonne gleichzeitig den höchsten Stand erreicht, so lässt sich als gemeinsamer Zenit der Kampf um die – jeweils zu kontextualisierende und zu spezifizierende – Freiheit beschreiben. Nun steht das lyrische Ich unter extremem Zwang und Gewalt, sich dieser Logik zu unterwerfen, mehr noch, in den Gedichten Celans werden Steine meist interpretiert als die Steine, die auf die jüdischen Gräber gelegt werden und sind somit ein Symbol der Trauer. Diese »Steine« (V.1), welche »großgeweint« (V. 2) wurden, deuten in Schibboleth somit auf die Shoah hin, und sind die einzigen konstitutionsgebenden Determinanten, die das lyrische Ich sich selbst zuschreibt. Aufgrund dieser Zuschreibung

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In der TCA heißt es zur Begründung: »Der im Spanischen erforderte Akzent auf ›pasarán‹ (Z. 24) findet sich in keinem Textzeugen und fehlt auch im Erstdruck. Am 23.02.1961 bittet Celan, in der zweiten Auflage des Deutschen Schriftstellerlexikons […] im Zitat aus diesem Gedicht ›den in der Buchausgabe leider fehlenden Akzent zu setzen.‹ […] In seiner Antwort auf die Ankündigung der 3. Auflage, am 17.05.61 an Karl-Eberhard Felten (DVA) bittet er jedoch nicht um Korrektur. Am 29.03.62 bittet er dann erneut, für einen Abdruck von Schibboleth ›den Akut bei no pasarán nachtragen zu lassen.‹« (Celan 2002: 97).

10 Bei der BCA hat sich bei beiden Briefen ein Zahlendreher eingeschlichen, sodass die Briefe in Marbach in Celans Korrespondenz über die BCA-Angaben nur erschwert auffindbar sind. Vgl. Celan 2004b: 192. Eine Corrigenda-Liste zu den BCA-Bänden ist laut Andreas Lohr in Arbeit.

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wird das lyrische Ich aber zur Fahne ›geschleift‹ (V.4), um die Solidaritätsadresse – so ließe sich entlang der hier entwickelten Gedichtlogik interpretieren – zur ›gemeinsamen Sache‹, der Freiheit, abzugeben, welches dann das Schibboleth ist: Die invertierte Mythopoetik verknüpft den biblischen Kampf des jüdischen Kollektivs um Autonomie und Selbstbestimmung, welches letztlich diese Mythopoetiken zur Konstitution und Selbstbeschreibung heranzieht, mit einem erzwungenen Bekenntnis zu einem Kollektiv, das vorgibt, im Namen der Freiheit zu handeln. Somit rückt die Frage, ob das lyrische Ich nun das Schibboleth des Gedichts, das ›no pasarán‹, richtig aussprechen kann, was man an dem Akzent ablesen könnte, in den Hintergrund, da auch hier wiederum zwischen Symbol und Bedeutung unterschieden werden kann: Konstituiert sich das Bewusstsein der Freiheit im Zenit der abendländischen Kämpfe um eben jene wirklich in den jeweiligen historischen Akteuren? Die Gedichtslogik widerspricht dem: Das lyrische Ich zeigt auf, dass es gerade nicht so ist, das Bewusstsein der Freiheit manifestiert sich in der Beobachtung ihrer Abwesenheit. Es offenbart sich eine Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Motiv und Handlung, zwischen den Interessen eines Kollektivs und denen des Individuums – in Albert Camus’ Vorrede zu L’homme révolté, ein Werk, das einige Jahre vor Schibboleth veröffentlicht wurde, findet sich dazu die markante Inversion »camps d’esclaves sous la bannière de la liberté«, woraufhin die ›Unschuld‹ zur Rechtfertigung gezwungen wird: Le jour où le crime se pare des dépouilles de l’innocence, par un curieux reneversement qui est propre à notre temps, c’est l’innoncence qui est sommée de fournir ses justifications. (Camus 1951: 14) 11

Das lyrische Ich, das unter Zwang ein Bekenntnis zum diskursiven Kollektiv der ›Freiheit‹ abgeben soll, sieht sich als Konsequenz in der »Fremde der Heimat«

11 Diese Ambivalenz der Dialektik der Aufklärung wurde nicht nur von Adorno/ Horkheimer beschrieben, sondern neben Camus auch im weiteren Umfeld der (zeitgenössischen) ›progressiven‹ Seite mit den jeweilig eingenommenen Perspektiven ausführlich diskutiert. Ebenso prominent und bekannt wie Camus’ Essay und oftmals auf eine Phrase reduziert wurde Ernst Blochs Gedanke, welcher meist unvollständig wiedergegeben und auf den ersten Satz reduziert wird: »Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang. Und selbst wo sie gelungen waren, zeigten sich in der Regel die Bedrücker mehr ausgewechselt als abgeschafft.« (Bloch 1973: 551). Yvonne Al-Taie vermutet, dass Ernst Blochs Ästhetiktheorie auch Vorlage für den Meridian gewesen sein könnte, vgl. Al-Taie 2009.

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(V. 22). Diese Konstellationen der Bezugsdeterminanten, in denen das lyrische Ich gefangen gehalten wird, verweisen auf »[d]as Recht auf Fremdheit« (Celan 2005: 56), eine Forderung nach Anerkennung von Differenz und Autonomie und dem Vorrang der Freiheit des Individuums vor den Interessen eines Kollektivs, welches das Gedicht in der hier entwickelten Interpretationslogik entwirft.

IV Es lassen sich vielseitige Anknüpfungspunkte des Politischen bei Celan festmachen, welche mittlerweile kaum mehr bestritten werden können. 12 Darüber hinaus hat sich Celan verschiedentlich gegen eine Entpolitisierung seiner Gedichte gewandt, auch und gerade im Kontext des Gedichts Schibboleth. Dabei rückt der Aspekt des Ausdrucks in den Blickpunkt, geht es Celan doch oftmals um eine jeweils zu spezifizierende Artikulation. Damit wird vor dem Hintergrund der Shoah nicht zuletzt die Frage nach der Rolle des Gedichts relevant; dies ist ausführlich am Beispiel des Meridians exemplifiziert worden, etwa wenn es dort heißt: »Das Gedicht spricht!«; »Das Gedicht ist einsam.«; und schließlich: »Das Gedicht will zu einem Andern, […] es braucht ein Gegenüber.« (Celan 2014b: 43, 45) Die Frage nach der Artikulation oder den Artikulationsmöglichkeiten des lyrischen Ichs nimmt in vielen Gedichten eine zentrale Rolle ein, was nicht nur für Schibboleth gilt, sondern wofür das eingangs zitierte Gedicht Du Darfst aus dem Atemkristall-Zyklus ein ebenso markantes Beispiel ist: Es ist ein Schrei, mit dem dieser Zyklus beginnt. 13 Eine Bemerkung in Celans Briefwechsel kann nun ein Hinweis darauf sein, dass diese Kategorie des Schreiens ambivalent, als Teil eines Entwicklungsprozesses angesehen oder zumindest nicht als selbstverständlich gelten kann; in einem Brief an Diet Kloos-Barendregt vom November 1949 heißt es: »Du mußt versuchen, auch den Schweigenden zu hören […]: er möchte laut sein, vernehmlich, nur kann ers noch nicht.« (Celan 2002: 78) Damit ergibt sich ein poetologischer Zweiklang zwischen Artikulationsgegenstand und Artikulationsmöglichkeit; beides ist im Kontext des Gedichtes Schibboleth direkt abhängig von den Bedingungen, die die Gedichtslogik zwischen dem Selbstver-

12 Vgl. dazu bereits die Studie von Janz 1976, ebenso weist Iulia-Karin Patrut darauf hin, dass sich vier Dimensionen des Politischen im Spannungsfeld der Auseinandersetzung mit Adorno und Heidegger bei Celan finden lassen; vgl. Patrut 2014. Siehe dazu auch Born 2019. 13 Vgl. zu diesem viel besprochenen Zyklus vor allem die Untersuchung von Guiseppe Bevilacqua (2004).

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ständnis des lyrischen Ichs und dem gesellschaftlich-normativen Rahmen aufspannt. Es geht also um das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem gesellschaftlichen Ganzen. Eine Entpolitisierung von Gedichten würde und müsste demnach darauf abzielen, sie aus dem jeweiligen historischen Entstehungs- oder Anspielungskontext herauszulösen, um sie isoliert zu betrachten – das träfe dann auch die Bedeutung von Ent-Politisieren, nämlich ein Beharren auf der Irrelevanz für das soziale, pluralistische Kollektiv, also die res publica betreffend. Überlegungen, die sich in der Prosa aus dem Nachlass finden, weisen darauf hin, dass Celan auch ein politisch denkender Dichter gewesen ist, etwa in folgender Notiz: »Der Verband der Heimatvertriebenen. Der Verband der Weltvertriebenen wäre ja wohl erst ins Leben zu rufen.« (Celan 2005: 30) Damit verbunden ist auch der folgende Satz: »Gedichte ändern wohl nicht die Welt, aber sie verändern das Inder-Welt-Sein.« (Celan 2005: 126) Somit wird deutlich, welche Stellung das Gedicht einnimmt: Es ist »mit Welt befrachtet« (Celan 2005: 139), in der es sich situiert, zu ihr Stellung bezieht und mit ihr in einer Wechselwirkung steht. Konkret empfand Celan die Goll-Affäre auch als einen politischen Angriff gegen seine Person und forderte von Freunden und Bekannten Solidarität ein; davon zeugt nicht zuletzt der Briefwechsel mit Petre Solomon, in dem es heißt: »Il ne me reste qu’à invoquer le droit à l’erreur. Et l’espoir en la solidarité de la poésie.« (Solomon 1981: 69). Solomon kommentiert diesen Brief folgendermaßen: Es wäre verfehlt, aus dieser Korrespondenz die Schlußfolgerung zu ziehen, Paul Celan sei ein ›engagierter Dichter‹ gewesen, in dem Sinne, in dem es etwa um die gleiche Zeit Paul Eluard, Aragon oder Tzara waren. Die Korrespondenz des Jahres 1962 hebt vor allem die antifaschistische Komponente […] meines Freundes hervor […]. (Solomon 1981: 71; Herv. i.O.)

Die These, dass Celans Schibboleth als ein Beispiel einer strukturell engagierten Lyrik verstanden werden kann, welche sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie sich nicht deckungsgleich mit der Welt überblenden lässt, von der sie handelt, erhält durch folgende Stelle im Brief an seinen frühen Förderer und Freund Alfred Margul-Sperber vom 9. März 1962 weitere Plausibilität: In meiner – in der sogenannten Bundesrepublik (aber auch, nicht von ungefähr, im nicht minder wirtschaftswunderlichen Wien sowie in der – dramatisch und kritisch so prominenten – Schweiz) wie alle alles aus meiner Feder Gekommene – tot-geschwiegenen bzw. tot geschriebenen Rede anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises – (verliehen wurde er mir, um mich, nachdem man sich dieses Alibi verschafft hatte, umso besser herunter-

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machen zu können) – habe ich u.a. auch gesagt, ich sei wieder da, wo ich angefangen habe. – Ja, da bin ich wieder, genau da. Mitsamt jenem ›no pasarán‹ das in dem Gedicht ›Schibboleth‹ steht: auch das können mir die Herren in Westdeutschland nicht verzeihen… (Solomon 1987: 266; Herv. i.O.)

Somit wird deutlich, dass Celan eine Standortmarkierung des Gedichtes im Politischen, also gesellschaftlich Relevanten, betont. Nicht zuletzt durch den anspielungsreichen Kontext, den das Gedicht Schibboleth aufspannt, wird die europäische und transnationale Perspektive deutlich: Gerade in der Verteidigung der individuellen Freiheit gegenüber differenziert zu betrachtenden Kollektivsystemen rekurriert Schibboleth auf einen zentralen Gedanken der europäischen Aufklärung in der Moderne unter Rückgriff auf die jüdische Mythopoetik und ruft nicht zuletzt mit dem no pasarán den internationalen Charakter einer internationalen Solidarität auf im Versuch der Verteidigung der Freiheit gegen den Faschismus und legt den ›Akut‹ auf ein tendenziell (geographisch/historisch) peripheres Zentrum europäischer Identitätskonstruktion. Im Mittelpunkt des Gedichtes stehen in der vorgenommenen Interpretation somit nicht nur die sozialen Kämpfe der jeweiligen europäischen Kontexte, sondern diese werden perspektiviert durch die Frage nach Selbstkonstitution und Fremdkonstruktion des Individuums im Spannungsfeld von Kollektivinteressen und individueller Freiheit.

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Pier Paolo Pasolini und die Frage nach einem europäischen Nachkriegskino Isabelle Chaplot

ABSTRACT This article aims to show that Pier Paolo Pasolini’s film oeuvre – especially in his earliest works ACCATTONE (I, 1961) und MAMMA ROMA (I, 1962) – oscillates between two diametrical motifs: between the motif of community and the motif of the sacred. Against the historic background of post-war Europe, so the assumption, these motifs can be understood as figurations of hope for a society providing cultural alterity and thus, opposing the homogenized consumer- and mass culture. Keywords: Pier Paolo Pasolini – Notion of the Sacred – European Post-War Cinema – Film Studies

1. VON EINEM EUROPÄISCHEN KÜNSTLER Von einer oder einem europäischen Künstler*in zu sprechen, kann vernünftigerweise zweierlei bedeuten. Die manchmal, aber nicht zwingend oberflächliche Variante wäre jene einer grenzüberschreitenden, gewissermaßen paneuropäischen künstlerischen Persönlichkeit bzw. einer Künstlerin/eines Künstlers, deren/dessen Werk diese Züge trägt: Jenes Werk, egal ob Literatur, Musik, Film etc., beschäftigt sich mit Europa, dessen Geschichte und Gegenwart aus einer europäischen Sicht, die sich dementsprechend nicht einer Nation oder einer kulturellen Identifikation zuordnen lässt.

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Die andere, dazu komplementäre Variante wäre dann jene, bei der der Fokus auf einem, wie auch immer im Einzelnen gearteten, europäischen künstlerischen Gestus liegt. Hier stehen die Dinge vermutlich etwas komplizierter. Es steht dann jedenfalls Europa nicht als konkretes geografisches, politisches, historisches Motiv im Sinne eines Bildinhaltes im Vordergrund – bzw. das ist nicht der das Attribut prägende Aspekt – sondern es geht darum, wie das Bild gemacht ist, ob also der ästhetische Prozess etwas ›Europäisches‹ hat. Mit letzterem befindet man sich freilich in Gewässern mit noch mehr Untiefen, muss man doch, um hier von einem irgendwie »europäischen Werk« zu sprechen, sogleich Auskunft zu geben bereit sein, worin denn nun wiederum eine solche Bezeichnung besteht, was also den Gestus der Künstlerin oder des Künstlers europäisch mache. Im Zweifelsfall stünde man wieder am Anfang, wenn man nicht ganz unhinterfragt auf eine fertiggestellte europäische Identifikation rekurrieren wollte. Gehaltvoller und fruchtbarer wird dies erst, wenn man in der zweiten hier genannten Perspektive das Attribut ›europäisch‹ für den Moment auffächert, um es später ggf. wieder zusammenzufügen. Das bedeutet, dass es hier nicht den europäischen künstlerischen Gestus gibt, sondern dass sich eine Vielheit von ästhetischen Verfahren, aber auch Motiven, von latenten bis manifesten, finden lassen. Wenn zwar einzelne nicht genuin als europäisch bezeichnet werden können, greifen diese in ihrer Kombination allerdings, subkutan gewissermaßen, europäische Themen, Geschichte und Gegenwart auf. Soweit so spekulativ, möchte man meinen. Doch im Hinblick auf einen spezifischen Gegenstand, dem filmischen Werk Pier Paolo Pasolinis, lässt sich von dieser kurzen Überlegung aus weitergehen: Pasolinis Werk, so die nämliche These, ist in zweiter genannter Weise ein europäisches Werk. Die konkreten geschichtlichen europäischen Bezüge Pasolinis sind äußere und sie sind unschwer zu erraten: Es geht um die zum Teil gerade erst vergangene, zum Teil weiterhin laufende Zeit des Faschismus in Europa; es geht um die Frage der Nachkriegsgesellschaften, um die System-Konkurrenz und den Massenkonsum; und es geht um die Frage der Revolutionen, der Arbeiteraufstände und später auch um »Achtundsechzig« – alles Themen, denen gegenüber Pasolini eine ambivalente Beziehung eingenommen hat. 1 Die Fluchtlinien dieser Themen, so die hiesige

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Hierfür einschlägig sind insbesondere die politischen Essays und Kampfschriften Pasolinis, die unter dem Titel »Freibeuterschriften« veröffentlicht worden sind (vgl. Pasolini: 1971). Der Untertitel der deutschen Ausgabe lautet bezeichnenderweise: »Aufsätze und Polemiken über die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft«. Der Haupttitel war im Übrigen Vorbild für die gleichlautende politische Zeitschrift.

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Annahme, ist für Pasolini das dialektische, ›zarte‹ Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Alterität, also die Frage nach der Harmonie zwischen Solidarität bzw. Verlässlichkeit, ja auch nach Identifikation und Fortschritt auf der einen und nach dem unbedingten Schutz des jeweils Besonderen auf der anderen Seite. Pasolinis ästhetische Strategie, d.h. auch die Wahl der wiederkehrenden Motive ist darauf ausgerichtet, dieses Verhältnis zu verhandeln, ohne es im ästhetischen Diktat im gleichen Moment zu zerstören. Pasolini, so die hiesige Beobachtung, erschafft sich hierbei eine Art ästhetisches Kräftefeld, das zwischen zwei polaren Motiven verläuft: zwischen dem Motiv der Gemeinschaft und dem Motiv des Heiligen bzw. deren Figurationen. Beide Motive tauchen in seinen Filmen (und Romanen), von denen im Folgenden nur die beiden frühsten, ACCATTONE (I, 1961) und MAMMA ROMA (I, 1962) behandelt werden, in unterschiedlicher Variation, aber nie in »Reinform« auf (wobei zu fragen ist, ob dies überhaupt möglich wäre). Sie wirken gewissermaßen wie ein Gravitationsfeld, das den einzelnen Momenten des Films ihre Richtung und Schwere gibt. Wie zu zeigen ist, bedeutet das nicht, dass die Filme wiederum von zwei Motiven gleichsam beherrscht werden, sodass es auf die Zwischentöne an sich nicht mehr ankäme. Vielmehr geht es um Grundmotive für Variationen.

2. VOM LEBEN DER PERIPHERIE Zunächst jedoch fällt auf, dass bisher eines gänzlich unterschlagen wurde: nämlich Italien, Rom! Will man von Europa und europäischer Kunst bei Pasolini reden, muss man unweigerlich hier anfangen, beim ersten ›Problem‹ des Regisseurs, nämlich Italien – und weiter dann beim Katholizismus, dem Faschismus, den Christdemokraten, dem Massenkonsum, dem kommunistischen Parteiapparat – bei eigentlich allem, was das Italien seiner Gegenwart ausmacht. Pasolini kommt im Winter 1950 mit seiner Mutter nach Rom, nachdem er aufgrund eines vermutlich seitens der örtlichen Parteikader der PCI fingierten Eklats um seine Homosexualität aus seiner friaulischen Heimat flüchten musste (Vgl. Balló 2014: 26). Pasolini flieht also in die Hauptstadt. Er wohnt zunächst im jüdischen Viertel im Zentrum, später dann im Armenviertel am Ponte Mammolo, in der römischen Peripherie. Die Reise endet zunächst in Armut und Verdruss – Pasolini ist ohne Arbeit, fühlt sich entwurzelt und ohne Perspektive. In einem seiner frühen Gedichte heißt es: »Ich lebe, wie ein zum Tode Verurteilter leben kann,/immer mit jenen Gedanken wie eine Sache am Leib –/Schande, Arbeitslosigkeit, Elend.« (Pasolini zit. nach: Balló, 2014: 9).

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Im gleichen Moment aber, in dem Pasolini die für viele vom Land oder aus dem Süden im Allgemeinen Zugezogene typische Ausgegrenztheit auch räumlich erfährt, gedeiht in ihm eine Faszination, die zur künstlerischen Passion wird und die spiegelbildlich an früheren Wunden und früheren Lieben rührt. Pasolini begegnet hier, in der Welt des Subproletariats im Schmelztiegel heute vielleicht unvorstellbarer sprachlicher und kultureller Heterogenität, jenem Unbehagen und eben jener Faszination, die ihn schon im Friaul umgetrieben haben. So lautet es fast parallel: [Ich] verbringe […] den wesentlichen Teil meiner Zeit jenseits der Stadtgrenzen, hinter den Endstationen […]. Ich liebe das Leben so wild, so verzweifelt, dass mir daraus nichts Gutes erwachsen kann: Ich meine damit die physischen Gaben des Lebens, die Sonne, das Gras, die Jugend, das ist ein schlimmeres Laster als die Abhängigkeit von Kokain, es kostet mich nichts und ist in grenzenlosem Überfluss ohne Einschränkungen vorhanden: und ich verschlinge und verschlinge… Wie wird das enden? Ich weiß es nicht… (Pasolini zit. nach: Balló, 2014: 50)

Zu Beginn seines künstlerischen Werkes steht die Poesie – sie wird stets eine Konstante in seinem Werk bleiben – und am Beginn der Poesie steht bekanntlich die Sprache, für Pasolini das Friaulische, eine romanische Sprache, die dem Italienischen noch lose verwandt ist. Indem er in dieser Sprache dichtet, sucht Pasolini schon früh nach dem geheimen, inkommensurablen sprachlichen Weltzugang, eben nach der Poesie einer Sprache. Pasolini findet hier früh zu einer Faszination, welche er nirgends so nennt, die wir aber am besten mit dem umfassenden Begriff der Alterität, des inkommensurablen Anderen also, erfassen können und durch die, so scheint es zumindest, Pasolinis Werk von frühen Jahren an biografisch geprägt ist. Um es auf einen Punkt zu bringen: Pasolini sitzt von früh an, gewollt oder ungewollt, zwischen jenen Stühlen, von denen man in der italienischen Gesellschaft (jener) Zeit – und nicht nur der italienischen und nicht nur jener Zeit – zu wählen hat: Als Homosexueller und als Linker gehört er zum offiziellen Feindbild der bürgerlichen Kräfte und als dem Individuum verschriebener Kommunist ist er den etablierten kommunistischen Kräften der PCI, der kommunistischen Partei Italiens, mit steigender Popularität ein Störfaktor. Was damit in aller Kürze gesagt werden soll: Schon aufgrund dieser doppelten Ausgestoßenheit, die bei aller – oder wegen aller – späteren Popularität und allem künstlerischem Ruhm nie von ihm weichen wird, schon aufgrund dieser gesellschaftlich-kulturellen Positionierung erlangt Pasolini gezwungenermaßen die Perspektive des Anderen, der Alterität. Der weitere Lebensweg, so zeigt sich in Rom, vertieft diese Situation, indem sich der Zusammenhang von Alterität,

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Ausgestoßenheit und der Gefahr der Homogenisierung, jenem Unbehagen das Pasolini schon früh betroffen haben muss und das hier, in der Peripherie beginnend, seinen Ausdruck findet, nun weiter, in aller Dialektik konkretisiert: Die borgate 2 ist zugleich der Ort eines wilden Treibens und einer tiefen Depression, einer vom gemeinsamen Schicksal gestifteten Solidarität und eines fehlenden Klassenbewusstseins, sie ist der Ort des Elends – und das bedeutet stets: des ImElend-Gehalten-Werdens – und eines Widerständigen (vgl. Rhodes 2017: 127). Eines Widerständigen dadurch, dass die Peripherie eine Art ›Umschlagpunkt‹ ausmacht: Ihre Bewohner sind zu sehr allein gelassen von der Gesellschaft als dieser noch eingemeindet werden zu können, doch ihr täglicher Überlebenskampf, die Kleinkriminalität, das ›von-der-Hand-in-den-Mund‹, das im Zweifelsfall keine Genossen kennt, all dies kennt auch keine Partei und Revolution. Was wiederum trostlos, ja vielleicht auch zynisch wirken mag, für Pasolini, dem hier keine romantisierende Verklärung des ›Lumpenproletariats‹ anzuhängen ist (vgl. hierzu Bescherer 2011), ist es ein Anfang – wenn auch nur ästhetisch: Die Peripherie, ihre »Hungerleider«, Kleinkriminelle, Zuhälter und Prostituierte, die sich gegenseitig verraten und verkaufen, sie bilden ein Bild der Anklage gegen einen vermeintlich modernen Staat, aber sie sind zugleich auch Typen, Orte, Momente, Bilder, die sich entziehen, und die vielleicht den Zugang zu anderen Formen der Gemeinschaft bieten als jene Pseudo-Formen eines faschistischen ›Volkskörpers‹ oder einer Konsumkultur, die jeweils für sich – allerdings mit unterschiedlicher Schwere und Brutalität – ein Durchstreichen der Besonderheit in der Gemeinschaft bedeuten (vgl. Kammerer 1979). Die Topoi Pasolinis sind mithin gebrochene, die sich nicht in klare Bilder, Allegorien oder Stimmungen überführen lassen. Einmal mehr stellt sich also bei Pasolini die Frage der Darstellung.

3. GESICHTER/FURCHEN DER BORGATE ACCATTONE. Erste Einstellung des Films: Das schiefe, beinah zahnlose Lachen des Blumenverkäufers (Abb. 1), der damit dem Spott seiner ViertelGenossen über das vergebliche Bemühen der Lohnarbeit begegnet. Dass zwischen beiden Positionen kein Unterschied der Klasse und erst recht nicht des

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Der italienische Begriff der borgate bezeichnet die römischen Vororte bzw. deren kulturelles Milieu. Es handelt sich hierbei um Siedlungen von Sozialwohnungen, die zwischen 1930 und 1937 in der näheren Umgebung der Stadt Rom in zumeist minderer Bauqualität errichtet wurden.

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Schicksals besteht, unterstreicht die Kommunikation des Spotts durch Schuss und Gegenschuss der Kamera zwischen dem Gesicht des Verkäufers und der Meute der Ragazzi vor dem Café. Eine spätere Einstellung macht die Sprache deutlicher. Sie gilt den Tagedieben, Kleinst-Zuhältern, »Hungerleidern« und Kleinkriminellen, die hämisch lachen: Wie zuvor schon das Gesicht des Blumenverkäufers, so tastet die Kamera nun die Reihen dieser Ragazzi ab: Gesicht für Gesicht vertieft die Kamerafahrt in ihrem beinahe kontemplatorischen Stil die Untiefen, die Furchen, die Zeichnung, das Feiste und das Einnehmende – kurz: die schöne Hässlichkeit jedes Einzelnen (Abb. 2). 3 Und konstituiert instantan eine Form von filmischer oder bildlicher Individualität. Das zwischen schmerzlicher Leibesvisitation und ästhetisierter Verehrung schwankende Verweilen der Kamera trägt schon Züge einer Sakralisierung bzw. des Zeigens einer Sakralität. Jacques Aumont beschreibt diesen Effekt in seinem Essay zum »porträtierten Menschen« als einen Prozess filmischer Realisierung. Im intensiven Porträt im Film, so Aumont, kommt es zu einer hybriden Verkörperung zwischen Schauspieler-Körper und ProtagonistenKörper, zu einem nahezu physischen Übergang zwischen beiden in der bloßen filmischen Präsenz in deren Dauer – es kommt nach Aumont mithin zum Eintritt eines Besonderen – weder Schauspieler noch dokumentierter »realer Mensch« – in den Film, es kommt zum Eintritt einer Alterität in den filmischen Nullpunkt (Vgl. Aumont, 2004: 111-140). Um an dieser Stelle vorzugreifen: Was Aumont hier beschreibt und was Walter Benjamin hinsichtlich der Fotografie – doch das lässt sich wohl auf den Film übertragen – noch prägnanter formuliert 4, ist von seiner Form her gleich der

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Es war Michel Foucault, welcher in seinem Artikel zu Manet, ein einfühlsames Porträt der schönen Hässlichkeit entworfen hat. Vgl. Foucault 1998: 62.

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»In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Er bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Portrait im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus frühen Photographien die Aura zum letzten Mal.« (Benjamin 1936: 485) Dass hier die Schwelle zwischen der Fotografie und dem Film eher eine sich qualitativ steigernde ist, darauf verweist Benjamin wenige Seiten später: »Aber die Schwierigkeiten, welche die Photographie der überkommenen Ästhetik bereitet hatte, waren ein Kinderspiel gegen die, mit denen der Film sie erwartete. Daher die blinde Gewaltsamkeit, die die Anfänge der Filmtheorie kennzeichnet« (ebd.: 486). Jene »blinde Gewaltsamkeit« glimmt in den Pasolinischen Gedanken zu Kino und Film recht deutlich nach.

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Form der Hierophanie, d.h. der heiligen Erscheinung – sofern man sie nüchtern als ästhetischen Moment beschreibt: Im Nullpunkt des Films, im nackten Bild, auf der ganzen Leinwand also, erscheint eine individuelle Tiefe, die nicht mehr Protagonist oder Figur und auch kein dokumentierter Mensch mehr ist. Jenseits einer sozio-kulturellen dokumentarischen Vermittlung von Subjekt, Arbeiter oder Mensch – aber auch jenseits des bloßen Weiterlaufens der Aktion des Films – semi-dokumentarisch, eröffnet sich das Antlitz eines Menschen, eines zweiten, eines dritten, und so fort. Dabei ist Pasolini kein Neorealist (vgl. Restrivo 2002: 78f.). Nicht nur, weil er nicht mehr zur Generation gehört: Pasolini inszeniert hier ein Gesicht nicht nur, er poetisiert es, indem er es wirken und eine Sprache sprechen lässt. Doch kommen wir zurück zur Gemeinschaft: Die Gesichter – sie erscheinen der Reihe nach, jedes für sich, doch auch jedes nach dem anderen abgetastet durch die Kamera. In ihrer schönen Hässlichkeit und sodann in ihrem kollektiven Spott für den Blumenverkäufer, ›dem armen Idioten‹, der arbeitet und trotzdem arm bleibt, sind sie miteinander und mit der borgate verbunden. Der Ort der Stiftung einer Gemeinschaft ist ihr bloßes sukzessives, aber durch die Kamera und deren Ästhetik des Verharrens und des close up vermitteltes Erscheinen. Und das einer Hierophanie gleiche Erscheinen ihrer Gesichter gibt jedem einzelnen Gesicht die Kraft, wirklich zu erscheinen – nicht nur abgebildet zu sein, sondern zu erscheinen und den Moment auszufüllen, ein Gesicht. Bereits hier ahnen wir die gegenseitige Ergänzung der beiden Pole: Gemeinschaft und Hierophanie. Die Kamera ist im technischen und ästhetischen Sinne eine Analyse, ein Erscheinen-lassen. Doch nicht in ästhetischer Verfremdung: Was der ganzen Szene ihre Kraft gibt, ist der gezeigte Kontext der Peripherie, des Armenviertels mit seinem Elend und seinem Schalk, der Widerständigkeit der ›Fratzen‹ und ihrer Scherze. Pasolinis Ästhetik ist trotz Einsatz des Mittels der Erscheinung und des Verharrens darauf schließlich nur in der Latenz vermittelt. Das wurde in Hinblick auf seine ästhetische Programmatik bereits angedeutet: Seine Filme sind tatsächlich Filme, keine Aneinanderreihung von Tableaus.

Man kommt nicht umhin zu fragen, ob Pasolini nicht genau in jenem Punkt Walter Benjamins, der Verabschiedung des kultischen Kunstwerks, angreifbar wird: Man kann zwar behaupten, dass Pasolinis Hierophanie-Gestus entgegen allem Schein des Regresses in den Mythos vielmehr Benjamins Figur des »Engels der Geschichte« entspricht und dass seine Werke ganz dezidiert keinen Kultwert beanspruchen. Zugleich aber spielt Pasolini, wie im Folgenden gezeigt werden soll, hinsichtlich seiner Filme durchaus mit einem fern ans Kultische gemahnenden Verständnis ästhetischer Wirkung.

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Nicht sukzessive, in der Aufeinanderfolge der Bilder und Zeichen, sondern erst in der Latenz entfaltet sich das Spiel zwischen Gemeinschaft und Hierophanie, von Tagedieben, Hungerleidern, Hehlern und Heiligen, entfaltet sich die ganze Tiefenschärfe und das Panorama seiner Figuren und Motive, d.h. in der allmählichen Entfaltung ihres möglichen Sinns und ihrer möglichen Verweisungskraft über die Variation der Grundmotive und den Gang der Bilder. So sind andere Momente in ACCATTONE zu nennen. Weniger subtile, aber genauso in das feine Gespinst der bildlichen Verweisungen verwobene Motive, Heiligenmotive: Accattone mit parodistisch, so scheint es, zum Himmel erhobenen Händen auf der Brücke. Die Prostituierte, wie in einem Standbild im Schummerlicht der Straßenlaterne an den Straßenstrich gestellt; die LeichnamsProzession in Accattones Traum und nicht zuletzt seine Passion, nachdem er auf der Flucht vor der Polizei nach einem der kläglichen kleinen Raubzüge unter die Räder geraten ist und die finalen Worte spricht: »Jetzt geht’s mir besser« (Abb. 3) (Pasolini 1961: TC 01‹50’05-01‹50‹09). Überhaupt die Passion. In Pasolinis zweitem Film, MAMMA ROMA, finden wir das Motiv intensiviert wieder, so wie dieses Werk das motivische Spiel des ersten insgesamt steigert. Die Passion des Ettore, geliebter Sohn und Mittelpunkt aller Hoffnung der Prostituierten Mamma Roma: In ikonografischer Nachbildung des sterbenden Christus im Gemälde »Beweinung Christi« des Quattrocento-Malers Andrea Mantegna liegt Ettore in seinen letzten Zügen gefesselt auf einer Pritsche im Gefängnis, in das er nach einem unbedeutenden Diebstahl im Krankenhaus geraten ist (Abb. 4). Der Widerhall dieser Passion, die Beweinung durch seine Mutter Gottes, findet sich wenige Szenen weiter im Gesicht der Mamma Roma, welche durchs Fenster ihres gerade errungenen kläglichen kleinbürgerlichen Heims auf ihr neues, im Aufbau begriffenes und dabei nicht weniger trostlose Peripherie-Viertel schaut. Hinter ihr sehen wir in nächster Einstellung gruppiert andere aus ihrem täglichen Kampf um die Statuserhaltung aufgeschreckte Händlerinnen und Händler des Marktes, auf dem Mamma Roma ihrem Schicksal als Prostituierte erfolglos zu entkommen suchte. Nun werden die Gesichter nicht mehr im Einzelnen abgetastet, nun ist es der Blick in die Äußerlichkeit und Leere des stetigen Mehr – mehr arbeiten, mehr aufsteigen, mehr konsumieren, mehr bauen, welches uns die Gemeinschaft ex negativo zeigt. Diese Gemeinschaft der vom bürgerlichen, periodisch reformulierten Aufstiegsversprechen Enttäuschten hat in MAMMA ROMA ihren sinnhaften Gegenpart in der Gemeinschaft der auf einer von Überresten römischer Viadukte geprägten Brache vor dem Hintergrund des in Modernisierung begriffenen Viertels. Mit dem polnischen Schriftsteller Witold Gombrowicz ließen sie sich als eine Gemeinschaft der Minderen, der Inferioren also, beschreiben: Eine sich im

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Moment ihrer eigentlichen Entfaltung überlassene Rotte von zwischen Schule, Markt und Pubertät umhertreibenden Atomen, die keine Solidarität und auch noch kein gemeinsames Ziel zusammenhält, sondern einzig ihr Buhlen um das andere Geschlecht und um Stärke im freien Feld, eingerahmt von der fester und fester werdenden Realität einer, wenn es das Leben ›gut‹ mit ihnen meint, bürgerlichen Existenz (etwa mit Rundfunkantennen auf dem Balkon des Neubaus…). Hier finden wir die absolut lose Gemeinschaft wieder, die die Gemeinschaft der Ragazzi in ACCATTONE gebildet hat, oder die ländliche Hochzeitsgesellschaft zu Beginn von MAMMA ROMA. Eine Gemeinschaft, die im Moment, hier im Spiel der pubertären und vorpubertären Triebe, stattfindet; die keine ›echte Solidarität‹ kennt, eher ein Ringen um den Moment; die aber ihren Sinn findet im Widerstreben gegen die sie umgebende Ordnung. Und eine Gemeinschaft, die ihren ästhetischen Widerhall in der spezifischen Räumlichkeit des filmischen Geschehens findet, womit ein weiterer wiederkehrender Topos der Filme Pasolinis angesprochen ist. Denn diese Momente der Alterität – im Spiel zwischen dem Heiligen und der Gemeinschaft –, sie haben bei Pasolini zumeist statt an Orten, die sich, so unsere Beobachtung, am besten mit dem Begriff der ›Terrains vagues‹ umschreiben lassen (vgl. Nitsch: 2013). Es sind Orte, die das Widerstreben ihrer Protagonisten in topologischer Differenzfigur widerspiegeln. ›Terrains vagues‹ sind Orte eines intensiven ›Zwischen‹ Orte, gezeichnet von früherer, inzwischen liegengelassener, aufgegebener oder von niemals aktivierter Nutzung; Orte, die nicht in erster Linie einen Gegenpol zur umgebenden Ordnung bilden – es handelt sich nicht wirklich um Brachen –, sondern die zur Ordnung in einem negativen, negierenden, ja beinahe polemisierenden Verhältnis stehen: Schutthalden ehemaliger oder einstmals geplanter Gebäude, umfunktionierte Gegebenheiten für subproletarisches Über-Wasser-Halten – wie etwa die Flaschen-Halde in ACCATTONE – oder eben beinahe verwunschene Orte verblassender ehemaliger Technizität wie die Viadukte, auf denen sich die Minderen in MAMMA ROMA ihrem Treiben hingeben (Abb. 5). Diese Orte aber stehen dem Gravitationsfeld des Heiligen und der Gemeinschaft nicht unvermittelt gegenüber, sondern sind Teil ihres ästhetischen Gefüges. Hier kommt es zu einer für Pasolinis Werk charakteristischen Übertragungsleistung, in diesem Fall ins Räumliche. Terrains vagues sind Gegen-Orte und damit, wenn man die omnipotente bürgerliche Ordnung des Warentauschs, ja der Warenförmigkeit einmal als Ausgangspunkt der Beobachtung annimmt, Wüsten. Wüsten wiederum sind in der jüdisch-christlichen-muslimischen Ordnung die Orte der Hierophanie, sie sind Orte der Erscheinung. Bei Pasolini nun kann es sich nicht mehr um reine Wüste handeln, denn er schreibt keine sakralen Geschichten, sondern Geschichten der Erscheinung von Alterität. Alterität als das

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Andere erschöpft sich bei ihm nicht in der Leere, in der absolute Transzendenz erscheint, weil es bei ihm nicht um Transzendenz, sondern um Wirklichkeit geht. Seine Orte der Erscheinung sind mithin Gegen-Orte im Sinne der Foucaultschen Heterotopien: Aufnahmen der Ordnung, aber verzerrte Aufnahmen, niemals Leere, sondern Andersartigkeit – hier, im Unterschied zur Heterotopie, eine gebrochen negierende Andersartigkeit. In einem der gesellschaftspolitisch direktesten Filme Pasolinis, TEOREMA (I, 1968), liegt diese Andersartigkeit in einer Variation zwischen Subtilität und Radikalität vor, wie auch das Motiv des Heiligen und der Gemeinschaft hier, in diesem Film, eine solche aufs Pasolinische Gesamtwerk gesehen extreme motivische Amplitude durchläuft: Wir sehen die Gemeinschaft der Arbeiter die Fabrik verlassen – eine beinahe ikonografische Szenerie. Zugleich sehen wir das Gegenbild, die Nicht-Gemeinschaft in Form der durch den unheimlichen Besuch zunehmend zersplitternden Industriellen-Familie; wir sehen die funktionierenden Nicht-Orte norditalienischer Industrie und im scharfen Kontrast dazu die stratosphärische Leere der Wüste, durch die der nunmehr nackte Patron in Verzückung schreiend rennt (Pasolini 1968: TC 01‹32‹06-01‹33‹53); wir sehen schließlich die gebrochene Heiligen-Figuration des unheimlichen Gastes und später die fast schon regressive Heiligen-Figur der Haushälterin (Pasolini 1968: TC 01‹28‹26-01‹32‹05). Pasolini treibt also, wie viele Regisseure und Autoren oder überhaupt Künstler seiner Zeit, ein Spiel mit uns – aber eben keines ohne Fluchtlinie, kein beliebiges. Es geht hierbei vielmehr um einen Realismus, der nicht mehr dem Neorealismus, also der Wiederkehr des Dokumentarischen im Film, verbunden ist, sondern eine Form von poetischem Realismus darstellt. Um das besser zu verstehen, eignet sich ein Blick in Pasolinis programmatische Filmästhetik.

4. VON DER LIEBE ZUR WIRKLICHKEIT Kino als Sprache der Wirklichkeit, Film als Poesie dieser Wirklichkeit – das ist kurz gefasst der ganze Punkt einer solchen Filmästhetik, die Pasolini im Zuge seiner beachtlichen publizistischen Tätigkeit niedergeschrieben hat (vgl. Pasolini: 1965). Diese konzise und gleichzeitig filmisch dem sonstigen subtilen Gestus zu widersprechen scheinende Programmatik bildet einen wesentlichen Aspekt in der filmischen Ästhetik Pasolinis. Das Kino als »Sprache der Wirklichkeit« und als »unendliche Einstellungssequenz« (Pasolini 1966/1967: 220) – eine solche Eindeutigkeit hat die Semiotik in der Begründung ästhetischer Programme selten erlebt und es ist nicht verwun-

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derlich, dass dem ein intensiver Streit zwischen Pasolini und Umberto Eco, dem Star der Semiotik, folgte. Doch man kann, auf der Basis der weiteren Ästhetik des Regisseurs, einwenden, dass es sich hier eher um eine Begründungsform handelte. Pasolinis Rede vom Kino als »Sprache der Wirklichkeit« (Pasolini 1969: 250) bildet kein Diktum, sondern ganz im Gegenteil die Grundlage einer schwebenden Form des Films. Pasolini nämlich baut eine entscheidende Unterscheidung zwischen Kino und Film ein – eine solche übrigens, die die Bezeichnungen nicht mit den schlussendlichen Begriffen gleichsetzt (»Kino« und »Film« sind variierbare Bezeichnungen). Auch Kino und Film stehen, ähnlich wie das Heilige und die Gemeinschaft, aber in anderer Ordnung, in einem Wechselverhältnis: Das Kino als unendliche Potentialität der Übersetzung einer jeden wirklichen Situation bildet nicht den Widerpart und auch nicht den Gegenpol zum Film, sondern eben die Potentialität, mithin die denknotwendige Grundlage, um zu einer Bestimmung des Films zu gelangen. Das Kino als denknotwendige Gesamtheit alles übersetzten Menschlichen kann nicht damit beginnen, Sprache, d.h. auch schon Zeichen zu sein, denn damit wäre es Übersetzung: Dies wäre eine schlechte Form von Realismus. Hier setzt sich Pasolini ab von einem Realismus der ersten und auch der zweiten Dimension, ähnlich seinen Zeitgenossen im Film wie etwa Antonioni, der ähnliche ästhetische Strategien verfolgt, d.h. von Realismus und Neorealismus (nicht nur, bleibt zu vermuten, bezüglich des italienischen Kinos): Kino allein ist zwar Zeigen – film-ästhetisch vermittelt oder nicht –, aber damit kommt es zu keinem Schluss. Was bei Pasolini den Film zu einer Erfahrung macht, ist erst die poetische Vertiefung der Sprache des Kinos, d.h. eine Art Film zweiter Ordnung: Was gezeigt wird, durch den Film, durch seine verschiedenen technisch-ästhetischen Möglichkeiten – Technik und Ästhetik des Films spielen hier ineinander–, ist eine Sprache des Films erster Ordnung, eine Sprache, die abbildet. Man könnte es als sinnlos abtun, wenn die Karte dem Gebiet gleich ist. Doch die Bilder und Einstellungen als Zeichen sind erstens bereits ästhetisch vermittelt; zweitens aber ist ihre Zeichenhaftigkeit notwendige Voraussetzung, um zu einer Poetik des Films zu gelangen, d.h. zum Transzendieren des zeichenhaften Bezeichnungscharakters der Bilder hin zu einer sinnlichen Unmittelbarkeit. Diese Form, mit der Wirklichkeit im Film in Berührung zu treten ist es, was Pasolini im Sinn hat, wenn er von seiner »Liebe zur Wirklichkeit« (Pasolini 1966/1967: 221) spricht. Wie bereits angedeutet, stehen bei Pasolini Poesie und Alterität schon seit den frühesten künstlerischen Anfängen, den friaulischen Dichtungen, in konstitutivem Zusammenhang. In der römischen Peripherie erlebt Pasolini diesen Zusammenhang als beinahe synästhetische Einheit: Die Vielgestaltigkeit und Andersartigkeit der Dialekte verschmilzt mit dem Bild des bunten, beinahe anarchi-

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schen und zuweilen auch archaisch anmutenden Treiben auf den Straßen und Gassen und konstituiert eine weitere Stufe von Alterität, eine gemeinsame Alterität gegenüber den zunehmenden Tendenzen einer Homogenisierung der Menschen in Nationalstaat, Konsum- und Massenkultur. Daraus erklärt sich nochmals konkreter der notwendigerweise prekäre Status von Gemeinschaft bei Pasolini, denn die eine Inkommensurabilität, jene der Ragazzi unter- und zueinander, ist konstitutive Bedingung für die andere Inkommensurabilität bzw. Alterität, jene der umgebenden homogenisierenden Ordnung gegenüber. Der Schutz des Partikularen, so ließe sich etwa mit Blick auf Adornos Negative Dialektik sagen, ist ohne den dialektischen Widerspruch nicht zu haben und benötigt daher Vermittlungsweisen, die nicht auf die identifikatorische Schließung einer Individualität hinauslaufen. Auch die Vermittlung also, der schützende Zugang zum Individuellen, ist eine unabgeschlossene, keine umfassende und es ist vor allem die Ästhetik, die sich hier anbietet. Bei Pasolini ist es, wie gesagt, der poetische Zugang zur Alterität, der den Gedanken einer Gemeinschaft der Alterität denken helfen soll, der ihn aber eben nicht als fertigen zeigt und festschreibt. Wie Poesie die Wirklichkeit nicht zeigt, sondern den Weg zu einer Empfindung öffnet, so zeigen die Filme Pasolinis also auch nicht irgendeine Form idealer Gemeinschaft, sondern sie folgen dem Anliegen, ein ästhetisches Feld zu liefern, auf dem sich wie auf einer Leinwand eine Vorstellung oder Empfindung einer solchen Gemeinschaft konstituiert – im Rezipienten, der ja schließlich auch eine Leinwand vor sich hat. Die Leinwand als der Ort der finalen objektiven filmischen Konstitution und als solcher als Heterotopie – als Ort, an dem eine Wirklichkeit (die filmische) mit einer anderen (dem des Kinoerlebnisses) zusammentritt – ist zugleich der Ort der poetischen Empfindung und, wenn es klappt, der Idee einer solchen Gemeinschaft. Mehr vermag der Film im Rahmen einer solchen, dem Poetischen verpflichteten ästhetischen Strategie nicht und deshalb auch muss eben jene Ästhetik mit Näherungen und ›Schonungen‹ auskommen. Wir haben diesbezüglich das Bild von Spannungsfeldern gewählt. Einmal lassen sich diese auf einer topologischen Ebene verorten, indem die genannten terrains vagues im Film ihre differenzierende Wiederholung in jener Heterotopie, von der eben die Rede war, finden. Zentral schließlich ist die nun schon mehrfach genannte Spannung zwischen dem Motiv der Gemeinschaft im Film und dem des Heiligen im Film, den Momenten der Hierophanie, die die Hauptrolle spielt.

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Auch letztere steht in enger Resonanz zur »Liebe zur Wirklichkeit«. 5 Die Religionsphilosophie, und hier insbesondere der phänomenologische Strang, etwa bei Mircea Eliade, versteht unter der Hierophanie im Kern einen Vorgang der Stiftung von Wirklichkeit. Eliade beschreibt die Erscheinung des Heiligen, also der Figuration des Heiligen (sei es ein Wunder, die Erscheinung einer Figur oder Ähnliches), als Stiftung eines »festen Punkts« in der vorigen »chaotischen Homogenität« des (profanen) Raums. Nur so sei es möglich, so Eliade, »die Welt zu gründen«, ihr also überhaupt eine in sich unterscheidbare Gestalt zu geben (vgl. Eliade 1957: 15). Rudolf Otto, der geistige Lehrer Eliades, betont demgegenüber den Charakter des »ganz andere[n]« im Heiligen, das er das »Numinöse« nennt (vgl. Otto 1920: 29). Ohne sich damit sogleich das ganze religionsphänomenologische Angebot einkaufen zu müssen, lässt sich dies erklärend auf die Pasolinische Filmästhetik in ihrer hier dargelegten Richtung anwenden. Die Hierophanie als das Auftreten einer Heiligen-Figur bedeutet hier dann den Einbruch eines »ganz Anderen« in die zunehmend homogenisierte Welt und es stiftet in dieser eine Ordnung, indem Alterität eine sinnhafte Differenz beansprucht. Nimmt man hierbei einmal Pasolinis Faszination für die Figur Jesus in den Blick, so kann man es auch so wenden: Das Auftreten des Heiligen im homogenen Raum, Jesus in der Wüste, das in der Passion seine höchste Entsprechung findet, bedeutet ja im christlichen Narrativ nichts anderes als die Stiftung einer neuen Zeit und einer neuen Wirklichkeit – und darin eben die Stiftung von Wirklichkeit. Dies lässt sich nun recht klar auf die Filme Pasolinis, etwa eben ACCATTONE und MAMMA ROMA, beziehen: Der Tod, den Accattone und Ettore jeweils erleiden, wird als Passionsmoment inszeniert, an dem jeweils das bisherige Geschehen stillzustehen und die Gemeinschaft der Ragazzi zur Gemeinde verklärt erscheint. Und in TEOREMA rennt der nackte Industrielle in einem Moment durch die wüstenartige Vulkanlandschaft, der als Entsprechung zur Übernahme der Fabrik durch die Arbeiter erscheint. Im Übrigen taucht hier eine Verbindung zur ästhetischen Topologie der Filme auf, denn die Wüste in TEOREMA ist so wie die einsame Straße in der Peripherie, die Accattone wie als Passionsweg nimmt und wie die genannte Brache, auf denen sich »die Minderen« in MAMMA ROMA treffen Spielform oder Form eines terrains vagues. Es ist somit nicht allein der Moment, sondern in der weiteren ästhetischen Übertragung der ganze Film der Ort, an dem die Hiero-

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Gilles Deleuze nennt das poetische Bewusstsein in Pasolinis Filmwerk »mythisch« und »heilig« (vgl. Deleuze, 2013: 108).

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phanie, die subtile Stiftung einer Sinnhaftigkeit jenseits des Homogenisierenden der Konsumkultur, geschieht.

5. SCHLUSS »Bei aller Vielfalt seiner Äußerungen war Pasolini im Grunde genommen doch stets mit einer einzigen Thematik befasst: der Frage nach den Überlebens- und Widerstandsmöglichkeiten einer nicht zentralistischen Kultur, einer Kultur der Peripherie« (Alternative 1979: 65). Dieser zweifelsohne zutreffenden Betrachtung zu Pasolinis Werk lässt sich hinzufügen, dass es damit aber noch nicht getan ist, dass es nicht ›nur‹ um den Rand geht, sondern um eine Beobachtung. Pasolini, so scheint es nun, wählt den Rand, die Peripherie, und sie fasziniert ihn, weil sie eine Ausnahme ist und weil sie damit und als Rand zugleich eine Perspektive, eine andere Perspektive auf die Ordnung, von der sie auf diesen Platz verwiesen wurde, bietet. Diese Perspektive eröffnet sich jedoch nicht im Beobachten allein und sie erschöpft sich darin auch nicht, sondern erst die poetische Übertragung der Alterität der peripheren Gemeinschaft auf die Ordnung bricht der Perspektive auf eine mögliche zukünftige Gemeinschaft Bahn. Medium dessen ist die ästhetische Spannung, von der hier die Rede war, sind aber ebenso die besonderen Orte, die terrains vagues, und deren Verlängerung in die Heterotopie der Leinwand – und so ist es natürlich der Betrachter des Films, bei welchem diese Perspektive erst entstehen kann. Es wurde eingangs versuchsweise durchdacht, was alles unter der zugleich (hinsichtlich der Extension) unscharfen und (hinsichtlich der Intension) überdeterminierten Bezeichnung »europäische Künstlerin«/»europäischer Künstler« vernünftigerweise denkbar wäre. Pasolini, so die Idee, sei vom Typus eines Künstlers, der Europa als Frage, als Problematik, als Geschichte in seinem Gestus inhibiert habe. Abschließend lässt sich sagen, dass man das Motiv der Gemeinschaft und das des Heiligen, gerade wenn man diese nicht als feststehende Figuren, sondern als Topoi versteht, zwischen denen sich eine ästhetische Praxis aufspannt und in dieser Verbindung tatsächlich ein Problemgefüge oder Problematisierungsgefüge ergibt, mit gutem Recht als »europäisch« bezeichnen kann. Gemeinschaft, ist hierbei nicht Kohäsion, sondern dialektische Entsprechung des Mannigfaltigen, weswegen eine mechanische Verbindung – und auch keine schlecht verstandene »organische« – nicht das Ergebnis sein kann. Pasolinis Topos des ›Heiligen‹ setzt dem die ästhetische Konstruktion einer Gemeinschaft in aller Subtilität entgegen. Das Heilige als Topos eignet sich hierbei als Figur ei-

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nes gemeinsamen Bezugspunktes an etwas, das selbst wiederum eine Alterität darstellt. Dass der Topos des ›Heiligen‹ zweifelsohne weit in die Geschichte europäischer coincidentia oppositorum reicht, bedeutet dabei vielleicht einiges, mahnt aber freilich, dass jede Art von Restauration und unkritischer Aufnahme solcher Figuren ausgeschlossen ist, dass also vom »Heiligen« selbst nicht die Rede sein kann, sondern nur von einer ästhetischen Figuration. Pasolini, es soll noch einmal unterstrichen werden, ist kein gefälliger Lehrmeister und der einfache Konsens ist ihm dem Künstlerischen fremd – beziehungsweise: Echte Kunst ist ihm stets ein Fremdes: ›Autor‹. Wenn einer, der Verse, Romane oder Filme macht, in der Gesellschaft, in der er wirkt, auf Komplizität, Duldung oder Verständnis stößt, dann ist er kein Autor. Ein Autor kann nichts anderes sein als ein Fremder in einem feindlichen Land: er ist im Tod und nicht im Leben zu Hause, und die Reaktion, die er provoziert, ist ein mehr oder weniger starkes Gefühl von Rassenhass. (Pasolini 1970: 254)

Seine schroffe Abkehr von aller ästhetischen Anbiederung, seine künstlerische Haltung, der in ihrer steten Entgegensetzung bis an die Schmerzgrenze selbst etwas wie eine Passionsfigur anhaftete, mag dabei vielleicht als Vorbild gelten, es sich mit Europa auch kulturell nicht zu einfach zu machen, ohne es aufzugeben.

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FILMVERZEICHNIS 1. ACCATTONE Italien, 1961 R.: Pier Paolo Pasolini B.: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti P.: Alfredo Bini D.: Franco Citti (Accattone), Franca Pasut (Stella), Silvana Corsini (Maddalena), Adele Cambria (Nannina), Paola Guidi (Ascenza; Stimme: Monica Vitti), Adriana Asti (Amore), Luciano Conti (Il Moicano), Luciano Gonini (Piede D’Oro), Renato Capogna (Renato), Alfredo Leggi (Papo Hirmedo), Galeazzo Riccardi (Cipolla), Leonardo Muraglia (Mammoletto), Guiseppe Ristagno (Peppe), Roberto Giovannoni (der Deutsche), Mario Cipriani (Balilla), Roberto Scarignella (Cartagnine), Silvio Citti (Sabino) 2. MAMMA ROMA Italien, 1962 R.: Pier Paolo Pasolini B.: Pier Paolo Pasolini, Sergio Citti P.: Alberto Bini D.: Anna Magnani (Mamma Roma), Ettore Garolfolo (Ettore), Franco Citti (Carmine), Silvana Corsini (Bruna), Luisa Loiano (Biancofiore), Paolo Volponi (Priester), LcuianoGonini, (Zacaria) 3. TEOREMA Italien, 1968 R.: Pier Paolo Pasolini B.: Pier Paolo Pasolini P.: Franco Rossellini, Manolo Bolognini D.: Silvana Mangano: Lucia (Mutter), Massimo Girotti: Paolo (Vater), Andrès José Cruz Soublette: Pietro (Sohn), Anne Wiazemsky: Odetta (Tochter), Laura Betti: Emilia (Dienerin), Terence Stamp: Gast, Ninetto Davoli: Postbote

256 | Isabelle Chaplot

ABBILDUNGEN Abb. 1: Der Blumenverkäufer mit dem schiefen Lachen

Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß. Pier Paolo Pasolini. I 1961.TC 00:01:48 Mit freundlicher Genehmigung von Filmgalerie 451 GmbH & Co.KG

Abb. 2a - 2d: Gesichter

Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß. Pier Paolo Pasolini. I 1961. a) TC: 00:27:52, b) TC: 00:27:37, c: TC: 00: 27:38, d) TC: 00:28:00 Mit freundlicher Genehmigung von Filmgalerie 451 GmbH & Co.KG

Pier Paolo Pasolini und die Frage nach einem europäischen Nachkriegskino | 257

Abb. 3: Jetzt gehts’s mir besser

Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß. Pier Paolo Pasolini. I 1961. TC: 01:50:13 Mit freundlicher Genehmigung von Filmgalerie 451 GmbH & Co.KG

Abb. 4: Ettores Tod

Mamma Roma. Pier Paolo Pasolini. I 1962. TC: 01:38:40 Mit freundlicher Genehmigung von Intramovies-Mediaset

258 | Isabelle Chaplot

Abb. 5: Terrain vague

Mamma Roma. Pier Paolo Pasolini. I 1962. TC: 00:32:05 Mit freundlicher Genehmigung von Intramovies-Mediaset

Verführtes Denken: Das ›Schöne‹ und das ›Wahre‹ im Kalten Krieg Literarische Aushandlungen zwischen Ost und West Anna Grutza

ABSTRACT Focusing on Czesław Miłosz’ The Captive Mind and Milan Kundera’s works, this article deals with the categories of the ›true‹ and the ›beautiful‹. It investigates how the interpretation of both can shed a new light on the discursive separation between Eastern and Western Europe during the Cold War and on the simultaneous reconstitution of private, semi-public and trans-European spheres. It is the hypothesis of this article that it was precisely the different forms of individual confrontations with the ›truth regimes‹ of the Cold War and the aesthetic reality premises of socialist realism that promoted the permeability of the ›Iron Curtain‹. Furthermore, the focus of analysis lies on the text as an object of taste, pleasure and desire, and the cultural techniques of reading, writing and art appropriation. This perspective shall illustrate the constitutive nexus between media reception and media production, as well as the respective tensions of collectivism and individualism. Finally, it shall be shown to what extent totalitarianism categorically destroyed the ›spirit of the novel‹ (Milan Kundera) by reducing reality to an artificial and illusive ›whole‹, hence urging writers into exile or into the underground and accidentally reconfiguring the ›mental map‹ of Europe. Keywords: Cold War – Truth regimes – Socialist realism – Milan Kundera Czesław Miłosz

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»Unterminiert ist der Gotthard-Tunnel. Wo die Wolle schläft Und Kinderatem papierne Schmetterlinge rührt, wo feuchte Pferde am Brunnenrand in der Mailuft springen, verläuft ein unterirdischer Draht. Unterminiert ist die Heimaterde, die kleine, für uns so süße – Europa.« (Miłosz 1952: 181) 1

1. ›OSTEUROPA‹: EIN UNTERMINIERTES GEBIET Die europäische Spaltung in Ost- und Westblock hinterließ im Bewusstsein vieler Westeuropäer nicht nur während des Kalten Krieges, sondern selbst noch nach dem Fall der Berliner Mauer, die Vorstellung eines unterminierten, da durch einen Hochsicherheitstrakt von Europa und seiner Zivilisation abgesperrten und abgetrennten Terrains, und doch zugleich auch eines un-terminierten, d.h. undefinierten und unspezifischen Gebiets östlich des sogenannten ›Eisernen Vorhangs‹. 2 Dass dieser jedoch für staatlich autorisierte Transfers als auch illegale Netzwerke und heimliche Transportwege im Verlauf des Kalten Krieges porös und durchlässig wurde, ist bereits als Forschungsgegenstand einer stetig steigenden Anzahl an transfer-, vergleichs- und verflechtungsgeschichtlichen Studien aufgegriffen worden. 3 In diesem Sinne konstatieren auch Agnes Arndt, Joachim Häberlen und Christiane Reinecke, dass die Ausgangshypothese einer »klaren Trennung zwischen in sich stabilen und fest umrissenen ›Blöcken‹« (Arndt/Häberlen/Reinecke 2011: 20) zunehmend als überholt gelten kann. Hingegen betonen die Autoren die »Fluidität und Fragilität politisch konstruierter Abgrenzungen, die [...] noch heute latent eine Art ›Zivilisationsgrenze‹ innerhalb Europas markieren« (ebd.) und rücken »vor allem die diskursive Herstellung von Raumvorstellungen sowie deren Rückwirkung auf und deren Konterkarierung durch soziale und kulturelle Praktiken in den Fokus« (ebd.).

1 2

Auszug aus Czesław Miłosz: Notizbuch: Europa, 1952. Zur Entstehung und Struktur des Begriffs ›Osteuropa‹ und seiner Unbestimmtheit vgl.: Schenk 2016.

3

Vgl. u.a.: Kaelbe/Kirsch/Schmidt-Gernig 2002; Badenoch/Fickers/Heinrich-Franke 2013; Kind-Kovács 2014; Péteri 2015.

Verführtes Denken: Das ›Schöne‹ und das ›Wahre‹ im Kalten Krieg | 261

Diesem Ansatz folgend widmet sich die hier vorgestellte Analyse der eigentümlichen Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft zu Zeiten des Kalten Krieges, die das Spannungsverhältnis zwischen ›Ost‹ und ›West‹ und das Wechselverhältnis der zugrundeliegenden Systemparadigmen des Kollektivismus bzw. des Individualismus konstituierte. Zugleich soll gezeigt werden, dass gerade das kommunistische Kollektivparadigma systematisch durch einen meist klandestinen, doch auch staatlich intendierten Kultur- und Warenaustausch und dem damit einhergehenden individuellen Begehren nach Privateigentum und Privatvergnügen und dem Verlangen nach Konsumgütern unterlaufen wurde. Dabei soll allerdings keineswegs außer Acht gelassen werden, dass auch der Sozialismus und der Kommunismus ihre jeweilige Daseinsberechtigung auf das Versprechen eines schönen und materiell befriedigenden Lebens gründeten, welches jedoch nur durch den Glauben an das Kollektiv, das aber als ein grundsätzlich vom Politischen ausgeschlossenes begriffen wurde, gewährleistet werden konnte. Denn die »Langlebigkeit des [kommunistischen, A.G.] Systems«, so Ivaylo Ditchev, »verdankte sich im Wesentlichen der von ihm ausgehenden materiellen Verheißung [...]. Die neue Ära führte zu einer deutlichen Ausweitung des Begehrens.« (Ditchev 2005: 312) Dieses Begehren fand seine Entsprechung in der ästhetischen und literarischen Darstellung dieser ideologischen Zukunftsvision wie auch in einem anfangs durchaus überzeugten Glauben der Zivilbevölkerung an die Erfüllung dieses Versprechens von einem ›schönen und wahren‹ Leben. Diese Vision zu erfüllen, war allerdings zugleich das Anliegen beider Systeme, die sich in ihren ›Heilsversprechungen‹ innerhalb der jeweiligen Systemparadigmen zu überholen und zu übertrumpfen versuchten. In den folgenden Abschnitten wird sodann auch die Frage zu beantworten sein, inwiefern sich anhand der Kategorien des ›Wahren‹ und ›Schönen‹ die diskursive Trennung, aber auch Rekonstitution und parallel stattfindende Fragmentierung öffentlicher, privater und transeuropäischer Raumkonstellationen nachzeichnen lässt. Dabei wird die Hypothese aufgestellt, dass es gerade die unterschiedlichen Formen einer individuellen Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsanspruch und den ästhetischen Wirklichkeitsprämissen des Kommunismus bzw. real existierenden Sozialismus im Ostblock waren, die das erneute Zusammenwachsen Europas trotz der vermeintlichen Undurchlässigkeit des ›Eisernen Vorhangs‹ förderten. Hierbei soll im Fokus der Analyse die Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft bzw. das individuelle Geschmacksurteil und die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und der Kunstaneignung stehen, die den konstitutiven Nexus zwischen Medienrezeption, Medienproduktion und Praktiken der Subjektivierung und Individualisierung veranschaulichen. Denn gerade der Roman als

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Kunstwerk und die kulturellen Techniken und Selbsttechnologien der Literaturaneignung und Literaturerzeugung enthalten ein dieser Kunstform immanentes Potenzial zur individuellen Selbst- und Welterfahrung wie auch die Möglichkeit zu einer literarischen Hinterfragung und Kontrastierung ideologischer Weltkonstruktionen mit der jeweils erfahrenen Realität. Die Schöpfung eines solchen literarischen und ideologiekritischen Diskursraums verband sich während des Kalten Krieges mit der Literaturrezeption im privaten Raum zu einem mächtigen Werkzeug, das materiell wie auch ideell die Sprengkraft besaß, die systematische Schönfärberei, Vereinheitlichung und Komplexitätsreduktion in ihre jeweiligen Gegenteile zu verkehren, um, mit Kant gesprochen, den Leser aus seiner ›Unmündigkeit‹ zu befreien. Nichtsdestotrotz wird im Weiteren auch aufzuzeigen sein, dass durchaus nicht nur die sogenannte literarische ›Hochkultur‹, d.h. die von der Populärkultur unterschiedene ›wahre Kunst‹, in der Lage war, die mentale Landkarte Europas neu zu konfigurieren, sondern auch das Begehren nach einer eher trivialen westlichen ›Massenkultur‹ den ›Eisernen Vorhang‹ für einen wechselseitigen Kulturaustausch permeabel machte und das System des Ostblocks zu vielfältigen Adaptionen zwang. Der hier bereits zu erkennende Kristallisationspunkt, auf den beide Argumentations- und Analysestränge zustreben, rückt, jenseits von politischen und wirtschaftlichen Makrozusammenhängen, die Alltagserfahrung der Menschen und ihre individuellen Bedürfnisse, Lebensvorstellungen sowie ihre unterschiedlichen, individuellen Deutungsversuche von einem ›schönen‹ und/oder ›wahren‹ Leben im damaligen Ostblock in den Fokus. Damit einhergehend werden auch eine versteckte Dichotomie und eine kontextbedingte Ausschließlichkeit wie auch das dialektische Verhältnis der Kategorien des ›Schönen‹ und ›Wahren‹ zu analysieren sein. Denn das sogenannte ›Wahre‹ schloss im Kontext des Kalten Krieges zuweilen das sogenannte ›Schöne‹ fundamental aus, so dass hier die Positivität beider Kategorien in Zweifel gezogen wird, um, ausgehend von Czesław Miłosz’ Verführtes Denken und im Anschluss an Kunderas Unerträgliche Leichtigkeit des Seins, der folgenden Frage nachzugehen: »Ist aber das Schwere wirklich schrecklich und das Leichte herrlich?« (Kundera 1984: 9).

2. EUROPADÄMMERUNG: DIE TEILUNG EINES KONTINENTS Am 5. März 1946 prophezeite ein langjähriger Verfechter der europäischen Einheit den Zusammenbruch eines historisch geprägten und kulturell verflochtenen

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Raumkomplexes. In den Hallen des Westminster College in Fulton (Missouri) erklangen jene Worte, die in die Geschichtsbücher eingehen sollten als die unheilvolle Vorhersage eines ehemaligen Prime Ministers, der einer erneuten Europadämmerung entgegenblickte. 4 Zwei Jahre vor der faktischen Trennung Europas in zwei rivalisierende Blöcke zeichnete Winston Churchill bereits die feine und doch entscheidende Linie nach, die das kulturelle Erbe Europas spalten und zusehends zu einem scheinbar unüberbrückbaren ›Eisernen Vorhang‹ ausgebaut werden sollte: Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein ›Eiserner Vorhang‹ über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen in der Sowjetsphäre und alle sind sie in dieser oder jener Form nicht nur dem sowjetrussischen Einfluß ausgesetzt, sondern auch in ständig zunehmendem Maße der Moskauer Kontrolle unterworfen. [...] Welches auch die Schlußfolgerungen sind, die aus diesen Tatsachen gezogen werden können, eines steht fest, das ist sicher nicht das befreite Europa, für dessen Aufbau wir gekämpft haben. Es ist nicht ein Europa, das die unerläßlichen Elemente eines dauernden Friedens enthält. 5

Diese Teilung trennte nicht nur die strahlenden ost-, südost- und ostmitteleuropäischen Kulturhauptstädte von den westlichen Metropolen, sondern löste auch jenes Gebiet auf, dass bereits zu Zeiten der Habsburgmonarchie mal als Mitteleuropa, mal als Zwischeneuropa und gar mal als Mischzone verhandelt wurde. Ein Raum, schreibt Karl Schlögel, mit wandernden Grenzen, der durch die Verflechtung der diversen Kulturen, Sprachen und Bekenntnisse und die Nichtübereinstimmung von Staat und Nation eine Mischzone darstellte »aus ebenso produktiven wie explosiven Übergangs- und Grenzlandschaften.« (Schlögel 2008: 17) Doch trotz seiner expliziten geographischen Bezüge war Winston Churchills geopolitischer Sprechakt, wie György Péteri schreibt, allem voran auch ein machtvoller Akt des ›mental mapping‹, dessen imaginäre Geographie auch eine ideelle Teilung implizierte: Er lokalisierte eine neue barbarische Gefahr in den Gebieten der Sowjetunion, die die christliche Welt und Zivilisation westlich des

4

An dieser Stelle sei auch an Ivan Krastevs »Europadämmerung« erinnert: Krastev 2018.

5

Winston Churchill: »The Sinews of Peace«, 5. März 1946, Fulton. Den Begriff ›Eiserner Vorhang‹ gebrauchte Churchill allerdings bereits 1945 in einem seiner Briefe an den amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman. Die hier zitierte deutsche Übersetzung Churchills Ansprache in Fulton findet sich in: Weber 1979: 34f.

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Eisernen Vorhangs bedrohte (Péteri 2015: 113) – eine Tendenz, die allerdings Christof Dejung und Martin Lengwiler zufolge bereits im europäischen Selbstverständnis der Neuzeit ihren Wiederklang findet. Europa als Dichotomie moderner Zentren und rückständiger Peripherien zu begreifen, war, wie etwa Larry Wolff behauptet, eine Erfindung der westeuropäischen Aufklärung gewesen, »die ihre Fortschrittlichkeit dadurch zu unterstreichen suchte, dass sie den östlichen Teil des Kontinents als rückständiges Schattenreich zeichnete.« (Dejung/Lengwiler 2016: 18f.) Diese bereits in der Neuzeit aufkeimende Vorstellung des Westens von Ostund Ostmitteleuropa wurde im 20. Jahrhundert zu einer dominierenden Attribution und galt im Kalten Krieg nicht nur im Hinblick auf den ökonomischen Fortschritt, sondern vereinnahmte, wie Peter Weibel hervorhebt, auch die Domänen der Kunst und Kultur, denn die Logik des Kalten Krieges errichtete gleichsam eine kulturelle Mauer, »die auch die Kunstbetrachtung verblendete und blind machte. [...].« (Weibel 2005, 49-52, hier: 49). Im weiteren Verlauf des Kalten Krieges wurde diese vom Westen konstatierte Rückständigkeit, ob technologischer, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder eben kultureller Natur, zum wesentlichen Merkmal des westlichen Feindbildes gegenüber dem vermeintlich zurückgebliebenen ›Anderen Europa‹. Die zwei Jahre nach Churchills Ansprache in Fulton folgende grobe und homogenisierende Einteilung in Ost-und Westblock leitete eine radikale Zäsur ein, die, so Gregor Thum, auch historiographisch zu ›weißen Flecken‹ in der Geschichte der europäischen Integration geführt hat: Durch die Spaltung Europas im Kalten Krieg hatte sich die europäische Einigungsbewegung auf die westliche Hälfte des Kontinents verengt. [...] Das östliche Europa dagegen schien im Bewusstsein der meisten Westeuropäer völlig irrelevant zu werden – ein grauer Sowjetblock weit weg im Osten, [...]. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich die Westeuropäer zusehends für die Vertreter des ›eigentlichen‹ Europa hielten und ihnen die Absenz der anderen Hälfte bald gar nicht mehr auffiel. (Thum 2004: 380)

Diesen Tatbestand hat niemand so vehement beklagt wie Milan Kundera, der in seinem vielzitierten Essay Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas, der 1983 in der Zeitschrift Le débat erschien, so gesehen gerade ein umgekehrtes ›mental mapping‹ betrieb und damit die kulturelle Zugehörigkeit Zentraleuropas zum Westen betonte. Die Tragödie Zentraleuropas läge darin begründet, so Kundera, dass »Europa [...] den Verlust seines wichtigen kulturellen Zentrums nicht bemerkt [habe], weil es seine Einheit nicht mehr als kulturelle [begreife].« (Kundera 1983) Der massive und eintönig graue Monolith, den der

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Ostblock in der Wahrnehmung vieler Westeuropäer bildete, schreibt Karl Schlögel, habe alles zugedeckt, aber vor allem habe er, dieses scheinbar homogene Massiv, »das Netzwerk eines lebendigen Organismus« (Schlögel 2008: 18) abgeschnitten, nämlich jenes lebendige transeuropäische Kommunikations- und Verkehrsnetz, das die europäischen Metropolen von einst, die auch Churchill bereits 1946 aufzählte, in ein mentales Niemandsland verbannte und somit auch die Drehkreuze des Menschen- und Güterverkehrs, die den kulturellen Raum Mitteleuropas konstituierten, aus den Angeln hob (vgl. ebd.: 18-27). Im Folgenden soll allerdings gezeigt werden, dass auch das westliche Bild des Ostblocks einem verführten, da komplexitätsreduzierenden Denken anheimgefallen ist. Denn das imaginäre Schattenreich des östlichen Kontinents – der graue Sowjetblock – entsprach nicht immer der dortigen Wahrnehmung und konnte, wie bereits dargelegt, auch dank neuer Forschungserkenntnisse, die die kulturellen Verflechtungen und Abhängigkeitsbeziehungen beider Blöcke betonen, in ersten Ansätzen korrigiert werden (siehe dazu u.a. Arndt/Häberlen/ Reinecke: 2011; Aust/Schönpflug: 2007). Der Ostblock war dabei vor allem unter kulturellen Aspekten von einer ästhetischen Doktrin geprägt, die allen Mängeln des Systems zum Trotz, alles andere als ein entbehrungsreiches Leben oder eine graue Zukunft propagierte, sondern im Ganzen auf Verheißungen des Glücks, der Schönheit und der wahren Lebenskunst basierte. Diese durch künstlerisches und literarisches Schaffen erzeugte Wirklichkeit konvergierte zwar aus westlicher Sicht selten mit der Realität, wurde aber östlich des Eisernen Vorhangs durchaus als eine sich realisierende Zukunftsvision des als überlegen geglaubten kommunistischen Systems wahrgenommen. Das ›schöne Leben‹ hinter dem Eisernen Vorhang war für die dort lebenden Menschen durchaus keine Illusion, sondern zuweilen selbst in intellektuellen und literarischen Zirkeln eine grundlegende Überzeugung. Doch auch diesem verführten Denken konnte eine immer weiter zunehmende Anzahl an Menschen nicht länger standhalten. Diese fiktiv erzeugte Realitätsauffassung war nicht zu grau, sondern vielmehr zu schön, um sie mit der divergierenden Realität zu einem harmonischen Ganzen vereinen zu können. Es soll daher im Folgenden aufgezeigt werden, dass es ebendiese Ästhetik des schönen Scheins und der positiven Ausschließlichkeit war, eine Kunstauffassung, die eben keine Grauschattierungen kannte und jegliche Abgründe der menschlichen Existenz und der erlebten Realität verleugnete, die die erneute Vernetzung und kognitiv-imaginäre Verflechtung beider Blöcke über den ›Eisernen Vorhang‹ hinaus in Gang setzte. Denn diese unerträgliche Leichtigkeit des Seins einer Welt, die das ›Schöne‹ unbezweifelbar dem ›Wahren‹ gleichsetzt, und ebenso die Last eines Doppellebens oder gar einer drohenden Be-

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wusstseinsspaltung zwangen viele oppositionelle Kunstschaffende, Intellektuelle und Schriftsteller ins Exil oder in die nebulösen Netzwerke und Strukturen des Untergrunds. Somit war es der paradoxe Effekt dieses Nihilismus des Sozialistischen Realismus, der im Gegenzug, aufgrund seiner Negation lebensbedingender Dichotomien, neue produktions- und schaffensbedingte subversive Ästhetiken, kulturelle Transfers und Verknüpfungen wie auch eine zunehmende Fragmentierung des kulturellen, nationalen wie transeuropäischen Raums und der ost- und ostmitteleuropäischen Öffentlichkeit schuf.

3. DER KALTE KRIEG: DIE EPOCHE DES RAUMS Die beschriebene Auflösung jenes Gewebes, das diverse transeuropäische Austauschprozesse ermöglicht hat und zugleich das kulturelle Herzstück Zentraleuropas bildete, bedeutet jedoch nicht, dass die Kategorie des Raums in der Historiographie des Kalten Krieges ihre Bedeutung gänzlich verloren hätte. Der spatial turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften wurde, Doris BachmannMedick zufolge, gerade auch durch die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der späten 1980er Jahre geprägt, weshalb vor allem die »Aufhebung der Blockbildung [...] eine entscheidende Triebkraft für die Wende zum Raum« wurde. (Bachmann-Medick 2006: 287) Dies entspricht auch der Einschätzung Karl Schlögels, demzufolge das Verschwinden der großen Grenze den gesamten Denk- und Analyseraum Europas verändert hat: »An die Stelle eines mehr oder minder als homogen angenommenen Systems treten Räume – geographische, soziale, kulturelle, ethnische, religiöse.« (Schlögel 2008: 124) Nichtsdestotrotz waren diese heterogenen Räume, die sich aufzutun schienen, als der Blick des Historikers sozusagen nicht länger von einem Eisernen Vorhang getrübt werden konnte, keineswegs Phänomene, die erst mit dem Mauerfall entstanden sind. Ähnlich der Kritik an Jürgen Habermas Theorie des Strukturwandels der Öffentlichkeit, die u.a. in Anlehnung an Mary Ryans Studien von Nancy Fraser geäußert wurde (vgl. Fraser 1990: 59-62), kann im damaligen Ostblock und vor allem in seinen Satellitenstaaten nicht von einem homogenen öffentlichen, sozialen oder gar privaten Raum gesprochen werden. Bereits 1987 hat der polnische Soziologe Edmund Wnuk-Lipinski auf eine der grundlegenden Oppositionen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum hingewiesen. Denn was immer noch außerhalb des Einflussbereiches der herrschenden Eliten blieb, bzw. was zumindest nur allzu schwer zu kontrollieren war, war trotz allem das Privatleben. Auch Jerzy Szacki bemerkt, dass freie Meinungsäußerung allein innerhalb der Sphäre des Privaten möglich war. (Szacki 1994: 86)

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Vor allem in der Volksrepublik Polen gab es ein bestimmtes Phänomen, das Wnuk-Lipinski ›sozialer Dimorphismus‹ nannte und mit diesem Terminus auf die Tatsache hindeutete, dass der öffentliche Raum des Ostblocks zwar von einem eigenen Wertesystem regiert wurde, dieses Wertesystem aber außerhalb der öffentlichen Domäne selten funktionierte. (Wnuk-Lipinski 1987: 159) 6 Die Konsequenz war, so Szacki, dass es den polnischen Bürgern in gewissem Maße erlaubt war, nicht-konforme, d.h. von der Parteilinie abweichende, feindselige Ansichten zu vertreten, offensichtlich unter der absurden Bedingung, dass sie diese nicht öffentlich aussprechen und ihre Äußerung auf einen engen Familien- oder Freundeskreis beschränken würden (vgl. Szacki 1994: 87). Dieser soziale Dimorphismus und die damit verbundene absurde (Bewusstseins-)Spaltung begünstigten hingegen auch die gesellschaftliche Fragmentierung und die Entstehung paralleler ›Halböffentlichkeiten‹, rivalisierender als auch divergierender ›Gegenöffentlichkeiten‹ bzw., um Nancy Frasers Begriffseinführung zu verwenden, diverser ›subaltern counterpublics‹ (vgl. Fraser 1990). Doch muss nicht nur national von einer Anzahl an heterogenen Räumen gesprochen werden, sondern auch systemintern, d.h. innerhalb des Ostblocks, überwogen die landesspezifischen Topologien, die divergierenden Interpretationen der Parteilinie und unterschiedliche Grade des Totalitarismus bzw. des Autoritarismus und damit eines sogar eingeschränkten Pluralismus, wie vor allem im Falle Polens, als auch eine zunehmende Tendenz einer partiellen Öffnung gegen Westen. Damit war, wie auch Peter Niedermüller betont, der Ostblock »weder politisch, noch wirtschaftlich, noch kulturell eine homogene Einheit.« (Niedermüller 2002: 162) Die generelle Hinwendung zur Räumlichkeit, für die emblematisch der spatial turn steht, und der damit einhergehende Versuch einer Überwindung des Historismus, zeigte sich am deutlichsten bereits Mitte der 1980er Jahre mit jenem, zuvor erwähnten, diametralen ›mental mapping‹ der Mitteleuropadebatte, die vor allem von ost- und ostmitteleuropäischen Dissidenten propagiert wurde. 7 Mitteleuropa ist, schreibt Marica Bodrožić, »vor allem eine literarische, in hohem Maße utopische Welt: eine poetische Heimat mit einer ausweitbaren Topographie, [...].« (Bodrožić 2001: 56-59, hier: 56) In diesem Sinne schreibt auch der Historiker Martin Schulze Wessel, dass mit dem Mitteleuropabegriff »der Raum im Sinne Foucaults als Geschichte von Kontaktzonen und räumlichen Verflechtungen in die Debatten zurück[kehrte].«

6

Zu der Dichotomie von privatem und öffentlichem Raum in der Sowjetunion siehe: Weintraub/Kumar: 1997.

7

Zur Mitteleuropadebatte siehe: Schulze Wessel 1988; Schmidt: 2001; Papcke/Weidenfeld 1988.

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(Schulze Wessel 2017: 101) Schulze Wessel bezieht sich dabei allerdings auf eine Zäsur, die Foucault in Andere Räume bereits 1967 diagnostiziert hat: Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkaltung der Welt. [...] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raums. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes, sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt. (Foucault 1992: 34; zitiert nach Schulze Wessel 2017: 93)

Es wäre daher falsch anzunehmen, dass erst der Zerfall des Ostblocks die Sicht auf globale Beziehungsnetzwerke und Abhängigkeiten als Konsequenz der Globalisierung frei gemacht habe. Die Welt als globales Kommunikationsnetzwerk, einschließlich wirtschaftlicher Wechselwirkungen, existierte auch trotz der vereinfachenden und komplexitätsreduzierenden Einteilung in Ost- und Westblock. Die Geschichte der Abhängigkeit Russlands vom technischen und wissenschaftlichen Knowhow des Westens lässt sich bis zum Modernisierungseifer Peters des Großen rückverfolgen und zeigte sich, wie Yale Richmond schreibt, auch bereits in den 1930er Jahren, als weder Diplomaten noch Schriftsteller oder Jazzmusiker für den kulturellen Transfer in die Sowjetunion verantwortlich waren, sondern kapitalistische amerikanische Unternehmer wie Henry Ford oder David Griffith (vgl. Richmond 2003: 7). In den 1960er und 1970er Jahren glaubte man, so Schulze Wessel, aufgrund der gemeinsamen Existenzbedingung, nämlich der Ähnlichkeit der technischen Bedingungen und Zwänge einer modernen Industriegesellschaft, auch an die Konvergenz beider Systeme, d.h. an die »Ausbreitung von Konsumkultur im Osten nach westlichem Vorbild einerseits und zum Vordringen gesamtwirtschaftlicher Planung im Westen andererseits.« (Schulze Wessel 2017: 95) Dieser Konvergenzgedanke geht, wie Schulze Wessel weiter ausführt, bereits auf die Prager Kafka-Konferenz im Jahr 1963 zurück, in der erstmalig durch die Kritik an der auf beiden Seiten diagnostizierten Entfremdung durch Kapitalismus und Sozialismus eine Grundlage geschaffen wurde, die beide Systeme einander analytisch annäherte (ebd.: 96). Tendenziell führten die geteilten globalen und ökonomischen Existenzbedingungen beider System auch in der Tat, wie Ivaylo Ditchev schreibt, entgegen stereotyper Bilder von Ost- und West, auch zu der »Geburt eines radikalen Kon-

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sumenten im Osten« (Ditchev 2005: 279) und weckten, trotz der instrumentalisierten marxistischen Kritik des Warenfetischismus in Osteuropa, beidseits des Eisernen Vorhangs das Begehren nach Waren und ihrer individualisierenden und vor allem im Privaten stattfindenden Aneignung. Auch in darauffolgenden Jahren wurde das Sich-Aufeinander-Zubewegen, sei es durch die finanzielle Abhängigkeit des Ostens vom Westen, und das VonEinander-Wegdriften beider Systeme zunehmend durch globale und wirtschaftliche Ereignisse diktiert. Auch für Péteri waren daher Ost- und Mittelosteuropa, Sowjetrussland und andere kommunistische Länder allesamt Teil einer modernen globalen Erfahrung, die die Fragen nach der kollektiven Wirklichkeit, der langsamen Entwicklung von Strukturen und der Braudelschen longue durée des Kalten Krieges in den Fokus rücken (vgl. Péteri 2015: 114).

4. PARADOXIEN DES ALLTAGS. DAS WAHRE LEBEN IST SCHÖN Es war ebendiese wirtschaftliche wie politische ›Erfahrungswelt‹ wie auch die damit stets verbundene Lebens- und Alltagswelt, die den Anlass und den Ausgangspunkt für neue transeuropäische Knotenpunkte, Transit- und Transferwege bildete, die sich zusehends mit der Zeit zu einem neuen lebendigen Netzwerk und einer Tiefenstruktur im psychologischen wie im geographischen Sinne verdichteten. Ins Blickfeld gerieten vor allem jene Metropolen, die zu neuen Zufluchtsstätten für ost- und ostmitteleuropäische Schriftsteller und Dissidenten wurden: West-Berlin, London, Paris, New York, Berkeley. Diese transatlantischen und transeuropäischen Netzwerke durchquerten zunehmend auch die vielfältigen Untergrundstrukturen ost- und ostmitteleuropäischer Städte: Ost-Berlin, Prag, Warschau, Budapest, Bukarest, Moskau. Das kulturelle und literarische Herz Zentraleuropas verlagerte sich mit den ost- und ostmitteleuropäischen Exilanten westwärts. Zugleich erschufen heute namhafte Autoren in Ost und West wie Czesław Miłosz in Berkeley und Paris, Milan Kundera gleichsam in Paris, György Konrad in Budapest, Václav Havel wie Pavel Kohout in Prag bzw. Wien oder Adam Michnik in Warschau neue Kommunikationsräume, neue mentale Geographien als auch neue Kontakt- und Konvergenzzonen. Für Milan Kundera machen Zentraleuropa aber eben nicht nur die politischen Grenzen aus, »sondern die gemeinsame Erfahrung, die die Völker wieder zusammenführen und sie immer wieder neu und anders gruppieren [und dies, A.G.] innerhalb nur imaginärer und stets wechselnder Grenzen [...].« (Kundera 1983)

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Auch der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz begreift Geschichte, wie Ludwig Mehlhorn betont, als Raum von Erfahrungen, diese jedoch nicht nur als unmittelbare Empfindungen der großen Schlachten und Kriegen der Geschichte, sondern, wie Miłosz in Świadectwo poezji (dt.: Das Zeugnis der Poesie) ausführt, als Erfahrung einer Geschichtlichkeit, die sich auch im architektonischen Detail offenbaren kann oder gar in der Gestalt eines Baumes oder einer Landschaft (vgl. Melhorn 2012: 61). Einen ähnlichen Ton schlägt auch Karl Schlögel an, wenn er schreibt: »Der Raum, um den es geht, beginnt, wenn man das militärisch-politische Gebilde Ostblock [...] hinter sich gelassen hat und eintritt in das, was man Lebenswelt nennt.« (Schlögel 2008: 125) Schlussendlich haben sich Christof Dejung und Martin Lengwiler in ihren Reflexionen zu den Rändern der Moderne am nicht-telelogischen Modell der Europäisierung von Bo Stråht (Persson/Stråht 2007) und Peter Wagner (Wagner 2009) orientiert, die in Anlehnung an Koselleck ein Modell der Europäisierung vorgeschlagen haben, das die europäische Moderne als Wechselspiel zwischen Erfahrung und Interpretation begreift: »Europäisierung und die Entwicklung der Moderne werden als Kommunikationsprozess aufgefasst, der einem politisch und kulturell hoch differenzierten Raum in spezifischen historischen Problemlagen neue Deutungsangebote schuf.« (Dejung/Lengwiler 2016: 28) Wendet man sich nun allerdings dem Alltagsleben im Kalten Krieg zu, kann man beobachten, dass in ebenjener Epoche des Raums, des Simultanen, des Nebeneinander und der Juxtaposition die Lebenswelt östlich des Eisernen Vorhangs antithetisch aufgebaut und in diesem Sinne höchst komplex war, denn Isolation und Öffnung, Konsumwirtschaft und Planwirtschaft, Freizeitvergnügen und Freiheitsberaubung, gar Luxus, Genuss und Terror gingen ständig Hand in Hand. Es war gerade diese unerträgliche Leichtigkeit des Seins, die viele Schriftsteller, Dissidenten und Intellektuelle ins Exil zwang. Am trefflichsten haben Susan Reid und David Crowley diesen Widerspruch in Pleasures in Socialism beschrieben: To make pleasure and, specifically, leisure and luxury the focus of a study of state socialist society and culture might seem a perverse or, at best, trivial undertaking. This was not, however, a world without pleasure. Nor was it one in which authority eschewed interest in its production and modes of consumption. Pleasure was integral to the utopian promise of communism, based as it was on notions of future abundance and fulfilment. [...] Optimism was a statutory requirement of socialist realist aesthetics, as numerous novels, films, and paintings of the Stalin era exemplified. (Crowley/Reid 2010: 3f.)

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Von Vergnügen in der Alltagswelt des damaligen Ostblocks zu sprechen, erscheint im Hinblick auf das westliche Bild der Ereignisse östlich des ›Eisernen Vorhangs‹ und des damit, vor allem im Stalinismus, konnotierten Terrors und Leidens in der Tat zunächst als pervers. Nichtsdestotrotz wurde auch selbst zu Zeiten Stalins wie später umso offener zu Zeiten Chruschtschows gelacht, gelebt und gefeiert, wurden Familien gegründet und wurden Konsumgüter gekauft. Denn, wenn auch stets zweideutig, strebte auch die »kommunistische Gesellschaft [...] ganz unverhohlen den Massenkonsum an, [...].« (Ditchev 2005: 282) Auch dieser Zustand gehörte zu den simultan vorhandenen Paradoxien des kommunistischen Alltags. Einerseits war das Endziel der kommunistischen Ideologie, wie Ditchev weiter ausführt, der Massenkonsum, d.h. die Befriedigung der wachsenden Bedürfnisse der Arbeiter als zu erfüllende Utopie und Verheißung einer glücklichen Welt, andererseits galten das damit verbundene individuelle Begehren und »der private individualistische Konsum hingegen als verwerflich.« (Ditchev 2005: 293) Dieser paradoxe Zustand einer Welt, die auf einer Utopie der kommenden Erfüllung, dem Großen Marsch zur Brüderlichkeit, Gleichheit und zum Glück, basierte, und einer dazu parallel existierenden Realität des Terrors, der militärischen Einschüchterung und des Warenmangels, musste legitimiert werden, um als soziales und ideelles Spannungsverhältnis ausgehalten werden zu können. Damit rückte auch gerade das Alltagsleben in den Mittelpunkt der sozialistischen und kommunistischen Ideologie und Parteipolitik. Dies erklärt unter anderem auch die zentrale Bedeutung all jener schönen und bunten Feste, Maiumzüge, Fanfaren und Aufmärsche, die eine spezifische Farbenpracht entfalteten. In diesen Umzügen, so Kundera, ging es nicht einfach nur um »das politische Einverständnis mit dem Kommunismus, sondern um das Einverständnis mit dem Sein als solchem.« (Kundera 1984: 228) Den Umzug zu feiern, bedeutet für Kundera nicht einfach, den Kommunismus zu feiern als vielmehr, ihn zugleich mit der tautologischen Parole des »Es lebe das Leben!« (ebd.) mit einem jubilierenden Feiern der menschlichen Existenz zu verbinden. Auch wenn Vergnügen stets eine persönliche innere Erfahrung blieb und sich, wie David Crowely und Susan Reid betonen, damit auch jeglicher Kontrolle und Indoktrination entziehen konnte, zumeist wenn sich dreierlei Erfahrung im Privaten vollzog, ging es dem ideologischen System im Ostblock doch auch darum, den Menschen zu einem New Socialist Man oder einem Homo Sovieticus umzuerziehen und damit zugleich unter Beweis zu stellen, dass man, wie Peter Niedermüller gezeigt hat, im Vergleich zum Kapitalismus in der sozialistischen Gesellschaftsordnung vor allem eins, nämlich besser leben konnte (vgl. Niedermüller 2002: 159-174). »Die Welt, wie sie die Macht, die sich in Rußland mit

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der Oktoberrevolution durchgesetzt hatte, zu schaffen versprach«, schrieb Boris Groys in seiner Analyse der gespaltenen Kultur in der Sowjetunion, »sollte nicht nur gerechter werden oder den Menschen eine größere ökonomische Sicherheit bieten, sie sollte auch, und das war vielleicht noch wichtiger, schön werden; [...].« (Groys 1988: 7) Die Geburt dieser neuen und schönen Welt, die auch einen neuen und besseren Menschen entstehen lassen sollte, verbannte Unordnung und Chaos als auch alle anderen Schattenseiten menschlicher Existenz in die kapitalistische Welt. Die übriggebliebene und von allen Schrecken gereinigte Realitätsauffassung wurde von der Parteiführung schließlich dazu genutzt, um das Leben harmonisch und künstlerisch neu zu organisieren. Diese zentrale politische Instanz wurde »zu einer Art Künstler, dem die ganze Welt als Material dient[e] und dessen Ziel es [war], den ›Widerstand des Materials zu brechen‹, [...].« (ebd.) Teil dieser Materie, so Groys weiter, waren eben auch das Denken des Menschen und seine ›innere Welt‹. Damit kam gerade der Kunst in Form des Sozialistischen Realismus 8 als einem »Instrument zum Erkennen der Wirklichkeit« (Groys 1988: 57) eine entscheidende Rolle zu. Dementsprechend kann man im Sammelband Zur Theorie des sozialistischen Realismus, der 1974 vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (Lehrstuhl für marxistisch-leninistische Kultur- und Kunstwissenschaften) herausgegeben wurde, über die elementare Einheit des Wahren, Schönen und Guten in der sozialistischen Kunst Folgendes nachlesen: Außerdem faßt sie [die marxistisch-leninistische Ästhetik, A.G.] das Kunstwerk nicht einfach als ein schönes Gebilde, sondern zugleich als Abbild und Vorbild, als Produkt der Aneignung der Wirklichkeit [...]. Die Schönheit in der Kunst schließt immer einen Wahrheitswert ein. Erst durch seinen Einschluß [...] wird aus einem schönen Gebilde ein Kunstwerk. Es konstituiert sich aus der dialektischen Einheit von Erkenntnis und Erlebnis, Wahrheit und Schönheit, [...]. Ohne die dominierende Stellung der Wahrheit in dem Wechselverhältnis von Wahrheit und Schönheit wäre die Entdeckung des Schönen selbst [...] gar nicht möglich. (Koch 1973: 642-644)

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»Der Terminus ›Sozialistischer Realismus‹ tauchte Anfang der dreißiger Jahre in der sowjetischen Literatur auf und wurde 1934 als ihre ›Hauptmethode‹ deklariert. Über linksgerichtete Literaturgruppierungen gelangte er schnell auch nach Ost-MittelEuropa, [...]. Sozialistischer Realismus funktionierte zum einen als ästhetische Doktrin, zum anderen als Instrument kulturpolitischer Einflussnahme. [...] Ende der vierziger Jahre wurde dann in Ostmitteleuropa nach sowjetischem Vorbild ein sozialistisches Kultursystem installiert, zu dem die Verstaatlichung der Kunst gehörte.« (Kliems/Raßloff/Zajac 2006: 9)

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Diese Aneignung der Wirklichkeit kann allerdings trotz ihres Bezugs zum objektiven Gehalt des Realismus nicht als rein mimetischer Akt verstanden werden, wie Groys schreibt, denn während der Sozialistische Realismus »für eine ›objektive‹, ›adäquate‹ Wiedergabe der Wirklichkeit eintritt, führt er doch zugleich Regie, inszeniert er diese Wirklichkeit, bzw. nimmt sie als schon von der Regie Stalins und der Partei geformt; [...].« (Groys 1988: 62) Damit verschmelzen der Bereich des Ästhetischen und der Bereich des Politischen durch die künstlerische Umsetzung der Parteilinie in einer ästhetischen Ideologie und Realpolitik, in deren Vordergrund das Bestreben tritt, »die ›Möglichkeit‹ auszunutzen und ›den Menschen und seine menschliche Existenz zu rekonstruieren‹.« (Bilk 2006: 26) Den Text als Fetischobjekt, d.h. als Objekt des Begehrens und des Vergnügens, hat nicht nur Roland Barthes in Die Lust am Text analysiert – obwohl gerade Barthes darin ein Mittel sah, um ideologische und starre Denksysteme zu zerstören –, sondern auch die Nomenklatura der sozialistischen Kulturpolitik machte sich Teilaspekte dieses Repertoires des Textes zunutze. Denn diese intendierten Umerziehungsprozesse betrafen nicht nur den Kunstbetrachter, sondern auch den Leser, wie Evgeny Dobrenko erläutert: »The shaping of the Soviet reader can be regarded as one of the aspects of a larger process – the shaping of the Soviet man.« (Dobrenko 1997: 2) Dobrenko unterstreicht dabei die hervorgehobene Stellung des Lesers für den Theoriekanon des Sozialistischen Realismus; der Leser war nicht einfach Rezipient als vielmehr das zentrale Objekt der allem zugrundeliegenden sozialistischen Maxime, die eine grundlegende gesellschaftliche Umgestaltung forderte: »[...] the functions of Soviet literature [...] are focused on this ›reforming of human material.‹ [...] One could define Soviet culture as a political and aesthetic project radically focused on the recipient.« (Ebd.) Nichtsdestotrotz war, wie Dobrenko weiter ausführt, diese Fokussierung und Herausbildung einer neuen ästhetischen Wahrnehmungsweise nicht völlig einseitig. Der neue literarische und ästhetische Geschmack der ›einfachen Massen‹ war nicht nur ein Resultat einer autoritären Unterwerfung unter die ästhetischen Prämissen des Parteiapparats. Noch war der Sozialistische Realismus, wie Groys auch betont, eine genaue Widerspiegelung des tatsächlichen Geschmacks der Massen, »die zweifellos auch damals die Kinokomödien Hollywoods, den Jazz und die Romane vom ›süßen Leben‹ liebten und nicht den Sozialistischen Realismus mit seinem pädagogischen Auftrag; [...].« (Groys 1988: 12) Und doch war es das Bestreben der sowjetischen Kulturpolitik, den ästhetischen Erwartungen der Arbeiterklasse, die ihr Unverständnis, gar ihre Langeweile gegenüber als auch ihre Abscheu vor den traditionellen Kulturstilen bezeugte, zu entsprechen. Daher sollten ihre Lesegewohnheiten und ihr ästhetisches Verständnis in den

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Sozialistischen Realismus integriert werden: »›decadence‹ was transferred to the West; avant-garde theater died; and the art of Socialist Realism, which ›belonged to the people‹, came in to replace it.« (Dobrenko 1997: 124) Als eine Kunst des Volkes nahm der Sozialistische Realismus bereits in den frühen 1930er Jahren Bezug zu den selbst deklarierten Präferenzen des sog. Massenlesers, der, so Dobrenko, unter künstlerischer bzw. wahrer Literatur vor allem eins verstand, dass diese optimistisch im Ton sei, das Bild einer glücklichen Zukunft verheiße und den gewöhnlichen Leser glücklich stimme: »›We don’t need the past, which is so humdrum and gray-looking [sic], but we need literature to dictate a healthy and beautiful, morally beautiful life.‹« (Ebd.: 127)

5. NEGATIVE ÄSTHETIK UND DIE KUNST DES ROMANS In ihrer Auffassung von der Einheit des Wahren, Schönen und Guten sah sich die Theorie des Sozialistischen Realismus als Nachfolgerin und Erbin »große[r] humanistische[r] Traditionen des ästhetischen Denkens und künstlerischen Schaffens« (Koch 1973: 645). Die Thematik des Schönen und Wahren als übergeordnetes Ziel künstlerischer und literarischer Werke begleitete die Ästhetik als Reflexionsdiskurs der Philosophie in der Tat bereits seit Plato, der allerdings »den schönen Schein der Kunst der Unwahrheit verdächtigt [hat]« (Killy 1992: 15), und wurde u.a. von Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Schiller aufgegriffen. Schlägt man in Walter Killys Literatur Lexikon unter dem Lemma »Ästhetik« nach, stellt man fest, dass bereits im 18. Jahrhundert mit Alexander Gottlieb Baumgarten, dem Begründer der Ästhetik als philosophische Teildisziplin, die ontologische Beziehung zwischen der Ästhetik und der Schönheit begründet wurde: »Die wichtigste Leistung Baumgartens besteht darin, Ästhetik aus einem Prinzip bestimmt zu haben: der Schönheit als ›Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis‹.« (Ebd.: 16) Fortgeführt und zugleich erweitert hat Kant in seiner Kritik der Urteilskraft die Beziehung der Ästhetik zum Primat des Schönen, indem er sie der Theorie des Geschmackurteils, die später unter anderem auch von Pierre Bourdieu (Bourdieu, 1987) aufgegriffen worden ist, und damit dem Urteil des autonomen Subjekts unterworfen hat:

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Im ästhetischen Urteil realisiert sich ein Eigensinn ästhetischer Kommunikation, der andere Urteilsperspektiven [...] für irrelevant erklärt, [...]. Entsprechend kommt dem Prädikat, etwas sei ›schön‹ nicht dem Phänomen selbst zu, sondern beschreibt die Reaktion des urteilenden Subjekts in der Perspektive eines ästhetischen Lustgefühls. (Anz 2007: 470)

Eine ihrer wichtigsten Wendungen durchlief die Relation von Schönheit und Ästhetik allerdings mit dem Konzept des Erhabenen, das ebenjenes ästhetische Lustgefühl als »eine gemischte Empfindung darstellt und in diesem gegenläufigen Gefühlsgehalt das Nicht-mehr Schöne in die Ästhetik des Kunstschönen einführt.« (Ebd.: 483) In diesem Sinne treten mit dem Konzept des Erhabenen, des Hässlichen oder dem »Schrecklich-Schöne[n]« (Burke, 1757/1989), die »negative Lust« (Kant, 1790) oder das »Nicht-Darstellbare« (Lyotard, 1994) als Kehrseite einer Theorie der Ästhetik in den Vordergrund. Mit dem Konzept des Erhabenen und seinem Einschluss des Negativen bzw. der Forderung nach einer »negativen Darstellung« (Kant, 1790) wird die Unvereinbarkeit der Prämissen eines Sozialistischen Realismus und einer Ästhetik, die jeglicher ideologischen Reinigungsleistung abschwört und diese, wie Kundera schreibt, als Kitsch klassifiziert, erkennbar. Denn »Kitsch schließt alles aus seinem Blickwinkel aus, was an der menschlichen Existenz im Wesentlichen unannehmbar ist.« (Kundera 1984: 228) Für Edmund Burke ist das Erhabene »dasjenige, was im Schrecken gründet und daher das individuelle Leben bedroht, das im erhabenen Moment aus allen sozialen Zusammenhängen herausgerissen und auf seine reine Existenz geworfen ist [...].« (Anz 2007: 483) Daher lässt sich auch begreifen, dass, wie Philipp Ther hervorgehoben hat, bei Kundera nicht der Sozialismus, sondern eben der Widerstand schön ist (vgl. Ther 2005: 225). Für Kundera kann die Verbrüderung aller Menschen dieser Welt nur durch den Kitsch geschehen, der jegliche Konflikte zwischen Gut und Böse nivelliert und jede Hinterfragung des wohlgehüteten schönen Scheins unter Strafe stellt: Wo [...] eine einzige politische Bewegung alle Macht hat, befinden wir uns im Reich des totalitären Kitsches. Sage ich totalitär, so bedeutet dies, dass alles, was den Kitsch beeinträchtigen könnte, aus dem Leben verbannt wird: jede Äußerung von Individualismus (jede Abweichung ist Spucke ins Gesicht der lächelnden Brüderlichkeit), jeder Skeptizismus [...], jede Ironie [...]. Unter diesem Geschichtspunkt kann man den sogenannten Gulag als Klärgrube betrachten, in die der totalitäre Kitsch seinen Abfall wirft. (Kundera 1984: 230f.)

In dieselbe Richtung gehen auch Lyotards Gedanken zum Konzept des Erhabenen, die im Wesentlichen auf Kants Ästhetikbegriff aufbauen, wenn er schreibt:

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»Der Realismus, dessen einzige Definition darin besteht, die Frage nach der Realität [...] zu umgehen zu suchen, liegt stets auf halben Wege zwischen Akademismus und Kitsch.« (Lyotard 1993: 39) Die Schönheit in den Werken des Sozialistischen Realismus – diese ›guten Bilder‹ und ›guten Erzählungen‹ – sind für Lyotard vom Geschmack und vom Begehren eines dafür bestimmten Publikums abhängig, das nach einer Realität verlangt, die Einheit, Einfachheit und Mittelbarkeit verspricht. (Ebd.) Diese Illusion der Einheit sei allerdings nur um den Preis des Terrors zu erhalten; ein Terror, den die Menschheitsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert in vollem Ausmaße erfahren hat: Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt. [...] Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das NichtDarstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, [...]. (Ebd.: 48)

Das Erhabene im Gegensatz zum Schönen ist im Sinne Lyotards ebenjenes Nicht-Darstellbare; es ist ein Gefühl, das statt hat, »wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand darzustellen, der mit einem Begriff [...] zur Übereinstimmung gelangen könnte.« (Ebd: 42) Während die Erkennbarkeit einer Form weiterhin die Erfahrung von Freude und Lust gewährt, erzeugt das NichtDarstellbare eine Verschränkung von Lust und Unlust oder gar einen Schmerz, der sich darauf zurückführen lässt, dass das Erkenntnisurteil nicht mit der Sinneswahrnehmung zur Übereinstimmung geführt werden kann. An anderer Stelle hat Lyotard diese negative Ontologie des Erhabenen, die von der Kunst gefordert wird, wie folgt beschrieben: »Und doch wird von der Kunst stets diese Absurdität erwartet: sinnlich (visuell, literarisch, musikalisch...) davon Zeugnis abzulegen, daß etwas dem Sinnlichen fehlt oder es übersteigt [...].« (Lyotard 1993: 421) Diese ›negative Lust‹ hat auch Kant als Moment der erhabenen Erfahrung beschrieben, die als kognitive Grenzerfahrung die Wahrnehmungsfähigkeit übersteigt: »Während das Schöne Vernunft und Einbildungskraft harmonisch zum Ausgleich bringt, bedarf das Erhabene der Sinnlichkeit, um durch ihr Versagen hindurch die distanzierende Leistung der Vernunft zu profilieren.« (Anz 2007: 484) Der entscheidende Punkt in Kants Analytik des Erhabenen liegt im Innewerden des Subjekts seiner eigenen reflexiven Freiheit; denn letztlich zielt Kants Konzept des Erhabenen »auf die positive Freiheit des Menschen und damit auf ein aufgeklärtes Vernunftsubjekt« (ebd.).

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Nun hat aber die radikale Auflösung der Differenzen im Sozialistischen Realismus, wie Milan Kundera konstatiert hat, den Tod des Romans zur Folge gehabt. In Die Kunst des Romans warnt Kundera vor der stets drohenden Vergänglichkeit des Romans, der als ein Medium der Relativität und Ambiguität menschlicher Realität mit dem totalitären System gänzlich unvereinbar ist: Das heißt: die auf eine einzige Wahrheit gebaute Welt und die vieldeutige und relative Welt des Romans bestehen jede aus einer vollkommen unterschiedlichen Materie. Die totalitäre Wahrheit schließt Relativität, Zweifel, Fragen aus und ist daher nie in Übereinstimmung mit dem zu bringen, was ich den Geist des Romans nennen möchte. (Kundera 2010: 25)

Diese Unvereinbarkeit zwischen dem Geist des Romans und der totalitären Kunstdoktrin begreift Kundera nicht nur in moralischem oder politischem Sinne, sondern als ontologische Ausschließlichkeit. Wenn für Kundera der Roman den Menschen vor der ›Seinsvergessenheit‹ schützen soll, indem »er die ›Lebenswelt‹ ständig beleuchtet« (ebd.: 14) und unbekannte Bereiche der Existenz entdeckt, und als solcher »das Werk Europas« (ebd.) ist, dann lässt sich diese ontologische Ausschließlichkeit auch auf das Verhältnis Europas, das sich den Idealen der Aufklärung verschrieben hat, und einer »Manifestation der Kunst von Diktatoren« (Elliott 1994: 276) übertragen.

6. VERFÜHRTES DENKEN ODER EIN LEBEN IN DER WAHRHEIT »Das Faktum ist noch nicht die ganze Wahrheit, es ist erst der Rohstoff, aus dem die echte Wahrheit der Kunst gewonnen, herausgezogen werden muss.« (Groys 1988: 61) 9 Dieses Zitat aus einer Rede von Iogansons aus der 2. Sitzungsperiode der Akademie der Künste der UdSSR lässt erahnen, in welchem Zwiespalt sich die Künstler und Schriftsteller in der Sowjetunion befunden haben müssen, denn schließlich lädt diese Interpretation der Rolle der Kunst zu nichts anderem ein als zu einer Manipulation, Veränderung und Verfälschung der Faktenlage. Das

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Rede von Iogansons aus der 2. Sitzungsperiode der Akademie der Künste der UdSSR: »Über die Maßnahmen zur Verbesserung der Studien- und methodischen Arbeit in den Studienanstalten der Akademie der schönen Künste der UdSSR«. In: Sessii Akademii chudozhestw SSSR. Perwaja i wtoraja sessii, Izd. Akademii chodozhestw SSSR, Moskwa, 1949, S. 102f.; zitiert nach: Groys 1988: 61.

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Faktum ist in dieser Beschreibung nur eine Begleiterscheinung – ein Rohstoff – der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Wahrheit, die erst als das Ergebnis des künstlerischen Schaffens entsteht. Das System der Kunst als Interpret der Wirklichkeit hat demnach die regulative Macht innegehabt, über die systemtragende Unterscheidung von Wahrheit und Lüge, von Fiktion und Faktum, zu entscheiden. Niemand hat die damit verbundene systemimmanente Bewusstseinsspaltung, die die Verwischung dieser fundamentalen Unterscheidungskategorien mit sich brachte und in der sich viele Künstler und Schriftsteller wiederfanden, so eingehend beschrieben wie der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz, der von der neuen kommunistischen Regierung in den Dienst gestellt worden ist und diese innere Spaltung am eignen Leib erfahren hat. Was der Leser bei der Lektüre von Zniewolony Umysł (dt.: Verführtes Denken), das erste Werk, das Miłosz 1953 im französischen Exil verfasst hat und mit dem er auch international bekannt wurde, allerdings auch erfährt, ist eine genaue Beschreibung der moralischen Verfassung einer Bevölkerung, die zunächst von Hitler-Deutschland okkupiert wurde, um während des Warschauer Aufstands zuzusehen, wie die Rote Armee passiv auf der östlichen Seite der Weichsel verharrte bis die polnische Armee des ›unterirdische Staats‹ fiel, um erst nachdem Warschau bereits in Ruinen lag, das Land von Hitler zu ›befreien‹. Der Zweite Weltkrieg habe, so Miłosz, die polnische Bevölkerung anders als die Bevölkerung des amerikanischen Kontinents gelehrt, dass keine Ordnung als die eigentlich ›natürliche‹ angesehen werden kann: Der Krieg hat nicht nur die Wirtschaft dieser Länder vernichtet, er hat auch viele Werte zerstört, die bis dahin für unantastbar galten. [...] Welche Welt ist die ›naturgegebene‹? Die, wie sie vor dem Krieg war, oder die des Krieges? Offenbar sind beide naturgegeben, überlegt der Mensch, denn er hat sie beide erlebt. [...] Die Menschen des Westens, und besonders die Amerikaner, sind in den Augen der Osteuropäer naiv und nicht ernst zu nehmen, gerade deshalb, weil sie nicht die lehrreiche Erfahrung gemacht haben, daß ihre Urteile und Denkgewohnheiten relativ sind. (Miłosz: 1980: 38-42).

Diese Lehre der Geschichte und die Erfahrung der Unbeständigkeit jeglicher sozialer Ordnung führte zu einer moralischen Krise, die vor allem in den von Miłosz beschriebenen Schriftsteller- und Künstlerkreisen zu unterschiedlichen Formen der Adaption an das neue Regime führte. Verführtes Denken ist daher nicht nur eine Selbstanalyse des Verfassers, sondern auch eine Antwort auf die Frage »Wie kann man leben und denken in den Ländern des Stalinismus?« (Ebd.: 14) Die Dialektik zwischen Individuum

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und Gesellschaft und dem ›Schönen‹ und ›Wahren‹ bzw. dem Begehren nach einem ›schönen‹ und/oder ›wahren Leben‹ kommen hier noch einmal explizit zu Tage und weisen unter den skizzierten Umständen Nachkriegspolens auf ein weiteres sozialpsychologisches Spannungsverhältnis. Denn als Künstler oder Schriftsteller konnte man sich durchaus in einem ›schönen Leben‹ einrichten, da die »soziale Stellung des Schriftstellers in den Volksdemokratien [...] sehr gut [war]. [...], die Einkünfte aus dieser Arbeit [kamen] den Gehältern der höchsten Würdenträger gleich.« (Ebd.: 14) Doch der Preis für dieses ›schöne Leben‹ im Kollektiv war hoch und verlangte die »hundertprozentige philosophische Rechtgläubigkeit« (ebd.:13) als auch das individuelle und öffentliche Bekenntnis zum »Neuen Glauben« (ebd.: 114) verbunden mit dem eigenen Bestreben, sein künstlerisches Schaffen der Methode des Sozialistischen Realismus bedingungslos unterzuordnen. In den meisten Fällen war eben diese vorbehaltslose Konversion nicht ohne einen inneren Widerstreit und das Abwägen zwischen einem ›schönen‹ bzw. ›wahren‹ Leben möglich. Gerade durch Miłosz’ Beschreibung der verschiedenen Adaptionsmöglichkeiten an das neue System werden die vielfältigen Ausdifferenzierungs- und Interpretationsformen dieser Dialektik des ›Schönen‹ und ›Wahren‹ deutlich. Dabei hält Miłosz dem Leser stets vor Augen, dass dieser moralische Konflikt keineswegs einfach zu beantworten war. Die Wahl des ›wahren Lebens‹ konnte auch einfach bedeuten, dass man sich in das Regiment der Kommunisten stellte, um den Wiederaufbau des Landes voranzutreiben, und auf diese Art und Weise, aus einem »tiefinnerliche[m] Verlangen nach Harmonie und Glück« (ebd.: 19), glaubte, dennoch das ›schöne und wahre Leben‹ gewählt zu haben, ungeachtet dessen, dafür seine eigene ›Wahrheit‹ verraten zu haben. Miłosz selbst bezeugt seine Schwierigkeit, seine anfängliche Überzeugung mit dem ›Neuen Glauben‹ leben zu können, um ihn zugleich zu unterwandern, rückblickend nachvollziehen zu können. Denn schlussendlich sah auch er sein Vorhaben als gescheitert an, nämlich ein Leben der Wahrheit durch die Lüge aufrechtzuerhalten. In seinem Vorwort zu der deutschen Übersetzung von Zniewolony Umysł (Verführtes Denken) schreibt Karl Jaspers diesbezüglich: Der Tatbestand, der mit den Alternativen Lüge oder Wahrheit, Verrat oder Widerstand so grob gesehen wird, ist hier in seiner Wirklichkeit erfasst. [...] Miłosz’ Buch ist [...] eine beschwörende Warnung vor diesem Glauben, der in der Praxis die wunderliche Gestalt der Bewährung durch die Lüge, der Wahrheit durch die Lüge hat, die Gestalt der die Substanz des Menschen verbrennenden Dialektik. (Jaspers 1980: 7-9)

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Karl Jaspers stellt das Buch in die Reihe der »Bücher der Abgesprungenen« (ebd.), die sich endgültig entschieden haben, mit dem Regime zu brechen und die vertraute Heimat gegen das Exil einzutauschen. Dennoch handelt es sich bei der autobiographischen Essaysammlung nicht einfach um eine Art Abrechnungsliteratur. Obwohl sie mit der Intention verfasst wurde, dem westlichen Leser Einsichten über ein weltweites Phänomen zu vermitteln, kann ihre »Aufnahme im Westen als antikommunistisches Manifest« (Jens 1996: 716) nur als Missverständnis gedeutet werden. Vielmehr ist es ein Bericht über den Autor selbst als auch eine Studie über die Motive, Anpassungstaktiken, Versuchungen und Bekehrungen all jener, die ihr Schaffen unter den Bedingungen des Stalinismus und des Sozialistischen Realismus fortzuführen versuchten. Selbst äußerte sich Miłosz wie folgt zu seiner damaligen inneren Zerrüttung: »I did write the book at a time of very great inner conflict. I was wrestling with myself, because I, too, had been affected by all that historical necessity, Hegelianism.« (Czarnecka/Fiut 1987: 146) Miłosz beschreibt im ersten Kapitel sein Misstrauen gegenüber der neuen weltlichen Religion und dem dialektischen Materialismus, er unterstreicht aber doch zugleich ihren mächtigen Einfluss: Ich versuchte, mir einzureden, ich würde meine Unabhängigkeit bewahren und an gewissen Grundsätzen festhalten können, deren Preisgabe für mich ausgeschlossen war. Mit der weiteren Entwicklung der Lage wurden die Grenzen, innerhalb derer ich mich als Schriftsteller bewegen konnte, immer enge – und trotzdem wollte ich mich nicht geschlagen geben. (Miłosz: 1980: 13)

Miłosz sieht zunächst zwei Auswege aus der ihn und andere Kunstschaffende bedrängenden Lage, denn »unter der Oberfläche der emsigen Geschäftigkeit des Alltags wacht jenes Bewusstsein einer unwiderruflichen Entscheidung, die getroffen werden muß [...].« (Ebd.: 18) Entweder konnte sich jeder dazu entscheiden, seine eigene Gesinnung dem neuen Regime anzupassen und die neue Weltanschauung durch die Einnahme der sog. Murti-Bing-Pille anzunehmen. Diese Pille ist eine Erfindung, die Miłosz aus Ignatius Witkiewicz’ Roman Unersättlichkeit übernimmt, und soll jeden zu einem heiteren und glücklichen Menschen machen, der allen Veränderungen gelassen und gleichgültig gegenübersteht. Oder es blieb jedermann die Wahl, durch eine Ethik des inneren Vorbehalts, des sog. Ketmans, eine gar durchtriebene Kunst der Schauspielerei zu erlernen, die es erlauben sollte, den Zwiespalt zwischen der öffentlichen Maskerade und dem inneren Vorbehalt, den man nur im Privaten hat äußern können, auszuhalten. Diese Formen der Maskierung und des Doppellebens spiegelten genau den ›sozialen Dimorphismus‹ wieder, den Wnuk-Lipinski beschrieben hat. Nur im

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Privaten konnte man seinen eigentlichen Geschmacksurteilen nachgehen und sich von der Maskerade befreien: Ein Mensch von gutem Geschmack kann die Früchte der offiziellen Kulturpolitik in den Volksdemokratien nicht allzu ernst nehmen, mag er auch die Gedichte beklatschen, schmeichelhafte Rezensionen über die Gemäldeausstellung schreiben oder Wohlgefallen an der finsteren und schweren Architektur heucheln. Sobald der in den vier Wänden seiner Wohnung weilt, ist er ein ganz anderer Mensch. Falls er zu den gutsituierten Intellektuellen gehört, findet man dort Reproduktionen von Bildern, die offiziell als ›bourgeois‹ abgelehnt werden, Grammophonplatten mit moderner Musik und eine Bibliothek mit Werken verschiedener Sprachen, lauter früheren Autoren. (Ebd.: 74)

Gerade das individuelle Geschmacksurteil – ein Mensch von ›gutem Geschmack‹ wird seiner Präferenz für die ›wahre Kunst‹ trotz der Zensur der offiziellen Kulturpolitik nachgehen – führte zur Entstehung einer abgeschirmten Parallelwelt und zur Sakralisierung des Privaten. Doch schlussendlich konnte keiner dieser Auswege langfristig zufriedenstellend sein, denn das zu formende Menschenmaterial, wie Miłosz im Schlusskapitel schreibt, liebte es nicht, nur für Menschenmaterial gehalten zu werden, und konnte »das Gefühl, völlig den von der Zentrale getroffenen Entscheidungen ausgeliefert zu sein, nur schwer ertragen.« (Ebd.: 236) Es blieb für viele daher nichts anderes übrig, als sich zwischen der Emigration, die einen radikalen Bruch mit der Heimat und der Muttersprache bedeutete, oder dem Abtauchen in den Untergrund, in dem nicht nur der Rezipientenkreis, sondern, wie Friederike Kind-Kovács gezeigt hat, auch der Zugang zu technischen Geräten wie Schreibmaschinen, Druck- und Xerox-Maschinen sowie grundlegenden Utensilien wie Papier und Tinte außerordentlich eingeschränkt war (vgl. Kind-Kovács 2014: 84f.), zu entscheiden. Dieser Zustand führte zu neuen und innovativen ästhetischen Formen und Druckerzeugnissen, die als Samizdat-Material innerhalb eines wohl definierten Leser- und Produzentenkreises von Hand zu Hand gereicht wurden, um schließlich auch im Tamizdat im Westen zu erscheinen bzw. von dort aus wieder im Osten zu zirkulieren. Miłosz selbst hingegen entschied sich 1951 für das französische und ein paar Jahre später für das amerikanische Exil. Andrzej Franaszek beschreibt Miłosz’ Entscheidung wie folgt: The Devil is a prince of lies, and it is important to see that in the decision taken in Paris Miłosz definitively severed the pact with him, and chose truth. Referring to his decision to seek political asylum many years later, the poet stated that it was determined by the necessity ›to find a place on earth, where I could wear a face and not a mask‹. (Franaszek 2017: 294)

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Dank enger Freunde und deren geheimer Verbindungen zum Westen schaffte es Miłosz nach Paris, wo er zusammen mit Witold Gombrowicz zum Kreis der Kultura gehörte, einer polnischen Monatszeitschrift, um deren Herausgabe sich Jerzy Giedrocy in der Villa von Maison-Laffitte und dem Instytut Literacki bei Paris kümmerte und der später auch alle Werke Miłosz’ verlegte. Als Tamizdat wurden diese nach Polen zurückgeschmuggelt und konnten, trotz des Publikationsverbots von Miłosz’ Werken in Polen, auch in Miłosz’ Heimat heimlich rezipiert werden.

7. FAZIT Auf diese Weise erschuf die Forderung nach einem Leben in der Wahrheit, wie sie von vielen prominenten Intellektuellen wie Leszek Kołakowski, Václav Havel oder eben auch Czesław Miłosz propagiert wurde, nichtsdestotrotz neue Netzwerke, kulturelle Transfers und räumliche wie kognitive Verflechtungen zwischen Ost und West. Europa als räumlich-kulturelle Vorstellung wurde auch weiterhin diskursiv durch das Medium der Literatur und den Roman als dem »Werk Europas«, wie Kundera es formuliert hat, verbunden. Aber der Motor oder die leitende Motivation hinter diesen »verflochtenen Geschichten« war nicht nur im Widerstand gegen den Terror des Regimes zu finden, was außer Frage steht, sondern auch durchaus in einer unerträglichen Leichtigkeit des Seins und einer Kritik der Urteilskraft und des populären Geschmacks. Der Roman und die Literatur waren jeweils jene kulturellen Mittler und Medien, die die negative Ontologie des Erhabenen als kognitive und existenzielle Grenzerfahrung des Menschen und damit auch die Aufrechterhaltung der Relativität und Pluralität menschlichen Daseins narrativ und fiktional von den Mechanismen ideologischer Verklärung und menschlicher Verblendung befreit haben. Es war der Geist des Romans, wie auch der Lyrik, der Europa zusammenwachsen ließ, indem er dem Kontinent seine Abgründe vor Augen geführt hat. Im Hinblick auf die Ästhetik und die Geschmacksurteile im Kalten Krieg lässt sich abschließend sagen, dass selten die Beziehung zwischen der menschlichen Ratio und der sinnlichen Wahrnehmung in einem so flächendeckenden, weil totalitären Maßstab zu einem Mittel der Subjektivierung und Unterwerfung geworden ist; doch selten konnte man andererseits so gut beobachten, wie der Geschmack unterschiedlicher sozialer Gruppen gegenläufige, non-konforme und transnationale Kulturtransfers ausgelöst hat und damit eine Fragmentierung des öffentlichen und privaten Raums gefördert hat. Denn nicht nur die Kritik am Sozialistischen Realismus förderte das erneute kulturelle Zusammenwachsen Euro-

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pas dank der Vernetzungen und Transferkanäle des Untergrunds, des ost- und ostmitteleuropäischen Exils, das stets auch von westlichen zivilen wie auch staatlichen Akteuren begleitet wurde, sondern paradoxerweise auch die Sehnsucht nach westlichen Konsumgütern, Hollywoodfilmen, Rock- und Popmusik als auch verbotener Belletristik, die ebenso ein weiteres Ideal vom schönen Leben propagierten. Somit löste der Geschmack zwei gegenläufige Strömungen aus, die beide zu der zunehmenden Porosität des Eisernen Vorhangs und schließlich sogar zur Auflösung des Ostblocks beitrugen. In diesem Sinne zählen für Yale Richmond derartige transnationale Kontakte und Austauschbeziehungen mit dem Westen, insbesondere mit den USA, zu den wichtigsten Faktoren für den Zusammenbruch des Ostblocks (vgl. Richmand 2003: xiii). Auch Wilfried Loth zählt in The Cambridge History of the Cold War neben ökonomischen vor allem kulturelle Faktoren auf, die die Auflösung des Ostblocks beschleunigten, nämlich die wachsende Kommunikation zwischen Ost und West, aufgrund derer die Führer der kommunistischen Diktaturen nicht mehr in der Lage waren, ihre Bevölkerung mit Versprechen einer besseren Zukunft zu beruhigen (vgl. Loth 2010: 552f.). Schlussendlich schreibt auch Ivaylo Ditchev, dass es die Unfähigkeit des kommunistischen Systems war, dem Westen auf dem Gebiet des Bildes der Populär- und Konsumkultur und dem damit einhergehenden Begehren etwas entgegenzusetzen, das die östlichen Regime zum Untergang verurteilte (Ditchev 2005: 286f.). Dennoch ist die menschliche Sehnsucht nach dem Einen und Ganzen, nach einem glücklichen und schönen Leben, wie sie sich u.a. im Kalten Krieg, aber auch zurzeit beobachten lässt, mit Sorge zu betrachten, denn zu leicht verwandelt sie sich in eine Sehnsucht nach einer zu einfachen und komplexitätsreduzierenden Lebensvision, die das Schattenreich menschlicher Existenz und ein damit einhergehendes gesellschaftliches Bewusstsein ins Reich des Vergessens zu verbannen trachtet. Es ist u.a. die Aufgabe des Romans, so Sławomir Sierakowski in Bezug auf Miłosz’ Werk, sich mit den Hauptvariablen menschlicher Existenz, dem sogenannten ›Guten‹ und dem sogenannten ›Bösen‹, auseinanderzusetzen: »Ohne sie fehlt der Kontakt zur Wirklichkeit und damit die Identifikationsmöglichkeit für den Leser. Es fehlt die Kultur.« (Sierakowski 2015: 178)

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Hubert Fichte im Übergang des transatlantischen Umbruchs Gesellschaften im Wandel Isabelle Leitloff

ABSTRACT The literature of Hubert Fichte is a poetics of transformation: a constant change and permanent negotiation. Those who expect clear answers will be disappointed by Fichte, but his work does have a high potential for understanding the nonlinear, the non-pure, the non-binary. This topic is and will remain a current issue – especially in a global world with societies, which are forced by hybridisation to go into processes of transformation. But how does change generate knowledge? Fichte focusses on societies which went through historical changes and had to face cultural, linguistic, religious and political transits. He analyses the ›Black Atlantic‹ beyond non-eurocentric perspectives (on the one hand) and does not hesitate to show ambiguity and contradictions (on the other). Keywords: Transpassing – Transformation processes – Black Atlantic – Pluralities – NFC

Literatur, die über reine Ursprünge, lineare Strukturen und über ein Denken in dualistisch-binären Kategorien hinausgeht, schafft Räume des Aushandelns. Der Autor Hubert Fichte schreibt über den ›Schwarzen Atlantik‹ und nimmt in seiner Literatur Menschen in den Blick, die ihre Identität immer wieder neu aushandeln mussten und kulturelle Transformationsprozesse mehrfach erlebt haben. Wie Michael Zeuske sagen würde, war »[d]er Atlantik zwischen Europa und Afrika sowie zwischen Amerika, Afrika und Europa […] seit Beginn der europä-

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ischen Expansion ein transkultureller Raum des Austausches.« (Zeuske 2009: 37) Lateinamerika war und ist ein Zwischenraum, ein Raum der Hybridität, der diese Konstruktion der Identitäten und Kulturen, die Fichte in seinen Werken implizit immer wieder beschreibt, vorführt. Im Jahr 1492 beginnt die Kolonisierung Lateinamerikas. Spanier und Portugiesen erobern unter anderem auch Brasilien. Darauf folgt die bis ca. 1840 anhaltende, »[größte (Zwangs-) Migration der Weltgeschichte« (Zeuske 2006: 74) – der atlantische Sklavenhandel. Sklaven aus Afrika werden über den Atlantik nach Lateinamerika gebracht. Die Ureinwohner, Portugiesen und Afrikaner sprechen nicht nur unterschiedliche Sprachen, sie kommen auch aus verschiedenen Kulturen mit anderen Religionen, Weltanschauungen, sozialen Normen, Mustern und Codes. Durch die Sklaverei und die damit einhergehende Unterdrückung und Diffamierung der Afrikaner und deren Nachkommen, wird das Ausleben der kulturellen und religiösen Differenz auch lange nach der Sklaverei verhindert. Trotzdem gehen damit Übergangsprozesse einher und im Fall Lateinamerikas könnte man auch von triplen transatlantischen Transformationsprozessen 1 sprechen, die – entstanden aus dem Dreieckshandel, auch triangular trade, der Jahre 1500 – ihre trianguläre Gestalt durch die Kulturen Spaniens und Portugals in Europa; Benin und u. a. Nigeria in Afrika und Brasiliens in Lateinamerika annehmen. (Vgl. Solow 2002: 70) Dieser Raum zwischen den Kulturen wird zum Raum des Handels – und des Aushandelns – ein Raum der Kontaktund Konfliktzonen, aber auch ein Raum des stetigen Wandels und eines enormen Potentials, das bis heute noch nicht ganz ergründet ist. Die Folgen sind sowohl die konstruktive Schaffung neuer Räume, neuer sprachlicher Varietäten und

1

Der eigens formulierte Begriff der ›Triplen transatlantischen Transformationsprozesse‹ (TTT) kann auf mehreren Ebenen angesetzt werden und soll in weiteren Forschungen ausgearbeitet werden. Zum einen verbinden sich in Lateinamerika oft drei Kulturen: die Kultur der Indigenen, Spanier und im Fall Brasiliens: Portugiesen und Afrikaner. Der Handel ging somit ebenfalls über drei Kontinente (Europa, Amerika und Afrika), die Sprachmischungen resultieren aus drei Sprachen und kulturellen Einflüsse, Traditionen und Mentalitäten gehen ebenfalls auf mindestens drei Kulturen zurück (Im Fall Kubas: Einflüsse der Spanier, Yoruba und Einflüsse der Taínos). Natürlich ist zu beachten, dass auch andere Hybridisierungsprozesse die Kultur beeinflussen und die TT nicht zwingend »Triple« sind (zum Beispiel haben im Fall Kubas die Großgrundbesitzer und Sklavenhalter, die im Laufe der haitianischen Revolution aus Haiti nach Kuba fliehen, einen Einfluss auf der Ebene der Sprachmischung – außerdem finden sich bis heute noch französische Nachnamen in Kuba, die darauf zurückzuführen sind).

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synkretistischer Religionen als auch Konflikte, die mit dem Aufeinandertreffen divergenter Lebens- und Moralvorstellungen, Genderrollen und Religionsauffassungen einhergehen.

HUBERT FICHTE IM TRANSATLANTISCHEN ›NETZ AN BEZIEHUNGEN‹ Auf diese Weise entstehen ›hybride Räume‹, die sich stetig verändern. Diese hybriden Räume stehen im Fokus der fichtschen Literatur. Die afroamerikanische Kultur gleicht einer barocken Fuge: Themen, Riten umschlingen sich, verschlingen – synkopisch – sich, verkehren sich, werden umgekehrt, beschleunigt, verlangsamt, scheinen sich zusammenhanglos zu überlagern, zu widersprechen – Teile ganz fremd zueinander. Man verliert sie aus den Augen, vergißt sie, bekommt sie nicht in den Blick. Und doch ein Großes, Ganzes, das man nur versteht, wenn man mit Pein jedes Teil erfahren hat und den Überblick über Gesellschaften, Kontinente, Epochen zurückgewinnt. (Fichte 1985: 281)

Diese »Teile die ganz fremd zueinander scheinen« (ebd.: 281) nimmt Fichte auch in seinen Werken auf und verbindet darin Gesellschaften, Kontinente und Epochen. Hubert Fichte rückt Menschen aus »anderen Kulturen« in den Mittelpunkt seiner Literatur und nähert sich mit einer selbstreflexiven und selbstkritischen Art dem Synkretismus. Er untersucht in dem Roman Petersilie die afroamerikanischen Religionen in Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada, in Xango schreibt Fichte über die Religionen in Bahia, Haiti und Trinidad, der Roman Explosion. Roman der Ethnologie erzählt auf ethnologisch-poetischer Art von den drei Brasilienreisen und den damit verbundenen Erfahrungen mit dem Candomblé. Durch das Schreiben über den Synkretismus bewegt sich Hubert Fichte nun selbst zwischen Afrika, Europa und Brasilien, Haiti und der Dominikanischen Republik – in einem »transatlantischen Netz an Beziehungen« (Braun 2005: 150), zwischen Fäden, die Übergangsprozesse darstellen.

DREI EBENEN DER TRIPLEN TRANSATLANTISCHEN TRANSFORMATIONSPROZESSE Die triple transatlantic transformationprocesses werden auf divergenten Ebenen dargestellt: auf der Ebene der Sprache, der Form und des Inhalts. Sprachlich sind

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Fichtes Werke nicht nur plurilingual (Portugiesisch, Französisch, Deutsch, Yoruba), sondern referieren explizit auf die historischen Hintergründe, die der Mehrsprachigkeit unterliegen. So heißt es in Explosion. Roman der Ethnologie: »Hören Sie das Atabaque? Was ist das? Atabaque? Die Zeit. Hören Sie die Zeit, heißt es übersetzt, portugiesische Worte brasilianisch gehaucht und das afrikanische Wort für Zeit.« (Fichte 2006: 67) Dass ein atabaque in der afrobrasilianischen Religion, im Candomblé, ein Instrument für bestimmte Feste und Riten ist, wird nicht erwähnt und somit wird aufgeführt, dass Sprache immer auch Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedeutet, ein identitätszuweisendes Merkmal ist und unabhängig von der jeweiligen Landessprache codifiziert werden kann.

IDENTITÄTSZUWEISUNG DURCH SPRACHLICHE MERKMALE Fichtes Protagonisten begeben sich nicht nur auf die Reise in andere Kulturen, sondern setzen sich mit den verschiedenen synkretistischen Religionen auseinander und nehmen an religiösen Riten teil: »Jäcki beschließt das Einweihungsgetränk Abó für den Gott Xango […] zuzubereiten.« (Ebd.: 327) Es ist die Rede vom »Olwo – Seher« und vom »Ebo« – einem Zauberfetisch. (Vgl. ebd.: 255) Die Begriffe, die in der Sprache der Yoruba 2 erscheinen bleiben teilweise unkommentiert und ohne jegliche zusätzliche Erklärung – was ein Auseinandersetzen mit den divergenten Religionen voraussetzt. Besonders deutlich wird die Identitätszuweisung durch sprachliche Merkmale an dem Paratext, mit dem Petersilie beginnt, der auf das Massaker von 1937

2

Die Religion der Yoruba ist eine aus Nigeria stammende Religion, die sich durch die Kolonisierung in Brasilien, Kuba, Kolumbien, Nordamerika und anderen Teilen Amerikas in verschiedenen Formen verbreitet hat. Während die Santería in Kuba praktiziert wird, gibt es u.a. zwei andere Arten der Yoruba-Religion in Brasilien: Candomblé und Macumba. Auch christliche Heilige und Anlehnungen an christliche Elemente lassen sich in einigen Mischformen der Yoruba finden. Zurückzuführen sind diese divergenten Entwicklungen und Ausprägungen auf die Kolonisierung, die YorubaReligion ist somit hybrid. Dazu ausführlich: Rowland 1994: 68-75. Emmanuel Chukwudi Eze erarbeitet in seiner Anthologie den Yoruba-Glauben als Philosophie und erforscht dessen Moralkonzepte, Identitätskonstruktionen und die Bedeutung der Gemeinschaft der Yoruba. Siehe dazu: Chukwudi Eze 1998: 130-131.

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des dominikanischen Diktators Trujillo referiert und den Titel des Werkes bestimmt: Am 2. Oktober 1937 ließ Trujillo der Staatschef der Dominikanischen Republik, 20 000 Neger ermorden. Sie wurden von den Exekutionskommandos gezwungen, das spanische Wort für »Petersilie« »Perejil« auszusprechen; Trujillo gab vor die dominikanischen Schwarzen zu schützen – nur die haitianischen Zuckerarbeiter sollten ausgerottet werden. Man behauptet, dass die Haitianer kein R sprechen können. Jedem, der »Pelejil« sagte, wurde der Kopf abgeschlagen. Kein dominikanischer Neger sagt »Perejil«. Schon die spanischen Eroberer nannten Katharina »Catalina«. (Fichte 1984: Paratext)

An diesem Zitat wird außerdem deutlich, dass Sprache zielgerichtet genutzt werden kann, um bestimmte Gruppen in Gesellschaften zu marginalisieren.

MARGINALISIERUNG ALS GEFAHR VON TRANSFORMATIONSPROZESSEN – HYBRIDITÄT ALS KONFLIKTPOTENTIAL Auch an anderer Stelle werden sprachliche Differenzen als Strategie eingesetzt, wenn es heißt: ›Balaguel‹ steht an der Wand, in roter kleckernder Ölfarbe. Für alle, die es lesen, bedeutet es, dass sogar die Armen, die Neger, die ›Haitianer‹, Zuckerarbeiter, Vaudoupriester, Spiegelmänner, für Dr. Joaquín Balaguer stimmen. Sie sprechen ›L‹ für ›R‹. Sie können nicht richtig schreiben. Sie schreiben ›L‹ für ›R‹. […] Alle Dominikaner, die weissen [sic!] und die schwarzen, sagen ›Amol‹ statt ›Amor‹, ›pol favol‹ für ›por favor‹. (Fichte 1984: 46)

Die Sprache der ›Unterdrückten‹, der ›Minderheit‹, wird zum Selbstzweck angenommen: eine vorgetäuschte Empathie und Nähe wird sprachlich durch die Annahme des Jargons hergestellt – hier greift das Konzept der ›Mimicry‹ – es kommt zu einer Aneignung des »Fremden«, um eigene Ziele durchzusetzen. Transformationsprozesse, die aus cultural fusion 3 resultieren, bergen in sich die Gefahr der Diffamierung einer oder mehrerer Gesellschaftsgruppen. 3

Bei dem Begriff beziehe ich mich auf die Terminologie Roets’, die ähnlich zu Homi K. Bhabhas cultural difference eine kulturelle Mischung meint, welche Kulturen nicht trennt und als abgeschlossene Entitäten innerhalb einer Kultur sieht, sondern als eine

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Hybridität kann folglich auch Konfliktpotential bedeuten und so stellt Hubert Fichte Kontaktzonen und kulturelle Mischungen in allen Facetten dar. Das ›Nicht-festgelegte‹, Saisonale, in Raum und Zeit Flexible, wird in Petersilie zu einer Gefahr für die Subjekte: Es waren Siedler und Saisonarbeiter, die sich diesseits und jenseits der nie eindeutig festgelegten Grenze zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti niedergelassen hatten. Die Flüsse färbten sich rot. Strassen [sic!] und Täler waren mit Leichenteilen voll. (Fichte 1984: 46)

Hybridität wird hier als Gefahr deklariert, da ein Nicht-Zugehörig-Sein dazu führen kann, dass ein gewisser Schutz und Rechtsschutz wegfällt. Aktuell ist diese Problematik erneut von hoher Brisanz: In Zeiten der Globalisierung und der Migration leben viele Menschen mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel, der ihnen jedoch einen gewissen Schutz versagt. Durch die ›Nicht-Zugehörigkeit‹ aufgrund der fehlenden Staatsbürgerschaft erleben viele Menschen in Europa und anderen Teilen der Welt starke Nachteile, die sich m.E. nach nicht durch die Transformationsprozesse oder durch die Hybridisierung ergeben, sondern ihren Ursprung in der dysfunktionalen Entwicklung und in der fehlenden Anpassung an diese Transformationsprozesse in den Bereichen des Rechts, der Politik und der kulturellen Praxis finden. Rechtsschutz wird immer noch an den Rechtsstaat und an nationale Identitäten gekoppelt – Subjekte, die sich in dem Raum dazwischen bewegen, eine Entgrenzung erfahren oder sich bewusst »jenseits der […] eindeutig festgelegten Grenze« (ebd.: 46) verorten bzw. nicht verorten, sind auch heute noch einer latenten und weniger latenten Gefahr ausgesetzt. Sprachliche, ethnische, geschlechtliche Differenzen waren und sind Identifikationsmerkmale: Raster, die ein Zuordnen erlauben und gleichzeitig eine Diffamierung, Marginalisierung und eine Polarisierung erst möglich machen.

PLURIPERSPEKTIVITÄT – FICHTES WERKE ALS UMBRUCH In der Auseinandersetzung mit Übergangsprozessen und mit ›anderen‹ Kulturen ist die Perspektive ein weiterer zu beachtender Aspekt, den Hubert Fichte in seinen Werken aufgreift, wenn Fichtes Protagonist Jäcki in Explosion festhält: »So

Kultur, die Aspekte divergenter Kulturen aufweist. Somit stehen die Begriffe im Gegensatz zur cultural diversity. Vertiefend behandelt dies: Roets u.a. 2016: 1294-1306.

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verschieden erleben zwei Leute dieselbe Szene« (Fichte 2006: 154) und später hinzufügt: »Ich stehe immer auf dieser Seite, nie auf jener.« (Ebd.: 155) Diese zwei Aussagen verdeutlichen, dass Übergangsprozesse Phasen der Revision sind, der Veränderung und der Neusetzung von Identität, Ideen, Normen und Werten. Diese Neusetzung stößt oft auf konsequente Abwehr, wie auch Fichte in seinen Werken reflektiert: »Wenn ein Kollege auf gewisse Probleme aufmerksam macht und sie passen nicht in das theoretische Modell, werden sie ignoriert. »Der Indianer hat Unrecht«. »Der Indianer lügt«, »Der Pai de Santo lügt«, denn was er sagt, paßt [sic!] nicht ins theoretische Modell.« (Ebd.: 512) Die Auseinandersetzung mit einem anderen Subjekt, einer anderen Kultur, Religion, mit divergenten Werten, löst ein kritisches Hinterfragen der eigenen Meinungen, Werte, Kultur und Identität aus und führt bei einigen Personen zu Abwehrstrategien, da ein Annehmen dieser kritischen Reflexion Konsequenzen zur Folge hätte, die weitere Transformationsprozesse anstoßen würden: »Ich glaube nicht daran. Ich will den Glauben analysieren. […] Ich glaube es wirklich nicht. Denn wenn ich es glaubte, […] [d]ann ändert sich alles, was wir wissen und die ganze Welt.« (Ebd.: 512) Selbstkritisch analysiert Fichtes Protagonist seine Stellung als ›Fremder‹, der die andere Religion bewertet und nicht fähig zu sein scheint, der anderen Religion mit Würde zu begegnen: In Jäcki war ein unwiderstehlicher Hang zur Profanation. Er fand das ziemlich widerlich, denn er sagte sich so ganz konnte er einer Religion nicht entkommen sein, so ganz konnte er sie nicht nur beschreiben wollen, wenn er so sehr dem Zwang ausgesetzt war, sie zu profanieren, sie in den Schmutz zu ziehen. (Ebd: 344)

An anderer Stelle resümiert die Figur Gisèle über ihre Unfähigkeit, alle kulturellen Feinheiten sehen und verstehen zu können: »Die Leute hier sehen Dinge, die ich als Europäerin nicht wahrnehme.« (Ebd.: 802) In dieser kritischen Selbstreflexion nähern sich die Romanfiguren dem Umgang mit Veränderung und dem Synkretismus in seiner Vielschichtigkeit. Die Mischung oder Hybridität bezieht sich in Fichtes Romanen jedoch nicht nur auf die religiöse Mischung: Synkretismus heißt im Schwarzen Amerika, ja nicht nur die Vermischung der religiösen Gebräuche der Yoruba, Fon, des Kongo, der Ewe, Woloff, der Abakua, der Kromanti, der Mandinka mit denen der Katholiken, Protestanten und Anglikaner, mit Hinduismus, Buddhismus, Spiritismus, und den Riten der Indianer – Synkretismus heißt immer auch Vermischung von Lebenskategorien und Lebensformen. (Fichte 1984: 372)

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Diese Mischung und Hybridität äußert sich auch in der experimentellen Ethnographie, in der literarischen Darstellung und in den divergenten medialen Repräsentationsformen. Hubert Fichte bricht Konzepte auf, er schreibt nicht nur über kulturelle, politische, geschlechtliche und religiöse Transformationsprozesse; er baut methodisch, stilistisch und sprachlich seine Werke als Umbruch, als Prozess und nie als abgeschlossenes Ganzes. Vor diesem Hintergrund lässt sich HansJürgen Heinrichs nur Recht geben, wenn er sagt: Es ist eine poetische Forschung, betrieben von einem Meister des synkretistischen Blicks. Das ist ein Blick, der über alle Phänomene und Situationen streift und sich überall dort festhakt, wo das Vermischte am lebendigsten ist, wo es sich selbst als synkretistisches Bewußtsein [sic!] manifestiert. (Heinrichs 1991: 98)

Immer wieder fließen Interviews und Zeitungsausschnitte in Fichtes Romane mit ein. Diese sind zum Teil explizit als solche gekennzeichnet, zum Beispiel durch die Angabe der jeweiligen Zeitung: »El Nacional: Die Mutter von Ernesto Mateo Ramirez, der am Karfreitag von einer Polizeistreife erschossen wurde, erklärte, dass sich der Kommandant dieser Patrouille bereits wieder auf freiem Fuss [sic!] befindet.« (Fichte 1984: 22) Die Pluriperspektivität zeigt sich außerdem darin, dass Fichte die gleichen Nachrichten mehrfach, jedoch aus divergenten Quellen darstellt. So heißt es an anderer Stelle: La Noticia: Gestern, Karfreitag, wurde der 17-jährige Basketballspieler Giovanni Ernesto Mateo Ramirez von Geheimagenten der Polizei verhaftet und erschossen. Angeblich ist er bei einem Schusswechsel mit der Polizei ums Leben gekommen. Augenzeugenberichte und die Brandspuren an der Leiche des siebzehnjährigen beweisen, dass Ramirez gleich nach der Verhaftung ermordet worden ist, und zwar müssen Waffen in unmittelbarer Körpernähe abgefeuert worden sein. (Ebd.: 22)

Durch das kommentarlose Nebeneinanderstellen der angeblich gleichen Fakten, die jedoch je nach Zeitung deutlich variieren, werden Diskrepanzen und Widersprüche einfach dargestellt ohne erläutert oder aufgelöst zu werden. Auch springt Fichte zwischen den Kontinenten und Kontexten, wenn er Zeitungsberichte der »New York Times« neben Berichte des »El Nacional« stellt und somit abstrakte Verbindungen schafft, die ebenfalls nicht aufgelöst werden: »Montag, den 6. Mai: […] Der Studentenführer Flavio Suero wurde tot aufgefunden. Die Leiche war durch Schläge völlig entstellt. […] Dienstag, den 7. Mai: New York Times: Willy Brandt zurückgetreten.« (Ebd.: 53) Die klassische Form wird durch sein Werk aufgelöst und laut Böhme beginnt das damit, dass

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unterschiedliche Sprachebenen ins Werk einmontiert und gegeneinander geschnitten, kontrastiert oder provokativ ineinander verwoben werden: wissenschaftliche Fachsprachen und Lyrismen, Slang, Dialekt und Hochsprache, Metapher und Begriff, Zeitungssprache und Philosophiediskurs, Geplapper und soziologische Analyse, Autorfiktion und Originalzitat, Klatsch und Information usw. Hierdurch entsteht eine solche Fülle semantischer Brüche, zufälliger und schockartiger Konstellationen, ein solches zwischen Ordnung und Chaos changierendes Redegemisch, dass die Fiktion erschüttert wird, es gäbe irgendwo ein ausgezeichnetes Redesubjekt oder eine ausgezeichnete Sprachform. (Böhme 1992: 45)

FICHTE UND ›EUROPA IM ÜBERGANG‹ Was aber haben Hubert Fichtes Literatur, das Schreiben über den Black Atlantic und über Lateinamerika mit einem »Europa im Übergang« zu tun? Hubert Fichte fragt in Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen: »Achten wir die Lebensformen anderer Völker? […] Lernen wir von den Erkenntnissen der Indianer, der Afrikaner, der Araber?« (Fichte 1984: 361) Das sind Fragen, die heute noch genauso relevant sind, wie zur Zeit der Publikation 1976. Was lernen wir von außereuropäischen Gesellschaften, die Übergangsprozesse vielfach durchlaufen haben und von Literatur, wie der Fichtschen, die sich mit genau diesen Phänomenen beschäftigt? Wie generieren Übergänge Wissen? Kulturen und Menschen, die immer wieder Transformationsprozessen ausgesetzt werden, lernen früh, mit Wandel umzugehen, entwickeln m.E. nach ein weitaus größeres Potential, Veränderung positiv zu nutzen. So belegen Studien eine höhere Flexibilität und Toleranz im Umgang mit anderen Meinungen, Lebensentwürfen und Weltbildern bei Personen, die unsichere Situationen durchlebt haben. (Tadmor u.a 2012: 750-772) Auswirkungen, die auf einer Unfähigkeit beruhen, sich auf Transformationsprozesse einzulassen, können übereilte Entscheidungen, polarisierende Meinungen, absolute Wahrheiten und die sogenannte need for closure sein – ein überhöhtes Bedürfnis nach Geschlossenheit, so das Resümee des belgischen Sozialpsychologen Arne Roets. (vgl.: Roets 2016: 1294-1306)

NEED FOR CLOSURE »NFC has been defined as the desire for an answer on a given topic, any answer […] compared to confusion and ambiguity.« (Webster 1994: 1049-1062) Roets erforscht in einer empirischen Studie an Studierenden verschiedener Universitä-

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ten den Zusammenhang zwischen dem Level an NFC (need for closure) und der Toleranz, die hybriden Kulturen entgegengebracht wird und beweist die Hypothese, dass Menschen mit einem hohen Wert an NFC, hybride Kulturen ablehnen: […] People high (vs. low) in NFC in particular will be negatively disposed toward culture fusion, exactly because it directly threatens epistemic security. Moreover a key characteristic of high NFC individuals is to freeze and protect their existing knowledge structures, thereby discarding or neglecting information that does not fit within this structure. (Roets 2016: 1294-1306)

Und folglich kommt Roets zu dem Ergebnis: Respondents high (vs. low) in NFC showed more positive attitudes toward a monoculture society whereas they were more negatively disposed toward a culture copresentation and a culture fusion society. (Ebd.: 1294-1306)

HUBERT FICHTES LITERATUR ALS INVERSION DES NFC – EINE DEKONSTRUKTION VON DUALITÄTEN Hubert Fichtes Literatur kann als Inversion des NFC gelesen werden. Statt eines Anspruchs auf Geschlossenheit, Eindeutigkeit und ›Wahrheit‹ ist die Literatur Fichtes geprägt von Ambivalenzen, Fragen, Widersprüchen, Unklarheiten und somit ein Spiegel starker Transformationsprozesse. Fichte selbst sagt: »Widersprüche, Lügen, das Unechte, die Übertreibung, das Inkohärente stehen lassen. Nicht wegkitten – Zweifel, Niederlagen. Achtung – kein Schulterklopfen: Sich den Königshäusern des Kongo in der gleichen Haltung nähern wie Schiller Philipp dem Zweiten.« (Fichte 1984: 364) So wie Roets festhält, dass der große Wunsch nach Sicherheit, Ordnung, nach Antworten und einer Geschlossenheit dazu führen kann, Tatsachen zu verkürzen, zu pauschalisieren und Fakten, die nicht in das Muster, in das »System« passen, zu marginalisieren, führt schon Hubert Fichte durch seine Werke auf, dass die Darstellung von Inkohärenzen oftmals mehr Erkenntnisse bietet, als halbfertige Wahrheiten, die später wieder revidiert werden müssen. Fichtes Literatur lässt sich somit als Poetik der Transformation begreifen: von stetigem Wandel und einem anhaltenden Aushandeln. Wer klare Antworten sucht, wird von Hubert Fichte enttäuscht, doch bergen seine Werke viel Potential im Verständnis um das Nicht-Lineare, Nicht-Reine, Nicht-Binäre. Und diese

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Auseinandersetzung ist und bleibt aktuell – besonders in einer globalisierten Welt, die Gesellschaften hervorbringt, die durch Hybridisierungsprozesse dazu gezwungen sind, sich mit Transformationsprozessen auseinanderzusetzen und viel mehr als das: Gesellschaften, die lernen müssen, ihr need for closure anzupassen an unsere aktuelle Realität und Veränderung positiv zu nutzen. Besonders mit Blick auf die aktuelle Situation in Europa, die von Zuwanderung und Immigration geprägt ist, wird es notwendig, die bestehenden Kulturund Identitätskonzepte neu zu überdenken und kritisch zu reflektieren. Dazu ist es wichtig, die Ursachen, Gründe und Mechanismen binärer Identitäts- und Kulturauffassungen zu verstehen. Insbesondere in Zeiten eines kulturellen Umbruchs und der Entstehung eines Dritten Raumes durch den Kulturkontakt besteht die Tendenz, in duale Definitionen und Denkmuster zurückzufallen. Regardless of their affiliation to the right, left, or centre, groups have fallen back on the idea of cultural nationalism, on the overintegrated conceptions of culture which present immutable, ethnic differences as an absolute break in the histories and experiences of ›black‹ and ›white‹ people. Against this choice stands another, more difficult option: the theorisation of creolisation, métissage, mestizaje, and hybridity. (Gilroy 2002: 2)

Die Dekonstruktion dualer Muster, die Neuverhandlung von Kultur und Identität und die iterative Überprüfung der Sprache, die einen Schlüssel zur Identität darstellt, werden neue Herausforderungen unserer Zeit sein. Diese sich im Wandel befindenden, gerade neu entstehenden Räume bieten viel Potential, unsere Möglichkeiten auszuschöpfen und dem Stillstand und der Prämisse der idealisierten Ganzheit und Reinheit eine Absage zu erteilen oder in Fichtes Worten: »Bikontinentalität. Eins ganz. Das konnte Jäcki nicht. Die Reinheit fand Jäcki furchtbar. Die Reinheit gibt es nicht.« (Fichte 2006: 336) Hubert Fichtes Romane sind »Schichten statt Geschichten« (Fichte: 1979: 294). Es sind ethnopoetische Texte, die in sich Konstrukte darstellen und durch ihre Art der Aufschlüsselung des Konstruktionscharakters die Identitäten und Kulturen als Konstrukte entlarven. Konstrukte, die sich verändern, die komplex verwobene Strukturen aufweisen und wie die Realität selbst nicht linear, chronologisch und festabgeschlossen, sondern divergent und hybrid sind.

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LITERATUR Böhme, Hartmut (1992): Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart. Braun, Peter (2002): Eine Reise durch das Werk von Hubert Fichte. Frankfurt am Main. Chukwudi Eze, Emmanuel (1998): African Philosophy. An Anthology. Oxford. Fichte, Hubert (1979): Versuch über die Pubertät. Frankfurt am Main. Fichte, Hubert (1984): Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen. Santo Domingo. Venezuela. Miami. Grenada. Frankfurt am Main. Fichte, Hubert (1985): Lazarus und die Waschmaschine. Kleine Einführung in die afroamerikanische Kultur. Frankfurt am Main. Fichte, Hubert (2006): Explosion. Roman der Ethnologie. Frankfurt am Main. Gilroy, Paul (2002): The black Atlantic. Modernity and double consciousness. London. Heinrichs, Hans-Jürgen (1991): Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch. Oder wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen. Hubert Fichte und sein Werk. Bielefeld. Roets, A; De keersmaecker, J.; Van Assche, J. (2016): Need for Closure effects on affective and cognitive responses to culture fusion. In: Journal of CrossCultural Psychology 47, S. 1294-1306. Rowland, Abiodun (1994): Understanding Yoruba Art and Aesthetics. The concept of Ase. In: African Arts 27, H. 3, S. S. 68-75. Solow, Barbara L. (2002): Slavery and the rise of the Atlantic System. Cambridge. Tadmor C. u.a. (2012): Multicultural experiences reduce intergroup bias through epistemic unfreezing. In: Journal of Personality and Social Psychology 103, H. 5, S. 750-772. Webster, D.M.; Kruglanski, A.W. (1994): Individual differences in need for cognitive closure. In: Journal of Personality and Social Psychology 67, S. 1049-1062. Zeuske, Michael (2006): Sklaven und Sklaverei in den Welten des Atlantiks 1400-1940. Umrisse, Anfänge, Akteure, Vergleichsfelder und Bibliographien. Berlin. Zeuske, Michael (2009): Out of the Americas: Sklavenhändler und Hidden Atlantic im 19. Jahrhundert. Ein Forschungsprojekt am Historischen Seminar der Universität zu Köln. In: AHF Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 37.

Übergangshaftigkeit und Interkulturalität Figurationen einer Ästhetik des Brüchigen in Felicitas Hoppes Paradiese, Übersee Nadjib Sadikou

ABSTRACT In the present contribution I start from Marc Augés’ approach of the shifting of spatial parameters in his book Nicht-Orte and argue that this shift not only causes an uncertainty of borders but equally generates an instability of subject formation. Then I try, based on recent cultural studies concepts such as similarity, to elucidate the concept of interculturality as a transitional process of transcendence and social-cultural translation. In the third part, I will analyze Felicitas Hoppe’s novel Paradiese, Übersee (2003) as a poetic of instability. Keywords: Interculturality – Modernity – Transgression – Translation – Borders – Knowledge

1. ÜBERGÄNGE UND BRÜCHIGKEIT DER SUBJEKTWERDUNG In seinem Buch Nicht-Orte bezeichnet der französische Anthropologe Marc Augé die gegenwärtige Zeit als »surmodernité« 1. Damit meint er, dass wir in einer Epoche leben, die paradox sei: »Im selben Augenblick, da die Einheit des ir-

1

Der Titel der französischen Originalausgabe lautet Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité. (Paris 1992)

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dischen Raumes denkbar wird und die großen multinationalen Netze an Stärke gewinnen, verstärkt sich auch der Lärm der Partikularismen, all derer, die für sich bleiben wollen, oder derer, die nach einem Vaterland suchen […]« (Augé 2014: 42) Wenn Augé von einer ›Einheit des irdischen Raumes‹ spricht, so trägt er dem Umstand Rechnung, dass sich unsere Welt mehr denn je in einer rasanten Transformation befindet und dass der Welt-Raum somit im Übergang begriffen ist. Konsequenterweise sind die Grenzen der Staaten dermaßen flüchtig und mobil geworden, dass sie ihre Bedeutung zu verlieren scheinen. (Vgl. Beck/Grande 2007: 265) Etienne Balibar spricht von einer »Verunsicherung der Grenzen« bzw. von einer »Destabilisierung ihres Verlaufs und ihrer Funktion« (Balibar 2007: 244). 2 Diese Verunsicherung beeinflusse auch das Bewusstsein von einer europäischen Identität, zumal Europa der Ort sei, von dem aus überall auf der Welt die Grenzlinien gezogen wurden. Dies, weil Europa die Geburtsstätte der Vorstellung von der Grenze als jenem »sinnlich- übersinnlichen Ding«, das sein oder nicht sein, das hier oder dort sein könne, das eher »diesseits« oder »jenseits« ihrer idealen Position liegen könne, das aber stets irgendwo sein müsse. (Vgl. ebd. Hervorh. im Text) Aus dieser Diagnose der Ungewissheit der Grenzen schlussfolgert Balibar: Die Situation, die wir in Europa erleben – vom Atlantik bis zum Ural (wenn nicht bis zum Amur) und vom Nordkap bis zum Bosporus (wenn nicht sogar bis zum persischen Golf), überall dort, wo die Vorstellung von der Grenze als einer Partikularisierung und Aufteilung des Universellen herrscht –, stellt zwischen den empirischen und den transzendentalen Dimensionen im Begriff der Grenze einen abrupten Kurzschluss her. (Ebd.: 245)

Gerade diese ›Partikularisierung‹ bzw. diese forcierte ›Aufteilung‹ beschäftigt auch Marc Augé. Denn die von ihm konstatierte Paradoxie liegt einerseits im Gefälle zwischen ›Partikularisten‹ und andererseits denjenigen, die sich dieser Einheit des Raumes bewusst machen. In der weiterführenden Analyse beschreibt Augé drei Wandlungsprozesse, welche die gegenwärtige Übermoderne kennzeichnen. Erstens ›die Überfülle der Ereignisse‹, die unser Bedürfnis, die Ge-

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Etienne Balibar begründet die These der Verunsicherung der Grenzen u. a. mit dem Argument, dass sich die Geschwindigkeit der Kauf- und Transaktionen und des Geldwechsels, die in »Echtzeit« ablaufen, den Kontrollmöglichkeiten der Behörden entzogen hat. Ebenfalls führt er an, dass man die CNN-Bilder nicht stoppen könne, selbst wenn man den Verkauf von Parabolantennen kontrolliere. Man könne sie höchstens mit anderen Bildern überschwemmen, indem man das »Zappen« globalisiere. (S. 247)

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genwart vollständig zu verstehen, schwierig mache. Dies ließe sich als ein Zeichen der Sinnkrise interpretieren. Der zweite Wandlungsprozess, welcher die heutige Welt charakterisiert, betrifft ›die Überfülle des Raumes‹ bzw. die Verschiebung der räumlichen Parameter. Als Beispiel führt er an, wie die Schnelligkeit unserer Verkehrsmittel dafür sorgt, dass der Abstand zwischen zwei beliebigen Hauptstädten nicht mehr als ein paar Stunden beträgt. Die dritte Wandlungsfigur ist ›die Individualisierung der Referenzen‹. Gemeint ist die Tatsache, dass das Individuum sich als Welt verstehen möchte, d. h. es interpretiert die an ihn herangeführten Informationen aus sich heraus und für sich. (Vgl. Augé 2014: 38ff) Ich möchte mich auf den zweiten Punkt, nämlich die ›Verschiebung der räumlichen Parameter‹ konzentrieren, denn sie scheint für die von mir im Haupttitel dieses Beitrages genannte Übergangshaftigkeit von großer Bedeutung zu sein. Meine These hier wäre, dass diese Verschiebung der räumlichen Parameter nicht nur eine Verunsicherung der Grenzen herbeiführt, sondern gleichermaßen eine Brüchigkeit der Subjektwerdung impliziert. Diese Brüchigkeit ließe sich dahingehend begründen, dass die Konstruktion unserer Werte sowie die Gestaltung unserer kulturellen Identitäten keine gefestigte oder eindeutige Größe ist, sondern in mehrfachkodierter Hinsicht erfolgt. Mehrfachkodierung, weil das ›postmoderne Ich‹ in Zeiten der Globalisierung und exponierter Mobilität von Menschen ein ent-grenztes Ich ist, das unaufhörlich mit vielfältigen, zum Teil widerspruchsvollen kulturellen Modi konfrontiert ist. Die durch diese Konfrontation entstandenen kulturellen Aushandlungen tragen zu einer interkulturellen Subjektbildung sowie zu einer operativen Kunst des Gleitens und Schwebens zwischen unterschiedlichen kulturellen und religiösen Räumen bei. Überhangshaftigkeit meint in dieser Hinsicht, dass sich Subjekte in verschiedenen, parallel erfahrbaren, zeitlich und räumlich versetzten Zeit- oder Raumdimensionen, also in transnationalen Dimensionen, verorten können. Als Beispiel dieser Transnationalität weisen Andreas Langenohl, Schamma Schahadat und Manfred Weinberg in ihrem Band über Transkulturalität zu Recht darauf hin, dass Migranten oder Migrantinnen z.B. Sozialräume kreieren, die sich nicht auf die Logik nationaler Schließung zurückführen ließen, weil sie zusätzlich anderen Schließungs- und Differenzierungsprozessen unterlägen, die mit Unterscheidungen im Bereich Gender, Lebensalter, Beschäftigungsart etc. zu tun hätten. (Vgl. Langenohl/Poole/Weinberg 2015: 13) Und bekanntlich artikuliert die Rede von Transnationalität ein sozialanthropologisches Erkenntnisinteresse, das weniger ubiquitären makrostrukturellen Prozessen gilt als vielmehr plurilokalen Verflechtungen alltagsweltlicher Art. (Vgl. Isekenmeier 2008: 727) Transnationalität gilt Mehrfachzugehörigkeiten, die die Grenzen von Nationalstaaten überschrei-

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ten und die Brüchigkeit dieser Grenzziehungen offenlegen. Hier drängen sich folgende Fragen auf: Welche Konsequenzen können aus diesen räumlichen Verschiebungen gezogen werden? Welche kulturellen Orientierungen und Aushandlungen gilt es anzugehen? Welche Denkmodelle sollten wir uns aneignen und von welchen verabschieden? Zu diesem Fragenkomplex will ich zunächst drei mögliche Antworten analysieren, bevor ich meine Überlegungen zum Begriff der Interkulturalität erläutere. Eine erste Antwortmöglichkeit auf diesen Fragenkomplex findet sich im »Manifest gegen das Dazwischen« (Adelson 2015) (Against Between) der amerikanischen Germanistin Leslie Adelson. Darin legt sie den Fokus auf die räumliche Konfiguration kultureller Arbeit und wehrt sich gegen die Vorstellung, dass für gewisse Autorinnen und Autoren (z.B. deutsch-türkische) sowie ihre Texte ein vermeintlicher Ort zwischen zwei Welten auf der kulturellen Landkarte unserer Zeit bereitgehalten wird. Ihr zufolge wirkt diese Trope des »Dazwischen« oft buchstäblich wie ein Reservat, das dazu dient, Erkenntnisse einzuschränken und zu behindern, anstatt sie zu ermöglichen und aufzugreifen. Die imaginierte Brücke »zwischen zwei Welten« sei dazu gedacht, voneinander abgegrenzten Welten genau in der Weise auseinander zu halten, in der sie vorgibt, sie zusammenzubringen. Denn im besten Falle stelle man sich die Migranten für alle Ewigkeiten auf dieser Brücke aufgehoben vor. (Vgl. ebd.) Dieser Ansatz Adelsons ist für meinen Zusammenhang deswegen aufschlussreich, weil daraus eine Erkenntnis bezüglich der Übergangsthematik abgeleitet werden kann, nämlich die Übergangshaftigkeit kultureller Arbeit bzw. literarischer Texte. Denn sie ließen sich als Orte des Denkens nicht in irgendeinem vorhersehbar nationalstaatlichen oder gar ethnischen Sinn definieren. Vielmehr seien sie Orte des Umdenkens, d. h. imaginative Räume, in denen kulturelle Orientierung radikal neu durchdacht wird. Diese Übergangshaftigkeit von Texten liegt auch darin, dass in dem Moment, in dem die Bewegung der Lektüre einsetzt, jedes Stillhalteabkommen zwischen Text und Leser gekündigt werde. Das Zwischen sei hier kein Indikator einer räumlich-statischen Leere, sondern entspreche dem Vorgang einer unverfügbaren Öffnung, deren Horizont immer aufs Neue erfunden werden müsse. (Vgl. Hart Nibbrig 2003: 23ff) Die Wörter »Öffnung« sowie »Horizont« verweisen auf die Übergangshaftigkeit literarischen Wissens als Orte des Umdenkens bzw. des transitorischen Denkens: Weder die strikte Festlegung von Ergebnissen noch die insistente Behauptung ihrer Gültigkeit ist Angelpunkt dieses Denkens. Im Gegensatz sucht es seine Fruchtbarkeit mehr in seinen Prozessen als in seinen Resultaten, mehr im Weiterdenken seiner Befunde als in deren Festschreibung. (Vgl. Härter/Kunz/Weidmann 2003: 7)

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Gerade in dieser Nicht-Festschreibung sehe ich eine Parallelität zwischen Adelsons Ansatz und dem von Marc Augé, nämlich in seiner zweiten Kategorie der Überfülle der Ereignisse: diese Überfülle bzw. dieses Übermaß an Ereignissen kann als ein stichhaltiger Grund betrachtet werden, warum das von Adelson geforderte Umdenken von großer Relevanz ist. Darüber hinaus scheint Adelsons Argumentation, dass es angesichts der Überfülle an Informationen mehr Zweifel gegenüber existierenden Formen des Wissens und mehr Unsicherheit darüber was gemeinhin als wahr gilt vonnöten sei, nachvollziehbar zu sein. Damit spricht Adelson im Grunde die Problematik der Krisis des Wissens in der heutigen Wissensgesellschaft an. Diese Krisis des Wissens ist, mit Helmut Willke gesprochen, die Folge einer Überflutung durch Daten, durch Unterschiedlichkeit und Inkommensurabilität von Informationen, die mit Wissen »zugleich Nichtwissen erzeugen«. (Willke 2002: 18) Dieses Nichtwissen wird z.B in einem Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung als etwas Unheimliches und Prekäres betrachtet: Das Bedrohliche an den Massenmedien sei, dass sich die Technik, mit der das vollzogen wird, mehrheitlich unserer Kenntnis entziehe. Denn wir wüssten nicht, was alles über uns gewusst werden könne. Wir könnten nicht erfassen, welche Bezüge aus der Vielfalt unserer Daten hergestellt und was daraus gemacht werden könne. (Vgl. FAZ 19.09.2017: 9) Eine Krisis des Wissens, so Willke weiterführend, entstehe deshalb im Kern dadurch, dass sich niemand auf das vorhandene Wissen verlassen könne, solange das komplementäre Nichtwissen nicht in gleicher Weise zur Kenntnis genommen und handhabbar gemacht werde wie das Wissen selbst. Wissen sollte also zur kritischen Ressource, zum strategisch bedeutsamen Engpass des Spielraums einer Gesellschaft, die sich von den Zwängen der Existenzsicherung befreie und in die Möglichkeitsräume des freien Spiels der Kontingenzen hinein emanzipiert hätten. (Vgl. Willke 2002: 18) Aufgrund dieser Kontingenz und der Krisis des Wissens wird meine Argumentation zur Brüchigkeit der Subjektwerdung evidenter. Denn wenn Wissen und Nichtwissen einander bedingen und wenn sich Zweifel oder Unsicherheit als eine existenzielle Vorsichtsmaßnahme in der Wissensgesellschaft erweisen, dann kann jede Rhetorik von kultureller Eindeutigkeit oder von einer sogenannten ›Leitkultur‹ oder gar von identitärer Festlegung eines Subjekts als hinfällig betrachtet werden. An diesem Punkt der Krisis des Wissens knüpft sich die zweite Antwortmöglichkeit für den erwähnten Fragenkomplex an: der Übergang vom Differenzdenken zu einem Denken in Ähnlichkeiten, wie Anil Bhatti es prägt. (Vgl. Bhatti/Kimmich 2015) Der Mehrwert dieses Denkens in Ähnlichkeiten besteht darin, dass sie mit Elementen des Unscharfen und des Ungefähren operiert. Der Begriff »Ähnlichkeit«, so eine Lektüre Albrecht Koschorkes, setze Unschärfe an die

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Stelle scharfer Grenzen und Grenzwidersprüche. Man könne ihn die Rolle eines Mediums zuweisen, einer ›weichen‹ Matrix, in die sich, unter bestimmten Umständen und auf einem höheren Niveau an sozialer und mentaler Unterscheidungsenergie, die ›harten‹ Formen von Identität und Differenz einprägten. In dieser Hinsicht sei Ähnlichkeit eine Kategorie der Entdramatisierung. Gemeint ist, dass sie auf der einen Seite von einem Programm der Assimilation Abstand halte, das eine gesetzte Entwicklungsnorm für allgemein verbindlich erkläre, andererseits einem pathetischen Hervorheben von Differenzen entgegentrete, die letztlich auf eine immer kleinteiligere und empfindlichere identity politics hinausliefen und dadurch die Kräfte der Veränderung nachhaltig schwächten. (vgl. Koschorke 2015: 36f., Hervorh. im Text) Zu dieser Valenz des Unscharfen schreibt Dorothee Kimmich folgendes: Tatsächlich verlangt das Denken in Ähnlichkeiten – anders als Differenzdenken –, Unschärfen, diffuse Begrifflichkeiten und vage Definitionen zu akzeptieren. Ähnlichkeitskonstellationen sind solche mit Granulaten, skalaren Abstufungen. Die vermeintliche Exaktheit, die sich durch ein Denken in Identität und Differenz bzw. deren klare Opposition zu ergeben scheint, ist mit Vorstellungen der Ähnlichkeit nicht zu vereinbaren. (Kimmich 2017: 12f.)

Mehr noch: In Anlehnung an Paul Valérys Behauptung: »Ceux qui ne savent pas dire ou répugnent à dire des choses vagues sont souvent muets et toujours malheureux« 3 wird die Denkart der Ähnlichkeit bzw. der Bereich des vagen Sprechens als ein kategorischer Imperativ dargestellt, als etwas, das wir beherrschen müssen, um in einer Welt im Übergang zu überleben, um nicht unglücklich zu werden. (Vgl. ebd.: 9) Eine dritte Antwortmöglichkeit liefert Marc Augé in Anlehnung an Michel de Certeau: Mit dem Raum umzugehen bedeute die fröhliche und stille Erfahrung der Kindheit zu wiederholen; es bedeute am Ort anders zu sein und zum anderen überzugehen. (Vgl. Augé 2014: 88 Hervorh. im Text) Zunächst scheint es mir der Verständlichkeit halber wichtig hier zu vergegenwärtigen, dass Augé mit dem Wort »Ort« einen anthropologischen Ort meint, einen Ort mit Sinn- und Erkenntnisprinzip für die darin lebenden Menschen. 4 Als »Nicht-Ort« bezeichnet

3 4

»Diejenigen, die nur ungern oder nicht etwas Vages sagen können, sind oft stumm

und immer unglücklich.« (Übersetzung, N. S.)

Augé schreibt folgendes: »Wir wollen den Ausdruck ›anthropologischer Ort‹ jener

konkreten und symbolischen Konstruktion des Raumes vorbehalten, die für sich allein nicht die Wechselfälle und Widersprüche des gesellschaftlichen Lebens zum Aus-

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Augé sinnentleerte Funktionsorte wie Flughäfen, U-Bahnen, Flüchtlingslager, also Räume, die keine individuelle Identität stiften, keine gemeinsame Vergangenheit haben und keine sozialen Beziehungen schaffen. In Augés Worten: »So wie die anthropologischen Orte organisch-Soziales hervorbringen, so schaffen die Nicht-Orte eine solitäre Vertraglichkeit.« (Ebd. 96) Die Definition von Augé, nämlich anders zu sein und zum anderen überzugehen ist für meinen Zusammenhang wichtig, weil sie in dieser Hinsicht das Differenzdenken, das Anders-Sein nicht verabsolutiert, sondern transzendiert. Der Übergang zum anderen impliziert hier das Transzendieren der absoluten Differenzen sowie das Überwinden von Ungleichartigkeit, von radikaler Segregation. Der gemeinsame Nenner zwischen Marc Augés Ansatz und dem der Ähnlichkeit besteht meines Erachtens in der Relativierung des Differenzdenkens, in seiner Transzendierung, die eine wichtige Rolle in Diskursen der Interkulturalität spielen kann, wie ich im Folgenden darzulegen versuche.

2. INTERKULTURALITÄT: TRANSZENDIERUNG UND SOZIOKULTURELLES ÜBERSETZEN Ich möchte in Anlehnung an diese oben genannten Ansätze eine Überlegung zum Ansatz der Interkulturalität anstellen und behaupten, dass Interkulturalität als ein wirksamer Übergangsprozess mittels einer Transzendierung differenter kultureller Systeme sowie einer operativen Kunst des soziokulturellen Übersetzens verstanden werden kann. Mit Transzendierung will ich meinen, dass die Wirksamkeit des Übergangs nicht in der Verabsolutierung der Alterität des kulturell Anderen/Fremden besteht, sondern vielmehr in der Transzendierung dieser Alterität. Transzendierung wäre hier ein Doppelakt, nämlich sowohl eine Grenzziehung als auch eine Grenzüberschreitung zwischen verschiedenen Kulturen. Denn, so schreiben Stefan Rieger, Schamma Schahadat und Manfred Weinberg im Vorwort Ihres Bands über Interkulturalität, »[d]ie Begegnung zweier Kulturen findet vielmehr statt, wenn eine Kultur in das abgegrenzte Terrain der anderen einbricht. Interkulturalität setzt somit beides voraus: eine Grenze zwischen den Kulturen – und ihre Aufhebung.« (Rieger/Schahadat/Weinberg 1999: 11)

druck bringen vermöchte, auf die sich jedoch all jene beziehen, denen sie einen Platz zuweist, so niedrig oder bescheiden er auch sein mag. Gerade weil für jede Anthropologie unter anderem gilt, dass sie sich als Anthropologie der Anthropologie des anderen darbietet, ist der Ort, der anthropologische Ort, das Sinnprinzip für jene, die dort leben, und das Erkenntnisprinzip für jene, die ihn beobachten.« (S. 58f.)

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Der Gedanke der Transzendierung schließt sich dieser Doppelkodierung an und kann somit dort sinnvoll zum Einsatz kommen, wo Kategorien der Differenz oder der Grenze nicht als ausschließliche oder exklusive Artefakte definiert, sondern als permeable, durchlässige Deutungsmuster kultureller Modi verstanden werden. Aufgrund dieser Permeabilität kann ein Schweben zwischen den Kulturen ermöglicht und eine monade-artige Festlegung von Differenz bzw. Alterität konterkariert werden. In der kolonialen Verhaltenslehre wurde dieses ausschließende Differenzdenken als eine Strategie der Alterisierung betrachtet, wonach der Fremde/Andere erst zu einem Anderen erklärt, d.h. andersartig gemacht werden muss, um ihn in seiner Andersartigkeit anzuerkennen. (Vgl. Koschorke 2015: 35) Axel Dunker hat in Bezug auf das 19. Jahrhundert diese Konstruktion des Kolonialen als eine nicht wertfreie Struktur bezeichnet, die das Asymmetrische im Kolonialismus direkt wiedergibt und somit ein »Unbehagen des Kolonialismus« offenlegt. (Dunker 2008: 169) Ein ähnliches Unbehagen der Zementierung von Differenzen in der postkolonialen Gegenwart hat Achille Mbembe mit dem Begriff schwarze Vernunft in die Debatte eingeführt. Gemeint ist ein Diskurs, der die Ideologie der kulturellen Differenz aufgreift, verinnerlicht und zu seinem eigenen Nutzen einsetzt. Diese Ideologie stützt sich auf drei Pfeiler, nämlich auf die Rasse, die Geographie und die Tradition. (Vgl. Mbembe 2016: 170) Eine der Problematiken dieser schwarzen Vernunft besteht in einer »Logik des Einzäunens« (ebd.: 77) von Mannigfaltigkeiten, in ihrer Fixierung und hierarchischen Anordnung. In Anlehnung an Mbembe möchte ich meinen, dass die Haltung der Transzendierung ein mögliches Mittel des Ent-Zäunens zwischen verschiedenen Kulturen, Rassen, Ethnien oder Religionen sein kann. Anders formuliert: Ich muss den Anderen bzw. den Fremden nicht zwingend kulturell verankern oder verorten wollen. Im Gegenteil gilt es, eine Einstellung bzw. ein Verhalten der Transzendierung einzunehmen. Ich meine die Einstellung einer NichtVerabsolutierung der Differenz, eine Einstellung also, dass der Andere keinesfalls dann verdammt sein muss, sich auf eine monolitisch erfasste Kulturdeutung festzulegen. Zudem ließe sich Transzendierung im Hinblick auf Interkulturalität als ein Akt der Transgression (Vgl. Isekenmeier 2008: 725) 5 bezeichnen. Transzendierung kann in dieser Hinsicht als eine performative Praktik der Übertretung kultureller Grenzen verstanden werden. Diese Übertretung erfolgt in Form einer Ver-

5

Gemeint ist »any act of expressive behaviour which inverts, contradicts, abrogates, or in some fashion presents an alternative to commonly held cultural codes, values and norms be they linguistic, literary or artistic, religious, or social and political.« (S. 725)

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letzung hierarchisch und hegemonial basierter Normen oder einer Überquerung von Grenzen, die die Differenz von Außen und Innen prozessieren. In dieser Hinsicht des Prozessierens lässt sich Transzendierung, mit Mbembe gesprochen, als ein »Denken in Zirkulation« bzw. ein »Denken der Durchquerung« (Mbembe 326) bezeichnen. Somit komme ich auf den zweiten Teil meines Definitionsvorschlages der Interkulturalität. Mit soziokulturellem Übersetzen meine ich, dass es in einem solchen wirksamen Übergang um Begegnungen zwischen Menschen und den Umgang mit unterschiedlichen Religionen, Ritualen, oder Höflichkeitsformen geht und somit eine Anpassung an die vielfältigen Wahrnehmungsmodi unumgänglich ist. Interkulturalität kann somit als eine soziokulturelle Übersetzungspraxis betrachtet werden. In der kulturwissenschaftlichen Forschung, etwa bei Doris BachmannMedick, wird ein solches soziokulturelle Übersetzen als unverzichtbarer Bestandteil des interkulturellen Dialogs sowie als Medium der Repräsentation fremder Kulturen begriffen. (Vgl. Bachmann-Medick 1997) Übersetzungskulturen, so die Beschreibung des Forschungsschwerpunkts des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, leisteten einen eminenten Beitrag zur Bildung transnationaler Identitäten und zur Entstehung eines miteinander geteilten oder zumindest teilbaren kulturellen Gedächtnisses. 6 Das hier gedachte soziokulturelle Übersetzen bzw. die besprochene Transzendierung lässt sich auch im Sinne Zygmunt Baumans als die Akzeptanz einer »Reziprozität der Perspektiven« (Bauman 1999: 21) verstehen. Das bedeutet eine Akzeptanz der Bereitschaft des Anderen, »entsprechend denselben Grundsätzen wie ich zu denken und sich zu verhalten [...]« (ebd.). Es geht also weder um ein Verhältnis der Hegemonie bzw. der kulturellen Dominanz noch um oppositionelle Hierarchien zwischen mir und dem Anderen, sondern um eine möglichst respektvolle Anerkennung des Anderen in seiner differenten Lebensart und Wertewelt. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass eine solche reziproke Anerkennung misslingt, wenn man sich an das Differenzdenken klammert oder es verabsolutiert – vor allem im Hinblick auf das Gesellschaftsbild Europas mit einem Pluralismus der Weltbilder, die mit verwickelten Übergangsprozessen einhergehen.

6

Vgl. Kulturen des Übersetzens (abrufbar unter http://www.ifk.ac.at/index.php/ forschungsschwerpunkt.html Zugriff 31.07.2018)

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3. FELICITAS HOPPES PARADIESE, ÜBERSEE ALS ÄSTHETIK DES BRÜCHIGEN Gerade von einer ästhetischen Zuspitzung solch verwickelter Übergangsprozesse handelt der im Jahr 2003 erschienene Roman Paradiese, Übersee (Hoppe 2003) 7 von Felicitas Hoppe. Wie ein roter Faden ziehen sich Motive und Symbole des Übergangs, des Flüchtigen bzw. des Brüchigen durch diesen Text. Auffällig für die Handlung ist die Vielzahl der literarischen Räume und Schauplätze, durch die und in denen sich beide Hauptfiguren bewegen, nämlich der Pauschalist und der Ritter in Begleitung von einem sprechenden Hund. Beide Figuren besteigen ein Schiff und bewegen sich zwischen der Nordsee und dem indischen Ozean mit Zwischenstationen in Kalkutta, Wien, Budapest, Prag, Lissabon, Lille und London. Sie sind auf der Suche nach einem mysteriösen polnischen Naturforscher namens Dr. Stoliczka, »der seine Zeit jagend und sammelnd in den Büschen und Bergen verbrachte, der vollkommen aus der Zeit gefallen war und sich schamlos in die Natur stellte mit einem Schmetterlingsnetz über der Schulter, eitel vom Scheitel bis zur Sohle […]« (PÜ, 41) Der Pauschalist ist ausgestattet mit einem Diktiergerät, das er »zwischen Hemdkragen und Hals« (PÜ, 8) trägt. Er will alle Informationen und Berichte über diesen Dr. Stoliczka einholen und ist davon besessen, eine Studie über ihn zu verfassen: »Nichts, glaubte er, sei ihm fremd geblieben, und sein wachsender Text lag ihm so nahe, dass er sich beim besten Willen, obwohl er sich gern Frischluft verschafft hätte, nicht mehr vom Herzen reißen konnte, ohne Schaden zu nehmen.« (Ebd.) Die Charaktere der beiden Figuren werden unterschiedlich gewichtet. Einerseits stehen sie komplementär zueinander, andererseits wird der eine als Gegenteil des anderen dargestellt. Im Text heißt es, der Ritter »kannte den Text des Pauschalisten in- und auswendig, als wäre in seiner Rüstung Platz für ganze Jahrhunderte schiefen Denkens.« (Ebd.) und weiterführend: »Der eine schweigend, der andere unaufhörlich sprechend, hatten sie gemeinsam Europa durchquert, hatten alle Verkehrsmittel der Welt probiert und schließlich ein Schiff nach Indien bestiegen […].« Oder an einer anderen Stelle über die Karten: »Denn während dem Pauschalisten die Karten widerlich waren, waren sie dem Ritter bloß gleichgültig.« (PÜ, 20) Soweit ein kurzer, kursorischer Inhaltsüberblick. Aufschlussreich für meinen Zusammenhang ist der Umstand, dass die Berichte in den jeweiligen einzelnen Stationen dermaßen widersprüchlich waren, dass beide Suchende das Unterfangen ihres Unternehmens realisieren: »Um sich

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Alle weiteren Zitate entstammen dieser Version und werden mit der Abkürzung PÜ mit den Seitenzahlen markiert.

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über die Erfolgslosigkeit ihres Unternehmens hinwegzutäuschen, hatten sich der Ritter und der Pauschalist in Momenten größeren Zweifels sogar gegenseitig bei der Hand gehalten, denn allen Zweifeln zum Trotz waren sie in derselben Sache unterwegs.« (PÜ, 12) Die Tatsache, dass beide Reisende trotz vieler Berichte über den gesuchten Naturforscher zu nichts Festem bzw. nichts Eindeutigem kommen, deutet meines Erachtens auf das Moment der Unschärfe, des Zweifels und des Brüchigen hin, das dem im Roman erzählten Übergangsprozess innewohnt. Ebenfalls weist dieser Umstand auf eine Dystopie bzw. auf die Krisis des Wissens hin, die ich oben dargelegt habe. Schon der Beginn des Textes beinhaltet Elemente des Vergänglichen, des Offenen und des Vagen. Dies dürfte in der folgenden Passage über die Gefühlslage des Pauschalisten deutlich werden: »Seit ihrer Abreise fiel ihm der Ritter nämlich zur Last mit seinem ewigen Lied, dass wir nur Gäste auf Erden sind, ganz zu schweigen von den kleinen Bündeln gepressten Strohs, die er auf sämtliche Taschen und Fächer seines aufwändig verpackten Körpers verteilt bei sich trug und einem Rucksack mit Feuerholz, den er jetzt umständlich öffnete, um die Scheite herauszuholen[…]« (PÜ, 7) Besonders ausflussreich ist in diesem Passus die Auswahl der Wörter wie z.B. ›Stroh‹ oder ›Feuerholz‹, die allesamt als markante Zeichen eines Vergänglichen Daseins gelesen werden können. Auch der Satz, wir seien auf Erden nur Gäste kann dahingehend gedeutet werden, dass Hoppe dieses Motiv des Vergänglichen an die Nähe der Leser rücken möchte. An einer anderen Textstelle heißt es: »Je näher wir uns dem Ziel unserer Wünsche wähnen, desto deutlicher entfernt sich alles von uns. Nichts ist mehr greifbar.« (PÜ, 125). An dieser Textstelle kann man erkennen, dass Felicitas Hoppe eine Ästhetik des Brüchigen zur Gestaltung bringt. Denn dem Leser begegnet eine Radikalität des Offenen, des Nicht-Bestimmten, eine Radikalität, die mit einer Art Apologie der Zwecklosigkeit materialisiert wird. Folgende Passage verdeutlicht diese Sachlage: In Wahrheit konnte es dem Pauschalisten plötzlich nicht schnell genug gehen. Er war wie besessen von der Idee des Reitens, als hätte er auf einmal die Schönheit der Zwecklosigkeit entdeckt, denn er hatte längst nicht mehr die geringste Ahnung, wo sie sich befanden, vor allen Dingen aber, wohin sie eigentlich unterwegs waren. Er hatte jede Orientierung verloren, und das störte ihn nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil beflügelte ihn die Vorstellung aus dem Nichts in ein Nichts hinein unterwegs zu sein, und er wollte diese herrliche Stimmung auskosten […] (PÜ, 34f.)

In einer Besprechung in Die Zeit heißt es, Hoppe lasse ihre Figuren, die vom Glauben an die eigene Mission durchaus erfüllt seien, mit der unerbittlichen Logik des Nonsens in einer kompliziert gefalteten Welt herumirren. (Vgl. Die Zeit

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10.4.2003: 56) Eine andere Chiffre für diese Ästhetik des Brüchigen ist die für den Roman bemerkenswerte Metapher des Kartenspieles. Das Kartenspiel fungiert als Synonym für das Offen-kontingente wie im folgenden Passus: Der Ritter, der von Karten nichts wusste, weil er das Brettspiel allen anderen Spielen vorzog, beobachtete den Vorgang schweigend, aber Dr. Stoliczka, diktierte der Pauschalist, hätte das nie getan, niemals hätte er seine Zeit mit Kartenspielen vergeudet, diesem Spiel eines sinnlos gemischten Zufalls, der nachher angeblich Ordnung ergibt. […] So sind die Menschen beschaffen, Karten spielend am Bahnsteig hockend, ohne jemals den Zug zu besteigen. So kommt man nicht voran in der Welt, so kann man nicht leben, nicht reisen, nur sterben. Ohne Plan, ohne Auftrag, in diesem ewigen Zustand angehaltenen Daseins. (PÜ, 20) [Hervorh. N.S.]

Die mehrfache Verwendung des Wortes »Spiel« sowie die Wörter wie z.B. »sinnlos«, »Zufall« und der Ausdruck des »ewige(n) Zustand(s) angehaltenen Daseins« deuten auf das Motiv des Vagen, des Nicht-Sicheren, das jedem Spiel innewohnt. Genau ein solches Szenario wird in einer Vorbereitung auf ein Theaterspiel, dessen Bühnenraum mit lebendigen Tieren bestückt wird, sichtbar: »Hunde und Katzen spielen zwar mit und durchaus nicht ohne Eifer, sind jedoch nach wie vor unberechenbar.« (PÜ, 47) Diese Unberechenbarkeit, die dem Spiel innewohnt, wird im Theaterspiel als ein Grundelement des Brüchigen dargestellt. Dazu heißt es im Text: Denn hier verwirrt sich schon alles am Anfang, schon bei den Proben verschiebt sich alles. Das eine läuft hierhin, das andere dahin, ein Drittes läuft gar nicht, das Vierte hockt verstockt im Orchestergraben, ein Fünftes lässt sich gar nicht erst blicken, das Sechste fällt plötzlich vom Himmel, ein Siebtes bleibt in der Ecke sitzen und spielt gleich hinter dem Vorhang Karten mit einem Achten, das längst nicht mehr dazugehört. (Ebd.)

Aus diesem Passus lässt sich festhalten, dass ›Verwirrungen‹, ›Verschiebungen‹ und ›Verstockungen‹ als markante Zeichen einer Brüchigkeit gelesen werden können. Man kann hier die Behauptung aufstellen, dass Literatur den Lesern eine Kultur der Übergangshaftigkeit in Form einer Transzendierung, einer NichtFestlegung von Wissen zu vermitteln versucht. Bezüglich der Figur des Pauschalisten drängen sich in Hinsicht auf diese Unberechenbarkeit zwei Fragen auf: Warum wird er als ›Pauschalist‹ genannt und warum ist er in einem permanenten Zustand des Unwohlseins bzw. des Unglücks? Bevor ich eine Antwort auf diese Fragen gebe, möchte ich zunächst drei Textstellen anführen, die diese Tristesse bzw. dieses grimmige Gefühl verdeutli-

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chen: (1) »[d]er Pauschalist […] fühlte sich unwohl. Er schwitzte. Er träumte schlecht.« (PÜ, 8)/(2) »Beim Anblick der Speisen wurde ihm so übel, dass er sich zweimal auf das weiße Tischtuch erbrach […]« (PÜ, 14)/(3) »Der Pauschalist hatte sich weggedreht, die Frau und die Karten kamen ihm gleichermaßen unappetitlich und unzeitgemäß vor« (PÜ, 20) Meiner Ansicht nach ist er deswegen unglücklich, weil er so sehr davon besessen ist, klare, eindeutige und quantifizierbare Erkenntnisse zu erlangen. In seiner Weltdeutung scheinen Übergänge, Widersprüche oder Kontingenz keine Rolle zu spielen, ja er scheint sie zu verabscheuen. Aufgrund dessen vermag er vage und offene Sachverhalte nicht zu schätzen. In Anlehnung an Paul Valerys Behauptung, die ich bereits oben zitiert habe, ließe sich also schlussfolgern, dass der Pauschalist zu denjenigen zählen, »qui ne savent pas dire ou répugnent à dire des choses vagues« und deswegen »sont souvent muets et toujours malheureux.«

LITERATUR Adelson, Leslie A. (2015): Against Beetween – Ein Manifest gegen das Dazwischen. Aus dem Englischen übersetzt von Karin E. Yeşilada. In: Andreas Langenohl/Ralph Poole/Manfred Weinberg (Hg.): Transkulturalität. Klassische Texte. Bielefeld, S. 125-138. Augé, Marc (2014): Nicht-Orte. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. 4. Aufl. München. Bachmann-Medick, Doris (Hg., 1997): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin. Balibar, Etienne (2006): Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien. Hamburg. Bauman, Zygmunt (1999): Unbehagen in der Postmoderne. Hamburg. Beck, Ulrich/Grande, Edgar (2007): Das kosmopolitische Europa. Frankfurt a. M. Bethke, Hannah (2017): Der entgrenzte Mensch. Eine Ausstellung über Big Data und Verschlüsselung macht die Besucher zum Objekt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19. September 2017, S. 9. Bhatti, Anil/Kimmich, Dorothee (Hg., 2015): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Konstanz. Bhatti, Anil (2008): Transgression. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Aufl., Stuttgart, S. 725-726.

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Döbler, Katharina (2003): Papierschiffchen sind unsinkbar. Felicitas Hoppe schickt ihre Figuren nach der Logik des Nonsens durch die Welt. In: Die Zeit Nr. 16 vom 10. April 2003, S. 56. Dunker, Axel (2008): Kontrapunktische Lektüren. Koloniale Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts. München. Hart Nibbrig, Christiaan L. (2003): Zwischen Wörtern, Sätzen, Zeilen: Lesen. In: Andreas Härter/Edith Kunz/Heiner Weidmann (Hg.): Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Göttingen, S. 23-27. Isekenmeier, Guido (2008): Transnational/Transnationalität. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4. Aufl., Stuttgart, S. 727. Kimmich, Dorothee (2017): Ins Ungefähre. Ähnlichkeit und Moderne. Konstanz. Koschorke, Albrecht (2015): Ähnlichkeit. Valenzen eines Post-postkolonialen Konzepts. In: Anil Bhatti/Dorothee Kimmich (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Konzept. Op. cit. S. 35-45. Langenohl, Andreas/Poole, Ralph J./Weinberg, Manfred (2015): Vorwort In: Dies (Hg.): Transkulturalität. Klassische Texte. Bielefeld, S. 9-18. Mbembe, Achille (2016): Kritik der schwarzen Vernunft. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Bonn. Rieger, Stefan/Schahadat, Schamma/Weinberg, Manfred (2009): Vorwort, In: Dies. (Hg.): Interkulturalität. Zwischen Inszenierung und Archiv. Tübingen, S. 9-26. Willke, Helmut (2002): Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M.

Zu Schiffbrüchigen gewordene Utopien… Auflösungsprozesse der DDR in der Ambiguität ihrer Bilder: Lutz Seilers Inselroman Kruso Withold Bonner

ABSTRACT Islands, ships and water play an important role in literature from or about the GDR, including works written since the decline of the East German state. This is also the case with the island novel Kruso by Lutz Seiler. The article examines the obvious ambiguity of the field of images constituted by islands, ships and water, which are the background for the complete novel Kruso. One of its main characters is Kruso himself, who works as a dishwasher in the Klausner restaurant on the East German island of Hiddensee in the summer and fall of 1989. His main concern is a project aimed at saving the ›shipwrecked‹ who have fled illegally from mainland GDR to Hiddensee. They should find their inner freedom and return to the mainland instead of drowning in the Baltic Sea on their further flight to Denmark. The article shows that the character of this project is rather heterotopian than utopian. It is a counter-site in which the real sites that can be found within the culture of the GDR are simultaneously represented, contested and inverted (Foucault). It is the ambiguity of this heterotopian project that links Kruso to GDR authors such as Franz Fühmann or Christa Wolf. Furthermore, it explains the ambiguity of the field of images constituted by islands, ships and water, in which the island of Hiddensee seems to detach itself more and more from mainland GDR, while at the same time it increasingly resembles a ship of ghosts and the GDR as a whole. Keywords: Islands – Ships – Water – Heterotopia – GDR

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Die Geschichte hatte weitergearbeitet. Leute unserer Art, dachte Ellen, verweist sie in diesem Land auf Inseln. Und da müssen wir noch froh sein, wenn die uns bleiben. Nur daß wir keine Inselmenschen sind. (Ch. Wolf, Sommerstück, 1989) Wir bezwingen Ozeane mit’m gebrauchten Narrenschiff über uns lacht’ne goldene Fahne unter uns ein schwarzes Riff immer noch stampft die Dampfmaschine volle Kraft voraus immer noch gibt uns die Kantine kostenloses Essen aus S.O.S. lasst die Bordkapelle spielen S.O.S. einen Walzer mit Gefühlen S.O.S. fresst und sauft und sauft und fresst (Silly: S.O.S., 1989)

Inseln und der eng mit ihnen verbundene Topos des Schiffs sowie das beide umspülende Element des Wassers spielen eine wichtige Rolle in der Literatur aus der DDR bzw. über sie, nicht zuletzt nach deren Untergang. Als Beispiele seien hier nur genannt Fänger und Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo von Landolf Scherzer (1983), 1 Der Tangospieler von Christoph Hein (1989), 2 MER – Insel der Ordnung. Ein Testament von Reinhard Jirgl

1

Die Reportage von Scherzer, die die die Lebens- und Arbeitsbedingungen auf einem Fischfang- und Verarbeitungsschiff der DDR zum Thema hat, die innerhalb des RGW u.a. für Fischfang und -verarbeitung zuständig war, ist das sicherlich interessanteste Produkt einer ganzen Serie von Reportagen, die sich mit diesem Thema befassen. Vgl. hierzu ausführlich Bonner 2016.

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Wie sein später Nachfahre Edgar Bendler bei Lutz Seiler arbeitet bereits der Protagonist Christoph Heins als Saisonkraft im Klausner auf Hiddensee.

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(1988/2002), Die Insel von Matthias Wegehaupt (2005) und schließlich Kruso von Lutz Seiler (2014). 3 In Land und Meer unterscheidet Carl Schmitt zwischen terrestrischen und marinen Kulturen, wobei die Physiognomie von Kulturen zumindest teilweise durch den Zugang zu Wasser determiniert sei. 4 Dabei werde die historische Dynamik von solchen Gesellschaften bestimmt, die – wie es Schmitt insbesondere am Beispiel der englischen Seeherrschaft zeigt – eine Wasser- und Seekultur entwickelt haben (vgl. Schmitt 1981: 86-90). Da wir gewohnt sind, die DDR eher als eine statische terrestrische Gesellschaft zu begreifen, mag der obige Befund hinsichtlich der Bedeutung von Inseln, Schiffen und Wasser für die Literatur dieses Landes zunächst überraschen. 5 Im Folgenden soll daher anhand des Romans Kruso von Lutz Seiler genauer dem sich über den gesamten Text erstreckenden Bildfeld aus Inseln, Schiffen und Wasser nachgegangen werden, dabei insbesondere der offenkundigen Ambiguität dieses Metaphern- und Symbolfeldes. Doch zuvor soll kurz der Inhalt des Romans zusammengefasst werden.

ZUM INHALT DES ROMANS Im Sommer 1989 flieht der Germanistikstudent Edgar Bendler, genannt Ed, der ein Jahr zuvor seine Freundin durch einen tödlichen Verkehrsunfall verloren hat, auf die Insel Hiddensee, wo er im Abwasch des Restaurants Klausner Arbeit als Saisonkraft erhält. Dort schließt er sich insbesondere seinem deutschrussischen Kollegen Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, an, mit dem er sich zusehends

3

Ostheimer verweist darauf, dass sich außer den hier genannten noch eine ganze Reihe anderer Texte aus der DDR-Literatur mit Inseln und insbesondere Hiddensee befasst, so z.B. Menschen an unserer Seite von Eduard Claudius (1952) oder der in der DDR im Zusammenhang mit dem berüchtigten XI. Plenum des ZK der SED verbotene Roman Rummelplatz von Werner Bräunig, erschienen 2007 (vgl. Ostheimer 2016: 185187). Siehe aber auch die Trilogie der Ostseetagebücher von Hans Cibulka (1991).

4

Hartmut Böhme verweist auf den problematischen Hintergrund Schmitts als führender Staatstheoretiker zur Zeit des Nationalsozialismus. Wie Böhme zu Recht feststellt, könne man die anregenden Gedanken aus Schmitts Texten neu bedenken, solange man sich der ideologischen Vorbelastung bewusst ist (Böhme 1988: 32).

5

Wie sich zeigen wird, werden Schiffen und insbesondere Inseln häufig Bedeutungen zugeschrieben, die sie zu Symbolen für den Staat DDR werden lassen. In Bezug auf Schiffe lässt sich dies bereits dem Untertitel Fänger und Gefangene der Reportage von Scherzer wie auch dem eingangs zitierten Liedtext zu S.O.S. von Silly entnehmen.

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befreundet. Dieser verfolgt ein für Ed zunächst undurchschaubares Projekt, durch das die sich illegal auf Hiddensee aufhaltenden und mit Fluchtgedanken tragenden »Schiffbrüchigen« der Gesellschaft des ›real existierenden Sozialismus‹ mit Hilfe von Initiationsriten innerhalb weniger Tage zu einer Gemeinschaft von Menschen umgeformt werden sollen, die nicht mehr das tödliche Risiko der Republikflucht eingehen müssen, da sie laut Kruso jetzt mit einer inneren Freiheit versehen sind. Diese gestatte es ihnen, in ihr früheres Leben zurückzukehren, »bis zu dem Tag, an dem Quantität in Qualität umschlägt, an dem das Maß der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt« (K 175). 6 Dieses bereits im Sommer 1989 von den meisten »Schiffbrüchigen« eher notgedrungen unterstützte Projekt wird mit der Öffnung der ungarischen Grenze und schließlich mit dem Fall der Mauer endgültig obsolet. Von den Verhältnissen gezwungen, muss der inzwischen physisch und psychisch erkrankte Kruso die Verfolgung seiner Mission aufgeben. Als er von seinem Vater, einem sowjetischen General, in einer Apotheose auf einen Panzerkreuzer heimgeholt wird, verschließt Ed den Klausner und kehrt der Insel endgültig den Rücken. Im Epilog reist Edgar Bendler 1993 und erneut 2013 nach Kopenhagen, um dort in der Gerichtsmedizin nach Spuren von Sonja zu suchen, der wahrscheinlich auf der Flucht von Hiddensee umgekommenen Schwester Krusos. Stattdessen stößt er auf Unterlagen zu Speiche, dessen Platz im Abwasch des Klausner Ed nach dessen Verschwinden übernommen hatte.

INSELN, SCHIFFE, MEER Befasst man sich näher mit dem Bildfeld, das aus dem Dreieck von Inseln, Schiffen und Meer gebildet wird, so ergibt sich ein äußerst widersprüchliches Bild. Obwohl innerhalb der Grenzen der DDR gelegen, sei Hiddensee im Grunde schon exterritorial, eine Insel der Seligen, der Gescheiterten und Ausgestoßenen, wie Ed von ›Experten‹ erzählt wird (K 33). Es scheint eine Insel von mythischem Glanz zu sein, ein Eiland, das immer weiter ins offene Meer hinaustreibt (K 34). Hiddensee wird zum Vorhof des Verschwindens (K 81) und die Freiluftterrasse des Klausner zu einer Art Reservat, einem allerletzten Rückzugsgebiet am äußersten Rande des Landes (K 128). Wo bereits die Insel einem Schiff ähnelt, wird auch der Klausner immer wieder als Schiff gesehen und seine Mitarbeiter werden wiederholt als Besatzung

6

Verweise auf den Primärtext hier und im Folgenden unter der Sigle K.

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bezeichnet. Die Terrasse auf dem Hochufer wird für Ed zu einer Art Oberdeck. »Langsam löste sich das Schiff aus der Küste, langsam fuhr es hinaus, die Reise begann …« (K 133). Das Schrappen der Ventilatoren an der Decke versetzt den Klausner irgendwohin aufs offene Meer, »weiter noch, als er ohnehin schon von Land und Staat entfernt zu sein schien …« (K 87). Als Ed im Gedenken an frühere gemeinsame Wanderungen mit Kruso noch einmal über die Insel läuft, scheinen Insel und Meer, Land und Wasser in einem positiven Sinne eins zu sein (K 311). Zunächst vermittelt das Meer Hoffnung. Von Eds Fenster eröffnet sich der Blick auf das Meer, übermächtig und verheißungsvoll (K 53). Während für ihn jede andere Gegend versehrt und von Herrschaft angegraut zu sein scheint (K 381), ersterben das Festland und damit der Staat der DDR im immerwährenden Rauschen des Meeres (K 165). Meer und Wasser scheinen darüber hinaus das Medium der Dichtung zu sein. Während Kruso eines seiner Gedichte im Trakl-Stil vorträgt, rauscht vorsichtig und leise das Meer (K 222; vgl. auch K 143). Die »Esskaas«, die Saisonkräfte im Gastronomiebetrieb, die Schiffbrüchigen, die vom Land ausgespien worden waren, atmen anders, als hätte das Meer ihre Lungen geweitet und ihr Denken befreit (K 178). Einige von ihnen haben bereits etwas veröffentlicht; am Strand sprechen sie über die Möglichkeit neuer Werke, »als könnten sie nur vom Meer selbst hervorgebracht werden, nur vom Meer und nur an diesem Ort« (K 247). Doch gleichzeitig fällt im Widerspruch dazu Ed das Denken so nah am Meer schwer: »Man verlor seine Grenzen, man gab gern auf.« (K 146) Während auf der einen Seite das Meer die Materie der Verheißung zu sein scheint, während Land und Meer eins zu sein scheinen, findet auf der anderen Seite ein ständiger Kampf von Meer und Insel statt. Immer wieder werden durch Sturmfluten verursachte Küstenabbrüche erwähnt. So erinnert das Hochland des Dornbuschs an einen gestrandeten Wal, ein großes, langsam zerbröckelndes Tier, aus dessen Eiszeitleib die Sturmflut riesige Blöcke herausoperiert (K 115).Wie der Dornbusch an einen gestrandeten Wal, so erinnert der Klausner an einen gestrandeten Mississippiraddampfer, der vergeblich versucht hatte, das offene Meer zu erreichen (K 43). Inselland und Meer sind eben doch nicht eins. Es sind denn auch nicht Ratten, sondern Maulwürfe, die das sinkende Schiff des Klausner verlassen (K 186). Verheißung und Exterritorialität schlagen in Untergangsstimmung um, wenn die Insel zusehends an ein Totenschiff (K 187) bzw. ein Geisterschiff (K 407) gemahnt. Eds Zimmer im Klausner nimmt allmählich die Gestalt des Schiffbruchs an, wobei die Insel Hiddensee eine Metamorphose vom Vorhof der Freiheit zu einem Symbol für die gesamte dem Untergang geweihte DDR durchläuft. »Fremder und vertrauter Schiffbruch, Schiffbruch eines

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ganzen Landes.« (K 234) Schließlich liegt das Restaurant so still wie ein Schiff auf dem Meeresgrund (K 291). Das Meer, das einerseits verheißungsvoll wirkt, andererseits fortwährend die Insel angreift, ist gleichzeitig ein Meer des Todes. Wie Kruso meint, sollte das Meer auf den Landkarten schwarz oder rot gedruckt werden wegen der vielen Menschen, die bei ihren Fluchtversuchen über die Ostsee ihr Leben verloren haben (K 162f.). Ed wiederum hört am Meer die Seufzer der Toten, der auf der Flucht Erschossenen und Ertrunkenen (K 382); schließlich sieht er im Meer die Lichter der Toten, die dieses endlich freigibt (K 433). Statt zu einem öffnenden, verbindenden Element wird das Meer zu einer kaum überwindbaren Grenze. Die DDR-Patrouillen- und Torpedoboote, die am Festtag der Saisonkräfte demonstrativ den Horizont versperren, gleichen einer schwimmenden Mauer, einem Limes aus Stahl (K 269).

ZUR AMBIGUITÄT VON INSEL UND WASSER Doch wie soll eine derart widersprüchliche Konnotierung von Inseln, den damit verbundenen Schiffen und Meer verstanden werden? Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass für Deleuze die Insel in Robinson Crusoe von Daniel Defoe ein ebenso bedeutender Held ist wie Robinson selbst oder Friday. »It changes shape in the course of a series of divisions, no less than Robinson himself changes his form in the course of a series of metamorphoses.« (Deleuze 1990: 302). Diese Feststellung gilt nicht weniger für den Roman von Seiler und dessen Protagonisten Ed. Yi-Fu Tuan zufolge sind es wiederum vier natürliche Umgebungen, die eine prominente Rolle in den langlebigen Träumen der Menschheit von einer idealen Welt spielen. Dies sind der Wald, die Küste, das Tal und die Insel. Kombinationen wie z.B. die Inselküste werden dabei zu noch wirkungsmächtigeren Symbolfeldern und Bezugspunkten (vgl. Tuan 1990: 247). Sowohl in diesen Symbolfeldern wie auch in der konkreten, außerliterarischen Welt zeigt sich die Komplexität und Ambiguität der Insel, die zwischen Abschließung und Öffnung, Interiorität und Exteriorität, singulärer Beständigkeit und diasporischer Vielfalt oszilliert (vgl. Williams 2012: 215). Inseln sind daher hybrid, glokal, veränderlich, widerständig instabil sowie inhärent undefinierbar (vgl. Baldacchino 2008: 50). Weiterhin gilt es genauer auf eine spezifische Verbindung der von Tuan benannten natürlichen Umgebungen einzugehen, nämlich die Inselküste. Diese stellt eine in sich widersprüchliche liminale Zone dar, die sich an der Grenze bzw. dem Übergang von fest und trocken zu feucht und flüssig befindet. Damit

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ist das Paradox der Grenze verbunden, auf das de Certeau verweist: »[D]a sie durch Kontakte geschaffen werden, sind die Differenzpunkte zwischen zwei Körpern auch ihre Berührungspunkte. Verbindendes und Trennendes ist hier eins.« (Certeau 1988: 233) Ähnlich ambivalent wie die Insel und insbesondere deren Küste ist die Materie Wasser. Certeau spricht von der Zweideutigkeit der Brücke, mit der das Meer durchaus verglichen werden kann. »[M]al verbindet und mal trennt sie die einzelnen Inseln. Sie unterscheidet und sie bedroht sie. Sie befreit sie von ihrer Abgeschiedenheit und zerstört ihre Autonomie.« (Ebd.: 235) Bachelard zufolge ist es dessen dualer Imagination geschuldet, dass Wasser derart umfassend als Metapher bzw. Symbol für die verschiedensten kulturellen Prozesse genutzt wird (vgl. Bachelard 1991: 11). Ähnlich der Insel ist auch Wasser aufgrund seiner Ambiguität Element von ständigem Wandel und Metamorphose. »A being dedicated to water is a being in flux«, wie dieser feststellt (ebd.: 6). Für Judex ist Wasser ein bipolares Medium, das Begehren ebenso Ausdruck verleiht wie Furcht, dem Guten ebenso wie dem Bösen. Es ist Substanz des Lebens wie des Todes, es trennt und verbindet (vgl. Judex 2008: 195). Wasser ist Medium des Vergessens wie des Erinnerns. Da Assoziationen ähnlich dem Wasser fließen, nimmt das Unbewusste Gestalt in der Sprache des Wassers an. Wasser wird schließlich zur Metapher utopischer Befreiung und flüssiger Rede, es wird zum poetologischen Symbol schlechthin, zum Medium künstlerischer und ästhetischtheoretischer Selbstreflexion (ebd.: 196). Schreiben selbst wird zu einem Raum des Werdens, wo Bewegung und Fluidität zu einem Kunstwerk werden (Nabholz 2008: 166). Daher kann das dichterische Wagnis der abenteuerlichen Seefahrt gleichgesetzt werden. Gleich Seefahrern müssen Schriftsteller das sichere Ufer verlassen und sich den Gefahren des Unbekannten aussetzen (Judex 2008: 196).

KRUSOS PROJEKT: UTOPIE ODER HETEROTOPIE? Die Ambiguität von Insel, Grenze und Wasser eröffnet lediglich die Möglichkeit zu höchst widersprüchlicher Konnotation. Um deren konkrete Ausgestaltung im Roman von Seiler verstehen zu können, muss ein genauerer Blick auf das Projekt Krusos zur Rettung der »Schiffbrüchigen« geworfen werden. Dabei ist die bisherige Rezeption zu diesem Punkt mit zwei Problemen verbunden. Zum einen wird die literarische Figur des Kruso zu eng mit seinem teilweisen Vorbild in der außertextuellen Realität in eins gesetzt, zum anderen wird das von ihm verfolgte Projekt immer wieder als Utopie missverstanden.

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Das Vorbild für die Figur des Alexander Krusowitsch lieferte bekanntlich der 1947 geborene und im Jahr 2000 verstorbene Aljoscha Rompe, mit seiner Punkband Feeling B eine der zentralen Figuren des DDR-Undergrounds in den achtziger Jahren. In den siebziger Jahren wiederum hatte er als Kellner und Tellerwäscher in verschiedenen Bars und Restaurants auf Hiddensee gearbeitet, unter anderem im Klausner, wie über ein Jahrzehnt später auch Lutz Seiler selbst. Statt der direkten biografischen Ähnlichkeit, die nicht zuletzt durch das Alter Krusos nahegelegt wird, soll hier eine andere Linie verfolgt werden. Dabei soll deutlich werden, dass dieser in seinem Denken weit stärker als an Rompe an Vertreter einer bestimmten Generation von DDR-Autoren erinnert, für die exemplarisch Namen wie Franz Fühmann und Christa Wolf stehen sollen. Seine germanistische Diplomarbeit sollte Edgar zunächst über die Dichtung Georg Trakls schreiben. Er kennt eine große Zahl von Gedichten des österreichischen Expressionisten auswendig, während Kruso seinerseits Gedichte im Stil Trakls verfasst. Wie die anderen Expressionisten auch war dieser in der DDR lange Zeit verpönt. Der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde das Werk Trakls durch Franz Fühmann (1922-1984), der dem Dichter in seinem fulminanten autobiografischen Essay Vor Feuerschlünden (1982) mit Trakls Gedichten im Anhang ein Denkmal setzte und sich gleichzeitig selbstkritisch mit seinem eigenen problematischen Wandlungsprozess vom SA-Mann zum Antifaschisten und Sozialisten auseinandersetzte. Ein auffälliger Unterschied zwischen Kruso und dessen Vorbild Rompe besteht darin, dass ersterer Sohn eines sowjetischen Generals ist. 7 Fühmann wiederum hatte die Wandlung vom Saulus zum Paulus auf einer mit dem Ziel der Umerziehung eingerichteten sogenannten »Antifa-Schule« in sowjetischer Kriegsgefangenschaft durchlaufen. Noch in einem seiner letzten Interviews sollte er u.a. ausführen, dass bestimmte Positionen seines inneren Zensors wahrscheinlich unüberwindbar seien. So würde er nie etwas schreiben können mit einer negativen Aussage in Bezug auf die Rote Armee (vgl. Fühmann 1983: 382). Es war gerade die Generation von Autoren wie Franz Fühmann und Christa Wolf, deren zumindest anfängliches Engagement für die neue Ordnung in der DDR verbunden mit der gleichzeitigen Kritik am angeblich im Gegensatz zur DDR von Restbeständen des Nationalsozialismus kontaminierten westdeutschen Staat durch die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus motiviert war. Texte von Wolf und insbesondere von Fühmann sind weitgehend durch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhältnis zum Nationalsozialismus geprägt. Diese selbst verschriebene Rolle von Autoren dieser Generation wird im

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Rompe dagegen war Sohn eines Schweizers und erhielt 1980 die Schweizer Staatsbürgerschaft.

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Roman ironisierend aufgegriffen, wenn Ed, der Adlatus Krusos im Abwasch, beim Spülen unter einer Dreckkruste am Boden eines Stahlkännchens ein Hakenkreuz, »das verbotenste Zeichen der Welt«, freilegt. »Augenblicklich verstand Ed, welche Verantwortung auf ihnen, den Abwäschern« beim Kampf gegen die Relikte des Nationalsozialismus, beim Reinwaschen von dessen Spuren, lastete. »Es war kaum zu ertragen.« (K 233) Wo Autoren wie Fühmann und Wolf dem westdeutschen Teilstaat zusätzlich zu unzureichender Aufarbeitung des Nationalsozialismus eine übersteigerte Orientierung am Konsum vorwerfen, wartet Kruso nach der Öffnung der ungarischen Grenze ganz im Sinne der fiktiven Sendungen der Aktuellen Kamera in Goodbye Lenin auf Rückkehrer, die kommen würden, sobald sie die Täuschungen der Warenwelt erkannt hätten (K 359). Wenn es – wie eingangs zitiert – bei Christa Wolf in Sommerstück heißt, Leute wie ihre Protagonistin Ellen würden in diesem Land auf Inseln verwiesen, nur dass sie keine Inselmenschen seien (vgl. Wolf 1989: 188), so scheint Seiler dieses Zitat direkt aufzugreifen, allerdings nicht ohne ihm eine völlig andere Richtung zu geben, wobei die Insel zum Symbol für die DDR als Ganzes wird: Man war ein Inselmensch und würde ein Inselmensch bleiben. Es ging um die Verteidigung dieser seltenen, aber einmaligen Enklave vor den Anfechtungen der restlichen Welt mit ihren Irrungen und Wirrungen, ihren Bedrohungen und Verlockungen, ihrer ganzen Ansprüchlichkeit, Zudringlichkeit, ihrem grenzenlosen Appetit auf Inseln… (K 323). 8

Das zweite verwunderliche Moment an der Rezeption des Romans von Lutz Seiler ist die Charakterisierung von Krusos Projekt zur Rettung Schiffbrüchiger als soziale Utopie. 9 Doch während Utopien zutiefst irreale Räume sind, ist der Raum dieses Romans höchst real. Er ist lokal und temporal genau definiert: Hiddensee im Sommer und Herbst 1989. Foucault bezeichnet derartige Orte, die –

8

Wie Ostheimer feststellt, »zeigt sich das spezifische Verhältnis zwischen dem Georaum der DDR und Hiddensee als paradigmatischer Wechselbeziehung zwischen Insularität und Insel« (Ostheimer 2016: 181). Was für die Wechselbeziehung von Insel und Staat gilt, trifft auch auf die von Schiff und Staat zu.

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Als utopisches Vorhaben wird das Projekt Krusos insbesondere von Ullrich gesehen (vgl. Ullrich 2015: 55f.). Auch Zubarik verweist auf die enge Verbindung zwischen literarischen Entwürfen von Utopien und dem Topos der Insel, ohne dies dann genauer für Kruso zu prüfen (vgl. Zubarik 2015: 17f.). Zwar sieht Ostheimer die Insel Hiddensee als heterotope Lebenswelt in Bezug auf die übrige DDR, ohne dann aber weiter darauf einzugehen (vgl. Ostheimer 2016: 205).

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wie die Insel Hiddensee im Verhältnis zur restlichen DDR – außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen, als Heterotopien (vgl. Foucault 2006: 320). Weiterhin setzen Heterotopien ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie »isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht« (ebd.: 325). Ferner müssten Anwärter Eingangs- und Reinigungsrituale absolvieren. In der Tat konstituieren bereits die Insellage Hiddensees und die Fähre, die die Insel mit dem Festland verbindet und die bereits an Bord erfolgenden Grenzkontrollen ein solches System der Öffnung und Schließung. Zusätzlich werden von Kruso Initiationsriten veranlasst. Diejenigen, die in das auf drei bis vier Tage terminierte Projekt der Gemeinschaft der ›Eingeweihten‹ aufgenommen werden sollen, müssen sich einer Waschung unterziehen und von der »ewigen Suppe« essen, die aus den Essensresten des Klausner zusammengestellt wird und fortwährend vor sich hinköchelt. Kompensatorische Heterotopien, so Foucault, schaffen einen anderen realen Raum, »der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist« (ebd.: 326). Kruso zitierend erzählt eine der Schiffbrüchigen Ed, sie, eben die potentiellen Flüchtlinge und Schiffbrüchigen, bildeten die kleinste Zelle. »Das sei die erste und manchmal auch die einzige Möglichkeit, jedenfalls für den Anfang, die Möglichkeit unmittelbarer Gemeinschaft, die an Stelle der deformierten Verhältnisse tritt.« (K 240) Für Foucault sind Heterotopien Gegenräume, tatsächlich verwirklichte Utopien, »in denen die realen Orte, […] die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden.« (Foucault 2006: 320) Es ist genau dieser Widerspruch, der das Projekt Krusos prägt. Einerseits werden darin die realen Orte der Gesellschaft der DDR radikal in Frage gestellt. Zunächst will sein Projekt eine große Gemeinde der Eingeweihten schaffen, die auf der Insel zu sich selbst finden und als Erleuchtete auf das Festland zurückkehren, um dort weiterzuleben, bis die Quantität in die Qualität umschlage und die Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse übersteige (K 175). Allerdings entstammt die These vom Umschlag der Quantität in die Qualität bereits der marxistisch-dialektischen Diktion. Weiterhin besteht für Kruso die Freiheit in erster Linie aus Pflichten (K 342), was an die Engels’sche Formulierung aus dem Anti-Dühring (1877) gemahnt, derzufolge die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit sei. Auch Krusos Feststellung, dass sein Projekt einer gemeinsamen Sache diene, »die wir hier alle verfechten« (K 201), stellt die Behauptung von der Freiheit in den Herzen umgehend wieder in Frage. Schließlich erinnert die zentrale Vergabe von provisorischen Übernachtungsmöglichkeiten an die Schiffbrüchigen, die sich illegal auf der Insel aufhalten und sonst kein Dach über dem Kopf hätten, nicht von ungefähr an die zentrale Wohnraumvergabe, wie sie von den Wohnungsämtern in der DDR ge-

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handhabt wurde (ebd.). 10 So werden die realen Orte, wie man sie in der DDR vorfindet, in Krusos Projekt ebenso sehr repräsentiert, wie sie gleichzeitig in Frage gestellt werden. Das Schiff, so Foucault, ist die Heterotopie par excellence. In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, würden die Träume versiegen (F 327). Auf der Insel selbst gibt es keine Schiffe, lediglich erinnert das Restaurant des Klausner an einen gestrandeten Mississippiraddampfer, der vergeblich versucht hatte, das offene Meer zu erreichen. Das heterotopische Projekt Krusos zerbricht nicht erst an den sich zuspitzenden Verhältnissen, wenn die Öffnung der Grenzen die Transformation der Flucht nach außen in eine Flucht ins Innere obsolet macht. Das Projekt zerbricht bereits zuvor an seinen inneren Widersprüchen; daran, dass es in seinem Streben nach innerer Freiheit von Mitteln Gebrauch macht, die in der Alltagskultur der DDR gerade für den Entzug von Freiheit verantwortlich sind. Wo die Insel zunächst einem Schiff ähnelt, das immer weiter ins offene Meer und damit in die Freiheit hinaustreibt, gleicht sie gegen Ende des Romans immer mehr der DDR als Ganzem, eingeschlossen durch die Mauer wie eine Insel durch das Meer: »Man war ein Inselmensch und würde ein Inselmensch bleiben.« (K 323) 11 Die realen Schiffe hingegen, die die Insel umfahren, die Patrouillen- und Torpedoboote, bilden eine schwimmende Mauer, einen Limes aus Stahl, allerdings einen solchen, der nicht lange Bestand haben wird. In einem der beeindruckendsten Bilder des Romans werden von einem dieser Schiffe aus Flaggensignale gesendet, die von einem Mannschaftstransporter am Strand erwi-

10 Auf diese Widersprüchlichkeit des Krusoschen Projekts verweist auch Zubarik, wenn sie schreibt: »Paradox an Krusos groß angelegtem Versuch eines geheimen Hilfsnetzwerks unter den ›Esskaas‹ ist die Tatsache, dass zur erfolgreichen Umsetzung just jene Mittel eingesetzt werden müssen, die Kruso im sozialistischen System seines Landes vehement ablehnt: gegenseitige Kontrolle durch Gruppenzwang, Enteignung persönlicher Gegenstände oder Rückzugsbereiche, Eingriffe in das Intimleben, Vorenthalten von Informationen, Mystifizierung von anstehenden oder vergangenen Ereignissen, Praktizieren von Initiationsriten, zentrale Verteilung von Nahrungs- und Genussmitteln, Sozialisierung von Infrastruktur.« (Zubarik 2016: 130, ähnlich auch Zubarik 2015: 24) 11 Wie sehr die Insel schließlich für die gesamte DDR einzustehen hat, zeigt sich, wenn Ed und Kruso im Herbst 1989 den Klausner allein weiterführen, nachdem die anderen Mitarbeiter die Insel und das Land verlassen haben: »Gemeinsam ahmten sie den Klausner nach, letzte Hoffnung aller Freiheitssucher dieses Landes, ja, inzwischen vertraten sie das ganze alte Leben, hier oben auf der Küste, wo niemand mehr hinkam in diesem Herbst.« (K 376)

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dert werden. »Eine seltsame Melancholie erfüllte die Szene. Als würde man zufällig Zeuge des letzten Gesprächs der letzten Vertreter einer aussterbenden Art über den Untergang ihrer Welt.« (K 271) 12 Es ist die Ambiguität von Inseln, Grenzen und Wasser, was die Möglichkeit zu derart widersprüchlichen Konnotationen des Bildfeldes aus dem Dreieck von Inseln, Schiffen und Wasser ermöglicht. Doch es ist erst die Widersprüchlichkeit des Kruso’schen Projekts, was die Möglichkeit zur Ambiguität mit konkretem Inhalt füllt. Von daher scheinen einerseits Insel und Meer eins zu sein, der Klausner sich zusehends von Land und Staat zu entfernen, während andererseits Schiff und Insel zusehends an ein Geisterschiff erinnern, aus dem die Flut riesige Blöcke herausoperiert, und Eds Zimmer allmählich die Gestalt des Schiffbruchs annimmt.

WAS BLEIBT, SIND BILDER Wenn eine Person wie Kruso tatsächlich an die Autoren der Generation Christa Wolfs und Franz Fühmanns erinnert, wenn diese aus der Sicht des Autors Inselmenschen sind und bleiben würden, dann bedeutete die Verteidigung dieser seltenen, aber einmaligen Enklave vor den Anfechtungen der restlichen Welt mit ihren Irrungen und Wirrungen, ihren Bedrohungen und Verlockungen das Festhalten an der Utopie eines Sozialismus, der sich in der Vergangenheit des real existierenden Sozialismus allerdings nie realisiert hatte. Doch, mit den Worten von Slavoj Žižek, enthält die Vergangenheit »hidden, non-realized potentials, and the authentic future is the repetition/retrieval of this past, not of the past as it was, but of those elements in the past which the past itself, in its reality, betrayed« (Žižek 2008: 141). Wie seiner Kritik am heterotopischen Projekt Krusos zu entnehmen ist, glaubt Seiler, anders als die Vertreter einer früheren Autorengeneration, nicht an die versteckten, nicht-realisierten Potentiale der Vergangenheit. Doch trägt der Roman seine Kritik an dieser Auffassung nicht herablassend vor. So sehr auch diese Szene von Ironie getränkt ist, so erweist doch der Autor dem todkranken

12 Auch dieser Abgesang auf die DDR verweist auf Fühmann, und zwar auf dessen Reportage Kabelkran und Blauer Peter (1961), die den Aufbau der Volkswerft Travemünde und damit den Vorstoß der DDR auf die Weltmeere zum Thema hatte. Der Blaue Peter ist eine Signalflagge, die anzeigt, dass ein Schiff innerhalb der nächsten 24 Stunden auslaufen wird.

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Kruso seinen Respekt. Die 21 Schuss Salut, die vom sowjetischen Panzerkreuzer abgegeben werden, verhallen nicht ungehört. 13 Schließlich geht es in diesem derart von Politik getränkten Sommer und Herbst des Jahres 1989 nicht zuletzt auch um Poesie. Edgar Bendler, der lange Zeit treue Diener Krusos, dem das eigenständige Denken zunächst schwer fällt und für den die Gedichte Trakls zu Beginn des Romans lediglich das Material seiner Auswendigbestände darstellen, beginnt im Laufe seiner Monate auf der Insel gerade mit der Hilfe Krusos einen eigenen Ton, eine eigene poetische Sprache zu entwickeln. Während Ed einerseits im Gesicht des sowjetischen Generals das Krusos entdeckt (K 417), so erkennt er andererseits im Gesicht Krusos das Georg Trakls (K 420). Als Edgar Bendler Jahre später im Epilog des Romans nach Kopenhagen fährt, um dort in der Gerichtsmedizin eventuell auf Spuren von Sonja zu stoßen, der wahrscheinlich bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommenen Schwester Krusos, wird der entsprechende Bericht bereits von Edgar als Ich-Erzähler verfasst; er selbst ist Schriftsteller geworden. 14 Das verheißungsvolle Gleißen des Wassers täuscht letztlich doch nicht; das Wasser wird schließlich zur Metapher utopischer Befreiung und flüssiger Rede, es wird zum poetologischen Symbol schlechthin. »Ed begann zu begreifen, worum es gehen könnte, im Innersten seiner Bestände. Poesie war Widerstand.« (K 217) »Was bleibt, sind Bilder [.]«, stellt Christa Wolfs Protagonistin Ellen in einem Gespräch in Sommerstück fest (Wolf 1989: 203). Dies gilt nicht zuletzt auch für den Roman von Lutz Seiler und dessen Sprache. Es sind gerade die durch ih-

13 In Bezug auf MER von Reinhard Jirgl stellt Ostheimer Folgendes fest: »Hiddensee als randständiger Raum einer Insel-Idylle wird von Jirgl in seiner Funktion als Gegenbild zur staatssozialistischen DDR nicht nur entzaubert, sondern seinerseits zum räumlichen Paradigma für das Scheitern sozialrevolutionärer, vom Menschen als realisierbar gedachter Utopien erklärt.« (Ostheimer 2016: 200) Diese Feststellung lässt sich so auch für das Projekt Krusos treffen. Nur, dass dieses von Seiler, anders als von Jirgl, nicht als dystopisch charakterisiert wird. 14 Auch wenn es nicht Gegenstand dieses Beitrags ist, so sei hier doch auf Zubarik verwiesen, die die Lücke hervorhebt, die sich zwischen eigentlichem Roman und Epilog auftut: »[D]ie Hauptgeschichte schaut von der Küste des Verschwindens ins Nichts, der Epilog nimmt die Küste des Auftauchens in den Fokus; das Dazwischen bleibt dunkel und unerzählt. So wird das Meer zwischen den zwischen den Rändern der DDR und dem nichtsozialistischen Ausland auch in narrativer Hinsicht zur ›unsichtbaren Mauer‹, indem es erzählerisch nicht überquert, nicht durchschritten, nicht einmal überblickt werden kann und die eine Seite von Seilers Roman unverbunden der anderen gegenübersteht, getrennt durch zwei weiße Seiten.« (Zubarik 2016: 135f.)

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re Komplexität und innere Widersprüchlichkeit beeindruckenden Bilder, die die Paradoxie des Zufluchtsortes Hiddensee ebenso wie die einer ganzen Generation von Autoren der Insel DDR deutlich hervortreten lassen.

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»Instabile Texte« Poesie und Poetik migratorischer Text-Bild-Transformationen Beate Laudenberg

ABSTRACT Contemporary literature is characterized by interlingual and intermedial transformations. The article cites specific examples of transcultural literature to highlight the relevance of media crossover. Letter-image combinations perpetuate the tradition of pattern poetry. The tendency to visualize is reflected by the author’s poetic statements. Keywords: Interlingual transformation – Intermedial transformation – Letterimage combination – Poetics – Transcultural literature

Wenn der Verfasser einer deutschen Grammatik in deren Titel hervorhebt, dass »Sprache in Bewegung« (Genzmer 1998) ist, unterstreicht er damit Alltagserfahrungen, die wir wohl am häufigsten in Form lexikalischer Veränderungen wahrnehmen: Neue Wörter wandern in unseren Wortschatz ein, andere, meist veraltete, aus. Sprache ästhetisch in Bewegung zu bringen, sehen Schriftsteller·innen als ihre ureigenste Aufgabe an. Sie experimentieren zwar nicht erst seit gut hundert Jahren infolge der technischen Entwicklungen mit Sprache und Schrift, doch was im 20. Jahrhundert mit der durch die Sprachkrise ausgelösten expressionistischen, surrealistischen und dadaistischen Sprachzertrümmerung begann, führte über die visuelle bzw. konkrete Poesie zu einer »Ikonisierung der Sprache« (Faust 1977: 10). Mit lesbares in unlesbares übersetzen (1963) schuf der Dramaturg und konkrete Poet Claus Bremer eines der berühmtesten frühen Beispiele, dessen Abdruck in einer späteren Ausgabe ›kommentierter Poesie‹ Bremer veranlasste, seine Absicht, wie folgt, zu erläutern:

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Ich übersetze den Text von rechts nach links, Wort fuer Wort, setze ihn uebereinander, bis er unlesbar ist. Je mehr sich das Lesbare verdeckt, desto mehr entdeckt sich der Leser. 1 (Bremer 1970: 25)

Die Zeilen setzen einen in der Semantik der gewählten Wörter sich widerspiegelnden Prozess in Gang, der einerseits auf die Machart, das Konstruierte hinweist, andererseits die Lesenden auf sich selbst zurück verweisen soll. Die im Folgenden der Gegenwartsliteratur entnommenen Beispiele stehen zwar durchaus in der Tradition der konkreten Poesie; sie lassen sich aber nicht darauf reduzieren, sondern gehen über die Abbildfunktion hinaus. Dadurch erzeugen viele dieser Texte, insbesondere die durch, in oder über Migration entstandenen, ein Bedürfnis, das seit Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Einführung von PoetikProfessuren und -Dozenturen einen eigenen Ort erhalten hat. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung multikultureller und -lingualer Schreibweisen wurden sogar entsprechend ausgewiesene Vorlesungsreihen ausgebracht, zunächst an der Universität Dresden als Chamisso-Poetikdozentur (2001-2011), dann an der Universität Hamburg als Gastprofessur für Interkulturelle Poetik (2011-2016). Zugunsten der Berücksichtigung von poetologischen Aussagen einzelner Autor·innen verzichte ich hier auf eine detaillierte historische Einbettung des Phänomens. Denn die Fülle an Untersuchungen zur sprachlichen Ikonisierung steht in keinem Verhältnis zur geringfügigen germanistischen Würdigung der Autor·innen-Poetik, obwohl seit der Einführung der Frankfurter Poetik-Vorlesung im Wintersemester 1959/60 die Zahl derartiger Professuren und -Dozenturen kaum noch zu überschauen ist und nicht wenige Schriftsteller·innen mittlerweile mehrmals Vorlesungen an unterschiedlichen Hochschulen halten. Seine Frankfurter Poetik-Vorlesung im Wintersemester 1989/90 widmete Günter Grass dem »Schreiben nach Auschwitz«. Neun Jahre später überschrieb er seine Tübinger Poetik-Vorlesung mit »Wort und Bild«. Darin betont Grass, dass seine »Wechselspiele zwischen Schreiben und Zeichnen« keine Illustrationen, sondern die »Fortsetzung der Lyrik mit dem Zeichenstift« seien (Wertheimer 1999: 30). In der Publikation dieser Vorlesung findet sich dazu mit der 1974 entstandenen Tuschezeichnung Bei Kochfisch Agnes erinnert ein frühes Beispiel (s. Abb. 1).

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Aus lizenztechnischen Gründen wird hier auf die Abbildung verzichtet und auf den Abdruck des Gedichts (ohne den Kommentar) in der von Eugen Gomringer betreuten Anthologie »konkrete poesie« (1972: 29) im Reclam Verlag, derzeit in der 15. erw. u. aktual. Aufl. (2018) verfügbar, verwiesen.

»Instabile Texte« | 333

Abb. 1: Bei Kochfisch Agnes erinnert

Quelle: Grass 1974, aus Wertheimer 1999: 132

Bereits in einem poetologischen Text von 1979 beantwortet Grass die Frage, ob er nun Schreiber oder Zeichner sei, mit folgender Definition: »Ein schreibender Zeichner ist jemand, der die Tinte nicht wechselt.« (Ebd.: 18) Das gilt auch für die in Budapest geborene, sich selbst als österreichisch-deutsch-schweizerisch bezeichnende Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse, die beispielsweise ihrer 2005 veröffentlichten Sammlung poetischer Miniaturen sechs Textzeichnungen beifügt.

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Abb. 2: Beispiel einer Textzeichnung

Quelle: Gahse 2005: 44

Wie die anderen besteht der mit »Für« überschriebene Text aus kurzen, jeweils deutlich durch zwei Leerzeilen voneinander getrennte Absätzen, die – Wege und Fahrten von Widen nach Zolfingen assoziierend – zwischen einer einzigen und 19 Zeilen umfassen. Da die Textzeichnung (s. Abb. 2) nicht in den Fließtext integriert ist, erscheint sie als illustratorische Beigabe, die folgende Textstelle unter Verwendung von deren Worten visualisiert: […] mir die Bäume vor die Füße, trotzdem wurde ich verschont und lebe noch, und gleich am nächsten Tag fuhr ich wieder nach Norden hinauf, wieder mit diesem Gefühl, ah, ah, das Wasser, per Aristau und an Aristau vorbei, jetzt, in diesem Augenblick das Wasser, nämlich das, was gegenwärtig vorbeifließt, (Gahse 2005: 43)

Gahse bezeichnet diese Texte sowie die Textzeichnungen als »instabile Texte«; sie dürfen als beispielhafte Antworten gelten auf die Frage »Wie geht es dem Text?«, mit der die Autorin im Sommersemester 1996 nicht nur die dritte ihrer vier Bamberger Poetik-Vorlesungen, sondern auch deren Veröffentlichung (1997) überschrieb. Unter weiteren Belegen dafür, dass die konkrete Poesie à la

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Claus Bremer in die (poetische) Prosa gewandert ist, ist der 2016 erschienene Erstling »Willkommen und/Abschied« des Österreichers Carlos Peter Reinelt, damals noch Student, eines der markantesten Beispiele. 2 Abb. 3/4: Willkommen und/Abschied

Quelle: links Reinelt 2016: [7] © Wallstein Verl., Göttingen, rechts Reinelt 2016: [18] © Wallstein Verl., Göttingen

Der Titel von Goethes berühmtem Sesenheimer Lied wird nicht nur – mit einem Umbruch nach der Konjunktion (»Willkommen und/Abschied«) – übernommen, sondern auch als Rahmen um den inneren Monolog des Protagonisten gesetzt. Die altertümelnd in Fraktur zigfach wiederholten Titelwörter scheinen dessen Erfahrungen zu spiegeln: Nach seiner Flucht aus Syrien über das Mittelmeer (»Abschied«) hofft er nun in einem (ebenfalls durch die Rahmung visualisierten) Transporter mit etwa 60 weiteren Personen auf ein »Willkommen in Österreich« (Reinelt 2016: [18]). Doch bereits auf der ersten von insgesamt 20 unpaginierten Seiten lässt die Leerstelle im Rahmen (oben rechts) einen anderen »Abschied« – das Wort bildet durch den Umbruch in der 1. Zeile links den Anfang der Einfas-

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Auslöser der Darstellung dürfte ein Ereignis aus dem Jahre 2015 gewesen sein: In Österreich wurde ein LKW mit 71 Flüchtlingen gestoppt, die kurz nach der Abfahrt in Ungarn erstickt waren.

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sung – erahnen. Während der Rahmen mit der Lücke, als Visualisierung der europäischen Kultur, unverändert und hell bleibt, verdunkelt sich der Innenraum zunehmend (s. Abb. 3 und 4). Die wechselnden Befindlichkeiten und traumatischen Erfahrungen, die der junge Syrer verbalisiert, werden durch die Verwendung von Groß- bzw. Kleinschreibung und Interpunktion sowie durch die Variation der Schriftgröße auch optisch markiert – wenngleich ebenso wenig konsequent wie der Sprach- (und Schrift-) Wechsel vom Deutschen ins Arabische gegen Ende des Textes. Dieser wird durch die zunehmende Schwärze, die den Mangel an Sauerstoff und damit das Schwinden des Bewusstseins (das Ende des stream of consciousness) visualisiert, kaum mehr lesbar: Auch den Lesenden wird angesichts des Erstickungstods des Protagonisten schwarz vor Augen. Dazu bedarf es zwar kaum eines poetologischen Kommentars, Reinelt impliziert allerdings mit dem intertextuellen framing auch einen solchen Bezug zu Goethe. Einer Maxime des Klassikers zufolge sind Wort und Bild Korrelate, »die sich immerfort suchen, […] was dem Ohr nach innen gesagt oder gesungen war, sollte dem Auge gleichfalls entgegenkommen.« (Goethe 1989: 493) Der Rekurs auf Goethe ist in dem hier diskutierten Zusammenhang im Besonderen, aber auch der Migrationsliteratur im Allgemeinen (vgl. Laudenberg 2016: 115-126) ebenso auffällig wie die Bezüge – häufig hervorgehoben durch entsprechende Widmungen – zu Autor·innen der konkreten Poesie. Unter dem Titel »dorfidylle heimattduft« streut José F.A. Oliver (1989: 15) in die Unterhaltung beim Einkauf in einer Dorfmetzgerei Zitate aus Goethes »Faust«-Drama ein: […] ha jo! e bißle Goethe, bittscheee! Habe nun ach Philosophie Juristerei und de Dokter mocht ’r, ei ei ei wie schee, wie schee, Lideradur derf’s sunsch no ebbissi usserem Schinke pur Medizin und leider auch Theologie […]

Die Markierung durch den Kursivdruck hebt die dialektal-alemannischen Verse als Teile der mündlichen Rede hervor, deren Forderung nach »e bißle Goethe« mit den Zitaten Fausts entsprochen wird (zu deren Funktion vgl. Laudenberg 2016: 116f.). Dieses Gedicht, das mit der referierten Aussage »deutsch sein […] heißt goethe in sich zu spüren« endet, ist nicht nur aufgrund dieses Traditionsbe-

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zugs, sondern auch aufgrund seines Titels »dorfidylle heimattduft« paradigmatisch für die frühen Gedichte Olivers. Wie sich der 1961 im Schwarzwald geborene Dichter mit andalusischem Migrationshintergrund darin mit dem Heimatbegriff auseinandersetzt, signalisiert die Schreibweise des Wortes, die im Titel des Gedichtbandes »HEIMATT und andere FOSSILE TRÄUME« (1989) durch Majuskeln nochmals hervorgehoben, worauf zusammen mit dem Zusatz für die 2015 erschienene Auswahl allerdings verzichtet wird. Der von Ilija Trojanow besorgten Sammlung »Heimatt« ist ein Gespräch mit dem Herausgeber aus demselben Jahr beigefügt, in dem Oliver die Schreibweise erläutert: »[ich] sehe mich einem Heimatbegriff gegenüber, der nicht meiner ist, aber der tradiert schien in diesem Land, den setze ich für mich schachmatt.« (Trojanow 2015: 87) Zu den (ortho-)graphischen Veränderungen in seinen ersten Gedichtbänden, die er (mit Trojanow) im Rückblick als Trilogie verstanden wissen will, gehört auch der Aufbruch sprachlicher Einheiten, der sich bereits in den Titeln der beiden anderen Bände ankündigt und im ersten durch den Bindestrich, im letzten durch das Spatium zwischen Nomen und Prädikat visualisiert: »Auf-Bruch« (1987) und »Weil ich dieses Land liebe« (1991), auf dessen Cover durch den Umbruch ins Bild gesetzt (s. Abb. 5). Diese Lücke ist, so Oliver gegenüber Trojanow, inspiriert von Hilde Domins Credo, dass das Geheimnis eines Gedichtes ausgespannt sei zwischen Wort und Nichtwort. Dieses Diktum hatte ich mir damals so vorgestellt: Das Schwarze ist das Wort, das Weiße das Nichtwort. Und dann habe ich dieses Weiße eingefügt zwischen Land und liebe. (Trojanow 2015, 87)

Abb. 5: Cover

Quelle: Oliver 1991

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Aus den folgenden Zeilen des letzten Teils der Trilogie erklärt sich die Bindestrich-Schreibung des ersten Titels; wer aufbricht und einen eigenen Weg einschlagen resp. eine offene Sprache finden will, muss mit Altem bzw. Vorhandenem (zumindest teilweise) brechen. Aus den elenden Identitätsbeziehungen auf-gebrochen, schaffen wir unsere offene Sprache, um das Fremde im Innern zu benennen und finden dadurch unseren Wohnort im Sinnbild der Fremde selbst, zwischen den Stühlen als Möglichkeit in BeWEGung zu bleiben. (Oliver 1991: 51)

José Oliver betont auch in dem bereits genannten Gespräch, dass »es noch mindestens eine weitere Wirklichkeit, eine anderssprachige Weltwahrnehmung [gibt], die [nicht nur er allein] in dieses Land einbrachte« (Trojanow 2015: 87). Über die Inhalte geraten auch bei vielen anderen Schriftsteller·innen die Wörter bzw. deren Buchstaben in Bewegung. Folgende Zeilen aus Zehra Çiraks Gedicht »Länderkunde« mögen hier als weiteres Beispiel aus den 1990er Jahren anzeigen, dass zu dieser Zeit in der deutschsprachigen Lyrik nicht nur formal, sondern auch inhaltlich eine neue, insbesondere von Menschen mit Einwanderungsbiographie geprägte Epoche begann (vgl. Laudenberg 2004). Ein Wanderer ein Wand er er ein Wander er Einwand erer Einwander er Einwanderer Ein – W Anderer (Çirak 1998: 26)

Wenn Wörter auf diese Weise aufbrechen und Texte gewissermaßen instabil werden, hat das entgegen der eher negativen Konnotationen der Bezeichnungen positive Effekte. Solche Texte werden nicht nur optisch reicher, sondern auch semantisch vielfältiger. In Anbindung an visuell-konkrete Poesie setzen sie »Lesen und Betrachten in ein fruchtbares Spannungsverhältnis« (Weiss 1982: 171),

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gehen aber über diese hinaus, da die reichere Rezeptionswahrnehmung den semantischen Informationsmangel der Texte nicht kompensieren muss (vgl. ebd.). Im Gegenteil, instabile Texte potenzieren Bedeutungsräume, wie sie José Oliver beispielsweise mit der Öffnung der Wörter durch den Doppelpunkt erfahrbar macht. Über seine Gedichte hinaus trägt er dieses Potenzial zuweilen auch in die Titel seines »Hausacher LeseLenzes« hinein (z.B. »ur:sprünge«, LeseLenz 2016) und bekennt dazu in einem »Kurze[n] Brief aus der W:ortenau« 3: So schreibe ich denn Br:echt und reiche mit dieser Interpunktion, nicht ganz absichtslos, eine poetisch-biographische Schneise in die Fragen der so genannten Nachgeborenen. […] Ein Doppelpunkt – auch im Wort selber – lässt einen wundersam innehalten und schauen und nicht wenig staunen. (Oliver 1999: 55f.)

Ins Staunen gerät man erst recht bei der offenen Sprache Yoko Tawadas, die hier abschließend nur kurz dargestellt wird, da das umfangreiche Werk der japanischdeutschen Schriftstellerin philologisch mannigfaltig untersucht ist. 4 Zudem hatte sie bereits mehrere Poetik-Professuren in In- und Ausland inne, von denen die Tübinger (1998) und die Hamburger (2012) veröffentlicht sind. Im Vorwort ihrer Tübinger Poetik-Vorlesungen, die den Titel »Verwandlungen« tragen, hebt Tawada hervor, dass »die Körperlichkeit eines Textes im Vordergrund [stehe] und nicht etwa die Bedeutung« (Tawada 1998: 7). Darin unterscheidet sie sich von den bereits Dargestellten; insbesondere José Oliver kommt es bei aller Vorliebe für »verbal-visuelle Formen« in der Tradition von Paul Celan und Friederike Mayröcker auf die Inhalte an, wie er im Gespräch mit Ilija Trojanow betont (vgl. Trojanow 2015: 89). Wo Oliver durch die Verwendung eines Doppelpunktes wortimmanente Wörter sichtbar macht und semantisch aufscheinen lässt, spielt Tawada nicht nur mit Schreibweisen (s. z.B. »Überseezungen« 2002), sondern stellt insbesondere sprachliche Überlegungen an wie die folgende mit »Gesicht eines Fisches« überschriebene: »Als ich inmitten des Wortes Gesicht das Wort ich entdeckte, kam ich auf die Idee, dass das Gesicht die Perfektform des Verbs ich sein könnte: ›Ich habe es gesicht.‹« (Tawada 1998: 50) Die Autorin verbindet die visuelle (zuweilen auch die akustische) Wahrnehmung der Sprache mit einer spielerischen Freude. Ihr »Blick bleibt bei den einzelnen Buchstaben stehen, als wären sie Gemälde. […] Die Wörter vergessen ihre Bedeutungen in einer Bild-

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Hausach, wo Oliver lebt, liegt im Ortenaukreis.

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Yoko Tawada war auf der GiG-Tagung »Europa im Übergang« bzw. in deren Abstracts die am häufigsten genannte Autorin, selbst das Grußwort des Präsidenten der Europa-Universität Flensburg zitierte Tawada.

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lichkeit, sie verwandeln sich in Farben und Formen.« (Ebd.: 26) Dies demonstriert sie beispielweise in dem Text »Das Tor des Übersetzers oder Celan liest Japanisch«: Abb. 6: Das Tor des Übersetzers

Quelle: Tawada 1996: 133

Hier werden nun nicht nur verschiedene Sprachen, sondern auch unterschiedliche Schriftsysteme ins Spiel gebracht, ebenfalls ein von vielen mehrsprachigen Autor·innen praktiziertes Verfahren, mit dem Oliver unter anderem seine konsequente Kleinschreibung begründet: ihm sei im Deutschen »die spanische Sprache in die Schreib-Quere« gekommen (Trojanow 2015: 86). Tawada hebt dagegen den Prozess der Verwandlung hervor, der insbesondere bei Übersetzungen relevant werde: »Die Übersetzung ist nicht Abbild des Originals, sondern in ihr bekommt eine Bedeutung des Originals einen neuen Körper (in diesem Fall [Celans] nicht einen Klangkörper, sondern einen Schriftkörper)« (Tawada 1996: 133). Was Yoko Tawada selbst am Beispiel Paul Celans (s.o.), was Christine Ivanovic (2010) an Tawadas Transformationen Walter Benjamins aufzeigt, gilt auch für den Umgang der Autorin mit Werken Ernst Jandls: »Verwandlung ist für Tawada literarischer Gegenstand und signifikanter Effekt von Lektüre.« (Ivanovic 2010: 190) Während Tawada 2007 zunächst den titelgebenden Text »Sprachpolizei und Spielpolyglotte« dem österreichischen Lyriker widmet und sieben seiner Gedichte poetisch-essayistisch befragt, 5 mündet ihre Lektüre von Texten Jandls drei Jahre später in Gedichten wie dem folgenden: 5

So z.B. zu Jandls »nur nur«, einem Gedicht bestehend aus der zweispaltigen Wiederholung des Adverbs: »Was sieht man, wenn man den Reißverschluss öffnet?« (Tawada 2007: 34).

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Abb. 7: TIK

Quelle: Tawada 2010: 51

Tawada ist zwar bei weitem nicht die einzige, die mit dieser Konstellation Jandls Aufforderung folgt, seine Fragment-Gedichte fortzuschreiben, aber die einzige, die dies zweisprachig visuell unternimmt: Während die Ideogramme des Rhombus ihren Erläuterungen zufolge die Form des Buchstabens t enthalten und im Japanischen Taktik und Uhr bedeuten, übersetzen die Ideogramme im zweiten Teil die suffixlos wiedergegebenen Nomen (zit. nach Stuckatz 2016: 318). Auch

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solche »poetischen Expansionen« 6 basieren auf instabilen Prätexten und eröffnen auf diese Weise eine Form von Transkulturalität, die sich nicht nur auf die Wechseldurchdringung verschiedener Sprachen und Kulturen, sondern auch auf die Intermedialität von Wort-Schrift-Text und Tanz und Musik etc., bzw. von Sprache und Körperlichkeit/Sinnlichkeit (Laut, Klang, Rhythmus etc.) bezieht (Mae 2010: 382).

Kann hier schon abgesehen vom Schriftkörper der in »TIK« erzeugte Klangkörper nicht berücksichtigt werden, sei wenigstens auf die große verlegerische Sorgfalt hingewiesen, durch die Tawadas Publikationen im konkursbuch-Verlag auch über den Peritext zusätzlich Visualität entfalten. Bereits in der Publikation des ersten auf Deutsch entstandenen Textes »Wo Europa anfängt« (1991) wird die Lektüre »durch transparente Seiten [geführt], die nach und nach ein Bild enthüllen und wieder verschwinden lassen« (Gehrke 2012, 220). Was mit Genzmers eingangs zitierter Feststellung für die Grammatik gilt, trifft erst recht auf die Literatur zu: Auch poetische Sprache ist – bis in ihre kleinsten Bestandteile hinein – in Bewegung und dies sowohl in multimedialer als auch multilingualer Hinsicht: In José Olivers Worten ist es »nicht die Wandersprache und die Wanderung, sondern die Änderung, die sie auslöst: die W:andersprache oder die W:orte. Eine Sprache, die sich aus meinen zwei Kulturen begegnet.« (Trojanow 2015, 88) Und was bestenfalls entsteht, ist kein interkulturelles »Dazwischen, sondern ein hochdynamischer Bewegungs-Raum« (Ette 2010: 222). Welch hohes Potenzial solche Textgebilde, aber auch die poetologischen Statements der Autor·innen in didaktischen Zusammenhängen entwickeln könnten (würden sie denn berücksichtigt), kann ermessen, wer bereits mit klassischer konkreter Poesie in Lehr-/Lernsettings gearbeitet hat; zumal diese in großer Zahl in Lehrwerken, sowohl für den Deutschunterricht als auch für Deutsch als Fremdsprache, vertreten sind.

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Unter diesem Titel präsentierte das Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe 2017 eine Serie ausgewählter poet·olog·ischer Positionen von Heißenbüttel, Rühm u.a., um zu zeigen, dass entscheidende Impulse für die Erweiterung der künstlerischen Medien im 20. Jahrhundert aus der Literatur kamen (vgl. https://zkm.de/de/event/2017/04/ poetische-expansionen-i).

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LITERATUR Bremer, Claus (1970): Anlässe. Kommentierte Poesie 1949 bis 1969. Neuwied. Çirak, Zehra (1998): Länderkunde. In: Irene Ferchl (Hg.): Viele Kulturen, eine Sprache. Chamissos Enkel zu Gast in Stuttgart. Stuttgart, S. 26. Ette, Ottmar (2010): Zeichenreiche. Insel-Texte und Text-Inseln bei Roland Barthes und Tawada Yoko. In: Christine Ivanovic (Hg.): Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk. Tübingen, S. 207-230. Faust, Wolfgang Max (1977): Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder Vom Anfang der Kunst im Ende der Künste. München. Gahse, Zsuzsanna (2005): Wie geht es dem Text? – Bamberger PoetikVorlesungen (1997). Wien. Gahse, Zsuzsanna (2005): Instabile Texte, zu zweit. Mit 6 Textzeichnungen der Autorin. Wien. Gehrke, Claudia (2012): Die Lust am Blättern oder Zwischen den Zeilen. In: Michael Baum/Beate Laudenberg (Hg.): Illustration und Paratext (= Jahrbuch Medien im Deutschunterricht 2011). München, S. 211-222. Genzmer, Herbert (1998): Sprache in Bewegung. Eine deutsche Grammatik. Berlin. Grass, Günter (1999): Wort und Bild. Tübinger Poetik Vorlesung & Materialien. Hg. u. zus.-gest. v. Jürgen Wertheimer. Tübingen Goethe, Johann Wolfgang von (1989): Maximen und Reflexionen. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Erich Trunz. 14 Bde., Bd. 12. München. Ivanovic, Christine (2010): Exophonie und Kulturanalyse. Tawadas Transformationen Benjamins. In: Dies. (Hg.): Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk. Tübingen, S. 160-180. Laudenberg, Beate (2004): Literarische ›Länderkunde‹ – der unbemerkte Aufbruch in der deutschsprachigen Migrantenlyrik der 90er Jahre. In: Manfred Durzak/Nilüfer Kuruyazici (Hg.): Die ›andere‹ deutsche Literatur. Würzburg, S. 140-147. Laudenberg, Beate (2016): Inter-, Trans- und Synkulturalität deutschsprachiger Migrationsliteratur und ihre Didaktik. München. LeseLenz (2016) http://leselenz.eu/archiv/ [Stand: 8.5.2018]. Mae, Michiko (2010): Tawada Yokos Literatur als transkulturelle und intermediale Transformation. In: Christine Ivanovic (Hg.): Yoko Tawada. Poetik der Transformation. Beiträge zum Gesamtwerk. Tübingen, S. 369-384. Oliver, José F.A. (1987): Auf-Bruch. Lyrik. Das Arabische Buch. Berlin. Oliver, José F.A. (1989): HEIMATT und andere FOSSILE TRÄUME. Berlin.

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Oliver, José F.A. (1991): Weil ich dieses Land liebe. Lyrik. Das Arabische Buch. Berlin. Oliver, José F.A. (1999): Kurzer Brief aus der W:ortenau. In: Ders.: Fremdenzimmer: Essays. Frankfurt a. M. Reinelt, Carlos Peter (2016): Willkommen und Abschied. Göttingen. Stuckatz, Katja (2016): Ernst Jandl und die internationale Avantgarde. Über einen Beitrag zur modernen Weltdichtung. Berlin/Boston. Tawada, Yoko (1996): Talisman. Tübingen. Tawada, Yoko (1998): Verwandlungen. Tübingen. Tawada, Yoko (2007): Sprachpolizei und Spielpolyglotte. Tübingen. Tawada, Yoko (2010): Abenteuer der deutschen Grammatik. Tübingen. Trojanow, Ilija (Hg.) (2015): Heimatt: frühe Gedichte von José F.A. Oliver. Berlin/Tübingen. Weiss, Christina (1982): Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten. Saarbrücken.

Literarische Grenzbewegungen Zu den »Autogeographien« Katja Petrowskajas und Juri Andruchowytschs Sabine Egger

ABSTRACT * In an interview in 2014 Katja Petrowskaja described her book Vielleicht Esther, published in the same year, as a non-literary piece of writing. However, I would argue it should rather be read as a poetic autobiography, because the historical and memory spaces in it only constitute themselves by means of a particular poetics. Borderlines between reality and imagination, historiography and subjective memory, national historical narratives, and various narratives of political and cultural belonging are put into motion by employing topoi of travel literature within an aesthetics of association and distortion. This also applies to Juri Andruchowytsch’s »Mittelöstliches Memento« (2004) und Kleines Lexikon intimer Städte (2016). In my contribution, I aim to show how borders are temporarily moved in the texts discussed, and in this process questioned and subverted, while the travelling subject locates her- or himself in the European past and present. How do the texts discussed construct a multicultural, democratic Europe which defines itself through a hermeneutics of borders and their transgression? How can this aesthetics be described by terms such as transgression, transdifference or similarity? Keywords: Transgression – transdifference – similarity – autobiography – geopoetics – Europe

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Der Beitrag basiert in Teilen auf einem Vortrag, der im Rahmen der KAS-Tagung »Europa im Wandel – Literatur, Werte und Europäische Identität«, 6.-9. Juni 2017, in Lemberg/Lwiw gehalten wurde.

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1. EINLEITENDES Katja Petrowskajas Vielleicht Esther (2014) lässt sich als eine poetische Autobiographie lesen. Während die Autorin ihr Buch selbst ausdrücklich von »Literatur« abgrenzt, 1 ist die poetische Form für die darin entworfenen Geschichts- und Erinnerungsräume grundlegend. Durch eine Ästhetik, die mit Assoziation und skurrilen Verzerrungen arbeitet, wie auch dem Topos der Reise, werden Grenzen zwischen Realität und Imagination, Historiographie und subjektiven Erinnerungsräumen, nationalen Geschichtserzählungen, politischen und kulturellen Diskursen und Zugehörigkeiten in Bewegung gebracht. In Juri Andruchowytschs 2004 auf Deutsch erschienenem »Mittelöstliche[n] Memento« und seinem Kleine[n] Lexikon intimer Städte (2016) lassen sich ähnliche Bewegungen feststellen. In meinem Beitrag will ich zeigen, wie Grenzen in den besprochenen Texten in Bewegung gebracht, dabei momentweise verkehrt oder in Frage gestellt werden und sich das schreibende Ich damit in der Gegenwart und Geschichte Europas verortet. Inwiefern entwerfen die Texte damit ein multikulturelles, demokratisches Europa, das sich selbst durch bestimmte Werte wie auch eine Hermeneutik der Grenzüberschreitung und Grenzziehung definiert, 2 ein Europa, in dem Literatur auf öffentliche Diskurse Bezug nimmt, am eigenen Einfluss festhält, aber diesen Anspruch zugleich ins Absurde führt? Inwiefern kann dies mit Begriffen wie Transgression (Foucault [1963] 1974), Transdifferenz (Breinig 2003; Lösch 2005) 3 oder Ähnlichkeit (Bhatti 2014) beschrieben werden? 1.1 »Autogeographie« In den genannten autobiographischen 4 Texten Petrowskajas und Andruchowytschs wird die eigene Biographie und Familiengeschichte durch die Bewegung der auf sich als Autor-Ich verweisenden Erzählinstanz durch Raum und

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»Wir sind die letzten Europäer«. Interview mit Helmut Böttiger in Die Zeit, 2014.

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Hier gibt es Gemeinsamkeiten mit dem Selbstverständnis der EU, auf die Andruchowytsch auch direkt verweist. Neben Werten wie Freiheit, Gleichheit und Demokratie wird in EU-Verträgen auch die Offenheit von Grenzen innerhalb der EU betont und als Aspekt der Freiheit verstanden. Vgl. u.a. Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (Lissabonner Vertrag).

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Vgl. dazu auch Alexandra Millners Datenbank der Literatur deutschsprachiger Migrantinnen in Österreich-Ungarn (Millner 201216).

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Zum autobiographischen Erzählen in der Gegenwartsliteratur vgl. Braun/Stiegler 2012.

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Zeit sichtbar gemacht. Nationale und transnationale (geo)politische Entwicklungen und die damit verbundenen Geschichtserzählungen werden dabei hinterfragt. 5 Juri Andruchowytsch hat solche Literatur, anknüpfend an die von Milan Kundera und György Konrád in den 1980er Jahren angestoßene Diskussion zu »Mitteleuropa«, als »Geopoetik« bezeichnet, wobei er diese als festen Bestandteil der mitteleuropäischen Literaturgeschichte betrachtet. So sagte er 2010 in seiner Rede zur Verleihung des Georg Dehio-Buchpreises an den »Mitteleuropäer« Martin Pollack: Glaubt man György Konrád (und wir haben keinen Grund, ihm nicht zu glauben), dann zeichnet sich der Mitteleuropäer durch eine besondere ästhetische Empfänglichkeit für Komplikationen aus. Anders gesagt, das existenzielle Dasein dazwischen, in der Zone permanenter gesellschaftlich-historischer Nichtrealisierung, weckte eine besondere Sensibilität, sogar bei geographischen Namen. Mitteleuropa ist eine Weltgegend, in der Geographie unmerklich in Poetik übergeht. Daraus ist die Geopoetik entstanden (Andruchowytsch 2010) 6

Hier wird der Literatur in der mitteleuropäischen Kultur einerseits besondere Bedeutung zugewiesen. Andererseits wird der Einfluss der Literatur auf die Realität ironisch betrachtet und auf die inhärente Absurdität der Vorstellung verwiesen, dass die literarische (Re)konstruktion einer im Ost-West-Konflikt untergegangenen »ostmitteleuropäischen« Kulturlandschaft die Realität tatsächlich verändern könnte. Ist die ironische Distanz bereits bei Konrád untergründig spürbar, hat sie sich bei Andruchowytsch angesichts der politischen Entwicklungen seit dem Ende der Sowjetunion und der Situation des »Grenzlandes« Ukraine zwischen der EU und Russland noch verstärkt. 7 Den Glauben des Autors an die Literatur als das angemessene Ausdrucksmittel für eine solche Situation – gerade aufgrund ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit – stellt das aber nicht in Frage. Für die literarischen Texte, mit denen ich mich hier im weiteren befassen möchte, sind neben der Vorstellung einer regional verorteten Geopoetik zudem

5

Friederike Eigler stellt in einem Aufsatz zur deutschsprachigen Literatur nach 1990 die Tendenz zur Annäherung an die kollektive Erinnerung über die Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte fest (Eigler 2010: 88). Das lässt sich auch in anderen (nicht nur) europäischen Literaturen beobachten.

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Zu Diskussionen um Mitteleuropa vgl. auch Todorova 2009.

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Obwohl nicht wissenschaftlich belegt, wird der Name »Ukraine« häufig als »Grenzgebiet Russlands« übersetzt (ukraina zu u kraja zu »am Rande«).

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Andruchowytschs Überlegungen zur Verbindung zwischen Geographie und Autobiographie im Lexikon von Interesse: Eine Autobiographie, die sich auf Geographie stützt – wie könnte man das nennen? Autogeographie? Autogeobiographie? Das klingt zu kompliziert […]. Und was kommt in dieser Verbindung von Bio und Geo eigentlich zuerst, was baut hier wie auf dem anderen auf? (Andruchowytsch 2016: 12)

Die Wortschöpfung des Autors spricht pointiert Fragen zur Textästhetik an, die sich aus der umschriebenen Verbindung von Biographie und Geographie ergeben. Denn in den Texten Andruchowytschs und Petrowskajas ist die eigene Biographie und Familiengeschichte explizit mit bestimmten Orten verknüpft. Dabei werden im Text erinnerte Erfahrungen und Erlebnisse des Kindes und anderer Familienmitglieder – wie auch frühere literarische Reflexionen – aus der Perspektive der oder des in der Gegenwart Schreibenden reflektiert. 8 Andererseits werden Erinnerungsorte in der physischen Bewegung des Subjekts der Gegenwart und der damit verbundenen sinnlichen Erfahrung erkundet. Durch die Bewegung des Autor-Ichs zwischen Orten entsteht in den Texten ein literarischer Raum im Sinne Michel de Certeaus (1988), und Walter Benjamins, der verschiedene Zeitebenen, Orte und die Erfahrung des Ichs miteinander verknüpft. Dieser Raum ist kein bloßes mentales Konstrukt, aber thematisiert den offenen und veränderlichen Produktionsprozess von Raum – in überindividuellen, nationalen und transnationalen Geschichtserzählungen und Familiengeschichten, einschließlich ihrer Grenzen – und die symbolische Ebene der Raumrepräsentation,

8

So erinnert sich Andruchowytsch im Lexikon an seine Beschreibung des Münchner Hofbräuhauses in seinem Roman Perversion (2011: 22). Darin verarbeitet er den Eindruck seines ersten Besuchs in München 1992. Das Hofbräuhaus beschreibt das erzählende Ich als »goldenen Tempel der Hauptstadt des Biers«, wo »Platz und Raum es erlauben, darin zu galoppieren, dass Hitler genau das 1923 getan hat, hoch zu Ross und mit gezogenem Säbel […]. Das erzählte ich, denn genau so hatte ich es gesehen. Damals sah ich alles begeistert, vergröbert und überdimensioniert. Als wären spezielle hyperbolische Linsen vor meine Augen montiert.« (LiS 244) Dabei erlebt der Besucher aus dem Osten München, »Die Erste Stadt des Okzidents in meinem Leben!«, und damit das Tor zum Westen, als überdimensional in verschiedener Beziehung: von den Brüsten der Kellnerinnen im Hofbräuhaus und dem Wohlstand der Münchner bis hin zu ihrer Geschichte.

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wie sie in Landkarten, Geschichtserzählungen oder literarischen Texten erfolgt. 9 Orte – sowie postmodern anmutende Selbstzitate und intertextuelle Verweise auf andere Autoren im Fall von Andruchowytsch – 10 bilden Mosaiksteine (vgl. Andruchowytsch 2016: 16), aus denen die Biographie des Autors als Wanderndem und Schreibendem entsteht. 1.2 Transdifferenz und Transgression Das Bild des Mosaiks, das Andruchowytsch in Lexikon für sein autogeographisches Schreiben verwendet, lässt sich – trotz aller Unterschiede in Form und Inhalt – auch auf sein »Memento« und Petrowskajas Vielleicht Esther anwenden. Dabei konstituiert sich der fragmentarische Charakter des jeweiligen Mosaiks mit seinen »Fugen« (Petrowskaja 2014: 12) und Leerstellen nicht zuletzt durch Momente der Transdifferenz, d.h. Momente der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, durch die kulturelle, politische u.a. Grenzen momentweise überschritten bzw. verschoben und so in Frage gestellt werden (vgl. Lösch: 2005). Transdifferenz ist als ein kulturwissenschaftlicher Begriff zu sehen, der den Blick auf Phänomene richtet, die mit Modellen binärer Differenz nicht erfasst werden können. Transdifferenz beschreibt all das Widerspenstige, das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt, weil es gleichsam quer, also »transgressiv« im Sinne Foucaults, 11 durch die gezogene Grenzlinie hindurch geht und die ursprünglich eingeschriebene Differenz zum

9

Wie für Edward Soja – und im Gegensatz zu Homi Bhabhas weitgehend immateriellen, ortlosen und metaphorisch konzipierten »Third Spaces« – sind die Räume in den besprochenen Texten sowohl materiell als auch symbolisch, zugleich real und konstruiert.

10 Etwa auf Vertreter eines multikulturellen literarischen Europas wie Joseph Roth, Danilo Kiš, Nikolaj Gogol oder James Joyce. 11 Foucault hat 1963 in »Préface à la transgression« (dt. »Zum Begriff der Übertretung«) die Grenze als dialektische Figur beschrieben, die sich im Akt der Überschreitung konstituiert: »Die Grenze, die absolut nicht überquert werden könnte, wäre inexistent; umgekehrt wäre eine Überschreitung, die nur eine scheinbare oder schattenhafte Grenze durchbrechen würde, nichtig«. (Foucault 1974: 73). Als transgressiv lassen sich alle performativen Praktiken des Überschreitens kultureller Grenzen bezeichnen, wobei diese Grenzen sowohl vertikale Normen betreffen können, die das Verhältnis von Oben und Unten innerhalb einer sozialen Ordnung regulieren, als auch horizontale Grenzen, die die Differenz zwischen Innen und Außen strukturieren (Stallybrass/White 1986).

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Oszillieren bringt, ohne sie jedoch aufzulösen. 12 Transdifferenz unterscheidet sich insofern von transkulturellen Ansätzen, wie dem Wolfgang Welschs (1995), und scheint zunächst auch nicht mit Anil Bhattis Konzept der Ähnlichkeit vereinbar, da Transdifferenz die Grundstruktur von Alterität nicht auflöst, sondern zum Spielfeld macht. Daher soll im Folgenden gezeigt werden, wie solche Momente der Transdifferenz auf verschiedenen Ebenen der Texte entstehen und welche Perspektiven sie auf Erzählungen europäischer Geschichte, Erinnerungsräume und die damit verbundenen Identitätsmodelle eröffnen. Werden solche Grenzen lediglich sichtbar gemacht oder werden sie verschoben bzw. aufgelöst im Sinne eines postkolonialen »Re-mapping«, einer literarischen Neucodierung tradierter Raumordnungen aus der Perspektive von Kolonialisierten, 13 d.h. hier: Autoren aus ehemaliger Staaten der Sowjetunion, die gegen ihre erneute Vereinnahmung oder Marginalisierung anschreiben?

2. KATJA PETROWSKAJA 2.1 Erinnerungsorte Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren und wuchs in einer jüdischen Familie auf, in der die Konfession oder ethnische Zugehörigkeit während der

12 Das entspricht eher der Vorstellung von Interkulturalität als liminalem Phänomen, das auf einer Überschreitung von Grenzen, also Transgression, ebenso wie auf der Reflexion und dem Außer-Kraft-Setzen von vorausgesetzten Grenzziehungen beruht (Heimböckel/Weinberg 2014: 124). Auf theoretischer Ebene wäre es zudem von Interesse, »Transdifferenz« mit der Differenzphilosophie Derridas in Bezug zu setzen, um den Begriff weiter zu präzisieren (vgl. Döber 2005). 13 »Das postkoloniale Konzept des Re-mapping bezeichnet die literarische Neucodierung tradierter Raumordnungen aus der Perspektive ehemaliger Kolonialisierter.« (Bachmann-Medick 2006: 294) Dabei werde die Gleichzeitigkeit von ungleichen Räumen erprobt, die die rigiden Grenzziehungen zwischen dem imperialen Zentrum und den Peripherien sowie zwischen Eigenem und Fremdem unterlaufen. Die »hierarchische Weltkarte der Asymmetrie« zwischen Zentrum und Peripherie werde damit einer grundlegenden Revision unterzogen (ebd.). Im Einklang mit Saids Begriff der imaginativen Geographie lenkt das Konzept des Re-mapping damit die Aufmerksamkeit auf den konstruktiven Charakter literarischer Kartographierungen, die symbolische Codierungen zum Ausdruck bringen, welche eng mit der Realität von kultureller Macht, politischer Herrschaft und Anerkennung verwoben sind.

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Sowjetzeit keine Rolle spielte. Vielleicht Esther erzählt davon, wie die Autorin die Spuren ihrer Vorfahren zurück bis ins 19. Jahrhundert hinein verfolgt, insbesondere derer, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Es geht um den Versuch zeitliche Grenzen zu überschreiten, um die emphatische Annäherung an die Erfahrung Anderer und deren Bewegung innerhalb eines von kulturellen, politischen und nationalen Grenzen und deren Verschiebung geprägten Europas des 20. Jahrhunderts. Die Geburtsorte und Stationen auf dem Lebensweg von Familienmitgliedern, denen dieses Autor-Ich nachgeht und sich damit selbst als Individuum, Jüdin und Europäerin zu verorten sucht, umfassen, neben Kiew als dem eigenen Geburts- und Kindheitsort, Städte wie Moskau, Warschau oder Wien. Das Ich ist »stolz« (Petrowskaja 2014: 91; 94) auf die nationale Grenzen überschreitende und damit zutiefst europäische, jüdische Familiengeschichte. 14 Die Betonung dieses Stolzes macht jedoch zugleich die andauernde Dominanz binärer – religiöser, ethnischer und nationaler – Differenzschemata in den erzählten historischen Situationen bewusst und die damit einhergehende Ausgrenzung der Angehörigen einer Familie, die nicht in diese Schemata passen. Die Durchbrechung und gleichzeitig bleibende Präsenz solcher Normen wird in der Erzählung auf verschiedene Kontexte bezogen, stellt binäre Differenzen so an sich in Frage, ohne sie aber aufzulösen. Denn die Familienmitglieder, »die Meinigen« (Petrowskaja 2014: 28; vgl. 34), deren Spuren das Autor-Ich folgt, sind Individuen, die eine Ausnahmestellung in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext einnehmen, von dem am Anfang der Familiengeschichte stehenden aufgeklärten Juden Simon Geller, der um 1860 in Wien eine Schule für taubstumme Kinder gründete, in der sie sprechen lernten (in einer traditionellen jüdischen Kultur, in der die gesprochene Sprache besondere Bedeutung hat und Taubstumme als geistig behindert eingestuft werden) und damit die bis zur Mutter und Tante des Autor-Ichs reichende Familientradition des Unterrichts für Gehörlose beginnt, bis hin zum von den Sowjets als geistig verwirrt klassifizierten Großonkel Judas Stern, der als arbeits- und parteiloser Jude 1932 in Moskau ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten verübt. 15

14 Vgl. auch ihr Lesen des Kwas-Rezeptes der Tante als Utopie, »als ob Europa und die Juden aus einer Wurzel stammten … dass alle Juden, auch die die gar keine Juden mehr waren, sich zu den letzten Europäern zählen durften, schließlich haben sie alles gelesen, was Europa ausmacht.« (Petrowskaja 2014: 31) Zur jüdischen Kultur als »Kitt« für die verlorene multikulturelle mitteleuropäische Gesellschaft, vgl. u.a. Schlögel 2002: 14). 15 Das führt zur rapiden Verschlechterung der deutsch-russischen Beziehungen und letztlich zum deutschen Einmarsch.

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Das Autor-Ich identifiziert sich mit deren Außenseiterstatus – auch innerhalb der jüdischen Kultur – sowie mit dem damit verbundenen Leid, ein Topos der jüdischen Geschichte, der es sich damit zuordnet: Ich hatte keinen Grund zu leiden. Trotzdem litt ich, von früh an, obwohl glücklich und geliebt, umgeben von Freunden, es was mir peinlich zu leiden, ich litt immer wieder an dieser manchmal schneidend scharfen, manchmal wermutherben Einsamkeit, und ich dachte, es komme nur daher, dass mir etwas fehlte. (Petrowskaja 2014: 23)

Allerdings wird dem Autor-Ich bei der Suche zunehmend bewusst, dass die Annäherung an sein Judentum als ein Anderes und die damit verbundene Geschichte es an einen Ort jenseits der ihm verfügbaren Erklärungsmuster bringt. Das schließt eine Erfahrung von Fremdheit ein, die kulturelle Unterschiede letztlich unbedeutend macht. So steht Kiew, und damit die Schlucht von Babij Jar, als Kindheitsort des Autor-Ichs und als Erinnerungsort des Massakers an den jüdischen Einwohnern, einschließlich der Großmutter des Vaters und anderer Verwandter, im Zentrum der Erzählung – auch als Punkt, wo das zu Erzählende die Möglichkeiten des Verstehens durch sachliche Information aber auch des Erzählens übersteigt und so eine Leerstelle bleiben muss, ebenso wie der Holocaust als Tiefpunkt der europäischen Geschichte als einer der Grenzüberschreitung. Dabei geht es nicht mehr um kulturelle Unterschiede, sondern letztlich um die Frage der Menschlichkeit: »Kiew war einer von vielen Orten, wo es passierte, man sagt, es sei das größte zweitägige Massaker des Holocaust. 33771 Menschen tötete man in zwei Tagen. Eine merkwürdig genaue Zahl.« (Petrowskaja 2014: 186) 2.2 Leerstellen Der Titel Vielleicht Esther verweist auf die Fragen, denen das Ich dabei nachgeht. »Hieß sie wirklich Esther, die Großmutter des Vaters, die 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurückblieb?«, wie es im Klappentext des Buches heißt. »Die jiddischen Worte, die sie vertrauensvoll an die deutschen Soldaten auf der Straße richtete – wer hat sie gehört? […] Wenn aber schon der Name nicht mehr gewiss ist, was kann man dann überhaupt wissen?« Das ist auf einer Ebene als metaphysische Frage zur Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Versuchs das Verschwinden in der Geschichte, rückgängig zu machen, lesbar. Der Buchtitel verweist aber auch auf die Leerstellen in dieser Familiengeschichte, wie auch der mittel- und osteuropäischen Geschichte, die

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sich darin zeigt. 16 Dazu gehört die Aussparung jüdischer Geschichte in der sowjetischen Historiographie und Alltagskultur, in der das Ich aufgewachsen ist und es zu seiner Spurensuche veranlasst. Diese Suche umfasst verschiedene Methoden, von Archivarbeit über Gespräche mit der Mutter bis hin zur eigenen Kindheitserinnerungen und dem sinnlichen Nacherleben des von den Anderen Erfahrenen; im Text werden Fotos und Archivfunde mit imaginären Situationen kombiniert. Statt einer, werden einzelne Geschichten erzählt. Dabei reflektieren die variable Fokalisierung und der Wechsel im Erzählton in den einzelnen Geschichten die Erinnerungsperspektiven verschiedener Familienmitglieder. Allerdings bleibt es bei kurzen Momenten der Einfühlung und historischen Erkenntnis, die immer wieder gebrochen werden. Die Geschichten bleiben fragmentarisch, die Erfahrung der Anderen rückt wieder in Distanz, sowohl im Hinblick auf die Erzählperspektive als auch durch ironische Brechung oder Reflexion. Insgesamt ist die Wahrnehmung sprunghaft-assoziativ. 17 Es geht hier um die Akzeptanz von trotz der Recherchen bleibenden Leerstellen, den Verzicht auf definitive Antworten und damit die In-Fragestellung der Gültigkeit geläufiger Erklärungsmuster und ›großer Erzählungen‹ im Sinne Lyotards (1979) 18. Die Auseinandersetzung mit solchen Leerstellen ist ein Strukturmerkmal des Textes, nicht nur im Hinblick auf die zeitliche, sondern eben auch die interkulturelle Dimension der Spurensuche oder Verortung. Ein Beispiel dafür ist der Versuch der Identifikation des Kindes mit einem – idealisierten – Polen als Herkunftsort einer der Großmütter und Sehnsuchtsort des Vaters und der jungen Erzählerin. Es ist ein Versuch, die eigene Identität im Zusammenhang der Famili-

16 Petrowskajas Auseinandersetzung mit der eigenen und kulturellen Vergangenheit in Form einer Familiengeschichte entspricht einer Tendenz im Umgang mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in der Literatur jüngerer deutschsprachiger Autorinnen und Autoren, ob diese sich mit einer kollektiven Schuld oder einem kollektiven Trauma beschäftigen. So stellt z.B. Friederike Eigler in Romanen der zweiten und dritten Generation zum Thema Vertreibung eine Bewegung weg vom Trauma des Heimatverlusts als transgenerationelle Erfahrung und hin zu einer Rekonstruktion von Familiengeschichte fest (vgl. Eigler 2010). Unter anderem werden dadurch Grenzen zwischen kulturellen und generationellen Unterschieden hinterfragt. 17 »[…], man nimmt die Stelle eines anderen ein, katapultiert sich dorthin, auf diese Tabelle zum Beispiel, und so erprobe ich jede Rolle an mir selbst, als gäbe es keine Vergangenheit ohne irgendein Als-ob, Wenn oder Falls.« (Petrowskaja 2014: 45) 18 Wobei dies hier aber nicht die Ungültigkeit von Werten oder Grundsätzen impliziert, sondern deren kritisches Hinterfragen im Sinne einer Aufklärung nach 1917, 1945 und 1989.

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engeschichte zu verorten. Der Sehnsuchtsort Polen erscheint dabei als mitteleuropäischer Kulturort jenseits der ukrainisch-polnischen Grenze. Die Sehnsucht nach diesem Polen erwächst aber auch aus der Ausblendung kultureller Identitäten, und damit der jüdischen Erfahrung im Kontext der sowjetischen Gesellschaft, in der das Kind aufwächst. Denn während das Judentum der Familie im internationalistischen offiziellen Diskurs der Sowjetunion zwar keine Rolle spielt, bleibt es jedoch als Störendes untergründig präsent und schafft so eine Leerstelle im Empfinden des Mädchens: einen »Nebel in der Familiengeschichte«, den das Autor-Ich – vergeblich – versucht, mit polnischem Nationalstolz zu füllen: Als ich in Kiew aufwuchs, war Polen unser nächster Nachbar, auf Russisch Polscha, unsere Nachbarin, ein unerreichbares, schönes Ausland. Dort lebten anmutige Frauen, die Männer hatten Manieren, man glaubte dort an Gott […]. Oft verkündete ich ohne Anlass, dass meine Großmutter Rosa, Rosalia in Warschau geboren wurde, als stecke in dieser Nachricht ein gewisser Eigensinn. Ich war stolz darauf, dass meine Großmutter aus Polen stammte, es war ein Trumpf in einem Spiel, das niemand mit mir spielte. (Petrowskaja 2014: 91)

Einige in ihrer Klasse trugen »auffällige polnische Namen, […] wir waren aber sowjetische Kinder, alle gleich, mit dem gleichen Nebel in der Familiengeschichte, der vielleicht gerade die Voraussetzung für unsere Gleichheit bildete. Ich war stolz, als hätte ich selbst einen Hauch von polnischer Anmut, Manieren und Glauben, […] noch ist Polen nicht verloren, und dies der Erkenntnis zum Trotz, dass ich nie dazugehören würde. (Petrowskaja 2014: 91)

Bereits ihr Vater »war verliebt in dieses arme Polen«. Für ihn ein Sehnsuchtsort, trotz der Ermordung der Juden in Polen (und der nicht immer vorhandenen Solidarität seitens nicht-jüdischer Polen in der Kriegszeit): Der Vater »ein Kriegskind, und Angehöriger des auserwählten Volkes, das in seiner Stadt Kiew, vor allem aber in Polen, fast vollständig ermordet worden war, trauerte großherzig um Polen«. Ihn schmerzt die »polnische Tragödie« so, als dürfe er das eigene nur im Schmerz der anderen erkennen, in einer Art Übersetzung: »Den Gram zu hegen, den er in sich trug, wäre ihm unanständig vorgekommen.« (Petrowskaja 2014: 92)

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Übersetzung fungiert hier als Metapher 19 oder Bild für eine Form der Gemeinsamkeit, die ohne die gleichzeitig vorhandene Polarität nicht zu denken ist. Das Gefühl der Zugehörigkeit des Vaters zu einem idealisierten Polen, ist nicht ohne das Bewusstsein der eigenen Alterität als Jude aus Sicht eines katholischen Polens zu denken und nicht ohne den Schmerz angesichts dieser Erfahrung. So trauert er »um Polen – der Kanal, der Warschauer Aufstand, die polnischen Teilungen, Katyn« (Petrowskaja 2014: 93), und versetzt sich aufgrund der Auswahl der erinnerten Ereignisse zugleich aus der Rolle des Opfers in die des Täters, als Angehöriger des russischen Imperiums, das das ersehnte Polen zuerst seiner Freiheit beraubt und dann den Deutschen überlassen habe. Die Tochter sieht sich ohnehin in dieser Rolle, als schuldbewusste Repräsentantin der sowjetischen Machthaber: »Wenn ich neue Polen kennenlernte, pflegte ich mich zunächst für die drei Teilungen zu entschuldigen und dann dafür, dass die sowjetische Armee im Jahr 1944 am Ufer der Weichsel wartete, bis der Warschauer Aufstand niedergeschlagen war, […].« (Petrowskaja 2014: 92) Durch das – an einer anderer Textstelle als Bewegung zwischen zwei voneinander entfernten Orten verbildlichte – Übersetzen werden immer wieder Momente der Gemeinsamkeit oder Berührung geschaffen, wodurch die historischen, in den jeweiligen kulturellen Diskursen präsenten polaren Differenzen aber nicht dauerhaft aufgelöst werden. 20 Allerdings schafft das Zusammenspiel beider Momente eine Handlungsdynamik im Sinne Juri Lotmans, die das Geschehen in der Erzählung voran- und die Erzählerin selbst in Bewegung bringt. Das Bewusstsein einer von Grenzen geprägten europäischen Identität wird mit der Bewegung entlang dieser Grenzen – und momentweise über sie hinweg – in der Familiengeschichte verbunden: der Entwurf einer grenzüberschreitenden Identität. Verbleibende Leerstellen sind darin nicht als Scheitern zu verstehen (wie in einer auf eine geschlossene nationale oder ethnische Identität beschränkten Geschichtserzählung) sondern als konstituierendes Element.

19 Die metaphorische Bedeutung, die dem Ausdruck für Übersetzung in mehreren europäischen Sprachen innewohnt, zeigt sich, wie u.a. Hermans und Stecconi (2002: 3f.) erläutern, jeweils in dessen etymologischer Ableitung von dem lateinischen Wort transferre (und dessen Partizip ›translatus‹) oder aber in dessen direkter Übersetzung. Das lateinische Verb transferre setzt sich aus den Bestandteilen ›trans‹, also ›hinüber‹ oder ›über‹, und ›ferre‹ (›tragen‹) zusammen. Genau diese Ableitung aber stellt das Konzept von Raum und seiner Durchquerung oder Überbrückung in den Mittelpunkt des Sprechens und Denkens über Übersetzung. 20 Trotz solcher Gemeinsamkeiten werden auch generationelle Unterschiede in der Erinnerung von Tochter und Vater angesprochen.

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2.3 Bewegungsformen Auf der Handlungsebene beginnt die Reise des Autor-Ichs auf dem neuen Berliner Hauptbahnhof. Die Inszenierung dieses Ortes als Erinnerungsort und Raum, in dem die Grenzen verschiedener Erinnerungsdiskurse und der damit verbundenen Identitäten beleuchtet und in Frage gestellt werden, ist paradigmatisch für die Erzähl- und Raumstruktur des Textes: Der Bahnhof wurde vor kurzem in die Mitte dieser Stadt gebaut, und trotz des Friedens war der Bahnhof unwirtlich, es war, als verkörperte er all die Verluste die mit keinem Zug einzuholen sind, einer der unwirtlichsten Orte in unserem kreuz und quer vereinigten und doch sehr begrenzten Europa, ein Ort, an dem es immer zieht und wo sich der Blick auf eine Ödnis eröffnet, ohne dass sich ihm Gelegenheit bieten würde, in einem städtischen Dickicht hängenzubleiben, auf etwas zu ruhen, bevor man wegfährt von hier, aus dieser Leere inmitten der Stadt, die keine Regierung füllen kann, mit keinen großzügigen Bauten und keinen guten Absichten. (Petrowskaja 2014: 7)

Hier wird zum einen Berlin als Erinnerungsort für das Dritte Reich und die damit verbundene Zerstörung auf europäischer Ebene aufgerufen, zum anderen aber auch deutsche Erinnerungsdiskurse und Deutschlands Rolle im Europa der Gegenwart. Dabei wird angesichts der Geschichte, die dieser Raum für das AutorIch repräsentiert, das, was gewöhnlich mit der Großstadt als Topos assoziiert wird, ins Negative verkehrt: statt Belebtheit Ödnis und Leere. Zugleich tritt der Ort hinter die mit dem Bahnhof verbundenen Relationen und Bewegungsmöglichkeiten zurück, was im Gegensatz zur »Begrenztheit« des neuen – und alten – Europa steht, und diese Grenzen damit zum Oszillieren im Sinne der Transdifferenz bringt. Dieser Fokus auf Bewegung, die dadurch entstehenden Kontaktmöglichkeiten und die mit den Orts- oder Straßennamen verbundenen historischen Verweise verbinden Anfang und Ende der Erzählung und prägen den Blick auf die eigene Biographie. So heißt es kurz vor Ende des Buches: »Ich bin als Kreuzung zweier Straßen mit deutschen Namen entstanden, Engels und Karl Liebknecht.« (Petrowskaja 2014: 281) 21 Die Erzählerin nimmt den Bahnhof als Reisende wahr, was ihre NichtZugehörigkeit zum Ort und dessen Geschichte betont. Als sie von einem alten Amerikaner um Auskunft über die in Großbuchstaben an der Wand des Bahnhofsgebäudes prangende Werbung für ein Musical namens Bombardier gebeten

21 Dies ist zu lesen als ein Verweis auf politsche Ideen, Utopie und historische Wirklichkeit.

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wird, 22 schlüpft sie allerdings mühelos in die Rolle der ortskundigen Berlinerin und informiert ihn über den damit verbundenen Rechtsstreit auf Grundlage dessen, was sie dazu im Internet gelesen hat. Dabei erkennt sie seine Frage zugleich als ihre eigene innere Stimme, die den mit einer solchen Werbung an diesem Ort verbundenen Gedächtnisverlust – bzw. mangelnde Sensibilität im Umgang mit dem Vergangenen – hinterfragt: Ich antwortete, etwas erstaunt darüber, dass meine innere Stimme sich in Gestalt eines alten Mannes mit schwarzen Augen und amerikanischem Akzent an mich wandte […]. Ich glaubte immer mehr an meine Worte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was dieses Bombardier am Dachbogen des Bahnhofs bedeutete und woher es kam, aber das, was ich so begeistert und fahrlässig erzählte und was ich auf keinen Fall als Lüge bezeichnen würde, beflügelte mich, und ich schweifte immer weiter ab, ohne die geringste Angst abzustürzen, ich drehte mich immer weiter in den Kurven dieses niemals gesprochenen Urteils, denn wer nicht lügt, kann nicht fliegen. (Petrowskaja 2014: 8)

Es geht zum einen um Fragen zur eigenen Erinnerung und deren Authentizität, darum, wie das, was eigentlich unaussprechlich ist, erzählt werden kann und im Kapitel zu Babij Jar schließlich eine Leerstelle bleibt: Wie verknüpfen sich im Verlauf dieses von Grenzen und deren Überschreitung geprägten Erinnerungsprozesses die eigene Biographie mit der jüdischen Familiengeschichte und europäischen Geschichte? Zum anderen geht es um die Auseinandersetzung mit dem Erinnerten und Gefundenen aus einer von der europäischen Geschichte geprägten, aufgeklärt-humanistischen Perspektive. Doch steht das erzählende Autor-Ich im Berliner Bahnhof noch am Anfang einer Reise, die auch ein Lernprozess über ethische und metaphysische Fragen ist, und geht daher noch unbeschwert mit diesen Fragen um, was einerseits in dem Bild des Erzählens als ein Fliegen fasst, andererseits in das einer assoziativen Internet-Recherche, die als Ergebnis keine Leerstellen hat, die das geläufige Denken ins Wanken bringen könnten, sondern nur das, was die eigene Suchgeschichte, die eigenen Wahrnehmungsmuster bedient: »Gott googelt unsere Wege, auf dass wir nicht herausfallen aus unseren Fugen«. (Petrowskaja 2014: 12) An anderer Stelle spricht sie von ihrem »Internet-Judentum«. Damit wird nicht nur unkritisches Recherchieren und Erzählen problematisiert, sondern zugleich Zugehörigkeit als Performanz und damit die freie Wahl von Rollen und des Rollenwechsels, was u.a. Erinnerungsdiskurse der dritten Generation charakterisiert.

22 Vgl. Petrowskaja 2014: 8. Dabei handelt es sich bei den Fragenden um einen Juden, dessen Familie aus Teheran in die USA emigriert ist (Petrowskaja 2014: 10f.).

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Das Fliegen als Metapher des Erzählens wird in den folgenden Kapiteln wiederholt aufgenommen und, teils ironisch, mit den Bildern Chagalls in Bezug gesetzt. 23 Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen, die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze zwanzigste Jahrhundert in der Tasche. Manche aus meiner Familie waren geboren um ihren Berufungen nachzugehen in dem hellen, aber nie ausgesprochenen Glauben, sie würden die Welt reparieren. Andere waren wie vom Himmel gefallen, sie schlugen keine Wurzeln, sie liefen hin und her, kaum die Erde berührend, und blieben in der Luft wie eine Frage, wie ein Fallschirmspringer, der sich im Baum verfängt. (Petrowskaja 2014: 17)

Zusammenfassend lässt sich daher sagen: Hier geht es nicht nur um die Legitimität des Erzählens europäischer Geschichte in Form einer autobiographischen Erzählung und Familiengeschichte und inwiefern in Geschichtserzählungen Verschwundenes sichtbar gemacht werden kann. Es geht ebenso um die Wahrnehmung der Familienmitglieder aus einer postsowjetischen, europäischen Perspektive – einer Angehörigen der dritten Generation – als Andere und Teil einer bestimmten Kultur. 24 Durch das Spiel mit bekannten Bildern, Brechung der eigenen Perspektive und andere Verfahren werden kulturelle Grenzen im historischen Kontext als Demarkationslinien und Kontaktzonen, aber auch als »Schwelle zum Fremden« konzeptualisiert. Es entstehen Bereiche der Überlappung und Überlagerung, in der die wechselseitigen Bestimmungen eines Innenund Außenraums fluktuieren und Zonen der Unbestimmtheit generieren. 25 Ein anderes Beispiel ist die punktuelle In-Frage-Stellung binärer Differenzen, wie die Übersetzung des eigenen in den ›polnischen‹ Schmerz seitens des Vaters. Damit werden diese Differenzen in ihrer Gültigkeit nicht nur temporär, sondern potenziell auch längerfristig suspendiert. Denn das dynamische Moment der Überschreitung oder Übersetzung entwickelt sich – paradoxerweise – zum stabilen Bezugspunkt der Identitätsfindung.

23 Vgl. außerdem »Der Flug« (Petrowskaja 2014:55); »Socke als Kunstflug des Strickens« (Petrowskaja 2014:21) 24 Dabei wird die eigene Perspektive auch durch das Schreiben auf Deutsch aus den gewohnten Wahrnehmungsmustern heraus verschoben. 25 Während Benjamin die »Schwelle« von der Grenze unterscheidet (Benjamin 1991: 618), liegt hier die Annahme zugrunde, dass auch letztere durch Momente der Überschreitung und Verschiebung zum Schwellenraum werden kann.

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3. JURI ANDRUCHOWYTSCH 3.1 Ein autogeographisches Mosaik Juri Andruchowytsch, Urenkel eines deutsch-böhmischen Ikonenmalers, Enkel eines ukrainischen Offiziers, wurde 1960 in Iwano-Frankiwsk, dem ehemaligen Stanislau an der galizischen Westgrenze der Ukraine geboren. Er studierte in Lviv (Lemberg) und Moskau und lebt nach Aufenthalten in Westeuropa und den USA heute wieder in Iwano-Frankiwsk. Inspiriert vom Transitleben nach dem Zerfall der Sowjetunion hat Andruchowytsch mehrere Sammlungen geopoetischer Kurzprosatexte veröffentlicht, die sich zwischen lyrischem Erzählen, Karnevaleske und politischem Essay bewegen. 26 Sie beschreiben die postsowjetische Realität eines Landes, das als zweitgrößter europäischer Staat für die Mehrzahl westeuropäischer Leser auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer hinter einer Trennlinie »zwischen Europa und etwas anderem« liegt und auf ihren literarischen und politischen Landkarten nicht vorhanden ist, wie es in der Verlagsnotiz der Essaysammlung Das letzte Territorium (2003) heißt (»eine Peripherie der Kulturen und Zivilisationen«). Dem schreibt Andruchowytsch entgegen: ein geopoetisches Projekt des Remapping, mit dem die östliche Außengrenze Europas und damit auch andere Grenzen zwischen Zentrum und Peripherie schreibend überschritten und so in Frage gestellt werden. Denn die mitteleuropäische Landschaft, die das Zentrum dieser literarischen Welt bildet, konstituiert sich in der ständigen Übertretung von Grenzen. Zu seinen geopoetischen Prosatexten, die sich oft nicht in die gewählten Gattungsbezeichnungen fügen, gehören die in der als Kleines Lexikon intimer Städte betitelten Sammlung enthaltenen 39 Städteporträts (dt. 2016), 27 wie auch »Mittelöstliches Memento« , das 2000 bereits in Polen in dem Band Mein Europa erschien, zusammen mit einem Essay des polnischen Autors und Freundes Andrzej Stasiuk. Der Band ist das Ergebnis einer gemeinsamen Reise Ende der 1990er Jahre »zwischen den Beskiden und der Bukowina« (Andruchowytsch 2004: Klappentext) – bereits in diesem Grundkonzept ein literarischer Akt der Grenzüberschreitung. Die deutsche Übersetzung erschien 2004 bei Suhrkamp. Andruchowytschs »Mittelöstliches Memento« umfasst 65 Seiten, un-

26 Frühere Arbeiten umfassen u.a. seine die sowjetische Zensur unterlaufende Performance-Lyrik der 1980er Jahre und Romane wie Moskoviada (1993; dt. 2012). 27 Eine vom Autor zusammengestellte Auswahl von 39, z.T. aktualisierten Texten aus der 111 Städteportäts umfassenden Originalausgabe, die 2011 unter dem Titel »Ledsykon intymnich mist« bei einem Kiewer Verlag erschien.

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terteilt in achtzehn kurze Kapitel. Es ist eine als Essay bezeichnete, lyrische Erzählung, eine Mahnung gegen das Vergessen einer Kulturlandschaft und der damit verknüpften Familiengeschichte. Aus Fragmenten dieser Familiengeschichte und anderen, konkret greifbaren 28 Bruchstücken der Vergangenheit (Ruinen, zugewachsenen Wegen, Sprachresten, Erinnerungsfetzen), aus sinnlichen Erfahrungen und literarischen Verweisen, entsteht mosaikartig die Biographie des Autors und eine über die individuelle Geschichte, sowie über sich als faktisch deklarierende Historiographie hinausreichende Geschichtserzählung. 3.2 Galizien/Ukraine als Ruine europäischer Geschichtslandschaften In seinem Lexikon erinnert sich der Autor: Als ich Ende des Jahres 1990 in meinen gereimten Briefen an einen imaginären Freund

schrieb, dass ›die Ukraine das Land des Barock ist‹, da enthielt diese Zeile nicht nur Ironie. Und als ich 1998, Danilo Kiš zitierend, erklärte, ›seit meiner Kindheit ziehen mich

Ruinen an‹ da dachte ich vor allem an sie – die Schlösser und Burgen. (Andruchowytsch 2016: 329)

Letzteres bezieht sich auf die Bilder verfallener oder in der Sowjetzeit zu Gefängnissen, Besserungsanstalten oder »hoffnungslosen Spitälern« umfunktionierten – und nach 1990 von einer »legalisierten Bourgeoisie« als Immobilien aufgekauften – Schlösser und Burgen als Fragmente des versunkenen Mitteleuropas in »Memento«. Deutet das auf die mit dem Verlust dieser Welt verbundenen Melancholie, 29 repräsentieren die Schlösser und mittelalterliche Burgen, die es wei-

28 Andruchowytsch 2004: 15 (»alles, was greifbar ist«). 29 Hier ist zunächst an Benjamins Melancholiebegriff zu denken, wobei die Melancholie Teil der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte ist, in die das »Memento« sich mit intertextuellen Verweisen einschreibt. Außerdem: Im 16. Jahrhundert (und der Verdrängung des orthodoxen Glaubens durch den Katholizismus (und die polnische Sprache) in Teilen der Ukraine, war die Kiewer Akademie, in der sich orthodoxer Glaube, die lateinische Sprache und damit verbundene europäische Kulturtradition und das Barock verband, der östliche Vorposten universitärer Lehre und Lernens. Als die in Russland Herrschenden begannen, solche ukrainische Kultur als mögliche Bedrohung ihrer Herrschaft wahrzunehmen und die ukrainische Sprache verboten, zogen zahlreiche ukrainische Wissenschaftler und Autoren ins Habsburgische Galizien als einziger Region des alten Russlands, die sich nun außerhalb des russischen Reiches

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ter östlich nicht mehr gibt, wie das Autor-Ich hervorhebt, das europäischer Erbe dieses Landstrichs. 30 Andruchowytschs Galizien, das Zentrum seiner Ukraine, erscheint als »nachmodern«: in einem Zustand post-fin de siècle und k.u.k.-Moderne – nach der in den Werken von Bruno Schulz oder Joseph Roth präsenten Welt, als es noch eine Zugverbindung Lemberg-Wien-Venedig gab und Galizien trotz seiner Randlage noch Teil eines multikulturellen Europas war. Das erste Kapitel in »Memento« ist eine »Todesanzeige « für diese Welt, die in der Kindheit des Autors nach den verheerenden Modernisierungsprojekten des Totalitarismus ein Scherbenhaufen ist. Ihre Bruchstücke und deren Geruch nach Feuchtigkeit und Fäulnis prägen seine Kindheitswelt: In dieser kleinstädtischen Welt der Häuser und Hinterhöfe bin ich aufgewachsen, […]. Zur Zeit meiner Geburt lag diese Welt schon größtenteils in Trümmern, […] ich erinnere mich aber noch gut an jene seltsam gebeugten alten Männer und Frauen, die im galizischen Dialekt fluchten und lateinische Sprüche aus dem Gymnasium auswendig hersagen konnten und sich noch in den Jahren Chruschtschows und der Beatles so kleideten, als wären sie gerade aus der Tür getreten, um den Erzherzog Franz Ferdinand zu begrüßen. (Wie sie es geschafft haben, diese Kleider völlig unbeschädigt aufzubewahren – das ist die Frage! Trotz all der ›Säuberungen‹, Durchsuchungen, Deportationen, Verstaatlichungen?) (An-

druchowytsch 2004: 9f.)

Dem hier mit aufgerufenen habsburgischen Mythos wird – neben dessen Ironisierung durch Autoren wie Joseph Roth – das dem Ende der Donaumonarchie und zwei Weltkriegen folgende geschichtliche Leid gegenübergestellt. Das wirkt einer Idealisierung der untergegangenen Welt ebenso entgegen wie der mit der

befand (vgl. Kappeler 2014). Insgesamt sei Religion im Hinblick auf die Ukraine und ihre Zugehörigkeit zu Europa oder Russland, bzw. die Unterscheidung zwischen West- und Ostukraine, kein relevantes Unterscheidungsmerkmal (Hann 1987). Denn die populäre Unterscheidung zwischen den lateinischen und orthodoxen Gebieten bei der Grenzziehung verliere spätestens dann ihre Überzeugungskraft, wenn man sich die Existenz der ›griechisch-katholisch‹ genannten Kirchen in der Ukraine, Polen und anderen ›mitteleuropäischen‹ Ländern vergegenwärtigt. Diese folgen einerseits dem orthodoxen Ritus, andererseits erkennen sie zugleich das Primat des katholischen Papstes in Rom an. 30 Im Kleinen Lexikon intimer Städte haben Verweise auf die Altstädte Lembergs und der baltischen Hauptstädte eine ähnliche Funktion (Andruchowytsch 2016: 325).

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Kindheitswelt assoziierte »Altersgeruch«. 31 Die ironische Perspektive auf diese Welt und die eigene Sehnsucht danach ist ein Grundmerkmal von Andruchowytschs Schreibstil. Zudem wird die Erinnerung an die eigene Kindheitswelt mit dem Zweiten Weltkrieg, Holocaust, Vertreibung und Stalinismus im Sinne einer »multidirectional memory« (Rothberg 2009) verknüpft. Unter den in einem der folgenden Kapitel aufgelisteten Ruinen gibt es neben Industrieruinen »Ruinen von Friedhöfen, insbesondere dort, wo Genozid, Säuberungen und Deportationen stattgefunden haben. […] Ich habe solche Ruinen gesehen: jüdische, armenische, lemkische. […]« (Andruchowytsch 2004: 15) Unterschiedliche, sich außerhalb des Textes z.T. gegenseitig ausschließende Erinnerungsdiskurse und mentale Landkarten werden durch die nicht gewichtende Auflistung auf dieselbe Ebene gestellt. Weiter unten auf derselben Seite thematisiert das Autor-Ich seine Konzentration auf das »Reale, Dingliche, Konkrete« statt der Beschäftigung mit Abstraktem, und damit auch ethischen Fragen, und lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers damit bewusst auf letzteres, ein potenzieller Rezeptionsprozess, den er dann auch direkt anspricht und auf den trotz seiner kritisch-ironischen Betrachtung keinesfalls verzichtet werden soll: »Ich wäre gezwungen zu moralisieren (eigentlich habe ich schon angefangen), offene Fenster und Türen einzurennen, einen nervösen Durchzug zu verursachen in diesen Korridoren zwischen Vergangenheit und Zukunft.« (Andruchowytsch 2004: 15) 32 3.3 Lebensgeschichten Insgesamt wird die Geschichte der Ukraine als europäisches Grenzland anhand der eigenen Familiengeschichte erzählt und verortet. Der Autor folgt den Biographien einzelner Familienmitglieder, wobei diese immer wieder mit politischen und ökonomischen Grenzen konfrontiert werden. Es sind Manifestationen imperialer und nationaler Grenzziehungen, die oft zugleich die Dichotomie zwi-

31 Vgl. den Müllgeruch, der dem Autor und seinen Freunden bei der Erkundung von Burgruinen auf der Suche nach »ein bißchen Ferne« in ihrer Studentenzeit entgegenschlägt. 32 An anderer Stelle wird sarkastisch Bezug auf diverse akademische Diskurse genommen, der Zweite Weltkrieg als »die nächste Krise des europäischen Humanismus« (Andruchowytsch 2004: 21) nach der »Entgötterung« bzw. dem Spenglerschen »Untergang des Abendlandes« mit dem Ersten Weltkrieg bezeichnet. Der Autor grenzt solche Diskurse damit einerseits von der geschichtlichen Erfahrung seiner – ungebildeten – Vorfahren ab, und setzt sie andererseits mit deren Perspektive gleich (vielleicht auch ein postmoderner Akt der Transgression von Bildungsgrenzen).

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schen Europa als ›Westen‹ und dem ›Osten‹ repräsentieren. Jedoch werden diese Grenzen in den »zuweilen unglaublich verwickelten und widersprüchlichen Erzählungen von Wanderungen, Ehen, Geburten« (Andruchowytsch 2004: 17) von Familienangehörigen immer wieder überschritten. Die »Familiensaga« beginnt mit dem Urgroßvater Karl, einem Deutschböhmen, der sich in Galizien niederlässt und sein Auskommen mit dem Malen von griechisch-katholischen Ikonen verdient (Andruchowytsch 2004: 18) und reicht bis in die Gegenwart. Die Geburt des Autors ist das Ergebnis der erzwungenen Rückkehr der Großmutter und des Vaters in die Ukraine, nach ihrer Flucht »vor den Russen« bis nach Österreich am Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Gegensatz zu den Schwestern der Großmutter werden sie aufgrund ihrer ukrainischen Staatsbürgerschaft »zur Heimkehr verurteilt« (Andruchowytsch 2004: 52). Bei der sowohl von der Großmutter als auch vom Vater, aus dessen Sicht dieser Teil erzählt wird, als Katastrophe empfundenen Rückreise im Zug »verschwand Europa in der Ferne« (Andruchowytsch 2004: 53). Und blieb dort. Leerstellen in der Familiengeschichte werden durch offenbar Erdichtetes gefüllt und damit letztlich als Leerstellen belassen, so die Geschichte des anderen Urgroßvaters, dessen Eltern beide einzeln aus wirtschaftlichen Gründen von Galizien nach Amerika emigriert sind, und der sich als Fünfjähriger am Donauufer wiederfindet, nachdem er vor der Arbeit für seinen Lebensunterhalt bei Bauern weggelaufen ist. Der Junge hält den Fluss für den »großen Teich«, auf dessen anderer Seite, also im Westen (wie auch jenseits der Grenze zum europäischen Westen zu anderen Zeiten), die Neue Welt und damit eine bessere Zukunft auf ihn wartet, wie er glaubt. Stattdessen wird er von einem zufällig vorbeikommenden galizischen Landbesitzer mitgenommen und adoptiert – ein Spiel mit Fakten und Fiktion, das andere Geschichtserzählungen ebenfalls arbiträr erscheinen lässt und dabei zugleich Empathie im Leser für den Jungen am Flussufer erzeugt. Einfühlung bestimmt auch die Perspektive des Autor-Ichs in den Kapiteln zum Tod des eigenen Vaters, der – wie die damit verknüpfte Erfahrung der eigenen Endlichkeit (Schulze 2006) – im Zentrum der erzählten Familiengeschichte steht und dem Todesmotiv am Anfang des »Memento« eine weitere Dimension verleiht. 3.4 Spiel mit kulturellen, politischen und literarischen Kategorien Die einzelnen Kapitel in »Mittelöstliches Memento« haben Bezeichnungen literarischer, journalistischer u.a. Textsorten als Titel, wobei der Autor im jeweiligen Kapitel mit dessen Konventionen spielt und damit wiederum die Grenze zwischen Fakt und Fiktion hinterfragt. Zugleich werden die Geschichten aus der

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Provinz – vom Rand Europas – 33 so zum Stoff klassischer Formen, von der griechischen Tragödie bis hin zum Feuilleton, und damit in die europäische Literatur- und Kulturgeschichte hineingeschrieben. Ein ähnliches Spiel mit Kategorien bestimmt auch die Struktur des Lexikons. Denn hier werden mentale Landkarten und ihre historische, geopolitische Dimension einem anderen, mit Sprache bzw. Literatur verkopften Ordnungsprinzip unterwerfen, das die sonst gegebenen Grenzen überschreitet bzw. verschiebt: »Wie Sie sehen, hat das Alphabet die Räume vermischt und setzt sich örtlich über Grenzen hinweg. Dank seinem Willen und seinen Launen grenzt Czernowitz an Detroit und Detroit an Drohobytsch, Toronto an Uschgorod und Solotyj Potik an Straßbourg.« (Andruchowytsch 2016: 16) Dabei wird dieses Ordnungsprinzip sofort wieder untergraben und letztlich aufgelöst. Nicht zuletzt durch den »Willen« und die »Launen« konkreter Orte, im Hinblick auf deren kulturelle Bedeutung wie auch ihre Erfahrung durch das Subjekt. Ähnliches geschieht durch die Kategorisierung des Bandes als Lexikon im Titel Kleines Lexikon intimer Städte. Hier wird eine alphabetische Ordnung der Kapitel zu den (Erinnerungs-)Orten des Autor-Ichs angekündigt und diese im »Vorwort nach Art einer Bedienungsanleitung« mit dem ukrainischen und deutschen Alphabet in Bezug gesetzt. 34 Die In-Fragestellung und Subversion gängiger Ordnungsmuster wird in den folgenden Ausführungen des Autor-Ichs dazu in verschiedene Richtungen weitergedacht, ein Spiel mit Kategorien der Wahrnehmung und des Verstehens, das das Ich in den Ortsbeschreibungen der einzelnen Kapitel weiterführt und das als grundlegende Schreibstrategie den Text, wie auch das Gesamtwerk Andruchowytschs charakterisiert. Das schafft eine transgressive Historiographie: 35

33 Vom »Arsch der Welt« (Andruchowytsch 2004: 18) 34 Daraus ergeben sich sprachlich bedingte Widersprüche. Dann die kyrillische Schrift des ukrainischen Alphabets und die lateinische des deutschen haben eine unterschiedliche Zahl an Buchstaben. Das stellt eine einfache, universelle Ordnung (wie auch die Möglichkeit ein Ordnungssystem wie mit einer Bedienungsleitung auf eine komplexe räumliche und zeitliche Erfahrungswirklichkeit anzuwenden) in Frage. 35 In einer solchen Historiographie werden Grenzen zwischen Fakten und Fiktion erzählerisch überschritten und analoge Grundstrukturen in Frage gestellt, wie Richard Todd (2005) in seinem Text zur transgressiven Historiographie im englischsprachigen magischen Realismus feststellt.

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Manchmal ist die oben dargestellte Reihenfolge auch durchaus berechtigt und verständlich: Charkiw und Czernowitz haben den ukrainischen Osten und den ukrainischen Westen einander näher gebracht, Kiew steht vor Lemberg, Leningrad, Minsk und Moskau gehören auf ewig zusammen, und Hajsyn, Isjaslaw und Jüterbog haben sich für mich unerwartet zu einer Triade von Armee-Erinnerungen gefügt. (Andruchowytsch 2016: 16)

3.5 Versuch einer antiimperialen Kartierung In »Memento«, wie auch in anderen Texten, bildet das von dem aus Wien kommenden Urgroßvater als »Arsch der Welt« (MM 18) betrachtete galizische Stanislau die Mitte »seines Europas«. Das verkehrt die zu verschiedenen Zeiten vorherrschende Perspektive eines imperialen Zentrums auf Galizien bzw. den europäischen Osten oder die Ukraine als Peripherie, von der Habsburger Donaumonarchie über aktuelle, westliche Europabilder bis hin zur UdSSR und dem Russland unter Putin, welches das Autor-Ich scharf kritisiert (Andruchowytsch 2016: 236-238; 240). Dieses Ich beschreibt sein Schreiben als eine Form des Remapping, als »meine koloniale Antwort auf das metropolitane (genau, letale!) Zentrum.« (Andruchowytsch 2016: 239), eine Aussage, die in der aktuellen politischen Situation noch an Prägnanz gewinnt. Sein utopisch-touristischer Blick auf Moskau als exotisch Fremdes deutet angesichts Moskaus »permanenten imperialen Ausfälle[n] in unsere kleinrussische Richtung« (Andruchowytsch 2016: 240) auf die bestehende geopolitische Kluft, die eine solche Perspektive unmöglich macht, und überschreitet sie gleichzeitig in einem Akt der Imagination. O Herr, wie gerne wäre ich Engländer, Deutscher, Franzose, sogar Japaner – nur, um Moskau wirklich lieben zu können! Als etwas großartiges, verdammt Reiches, Ausladendes, Exotisches, weit Entferntes und ungefährlich Fremdes, gelegen in einer sicheren, kulturellen Entfernung, wie Rio, Schanghai oder New York. Denn Moskau verdient es unbedingt, geliebt zu werden. Aber keinesfalls aus dieser unterdrückten und halb gebückten Position von Moskaus ewigen kleinrussischen Speichelleckern. (Andruchowytsch 2016: 240)

4. FAZIT Abschließend ist festzustellen: Auch Juri Andruchowytschs geopoetische Texte setzen sich mit diversen Grenzen auseinander. Es sind konkret erfahrbare Grenzen, aber auch Grenzen und Dichotomien, als Teil von »mental maps«, d.h. Konstruktionen sozialer Identität, innerhalb derer Individuen sich verorten. Diese

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verweisen in »Memento« u.a. Texten Andruchowytschs stärker als bei Petrowskaja auf eine aus den mentalen Landkarten Europas resultierende WestOst-Dichotomie, die sich in verschiedenen Phasen der europäischen Geschichte jeweils weiter nach Westen oder Osten verschoben, aber nicht aufgelöst hat. Dabei manifestiert sich in »Memento«, wie auch im Lexikon, in dieser Dichotomie eine imperiale ›mental map‹, die die Ukraine zu einem aus Sicht Putins geopolitischen Spielfeld an Russlands – europäischer – Westgrenze macht, insbesondere, wenn das Grenzland Ukraine aus westlicher, europäischer Sicht in eine allzu periphäre Lage gerückt und damit unsichtbar wird. Die besprochenen Texte lassen sich als literarische Kritik an einer solchen mentalen Geographie, einschließlich der ihr unterliegenden Geschichtsdiskurse lesen: 36 eine geopoetische Form des Re-mapping, bei der ›imperiale‹ Grenzen ständig überschritten werden. So wird zum einen die Asymmetrie zwischen dem – letalen – russischen Zentrum und seiner ukrainischen Peripherie einer (antiimperialen) Neukartierung unterzogen, zum anderen aber auch die Lage der politischen und kulturellen Mitte Europas und seiner östlichen Peripherie. Die Positionierung des Autor-Ichs und seiner Geschichte wird innerhalb dieses geopoetischen Prozesses und auf den dabei entworfenen Karten durch Ironie u.a. erzählerische Mittel ständig hinterfragt und die neuen Grenzen werden wieder ins Oszillieren gebracht. Insgesamt lässt sich der Begriff der Transdifferenz damit so erweitern, dass die Möglichkeit, spezifische Grenzen langfristig aufzulösen oder zu verschieben durch ihre temporäre Suspension greifbar wird und die längerfristige Aufhebung von Differenz im Moment ihrer temporären Suspension nicht realisiert, aber denkbar wird. Ebenso schafft die Vorstellung des sich Überlappens und der Übersetzung Anknüpfungspunkte an Anil Bhattis Begriff der Ähnlichkeit. Die Realität, aber auch die Kontingenz geopolitischer Grenzziehungen, die in Europa auch jenseits des Russland-Ukraine-Konflikts in den vergangenen Jahren wieder spürbarer geworden sind, wird damit sinnlich greifbar und zugleich un(be)greifbar. Das verbindet die ›autogeographischen‹Texte Andruchowytschs und Petrowskajas, wenn das geopoetische Re-mapping Andruchowytschs auch eine deutlichere politische Dimension hat. Mit der Bezugnahme auf das mitteleuropäische Erbe der Westukraine fordern seine Texte die politische Verwirklichung europäischer Werte wie Freiheit und Gleichheit für die Ukraine und rufen das politische Europa, das sich auf diese Werte beruft, auf, das zu unterstützen.

36 Doris Bachmann-Medick bezeichnet solche Landkarten im Kontext postkolonialer Literatur als »mapping of empire«. (Bachmann-Medick 2006: 293).

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Harmonie ist eine Strategie Gattungs- und Formwissen in Ali Smiths ›Brexit-Roman‹ Autumn (2016) Florian Kläger

ABSTRACT Ali Smith’s novel Autumn (2016) immediately acquired near-canonical status in academic discussions of ›BrexLit‹, i.e., literary responses to the 2016 British referendum on leaving the European Union. This chapter considers the functions of Autumn’s self-conscious references to the Victorian genre of the ›Condition of England‹ novel. It argues that the older genre’s central premise – the idea that England is divided into ›two nations‹ – is explored in Autumn as a potential pattern for making sense of the current political situation. However, Smith dismisses the standard solutions offered by that genre’s conventions, especially the dialogue between the divided ›cultures‹ within the nation, as model responses. In the process, ›genre knowledge‹ (Gattungswissen) and ›form knowledge‹ (Formwissen) are exposed as conventions disappointing the hopes placed in them. Still, the function of literature and art as repositories of historical models for problem solving is affirmed: the post-referendum ›Remainers‹ are presented as deeply disorientated, and the novel suggests that a cure for their despair may be found in a ›shared‹, cosmopolitan and European archive, rather than in an isolationist national tradition. Keywords: Autumn (Ali Smith) – BrexLit – Form knowledge – Genre knowledge – Condition of England novel

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Seit dem britischen EU-Referendum vom Juni 2016 befinden sich Europa und das ›europäische Großbritannien‹ in einer der Übergangsphasen, um die es in diesem Band geht und von der auch im Herbst 2018 noch vollkommen unklar ist, welchen Ausgang sie nehmen wird. Dieser Beitrag diskutiert die Möglichkeit, anhand einer traditionellen Gattung und der ihr zugrundeliegenden Form(en) in einer chaotisch anmutenden Zeit Orientierung und Sinn zu schaffen. Ali Smiths Autumn (2016) ist der erste Teil eines Romanquartetts mit dem Titel Seasonal, das noch im Entstehen begriffen ist. Der zweite Band, Winter, erschien 2017, der dritte ist für März 2019 angekündigt. Es muss als Marketingerfolg gelten, dass sich Autumn in der Kritik vom Fleck weg als ›kanonischer BrexitRoman‹ etablieren konnte – andererseits zeigt es aber auch, wie sehr zumindest die Feuilletons und die Literaturwissenschaft nach literarischen Auseinandersetzungen mit dem sogenannten Brexit-Referendum und seinen Folgen dürsteten. Obgleich der Roman nach dem Referendum, aber vor Beginn der Austrittsverhandlungen spielt, wurde er von der New York Times als »the first great Brexit novel« gefeiert (Lyall 2017). Im rasch publizierten Band Brexit and Literature (Eaglestone 2018) wird Autumn in gleich vier Beiträgen diskutiert und ist in der noch zeitiger erschienenen Anthologie It’s not just the economy, stupid! Brexit and the Cultural Sector (Stedman, van Lente 2017) mit einem mehrseitigen Auszug vertreten. Kristian Shaw nennt den Roman »arguably the first significant post-Brexit novel« (Shaw 2018: 20) und bespricht ihn geradezu als Paradebeispiel für die neue Form der ›BrexLit‹. Darunter versteht er »fictions that either directly respond or imaginatively allude to Britain’s exit from the EU, or engage with the subsequent socio-cultural, economic, racial or cosmopolitical consequences of Britain’s withdrawal« (ebd.: 18). Im Folgenden möchte ich einen Aspekt des Romans herausstellen, der eine andere Gattungs- bzw. Formreferenz betrifft: Autumn rekurriert auf eine Romanform des neunzehnten Jahrhunderts, den ›Condition-of-England‹-Roman, aktiviert gewisse Gattungsmerkmale und wendet diese auf die veränderte Situation im Jahr 2016 an. Ich möchte zeigen, dass es sich bei dieser Transformation um eine jener Schreibweisen handelt, die – im Sinn der Einleitung zu diesem Band – einen interkulturellen Blick auf ein Europa formiert und etabliert hat, der sensibel ist für Ähnlichkeit, Diversität, Konflikte und Vermittlungen (vgl. Johann/Patrut/Rössler 2019). Die Interkulturalität, um die es dabei geht, ist gemäß den Gattungskonventionen eine zwischen zwei ›Nationen‹ oder ›Kulturen‹ innerhalb Englands, und eines von Smiths Anliegen besteht darin, herauszustellen, dass statt dieses engen nationalen Rahmens zumindest für den Bevölkerungsteil, um den es in Autumn geht, (auch) das europäische und kosmopolitische Element für die britische Kultur und Identität konstitutiv ist. Somit wird die in der Einlei-

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tung formulierte Frage nach der Imagination der Außen- und Binnengrenzen Europas in einem sehr konkreten Übergangsszenario sowie der diskursiven Inklusions- und Exklusionsstrategien hier aus einer beharrlich ›noch-europäischen britischen‹ Perspektive aufgegriffen. Autumn leistet auf geradezu programmatische Art eine Transfer- und Verknüpfungsarbeit – eine historische, genuin britische Gattung wird zur Beschreibung der Befindlichkeit des Landes in der Gegenwart herangezogen, um aufzuzeigen, wie wenig diese Befindlichkeit noch in Isolation (von Europa bzw. der Welt) zu begreifen ist.

GATTUNGS- UND FORMWISSEN Wenn es um den spezifischen Beitrag geht, den eine literarische Verhandlung des britischen Europa-Diskurses zu leisten vermag, wird die Frage nach der formalen Verfasstheit des Textes zentral. Ich gehe davon aus, dass Autumn (neben anderen Formen) auf das etablierte Gattungsmuster des Condition-of-EnglandRomans als ›Lösungsschema‹ zurückgreift. Allerdings sei keinesfalls behauptet, dass es sich bei Autumn um einen prototypischen oder ›reinen‹ Condition-ofEngland-Roman handelte – das ist natürlich nicht der Fall. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass diese Gattungsreferenz Teil einer Strategie Smiths ist, die ›Archive‹ Großbritanniens, Europas und der Welt nach Lösungsangeboten für die Situation im Jahr 2016 zu durchforsten. Für diesen Mechanismus gilt grundsätzlich, was Birgit Neumann und Marion Gymnich über Gattungen, die sie »als Orte des literarischen, des individuellen und des kulturellen Gedächtnisses« bezeichnen, festhalten: »Als historische ›Antworten‹ reagieren Gattungen mit literarischen Mitteln auf spezifische Herausforderungslagen und kulturell prävalente Sinnbedürfnisse« (Gymnich, Neumann 2007: 33, 39). Es ist ebenso zutreffend, dass Gattungen »[d]ort, wo sie nicht länger auf historisch virulente Fragestellungen reagieren können und sie kulturelle Bedürfnisse nicht länger zu befriedigen vermögen, […] ihre Wirkmacht [verlieren]« (ebd.: 39), aber im Condition-ofEngland-Roman liegt ein Spezialfall vor: Es handelt sich dabei um eine Gattung, die seit ihrer Entstehung in den 1830er- und 1840er-Jahren und ihrem Verschwinden in den 1860er-Jahren gelegentlich wiederbelebt wurde. Der Grund dafür ist zu sehen in der Funktion literarischer Gattungen als »a set of conventional and highly organized constraints on the production and interpretation of meaning« (Frow 2006: 10): So wirkt die Gattung als komplexitätsreduzierendes ›Programm‹ oder Erklärungsmodell, das eine erfolgreiche Antwort auf eine historisch spezifische Frage prinzipiell zur möglichen Antwort auf spätere, leicht anders gelagerte Fragen erscheinen lässt. Die Funktionsweise dieses Problemlö-

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sungsmodells (vgl. Erdbeer u.a. 2018) setzt voraus, dass bestimmte Annahmen und Handlungsweisen vorausgesetzt und andere ausgeschlossen werden. Es geht, wie Gunhild Berg formuliert, darum, »welches Wissen Gattungen ihrer Form nach repräsentieren, welches sich historisch wandelnde Wissen ihren Strukturen und Strukturierungsleistungen inhärent ist« und wie die Darstellungsform auch »Wahrnehmungsinhalte und damit epistemische Dinge« präfiguriert, determiniert und reguliert (Berg 2014: 1-2). Für Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg ist im Hinblick auf derart implizites Gattungs-Wissen neben der Funktion von Gattungen als konventionalisierte Deutungsmuster auch relevant, »wie Literatur ihre diskurs- und kulturrelevanten Akzente nicht allein in Inhalten, sondern auch und vor allem aufgrund sprachlicher Formgebung setzt« (Bies et al. 2013: 8). Die Frage nach der Gattung wird so zur Frage nach der Spezifik literarischer Interventionen im weiteren kulturellen Feld. Caroline Levine hat in Forms (2015) aufgezeigt, wie Neoformalismen dieser Ausprägung kulturwissenschaftlich aufgeladen und erweitert werden können. An literarischen Grundformen wie dem homogenen Ganzen, dem Rhythmus, der Hierarchie und dem Netzwerk liest sie Merkmale ab, die auch anderen sozialen Organisationsformen und Ordnungsprinzipien zugrunde liegen. Diese Formen können in verschiedenen Gattungen auftreten, in denen sie ihre sogenannten ›Affordanzen‹ zum Tragen bringen. So ist z.B. eine Affordanz des ›einheitlichen Ganzen‹ (whole), dass es auf Ausgrenzung beruht: »as a unity joins disparate elements into one, it always depends on a ›constitutive outside.‹ It is created and maintained by acts of exclusion. Recent theorists have been right to insist that this is the political danger that always haunts the embrace of unified form« (Levine 2015: 31). Nach Levines Verständnis leisten diese Formen sowohl in der Literatur als auch darüber hinaus einschränkende und differenzierende Arbeit; sie überschneiden sich und treten in Wechselwirkungen; sie sind mobil zwischen historischen, geographischen und kulturellen Sphären; und insbesondere reagieren sie auf konkrete politische Umstände und werden darin selbst zu Akteuren (ebd.: 5). Was ich über ›Netzwerke‹ weiß, wird meine Lektüre der Figurenkonstellation eines Dickens-Romans ebenso beeinflussen wie mein Verhalten im universitären Kollegium – und, entscheidender: Meine Lektüre des Romans kann, vermittels des dadurch veränderten Wissens über Netzwerke, mein Verhalten verändern. Durch die Referenz auf eine Gattung kann eine mit ihr verbundene Form in diesem Sinn aktiviert und mit den ›Grundformen‹ anderer Gattungen in Beziehung gesetzt werden. Was das in der Praxis bedeuten kann, möchte ich im Folgenden am Beispiel von Autumn aufzeigen. Es soll dabei mit Gunhild Berg davon ausgegangen werden, dass »Erkenntnis- und Repräsentationsweisen […] ein

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Untersuchungsfeld [präfigurieren], wobei sie Wahrnehmungsinhalte und damit epistemische Dinge, mögliche Objekte des Wissens und Zugangsweisen zu ihnen sanktionieren, andere ausschließen und so das Wissbare grundlegend determinieren« (Berg 2014: 2). So soll zur hier untersuchten Textform des Condition-of-England-Romans erfasst werden, welche Sanktionierungen, Restriktionen und Determinationen sie bedingt. In Erweiterung dieses Ansatzes durch die Anregung Levines soll dezidiert der Begriff ›Form‹ den Fokus auf die Gattung erweitern, um das Konzept des Gattungswissens weiterzudenken zu einem ›Formwissen‹, das Repräsentationsweisen nicht mit etablierten Gattungen identifiziert bzw. auf sie reduziert. Konkret geht es dabei darum, die Form des ›harmonischen Ganzen‹ sowie ihre ›Anti-Form‹ des Gespaltenen auf ihre ›Affordanzen‹ zu untersuchen und so einen Bezug herzustellen zwischen der Form dieses ›Europa-(Abschieds-)Romans‹ und dem politischen Klima, auf das er reagiert.

DIE GATTUNG DES CONDITION-OF-ENGLAND-ROMANS Der Condition-of-England-Roman (auch: ›industrial novel‹, ›social novel‹, im Deutschen meist ›Sozialroman‹ oder ›Industrieroman‹) entsteht im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts in England und verschwindet nach einer kurzen Phase der Beliebtheit wieder. Sein Gegenstand ist zunächst die sogenannte ›factory question‹, die Frage nach den Rechten vor allem der arbeitenden Kinder, dann aber auch der gesamten working class in den Fabriken der Industrienation England. Der Name der Gattung geht zurück auf den viktorianischen Reformer Thomas Carlyle, der in seinem Buch über die Chartisten-Bewegung (1840) unter der Überschrift »Condition-of-England Question« schreibt: A feeling very generally exists that the condition and disposition of the Working Classes is a rather ominous matter at present; that something ought to be said, something ought to be done, in regard to it. […] What means this bitter discontent of the Working Classes? Whence comes it, whither goes it? Above all, at what price, on what terms, will it probably consent to depart from us and die into rest? (Carlyle in Shea/Whitla 2015, 29)

Die Ratlosigkeit und Furcht der Mittelschicht (»us«) angesichts der Arbeiterbewegung spricht aus diesen eindringlichen Fragen, und die Autorinnen und Autoren der Condition-of-England-Romane nahmen sich der Aufgabe an, die Lebensumstände der Arbeiter und die Gründe für ihr Elend einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. In Sybil, or The Two Nations (1845) des späteren Premierministers Benjamin Disraeli findet die für nahezu alle dieser Romane

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programmatische Formulierung des Problems, als eine Figur die Lage der Nation wie folgt beschreibt: ›Two nations; between whom there is no intercourse and no sympathy; who are as ignorant of each other’s habits, thoughts, and feelings, as if they were dwellers in different zones, or inhabitants of different planets; who are formed by a different breeding, are fed by a different food, are ordered by different manners, and are not governed by the same laws.‹ ›You speak of—‹ said Egremont, hesitatingly. ›THE RICH AND THE POOR.‹ (Disraeli 2017: 60)

Die Problemstellung, dass es keinen Austausch zwischen diesen ›Parallelgesellschaften‹ gebe, wird hier durch die räumlichen Vergleiche mit unterschiedlichen Erdteilen oder gar Planeten und durch Unterschiede in der Erziehung, Ernährung, den Sitten und Gesetzen illustriert. Es kann also durchaus von unterschiedlichen ›Kulturen‹ die Rede sein, die in dieser Gattung zunächst getrennt erscheinen, dann aber stets in Dialog miteinander treten. Zu den paradigmatischen Vertretern der Gattung zählen neben Sybil u.a. Mary Barton (1848) und North and South (1855) von Elizabeth Gaskell, Alton Locke Tailor and Poet (1850) von Charles Kingsley, Hard Times (1854) von Charles Dickens, und (für manche Kritiker) Shirley (1849) von Charlotte Brontë und Felix Holt, the Radical (1866) von George Eliot. Ohne an dieser Stelle der Komplexität der Gattung gerecht werden zu können, möchte ich auf einige ›Familienähnlichkeiten‹ zwischen diesen Romanen aufmerksam machen, die von Smith in Autumn aufgegriffen werden. Dabei handelt es sich zunächst um die von Disraeli so prägnant formulierte Spaltung des Landes zwischen Arm und Reich, die vermeintlich nirgends zueinander finden, es im Roman aber eben doch tun. Die Autorinnen und Autoren der Romane entstammen praktisch ausnahmslos der middle class und erschaffen Figuren aus der Mittelschicht, mit denen sich die ebenfalls mehrheitlich dieser Schicht zugehörige Leserschaft identifizieren kann. Die Begegnung und der Dialog mit Figuren aus der working class (nicht immer Arbeiterinnen und Arbeitern in Fabriken des industriellen Nordens, sondern auch die Armen Londons und anderer Städte) wecken in ihnen ein Bewusstsein für das Leid dieser Schicht und die Motivation, etwas daran zu ändern. Dabei ist die Darstellung der working class, deren Lebensumstände in teils schockierender Detailliertheit geschildert werden, häufig, wenn auch nicht ausnahmslos, geprägt von den Vorstellungen und Werten der Mittelschicht (aber vgl. Gallagher 1988: passim, bes. xiv-xv). Dickens legt z.B. in Hard Times dem Arbeiter Stephen Blackpool auf die Frage, wie die Gesell-

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schaft besser zu regeln sei, als Antwort in den Mund: »I donno, sir. I canna be expecten to’t. ’Tis not me as should be looken to for that, sir. ’Tis them as is put ower me, and ower aw the rest of us« (Dickens 2003: 148). Diese Sozialkritik, die letztlich die Grundfesten der viktorianischen Gesellschaft nicht infrage zu stellen wagt, produziert eher reformorientierte als revolutionäre Lösungsvorschläge: Es geht um die Abkehr von den schlimmsten Auswüchsen des laissezfaire-Unternehmertums, die Verbesserung gesetzlicher Regelungen zum Schutz der Arbeiter und die Reform des Wahlrechts und des Bildungssystems, nicht um einen radikalen Systemwechsel. Das beruht auf der Annahme, die letztlich auch den Romanen selbst als Kommunikationsakten zugrunde liegt, nämlich dass die tiefe Spaltung des Landes letztlich durch den Dialog zu lösen sei. So heißt es in Elizabeth Gaskells North and South über das Verhältnis zwischen dem Fabrikbesitzer Thornton und dem Arbeiter Higgins: »Once brought face to face, man to man, with an individual of the masses around him, and (take notice) out of the character of master and workman, in the first instance, they had each other begun to recognize that ›we have all of us one human heart‹« (Gaskell 1995: 409). Wo die Masse in Individuen aufbricht (wie es der Roman als ›nationale Allegorie‹ leistet; vgl. Parrinder 2006), wird Dialog möglich, und wo ein Dialog zwischen den ›Kulturen‹ von Industriellen und Arbeitern, Herren und Knechten geführt wird, werden die Gemeinsamkeiten offenbar, die die Gräben in der Gemeinschaft überwinden lassen und letztlich die Grundlage für nationale Harmonie und Einheit sind. Die Gattung hat noch zahlreiche weitere Merkmale, die hier nur insofern angeführt sein sollen, als sie in Autumn aktiviert bzw. referenziert werden: Auf der Handlungsebene durch die Frage nach der Verantwortung der Unternehmer für ihre Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch auf formaler Ebene durch die Personifizierung größerer Kollektive in Einzelfiguren und die ›Bürde der Repräsentation‹, die diesen Figuren damit aufgeladen wird, steht in der Gattung stets die Frage nach dem Verhältnis zwischen individuellem und kollektivem Nutzen im Raum. Die Romane enden üblicherweise mit einer Eheschließung (die die Überwindung nationaler Brüche symbolisiert), einer Erbschaft (die finanzielle Probleme ex machina löst und/oder die Zugehörigkeit zu einer höheren Schicht offenbart) oder der Auswanderung bzw. dem Tod der Protagonisten (vgl. Harsh 1994; Weber 2005). Das wird in der Kritik ausgelegt als Scheitern der Gattung, kollektive Probleme als solche zu begreifen und zu lösen – stattdessen werden individuelle Lösungen angeboten, die lediglich die Handlung zum Abschluss bringen: »almost every novel swings between describing and escaping the problems it identifies, offering solutions it evinces little faith in itself« (Joshi 2013: 229, vgl. Williams 1958: 94-118). So gilt für die Condition-of-England-Gattung

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besonders, was Ralph Pordzik für den Roman des 19. Jahrhunderts generell auf die Formel gebracht hat, dass er »als literarische Strategie zur symbolischen Integration bedrohlicher Wirklichkeiten in ein fiktives Modell sozialer Ordnung und Kohäsion« gesehen werden kann (Pordzik 2001: 34). Konkret zu dieser Gattung führt Pordzik aus, dass die Condition-of-England-Romane »bei ihrem Versuch, die private und öffentliche Handlungsebene in Einklang zu bringen, das Fehlen sozialer Verständigung überhaupt erst sichtbar werden lassen« (ebd.: 49). So entlarvt sich die Sehnsucht nach dem Dialog der Schichten und nach nationaler Harmonie als (im Rahmen der Gattungsvorgaben) unerfüllbar. Auf dieser Grundlage – die der Komplexität der Gattung nicht gerecht wird – sei kurz rekapituliert, dass im Condition-of-England-Roman als »konventionalisierte[r] Wissensstrukturierung[]« (Berg 2014: 3) zunächst determiniert wird, dass die von konkret benannten Problemen erschütterte Gesellschaft als ganze zu erfassen sei. Der persönliche Kontakt, die physische Erfahrung der Armenviertel und Fabriken und besonders der Dialog mit Vertretern der working class erscheinen als legitime und zielführende Wissenszugänge; ihre realistische Schilderung ist im Kontext des viktorianischen Romans vorausgesetzt. Zugleich ist mit der ›two nations‹-Problematik zweierlei verfügt: Es gibt idealiter eine englische Gesellschaft, aber diese ist realiter gespalten, und gerade die Lebensumstände der ›Anderen‹ – der Ärmsten – werden als legitimer und wesentlicher Gegenstand des Wissens ausgewiesen. Als unmöglich (bzw. restringiert) erscheint es diesen Autoren und damit ihrer Gattung, eine völlig neue englische Gesellschaft zu imaginieren – das äußert sich nicht nur in der Reformorientierung der Romane auf der Handlungsebene, sondern auch in der formalen Ausgestaltung ihrer Schlüsse. Was die zugrundeliegende ›Form‹ der Gattung betrifft, sind mit der nationalen Einheit, die de facto nichtexistent bzw. gestört ist, sowohl Form als auch die zu überwindende Anti-Form angezeigt: Es handelt sich um das Ganze bzw. Gespaltene. Als Wissen um die Überwindung der Spaltung bietet die Gattung die wechselseitige Erfahrung der Lebensumstände und den Dialog zwischen ihnen an. Nach ihrer Intention exemplifiziert sie die Lösungsvorschläge zudem, indem sie eben diesen Dialog imaginiert; in der Sache gelingt es ihr jedoch nur bedingt, einen direkten lebensweltlichen Effekt zu zeitigen, wie ihn z.B. Charlotte Brontë am Ende von Shirley von ihren Lesern verlangt: »The story is told. I think I now see the judicious reader putting on his spectacles to look for the moral. It would be an insult to his sagacity to offer directions. I only say, God speed him in the quest!« (Bronte 2011: 608). Hieraus spricht die Zuversicht, dass der Roman seinen Standpunkt und seine Lösungsvorschläge überdeutlich gemacht habe und dass nur noch die praktische Umsetzung verbleibe. In der Tat lässt sich festhal-

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ten, dass die Gattung so erfolgreich darin war, ihre Anliegen umzusetzen, dass sie sich selbst abschaffte: »the condition of England novel became a victim of its own success, because as legislation enacted reforms and the working class enjoyed improving conditions, other issues […] came to the fore« (Simmons 2002, 350-351). Trotzdem überlebt die Gattung als Sinnstiftungs- und Lösungsangebot im Archiv, wenn auch – wie deutlich geworden ist – sehr schichtenspezifisch und ideologisch belastet. Dennoch, oder gerade deswegen, wird sie in späteren ›state-of-the-nation‹-Texten von E.M. Forsters Howards End (1925, mit dem programmatischen Motto: »only connect«) bis Martin Amis’ Lionel Asbo. State of England (2012, ebenso programmatisch: »who let the dogs in?«) regelmäßig wiederbelebt bzw. transformiert (vgl. Tronicke 2017; Kläger 2012). Inwiefern das in Autumn geschieht, soll im Folgenden erläutert werden.

DAS ENDE DES DIALOGS: DIE ›CONDITION OF ENGLAND‹ IN AUTUMN Autumn schafft, ähnlich wie frühere Romane Ali Smiths, virtuose Traum- und Gedächtniswelten, die erzähltechnisch an Virginia Woolf und die britische Moderne gemahnen. Der handlungsarme Roman begleitet Elisabeth Demand, eine junge, prekär beschäftigte Kunsthistorikerin, durch die ersten Monate nach dem EU-Referendum, in denen sie immer wieder an der Borniertheit ihrer Landsleute verzweifelt und ihren 101-jährigen ehemaligen Nachbarn und Mentor Daniel Gluck besucht, der in einem örtlichen Krankenhaus gepflegt wird. Seine gestaltwandlerischen Träume an der Schwelle zum Tod bilden narrative Kontrapunkte zu den alltäglichen Erlebnissen Elisabeths, die mit renitenten Beamten streitet, an Daniels Bett liest und von ihrer Mutter über Antiquitäten belehrt wird. In Rückblenden entfaltet sich ihre gemeinsame Geschichte mit Daniel, der ihr von früher Kindheit an ein Gespür für Kunst und die Möglichkeiten der Vorstellungskraft vermittelt hat. Auch das Thema ihrer Dissertation verdankt Elisabeth ihm: Ihr Fachgebiet ist die britische Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty, deren tragisches Schicksal und weitgehende Vergessenheit im Schlussteil des Romans thematisiert werden. Strukturell prägend ist jedoch die Beziehung zwischen Daniel, dessen Nachname Gluck seine deutschen Wurzeln verrät, und der fast siebzig Jahre jüngeren Elisabeth, deren Nachname ›Demand‹ nicht etwa für ihre Anspruchshaltung steht, sondern, wie Daniel ihr erklärt: »I think it comes from the French words de and monde, put together, which means, when you translate it, of the world« (Smith 2016: 50, im Folgenden abgekürzt als »A«). Ob das stimmt oder nicht, wird nie geklärt, aber es wird deutlich, dass Elisabeth hier durch die

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Erweiterung ihres Horizonts eine alternative Identität angeboten bekommt: »Really? Elisabeth said. We always thought it meant something like the asking kind of demand.« Daniel schlägt ihr einen anderen Selbstentwurf vor: »Of the world, or in the world, I think so, yes […]. It might also mean of the people« (A, 50). In der Begegnung zwischen einem Pensionär und einer Schülerin in einer englischen Kleinstadt scheint so unverhofft eine europäische, kosmopolitische Dimension auf – und das gerade in der Konfiguration zweier Altersgruppen, die im EU-Referendum auf unterschiedlichen Seiten standen. Der Ästhet Daniel ist jedoch ein beständiger Faktor der Inter- und Transnationalität bzw. Inter- und Transkulturalität in Elisabeths Leben, indem er sie immer wieder herausfordert, Selbstverständlichkeiten ihres provinziellen Umfelds infrage zu stellen und ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Als dem Holocaust entkommener Jude und Liebhaber kontinentaler Kunst verkörpert er ein europäisches Gedächtnis, an dem Elisabeth rätselt und reift. Mit der Konstellation Daniel/Elisabeth ist eine mögliche Spaltung des Landes – nicht mehr zwischen Arm und Reich, sondern zwischen Alt und Jung – bereits angerissen, aber sie wird durch die Freundschaft der beiden entkräftet. Individuelle Interessen widersetzen sich hier der demographischen Determination; die Hauptfiguren sind nicht auf offensichtliche bzw. allegorische Typen reduzibel. Dennoch ist das Land von Autumn nach dem Referendum uneins, wie auch die zahlreichen intertextuellen Referenzen auf unterschiedlichste Gattungen und Epochen auf formaler Ebene verdeutlichen. Autumn oszilliert auf thematischer Ebene zwischen harter Tagespolitik und abstrakten Diskussionen über Ästhetik, und seine intertextuelle Matrix reicht von Homer bis Charlie Chaplin. Schon der Beginn des Romans ist eine Tour de Force: Daniel wird nackt an einer unbekannten Küste angespült, ist sich nicht sicher, ob er lebt oder bereits tot ist, erspäht eine Gruppe von Mädchen, versteckt sich in einem Wald vor ihnen und kehrt schließlich wieder an den Strand zurück, wo er die Leichen zahlloser Ertrunkener neben fröhlichen Urlaubern sieht. In dieser Sequenz – die sich als einer seiner Nahtod-Träume erweist – überlagern sich auf wenigen Seiten (A, 313) im Anschluss an ein einleitendes modifiziertes Dickens-Zitat die NausikaaEpisode der Odyssee (und damit auch des Ulysses) und Shakespeares The Tempest mit Daniels Kindheitserinnerungen, konkreten Verweisen auf Künstler wie John Keats und Édouard Boubat, den Holocaust und die Atombombe, und der Situation von Flüchtlingen im Mittelmeer des Jahres 2016. Die Orientierungslosigkeit, die dieser Einstieg erzeugt, erwächst aus der Vermischung von Realität und verschiedenen Formen der Repräsentation, die jeweils unzählige und widersprüchliche Interpretationen erfahren. Zeiten, Räume, Realitäten verwischen in diesem Sinnüberschuss, der zugleich Sinnleere ist, und das Kapitel endet im lyri-

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schen Zweizeiler: »How many worlds/Handful of sand« (A, 13). Für den Roman ist programmatisch, dass er eine Vielzahl von überkommenen Sinnangeboten aus der nationalen, europäischen und globalen Geschichte einander gegenüberstellt und die Leserin herausfordert, im scheinbaren Chaos eine Ordnung zu finden. Als Elisabeths Mutter zur Teilnahme an einer TV-Sendung im Stil von Kunst und Krempel ausgewählt wird, gibt ihre Freude wieder, was auch Autumn selbst unternimmt: It’s as if the Angel Gabriel has appeared at the door of her mother’s life, kneeled down, bowed his head and told her: in a shop full of junk, somewhere among all the thousands and thousands of abandoned, broken, outdated, tarnished, sold-on, long-gone and forgotten things, there is something of much greater worth than anyone realizes, and the person we have chosen to trust to unearth it from the dross of time and history is you. (A, 129130)

Die Gattungsreferenzen auf den Condition-of-England-Roman sind, so scheint mir, Teil dieser Parade von Artefakten aus der Vergangenheit, die in Autumn auf ihren Wert untersucht werden. In einer mehrseitigen Sequenz, die keiner Reflektorfigur eindeutig zugeordnet ist, formuliert Smith in einem Stil, die deutlich an die ›two-nations‹-Rhetorik der viktorianischen Gattung erinnert: All across the country, there was misery and rejoicing. […] All across the country, people felt it was the wrong thing. All across the country, people felt it was the right thing. All across the country, people felt they’d really lost. All across the country, people felt they’d really won. All across the country, people felt they’d done the right thing and other people had done the wrong thing. (A, 59)

Die Anapher »all across the country« hebt hervor, dass die politische Nation als Klammer und Rahmen angesichts des knappen Referendumsergebnisses ausgedient hat – zu tief sind die Gegensätze, zu austauschbar die Sichtweisen auf das jeweils andere Lager. Trotz allem aber, so scheint es, hat sich am grundlegenden Problem nichts geändert: All across the country, everything changed overnight. All across the country, the haves and the have nots stayed the same. All across the country, the usual tiny per cent of the people made their money out of the usual huge per cent of the people. All across the country, money money money money. All across the country, no money no money no money no money. All across the country, the country split in pieces. All across the country, the countries cut adrift. (A, 61)

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Trotz – und wegen – der Rahmung der britischen Probleme im globalen Finanzsystem wird die Bildlichkeit der Spaltung, der Trennung und der Unüberwindlichkeit, die auch für die viktorianische Gattung prägend ist, überdeutlich. Noch eindeutiger ist die Gattungsreferenz jedoch in einer Passage, die auf für Autumn charakteristische Weise Erlebtes und Erinnertes, Nation und Kultur, Ernst und Ironie vermischt: Rule Britannia, a bunch of thugs had been sing-shouting in the street at the weekend past Elisabeth’s flat. Britannia rule the waves. First we’ll get the Poles. And then we’ll get the Muslims. Then we’ll get the gyppos, then the gays. You lot are on the run and we’re coming after you, a right-wing spokesman had shouted at a female MP on a panel on Radio 4 earlier that same Saturday. The chair of the panel didn’t berate, or comment on, or even acknowledge the threat the man had just made. Instead, he gave the last word to the Tory MP on the panel […]. Elisabeth had been listening to the programme in the bath. She’d switched the radio off […]. Her ears had undergone a sea-change. Or the world had. But doth suffer a sea-change Into something rich and – Rich and what? she thought. Rich and poor. (A, 197-198)

Zu Beginn der Sequenz singen ausländerfeindliche Proleten die heute hauptsächlich aus der ›Last Night of the Proms‹ bekannte Hymne ›Rule Britannia‹ und zeigen so das nationalistische Element in der britischen (Erinnerungs-)Kultur auf. Auch das vermeintlich seriöse Programm der BBC scheint Elisabeth mittlerweile von solcher Rhetorik unterwandert. Die verängstigte Protagonistin fasst das Umschlagen der Stimmung im Land in einem Zitat, das ihr in den Sinn kommt – jedoch nur halb, denn der korrekte Text des Lieds ›Full Fathom Five‹ aus Shakespeares The Tempest lautet »into something rich and strange«. Elisabeths reflexartige Vervollständigung des Zitats hat einen unmittelbar komischen Effekt, aber auch einen ernsten Hintergrund: Sie ist gedanklich so in ihrer heiklen finanziellen Situation und ihrer Deutung der tagespolitischen Entwicklungen gefangen, dass ihr kein anderes Paar zu ›rich‹ einfällt als ›poor‹ – nicht einmal der Reim ›change/strange‹ dient ihr zur Orientierung. Stattdessen reproduziert sie jedoch – im Anschluss an eine Passage, die wie bei Disraeli die tiefen Gräben in der Gesellschaft aufgezeigt hat – wörtlich die Schlussfolgerung zur ›condition of England‹ aus Sybil. Der Nationaldichter Shakespeare bietet sich zunächst als Erklärungshilfe an, reicht aber (hier) nicht aus – stattdessen ist es die viktorianische Gattung, die als Modell aktiviert wird. Der komische Effekt erwächst aus

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der Diskrepanz Shakespeare/Sozialroman, aber auch daraus, dass das gewählte Lösungsschema reduktiv wirkt. Wie in der Condition-of-England-Gattung wird auch in Autumn das Fehlen eines Austauschs zwischen den ›zwei Nationen‹ beklagt: That morning on the radio she’d heard a spokesperson say, but it’s not just that we’ve been rhetorically and practically encouraging the opposite of integration for immigrants to this country. It’s that we’ve been rhetorically and practically encouraging ourselves not to integrate. We’ve been doing this as a matter of self-policing since Thatcher taught us to be selfish and not just to think but to believe that there’s no such thing as society. Then the other spokesperson in the dialogue said, well, you would say that. Get over it. Grow up. Your time’s over. Democracy. You lost. It is like democracy is a bottle someone can threaten to smash and do a bit of damage with. It has become a time of people saying stuff to each other and none of it actually ever becoming dialogue. It is the end of dialogue. (A, 111-112, alle Hervorh. im Original)

Der traditionelle Condition-of-England-Roman stellt sich diesem Problem (vermeintlich), indem er den Dialog zwischen den Schichten inszeniert: Zwar sind die Arbeiterinnen und Arbeiter oftmals bloße Karikaturen (wie der oben zitierte Stephen Blackpool in Hard Times) und ihr Austausch dient meist der Bestätigung der Werte der Mittelschicht, aber die Möglichkeit des Dialogs wird konkret imaginiert. Genau hier endet – oder besser: scheitert, vorsätzlich – die Gattungsreferenz in Autumn. Die ›two nations‹, die in der »All across the country«Passage aufgezeigt werden, sind offenkundig ›Leavers‹ und ›Remainers‹. Ein Dialog zwischen ihnen erfolgt allerdings nirgends: Die zwei längeren Zitate, die ich angeführt habe, stellen die einzigen Passagen dar, in denen Leavers überhaupt zu Wort kommen – einmal als singender Mob und zweimal als Stimmen aus dem Radio. Bestenfalls wäre noch das Graffito »GO HOME« zu nennen, das auf ein Haus in Elisabeths Nachbarschaft gesprüht wird (A, 53). Auch hier behält die ›Remainer‹-Seite das letzte Wort und die moralische Überlegenheit, obwohl es diesmal nicht Elisabeth ist, die das Urteil spricht: Jemand schreibt »WE ARE ALREADY HOME THANK YOU« unter die Schmiererei, und Passanten stellen Blumen auf (A, 138). Dialog findet nicht statt, und eine Würdigung möglicher Argumente für einen Brexit erfolgt nirgends – es scheint, als wären die beiden nationalen ›Kulturen‹ (›Europäer‹ und ›Isolationisten‹) so grundlegend voneinander getrennt, dass ein Austausch selbst in der Fiktion unmöglich, ja: unvorstellbar ist.

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Smith beklagt also das Ende des Dialogs und kapituliert zugleich davor, ihn auch nur zu imaginieren. Damit ist der Grundannahme der Condition-of-EnglandGattung entsprochen, aber der Wert dieses Modells für die Lösung der zeitgenössischen Probleme wird zurückgewiesen. Es wird unter Aktivierung des Gattungswissens die ›Anti-Form‹ der Spaltung vorgestellt, deren Auflösung in einer harmonischen Einheit die viktorianische Gattung betreibt. So stellt der Roman, dessen Titel schon auf die Zyklizität der Zeit (und eine Phase des zyklisch wiederkehrenden Niedergangs) verweist, die Rückkehr eines historischen Problems in den Raum und attestiert zugleich, dass das überlieferte Lösungsmodell diesmal nicht helfen wird. Das Motiv der Metamorphose, das den Roman besonders in Daniels Traumsequenzen durchzieht, stützt diese Sichtweise, wenn es im fehlerinnerten Shakespeare-Zitat gleichsam abgewürgt wird: ›into something rich and… poor‹. Die Condition-of-England-Gattung ist hier nicht nur formgebend im Hinblick auf die ›two nations‹-Problematik, sondern auch als Form mit dem Wissen verbunden, dass sie die grundlegenden Probleme des Landes nicht lösen konnte, weil sie zu sehr in der Perspektive der Mittelschicht und ihrem Glauben an die Möglichkeit einer Harmonisierung verhaftet war. Dieses Wissen über eine Gattung, die die ideologischen Grenzen ihrer Erfinderinnen nicht überwinden konnte, aktiviert Smith in einem Roman, der sich – dann nur konsequent – weigert, die ›andere Seite‹ überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Das ›harmonische Ganze‹, das der viktorianischen Gattung als Grundform eingeschrieben ist, lässt sich gegenwärtig, so jedenfalls die Perspektive des Romans, nur noch dann realisieren, wenn die Unmöglichkeit des Dialogs mit dem grundlegend ›Anderen‹ im eigenen Land – nicht dem Fremden, sondern dem Fremdenfeindlichen – akzeptiert wird. Die Anti-Form des Gespaltenen, die in der viktorianischen Gattung die Handlung motiviert, ist im Referendumsjahr 2016 präsent, aber nicht einmal mehr imaginativ in ihr Gegenteil zu verkehren. Diesem herbstlich-tragischen Befund setzt das Ende des Romans dennoch einen Lichtblick entgegen. Elisabeths Mutter, die sich dem Kampf gegen eine Einzäunung öffentlichen Grunds verschrieben hat (welche die vielen metaphorischen Gräben und Grenzen des Romans konkret werden lässt), entwickelt eine ganz eigene Strategie. Sie wird ihren ›Krempel‹ – die vermeintlich wertlosen Antiquitäten, die sie sammelt – über den Zaun werfen, »bombarding that fence with people’s histories and with the artefacts of less cruel and more philanthropic times« (A, 255, Herv. im Original). Daraus spricht einerseits die Überzeugung, dass die Einzelne doch noch kreativ Verantwortung übernehmen kann, um den kollektiv verordneten Grenzziehungen etwas entgegenzusetzen, und andererseits die Hoffnung, dass das Archiv doch eine Form bereithalten mag, die die Spaltung überwinden kann. Die Konfiguration der Intertexte in Autumn markiert

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das Archiv, das hier gemeint ist, als auch und maßgeblich europäisch. Dass sich nationale und europäische Formen zunächst als unvereinbar erweisen, hat dabei auch eine politische Dimension: Der Slogan der ›Leave‹-Kampagne lautete »Take back control« und war auf die Vermischung europäischer und britischer (Rechts-)Ordnungen bezogen (vgl. zur Vorgeschichte Schieren 2015). Die Antwort des Isolationismus jedoch wird in Autumn vermittels der ›rein‹ englischen Form des Condition-of-England-Romans als Lösungsmodell zurückgewiesen. Dass alternativ ein größeres Archiv – obgleich vorläufig und eher als Hoffnung – als Reservoir solcher Lösungs- und Gemeinschaftsmodelle vorgeschlagen wird, gibt dem Roman eine europäische und kosmopolitische Dimension.

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Autorinnen und Autoren

Withold Bonner (Dr.) ist Lektor (em.) für deutschsprachige Literatur und Kultur im Fach Deutsche Sprache, Kultur und Translation an der Fakultät für Kommunikationswissenschaften der Universität Tampere (Finnland). Forschungsschwerpunkte sind DDR-Literatur, Formen des kulturellen Gedächtnisses, Konzeptionen von Heimat sowie transkulturelle Literatur und Film. Ausgewählte Publikationen: »Haymatlos im kulturellen Gedächtnis: Serenade für Nadja von Zülfü Livaneli und Seltsame Sterne starren zur Erde von Emine Sevgi Özdamar«, In: GegenwartsLiteratur 15 (2016); »Von Utopie zu Dystopie. Eisenbahnreisen in der Sowjetunion in Texten aus der DDR«, In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7 (2016), H. 2; »The Interplay of Water, Home, and Narration in Überfahrt by Anna Seghers«, In: Costlow/Haila/Rosenholm (Hg.): Water in social Imagination from Technological Optimism to Contemporary Environmentalism (2017). Marco Thomas Bosshard (Prof. Dr.), geboren 1976 in Zürich, ist Professor für Spanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg. Ausgewählte Publikationen: Churata y la vanguardia andina (Lima, 2014). La reterritorialización de lo humano. Una teoría de las vanguardias americanas (Pittsburgh, 2013). Hg. zusammen mit Fernando García Naharro: Las ferias del libro como espacios de negociación cultural y económica (Madrid, 2019), Epische Versdichtung im Frankreich des 19. Jahrhunderts zwischen Oralität, Auralität und Literalität (Tübingen 2016; Lendemains, Nr. 164), Hg. zusammen mit Vicente Bernaschina Schürmann: Orientaciones transandinas para los estudios andinos (Pittsburgh 2015, Sondernummer der Revista Iberoamericana), Buchindustrie und Buchmessen zwischen Deutschland, Spanien und Lateinamerika (Münster, 2015) sowie Hg. zusammen mit Andreas Gelz: Return Migration in Romance Cultures (Freiburg, 2014).

390 | Transformationen Europas im 20. und 21. Jahrhundert

Till Breyer (Dr. des.) ist seit 2016 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte war er 2009/10 Gastdozent an der Universitatea din Oradea (Rumänien). Er promovierte im Rahmen des PhD-Nets »Das Wissen der Literatur« an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über Realismus und Ökonomie im 19. Jahrhundert. 2012/13 war er Gastwissenschaftler an der Princeton University. Ausgewählte Publikationen: Chiffren des Sozialen. Politische Ökonomie und die Literatur des Realismus. Göttingen 2019; Medien der Latenz. Zur Vorgeschichte der Konjunkturzyklen bei Zola und Juglar. In: Medien der Finanz. Archiv für Mediengeschichte 17 (2017), S. 79-90; Hg. zusammen mit Rasmus Overthun/Philippe Roepstorff-Robiano/Alexandra Vasa: Monster und Kapitalismus (= Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2017). Isabelle Chaplot (M.A.) studierte Kulturwissenschaftliche Medienforschung und European Film and Media Studies an der Bauhaus Universität Weimar, der Université Lumière Lyon II sowie der Universiteit Utrecht. Nach beruflichen Stationen in der Filmbranche und im Verlagswesen ist sie seit September 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Europäische Medienwissenschaft der Hochschule und Europa-Universität Flensburg. Sie forscht zurzeit an Ihrem Promotionsvorhaben mit dem Titel: Der Heilige Mensch: Aspekte von kinematographischer Erinnerung im europäischen Nachkriegskino. Sabine Egger (Dr.), M.A. (Köln); Promotion (HU Berlin); seit 1997 Lecturer am Institut für German Studies, Mary Immaculate College, Universität Limerick; Mitbegründerin und Leiterin des Irish Centre for Transnational Studies; Forschungsschwerpunkte: Literatur des 20.-21. Jahrhunderts, Erinnerung, Spatial Turn, Alterität, Intermedialität. Ausgewählte Publikationen: Dialog mit dem Fremden. Erinnerung an den »europäischen Osten« in der Lyrik Johannes Bobrowskis (Würzburg 2009); Hg. zusammen mit Witthold Bonner/Ernest Hess-Lüttich: Vom Zugabteil zum Cabaret: Transiträume Sprache, Literatur und Kultur. (ZiG 7.2, 2016) Anna Grutza (M.A.) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Medienwissenschaft am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg. Sie lehrt dort u.a. im B.A.-Studiengang European Cultures and Society und promoviert mit einer Arbeit zum Thema: Europas heimliche Agenten und die Macht der Dinge: Eine transnationale Mediengeschichte systemkritischer Akteur-Netzwerke im Kalten Krieg. Zuvor studierte sie

Autorinnen und Autoren | 391

Medienkultur und Kulturwissenschaftliche Medienforschung an der BauhausUniversität Weimar, Information et Communication an der Université Lumière Lyon II und European Studies am Centre for European Studies der Jagiellonen Universität in Krakau. Sie beendete ihr Masterstudium in Weimar 2014 und schloss 2015 einen zweiten Master im Fach European Interdisciplinary Studies am College of Europe in Warschau ab. Ausgewählte Publikationen: Zusammen mit Joanna Szylko-Kwas, Katarzyna Gajlewicz-Korab und Anna Jupowicz-Ginalska: »Immigrants in Polish and German Online Media: A Comparative Analysis«, In: Journalism Research, No. 12, 2018, Vilnius University, Litwa, S. 39-72; »Schwellenräume des Rechts: Der Ausnahmezustand und die Matrix der Moderne«, In: EJECT, Zeitschrift für Medienkultur, Vol. 4, 2014, S. 77-88; »Eine Geschichte des Müßiggangs«, In: EJECT, Zeitschrift für Medienkultur, Vol. 2, 2012, S. 52-64. Maren Jäger (Dr.), promovierte 2006 über Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945. 2002-2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin an Universitäten in Mainz, Duisburg-Essen und Flensburg; seit 2017 PostDoc im Graduiertenkolleg »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen« an der Humboldt-Universität zu Berlin (Habilitationsprojekt: Brevitas – Kürze zwischen Ästhetik und Ökonomie). Ausgewählte Publikationen: Die Joyce-Rezeption in der deutschsprachigen Erzählliteratur nach 1945. Tübingen 2009 (Studien zur deutschen Literatur; 189); Hg. zusammen mit Matthias Bauer: Mythopoetik im 20. Jahrhundert: Film und Literatur. München 2012; Die Kürzemaxime im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der brevitas-Diskussion in der Antike. In: Claudia Öhlschläger/Sabiene Autsch (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Medien und Kunst. Paderborn 2014, S. 21-40; Die deutschsprachige Lyrik im Jahr 1995. In: Heribert Tommek/Matteo Galli/Achim Geisenhanslüke (Hg.): Wendejahr 1995. Berlin 2015, S. 267-299. Wechselwirkungen von Erzählen und Wissen in kurzen Prosaformen der Frühen Neuzeit am Beispiel des Apophthegmas. In: Michael Gamper/Ruth Mayer (Hg.): Kurz & Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld 2017, S. 15-26. Wolfgang Johann (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Germanistik der Europa-Universität Flensburg. Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie in Trier und Ashland/VA (USA) mit Studienaufenthalten in Cambridge/UK, New York City, Washington, D.C. und Paris. Forschungsschwerpunkte: Holocaust-Literatur und kulturelle Repräsentation des Holocaust in der deutschen Gesellschaft; Debattengeschichte der ›Vergangen-

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heitsbewältigung‹ in der Bonner und Berliner Republik; Deutsch-jüdische Literaturen der Peripherie (Wilna, Czernowitz, Prag); Widerstand, Subversion und Nonkonformität in der Literatur. Ausgewählte Publikationen: Das Diktum Adornos: Adaptionen und Poetiken. Rekonstruktion einer Debatte. Würzburg 2018; Meditations on the contexts of Adorno’s dictum: Comments on literary, philosophical and historical contexts. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 49/2016, S. 237-248. Florian Kläger (Prof. Dr.) ist Professor für Englische Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Nach dem Studium der Anglistik und der Geschichte in Mainz und Galway und der Promotion an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (2002-2005, Graduiertenkolleg Europäische Geschichtsdarstellungen) war er wissenschaftlicher Assistent am Englischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (2008-2014). Dort leitete er am EuropaKolleg ein DFG-Projekt zu Europakonstruktionen in der britischen und irischen Literatur (2012-2015) und war wissenschaftlicher Koordinator des DFGGraduiertenkollegs Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung (2015/6). Er habilitierte sich 2014 am Fachbereich 09 der WWU Münster mit einer Arbeit zum zeitgenössischen britischen und irischen Roman. Ausgewählte Publikationen: Reading into the Stars. Cosmopoetics in the Contemporary Novel. Heidelberg 2018; Hg. zusammen mit Matthias Erdbeer/Klaus Stierstorfer: Literarische Form. Theorien – Dynamiken – Kulturen. Beiträge zur literarischen Modellforschung. Heidelberg 2018 und Form. Grundthemen der Literaturwissenschaft. Berlin/Boston 2019 (im Erscheinen); Hg. zusammen mit Martina Wagner-Egelhaaf: Europa gibt es doch… Krisendiskurse im Blick der Literatur. Paderborn 2016; Forgone Nations. Constructions of National Identity in Elizabethan Historiography and Literature: Stanihurst, Spenser, Shakespeare. Trier 2006. Beate Laudenberg (Dr.), Literaturwissenschaftlerin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe; Gastdozenturen an Universitäten in Großbritannien, Russland und der Türkei; seit 2014 stellvertretende Leiterin der Poetik-Dozentur für Kinder- und Jugendliteratur an der PH Karlsruhe, seit 2018 Projektleiterin im vom BMBF über fünf Jahre geförderten Forschungsverbund »Leistung macht Schule«. Forschungsfelder: Literatur der Goethe-Zeit und des 20./21. Jahrhunderts, Intermedialität und Paratextualität, Inter- und Transkulturalität, synkulturelle Bildung und Begabungsförderung. Ausgewählte Publikationen: Inter-, Trans- und Synkulturalität deutschsprachiger Migrationsliteratur und ihre Didaktik, München 2016; zusammen mit

Autorinnen und Autoren | 393

Heike Knortz: »Durchrauschen des Papiergeldes« und »Rauschen der Papiergeldpresse« – Zur Darstellung der Inflation bei Goethe und Fallada. In: Daniel Börner/Andreas Rudolph (Hg.): Hans Fallada und die Literatur(en) zur Finanzwelt. Berlin 2016; Hg. zusammen mit Carmen Spiegel: Begabte und Leistungsstarke im Deutschunterricht. Baltmannsweiler 2018. Isabelle Leitloff (M.A.), Doktorandin im Bereich der interkulturellen Germanistik der Universität Paderborn, aktuell mit Sitz an divergenten Forschungsinstituten in Kuba, DAAD-Stipendiatin. Forschungen im Bereich der vergleichenden Kultur- und Literaturwissenschaften, Gender Studies, Postcolonial Studies und der interkulturellen Germanistik. Iulia-Karin Patrut (Prof. Dr.) hat seit 2015 die Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft im europäischen Kontext an der Europa-Universität Flensburg inne. 2005-2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 600 »Fremdheit und Armut. Wandel der Modi von Inklusion/Exklusion von der Antike bis zur Gegenwart« an der Universität Trier. 2003-2005 Stipendiatin im DFGGraduiertenkolleg »Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität« daselbst. Arbeitsgebiete: Literatur und Interkulturalität, Postkoloniale Studien, deutsch-jüdische Literatur; Paul Celan; deutschsprachige Literaturen in mehrsprachigen Regionen (Herta Müller); Literarische Verhandlungen Europas und der ›deutschen Nation‹ in der Literatur und in Wissensdiskursen seit 1770. Ausgewählte Publikationen: Phantasma Nation. ,Zigeuner‹ und Juden als Grenzfiguren des ,Deutschen‹ (1770-1920). Würzburg 2015; Hg. zusammen mit Herbert Uerlings: Inklusion/Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart. Köln/Weimar/Wien 2015 [Synthese-Publ. des SFB 600]; Hg. zusammen mit Reto Rössler: Ähnlichkeit um 1800. Konturen eines literatur- und kulturtheoretischen Paradigmas am Beginn der Moderne. Bielefeld 2019. Reto Rössler (Dr. des.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sprache, Literatur und Medien und im B.A.-Studiengang European Cultures and Society der Europa-Universität Flensburg. Zuvor war er Mitarbeiter im DFGProjekt ›Versuch‹ und ›Experiment‹: Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700-1960) der Universität Innsbruck (20152017), der Germanistik der Universität Trier (2012) sowie im SFB 600 Fremdheit und Armut: Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart (2011). Von 2012 bis 2014 war er Stipendiat im

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binationalen Promotionsprogramm PhD.Net: Das Wissen der Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Er promovierte dort 2018 mit einer Arbeit zum Thema: Weltgebäude. Poetologien kosmologischen Wissens der Aufklärung. Ausgewählte Publikationen: Vom Versuch. Bauteile zur Zirkulationsgeschichte einer impliziten Gattung der Aufklärung. Berlin 2017; Hg. zusammen mit Tim Sparenberg/Philipp Weber: Kosmos und Kontingenz. Eine Gegengeschichte. Paderborn 2017; Hg. zusammen mit Gunhild Berg/Martina King: Metaphorologien der Exploration und Dynamik 1800/1900. Historische Wissenschaftsmetaphern und die Möglichkeiten ihrer Historiographie (=== Themenheft des Archivs für Begriffsgeschichte). Hamburg 2018. Nadjib Sadikou (Dr.) erhielt nach dem Studium der Germanistik und Islamwissenschaft an der Université d’Abomey Calavi (Benin) ein Stipendium des DAAD und setzte sein Studium an der Universität Münster fort. 2010 erfolgte die Promotion in neuer deutscher und vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen. 2010 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Tübinger Projekt Wertewelten und Lehrbeauftragter am Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Im Wintersemester 2015/2016 war Sadikou Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Seit September 2017 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Habilitand am Institut für Sprache, Literatur und Medien der Europa-Universität Flensburg. Ausgewählte Publikationen: Transkulturelles Lernen. Literarisch-pädagogische Ansätze. Frankfurt/Main u. a. 2014; Erziehung zwischen den Kulturen. Die Darstellung von Erziehungsprozessen in deutscher und afrikanischer Literatur des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2011. László V. Szabó (Dr.) Seit 2006 Universitätsdozent für Neuere deutschsprachige Literatur am Institut für Germanistik und Translationswissenschaft der Pannonischen Universität Veszprém, Ungarn. Außerdem Mitarbeiter am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der pädagogischen Fakultät der Universität J. Selye, Slowakei. Promotion in Budapest über den Einfluss der Philosophie Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse; Habilitation an der Universität Pécs über Rudolf Pannwitz. Forschungsbereiche: interkulturelle Literaturwissenschaft, Wirkungsgeschichte Friedrich Nietzsches in der deutschsprachigen und ungarischen Literatur, deutsche Literatur des bürgerlichen Realismus, Literatur der Wiener Moderne, Komparatistik. Daneben Übersetzungen, Essays, Aphorismen. Stipendien: DAAD (2010), OEAD (2011 u. 2013), Hermann Niermann (Universität Würzburg, 2007), Alexander von Humboldt (Universität Stuttgart, 2014-2015, 2016 und 2018), Stiftung Weimarer Klassik (2017).

Autorinnen und Autoren | 395

Philipp Weber (Dr.), hat Neuere deutsche Literatur, Philosophie und Neuere und Neueste Geschichte in Münster, Berlin und Paris studiert und war Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs Lebensformen und Lebenswissen (Europa Universität Viadrina [Frankfurt Oder] und der Universität Potsdam) sowie assoziiertes Mitglied des PhD-Netzwerks Das Wissen der Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. 2016 wurde er an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Philipp Weber ist derzeit Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte sind: Poetologien des Wissens, Europäische Romantik, Literatur und Philosophie. Ausgewählte Publikationen: Hg. zusammen mit Rüdiger Dannemann/Maud Meyzaud: Hundert Jahre »transzendentale Obdachlosigkeit«. Georg Lukács’ ›Theorie des Romans‹ neu gelesen (Bielefeld, 2018); Kosmos und Subjektivität in der Frühromantik (Paderborn, 2017); Hg. zusammen mit Reto Rössler/Tim Sparenberg: Kosmos und Kontingenz. Eine Gegengeschichte (Paderborn, 2016). Manfred Weinberg (Prof. Dr.) ist seit September 2010 Professor für neuere deutsche Literatur am Institut für germanische Studien an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag; seit 2015 ist er dort Leiter der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur. Zuvor war er in verschiedenen Positionen (Postdoc-Stipendiat im Graduiertenkolleg Theorie der Literatur, wissenschaftlicher Koordinator des Sonderforschungsbereichs 511 Literatur und Anthropologie und des Forschungszentrums für den wissenschaftlichen Nachwuchs sowie Lehrstuhlvertretungen) an der Universität Konstanz tätig, wo er sich 2001 auch habilitierte. Sein Studium (Germanistik, Biologie, Philosophie und Pädagogik) absolvierte er an der Universität Bonn und wurde dort 1992 mit einer Dissertation über Hubert Fichte promoviert. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats u.a. der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, der brücken. Germanistisches Jahrbuch Tschechien – Slowakei sowie der Zeitschrift der koreanischen Franz Kafka-Gesellschaft, Mitherausgeber der Reihe Interkulturalität. Studien zu Sprache, Literatur und Gesellschaft im Bielefelder transcript Verlag (gemeinsam mit Andrea Bogner und Dieter Heimböckel) und Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik. Ausgewählte Publikationen: Das »unendliche Thema«. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie. Tübingen 2006; Hg. zusammen mit Andreas Langenohl/Ralph Poole: Transkulturalität. Klassische Texte. Bielefeld 2015; Hg. zusammen mit Peter Becher/Steffen Höhne/Jörg Krappmann: Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Stuttgart 2017; Hg. zusammen mit Irina Wutsdorff/Štěpán Zbytovský (Hg.): Prager Moderne(n). Interkulturelle Perspektiven auf Raum, Identität und Literatur. Bielefeld 2018.

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Lena Wetenkamp (Dr.), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Publikations- und Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, insbesondere interkulturelle Gegenwartsliteratur, inter- und transmediale Fragestellungen, Diskurse zu Gewalt, Postmemory und Trauma. Ausgewählte Publikationen: Europa erzählt, verortet, erinnert. EuropaDiskurse in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2017. Dominik Zink (Dr.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Er arbeitet dort an seiner Habilitation, in der er sich mit dem Wahrheitsbegriff um 1800 in der Literatur auseinandersetzt. Seine Forschungsinteressen sind unter anderem Interkulturelle Literatur, Memory Studies, Frühromantik, Zeichentheorie, Literatur um 1900, philosophische Ästhetik und Literatur nach 1989. Ausgewählte Publikationen: Interkulturelles Gedächtnis. Ost-westliche Transfers bei Saša Stanišić, Nino Haratischwili, Julya Rabinowich, Richard Wagner, Aglaja Veteranyi und Herta Müller. Würzburg 2017 (= Diss.); Identität, Differenz und Ähnlichkeit bei Novalis, In: Iulia-Karin Patrut/Reto Rössler (Hg.): Ähnlichkeit um 1800. Konturen eines literatur- und kulturtheoretischen Paradigmas am Beginn der Moderne. Bielefeld 2019, S. 93-131.

Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur 2018, 120 S., kart., Klebebindung 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Sascha Pöhlmann

Stadt und Straße Anfangsorte in der amerikanischen Literatur 2018, 266 S., kart., Klebebindung 29,99 € (DE), 978-3-8376-4402-9 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4402-3

Michael Basseler

An Organon of Life Knowledge Genres and Functions of the Short Story in North America February 2019, 276 p., pb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4642-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4642-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne Februar 2019, 388 S., kart., Klebebindung 44,99 € (DE), 978-3-8376-4555-2 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4555-6

Laura Bieger

Belonging and Narrative A Theory of the American Novel 2018, 182 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4600-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4600-3

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 9. Jahrgang, 2018, Heft 2: Interkulturelle Mediävistik Januar 2019, 240 S., kart., Klebebindung 12,80 € (DE), 978-3-8376-4458-6 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4458-0

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