Philosophie der Verführung in der Prosa der Moderne: Polnische und deutschsprachige Autoren im Vergleich 9783110570458, 9783110572049, 9783110571011

A contribution to the philosophy and anthropology of literature, this book investigates seduction as an interpretative t

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Philosophie der Verführung in der Prosa der Moderne: Polnische und deutschsprachige Autoren im Vergleich
 9783110570458, 9783110572049, 9783110571011

Table of contents :
Dank
Inhalt
1. Einführende Überlegungen
2. Verführung als epistemologische Metapher in Robert Musils und Bruno Schulz’ Erzählungen
3. Andere Ordnung der Dinge in Witold Gombrowicz’ Romanen
4. Schlussbemerkungen
Bibliographie
Personen-Index
Sach-Index
Summary

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Agnieszka Helena Hudzik Philosophie der Verführung in der Prosa der Moderne

WeltLiteraturen/ World Literatures

Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank, Stefan Keppler-Tasaki und Georg Witte Wissenschaftlicher Beirat Nicholas Boyle (University of Cambridge), Elisabeth Bronfen (Universität Zürich), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)

Band 14

Agnieszka Helena Hudzik

Philosophie der Verführung in der Prosa der Moderne Polnische und deutschsprachige Autoren im Vergleich

Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-057045-8 e-ISBN (PDF) 978-3-11-057204-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-057101-1 ISSN 2198-9370 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Gestaltet von Jürgen Brinckmann, Berlin, unter Verwendung einer Graphik von Anne Eusterschulte Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Dank Die vorliegende Studie ist im Rahmen einer Promotion an der Friedrich Schlegel ­Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien der Freien Universität Berlin entstanden. Ich bedanke mich bei den Verantwortlichen und allen Beteiligten für die finanzielle und organisatorische Unterstützung meiner Forschung sowie für den wissenschaftlichen Austausch, der durch das Programm ermöglicht wurde. Mein besonderer Dank geht an Prof. Dr. Georg Witte (Peter-Szondi-Institut für ­Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin) und Prof. Dr. Anne Eusterschulte (Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin) für die Betreuung der Dissertation. Ich danke auch Prof. Dr. Josef Mitterer (Klagenfurt, Wien) für inspirierende Gespräche und Ermutigung zur weiteren Forschung.

https://doi.org/10.1515/9783110572049-202

Inhalt Dank  V 1 Einführende Überlegungen  1 1.1 Verführung und ihre Konnotationen in der Ästhetik, ­ Philosophie und Literaturwissenschaft  2 1.2 Ziel der Arbeit, Problemstellung und Methode  13 1.3 Forschungsstand  20 1.4 Struktur der Arbeit  39 1.5 Erläuterungen  40 2 Verführung als epistemologische Metapher in Robert Musils und Bruno Schulz’ Erzählungen  41 2.1 Subjekt im Dämmerzustand  44 2.2 Verführung als alternative Wissensform  84 2.3 Rhetorik der Alchemie und der Verführung  122 2.4 Mittel der Verführung: Sprache und Schrift  147 2.5 Ein Beispiel für Rewriting: Maxim Billers Novelle Im Kopf von Bruno Schulz  173 3 Andere Ordnung der Dinge in Witold Gombrowicz’ Romanen  193 3.1 Das Prinzip Verführung in Pornographie  195 3.2 Merkmale der Ontologie der Verführung  223 3.3 Verführung und realistische Prosa (Tolstoj, Leskov, Čechov)  256 3.4 Ontologie der Verführung – Vergleich mit Musil  272 3.5 Wechselspiel zwischen Partizipation und Separation auf der Erzählebene  294 4

Schlussbemerkungen  327

Bibliographie  333 Personen-Index  351 Sach-Index  361 Summary  365

1 Einführende Überlegungen Die Wahrheit ist nicht nur eine Sache von Argumenten – sie ist eine Sache der Attraktivität, also der Anziehungskraft. Es bleibt nur das Objekt als seltsamer Attraktor. Objekt und Subjekt — fehlerhafter Gegensatz — kein Ausgangspunkt für das Denken! Wir lassen uns durch die Sprache verführen.

Verführung und Philosophie scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun zu haben. Allzu viel Theorie, so möchte man annehmen, kann der Verführung auch nur schaden, entzieht sich doch gerade das Wesentliche des Phänomens – Sinnlichkeit und Unbegreiflichkeit – dem theoretischen Zugriff. Nicht zuletzt die Fülle an pseudowissenschaftlichen Ratgebern, an Blogs und Foren der sogenannten Pickup Artists, der Vertreter der inzwischen zur Subkultur gewordenen Seduction Commu­ nity, darf es bestätigen. Die Suche nach dem optimalen Algorithmus der Verführung bzw. – wie etwa im Roman Gefährliche Liebschaften (1782) von Pierre Choderlos de Laclos – das kühle Kalkulieren einer perfiden Intrige müssen früher oder später scheitern, denn das verführerische Spiel zeichnet sich gerade durch etwas Unberechen­ bares und Unerwartetes aus, ein faszinierendes Geheimnis und eine irritierende Rätselhaftigkeit sind ihm inhärent. Zur Einstimmung auf die Frage, mit welchem Verständnis von Verführung diese Studie sich auseinandersetzen möchte, werden oben drei Mottozitate angeführt, ganz bewusst ohne Quellenangabe. Die Absicht dahinter ist jedoch nicht, die Arbeit – dem Thema entsprechend – verrätselnd einzuleiten, vielmehr geht es darum, anstelle der Autorennamen die Vorstellungen in den Vordergrund zu rücken, die diese Sätze ­auslösen. Als Autoren kommen Friedrich Nietzsche, Witold Gombrowicz und Jean Baudrillard in Frage – das Rätsel, welche Sentenz zu welchem Autor gehört, ist leicht zu lösen und wird sich auch im Laufe der Studie klären, doch nicht ein Zitatquiz soll hier inszeniert werden. Die Nebeneinanderstellung der Motti möchte die altbekannte These von der Verflechtung der Epochen vor Augen führen: Die Schriftsteller der Moderne beschäftigten sich intensiv mit der Philosophie und ihre Werke dienten dann den postmodernen Theoretikern als wichtige Inspirationsquelle. Wenn man die Zitate ohne historische Zuordnung für sich sprechen lässt und sich dabei auf die Idee konzentriert, die hinter ihnen steht, ist es auffällig, dass in diesen Sätzen das Bild der Verführung eine zentrale Rolle spielt. Sie scheint hier aber anders als gewöhnlich betrachtet zu werden, denn ihre Bedeutung wird wesentlich erweitert. Das geläufige Verständnis, im Sinne eines Phänomens zwischenmenschlicher Beziehungen, wird auf eine andere Ebene übertragen. Die Dynamik der Verführung bezieht sich auf ein abstraktes Denken über die Wirklichkeit und steht für ein anderes Modell bzw. einen alternativen Modus, nach dem die Welt funktionieren kann.

https://doi.org/10.1515/9783110572049-001

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 Einführende Überlegungen

Das erste Motto besagt, dass die Verführungskraft die Stabilität der Wahrheit als einer Ordnungsinstanz ersetze. Es wird imaginiert, dass nicht die Argumente, also das Prinzip der Ratio, Logik, Kausalität und Nachvollziehbarkeit, sondern die ephemere Anziehung und eine nur schwer fassbare Attraktivität die Welt bestimmen. Im zweiten Satz werden die Objekte als „Attraktoren“ bezeichnet. Daraus ist zu folgern, dass die Phänomene nicht als neutrale Gegenstände zu sehen sind. Sie bilden damit auch keinen Gegensatz zum Subjekt, vielmehr wird dieses von den Objekten hingerissen, angezogen und affiziert. Das dritte Zitat stellt eine sprachkritische Bemerkung dar: Sprache, so dürfen wir es verstehen, gibt die Wirklichkeit nicht wieder, ihre Referenzialität ist vorgetäuscht – und dennoch wirkt sie äußerst verführerisch. Meine Arbeit wird sich diesem Vorstellungskomplex widmen, der – so die Leitthese – in der Prosa der Moderne in besonders ausgeprägter Form entwickelt wurde. Die Kategorie der Verführung diente der Literatur dazu, ein gewandeltes Verständnis vom Menschen und von der Welt zum Ausdruck zu bringen. Die neue erkenntnistheoretische Bestimmung des modernen Subjekts, seine Ideen von der Beschaffenheit der Wirklichkeit sowie sein Verhältnis zur Umgebung sollten auf diese Weise ergründet und beschrieben werden. Welche literarischen Formen diese Überlegungen angenommen haben, möchte ich in dieser Studie anhand ausgewählter Werke analysieren.

1.1 V  erführung und ihre Konnotationen in der Ästhetik, ­Philosophie und Literaturwissenschaft Die Verführung scheint seit jeher die Literaturgeschichte begleitet zu haben, sie ­gehört zum festen Bestandteil einer Reflexion über die Kunst. Schon im Orpheus-­ Mythos taucht der verführerische Zauber als Merkmal künstlerischen Schaffens auf. Zu einer Wende in der Betrachtung der Beziehung zwischen Verführung und Kunst kommt es in der Romantik. Beide Phänomene werden jetzt intensiver zusammen­ gedacht, was mit der Entstehung der Ästhetik verbunden ist. Zudem ist eine Verschiebung der Akzente zu beobachten. Die Anziehungskraft des Künstlers wird nicht mehr als Begleiterscheinung seines Wirkens angesehen, sondern der Prozess der Verführung rückt von den Rändern in den Fokus, er wird zur wesentlichen Projektionsfläche für das Nachdenken über die Entstehung und Rezeption des Kunstwerks. Birgit Haustedt etwa untersucht in ihrer Studie Die Kunst der Verführung (1992) anhand der Texte von Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Søren Kierkegaard und Clemens von Brentano die Faszination des Verführers um 1800 und kann feststellen, dass dem Verführungsmotiv in dieser Epoche neue Bedeutungen zugeschrieben werden. Es sind Beziehungen zwischen Frauen in einer passiven Rolle – wenn nicht gar in einer Opferposition – und handelnden Männern, die bezeichnenderweise nicht mehr aus dem Adel stammen müssen. Im Vergleich zu früheren Epochen stand auch nach Haustedts Befund nicht mehr das Ergebnis im Vordergrund, also die Frage, ob die Verführung „erfolgreich“ war oder nicht, sondern die Person des Verführers und

Verführung und ihre Konnotationen in der Ästhetik, ­Philosophie und Literaturwissenschaft 

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seine kunstvolle Taktik. Aus Haustedts Analysen kristallisiert sich ein neuer Typus des Verführers heraus: ein reflektierter, selbstbewusster, mitunter geradezu verschlagener Künstler, der den Verführungsakt ästhetisiert und zum Selbstzweck macht. Er hat sein Vergnügen am verführerischen Spiel und an der Sprache, mit deren Hilfe er den Plan zur Ausführung bringt. Auch aus den Hindernissen schöpft er – wie Haustedt bemerkt – seinen Lustgewinn, denn die Verführung wird als Prozess aufgefasst, der durch vielfältige Techniken des Aufschubs und des Umwegs gekennzeichnet ist, so dass die hinausgezögerte Erfüllung stets als zukünftiger Erfolg erscheint.1 Diese Dynamik lässt sich am deutlichsten in Søren Kierkegaards Tagebuch des Verführers nach­ vollziehen, dem letzten Kapitel des ersten Buches in seinem Hauptwerk Ent­weder – Oder (1843). Kierkegaards Erzähler Johannes wird im Vorwort als jemand vorgestellt, der „allzu sehr geistig bestimmt [war], um ein Verführer im gewöhnlichen Sinne zu sein“, und dessen Leben ein Versuch war, „die Aufgabe, poetisch zu leben, zu ver­ wirklichen“.2 Die minutiöse Intrige, die er spinnt, um Cordelia zu verlocken, begreift er als sein Kunstwerk. Die Verführung wird somit zum Verfahren und zur M ­ etapher 3 für die Kunst sowie zum Anlass ihrer Selbstreflexion. Seit der romantischen Umdeutung des Verführungsaktes wird dieser in der Li­ teratur mit zunehmender Differenzierung betrachtet. Er gewinnt an Mehrdeutigkeit und beginnt, als komplexer Entwurf zu fungieren, der facettenreiche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zur Darstellung bringt, auch treten weitere Figuren als Verführende auf – wie zum Beispiel die Femme fatale. Evelyn Bukowski macht in ihrer Arbeit Metamorphosen der Verführung in der Novellistik der Frühmoderne (2004) unter anderem auf die Werke von Heinrich von Kleist, Theodor Fontane, Eduard Mörike und Thomas Mann aufmerksam, in denen sie eine Vielzahl von Verführungssituationen findet; sie unterscheidet zwischen der Verführung zum Sexualakt, zum Treuebruch, zum künstlerischen Schöpfungsakt und zum Tod.4 Vor allem im Schaffen Thomas

1 Birgit Haustedt, Die Kunst der Verführung: Zur Reflexion der Kunst im Motiv der Verführung bei Jean Paul, E. T. A. Hoffmann, Kierkegaard und Brentano, Stuttgart 1992, 130. Über Verführungsszenarien in den Werken von Pierre Choderlos de Laclos, Samuel Richardson, Gotthold Ephraim Lessing, Ludwig Tieck, Jean Paul und Georg Büchner vgl. Susanne Illmer, Die Macht der Verführer: Liebe, Geld, Wissen, Kunst und Religion in Verführungsszenarien des 18. und 19. Jahrhunderts, Dresden 2007. Die Verführungsgeschichten aus dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart – von Stendhal über Clarín und Arthur Schnitzler bis Isak Dinesen – untersucht Sylvia Mieszkowski in Teasing narratives: Europäische Verführungsgeschichten nach ihrem goldenen Zeitalter, Berlin 2003. Zum Motiv der Verführung in den romanischen Literaturen vgl. den Sammelband von Frank Wanning u. Anke Wortmann (Hg.), Gefähr­ liche Verbindungen: Verführung und Literatur, Berlin 2001. 2 Søren Kierkegaard, Tagebuch des Verführers, übers. v. Helene Ritzerfeld, Frankfurt a. M. 1997, 14 u. 11. 3 Zur Verführung bei Kierkegaard vgl. Konrad Liessmann, Ästhetik der Verführung: Kierkegaards Kon­ struktion der Erotik aus dem Geiste der Kunst, Frankfurt a. M. 1991. 4 Evelyn Bukowski, Metamorphosen der Verführung in der Novellistik der Frühmoderne, Tübingen u. Basel 2004. Mehr über Verführung bei Theodor Fontane vgl. Marianne Schütze, Verführung, Mehrdeu­ tigkeit und Manipulation bei Theodor Fontane, Flensburg 2008.

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 Einführende Überlegungen

Manns scheint die Verführung eine besondere Rolle zu spielen.5 Sie ist ein wichtiges Element seiner Künstlerkonzeption, die in der Literaturgeschichte besonders prägend war und auf die sich andere Autoren, z. B. auch Witold Gombrowicz, ausdrücklich bezogen. Für Mann ist der Schriftsteller ein Verführer, der den Leidenschaften ausgesetzt ist und sich vergeblich dem „Prinzip der Kälte“ unterzuordnen versucht – darauf werde ich in Kapitel 3.1.3 ausführlich eingehen. An dieser Stelle wäre vor allem die zweigleisige Entwicklung der Verführungsdynamik zu Beginn des 20. Jahrhunderts festzuhalten. Zum einen galt Don Juan, wie Hans Wysling bemerkt, neben Hermes, Don Quijote und Faust als ein typisches Leitbild des modernen Künstlers,6 zum anderen wurde die Verführung angesichts der historisch-politischen Ereignisse in Europa – im Zuge der Massenideologien – mit der Frage nach der moralischen Verantwortung der Kunst verbunden. Die Kunst sollte sich nicht von den Ideologien verlocken lassen, vielmehr sollte sie diese einer scharfen Kritik unterziehen. Diese Gedanken klingen beispielsweise in den Worten Nadežda Mandel’štams nach, wenn sie in ihren Tage­ büchern notiert, dass der Dichter alles sein könne – nur kein Verführer.7 Die Denktradition einer Verquickung der Verführung mit einer Reflexion über die Kunst lässt sich bis heute verfolgen. Im Hinblick auf die in der letzten Zeit besonders intensiv erforschte Problematik der Materialität der Kultur wird die „leibhaftige“ Metapher der Verführung immer noch gern zur Beschreibung des ästhetischen Spannungsmoments verwendet. Martin Seel etwa spricht in seiner Abhandlung Ästhetik des Erscheinens (2003) von der „sinnlichen Verführung“ der Kunst.8 Auch Susan Sontag zielt in ihrem Essay Gegen Interpretation (1996) auf dieselbe Idee ab. In diesem Text formuliert sie das bekannte Postulat: „Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst“, das man als Aufruf verstehen kann, die Kunst nicht zu erläutern, sondern sich ihrem verführerischen Zauber zu überlassen.9 Die Verführung in den besagten Passagen von Sontag und Seel, die – mehr oder weniger – als repräsentativ für die gegenwärtige Ästhetik anzusehen sind, ist nicht als „romantische Inklination“ oder als Anspielung auf Kierkegaards Verschränkung der Kunst und des verführerischen Zaubers zu verstehen. Vielmehr lässt sich darin das

5 Zum Motiv der Verführung bei Thomas Mann vgl. Margot Berghaus, Versuchung und Verführung im Werk Thomas Manns, Hamburg 1971. 6 Hans Wysling, „Abenteuer-Motiv bei Wedekind, Heinrich und Thomas Mann“, in ders., Ausgewählte Aufsätze 1963–1995, hg. v. Thomas Sprecher u. Cornelia Bernini, Frankfurt a. M. 1996, 89–125. 7 Nadežda Mandel’štam, Schriftstellerin und Ehefrau des Dichters Osip Mandel’štam, soll diesen Satz im Kontext von Boris Pasternaks Gedichtband Zweite Geburt aus den frühen 1930er Jahren gesagt haben, in dem sie entgegen ihren Erwartungen keine Stellungnahme, keinen Bezug auf die damaligen tragischen Begebenheiten – Stalins Diktatur – gefunden habe. Zit n. Czesław Miłosz, Czesław Miłosz: Conversations, hg. v. Cynthia L. Haven, Jackson 2006, 114. 8 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a. M. 2003, 193. 9 Susan Sontag, „Gegen Interpretation“¸ in dies., Kunst und Antikunst: 24 literarische Analysen, übers. v. Mark W. Rien, München 1980, 12.

Verführung und ihre Konnotationen in der Ästhetik, ­Philosophie und Literaturwissenschaft 

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Echo der Wiederbelebung dieser Kategorie in den 1970er Jahren sehen, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften stattfand und die bisher in der Sekundärliteratur noch nicht genügend systematisch in ihrem historischen Profil bearbeitet wurde. Vor allem in den Schriften der Poststrukturalisten erfreute sich die Verführung als eine in verschiedenen Kontexten anwendbare Metapher großer Beliebtheit.10 Ihre Neuent­ deckung scheint mit zahlreichen kulturellen, gesellschaftspolitischen und wissenschaftstheoretischen Faktoren jener Zeit im Zusammenhang zu stehen, zu denken wäre an die Restitution der Kategorie des Geheimnisses als Gegenmittel gegen totalitäre Weltauffassungen oder die besondere Aufwertung des Körpers, der Einbildungskraft und der Emotionen in der Theorie sowie deren Orientierung auf die Alltags­ erfahrung, auf zwischenmenschliche Beziehungen und emotionale Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens, was nicht zuletzt im Kontext der 68er-Bewegung zu sehen ist. Erinnert sei auch an die Entwicklung der Medien in der damaligen Zeit, die intensive Reflexionen über Schein und Simulakrum sowie über die Bedeutung der Rhe­ torik auslöste. Mit der Aufzählung dieser Tendenzen soll nur im Umriss das Klima skizziert werden, in dem damals die Renaissance des Interesses an der Kategorie der Verführung in Gang kam. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistete Jean Baudrillard mit seiner bekannten ­Abhandlung Von der Verführung (1979). Schon in der Vorrede macht er deutlich, dass er von einem besonderen Verständnis dieses Wortes ausgeht. Nostalgisch konstatiert er, dass die Menschheit ins „Zeitalter der Endlösungen“ eintrete, „das der sexuellen ­Revolution zum Beispiel, der Produktion und Steuerung aller bewussten und unbewussten Genüsse“.11 Darin sieht er den Grund für das allmähliche Verschwinden der Verführung, die er als „Kehrseite des Sex, des Sinns, der Macht“ bezeichnet.12 Er ­begreift sie also in einem erweiterten Sinne als subversive Kraft, die sich gegen Herrschaftsverhältnisse wehren kann. Verführung ist für ihn eine ironische Lebens­ haltung, eine Alternative zu den disziplinierenden Techniken des Selbst sowie eine uralte, magische Form der Relationen, die dem Denken in Dualismen zu entkommen versucht. Über die Weigerung der Verführung, sich den gängigen binären Einteilungen zu unterwerfen, heißt es: Der Verführungszyklus kennt keine Grenzen. […] Ebensowenig wie es in der Verführung ein Aktiv und ein Passiv gibt, gibt es ein Subjekt oder Objekt, noch ein Innen und Außen: sie wirkt auf

10 Andrea Mirabile kommt in einer Fußnote seines Artikels über Paul de Man zu demselben Schluss: „The idea of seduction seems to be a veritable fashion in poststructuralist theories of the late 70s.“ Konkret meint Mirabile vor allem die Werke von Paul de Man, Jean Baudrillard und Shoshana Felman, auf die ich im Folgenden ebenfalls eingehen werde. Andrea Mirabile, „Rhetoric of Seduction and ­Seduction of Rhetoric in Paul de Man’s Allegories of Reading“, in Enthymema Nr. 2/2010, 21. 11 Jean Baudrillard, Von der Verführung, übers. v. Michaela Meßner, München 1992, 9. 12 Ebd., 8.

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 Einführende Überlegungen

beiden Bereichen, und keine Grenze trennt sie voneinander. Niemand, der nicht selbst verführt ist, wird in der Lage sein, andere zu verführen.13

Verführung wird bei Baudrillard zu einer holistischen Kategorie, er versteht sie als grundlegend für andere Auffassung der Wirklichkeit – ohne einschränkende Dichotomien, definitive Aussagen oder restriktive Regeln. Die Konsequenzen reichen weit, denn Wahrheitsansprüche sind bei einer von der Verführung inspirierten Weltanschauung fehl am Platz: „Verführt sein heißt, von seiner Wahrheit abgebracht sein. Verführen heißt, den anderen von seiner Wahrheit abbringen.“14 Zu betonen ist, dass Baudrillard sich nicht nur in dieser einen Schrift mit der Verführung auseinandersetzt, sondern in seinen späteren Werken immer wieder zu dem Phänomen zurückkehrt, so dass man die Verführung letztlich als wichtigen Terminus seiner Philosophie betrachten muss.15 Beispielsweise greift er sie in der Trans­ parenz des Bösen (1990) bei den Überlegungen zu „extremen Phänomenen“ wieder auf: Die Verführung weiß, dass der andere nie am Ende des Begehrens steht, dass das Subjekt sich täuscht, wenn es auf den zielt, den es liebt, dass sich jeder Satz täuscht, wenn er das meint, was er sagt.16

Die Verführung versinnbildlicht somit Baudrillards Leitthese, dass alles Illusion sei und wir in einer Welt der Simulakren leben. Täuschung sei also sowohl die Sprache als auch das scheinbar unbewusste Begehren des Subjekts selbst, das sich als per­ manentes Verlangen auf Unerreichbares richte. Zu erwähnen wäre noch, dass Bau­ drillard auch andere Theoretiker inspirierte, über die Verführung nachzudenken. Die 1975 von ihm gegründete Zeitschrift Traverses widmete dieser Thematik zwei eigene Nummern – La séduction I: L’ironie de la communauté (Nr. 17/1979) und La séduction II: La stratégie des apparences (Nr. 18/1980). Beide Bände enthalten interessante Beiträge von bedeutenden französischen, italienischen und deutschen Philosophen, Kulturwissenschaftlern und Psychoanalytikern, etwa von Michel de Certeau, Paolo Fabbri, Marc Le Bot, René Major, Charles Malamoud, Louis Marin, Mario Perniola, Pierre Sansot oder Ulrich Raulff. Seit den späten 1970er Jahren beschäftigten sich auch Semiotik und Soziologie intensiv mit dem Phänomen der Verführung. Roland Barthes (Fragmente einer Spra­ che der Liebe, 1977) und Niklas Luhmann (Liebe als Passion, 1982) analysieren aus

13 Ebd., 113. 14 Ebd. 15 Mehr zum Thema Verführung bei Baudrillard vgl. Ralf Bohn u. Dieter Fuder (Hg.), Baudrillard: Simulation und Verführung, München 1994. 16 Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen: Ein Essay über extreme Phänomene, übers. v. Michaela Ott, Berlin 1992, 200.

Verführung und ihre Konnotationen in der Ästhetik, ­Philosophie und Literaturwissenschaft 

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verschiedenen Perspektiven den Liebescode des 19. Jahrhunderts. Dabei untersuchen sie auch die Verführung als einen Habitus – als eine kulturelle Praxis, die in bestimmten Figuren, Floskeln und Gesten verschlüsselt ist, und deren Dekodierung sie in ihren Abhandlungen unternehmen; in Kapitel 2.3.1 der vorliegenden Arbeit wird davon die Rede sein. Etwa zur selben Zeit wurde die Verführung aus soziologischer Sicht noch unter einem anderen Aspekt erforscht. Pierre Bourdieu verbindet sie in seinem Hauptwerk Die feinen Unterschiede (1979) mit den Abgrenzungsmechanismen zwischen den gesellschaftlichen Schichten.17 Vor allem in der Nachschrift – Elemente einer „Vulgär­ kritik“ der „reinen“ Kritiken – geht er ausdrücklich auf das Phänomen der Verführung ein. Er versucht die Ursprünge der „Ablehnung alles Leichten im Sinne von ‚einfach‘, ‚ohne Tiefe‘, ‚oberflächlich‘ und ‚billig‘“ zu rekonstruieren.18 In diesem Zusammenhang verweist er auf die Schriften von Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, in denen zwischen dem „Wohlgefallen“ und „Genuss“, dem „Schönen“ und „Angenehmen“ (Kritik der Urteilskraft, 1790) oder dem „Schönen“ und „Reizenden“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819) unterschieden wird. Zugleich bemerkt er, dass die beiden Philosophen den „elementaren, primitiven Stufen der Lust“ eine „fleischliche Verführungskraft“ zuschreiben.19 Bei seiner Analyse der Herausbildung der Opposition zwischen dem hohen und niedrigen Geschmack denkt Bourdieu die Verführung weiter. Innerhalb dieses Gegensatzpaares bezeichnet sie seinem Verständnis nach einen besonderen Kontakt des Subjekts zur Außenwelt:

17 Am Rande sei bemerkt, dass der Soziologe Richard Sennett später an diese These Bourdieus anknüpfte, und zwar in seiner Studie Respekt im Zeitalter der Ungleichheit (2003). Für Sennett ist die Verführung kein Abgrenzungsmechanismus, sondern spiritus movens des gesellschaftlichen Lebens. Dabei rekurriert er auf Jean-Jacques Rousseau und dessen Essay Diskurs über die Ungleichheit (1756). Dort unterscheidet Rousseau zwischen der Eigenliebe (amour propre) und Selbstliebe (amour de soi). Die erste bezeichnet das Gefühl, das in der Gesellschaft „künstlich“ entsteht und das Individuum dazu veranlasst, sich selbst höher einzuschätzen als die anderen. Die zweite steht hingegen für die „natürliche“ Empfindung des Ichs, die darin besteht, dass man auf sich selbst achtet und den eigenen Wert respektiert. Sennetts Diagnose lautet, dass es heute an der Tugend der Selbstliebe im Sinne des Selbstvertrauens und Selbstrespekts mangele. Stattdessen herrsche die „perverse verführerische Macht der Ungleichheit“: Die sozial Stärkeren bauen ihren Wert darauf, dass sie „sich zeigen“, demonstrativ ihre Güter vorführen, um die sozial Schwächeren dadurch zu verführen. Diese sind nämlich neidisch, nehmen sich die sozial Stärkeren zum Vorbild, mit dem sie sich vergleichen und das sie nachzuahmen versuchen. Dieser Mechanismus der Ungleichheiten in der Gesellschaft ist Sennett zufolge ein Teufelskreis, der auf der Dynamik der Verführung basiert. Richard Sennett, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, übers. v. Michael Bischoff, Berlin 2004. 18 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer, Frankfurt a. M. 1987, 757. 19 Ebd., 758.

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 Einführende Überlegungen

[D]as Reizende, mit dem „das reine Subjekt der Erkenntnis“ […] erniedrigt wird, [übt] auf den Betrachter eine regelrechte Gewalt aus: anstößig und exhibitionistisch, schleicht es sich ein, zwingt sich auf und reißt den Leib in dem ihm eigenen Rhythmus mit sich, der zugleich den Rhythmen des Leibes verwandt ist, bestrickt den Geist durch die Grellheit seiner Intrigen, Spannungsmomente und überraschenden Wendungen, erzwingt ein affektives Beteiligtsein, das in entschiedenem Gegensatz steht zur „Distanziertheit“ und „Teilnahmslosigkeit“ des reinen Geschmacks und damit ebenso deplaciert erscheinen muss wie Don Quijote, der, davongetragen von heiligem Zorn gegenüber einem fiktiven Skandalon, die Puppen des Meisters Pedro kurz und klein schlägt.20

Jene Reize, die eine Communis Opinio als niedrig und vulgär einzustufen geneigt wäre, versetzen den Menschen in einen anderen Zustand. Sie bringen ihn dazu, eine Einstellung zur Wirklichkeit anzunehmen, die der distanzierten Erkenntnishaltung diametral entgegensteht: „ein affektives Beteiligtsein“. Das Individuum ist keine über­ geordnete Instanz mehr – kein Beobachter, sondern ein Teilnehmer. Es wird vom „Reizenden“ völlig hingerissen, so dass es die Ordnungen durcheinander bringt, Konventionen vergisst und Regeln verwechselt. Diese Verfasstheit wird mit einem der Abenteuer des Don Quijote verglichen, der von einer Marionettenaufführung derart gefangen genommen wird, dass er das Spiel für Wirklichkeit hält. Die Metapher der Verführung dient bei Bourdieu also zur Bezeichnung einer Relation, in der sowohl die Subjektposition als auch der Objektstatus hinterfragt werden. Das Ich handelt selbstvergessen und hält keine Distanz mehr zur Quelle der „niedrigen“ Reize, die auch kein Objekt im engeren Sinne ist, sondern – um die prägnante Bezeichnung Bau­ drillards zu verwenden – zum „Attraktor“ wird.21 Mithilfe der Verführung versuchte auch die Psychoanalyse das Verhältnis des Men­schen zur Außenwelt zu beschreiben, um dualistische Begrifflichkeiten wie Subjekt und Objekt oder Aktivität und Passivität zu umgehen. Jean Laplanche entwickelte unter anderem in seinem Werk Neue Grundlagen für die Psychoanalyse (1987) sowie in einem früheren Essayband, der Texte aus den Jahren 1968–1987 versammelt, in Bezug auf die Schriften Sigmund Freuds die Konzeption der „Allgemeinen Verführungs­theo­ rie“ (fr. théorie de la séduction généralisée).22 Sie konzentriert sich auf die ersten Kontakte des Kleinkindes zur Umgebung, das heißt zu den Eltern bzw. Pflegeper­sonen.

20 Ebd., 760. 21 In der bereits erwähnten Schrift Transparenz des Bösen notiert Baudrillard: „Es bleibt nur das Objekt als seltsamer Attraktor. […] Das Objekt erweckt Leidenschaft, da es der Horizont meines Verschwindens ist. Es ist das, was die Theorie für das Reale sein kann: nicht Widerspiegelung, sondern Herausforderung und fremder Attraktor. Das ist die potenzielle Suche nach der Andersheit.“ Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen, 199. Interessanterweise zitiert er eine Seite zuvor einen längeren Passus aus Witold Gombrowicz’ Tagebuch. 22 Jean Laplanche, Neue Grundlagen für die Psychoanalyse: Die Urverführung, hg. v. Udo Hock u. Jean-Daniel Sauvant, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Gießen 2011. Ders., Die allgemeine Verführungs­ theorie und andere Aufsätze, übers. v. Gunter Gorhan, Tübingen 1988.

Verführung und ihre Konnotationen in der Ästhetik, ­Philosophie und Literaturwissenschaft 

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Diese geben dem Säugling unbewusst sprachliche sowie außersprachliche Zeichen mit verborgenen sexuellen Bedeutungen, die Laplanche als „rätselhafte ­Botschaften“ bezeichnet. Sie sind für das Kind unverständlich wie ein irritierendes Rätsel und wirken daher verführerisch. Auf diese Theorie Laplanches möchte ich in Kapitel  2.3.3 näher eingehen. An dieser Stelle sei nur betont, dass der Begriff der Verführung auch hier eine Relation beschreibt, die wechselseitig und horizontal verläuft sowie Gegensätze unterminiert. Für Laplanche befindet sich das Kind nicht in einer passiven Position, weil es versucht, das Rätselhafte zu übersetzen. Wie auch umgekehrt die Elternseite nicht überlegen ist, denn sie ist sich des Inhalts dieser Botschaften nicht bewusst. Der Assoziationskomplex um die Verführung war aus demselben Grund attraktiv auch für die Philosophie, und zwar bei der Schilderung einer alternativen Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Anderen, die über die Hierarchien hinausgeht. Zum Beispiel bemüht sich Emmanuel Lévinas in Jenseits des Seins oder anders als Sein ­geschieht (1974), die Gegenüberstellung von Ich und Du zu vermeiden. Daher spricht er, statt von der Konfrontation, von der Erfahrung der Nähe, von der Berührung und ­Begegnung. Er bedient sich auch der Metapher des Kusses und betont dessen Zweideutigkeit, die das Changieren zwischen Oppositionen zum Ausdruck bringt: „vom Ergreifen zum Ergriffenwerden […], von der Aktivität des Bilderjägers zur Passivität der Beute, vom Zielen zur Verletzung, vom intellektuellen Akt der Auffassung zum Erfasstwerden im Sinne der Furcht und Sorge“.23 Darüber hinaus wurde die Kategorie der Verführung vor allem in der dekonstruktivistischen Denktradition zur Darstellung der komplexen Relation zwischen dem Ich und dem Anderen benutzt, die sich in vermittelter Form durch das Medium der Sprache bzw. der Schrift vollzieht. Die sprachliche und schriftliche Kommunikation wird mit der Distanz assoziiert, mit deren Umdeutung und Neudefinition sich die Dekonstruktivisten beschäftigten. Es ging ihnen darum, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt neu zu bestimmen und es von der Vorstellung der Hierarchie, der Spaltung bzw. der unüberbrückbaren Distanz loszulösen, die nicht als unerschütterte Zurückhaltung oder teilnahmsloser Abstand verstanden werden sollte. Schon Theodor W. Adorno bemerkte in seinen Minima Moralia (1951), dass die Distanz „keine Sicherheitszone, sondern ein Spannungsverhältnis“ sei.24 Einige Jahrzehnte später scheint die Dekonstruktion diesen Satz aufzugreifen und zu präzisieren – in ihrer Deutung

23 Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Thomas Wiemer, Freiburg i. Br. u. München 1992, 170. Auch in seiner früheren Abhandlung Totalität und Unendlichkeit (1961) gehen seine Überlegungen in eine ähnliche Richtung. Zur Darstellung seiner Ansichten verwendet er Bilder, die dem Phänomen der Verführung nahe stehen. Es ist die Rede vom „unstillbaren Begehren“ des Ichs nach dem Anderen oder vom „platonischen Mythos der Liebe“. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität, übers. v. Nikolaus Krewani, Freiburg i. Br. u. München 1987, 83. 24 Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1980, 142.

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 Einführende Überlegungen

wird das Spannungsverhältnis durch die Verführung ersetzt, was besonders deutlich in Jacques Derridas Vortrag Sporen. Die Stile Nietzsches (1972) zum Ausdruck kommt. Er reflektiert dort eine andere Auffassung von der Distanz, die dem verführerischen Spiel ähnelt, und führt diese der Leserschaft gleichzeitig vor. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der von Friedrich Nietzsche häufig verwendete Vergleich zwischen der Wahrheit und der Anziehungskraft einer Frau. Derrida geht der Frage nach, wie die Zusammenstellung beider Phänomene in Nietzsches Schriften präsentiert wird. Im Zentrum seines Interesses steht der Stil – ein ­wesentliches Merkmal jeden Textes. Derrida betont das Paradoxe am Stil, der zum einen eine schwer erfassbare Spur darstelle, zum anderen auffällig sei wie ein Sporn, „etwa wie der eines Schiffes unter vollen Segeln: das rostrum, dieser nach vorne ­stoßende Auswuchs, bricht den heranrollenden Angriff und spaltet die feindliche Oberfläche“.25 Mit der Verwandtschaft der Worte Spur und Sporn jonglierend, schreibt Derrida über Nietzsches Stil und bedient sich zugleich desselben. Er versucht ihn nachzuahmen bzw. zu parodieren. Worauf sein Vortrag abzielt, lässt sich anfangs jedoch nicht festlegen. Diese Unentschiedenheit gehört zur Leitstrategie des Textes, ist seine Dominante. Derrida spielt sozusagen Nietzsches Analogie aus, so dass die Distanz zum Objekt seiner Analyse der Dynamik der Verführung gleicht. Ich zitiere einen längeren Abschnitt, um Derridas Gedankengang zu veranschaulichen: Die Verführung durch die Frau wirkt durch die Ferne, die Distanz ist das Element ihrer Macht. Doch von diesem Gesang, von diesem Zauber muss man sich fernhalten, man muss sich von der Distanz auf Distanz halten, nicht nur, wie man glauben könnte, um sich vor dieser Faszination zu hüten, sondern ebenso, um sie zu empfinden. Die (fehlende) Distanz ist nötig, man muss sich auf Distanz halten (Distanz!) – dies fehlt uns, dies versäumen wir zu tun; dies erinnert auch an einen Rat von Mann zu Mann: um zu verführen und sich selbst nicht verführen zu lassen. Wenn man sich von der Wirkung der Frau (der actio in distans) auf Distanz zu halten hat, was nicht darauf hinausläuft, sich einfach zu nähern, es sei denn, man will dabei mit dem Tode selbst spielen, so deshalb weil die „Frau“ möglicherweise nicht „etwas“ ist, die bestimmbare Identität einer Gestalt, als die sie sich in der Ferne ankündigt, in der Entfernung von etwas anderem, von dem man sich entfernen oder dem man sich nähern könnte. Vielleicht ist sie als Nicht-Gestalt, simulacrum, der Abgrund der Distanz, die Distanzierung der Distanz, der Schnitt des Zwischenraums, die Distanz selbst, wenn man dies, was aber unmöglich ist, noch sagen könnte: die Distanz selbst. Die Distanz distanziert sich, die Ferne entfernt sich. Hier müsste man auf Heideggers Gebrauch des Wortes Entfernung zurückgreifen: zugleich Trennung, Entfernung und Entfernung von der Entfernung, Entfernung der Ferne, Ent-fernung, Zerstörung (Ent-) als Grundzug des Fernen als solchem, verhülltes Rätsel der Näherung.26

25 Jacques Derrida, „Sporen. Die Stile Nietzsches“, übers. v. Richard Schwaderer u. Werner Hamacher, in Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a. M. u. Berlin 1986, 132. 26 Ebd., 135.

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Es handelt sich also um eine Doppelbewegung – das unentschlossene Oszillieren zwischen Annäherung und Distanzierung –, die der Inbegriff der Verführung ist. Im Text wird häufig mit den Wendungen „sich geben“, im Sinne von „sich an etwas hingeben“ oder „sich davon leiten lassen“, und „sich geben als“ – verstanden als Simulation dieser Hingabe und Verführbarkeit – gespielt, womit die Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen der Nähe und der vorgetäuschten Nähe noch deutlicher hervortritt.27 Erst ab der Hälfte seines Aufsatzes beginnt Derrida die Aussagen Nietzsches über Frauen systematisch darzustellen und in Gruppen zu gliedern. Er kommentiert zugleich seine Vorgehensweise und bemerkt, dass die Nähe die Voraussetzung zur Distanznahme sei. Die Analyse bedarf in diesem Fall der Beherrschung „der parodistischen Heterogenität des Stils, der Stile“.28 Erst dieses Changieren kann die „Oppo­ sition zwischen dem Wahren und dem Nicht-Wahren“ suspendieren und daraus eine unentscheidbare und unabschließbare Frage formen.29 Dadurch vermeidet es der Text, das beschriebene Phänomen auf eindeutige Festlegungen zu reduzieren, er lässt einen offenen Spielraum für seine Interpretationen und grenzt sich somit deutlich vom hermeneutischen Projekt ab, „das den wahren Sinn des Textes postuliert“.30 Am Rande bleibe anzumerken, dass Derrida dasselbe Thema in seinem späteren Essay über die Apokalypse und den apokalyptischen Ton in der Philosophie (1983) aufgreift. Dort spricht er davon, dass jede Sprache über ein Phänomen „sich von ihrem Objekt nicht ausschließen“31 könne, mit der Annäherung und Distanzierung verführerisch spielen müsse und dass die „Entmystifizierung der Taktik einer Verführung“ daher vergeblich sei.32 Die Verführung, die Dialektik der Nähe und der Ferne, wird demnach bei Derrida zur Methode der dekonstruktivistischen Textanalyse und kristallisiert sich letztlich als Domäne der Schrift heraus – hierzu im Einzelnen in Kapitel 2.4.3. Die Verbindung der Kategorie der Verführung mit der Schrift war für die Literaturwissenschaft besonders inspirierend. In den späten 1970er Jahren wurde die M ­ etapher der Verführung häufig zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Z ­ eichen und seiner Bedeutung sowie zur Projektionsfläche für das Problem der Re­ferenzialität der Literatur benutzt. Ausschlaggebend sind hier für mich zwei Abhandlungen: Alle­ gorien des Lesens von Paul de Man (1979) und The Scandal of the Speaking Body: Don

27 Dieses Wortspiel stellt der Autor selbst in den Mittelpunkt seiner Reflexion: „Ich halte vorläufig das Wortspiel geben, sich geben und sich geben als fest; wir werden später sehen, wie sich seine Bedeutung einlösen wird.“ Ebd., 142. 28 Der ganze Satz lautet: „Damit diese drei Aussagetypen einen erschöpfenden Code bilden, und um zu versuchen, ihre Systemeinheit wiederherzustellen, müsste die parodistische Heterogenität des Stils, der Stile, beherrschbar sein und sich auf den Gehalt einer These zurückführen lassen.“ Ebd., 150. 29 Ebd., 153. 30 Ebd. 31 Jacques Derrida, Apokalypse, übers. v. Michael Wetzel, Wien 2012, 65. 32 Ebd., 64.

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 Einführende Überlegungen

Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages von Shoshana Felman (1980, erstveröffentlicht auf Französisch). In diesen Studien wird die einleuchtende Parallele zwischen Verführung und Literatur erläutert: Ähnlich wie die Verführung ist die Literatur selbstbezogen und basiert auf dem unerfüllten Versprechen der ewig suspendierten Bedeutung. Diesem Thema wird das Kapitel 2.4.2 gewidmet sein. An dieser Stelle möchte ich noch kurz auf Paul de Mans Konzeption aufmerksam machen. In seinem Denken verbindet er die Verführung mit der Wiederaufwertung der Rhetorik, die für ihn „die radikale Suspendierung der Logik“ bedeutet.33 Die rhetorischen Figuren haben im literarischen Text die Funktion, die Rezipienten von der nichtreferenziellen Natur der Sprache wegzuführen und die anziehende Illusion der scheinbar natürlichen Übereinstimmung zwischen Wort und Welt aufrechtzuerhalten. Diesem Mechanismus spürt er unter anderem in den Werken von Rainer Maria Rilke, Marcel Proust und Jean-Jacques Rousseau nach. Die Metapher des verführerischen Versprechens durchzieht seine Analysen und wird somit selbst zu einem Interpreta­ tionsinstrument. Der Begriff der Verführung bei de Man beschäftigte inzwischen ­bereits eine ganze Reihe von Forschern. Zum Beispiel versucht Andrea Mirabile in seinem Aufsatz Rhetoric of Seduction and Seduction of Rhetoric in Paul de Man’s „Alle­ gories of Reading“ diesen Aspekt zu systematisieren und kommt zu dem Schluss, dass de Man sich von seiner eigenen Metapher der Verführung verführen ließ, deren Wirkung er nicht gänzlich zu steuern vermochte.34 Meiner Auffassung nach ist zwar das Verständnis von Verführung bei de Man an eine präzise Lektüre des jeweiligen Werkes gebunden und lässt sich daher kaum als abgeschlossene und konsequent durchdachte Kategorie rekonstruieren, doch scheint dieser Sachverhalt den heuristischen Wert nicht zu mindern. Ganz im Gegenteil, gerade darin besteht die besondere Ex­ plikationskraft. Auch Fredric Jameson verweist in seinem Kompendium zur Post­ moderne auf den häufigen Gebrauch der Worte „temptation“ und „seduction“ in den Arbeiten de Mans und formuliert im Hinblick darauf folgende These: „[The] deconstruction of the seductiveness of poetic language is at one with the deconstruction of modernism itself.“35 Eben an dieser Stelle setzt meine Arbeit an. Ich möchte die ausgewählten Prosawerke der Moderne durch das Prisma der Verführung lesen. Die Auffächerung der Bedeutungen, die dieser Kategorie infolge ihrer Reaktivierung in den 1970er Jahren von verschiedenen Disziplinen zugeschrieben wurden, soll verdeutlichen, wie etabliert sie in der Wissenschaft ist. Angesichts des breiten Spektrums ihrer Anwendung

33 Paul de Man, Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, 40. 34 Mirabile schreibt wie folgt: „In fact, de Man uses the word seduction as a metaphor to show the seductive result of rhetoric on readers, but he is, so to speak, seduced by his own metaphor, the effects of which he cannot fully master.“ Andrea Mirabile, „Rhetoric of Seduction and Seduction of Rhetoric in Paul de Man’s Allegories of Reading“, 22. 35 Fredric Jameson, Postmodernism, or, the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991, 252.



Ziel der Arbeit, Problemstellung und Methode 

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kann auch das Vorhaben der vorliegenden Arbeit schärfer konturiert werden. In diesem Kontext sind für meine Überlegungen zwei Punkte entscheidend. Erstens die Beobachtung, dass die Verführung in den Schriften Paul de Mans bereits zur Beschreibung der Prosa der Moderne angewandt wurde. Zweitens ist zu bemerken, dass sich die modernen Prosaschriftsteller dieser Kategorie bewusst waren und sie in ihren literarischen Werken sowie theoretischen Überlegungen dezidiert nutzten, um die Finessen ihrer Auffassungen von der Kunst, vom Subjekt oder von der Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Als Beispiel für diesen Typus von Aussagen kann ein Eintrag aus Witold Gombrowicz’ Tagebuch aus dem Jahr 1954 zitiert werden: Wir vergessen, dass der Mensch nicht nur dazu da ist, den anderen zu überzeugen – er ist dazu da, ihn zu gewinnen, für sich einzunehmen, zu verführen, zu bezaubern und zu besitzen. Die Wahrheit ist nicht nur eine Sache von Argumenten – sie ist eine Sache der Attraktivität, also der Anziehungskraft.36

Hier wird das Verführen als Gesetzmäßigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen und allgemeiner Verhältnisse in der Welt imaginiert, was zugleich eine metapoetologische Reflexion beinhalten kann. Diese beiden Aspekte – sowohl Manifestationsformen der Verführung in den modernen Prosawerken selbst als auch die Anwendung der Katego­ rie Verführung bei der Auslegung moderner Epik – möchte ich miteinander verbinden. Das Ziel dabei ist, das Nachdenken über die Verquickungen zwischen der Prosa der Moderne und der Verführung als ästhetischem Grundbegriff, künstlerischer Strategie, Existenzmodus des Subjekts und des literarischen Werkes sowie deren Erscheinungs- und Wirkungsweise zu vertiefen und um neue literaturtheoretische Ansätze zu erweitern. Es handelt sich nicht darum, eine endgültige Definition der Verführung zu vereinbaren, solch ein Vorgehen müsste reduktiv und doktrinär erscheinen. Vielmehr soll versucht werden, möglichst viele Schattierungen dieser Kategorie zu berücksichtigen und diese dann, bereichert um neue Perspektiven, bei der Interpretation der ausgewählten literarischen Texte anzuwenden.

1.2 Ziel der Arbeit, Problemstellung und Methode Die Prosa der Moderne als einen Wendepunkt in der Literaturgeschichte zu betrachten, ist bereits Teil der literarhistorischen Tradition geworden. So betonte Erich Auerbach in seiner Abhandlung Mimesis (1946) das ungeheure Tempo der Veränderungen, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts vollzogen und mit denen sich die Kunstschaffenden konfrontiert sahen:

36 Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953–1969, übers. v. Olaf Kühl, Frankfurt a. M. 2004, 122.

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 Einführende Überlegungen

Die Erweiterung des Horizontes der Menschen und die Bereicherung an Erfahrungen, Kenntnissen, Gedanken und Lebensmöglichkeiten, die seit dem 16. Jahrhundert eingesetzt hat, schreitet im 19. in immer schnellerem Tempo und seit Beginn des 20. mit so gewaltiger Beschleunigung vorwärts, dass sie jeden Augenblick synthetisch-objektive Deutungsversuche sowohl erzeugt wie über den Haufen rennt. Das gewaltige Tempo der Veränderungen erzeugte um so größere Verwirrung, weil sie als Ganzes unübersichtlich waren; sie vollzogen sich gleichzeitig auf vielen einzelnen Gebieten der Wissenschaft der Technik und der Wirtschaft, so dass niemand, auch diejenigen nicht, die an einer dieser einzelnen Stellen führend beteiligt waren, die sich im ganzen jeweils ergebenden Lagen vorauszusehen oder zu beurteilen vermochten.37

Die neuen Umstände forderten die Schriftsteller heraus, sie zu deuten und literarisch zu verarbeiten. Allerdings schienen die Erzählmuster der klassischen realistischen Prosa des 19. Jahrhunderts dazu untauglich zu sein. Die Darstellung der Wirklichkeit als kohärente Ganzheit mit linear erzählbaren Geschichten erwies sich nicht mehr als möglich, weil – wie Auerbach bemerkt – das Gesamtbild der Welt unübersichtlich wurde. Von der Versprengtheit und Zerrissenheit des Subjekts und dessen gestörter, heterogen-dissoziativer Weltwahrnehmung zu erzählen, erforderte nach Auerbach eine Abkehr von den bisherigen narrativen Schemata und die Suche nach neuen Ausdrucksmitteln. Auch Georg Lukács hebt den bahnbrechenden Charakter der ­ ­modernen Kunst hervor und benutzt zu ihrer Beschreibung – in Bezug auf Bertolt Brecht – die Kategorie des „radikal Neuen“.38 Ähnlich bezeichnet Bernd Witte die Prosa der Moderne in Anlehnung an Walter Benjamins Aufsatz Der Erzähler als „radikales ­Schreiben“ und setzt sie dem realistischen Romantypus entgegen.39 Das Ziel meiner Studie ist es, über die Prosa der Moderne anders als anhand der Vorstellung vom radikalen Durchbruch und ohne Pathos der Diskontinuität zu er­ zählen. Dieser tradierte Gesamtentwurf, die große Erzählung der Literaturgeschichte, kann nämlich leicht relativiert werden und scheint für die analytische Arbeit an den Texten letztlich doch wenig Erklärungswert zu besitzen. Deshalb versuche ich die Komplexität der modernen Prosawerke mithilfe der Kategorie der Verführung zu ­sondieren und ihre Besonderheit näher zu beleuchten. Statt der Fortschreibung von Narrativen eines Umbruchs als Kennzeichen der Moderne – und damit auch der Prosa der Moderne – möchte ich in pointierten mikroliterarisch-komparatistischen Untersuchungen zeigen, dass es viele Facetten, Beobachtungsweisen und Erfahrungsformen sind, in denen sich die komplexen Veränderungen niederschlagen. Unter dem Leit­begriff der Verführung soll ein weites Spektrum ästhetiktheoretischer, sprachund erkenntniskritischer, psychologischer, phänomenologischer und poetologischer

37 Erich Auerbach, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern u. ­München 1988, 511. 38 Georg Lukács, Schriften zur Literatursoziologie, Neuwied am Rhein u. Berlin-Spandau 1961, 227. 39 Bernd Witte, Jüdische Tradition und literarische Moderne: Heine, Buber, Kafka, Benjamin, München 2007, 206.

Ziel der Arbeit, Problemstellung und Methode 

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Aspekte des modernen Erzählens entfaltet werden. Bei den Lektüren sub specie se­ ductionis, die auf die exemplarische Beschreibung einiger Grundantriebe und Grundwirkungen der Prosa der Moderne abzielen, werde ich mich vor allem zwei Problemfeldern widmen, auf die ich die von der Verführung profilierte Analyse beziehen möchte. Der erste Aspekt betrifft die in den Werken literarisch verfassten Epistemologie und Anthropologie. Es wird danach zu fragen sein, wie und mit welchen Mitteln das moderne Subjekt und dessen Verhältnis zur Welt dargestellt werden und welches Verständnis von Wissen und Sprache daraus resultiert. In diesem Zusammenhang wird die Verführung in den Texten als erkenntnistheoretische Metapher und als konstitutives Element für das Menschenbild betrachtet. Ich konzentriere mich auf die Rolle, die die Verführung bei der Konstruktion der Figuren und für ihre Bewusstseinslage und Erkenntnisfähigkeit spielt, und versuche die Relation zwischen dem auf Verführung basierenden Subjektverständnis und den Kategorien wie Identität oder Ratio auszuloten. Der zweite Punkt bezieht sich auf die in der modernen Prosa postulierte Beschaffenheit der dargestellten Welt und die Merkmale des beschriebenen Seins. Zur Bezeichnung dieses Themenkreises scheint der von der Philosophie Gianni Vattimos entliehene Begriff der „schwachen Ontologie“ hilfreich zu sein, mit dem schon vorab angedeutet werden kann, dass es sich hier nicht um Metaphysik im strengen Sinne handelt. Die in den Werken geschilderte Wirklichkeit wird vom literarischen Subjekt nicht als stabil empfunden. Auch wird sie nicht als emotional oder organoleptisch neutral wahrgenommen. Vielmehr fühlt sich das Subjekt von ihr verführt – hingerissen, angezogen oder abgestoßen. Deshalb möchte ich mich in Bezug auf die Texte mit folgenden Fragen auseinandersetzen, die verschiedene Dimensionen der Verführung enthüllen werden: Welche Eigenschaften hat das in der Prosa beschriebene Sein? Nach welchen Prinzipien und Gesetzlichkeiten werden die Verhältnisse in der Welt organisiert? In welcher Relation stehen diese alternativen Vorstellungen zu den altbekannten, unter anderem auf Kausalität und Logik beruhenden Denkmustern? Wie werden die Zusammenhänge zwischen den Dingen und Menschen imaginiert und perzipiert? Was für ein Verständnis vom Sinn verbirgt sich dahinter? Die beiden skizzierten Problemkomplexe werden nicht nach strengen Kriterien voneinander getrennt, vielmehr können sie sich gegenseitig ergänzen und überschneiden. Auf beiden Ebenen, die stets miteinander verschränkt zu denken sind, greift die Kategorie der Verführung, die hier – so die Leitthese meiner Studie – als heuristisches Werkzeug zur Analyse der modernen Prosawerke dienen soll. Ihre ­Anwendung zur Interpretation der bereits erörterten epistemologisch-anthropologischen und ontologischen Dimension der Texte wird es dann erlauben, von einer Philosophie der Verführung in der Prosa der Moderne zu sprechen. Die Verführung gilt dabei als Fluchtpunkt, der verschiedene literarische Strategien und Tendenzen bündeln kann. Ebenso wird sie als Hilfsmittel bei der Sondierung der modernen Prosawerke genutzt, um verborgene Bedeutungen und Verbindungen sichtbar zu machen.

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 Einführende Überlegungen

Insofern betrachte ich die Verführung auch nicht als fest begrenzten Begriff, sondern als methodisch flexibles Instrument zur Texterschließung. Die Formulierung „Prosa der Moderne“ verstehe ich in einem weiteren Sinne, nicht als terminus technicus, der eine fest umrissene Epochenbezeichnung beinhalten sollte. Innerhalb der polnischen und der deutschsprachigen Literatur wähle ich drei repräsentative Beispiele moderner Prosaschriftsteller aus: Robert Musil, Bruno Schulz und Witold Gombrowicz. Im Zentrum meines Interesses stehen folgende Werke: der 1911 erschienene Erzählungsband Vereinigungen von Musil, Schulz’ Erzählung Ko­ meta (Der Komet) aus den 1930er Jahren und der 1960 veröffentlichte Roman Porno­ grafia (Pornographie) von Gombrowicz, der übrigens in der ersten Übersetzung ins Deutsche den Titel Verführung erhielt. Mit dieser Auswahl versuche ich das ebenso breite wie vielfältige Spektrum der Moderne in Umrissen abzustecken, zugleich möchte ich betonen, dass die chronologische Anordnung der Texte nicht darauf angelegt ist, das Schaffen der Autoren in eine Perspektive der Einfluss-Theorie zu rücken.40 Die Hauptachse der Arbeit bildet die Beschäftigung mit den genannten Werken, die stets in komparatistischer Perspektive untersucht und mit weiteren Texten kon­ frontiert werden. Ich nehme Bezug auf das Gesamtwerk der genannten Autoren und ziehe zur Analyse auch die Werke ihrer Zeitgenossen heran, unter anderem Texte von M. Blecher, Hermann Broch, Franz Kafka, Gertrud Kolmar, Leo Perutz oder Stanisław Ignacy Witkiewicz alias Witkacy. Dass hier viele Schriftsteller(innen) vertreten sind, die mit der Topographie Mitteleuropas verbunden sind – einem maßgeblich von der Habsburgermonarchie geformten Kulturraum –, ist kein Zufall. Milan Kundera stellt in einem seiner Essays die These auf, dass das Charakteristische der Prosa der Moderne – des modernen Romans – eng mit eben diesem Raum zusammenhängt. Das folgende Zitat erhellt Kunderas Argumentation, die für meine Auswahl der Primärliteratur ausschlaggebend war: Der Begriff Zentraleuropa ist mir noch einmal zu Hilfe gekommen, und zwar aus Gründen, die nichts mit Politik zu tun hatten. Dies geschah, als ich mich über die Tatsache zu wundern begann, dass die Wörter „Roman“, „moderne Kunst“, „moderner Roman“ für mich etwas anderes bedeuteten als für meine französischen Freunde. Das war keine Meinungsverschiedenheit, das war ganz bescheiden die Feststellung einer Differenz zwischen den zwei Traditionen, die uns geprägt hatten. In einem kurzen historischen Panorama erstanden unsere zwei Kulturen vor mir wie zwei nahezu symmetrische Antithesen. In Frankreich: Klassizismus, Rationalismus, Freigeisterei, dann im 19. Jahrhundert die Epoche des großen Romans. In Zentraleuropa: die Herrschaft eines besonders ekstatischen Barocks, im 19. Jahrhundert dann die moralisierende Idylle

40 Mehr über die Einflussforschung bei Harold Bloom, Einflußangst: Eine Theorie der Dichtung, Basel u. a. 1995. Zur Klärung wäre anzumerken, dass sich Gombrowicz und Schulz persönlich kannten. Die Frage, ob sie mit Musils Prosa in Berührung kamen, muss offen bleiben – sein Name taucht jedenfalls nirgendwo in ihren Schriften auf. Umgekehrt aber lässt sich zweifellos feststellen, dass Musil von den beiden polnischen Schriftstellern nichts erfahren konnte, denn die Übersetzungen ihrer Werke ins Deutsche erschienen erst viele Jahre nach seinem Tod.



Ziel der Arbeit, Problemstellung und Methode 

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des Biedermeier, die große romantische Dichtkunst und ganz wenige große Romane. […] Was war „die moderne Kunst“, jenes faszinierende Gewitter im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts? Eine radikale Revolte gegen die Ästhetik der Vergangenheit; das liegt natürlich auf der Hand, nur dass die Vergangenheiten nicht gleich waren. Antirationalistisch, antiklassizistisch, antirealistisch, antinaturalistisch, führte die moderne Kunst in Frankreich die große lyrische Rebellion Baudelaires und Rimbauds fort. Ihren privilegierten Ausdruck fand sie in der Malerei und vor allem in der Poesie, die ihre erwählte Kunst war. Der Roman hingegen wurde (insbesondere von den Surrealisten) mit einem Bann belegt; er galt als überholt, als endgültig eingesperrt in eine konventionelle Form. In Zentraleuropa war die Situation anders; als Opposition gegen die ekstatische, romantische, sentimentale, musikalische Tradition führte den Modernismus einiger Genies – der originellsten – zu der Kunst hin, die die privilegierte Sphäre der Analyse, Luzidität und Ironie ist: der Roman.41

Der besondere Fokus auf polnische und deutschsprachige Werke im Kontext Mittel­ europas soll jedoch nicht den Blick auf Vertreter einer außereuropäischen Moderne verstellen, etwa Mário de Andrade. Außerdem werden literarische Werke aus anderen Epochen zum Vergleich und zur Erweiterung der Perspektiven angeführt, z. B. Lev Tolstoj, Nikolaj Leskov, Anton Čechov oder – ein Blick in die Gegenwart – Maxim Biller. Darüber hinaus suche ich in den Werken stets auch nach Verweisen, die zu Texten aus den Bereichen der Philosophie, Ästhetik, Wissenschaftstheorie, Ethnologie oder Kunstgeschichte überleiten, die ihrerseits ein neues Licht auf die analysierte Prosa werfen können. All diese literarischen und theoretischen Bezüge ermöglichen mir, die interpretative und heuristische Leistung der Kategorie der Verführung zu über­ prüfen. Um ein aufschlussreiches konzeptgeschichtliches Framing des Untersuchungs­ gegenstandes zu schaffen, rekonstruiere ich die theoretischen Entwicklungen vor und nach der Entstehungszeit der untersuchten Werke. Was die Arbeitsmethode anbetrifft, so lässt sich der Status bzw. der Gebrauch der Erschließungskategorie der Verführung mithilfe zweier Ansätze charakterisieren. Wie oben dargelegt, verstehe ich die Verführung als Begriff von schwacher Determiniertheit – als heuristisches Interpretationsinstrument, das den definitorischen Versuch im strengen Sinne per se unterlaufen muss. Die solcherart verstandene Verführung lässt sich mithilfe der Konzeption der Familienähnlichkeit (engl. family resemblance) ­beschreiben, die Ludwig Wittgenstein in der posthum veröffentlichten Abhandlung Philosophische Untersuchungen (1953) entwickelt und die zu den zentralen Ideen seiner Spätphilosophie gehört. Während er im Frühwerk Tractatus logico-philosophicus (1921) eine Sprachauffassung entwirft, die auf der Exaktheit der logischen Formen beruht, neigt er Jahrzehnte später dazu, sich von der Vorstellung der Genauigkeit der sprachlichen Strukturen zu entfernen und diese als unmöglich, unangemessen, ja störend zu betrachten. Statt der Präzision hält er nun die Familienähnlichkeit für das wesentliche Ordnungsprinzip der Sprache:

41 Milan Kundera, Der Vorhang, übers. v. Uli Aumüller, Frankfurt a. M. 2008, 69 f.

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 Einführende Überlegungen

Denn wenn du sie [die Spiele – AH] anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. […] [S]o bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. […] Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort „Familienähnlichkeiten“; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. […] Wenn aber Einer sagen wollte: „Also ist allen diesen Gebilden etwas gemeinsam, – nämlich die Disjunktion aller dieser Gemeinsamkeiten“ – so würde ich antworten: hier spielst du nur mit einem Wort. Ebenso könnte man sagen: es läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern.42

Wittgenstein stellt eine Analogie zwischen begrifflichen Strukturen und den Ähnlichkeiten unter Familienmitgliedern her. Hier wie dort kommt es nicht auf die exakte Bestimmung der Gemeinsamkeiten an, viel wichtiger als die Ziehung scharfer Grenzen erweisen sich Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Ähnliche. Nach Wittgenstein ist der Begriff eher als eine Sammelbezeichnung für lose Verwandtschaften – das heißt keine identischen Merkmale – zwischen den Phänomenen zu verstehen, die er zusammenbringt. Diese Verbindung folgt keinen starren Regeln, es ist ein nicht abgeschlossener Prozess. Etwaige Einschränkungen im Hinblick auf die Integration neuer Elemente gibt es nicht.43 Wittgensteins Konzeption der Familienähnlichkeit bildet eine überzeugende Alternative zu den Exaktheitsansprüchen der Definitionen. Für meine Überlegungen sind Formulierungen wie „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten“ oder „das Übergreifen der Fasern“ von besonderer Bedeutung. In diesem Sinne möchte ich auch die Kate­gorie der Verführung begreifen und sie als ein Cluster oder Netzwerk verwandter ­Bezeichnungen bzw. Phänomene betrachten. Dazu zähle ich u. a.: die Ekstase; die Passivitätskompetenz; das Spannungsverhältnis zwischen Sympathie und Antipathie oder zwischen Lust und Ekel; die Dialektik der Nähe und Ferne; Dynamiken der Partizipation und Separation oder Attraktion und Repulsion; die Ambivalenz; die Perversion; das Begehren; die Erotik; Analogien bzw. analog zu denkende Konstel­lationen; Schein und Oberfläche; das Geheimnis; das Unverständliche und das ­Unheimliche; das Spiel; das Marginale und die Verführung als ein Wegführen; die Rhetorizität und Performativität der Sprache; Hermetik und Sprachmagie; Atmosphäre; Ironie.

42 Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, in ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1988, § 66 u. § 67, 277 f. 43 Mehr zu Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit vgl. Dietmar von der Pfordten, „Begriffsgrenzen oder Familienähnlichkeiten?“, in Wolfram Hogrebe (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitun­ gen: XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie, Bonn 2002, 173–186. Hjalmar Wennerberg, „Der Begriff der Familienähnlichkeit in Wittgensteins Spätphilosophie“, in Eike von Savigny (Hg.), Ludwig Witt­ genstein, Philosophische Untersuchungen, Berlin 1998, 41–69.

Ziel der Arbeit, Problemstellung und Methode 

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All diese Begriffe weisen eine gewisse Überschneidungsdichte auf, die ich unter der ­ eniger Kategorie der Verführung zu subsumieren versuche. Dabei geht es wiederum w um ein theoretisches Konzept als vielmehr um eine Sondierungsmethode, die es erlaubt, gerade im kontrastierenden Blick auf die ausgewählten Prosawerke der Moderne fein nuancierte Aspekte ans Licht zu bringen. Die zweite theoretische Ausrichtung meiner Verwendung der Kategorie der Verführung weist in Richtung des metaphorisch-rhetorischen Denkens nach Hans Blumenberg und der damit verbundenen Konzeption der Unbegrifflichkeit.44 Auch Blu­ menberg bleibt skeptisch gegenüber Begriffen, die für ihn „ein Produkt der Vernunft, wenn nicht sogar ihr Triumph“ sind.45 Deshalb hält er nicht die Begriffsbestimmung für entscheidend, sondern das „Vorfeld der Unbegrifflichkeit“ – „das Unbestimmte oder das Noch-Unbestimmte, die Unklarheit, die Undeutlichkeit“.46 In ähnlicher Weise möchte ich die Verführung auffassen: als eine nicht abgeschlossene Kategorie, die sich an die analysierten literarischen Texte anpassen wird. Das Auftragen bzw. die Kartierung (mapping) ihrer Bedeutungsfelder wird im Laufe der Arbeit erfolgen. Zum Methodenapparat der Textanalysen selbst lässt sich Folgendes sagen: Die angewandte Methode ist close reading. Diese Vorgehensweise wurde vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts von der literaturtheoretischen Richtung New Criticism untersucht.47 Umberto Eco, der sich gleichfalls mit dieser Methode befasste, definiert close reading als präzise Lektüre eines Textabschnitts, die sich jedem einzelnen Satz widmet und ihn zu deuten versucht.48 Im Hinblick auf die Variabilität der Bedeutungen der Kategorie der Verführung möchte ich in meiner Studie entsprechend eine Vielfalt von Analysetypen anbieten. Fünf analytische Lesarten – die in Abhängigkeit von den jeweils zu beleuchtenden Aspekten eingesetzt werden – stehen im Vordergrund: die hermeneutische Methode, die auf das Verstehen des Sinns im Text ausgerichtet ist; die phänomenologische, die sich auf die Beschreibung, auf das Wesen des jeweiligen Phänomens konzentriert; die strukturalistische, die den Fokus auf die Ebene der

44 Blumenberg spricht vom Misstrauen den Metaphern gegenüber und plädiert deshalb für „die Umwandlung des menschlichen Weltverhältnisses in ein durch und durch, seiner gesamten Artung nach metaphorisch-rhetorisches“. Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, aus dem Nachlass hg. v. Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2007, 90. 45 Ebd., 9. 46 Ebd., 32. 47 Mieke Bal bemerkt, dass T. S. Eliot in seinem berühmten Essay Tradition and the Individual Talent die Grundlagen für close reading geschaffen habe: „Eliot […] laid the ground for a consideration of works of art on their own terms through an activity called close reading.“ Mieke Bal u. Sherry MarxMacDonald, Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide, Toronto u. a. 2002, 216. Vgl. T. S. Eliot, „Tradition and the Individual Talent“, in ders., Selected prose of T. S. Eliot, hg. v. Frank Kermode, London 1975, 37–44 (Erstveröffentlichung 1919 in der Londoner Literaturzeitschrift The Egoist). 48 Mehr darüber in Umberto Eco, „Erwiderung“, in ders., Zwischen Autor und Text: Interpretation und Überinterpretation, übers. v. Hans Günter Holl, München 1994, 150–162; ebenso vgl. Umberto Eco, Die Grenzen der Interpretation, übers. v. Günter Memmert, München 1992.

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 Einführende Überlegungen

Sprache legt; die historisch-kritische, die von der Kontextualisierung des Werkes, von der Berücksichtigung seiner Entstehungszeit und Herkunft ausgeht; und die de­ konstruktivistische, die sich mit der Enthüllung von verborgenen Bedeutungen und mit der Sichtbarmachung von Diskursverweisen beschäftigt. Im jeweils vollzogenen Wech­sel der Analysemethoden kann dann wiederum die Vielschichtigkeit der Kategorie der Verführung zur Anschauung gebracht werden.

1.3 Forschungsstand Die vorliegende Studie stützt sich auf die bereits vorhandene Sekundärliteratur und schreibt sich damit in das Feld der Forschungen zum Schaffen von Robert Musil, Bruno Schulz und Witold Gombrowicz ein. Da es sich um drei kanonische Schriftsteller handelt, die als Klassiker der Prosa der Moderne gelten, ist der Umfang der Forschungsliteratur überwältigend, im Rahmen meiner Studie kann verständlicherweise nur eine Auswahl davon berücksichtigt werden. Als wichtigstes Auswahlkriterium gelten die Berührungspunkte mit der oben umrissenen Problemstellung. Bei der Besprechung des Forschungsstands möchte ich den polnischen Autoren besondere Aufmerksamkeit schenken, denn Schulz und Gombrowicz sind zwar seit Langem schon im deutschen Sprachraum präsent und ihre Werke wurden in Deutschland intensiv rezipiert, der Großteil der theoretischen Bearbeitungen aber bleibt nach wie vor nur jenen zugänglich, die des Polnischen mächtig sind. In den folgenden Abschnitten versuche ich daher ausführlicher auf die beiden Prosaautoren einzugehen, um einen Überblick über ihr Œuvre und dessen Wirkungsgeschichte zu geben.

Bruno Schulz (1892–1942) Ich beginne mit dem älteren der beiden polnischsprachigen Schriftsteller, dem 1892 im galizischen Drohobytsch geborenen Bruno Schulz. Sein Prosawerk ist nicht sehr umfangreich, es umfasst zwei zu Lebzeiten veröffentlichte Erzählungsbände, Die Zimtläden (Sklepy cynamonowe, 1934) und Das Sanatorium zur Sanduhr (Sanatorium pod klepsydrą, 1937), sowie einige verstreut erschienene Prosastücke und Essays. Vom Umfang her lässt sich dieses Werk ohne Weiteres in einem Band herausgeben, wie an den polnischen Schulz-Ausgaben auch zu sehen ist: Die ältere Edition des Krakauer Verlags Wydawnictwo Literackie erschien 1957; die neuere, von Jerzy Jarzębski bearbeitete Edition, 1989 im Verlag Ossolineum in Wrocław in der kanonischen Bücherreihe „Biblioteka narodowa“ [Nationalbibliothek] erschienen, gilt heute in der Forschung als maßgeblich.49

49 Bruno Schulz, Sklepy cynamonowe. Sanatorium pod klepsydrą. Kometa, Kraków 1957. Bei dieser Ausgabe bleiben die Herausgeber anonym. Die zweite Edition: Bruno Schulz, Opowiadania. Wybór esejów i listów, hg. v. Jerzy Jarzębski, Wrocław 1989 (zweite, ergänzte Auflage 1998).

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Im Grunde genommen unterscheiden sich die beiden Ausgaben nicht wesentlich voneinander, es gibt lediglich ein paar Differenzen bei der Textredaktion, d. h. bei der Beseitigung der Druckfehler sowie hinsichtlich der Vereinheitlichung der Orthographie und Zeichensetzung. Als Basis dienten jeweils die Erstveröffentlichungen aus den 1930er Jahren, da fast alle Manuskripte von Schulz während des Zweiten Weltkriegs vernichtet wurden – außer einigen Seiten der Erzählung Der andere Herbst (Druga jesień), die sich zusammen mit einigen handgeschriebenen Briefen des Autors im Archiv der polnischen Nationalbibliothek und im Adam-Mickiewicz-Literaturmuseum in Warschau befinden. Seitens der Schulz-Forscher wird der eher populärwissenschaftliche Charakter der Editionen kritisiert, auch wurden dem textkritischen Apparat Defizite vorgeworfen. Wissenschaftler, die eine neue kommentierte Gesamtausgabe fordern, nehmen zudem auch die graphischen Arbeiten von Schulz in den Blick, die der Autor selbst als integralen Bestandteil seines schriftstellerischen Werkes angesehen hatte – bisher jedoch wurden sie immer in separaten Bänden ediert.50 Die erste deutsche Übersetzung von Schulz’ Erzählungen erschien in den 1960er Jahren und ist Josef Hahn zu verdanken.51 Vor ein paar Jahren wurde die Neuüber­ setzung von Doreen Daume publiziert, die für ihre Arbeit 2008 mit dem Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzung ausgezeichnet wurde.52 Der Vergleich der ­beiden Übersetzungen von Hahn und Daume wurde auch bereits zum Gegenstand wissenschaftlicher Analysen.53

50 Stanisław Rosiek schildert in einem Aufsatz die editorischen Schwierigkeiten bei der Herausgabe von Schulz’ Prosa und versucht den potenziellen editorischen Schulz-Kanon zu beschreiben, den er in sieben Bände aufteilt: 1. Sklepy cynamonowe [Die Zimtläden]; 2. Sanatorium pod klepsydrą [Das Sanatorium zur Sanduhr]; 3. Utwory rozproszone [Verstreute Werke]; 4. Ksiąga listów [Briefe], 5. Szkice krytyczne [Aufsätze], 6. Xięga bałwochwalcza [Das Götzenbuch]; 7. Portrety i autoportrety, ilustracje do utworów własnych i cudzych, rysunki i szkice [Porträts, Selbstporträts, Illustrationen zu den eigenen Werken und den Werken anderer, Zeichnungen und Skizzen]. Vgl. Stanisław Rosiek, „Jak wydawać Brunona Schulza. Próba opisania kanonu edytorskiego“, in Schulz/Forum Nr. 1/2012, 97–102 (Rosiek ist Mitherausgeber dieser Zeitschrift). 51 Bruno Schulz, Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, übers. v. Josef Hahn, München 1966 (erste gekürzte Auflage München 1961). Zur Gesamtausgabe gehört auch der zweite Band, der Schulz’ Essays und Briefe enthält: Bruno Schulz, Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes: Aufsätze und Briefe, hg. v. Jerzy Ficowski, übers. v. Mikolaj Dutsch u. Josef Hahn, München 1967 (Neuauflage München 2000). 52 Bruno Schulz, Die Zimtläden, übers. v. Doreen Daume, München 2008. Ders., Das Sanatorium zur Sanduhr, übers. v. Doreen Daume, München 2011. Beide Bände enthalten Illustrationen des Autors. 53 Damit beschäftigte sich Benjamin Voelkel in seiner bisher unveröffentlichten Magisterarbeit zur Poetik und Strategie der Übersetzung von Bruno Schulz’ „Die Zimtläden“: Eine vergleichende Analyse der Übersetzungen von Josef Hahn und Doreen Daume, die 2010 mit dem Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen ausgezeichnet wurde.

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 Einführende Überlegungen

Die umfangreiche Schulz-Rezeption in Polen begann bereits in der Vorkriegszeit und wurde zunächst von eher skeptischen Stimmen der Literaturkritik geprägt, unter anderem von Stefan Napierski und Kazimierz Wyka.54 Versuche einer Systematisierung der Geschichte der polnischen Schulz-Forschung unternahmen u. a. Włodzimierz Bolecki und Jerzy Jarzębski.55 Alternativ zur Chronologie wäre von bestimmten Interpretationssträngen zu sprechen, die sich in den Arbeiten abzeichnen. Unter den Ver­ öffentlichungen der jüngsten Zeit lässt sich eine romantische Lesart erkennen, die das schulzsche Schaffen im Kontext romantischer Denktradition untersucht, insbesondere mit Blick auf die deutsche Romantik (Stefan Chwin, Michał P. Markowski);56 eine kabbalistische Interpretationsrichtung, die bei Schulz Spuren jüdischer Mystik ausfindig macht, vor allem Bezüge zum Denken des Kabbalisten Isaak Luria, seine Werke mit der Strömung der jüdischen Moderne verbindet und sie mit Schriften ­solcher Philosophen wie Walter Benjamin, Martin Buber und Gershom Scholem zusammenliest (Jan Błoński, Władysław Panas, Bożena Shallcross, Karen Underhill);57

54 Beide Literaturkritiker warfen ihm damals anachronistische Sprache und „Antihumanismus“ vor. Damit meinten sie das Moment der Reifizierung in seiner Prosa – dass die Menschen zu Gegenständen gemacht und auf ihre Physiologie reduziert werden. Auf diesen Vorwurf bezogen sich später immer wieder weitere Generationen von Schulz-Forschern und polemisierten dagegen, vgl. z. B. Stefan Napierski u. Kazimierz Wyka, „Dwugłos o Schulzu“, in Ateneum Nr. 1/1939, 153–163. 55 Jerzy Jarzębski, „Wstęp“ in Bruno Schulz, Opowiadania, CXI–CXXVIII. Ebenso das Schlagwort „recepcja“ im Wörterbuch zum schulzschen Œuvre: Włodzimierz Bolecki, „Recepcja (1934–1939)“ und Jerzy Jarzębski, „Recepcja krytyczno-literacka (powojenna)“, in Włodzimierz Bolecki, Jerzy Jarzębski, Stanisław Rosiek (Hg.), Słownik schulzowski, Gdańsk 2006, 305–309. Vgl. auch zwei umfangreiche Sammelbände, die repräsentative Texte aus der Schulz-Forschung beinhalten: Jerzy Jarzębski (Hg.), Czytanie Schulza: Materiały międzynarodowej sesji naukowej „Bruno Schulz – w stulecie urodzin i pięćdziesięciolecie śmierci“, Instytut Filologii Polskiej Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków, 8–10 czerwca 1992, Kraków 1994. Małgorzata Kitowska-Łysiak u. Władysław Panas (Hg.), W ułamkach zwierciadła…: Bruno Schulz w 110 rocznicę urodzin i 60 rocznicę śmierci, Lublin 2003. 56 Stefan Chwin, „Twórczość i autorytety. Bruno Schulz wobec romantycznych dylematów tworzenia“, in Pamiętnik Literacki Nr. 1/1985, 69–93. Michał P. Markowski, Polska literatura nowoczesna: Leśmian, Schulz, Witkacy, Kraków 2007, 163–270. 57 Jan Błoński, „Świat jako Księga i komentarz. O żydowskich źródłach twórczości Brunona Schulza“, in Polonistyka Nr. 4/1993, 198–204. Artikel auf Englisch: Ders., „On the Jewish Sources of Bruno Schulz“, in Cross Currents: A Yearbook of Central European Culture Nr. 12/1993, 54–68. Władysław Panas, Księga blasku: Traktat o kabale w prozie Brunona Schulza, Lublin 1997. Zu diesem Thema auf Deutsch vgl. auch Lothar Quinkenstein, „Bruno Schulz – ein Kabbalist der Moderne“, in ders., Erinnerung an Klara Blum: Essays und Kritiken aus der Mitte Europas, St. Ingbert 2015, 189–228. Bożena Shallcross, „‚Fragments of a Broken Mirror‘: Bruno Schulz’s Retextualization of the Kabbalah“, in European Politics and Societies Nr. 11.2/1997, 270–281. Karen Underhill, Bruno Schulz and Jewish Modernity, Chicago 2011, Dissertation University of Chicago, https://pqdtopen.proquest.com/doc/876476075.html?FMT=AI (25. Mai 2017). Dies., „Ecstasy and Heresy: Martin Buber, Bruno Schulz and Jewish Modernity“, in Dieter de Bruyn u. Kris Van Heuckelom (Hg.), (Un)masking Bruno Schulz: New Combinations, Further Fragmentations, Ultimate Reinte­ grations, Amsterdam 2009, 27–47. Vgl. in diesem Sammelband auch den Beitrag von Michał P. Markowski, der auf zwei Bilderreservoire verweist, aus denen Schulz’ literarische Einbildungskraft schöpft – auf die

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schließlich die dekonstruktivistische Deutung, die mit postmodernen Ansätzen an seinen Texten arbeitet (Dorota Głowacka, Michał P. Markowski, Krzysztof Stala).58 In den neuesten Studien wird Schulz’ Werk durch das Prisma der Psychoanalyse gelesen (Paweł Dybel) und in komparatistischen Kontexten verortet (Włodzimierz Bolecki).59 Die deutsche Rezeption von Schulz setzte in den 1970er Jahren nach dem Erscheinen der ersten Übersetzung seiner Erzählungen ein – zu nennen wären etwa die Dissertationen von Elisabeth Goślicki-Baur, Karin Dulaimi oder Lutz Steinhoff.60 In letzter Zeit erschienen zwei Monographien von Janis Augsburger und Beata A. Bieniek, die Schulz’ Werk unter dem Aspekt des Masochismus und der Gender-Problematik erforschen.61 Eine der neuesten Veröffentlichungen ist die Studie von Anna Juraschek zur Idee des Bildes.62 Das Schaffen von Schulz wird auch in komparatistischer Perspektive betrachtet, u. a. in einer Abhandlung von Jörg Schulte, der den jüdisch-pol­ nischen Autor zusammen mit Schriftstellern wie Isaak Babel und Danilo Kiš liest.63 Auch die Aufsätze und Beiträge von Renate Lachmann und Brigitta Helbig-Mischewski sind in diesem Zusammenhang hervorzuheben.64

rabbinische Tradition der Textexegese und auf das mit der „niedrigeren Kultur“ verbundene Maskentheater. Michał P. Markowski, „Text and Theater. The Ironic Imagination of Bruno Schulz“, in ebd., 435–450. 58 Dorota Głowacka, „Wzniosła tandeta i simulacrum: Bruno Schulz w postmodernistycznych zaułkach“, in Teksty Drugie Nr. 2–3/1996, 72–91. Auf Englisch: Dies., „Sublime Trash and the Simulacrum: Bruno Schulz in the Postmodern Neighborhood“, in Czesław Prokopczyk (Hg.), Bruno Schulz: New Documents and Interpretations, New York 1999, 79–122. Michał P. Markowski, Powszechna rozwiązłość: Schulz, egzystencja, literatura, Kraków 2012. Krzysztof Stala, Na marginesach rzeczywistości: O pa­ radoksach przedstawiania w twórczości Brunona Schulza, Warszawa 1995. Die Erstveröffentlichung in englischer Sprache: Ders., On the Margins of Reality: The Paradoxes of Representation in Bruno Schulz’s Fiction, Stockholm 1993. 59 Paweł Dybel, Mesjasz, który odszedł: Bruno Schulz i psychoanaliza, Kraków 2017. Włodzimierz Bolecki, Wenus z Drohobycza (o Brunonie Schulzu), Gdańsk 2017. 60 Elisabeth Goślicki-Baur, Die Prosa von Bruno Schulz, Bern 1975. Karin Dulaimi, Der Mythosbegriff im Werk von Bruno Schulz, München 1976. Lutz Steinhoff, Rückkehr zur Kindheit als groteskes Denk­ spiel: Ein Beitrag des „dojrzeć do dzieciństwa“ in den Erzählungen von Bruno Schulz, Hildesheim 1984. 61 Janis Augsburger, Masochismen: Mythologisierung als Krisen-Ästhetik bei Bruno Schulz, Hannover 2008. Beata A. Bieniek, Bruno Schulz’ Mythopoesie der Geschlechteridentitäten: Der Götzenblick im Gender-Spiegel, München 2011 – Buchrezension Michał P. Markowski, „Book review“, in Slavic Review Nr. 72.1/2013, 153–154. 62 Anna Juraschek, Die Rettung des Bildes im Wort: Bruno Schulz’ Bild-Idee in seinem prosaischen und bildnerischen Werk, Göttingen 2016. 63 Jörg Schulte, Eine Poetik der Offenbarung: Isaak Babel, Bruno Schulz, Danilo Kiš, Wiesbaden 2004. 64 Renate Lachmann, Erzählte Phantastik: Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a. M. 2002, 337–374 (Kapitel „Metamorphose: die andere Morphologie – Bruno Schulz’ Prosa“). Dies., „Der Demiurg und seine Phantasmen. Schöpfungsmythologische Spekulationen im Werk von Bruno Schulz“, in Peter Kosta u. a. (Hg.), Juden und Judentum in Literatur und Film des sla­ vischen Sprachraums: Die geniale Epoche, Wiesbaden 1999, 131–153. Brigitta Helbig-Mischewski, „Zwischen Omnipotenz und Ohnmacht, Überhöhung und Unterwanderung: Zerfall der ‚Vaterordnung‘ und Masochimus bei Bruno Schulz“, in Zeitschrift für Slawistik Nr. 51.4/2006, 428–440.

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 Einführende Überlegungen

Im Zentrum des Interesses der vorliegenden Studie steht das Phänomen der Verführung, deshalb möchte ich jetzt versuchen, diesen Begriff beziehungsweise seine synonymen Ausdrücke in der Schulz-Forschung zu rekonstruieren: In welchen Kontexten kommt die Verführung vor und welche Bedeutungen werden ihr zugeschrieben? Am häufigsten wird in der Sekundärliteratur darauf hingewiesen, dass die Verführung in Schulz’ Prosa als literarisches Sujet auftaucht und als eines seiner Leitmotive funktioniert, das – dem gängigen Verständnis des Wortes entsprechend – im engen Zusammenhang mit der Erotik steht. Zum Beispiel bemerkt Jerzy Franczak, dass in der Prosa von Schulz die Antithese von Männlichkeit und Weiblichkeit allgegenwärtig sei. Das männliche Element werde mit Kategorien wie Geist, Tradition, Imagination oder schöpferischer Unruhe konnotiert – das Weibliche stehe hingegen für Materie, Sinnlichkeit und die Macht der Verführung.65 Diese letztlich konventionelle Gegenüber­ stellung ist vor allem bei der Charakteristik der Protagonisten auffällig und spiegelt sich am deutlichsten in der Figurenkonstellation des Vaters und des Dienstmädchens Adela wider, die im Kontrast bzw. in einem mehrdeutigen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Auf dieser Ebene gehört die Verführung erwartungsgemäß zur Domäne der Frauenfiguren und wird entsprechend als Attribut des potenziellen Objekts des Begehrens angesehen. Darüber hinaus lässt sich unter den Interpretationen noch eine andere Deutungsart der Verführung bei Schulz erkennen. Sie wird nicht nur als passive Eigenschaft der Protagonistinnen, sondern auch als aktiver Faktor, als spiritus movens der Handlung betrachtet. Ihre Funktion ist die ironische Brechung erhabener Inhalte, was – nach Michał P. Markowski – vor allem in der Erzählung Traktat über die Schneiderpuppen zu Tage tritt.66 Dort kontrastieren die erhabenen Monologe des Vaters über eine alternative Version der Genesis mit der Zweideutigkeit der Situation, in der sie gehalten werden. Den weitschweifigen Ausführungen des selbsternannten Demiurgen hören nämlich schöne Näherinnen zu, die er versucht, beiläufig zu verführen, um dann – wie der Erzähler ergänzt – „die Struktur ihrer schlanken und armseligen Körperchen“ ­studieren zu können.67 Die verführerische Spannung hebt den Ernst der väterlichen ­Theorien aus den Angeln. Verführung dient hier als Bestandteil oder, besser gesagt, als Modus der Ironie. Das Moment der Anziehungskraft wird in den Untersuchungen zur wirkungsästhetischen Perspektive des schulzschen Werkes immer wieder aufgegriffen. So setzt sich beispielsweise Stanisław Rosiek mit der Frage auseinander, warum man eigentlich heute immer noch Schulz liest – um dann von der stets sich erneuernden Lust am

65 Jerzy Franczak, Poszukiwanie realności: Światopogląd polskiej prozy modernistycznej, Kraków 2007, 330 f. 66 Vgl. Michał P. Markowski, Polska literatura nowoczesna, 211–215. 67 Bruno Schulz, Die Zimtläden, übers. v. Doreen Daume, 60.

Forschungsstand 

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schulzschen Text zu sprechen, der seine Leserschaft verführe.68 Diese Überlegung hängt im Grunde genommen mit dem Literaturverständnis von Schulz zusammen. In einem seiner Briefe weist er indirekt darauf hin: Der Schriftsteller muss „unentwegt lügen, muss überzeugend das als verwirklicht und real darstellen, was in ihm selbst in Wahrheit in einem elenden Zerfall und Chaos begriffen ist“.69 Der Künstler soll entsprechend die beschriebene Welt so verführerisch entwerfen, dass sie den Charakter des Außergewöhnlichen erhalte und somit das Interesse der Rezipienten wecke, sie in ihren Bann ziehe. Die Absicht der Verführung kann im künstlerischen Schaffensprozess zu einer wechselseitigen Beziehung werden. Der Schreibende wird zugleich auch selbst von der Sprache und ihren Schöpfungsmöglichkeiten verführt. Über diese Verführbarkeit des Schriftstellers bei Schulz schreibt Artur Sandauer, einer der ersten Kommenta­ toren  des schulzschen Werkes, in seinem heute kanonischen Essay Rzeczywistość z­ degradowana [Degradierte Wirklichkeit]. Der schulzsche Künstler, so Sandauer, sei in die Materie vernarrt.70 Weiter hebt Sandauer hervor, dass hierin eine gewisse Affinität zu Thomas Manns Künstlerkonzeption zu erkennen sei. Bei beiden Schriftstellern ähnele der Künstler Hermes, der zwischen Licht und Schatten pendele, Kontakte mit den niedrigen Kräften habe und dabei wie ein „gefährlicher Verführer und Magne­ tiseur“ wirke.71 Bisher am intensivsten wurde der Begriff der Verführung meines Wissens in Jerzy Jarzębskis Aufsatz Bruno Schulz and Seductive Discourse erörtert.72 Diesen Beitrag, der

68 Stanisław Rosiek, „Dlaczego dzisiaj nadal czytamy Brunona Schulza?“, in Wiera Meniok (Hg.), Bruno Schulz jako filozof i teoretyk literatury, Drohobytsch 2014, 96–116 (neben dem Aufsatz auch ein längeres Abstract auf Englisch Why are we still reading Schulz?). 69 Bruno Schulz, „Brief an Romana Halpern vom 16. August 1936“, in ders., Die Wirklichkeit ist Schat­ ten des Wortes, 121. 70 Im Essay lautet diese Wendung auf Polnisch: „artysta […] rozkochany w materii“. Artur Sandauer, „Rzeczywistość zdegradowana (Rzecz o Brunonie Schulzu)“, in Bruno Schulz, Sklepy cynamonowe. Sanatorium pod klepsydrą, Kraków 1985, 32. 71 Ebd., 33. 72 Jerzy Jarzębski, „Bruno Schulz and Seductive Discourse“, in Dieter de Bruyn u. Kris Van Heuckelom (Hg.), (Un)masking Bruno Schulz, 327–338. In den ersten Sätzen weist der Autor darauf hin, dass der Artikel eine Weiterführung zweier früherer Texte ist, die auf Polnisch erschienen sind: Ders., „Schulz – ironiczny ład i dyskurs uwodzicielski“ [Schulz – ironische Ordnung und der verführerische Diskurs], in Akcent Nr. 1/2007, 25–31. Ders., „Schulz: uniwersalność i poetyka fragmentu“ [Schulz: Universalität und die Poetik des Fragments], in Dorota Kozicka u. Maciej Urbanowski (Hg.), Literatura – punkty widzenia – światopoglądy: Prace ofiarowane Marcie Wyce, Kraków 2008. Beide Aufsätze auf Polnisch abgedruckt in Jerzy Jarzębski, Schulzowskie miejsca i znaki, Gdańsk 2016, 114–133. Jarzębski verwendet und propagiert die Kategorie der Verführung in Bezug auf die Prosa von Schulz konsequent weiter, auch in nicht wissenschaftlichen Texten, siehe das Interview mit ihm von Małgorzata I. Niemczyńska anlässlich des 70. Todesjahrs von Schulz für die Zeitung Gazeta Wyborcza vom 19. November 2012, betitelt „Schulz uwodziciel“ [Schulz, der Verführer]: http://wyborcza.pl/1,75475,12883110,Schulz_uwodziciel__Dzis_70__rocznica_smierci_autora.html (25. Mai 2017).

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 Einführende Überlegungen

zahlreiche Anknüpfungspunkte für mein Thema und meine Forschungsperspektive bietet, möchte ich deshalb zusammenfassen und kommentieren. Die Verwendung der Kategorie der Verführung in Bezug auf das schulzsche Schaffen spielt für Jarzębski eine besondere Rolle. Seinen Text bezeichnet er selbst als das Resultat einer bedeutenden Wende, als wichtige Umakzentuierung bestimmter Elemente in seiner bisherigen Interpretationsweise der Prosa von Schulz.73 Zu Beginn seiner Überlegungen wiederholt er die – oben bereits besprochenen – Bedeutungsfelder der Verführung. Diese sei, so Jarzębski, zunächst bei Schulz eine Eigenschaft oder, wie er es bezeichnet, eine „Aktivität“, die fast alle Figuren gleichermaßen betreffe. Gewisse Verführungskraft üben sowohl das Dienstmädchen Adela als auch die geistig zurückgebliebene Frau Tłuja oder der alte Vater Jakub aus. Nach dieser Einführung schildert Jarzębski das Repertoire der schulzschen Formen der Verführung. Sie erfolge sowohl durch die Sprache als auch nonverbal – durch Gesten und Körpernähe. Im Weiteren geht Jarzębski auf einzelne Aspekte des Phänomens der Verführung ein. Drei Eigenschaften möchte ich hervorheben, die für meine Auffassung dieser Kategorie ausschlaggebend sind: Verführung ist bei Schulz ein Prozess der Unerreichbarkeit (eine Erfüllung findet nicht statt); es wohnt ihr etwas Fragmentarisches inne (aus diesem Bewusstsein des Bruchstückhaften nährt sich die Sehnsucht); sie ist ein theatralischer Prozess (ihr performatives Moment ist öffentlich). Das Moment der Unerreichbarkeit führt uns zur Bewegung des permanenten Aufschubs. Jarzębski beruft sich auf die bereits erwähnte Abhandlung Von der Verführung von Jean Baudrillard und stellt fest, dass die Verführung bei Schulz auch eine Opposition zur Erotik sei – das verführte Objekt bleibe für das Subjekt immer unzugänglich. Zahlreiche Männer werben um die Gunst des Dienstmädchens Adela, doch nie wird erwähnt, ob es jemandem gelungen ist, ihr Herz zu erobern. In der Erzählung Der Früh­ ling wiederum wird die verführerische Situation jäh unterbrochen. Der Ich-Erzähler überlässt das Mädchen Bianka, in das er so verwirrend verliebt ist, im entscheidenden Moment seinem Rivalen. Das erinnert Jarzębski an die Situation in Søren Kierkegaards Tagebuch des Verführers. Cordelia fesselt das Interesse von Johannes, solange sie unerreichbar bleibt. Nach der Verführung verlässt er sie, sie hat ihren Reiz für ihn verloren. Dass Schulz seinen Figuren die Erfüllung vorenthält, sieht Jarzębski als bezeichnende Gesetzmäßigkeit an. In dieser Prosa gebe es keinen Platz für Eindeutigkeit, für ein erfolgreiches Zu-Ende-Bringen der Handlungsstränge, weil ein solcher Duktus eine Vision der Welt voraussetzen würde, die sich als unanfechtbare Ganzheit beschreiben ließe und in der definitive Interpretationen herrschten, was Schulz programmatisch ablehne.74 Daher werde bei ihm der Akt der Verführung im luziden Wissen um das zwangsläufige Scheitern stets wiederholt.

73 Jerzy Jarzębski verwendet die Bezeichnung „a result of a significant change“. Ders., „Bruno Schulz and Seductive Discourse“, 327. 74 Ebd., 331.

Forschungsstand 

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Das Moment des Fragmentarischen leitet Jarzębski aus der Beobachtung ab, dass der verführende Körper bei Schulz fragmentarisch dargestellt ist. Immer fokussiere sich die Erzählinstanz, so Jarzębski, auf die Beschreibungen einzelner Körperteile wie Augen, Beine oder Wangen, so dass das Gesamtbild nur zustande kommen könne, wenn der Rezipient die nötigen Ergänzungen in seiner Phantasie vornehme. Dieses bezeichnet Jarzębski als „Poetik des Fragments“ und verweist zugleich auf einen ­größeren Kontext dieser Vorgehensweise. Einerseits sei die von Schulz kreierte Wirklichkeit ein kohärenter Mikrokosmos, der von innen betrachtet als ein sicherer und vertrauter Ort erscheine. Das vermeintlich Ungewöhnliche werde dort zur allgemeingültigen Regel und versetze die Figuren nicht in Erstaunen. Andererseits werde die Wirklichkeit verfremdet, indem sie nie als vollständig oder ganz präsentiert werde. Die erzählten Geschichten seien unvollendet und hätten keine Moral. Die Darstellung der bruchstückhaften und „verkrüppelten“ Welt (engl. crippled world)75 verortet Jarzębski in der Poetik des romantischen Fragments, die Friedrich Schlegel maßgeblich initiiert hat. Analog sieht er auch bei Schulz den Topos einer unerreichbaren Ganzheit, in der sich das Schicksal jedes Künstlers spiegele. Das wird am Ende des Beitrags noch einmal in einer Erweiterung ausgeführt: Das Motiv der Verführung ist für Jarzębski eine uni­verselle Aktivität des Menschen, ein elementares anthropologisches Gesetz, das die menschliche Existenz determiniert. Das Gefühl des Fragmentarischen, des NichtKomplett-Seins ist tief verankert im menschlichen Denken – das Subjekt verlangt fortwährend nach Ergänzung, im antizipierenden Bewusstsein seines Scheiterns sehnt es sich nach dem permanent sich entziehenden Objekt und konstituiert sein fragiles Selbst in der Wiederholung verführerischer Praxis. Die Projektion des unendlichen Verführungsspiels in Schulz’ Texten deutet Jarzębski als eine mögliche Fluchtbewegung vor der Vergänglichkeit und dem Tod – und damit zugleich vor den Einschränkungen eines Denkens, das einen endgültigen, eindeutigen Sinn postuliert. Schließlich erörtert Jarzębski die theatralische Dimension der schulzschen Verführung. Im Blick auf den öffentlichen Charakter der Verführungsakte konzentriert er sich auf die Analogie zwischen Verführer und Schriftsteller – auch der Schriftsteller wird zum Verführer, wenn er vor einem Publikum auftritt, um dessen Gunst zu erwerben. Diese primäre Intention der Verführung des Rezipienten sieht Jarzębski in der schulzschen Künstlerkonzeption enthalten. Zur Erläuterung beruft er sich auf die Entstehungsgeschichte der Erzählungen. Die Rhetorik der Verführung, so Jarzębski, sei ihnen von vornherein eingeschrieben gewesen, denn Schulz habe die Szenen, die ­jeweils den Nukleus der Erzählungen bildeten, ursprünglich für seine Geliebten ­geschrieben. Die erste Rezipientin des Bandes Die Zimtläden war die Schriftstellerin ­Deborah Vogel, der er Skizzen dieser Erzählungen in Form von Briefen schickte. Das Sanatorium zur Sanduhr wiederum ist Józefina Szelińska gewidmet, mit der Schulz

75 Ebd., 328.

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 Einführende Überlegungen

­einige Zeit verlobt war und von der er sich später trennte.76 Jarzębski formuliert den Gedanken über die Verführung als theatralische Form weiter aus und erläutert, dass gerade durch dieses Zur-Schau-Stellen der verführerischen Praxis die Vielzahl der Pers­ pektiven im Text thematisiert wird. Schulz konfrontiert und verknüpft in diesen Szenen verschiedene Blicke auf dasselbe Ereignis. Diese Auffächerung der Beobachtungsund Deutungsperspektiven ist für Jarzębski die Quintessenz der schulzschen Ironie. Das Erhabene und Pathetische kann – aus einem anderen Blickwinkel betrachtet – rasch ins Lächerliche umschlagen, gar ins Obszöne kippen. Diese Instabilität assoziiert Jarzębski mit einer Überlegung von Roland Barthes in der Schrift Fragmente einer Sprache der Liebe. Dort heißt es, dass jeder Ausdruck von Liebe in sich obszön sei – der Diskurs der Emotionen, von jeher fragmentarisch und daher unfähig, das Objekt der Liebe direkt zu benennen, müsse sich der Obszönität und Ironie bedienen, um von der Umgebung überhaupt wahrgenommen zu werden.77 Als ähnliches Moment der Transgression interpretiert Jarzębski das Theatralische an der Verführung bei Schulz. 78 Da die verführerischen Bestrebungen seiner Figuren immer wie in einem Spektakel vor einer Öffentlichkeit aufgeführt werden, sind sie dem bewertenden Blick der anderen ausgesetzt. Indem sie scheiternd versuchen, vor diesem zu bestehen, werden sie zu Protagonisten der spezifisch schulzschen Ironie. Von besonderem Interesse für die Ziele meiner Arbeit ist Jarzębskis Beitrag deshalb, weil der Verfasser betont, dass die Kategorie der Verführung ihm einen neuen Zugang zur Interpretation von Schulz’ Erzählungen ermöglicht habe. In meiner Arbeit werde ich versuchen, diese Interpretationsspur aufzunehmen und zu zeigen, dass die Kategorie der Verführung in eben dieser zentralen Gewichtung auch zur Analyse weiterer Werke der Prosa der Moderne angewandt werden kann.

Witold Gombrowicz (1904–1969) Die Wirkungsgeschichte des Werkes von Witold Gombrowicz ist noch verzweigter und opulenter als die von Schulz. Gombrowicz’ Gesamtwerk ist auch deutlich umfangreicher. Es umfasst fünf Romane: Ferdydurke (1937), Trans-Atlantik (1953), Pornographie (1960), Kosmos (1965), außerdem den erst posthum (1990) vollständig veröffentlichten Feuilletonroman Die Besessenen (Opętani), den Gombrowicz unter Pseudonym noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für Zeitungen geschrieben hatte, was er erst kurz vor seinem Tod bekannt gab. Darüber hinaus verfasste er Theaterstücke, z. B. Die

76 Józefina Szelińska wird die Autorschaft der ersten Übersetzung von Kafkas Roman Der Proceß ins Polnische zugeschrieben, die Schulz’ mit seinem Namen signierte. Ihrem Leben widmet sich der Dokumentarroman von Agata Tuszyńska, Narzeczona Schulza, Kraków 2015. 77 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, übers. v. Hans-Horst Henschen, Frankfurt a. M. 1984, 180–185. 78 Jerzy Jarzębski, „Bruno Schulz and Seductive Discourse“, 336.

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Trauung oder Yvonne, die Burgunderprinzessin, die in dem Band Bacacay gesammelten Erzählungen, Aufsätze, Essays, unzählige Interviews, Reportagen, Rezensionen, Kritiken und literarische Polemiken, sowie, nicht zuletzt, ein Tagebuch (1953–1969), das über tausend Seiten zählt. Als einer der prominentesten Exilschriftsteller der Nachkriegszeit, fand er rasch Resonanz im westlichen Ausland, nicht zuletzt aufgrund seiner Lebensstationen: Er unternahm im August 1939 eine Reise nach Buenos Aires, wo ihn der Ausbruch des Krieges überraschte. Im argentinischen Exil lebte er fast ein Vierteljahrhundert, kehrte dann in den 1960er Jahren nach Europa zurück, zunächst dank der Ford-Stiftung in die Bundesrepublik Deutschland, und ließ sich schließlich im südfranzösischen Vence nieder. In den 1950er Jahren nahm Gombrowicz Kontakt mit dem in Paris lebenden Verleger Jerzy Giedroyc auf. Von nun an erschienen seine in der Emigration entstan­denen Werke im bedeutenden polnischen Exilverlag Instytut Literacki (Institut Littéraire). Obwohl Gombrowicz den polnischen Nationalmythen und der politischen Situation im Land gegenüber offenkundig kritisch eingestellt war, konnte er nach der Tau­ wetter-Periode einige seiner Bücher auch in der Volksrepublik Polen veröffentlichen. Nachdem er ein Stipendium in West-Berlin angenommen hatte, brach in den pol­ni­ schen Medien eine Hetzkampagne gegen ihn los, in deren Folge seine Bücher ver­ boten wurden. Umgekehrt untersagte Gombrowicz die Publikation ­seiner Werke in Polen – bis sein Tagebuch in unzensierter Form würde erscheinen können, in dem er ausführlich Bezug auf die gegen ihn gerichteten Vorwürfe nahm. Während ihm in den 1960er Jahren dank Übersetzungen und Theateraufführungen der Durchbruch im Westen gelang, vor allem in Frankreich und Deutschland, war eine breitere Rezeption hinter dem Eisernen Vorhang verständlicherweise nicht möglich. Erst seit Mitte der 1980er Jahre begann man, Gombrowicz in seiner Heimat zu drucken. Der bekannte Literaturwissenschaftler Jan Błoński gab das Gesamtwerk im Krakauer Verlag Wydawnictwo Literackie heraus. Es folgten mehrere Auflagen, die ergänzt und erweitert wurden. Die letzte Ausgabe, die zwischen 1992 und 1997 erschien und heute zum Kanon gehört, besteht aus 15 Bänden. Ab 2002 rief derselbe Verlag ein neues, bisher unvollendetes Projekt ins Leben – die historisch-kritische, kommentierte Gesamtausgabe der Werke, die „Pisma zebrane“ [Gesammelte Schriften] genannt wurde.79 Vor

79 Bis jetzt liegen drei Veröffentlichungen dieser Edition vor: Bakakaj (hg. v. Zdzisław Łapiński, 2002), Ferdydurke (hg. v. Włodzimierz Bolecki, 2007) und Iwona, księżniczka Burgunda (hg. v. Janusz Margański, 2008). In den Rezensionen wird dieser Edition vorgeworfen, dass ihr kein kohärentes editionswissenschaftliches Gesamtkonzept zugrunde liege. Łukasz Garbal etwa vergleicht in seiner Kritik die beiden ersten Bände und stellt Folgendes fest: Während der Herausgeber von Bakakaj seine Interpretation auf ein Minimum beschränke und sich die Festlegung des Autorentextes zum Ziel setze, werde in Ferdydurke ein überwältigender interpretatorischer Kommentar geboten. Der von Bolecki herausgegebene Band hat über 800 Seiten, zwei Drittel davon machen die Ausführungen des Herausgebers aus. Als fragwürdig bezeichnet Garbal auch die Entscheidung, als Quellentext für diesen Band die zweite Ausgabe des Romans zu nehmen, die 1957 erschienen ist – zu Zeiten der Volksrepublik

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Kurzem sorgte die letzte posthume Veröffentlichung von Gombrowicz für Aufregung in der polnischen Öffentlichkeit. Im Jahr 2013 wurde Kronos – sein intimes Tagebuch – publiziert, das sich im Besitz der Witwe und Nachlassverwalterin Rita Gombrowicz, geb. Labrosse, befand.80 Der Status dieses Tagebuchs ist in der Forschung umstritten. Man ist sich nicht einig, ob man darin Ansätze eines literarischen Werkes oder eher lakonische Alltagsnotizen sehen soll.81 In dem Band sind viele Faksimiles biographischer Dokumente von und über Gombrowicz enthalten, deren Originale zum größten Teil im Witold-Gombrowicz-Archiv in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale Universität in New Haven aufbewahrt werden. Die ersten Übersetzungen von Gombrowicz’ Werken ins Deutsche erfolgten bereits in den 1960er Jahren. Sie wurden von Walter Tiel (eigtl. Rudolf Richter) vorbereitet und erschienen im Neske Verlag in Pfullingen. 1960 lag der erste Roman – Ferdydurke – auf Deutsch vor. In den 1980er Jahren lässt sich in der Bundesrepublik Deutschland ein wachsendes Interesse an polnischer Literatur beobachten, was mit konkreten kulturellen Ereignissen – etwa der Verleihung des Literaturnobelpreises an Czesław Miłosz 1980 oder der Gründung des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt durch Karl Dedecius (im selben Jahr) –, aber auch mit der politischen Stimmung verbunden war. Die Verhängung des Kriegsrechts in Polen und die Solidarność-Bewegung beschäftigten die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland.82 Nun begann der Hanser Verlag, die Gesammelten Werke von Gombrowicz herauszugeben. Für die neue Werkausgabe waren Rolf Fieguth und Fritz Arnold zuständig. In manchen Fällen, wie bei Pornogra­ phie, wurde die alte Übersetzung revidiert, andere Werke wurden neu übersetzt (z. B. Trans-Atlantik) bzw. zum ersten Mal vollständig veröffentlicht, wie Kosmos oder Tage­ buch. Auch hier ist ein Vergleich der alten und der neuen Übersetzungen bereits ­Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Marta Wiśniowska analysierte anhand der zwei Versionen des Tagebuchs die Strategien der Übersetzung von Gombrowicz’ Texten ins Deutsche.83

Polen also – und die Gombrowicz für die damalige Leserschaft aktualisiert habe. Garbal bemängelt hier vor allem den fehlenden Vergleich mit der Erstausgabe von 1937, die schließlich ganze Generationen von polnischen Intellektuellen beeinflusst habe. Łukasz Garbal, „Witold Gombrowicz, Pisma zebrane. Wydanie krytyczne pod redakcją Włodzimierza Boleckiego, Jerzego Jarzębskiego, Zdzisława Łapińskiego“, in Pamiętnik Literacki Nr. 4/2008, 240–246. 80 Auf Deutsch erschienen als Witold Gombrowicz, Kronos: Intimes Tagebuch, übers. v. Olaf Kühl, München 2015. 81 Mehr über Kronos vgl. Łukasz Tischner, „Zagadka domu Pueyrredóna. Wokół dzienników Gombrowicza“, in Pamiętnik Literacki Nr. 3/2014, 69–77. Aleksander Fiut, „Uwagi o Kronosie“, in Teksty Drugie Nr. 2/2015, 166–179. Grzegorz Jankowicz, Gombrowicz – loading: Esej o formie życia, Wrocław 2014. 82 Da die deutschsprachige Rezeption von Gombrowicz zunächst eine westdeutsche war, konzentriere ich mich hier auf die alte Bundesrepublik. Die Entwicklung in der Volksrepublik Polen in den 1980er Jahren beschäftigte natürlich auch die Öffentlichkeit der DDR – freilich unter gänzlich anderen Vorzeichen. Diese Phänomene sind nicht Gegenstand meiner Untersuchung. 83 Marta Wiśniowska, Strategie translatorskie w przekładach „Dziennika“ Witolda Gombrowicza na

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Die Geschichte der polnischen Gombrowicz-Rezeption nahm ihren Anfang in der Vorkriegszeit mit dem Erscheinen von Ferdydurke. Einer der ersten Rezensenten war Bruno Schulz, der nicht nur einen Aufsatz über den Roman verfasste, sondern auch zwei Illustrationen und das Umschlagbild für die Erstausgabe im Verlag Rój anfer­ tigte.84 Die überwältigende Fülle der Forschungsarbeiten zum Werk von Gombrowicz systematisch darzustellen oder nach Schwerpunkten zu ordnen, ist mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Einen Überblick über die Tendenzen in der Interpretation seines Schaffens bieten die monumentalen Sammelbände Gombrowicz i krytycy (1984) und Witold Gombrowicz – nasz współczesny (2010), die anlässlich verschiedener Jubiläen oder Konferenzen entstanden, repräsentative Texte beinhalten und den Forschungsstand zur jeweiligen Zeit resümieren.85 Darüber hinaus gibt es zahlreiche Monographien, die sich seinem Werk widmen und bestimmte Aspekte fokussieren. Zum Beispiel untersucht Jan Błoński in seiner heute schon kanonischen Abhandlung die Form und die Komik in den Romanen, Piotr Millati behandelt die Auseinander­ setzung mit Fragen der Kunst, Michał Głowiński geht den intertextuellen Anspielungen nach.86 Zwei monographische Studien vor allem waren für mich von Bedeutung. Zunächst eine frühe Arbeit Jerzy Jarzębskis: Gra w Gombrowicza (1982). Es ist eine der ersten so umfassenden Einzeldarstellungen dieses Œuvres.87 Jarzębski benutzt für seine Analyse die Kategorie des Spiels. In seinem Versuch, dessen verschiedene Definitionen zu fassen und aufeinander abzustimmen, arbeitet er ein wesentliches Merkmal heraus: Das Spiel bleibt – wie schon Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Unter­ suchungen bemerkte – ein Begriff „mit verschwommenen Rändern“.88 Jarzębski zeigt, wie diese schwer definierbare Kategorie dank ihrer Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit und Komplexität die Erschließung der Werke von Gombrowicz ermöglicht und auf den verschiedenen Ebenen der Texte ihre Wirkung entfaltet. Diese Idee einer Metapher, die sich nicht auf eine klare Definitionsformel bringen lässt und eben deshalb als Interpretationsinstrument geeignet ist, möchte ich für meine Arbeit übernehmen. Außer-

język niemiecki, Poznań 2011, Dissertation Uniwersytet im. Adama Mickiewicza UAM, https://repozytorium.amu.edu.pl/jspui/bitstream/10593/1055/1/Marta%20Wi%C5%9Bniowska%20Doktorat.pdf (25. Mai 2017). 84 Bruno Schulz, „Ferdydurke. Zu dem gleichnamigen Roman von Witold Gombrowicz“, in ders., Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes, 280–288. 85 Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, Kraków 1984. Jerzy Jarzębski (Hg.), Witold Gomb­ rowicz – nasz współczesny: Materiały z międzynarodowej konferencji naukowej w stulecie urodzin pis­ arza, Kraków 2010. 86 Jan Błoński, Forma, śmiech i rzeczy ostateczne: Studia o Gombrowiczu, Kraków 1994. Piotr Millati, Gombrowicz wobec sztuki, Gdańsk 2002. Michał Głowiński, Gombrowicz i nadliteratura, Kraków 2002. 87 Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, Warszawa 1982. Einige Jahre später verfasste Jarzębski seine zweite Gombrowicz-Studie Podglądanie Gombrowicza, Kraków 2001. 88 Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, 280.

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dem scheint das Spiel – vor allem in der Auslegung von Roger Caillois, die Jarzębski ebenfalls erwähnt – durch eine Familienähnlichkeit mit der Verführung verbunden zu sein.89 Beide Phänomene stellen besondere Arten der Interaktion dar, die das Nützlichkeitsprinzip unterlaufen, gesellschaftlich kodiert sind, einen offenen Ablauf sowie ein ungewisses Ende haben. Die zweite Abhandlung, deren Konzept ich für meine Lesart von Gombrowicz ­adaptieren möchte, ist die 2004 veröffentlichte Studie Czarny nurt von Michał P. ­Markowski.90 Der Autor fokussiert die – seiner Auffassung nach in der bisherigen ­Forschung nur ungenügend erörterten – Aspekte des Dunklen, Unsinnigen und Un­­­be­ greifbaren im Schaffen von Gombrowicz. Doch geht es ihm weniger um Elemente der Schwarzen Romantik, die beispielsweise Maria Janion in ihren Aufsätzen untersucht,91 sondern um einen Prozess, der vom Eindringen des Unverständlichen handelt. Programmatisch grenzt sich Markowski dabei von Interpretationen ab, die etwa die Intertextualität hervorheben und Gombrowicz als durchaus durchschaubaren Autor betrachten möchten, dessen spielerischen Umgang mit der Literatur man entschlüsseln könne. Diese Perspektive ist für Markowski zu eng gefasst. Ihm zufolge thematisiert Gombrowicz in seinen Werken vor allem das Unverständliche. Die von ihm kreierte Welt könne daher nicht erfasst und begriffen werden, sie sei wie eine aufgewühlte, mitreißende, dunkle Wassermasse – der Titel seiner Abhandlung lässt sich als „Schwarze Strömung“ oder „Schwarzes Fluten“ übersetzen. Markowskis „schwarze“ Herangehensweise lehnt sich an die Philosophie von Gilles Deleuze an. Er arbeitet mit psychoanalytischen und dekonstruktivistischen Ansätzen, u. a. beruft er sich auch auf die amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Avital Ronell und deren Studie über die Dummheit (2002), was für meine Erwägungen insofern interessant ist, als es hier einen bedeutsamen Konnex zwischen Musil und Gombrowicz gibt.92 Ronell geht in ihren Überlegungen von Musils Essay Über die Dummheit (1937) aus, in dem Musil eine unkonventionelle Definition vorschlägt: Die Dummheit sei weder mit ­Irrtum noch mit Unverstand gleichzusetzen und solle nicht allein als Widerpart des

89 Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen: Maske und Rausch, übers. v. Sigrid von Massenbach, Frankfurt a. M. 1982. 90 Michał P. Markowski, Czarny nurt, Kraków 2004. 91 Vgl. Maria Janion, „‚Ciemna‘ młodość Gombrowicza“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 491–529. Dies., „Sobowtóry i dwoistość Gombrowicza“, in Dialog Nr. 2/1975, 128–135. Oder der ausführlichste Text „Forma gotycka Gombrowicza“, in dies., Gorączka romantyczna, Warszawa 1975, 167–243. Die prominente Literatur- und Kulturwissenschaftlerin hat bislang im deutschsprachigen Raum noch nicht die Anerkennung erfahren, die ihr gebührt. Einen Beginn der Rezeption ermöglichte ein umfangreicher Band mit einer Auswahl ihrer Beiträge in deutscher Übersetzung: Maria Janion, Die Polen und ihre Vampire: Studien zur Kritik der Phantasmen, hg. v. Magdalena Marszałek, übers. v. Bernhard Hartmann u. Thomas Weiler, Berlin 2014. 92 Michał P. Markowski, Czarny nurt, 336–342. Vgl. Avital Ronell, Dummheit, übers. v. Rike Felka, Berlin 2005.

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Verstandes aufgefasst werden.93 Die Dummheit als autarke, von Sinn und Verstand unabhängige Kategorie, die Ronell von Musil übernimmt, ist für Markowski entscheidend, so möchte er auch die Unverständlichkeit begreifen und deren Spuren in Gombrowicz’ Werken nachspüren. Für die vorliegende Untersuchung ist von Bedeutung, dass sich im Werk von Gombrowicz Vorstellungen vom Wissen und von der Beschaffenheit der Welt erkennen lassen, die nicht den konventionellen Mustern entsprechen, und dass diese – auf den ersten Blick unverständlich erscheinenden – Phänomene mithilfe der Kategorie der Verführung beschrieben werden können. Neben Monographien sind in der Gombrowicz-Forschung die komparatistischen Arbeiten hervorzuheben. Häufig wird sein Werk mit dem Schaffen von Bruno Schulz und Stanisław Ignacy Witkiewicz alias Witkacy verglichen. Gombrowicz selbst lieferte den Impuls, dieses Trio zusammenzustellen, indem er die Formulierung „drei Musketiere der polnischen Avantgarde“ prägte.94 In letzter Zeit untersuchte zum Beispiel T ­ omasz Bocheński den schwarzen Humor bei den genannten drei Autoren.95 Gombrowicz’ Œuvre lässt sich außerdem in weiteren Kontexten verorten, die über die polnische Prosa hinausreichen. Mateusz Kanabrodzki widmete sich beispielsweise den Körperund Theaterkonzeptionen sowie dem materiell-leiblichen Prinzip in Gombrowiczʼ Dramen, die er parallel zu Werken von Georg Büchner, Miron Białoszewski und Helmut Kajzar las.96 Bartosz Lutostański hingegen verglich Gombrowicz mit Samuel Beckett.97 Auf Gombrowicz’ ästhetische Verwandtschaft mit Jean Genet machte zuletzt Piotr ­Seweryn Rosół aufmerksam.98 Auch in philosophischen Zusammenhängen wurden seine Romane bereits erforscht. In Bezug auf die Problematik der Begegnung mit dem Anderen konfrontierte man sie unter anderem mit den Theorien solcher Denker wie Max Scheler oder Emmanuel Lévinas.99 Wegen der Zensur in der Volksrepublik Polen wurde Gombrowicz, wie oben erwähnt, in seiner Heimat verspäteter Ruhm zuteil. Im westlichen Ausland hingegen erlebte er bereits viel früher eine intensive Rezeption. Vor allem in Frankreich, wo er, nach dem Aufenthalt in West-Berlin, von 1964 bis zu seinem Tod im Jahr 1969 lebte,

93 Robert Musil, Prosa und Stücke – Kleine Prosa – Aphorismen – Autobiographisches – Essays und Reden – Kritik, in Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, 1270–1291. 94 Witold Gombrowicz, „Nachwort“, in Stanisław Ignacy Witkiewicz, Unersättlichkeit, übers. v. Walter Tiel, München 1986, 465. Mehr dazu in Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953–1969, übers. v. Olaf Kühl, Frankfurt a. M. 2004, 708 f. 95 Tomasz Bocheński, Czarny humor w twórczości Witkacego, Gombrowicza, Schulza: Lata trzydzieste, Kraków 2005. 96 Mateusz Kanabrodzki, Kapłan i fryzjer: Żywioł materialno-cielesny w utworach Georga Büchnera, Witolda Gombrowicza, Mirona Białoszewskiego, Helmuta Kajzara, Gdańsk 2004. 97 Bartosz Lutostański, Gombrowicz – Beckett, Beckett – Gombrowicz: A Comparative Inter-modal Study, Gdańsk 2016. 98 Piotr Seweryn Rosół, Genet Gombrowicza: Historia miłosna, Gdańsk 2016. 99 Eryk Pieszak, Trzy dyskursy o spotkaniu z Innym: Gombrowicza, Schelera i Lévinasa ścieżki spotka­ nia w pobliżu wielkich dróg, Poznań 2003.

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wurde er rasch bekannt. Dazu trugen die früh erschienenen Übersetzungen bei (Fer­ dydurke lag bereits 1958 auf Französisch vor). Die französische Rezeption ist u. a. mit Namen verbunden wie François Bondy, der über Gombrowicz für die Zeitschrift Preu­ ves schrieb und zusammen mit Konstanty Jeleński den auf Deutsch veröffentlichten Band Witold Gombrowicz100 verfasste, oder Dominique de Roux101 – Gombrowicz’ Interviewer –, der zusammen mit Jeleński die Nummer der Zeitschrift Cahiers de L’Herne über Gombrowicz (1971) vorbereitete. Nicht zu vergessen sind auch Maurice Nadeau und Christian Bourgois, Gombrowicz’ Verleger. Die französische Rezeptionsgeschichte wurde allerdings noch nicht sehr ausführlich in der Sekundärliteratur bearbeitet – anders die deutschsprachige. Diesem Themenkomplex widmet sich unter anderem der umfangreiche Sammelband Gombrowicz in Europa. Deutsch-polnische Versuche einer kulturellen Verortung, der die Aufsätze der wichtigsten deutschen Gombrowicz-Forscher enthält – u. a. Heinrich Kunstmann, Rolf Fieguth, German Ritz, Alfred Gall und Olaf Kühl.102 Hier wäre zu betonen, dass diese Beiträge auch in Polen beachtet werden. Sie erschienen in polnischer Übersetzung in der bekannten Schriftenreihe „Polonica Leguntur“, die sich mit der Rezeption polnischer Literatur in deutschsprachigen Ländern befasst und vom Willy-Brandt-Zentrum der Universität Wrocław und dem Krakauer Verlag Universitas herausgegeben wird.103 Auch die Übersetzungen der Monographien von Alfred Gall (Performativer Humanis­ mus, polnischer Titel Humanizm performatywny) und Olaf Kühl (Stilistik einer Verdrän­ gung, polnischer Titel Gęba Erosa) wurden in dieser Reihe publiziert.104 Was den Begriff der Verführung in der Gombrowicz-Forschung betrifft, so lässt sich festhalten, dass er recht häufig im Kontext der Untersuchungen zur Künstler­

100 François Bondy u. Konstanty Jeleński, Witold Gombrowicz, München 1978 (Reihe „Dramatiker des Welttheaters“). 101 Witold Gombrowicz, Testament: Entretiens avec Dominique de Roux, Paris 1977. 102 Andreas Lawaty u. Marek Zybura (Hg.), Gombrowicz in Europa: Deutsch-polnische Versuche einer kulturellen Verortung, Wiesbaden 2006. Zum Thema, wie Gombrowicz im Vergleich mit anderen polnischen Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum rezipiert wurde, siehe Hedwig Nosbers, Polnische Literatur in der Bundesrepublik Deutschland 1945/1949 bis 1990: Buchwissenschaftliche ­Aspekte, Wiesbaden 1999. Über die Rezeption von Gombrowicz’ Dramen im deutschsprachigen Raum vgl. Daniel Pietrek, „Szlachcica polskiego pojedynki cieniów“: Recepcja dramatów Witolda Gombro­ wicza w niemieckim obszarze językowym, Wrocław 2006. Zur Geschichte von Gombrowicz’ Rezeption vgl. Agnieszka Marx, Rezeption Witold Gombrowiczs im Spiegel der deutschsprachigen Literatur- und Theaterkritik, Göttingen 2005, Dissertation Universität Göttingen, http://ediss.uni-goettingen.de/bitstream/handle/11858/00-1735-0000-0006-AECE-7/marx.pdf?sequence=1 (25. Mai 2017). 103 Izabela Surynt u. Marek Zybura (Hg.), Patagończyk w Berlinie: Witold Gombrowicz w oczach kry­ tyki niemieckiej, Kraków 2004. Der Titel dieser Reihe spielt auf die einst gängige Wendung „Polonica non leguntur“ an, in der die Überzeugung zum Ausdruck kam, dass Texte in polnischer Sprache keine Leserschaft im Ausland fänden. 104 Alfred Gall, Performativer Humanismus, Dresden 2007. Olaf Kühl, Stilistik einer Verdrängung: Zur Prosa von Witold Gombrowicz, Berlin 1995, Dissertation Freie Universität Berlin, www.similitudo.de/ dissall.pdf (25. Mai 2017).

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konzeption zu finden ist. Allerdings sind es verstreute Erwähnungen und keine sys­ tematischen Auseinandersetzungen mit dieser Kategorie. Bedeutsam ist, dass sich Gombrowicz selbst sowohl in seinen literarischen Werken als auch in zahlreichen Kommentaren dieser Metapher bediente und damit sein Verhältnis zu den Rezipienten bzw. zum anderen Menschen beschrieb, worauf ich im Laufe dieser Arbeit noch ausführlich eingehen werde. Auch François Bondy machte darauf aufmerksam – so spricht er beispielsweise davon, dass in Ferdydurke Verführung und Gewalt nicht als Gegensätze aufgefasst werden, sondern sich gegenseitig ergänzen, weil sie letztlich die künstlerische Haltung konstituieren. Gombrowicz’ Auffassung zufolge soll der Schriftsteller, so Bondy, seine Leser schockieren, fesseln und dadurch verführen.105 Peter Hamm weist auf ähnliche Züge im Tagebuch hin – in der Verbindung von Verführbarkeit und Verführungskraft sieht er den Schlüssel zum Verständnis von Gombrowicz.106 Bezeichnenderweise wird in den meisten Studien die Problematik der Verführung bei Gombrowicz automatisch mit dem Themenkomplex der Erotik und Perversion verbunden. Artur Sandauer verortet das Werk gar neben solchen Autoren einer Perversität wie Marquis de Sade, Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und Alfred Jarry.107 Nun gibt es hier gewiss Überschneidungen, doch muss bedacht werden, dass die erotischen Konnotationen die potenziell mehrdeutige Metapher der Verführung konkretisieren. Zur Erotik bei Gombrowicz schrieb auch Czesław Miłosz in einem Essay aus dem Jahr 1970. Dort macht er auf die besondere erotische Stimmung – „ohne Eros und Agape“ – in Gombrowicz’ Werken aufmerksam und hält die bedeutende Beobachtung fest, dass in diesen Texten keine einzige Beschreibung einer Kopulation zu finden sei. Auch gebe es keine „Berührung des Anderen“ – wie Miłosz es in Anspielung auf die Philosophie des Dialogs formuliert –, stattdessen nur gewalttätige Körperkontakte wie das Schlagen.108 Aus dieser Beobachtung lässt sich schlussfolgern, dass Gombrowicz, ähnlich wie George Bataille, der Erotik neue Bedeutungen zuschreibt und sie nicht mit der Sexualität gleichsetzt.109 Diesen Aspekt betont auch Janusz Pawłowski. Seinem

105 François Bondy, „Witold Gombrowicz oder: Die Schattenduelle eines polnischen Landedelmannes“, in Akzente Nr. 4/1965, 366–383. 106 Peter Hamm, Der Wille zur Ohnmacht: Über Robert Walser, Fernando Pessoa, Julien Green, Witold Gombrowicz, Ingeborg Bachmann und andere, München 1992, 134–158 (Kapitel ‚Menschsein heißt den Menschen spielen.‘ Witold Gombrowicz und seine Tagebücher“). 107 Artur Sandauer, „Gombrowicz – człowiek i pisarz“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 126. 108 Czesław Miłosz, „Kim jest Gombrowicz?“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 185–200. 109 Über George Bataille’s Verständnis von Erotik als Entgrenzung schreibt Gerd Bergfleth, sein Übersetzer ins Deutsche, Folgendes: „Erotik ist ein Phänomen, das im Unterschied zur Sexualität nicht objektiv beschrieben, sondern nur subjektiv erfahren werden kann. […] So ist die Erotik der Name für eine spezifisch menschliche Erfahrung der Sexualität, einer Sexualität, die sich der Mensch so weit zu eigen gemacht hat, dass der Umgang mit ihr zur Selbsterfahrung wird.“ Gerd Bergfleth, „Leidenschaft und Weltinnigkeit. Zu Bataille’s Erotik der Entgrenzung“, in Georges Bataille, Die Ero­ tik, übers. v. Gerd Bergfleth, München 1994, 315.

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Verständnis nach haben Erotik und Perversion bei Gombrowicz eine philosophische Dimension, sie gehen über die zwischenmenschlichen Beziehungen hinaus und ­weisen in die Richtung einer epistemischen Erfahrung der Selbstvergessenheit im Wahrnehmungsstrom.110 Vor allem in Bezug auf den Roman Pornographie (1960) wurde mehrfach das Thema der Erotik erforscht, unter anderem von Robert Boyers und Andrzej Juszczyk.111 Auch Gilles Deleuze widmete sich diesem Werk in seiner Abhandlung Logik des Sinns (1969). Am Beispiel der Texte von Gombrowicz und Pierre Klossowski (der Roman Der Souffleur von 1960) untersucht er das Phänomen der Perversion. Vor allem verweist Deleuze auf einen wichtigen Aspekt: Gombrowicz’ Roman Pornographie enthält – den Erwartungen zum Trotz – keine einzige obszöne Schilderung, vielmehr werden, gleich einem Tableau vivant, unentschiedene junge Körper in erstarrten Bewegungen vorgeführt.112 Das Perverse, so Deleuze weiter, sei die lähmende Unentschiedenheit, das In-der-Schwebe-Halten oder, wie er es formuliert, „diese objektive Macht des Zögerns, Stockens im Körper, […] dieser Aufschub, der jeden Augenblick der Differenz kennzeichnet, diese Bewegungslosigkeit, die jeden Augenblick des Falls kennzeichnet“.113 Dass der Schwerpunkt der meisten Interpretationen von Pornographie auf der Erotik liegt, ist vielleicht auf Gombrowicz’ eigene Kommentare zurückzuführen. Im Nachwort zur deutschen und französischen Übersetzung seines Romans schreibt er Folgendes: Ich glaube an keine nicht erotische Philosophie. Ich traue keinem entsexualisierten Gedanken. Freilich, es ist schwer zu glauben, dass die Logik von Hegel oder Die Kritik der reinen Ver­ nunft hätten konzipiert werden können, ohne dass ihre Autoren einige Distanz mit dem Körper gewahrt hätten. Doch das reine Bewusstsein, kaum dass es realisiert ist, muss von neuem in den Körper getaucht werden, in das Geschlecht, in Eros; der Künstler muss den Philosophen in die Verzauberung tauchen, in den Charme, in die Anmut.114

Zweifelsohne stellen die Frage nach erotisch-perversen Abhängigkeitsverhält­nissen, die Aufwertung des Körpers und der Sinnlichkeit sowie die Artikulation der erotischen Spannungen wichtige Aspekte in diesem Werk dar, die auch in der Sekundärliteratur bereits erschlossen wurden. In meiner Arbeit möchte ich jedoch dort a­ nsetzen, wo das

110 Janusz Pawłowski, „Erotyka Gombrowicza“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 531–560. 111 Robert Boyers, „Aspects of the Perverse in Gombrowicz’s Pornografia“, in Salmagundi Nr. 17/1971, 19–46. Andrzej Juszczyk, „Apetyt na starość. Uwodzenie, pożądanie i przemoc w Pornografii“, in Jerzy Jarzębski (Hg.), Witold Gombrowicz – nasz współczesny, 316–327. 112 Gilles Deleuze, Logik des Sinns, übers. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt a. M. 1994, 341. 113 Ebd. 114 Witold Gombrowicz, Pornographie, übers. v. Walter Tiel u. Renate Schmidgall, Frankfurt a. M. 2005, 201.

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obige Zitat endet. Wie soll man sich eine „in die Verzauberung getauchte“ Philosophie vorstellen? Eben diese Idee einer „anderen“ Philosophie – mit allen Konsequenzen für das Verständnis der Welt, des Menschen und seiner Erkenntnisfähigkeit, die sich aus einer Verschiebung der Akzente auf Charme, Anmut und Verführung ergeben müssen – scheint der Roman Pornographie zu enthalten. Diesen Zusammenhängen im Einzelnen nachzugehen, ist die Absicht meiner Analyse.

Robert Musil (1880–1942) Wie bereits angedeutet, soll an dieser Stelle der Forschungsstand zum Schaffen von Robert Musil nicht ausführlich referiert werden – nicht weil der Autor als „einheimischer“ Klassiker der Prosa der Moderne im eigenen Sprachraum keiner näheren Erläuterung im Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte bedürfte und man sich ersparen wollte, Eulen nach Athen zu tragen, sondern weil diese Thematik in der auf Deutsch verfügbaren Sekundärliteratur bereits überaus sorgfältig ausgearbeitet wurde.115 Zudem ist die Zahl der Musil gewidmeten wissenschaftlichen Arbeiten derart groß, dass selbst eine Auswahl sich rasch im Uferlosen verlöre.116 Viele Verlage drucken ­separate Schriftenreihen mit Publikationen über Musils Leben und Werk. Zu den bekanntesten zählen die von Josef Strutz im Fink Verlag herausgegebene Reihe „MusilStudien“ (in Zusammenarbeit mit dem Robert-Musil-Archiv in Klagenfurt), die im Peter Lang Verlag erscheinenden „Musiliana“ oder die „Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur“, die im Röhrig Universitätsverlag publiziert werden. Nicht zu vergessen sei selbstverständlich die Zeitschrift der Robert-MusilGesellschaft Musil-Forum. In meiner Studie möchte ich mich vor allem auf Musils Erzählungsband Vereini­ gungen (1911) sowie auf einige seiner Essays wie etwa Profil eines Programms (1912), Geist und Erfahrung (1921) und Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) konzentrieren. In Bezug auf diese Texte wären Fragen nach der Verfasstheit des literarischen Subjekts, nach der Sprache sowie der Beschaffenheit der kreierten Welt zu stellen, die ich mithilfe der Kategorie der Verführung zu formulieren versuche. Die Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur zu den genannten Aspekten wird in den jeweiligen Kapiteln er­ folgen. Teil 2.4.1 beschäftigt sich zum Beispiel mit ausgewählten Aufsätzen über die Sprachkonzeption in Musils Erzählungen; in Kapitel 3.4.1 ziehe ich Studien zum Begriff der Analogie in seinem Frühwerk heran.

115 Vgl. Jürgen C. Thöming, Zur Rezeption von Musil- und Goethe-Texten: Historizität der ästhetischen Vermittlung von sinnlicher Erkenntnis und Gefühlserlebnissen, München 1974. 116 Siehe die vom Robert-Musil-Institut in Klagenfurt verfasste Bibliographie für den Zeitraum von 1992 bis 2013, erstellt von Harald Gschwandtner, http://www.musilgesellschaft.at/texte/musilforum%20online/Musil-Bibliographie%201992-2013.pdf (25. Mai 2017).

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 Einführende Überlegungen

Die Verführung taucht relativ selten in der Musil-Forschung auf, obwohl das Phänomen in seinen Werken mehrfach thematisiert wird – erinnert sei nur an die Verführungsszenen in den Vereinigungen oder an die besondere Anziehungskraft und die zahlreichen Eroberungen von Ulrich in Der Mann ohne Eigenschaften. Einer der Gründe dafür, dass dieser Aspekt bislang wenig Beachtung fand, mag darin liegen, dass das Wort – als Metapher – nicht unbedingt mit dem in der Öffentlichkeit tradierten Künstlerbild von Musil in Verbindung gebracht wurde. Bei Thomas Mann oder Witold Gombrowicz etwa sah das entschieden anders aus. Dieser Gedanke ließe sich auch anhand einer Aussage Ingeborg Bachmanns verdeutlichen. In einer 1954 publizierten Betrachtung zu Musil notiert sie, er wolle „uns zu nichts verführen, nur herausführen aus einem schablonenhaften und konventionellen Denken“, deshalb zwinge er uns dazu, „nachzudenken, genau zu denken und mutig zu denken.“117 Seiner Prosa werden also gerade andere Eigenschaften als ein verführerischer Zauber zugeschrieben – Musil wird als Schriftsteller des präzisen Nachdenkens und nicht als Akteur der Verführung porträtiert. Dennoch beschränkt sich die Forschung verständlicherweise nicht auf den Aspekt philosophischer Reflexion, mag die Beschäftigung mit Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche und Ernst Mach auch einen der Akzente in der Sekundärliteratur ausmachen.118 Mehrere Forschungsarbeiten widmen sich durchaus dem komplexen Begriff der Liebe in diesem Werk. Michiko Mae etwa betrachtet Musils Prosa im Kontext europäischer Liebeskonzepte – von Novalis und Friedrich Schlegel über Ludwig Binswanger bis zu Max Scheler.119 Thomas Pekar wiederum analysiert Musils literarische Auseinandersetzungen mit der Artikulation der Triebe und dessen Suche nach einer „noch nicht ausdenkbaren Sprache der Affekte und der Unmittelbarkeit“; seine Studie nutzt dabei Ansätze der Kommunikationstheorie und Semiologie.120 Gerhard Meisel erforscht die Liebe bei Musil im Hinblick auf den Empiriokritizismus und die Entwicklung der modernen Wissenschaft.121 Andere Arbeiten deuten Musils Liebeskonzept im

117 Ingeborg Bachmann, „Ins Tausendjährige Reich“, in Akzente Nr. 1/1954, 53. 118 Sebastian Hüsch, Möglichkeit und Wirklichkeit: Eine vergleichende Studie zu Søren Kierkegaards „Entweder – Oder“ und Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, Stuttgart 2004. Hans-Joachim Pieper, Musils Philosophie: Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs, Würzburg 2002; Wolfgang Rzehak, Musil und Nietzsche: Beziehungen der Erkenntnisperspek­ tiven, Frankfurt a. M. u. a. 1993, Charlotte Dresler-Brumme, Nietzsches Philosophie in Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“: Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis, Wien 1993. Michael Hinz, Verfallsanalyse und Utopie: Nietzsche-Rezeption in Thomas Manns „Zauberberg“ und in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“, St. Ingbert 2000. 119 Michiko Mae, Motivation und Liebe: Zum Strukturprinzip der Vereinigungen bei Musil, München 1988. 120 Thomas Pekar, Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, München 1989, 311. 121 Gerhard Meisel, Liebe im Zeitalter der Wissenschaften vom Menschen: Das Prosawerk von Robert Musil, Opladen 1991.



Struktur der Arbeit 

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Zusammenhang mit der Psychoanalyse unter den Gesichtspunkten der Sexualität, der Erotik und der Macht.122 Zwischen der Kategorie der Liebe und der Verführung lassen sich zahlreiche Verbindungen knüpfen, worauf ich in Kapitel 3.4 ausführlich eingehen möchte. Von besonderer Bedeutung für meine Untersuchung ist, dass die Musil-Forschung diesem Werk ausdrücklich philosophischen Wert beimisst. In Bezug auf seine Prosa spricht beispielsweise Annette Gies von der literarischen Epistemologie.123 Fred Lönker hingegen prägt in seiner Interpretation der Vereinigungen den Begriff der „poetischen Anthropologie“.124 Nicht zuletzt diese Arbeiten bewogen mich dazu, die Formulierung Philosophie der Verführung zu verwenden. Abschließend möchte ich betonen, dass ich in meiner Studie nicht nur auf die im strikten Sinne literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zu Werken von Musil ein­ gehen werde. Ebenso ausschlaggebend sind für mich die Überlegungen zeitgenössischer Philosophen und Theoretiker wie Giorgio Agamben, Karl-Heinz Bohrer, Michael Hampe, Paul Ricœur oder Charles Taylor, denen Musils Prosa als wichtiges Bezugsfeld zur Entfaltung ihrer eigenen Begriffe und Konzepte dient.

1.4 Struktur der Arbeit Die Studie wird aus zwei Hauptteilen mit Textanalysen bestehen, die thematisch den beiden in der Zielsetzung erläuterten Problemfeldern entsprechen. Der Schwerpunkt des ersten Kapitels liegt in der epistemologisch-anthropologischen Dimension der ­Erzählungen von Robert Musil und Bruno Schulz. Das zweite Kapitel wird der ontolo­ gischen Beschaffenheit der dargestellten Welt in Witold Gombrowicz’ Roman Porno­ graphie gewidmet sein. Beide Teile sind nahezu symmetrisch aufgebaut und werden mit ausführlichen Einleitungen sowie einer Erklärung ihrer Struktur versehen. Bewusst beginne ich beide Kapitel mit dem Phänomen einer Krise. Im ersten Teil ist es die Identitätskrise des Subjekts, die ich Dämmerzustand nenne; im zweiten Teil der ­Zusammenbruch des Weltverständnisses im Bewusstsein des modernen Menschen in Literatur und Kultur. In beiden Fällen wird die Krise als Moment des Aufbruchs und

122 Vgl. Ina Hartwig, Sexuelle Poetik, Frankfurt a. M. 1998. Sebastian Hüsch, „Ist Macht erotisch? Verführung zwischen Macht und Ironie in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften“, in Clemens Ruthner u. Raleigh Whitinger (Hg.), Contested Passions: Sexuality, Eroticism, and Gender in Modern Austrian Literature and Culture, New York u. a. 2011, 233–248. Hildegard Lahme-Gronostaj, Einbildung und Erkenntnis bei Robert Musil und im Verständnis der „Nachbarmacht“ Psychoanalyse, Würzburg 1989. 123 Annette Gies, Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘: „Der Mann ohne Eigenschaften“ als literarische Erkenntnistheorie, Würzburg 2003. 124 Fred Lönker, Poetische Anthropologie: Robert Musils Erzählungen „Vereinigungen“, München 2002.

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 Einführende Überlegungen

als Wendepunkt zu etwas Anderem interpretiert, der das Schaffen alternativer Vorstellungen und neuer, auf Verführung basierender Wirklichkeitskonzepte in Gang setzt. Auch möchte das erste Kapitel zum Vergleich einen Blick nach vorn – in die Gegenwartsliteratur – werfen, der die Rezeption und Aktualität der Prosa der Moderne heutzutage veranschaulichen soll. Das zweite Kapitel hingegen bietet zur Erweiterung der Interpretationsperspektiven einen Rückblick auf die klassische realistische Prosa des 19. Jahrhunderts.

1.5 Erläuterungen Robert Musil: V: Robert Musil, Vereinigungen, in Gesammelte Werke, Bd. 6, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978. Bruno Schulz: S: Das Sanatorium zur Sanduhr, übers. v. Doreen Daume, München 2011. Z: Die Zimtläden, übers. v. Doreen Daume, München 2008. Witold Gombrowicz: B: Bacacay, übers. v. Walter Tiel u. Olaf Kühl, Frankfurt am Main 2005. F: Ferdydurke, übers. v. Walter Tiel, Frankfurt am Main 2004. K: Kosmos, übers. v. Olaf Kühl, Frankfurt am Main 2005. P: Pornographie, übers. v. Walter Tiel u. Renate Schmidgall, Frankfurt am Main 2005. Die Werke der polnischen Autoren werden hier aus praktischen Gründen in deutscher Übersetzung zitiert, damit der Gesamttext sprachlich kohärent bleibt. Das Original wird aber stets als Ausgangspunkt genommen und bei der Interpretation mitberücksichtigt. Falls notwendig, wird das jeweilige Zitat mit einem übersetzungskritischen Kommentar versehen, gegebenenfalls auch mit anderen Übersetzungen verglichen. Kursive Hervorhebungen in den Zitaten, wenn nicht anders angemerkt, entsprechen dem Original.

2 V  erführung als epistemologische Metapher in Robert Musils und Bruno Schulz’ Erzählungen Der erste analytische Hauptteil widmet sich Fragen nach den Vorstellungen vom ­Subjekt und dessen Kontakt zur Welt. Zur Erörterung dieser komplexen Problematik möchte ich die Verführung als epistemologische Metapher und diskursiven Kristallisationspunkt in den Blick nehmen, um Auffassungen des Menschen, seiner Bewusstseinslage und Erkenntnisfähigkeit sowie seine Beziehung zu Wissen und Sprache ­untersuchen zu können. Im Mittelpunkt stehen Erzählungen von Robert Musil und Bruno Schulz, die in den ersten drei Dekaden des letzten Jahrhunderts verfasst wurden: Musils Erzählungsband Vereinigungen erschien 1911, Schulz’ Die Zimtläden und Das Sanatorium zur Sanduhr 1934 bzw. 1937. Beide Prosabände weisen insofern Ähnlichkeiten auf, als sie eine Kritik an tradierten Konzeptionen des Subjekts als handelndem und erkenntnisfähigem Individuum erkennen lassen. Mit welchen literarischen Mitteln diese Kritik formuliert wird, soll im Folgenden untersucht werden. Die Tatsache, dass Musil und Schulz in ihrer Prosa um epistemologische Fragen kreisen und dem Verhältnis des Individuums zur Sphäre des Wissens und der Erkenntnis nachspüren, lässt sich im Kontext der Epoche verorten. Die Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik Anfang des 20. Jahrhunderts beeinflusste nicht nur das alltägliche Leben, sie forderte auch die Kunst heraus, sich angesichts dieser Prozesse zu definieren. Musil, der bekanntlich wissenschaftlich tätig war, über Ernst Mach promoviert hatte und die akademische Karriere schließlich aufgab, um sich ganz der schriftstellerischen Arbeit zu widmen, hob mehrfach den besonderen Er­ kenntniswert der Literatur hervor und betrachtete sie – wie Hartmut Böhme es in seinem Aufsatz zu den Vereinigungen formuliert – als „eine Grenzerweiterung der wissenschaftlichen Wahrheit“.1 In Musils Werken, so Böhme weiter, werde immer Wissen verhandelt – allerdings eine besondere Art von Wissen: Es gehe nämlich „nicht […] um Wissen dessen, was ist und anders nicht sein kann, nicht also um Gesetzwissen, sondern um die Erfahrung des im erzählten Einzelfall aufscheinenden Möglichen“.2 Dieses Literaturverständnis darf als charakteristisch für die Prosa der Moderne ­gelten, spiegelt es doch den kritischen Blick auf den Fortschrittsgedanken, der die ­Fähigkeit des Menschen, die Welt zu erfassen, unter den Vorzeichen eben jenes „­Gesetzwissens“ bewertet. Dem werden nun alternative Erkenntnisweisen und ­Wissensformen gegenübergestellt, die nicht nach Universalien und Gesetzlichkeiten streben, sondern auf der individuellen Erfahrung basieren und sich den dualistischen Kategorien rational/

1 Hartmut Böhme, „Nachwort. Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle“, in Robert Musil, Vereinigungen: Zwei Erzählungen mit einem Essay von Hartmut Böhme, Frankfurt a. M. 1990, 196. 2 Ebd., 192. https://doi.org/10.1515/9783110572049-002

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

irrational bzw. Wissen / Unwissenheit entziehen. Mit einer ­Formulierung aus Hermann Brochs Trilogie Die Schlafwandler (1930–1932) ließen sich diese Formen der ­Erkenntnis als „eine Art Schwebezustand zwischen Noch-nicht-Wissen und SchonWissen“ bezeichnen.3 Um diesen unbestimmten Zustand genauer beleuchten zu können, möchte ich mit der Hypothese arbeiten, dass die Metapher der Verführung geeignet ist, dieses alternative Wissensverständnis zu erfassen. An dieser Stelle sei in Erinnerung gerufen, dass die Verführung ideengeschichtlich in Widerspruch zur Ratio steht, sie wird mit dem Sinnlichen, Geheimnisvollen, Möglichen, Ursprünglichen und Magischen verbunden. Die Prosa der Moderne versucht diese Kategorien aufzuwerten und die Verführung in einen modernen Wissens- und Wissenschaftsbegriff zu reintegrieren, was jedoch nicht mit einer schlichten Rückkehr zum Irrationalen gleichzusetzen ist. Um auf ein Nachdenken über ein Wissen jenseits der Dichotomien einzustimmen, möchte ich einen zeitgenössischen Text zitieren, der mit ähnlichen Prämissen an die Fragestellung herangeht. In seinem Essay Das letzte Kapitel der Weltgeschichte (2009) lotet Giorgio Agamben den schwebenden Bewusstseins- und Wissenszustand aus, der im Zentrum des Interesses moderner Prosaschriftsteller steht: Auf welche Weise wir etwas nicht wissen, ist nicht weniger wichtig, wenn nicht gar wichtiger als unsere Erkenntnisweisen. Es gibt Modi des Nicht-Wissens – Achtlosigkeit, Unachtsamkeit, Vergesslichkeit –, die unbeholfen, ja hässlich wirken; andere jedoch – die Gedankenlosigkeit von Kleists Jüngling, die bezaubernde Unbedachtheit des Kindes – rufen in uns ob ihrer Vollkommenheit immer wieder Bewunderung hervor. […] Womöglich ist es gerade die Weise, in der wir zu ignorieren vermögen, die den Rang dessen bestimmt, was wir erkennen, und die Artikulation einer Zone der Unwissenheit Bedingung – und zugleich Prüfstein – all unseres Wissens. Trifft dies zu, dann wäre ein detaillierter Katalog der Weisen der Unwissenheit ebenso nützlich wie die systematische Klassifikation der Wissenschaften, auf denen die Weitergabe des Wissens beruht. […] Die Artikulation einer Zone der Unwissenheit bedeutet nämlich nicht einfach Nicht-Wissen, es handelt sich nicht um einen Mangel oder Defekt. Es bedeutet vielmehr, im richtigen Verhältnis zur Unwissenheit zu stehen, zuzulassen, dass etwas Unbewusstes unsere Gesten führt und begleitet, dass sich in unseren Worten klar und deutlich ein Schweigen vernehmen lässt. […] In diesem Sinne besteht die Lebenskunst in der Fähigkeit, mit dem, was uns entgeht, in einer harmonischen Beziehung zu stehen. Die Verbindung mit einer Zone der Unwissenheit hingegen wacht darüber, dass sie eine solche bleibt. Und zwar weder, um wie die Mystik ihre Dunkelheit zu steigern, noch, um ein Geheimnis zu verherrlichen wie die Liturgie. Und auch nicht, um sie wie die Psychoanalyse mit Phantasmen zu füllen. Es handelt sich weder um eine Geheimlehre noch um eine höhere Wissenschaft, noch auch um ein Wissen, das nicht gewusst werden kann. Es ist sogar denkbar, dass die Zone der Unwissenheit gar nichts Besonderes birgt, dass, könnte man in sie hineinschauen, lediglich – doch nichts ist sicher – ein alter zurückgelassener Schlitten, nur – doch man weiß nichts Genaues – die schroffe Geste eines kleinen Mädchens, mit der es uns zum Spielen einlädt, zu erahnen wäre. Womöglich gibt es gar keine Zone der Unwissen-

3 Hermann Broch, Die Schlafwandler, Kommentierte Werkausgabe Bd. 1, hg. v. Paul M. Lützeler, Frankfurt a. M. 1994, 635.

   Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen 

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heit, sondern nur ihre Gesten. Die Verbindung mit einer Zone der Unwissenheit ist, wie schon Kleist wusste, ein Tanz.4

Agamben redefiniert und rehabilitiert die Unwissenheit, die er nicht als einen Mangel, Defekt oder Gegenpol zum Wissen versteht. In einer metaphernreichen Sprache kreisen seine Überlegungen um Textreferenzen (Kleist) und Bilder – der alte zurückgelassene Schlitten, die Geste eines kleinen Mädchens (möglicherweise eine Anspielung auf den Film Citizen Kane von Orson Welles aus dem Jahr 1941) –, in denen das Unaussprechbare der Unwissenheit zum Ausdruck kommt. In diesem Bilderreigen Agambens könnte auch die Verführung stehen, denn phänomenologisch betrachtet, vollzieht sie sich in der „Zone der Unwissenheit“, und sie drückt sich in spielerischen Gesten aus, die – wie der Tanz – kaum in Worte zu fassen sind. Ihre Bedeutung ist nur zu erahnen. Das Kapitel besteht aus fünf Teilen: Zunächst widme ich mich der Auffassung des Subjekts in Musils Vereinigungen. Im Mittelpunkt stehen hier die Verführung als ­Element der Identitätskrise und der Dämmerzustand als Bewusstseinsmodus der Schwebe. Im zweiten Teil gehe ich zu Schulz’ Erzählung Der Komet über. Eine Analyse der alchemistisch konnotierten Anspielungen soll helfen, die von Schulz literarisch postulierten Alternativen zum modernen Wissensverständnis zu erklären. Diese scheinen von der Idee getragen zu sein, dass die Verführung sich durchaus dazu eigne, Erkenntnis zu befördern. Die alchemistische Symbolik schlägt zudem im dritten Teil die Brücke zur Sprache der Liebe. Die gemeinsamen Figuren aus der Rhetorik der Alchemie und der Verführung, und insbesondere die Selbstbezogenheit der Sprache, werden dabei in einer erweiterten Perspektive gesehen: Neben den Werken von Schulz kommen auch Romane von Witold Gombrowicz und Franz Kafka zur Sprache. Anschließend wird die Verführung – mithilfe psychoanalytischer Theorien – als Modell gedeutet, das die Beziehung des Individuums zur Außenwelt beschreibt und, ähnlich wie Kants Einbildungskraft, eine notwendige transzendentallogische Grundvoraussetzung der Erkenntnis bildet. Der vierte Teil ist den Konzeptionen der Sprache sowie den poetologischen Überlegungen bei Musil und Schulz gewidmet. Dabei werden Aspekte wie Sprachkritik, Sprachmagie, Rhetorizität und Performativität der Sprache sowie die Frage nach der Referenzialität der Literatur von zentraler Bedeutung sein. Auch die Problematik der Schrift als besondere Erscheinungsform der Sprache wird beleuchtet. Im fünften Teil möchte ich – in Form eines Ausblicks – nach den Auseinandersetzungen mit der Prosa der Moderne in der Gegenwartsliteratur fragen. Hier widme ich mich Maxim Billers 2013 veröffentlichter Novelle Im Kopf von Bruno Schulz.

4 Giorgio Agamben, „Das letzte Kapitel der Weltgeschichte“, in ders., Nacktheiten, übers. v. Andreas Hiepko, Frankfurt a. M. 2010, 189–191.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

2.1 Subjekt im Dämmerzustand Robert Musils Erzählungsband Vereinigungen erschien 1911, fünf Jahre nach dem E ­ rstlingswerk Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. In dieser zweiten Buchveröffentlichung experimentiert Musil noch deutlicher mit Form und Sprache. Die beiden ­Erzählungen des Bandes – in der Forschungsliteratur mitunter auch Novellen genannt – überschreiten mit ihrem eigenwillig hermetischen Stil die herkömmlichen Gat­tungsgrenzen, ihre Einordnung bereitet einige Schwierigkeiten. In der ersten – Die Vollendung der Liebe – erzählt Musil die Geschichte von Claudine, die ihre dreizehnjährige Tochter in dem Institut besucht, in dem diese erzogen wird. Während des Aufenthalts wird Claudine von einem Fremden verführt und begeht Ehebruch. Auch die zweite Erzählung – Die Versuchung der stillen Veronika – handelt von einem Dreiecksverhältnis. Im Mittelpunkt stehen die Gespräche der Titelfigur Veronika mit ihrem Partner Johannes; Veronika berichtet von ihren Gefühlszuständen und Erinnerungen sowie von den Begegnungen mit Demeter, einem geheimnisvollen Mann, der auf demselben Hof wohnt. Die beiden Erzählungen, die als jeweils eigenständige Werke dastehen, weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Hier wie dort haben wir es mit einer weiblichen Hauptfigur zu tun, hier wie dort stehen nicht Momente der Handlung im Vordergrund, sondern die fragmentarischen Einblicke in die Gefühlslagen der beiden Frauen. Sowohl Claudine als auch Veronika versuchen immer wieder sich selbst zu reflektieren und ihre Identität zu bestimmen. Diese Suche nach sich selbst erschließt sich den Lesenden über eine lose Gemengelage von Empfindungen, die die Protagonistinnen selbst weder rationalisieren noch klar benennen können. Sie sind sich ihres Handelns nicht gänzlich bewusst; die Außenwelt nehmen sie vor allem über die ihnen eigene Sinnlichkeit wahr. Im Folgenden möchte ich anhand dieser Selbstwahrnehmung der Figuren Musils Subjektverständnis rekonstruieren. Es spricht nämlich einiges dafür, dass er mit dieser Darstellungsweise gegen die Verdrängung des empirischen Subjekts in der Phänomenologie im Geiste Edmund Husserls literarisch polemisierte, die zu der Entstehungszeit der Erzählungen ihre Sternstunde feierte. Hans Blumenberg etwa beschreibt die phänomenologische Sichtweise mit folgenden Sätzen: Für Husserl ist Philosophie im Grunde nur das, was uns vergessen lässt, dass wir es sind, die sich diese Fragen stellen und diese Antworten finden. „Selbstvergessenheit“ charakterisiert den Typus und die Erfolgsbedingung des Phänomenologen. Das steckt schon am Anfang in der ersten phänomenologischen Reduktion. Sie verbietet, davon Notiz zu nehmen, dass Sachverhalte von uns nur zufällig deshalb benannt und thematisiert werden können, weil wir in einer kontingent existierenden Welt als diese Subjekte mit dieser Wahrnehmungsorganisation leben. Der Kunstgriff, dagegen erhabene Gleichgültigkeit herzustellen, besteht in der transzendentalen Reflexion auf das Cogito. […] Die transzendentale Reflexion ist der Kunstgriff, der es gestattet,



Subjekt im Dämmerzustand 

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das Evidenzerfordernis der Wesensschau auf das schauende, denkende, erkennende Subjekt selbst anzuwenden.5

Solch ein Bild des schauenden, urteilenden und denkenden Subjekts, das bewusst handelt, erkenntnisfähig ist und infolge der Wesensschau sich selbst, die eigene ­Lebenswelt vergisst, ist in den Vereinigungen nicht zu finden. Eine Annäherung an die Erzählungen findet deshalb über eine andere Subjektauffassung bzw. eine andere ­Anthropologie statt. Letzterer Begriff – die Anthropologie – darf im Hinblick auf die Komplexität von Musils Reflexionen über das moderne Ich als an­gemessen gelten, denn er vermeidet Assoziationen mit dem tradierten, vom Ratio­nalismus stark geprägten Subjektverständnis. Damit setzte sich Musil kritisch auseinander und schlug seine literarische Vision des Menschen vor. 6 Die Annäherung an das andere Subjektverständnis in Musils Erzählwerk geschieht in drei Schritten: Zunächst möchte ich die Bewusstseinskrise des Individuums im philosophischen Kontext verorten, deren wichtiges Element bei Musil die Verführung ist. Im zweiten Schritt werde ich die Strategien der Darstellung der anderen Subjektauffassung analysieren. Besonders zu betonen wären dabei der Vorstellungskomplex der Verflüssigung sowie die Motive der Enge und der Exotik. Im dritten Schritt kommt der komparatistische Aspekt der Analyse zum Tragen – in einem Vergleich der beiden Erzählungen Musils mit Prosawerken von Hermann Broch, M. Blecher, Gertrud Kolmar, Mário de Andrade und Bruno Schulz.

2.1.1 Passivitätskompetenz: Verführung und Identitätskrise In der Prosa der Moderne wird das Subjekt nicht als Einheit präsentiert, entsprechend lässt sich auch seine Lebensgeschichte nicht linear mit einem Anfang und einem Schluss darstellen. Das moderne Individuum steht vielmehr für Erfahrungen der Dissoziation, der Versprengtheit und Zerrissenheit, die als symptomatisch für eine ganze Epoche verstanden werden. Hermann Bahr traf den Nerv der Zeit, als er in einem seiner Aufsätze die bekannte Diagnose von der Unrettbarkeit des Ichs formulierte.7 Eben dieses Subjektverständnis – das Gefühl seiner Selbstauflösung, seiner Identitätslosigkeit und Instabilität, seiner Diskontinuität und Dissolvierung – prägte zahlreiche ­Prosawerke der Moderne.

5 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2006, 12. 6  Fred Lönker etwa spricht in diesem Zusammenhang von der poetischen Anthropologie in Musils Erzählwerk. Fred Lönker, Poetische Anthropologie, 154–174 (Kapitel „Die Aufhebung des Selbst“). 7 Hermann Bahr, „Das unrettbare Ich“, in Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne: Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 2010, 147 f.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

So reflektiert etwa auch Elias Canetti in den Anmerkungen zu seinem Roman Die Blendung (1935) über die Verfasstheit des modernen Individuums in der etwas pathetischen Rhetorik der Diskontinuität. Im Rückblick kommentiert er die Motive, die ihn bewogen hatten, diesen Roman zu schreiben. Als wichtigsten Impuls hält er fest: Eines Tages kam mir der Gedanke, dass die Welt nicht mehr so darzustellen war wie in früheren Romanen, sozusagen vom Standpunkt eines Schriftstellers aus, die Welt war zerfallen, und nur wenn man den Mut hatte, sie in ihrer Zerfallenheit zu zeigen, war es noch möglich, eine wahrhafte Vorstellung von ihr zu geben. Das bedeutete aber nicht, dass man sich an ein chaotisches Buch zu machen hätte, in dem nichts mehr zu verstehen war, im Gegenteil, man musste mit strengster Konsequenz extreme Individuen erfinden, so wie die, aus denen die Welt ja auch bestand, und diese auf die Spitze getriebenen Individuen in ihrer Geschiedenheit nebeneinanderstellen.8

Der „Zerfall der Welt“ steht für das Gefühl der Entfremdung. Die bisherigen Darstellungsmuster erscheinen Canetti als unzulänglich. Angesichts der jüngsten Ereignisse und Entwicklungen – der Fortschritt der Technik, die Traumata des Großen Krieges, die Entstehung der Psychoanalyse – sieht er sie als nicht mehr ausreichend an, diese Wirklichkeit literarisch zu verarbeiten. So fordert er eine neue Ästhetik, die die tradierten und abgenutzten Ausdrucksformen ablehnen und nach neuen, „kühnen“ Arti­ kulationsmöglichkeiten für das moderne Subjekt suchen müsse. Doch sollten weder die Texte selbst zersplittern und formlos werden, um die Zersplitterung des Individuums zum Ausdruck zu bringen, noch sollten sie sich in einen unverständlichen Redeschwall verwandeln. Canetti wünscht sich vielmehr neue Mittel in der Art „extremer“, „auf die Spitze getriebener“ Individuen, mit anderen Worten: Er fordert Figuren, deren Komplexität und Veränderbarkeit, deren subtile Wahrnehmung und Sinnlichkeit das Wesen der modernen Welt erfahrbar machten. Trotz des Motivs des radikalen Umbruchs werfen Canettis Worte wichtige Fragen auf: Was hat sich im Verständnis vom Subjekt in der Moderne geändert und wie kann das im Zitat postulierte Extreme der Individuen in Texten zum Ausdruck kommen? Die neue Auffassung vom Ich geht ohne Frage mit einer Faszination für andere Bewusstseinslagen des Menschen einher. So leiden die dargestellten Figuren häufig an Identitätskrisen, Bewusstseinstrübungen oder Wahrnehmungsstörungen. Das Interesse an solchen Dämmerzuständen lässt sich in einer Denktradition verorten, die uns zu Friedrich Nietzsche und weiter zurück bis in die Romantik führt. Nietzsche polemisierte gegen eine Vorstellung vom Subjekt, die unter anderem von Sokrates, Descartes oder Kant geprägt wurde. Das Bild vom Individuum als einem aktiven, bewusst handelnden und erkenntnisfähigen Wesen, das die Wirklichkeit und sich selbst erfassen und ­beherrschen könne, zog er radikal in Zweifel. Die Vorstellung eines souveränen Ichs

8 Elias Canetti, „Das erste Buch: Die Blendung“, in ders., Das Gewissen der Worte, Frankfurt a. M. 1998, 243.



Subjekt im Dämmerzustand 

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unterschätzte seines Erachtens das dionysische Element der menschlichen Natur: Sinnlichkeit, Körperlichkeit, Unberechenbarkeit und Rauschhaftigkeit. Drei Textbelege mögen einen Einblick in die Impulse geben, die die Prosa der Moderne gerade von Nietzsche erfuhr. Einer seiner Aphorismen besagt, dass das Subjekt nur ein täuschendes Sprachkonstrukt sei, das der Wirklichkeit nicht entspreche: „Objekt und Subjekt – fehlerhafter Gegensatz – kein Ausgangspunkt für das Denken! Wir lassen uns durch die Sprache verführen.“9 In Also sprach Zarathustra (1883–1885) wiederum werden die „Verächter des Leibes“ kritisiert, die den Menschen allein über die Ratio definieren: „Ich sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Größere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine große Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.“10 Von dem Missverhältnis zwischen der Abwertung des Körpers und der Sinne einerseits und der Aufwertung des Bewusstseins und der Vernunft andererseits, zeugt auch ein Passus in der Fröhlichen Wissenschaft (1882): Die Bewußtheit ist die letzte und späteste Entwicklung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewußtheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, daß ein Tier, ein Mensch zugrunde geht, früher als es nötig wäre, „über das Geschick“, wie Homer sagt. […] Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! Man hält die Bewußtheit für eine feste gegebene Größe! Leugnet ihr Wachstum, ihre Intermittenzen! Nimmt sie als „Einheit des Organismus“! – Diese lächerliche Überschätzung und Verkennung des Bewußtseins hat die große Nützlichkeit zur Folge, daß damit eine allzuschnelle Ausbildung desselben verhindert worden ist. Weil die Menschen die Bewußtheit schon zu haben glaubten, haben sie sich wenig Mühe darum gegeben, sie zu erwerben – und auch jetzt noch steht es nicht anders!11

Die Bewusstheit gilt für ihn weder als eine angeborene Fähigkeit noch als eine feste, unbezweifelbare und übergeordnete Instanz. Als dominantes Kriterium für das Mensch­sein lehnt er sie entschieden ab und ebnet mit dieser Umdeutung den Weg zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem vom Rationalismus determinierten ­Subjektverständnis, die ihren schillernden Niederschlag auch in der Prosa der ­Moderne fand. Die Infragestellung eines Subjekts, das auf Kategorien wie Identität, Einheit, Kohärenz und Vernunft beruhen solle, muss als komplexer Prozess der Ideengeschichte betrachtet werden. Zu den wichtigen Meilensteinen dieser subversiven Denktradition, die als ebenso heterogene wie konsequente Strömung zu sehen ist, gehören außer den bereits erwähnten Werken von Nietzsche auch beispielsweise die Schriften von Sigmund Freud oder Karl Marx, denn auch dort tritt uns der Mensch nicht mehr in erster Linie als Bestimmender, sondern als ein von innen und außen Bestimmter

9 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880–1882, Berlin 1988, 428 [10/D 67]. 10 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra: Ein Buch für Alle und Keinen, Berlin 1968, 35. 11 Friedrich Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“, in ders., Idyllen aus Messina. Die fröhliche ­Wissenschaft. Nachgelassene Fragmente, Berlin 1973, 56 f.

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e­ ntgegen. Aus der Sicht der Psychoanalyse oder der Kapitaltheorien ist das Individuum nicht mehr fähig, sich selbst, sein eigenes Handeln und seine Umgebung zu kontrollieren – der Mensch sei nicht einmal „Herr im eigenen Haus“,12 sondern „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“.13 Er unterliegt den Trieben und dem Unbewussten bzw. den Zwängen der Klassengesellschaft. Auf diesen Wandel in der Auffassung des Ichs weist auch Charles Taylor in seinen Quellen des Selbst (1989) hin. In dieser monumentalen Studie über die Geschichte der neuzeitlichen Identität skizziert er eine Entwicklungslinie, die bei Nietzsche ihren Anfang nimmt und über die Prosa der Moderne bis zu den Poststrukturalisten führt: Dieser schwindelerregende Gedanke, dass das Selbst womöglich keiner verbürgten, a priori feststehenden Einheit teilhaftig ist, war schon von Nietzsche erkundet worden. Dies ist einer der Gründe, weshalb er zu den wichtigsten Vorläufern und Anregern der Moderne des 20. Jahrhunderts gehört. D. H. Lawrence verkündete eine „dionysische“ Lebensauffassung, als er sagte: „Unsere vorgefertigte Individualität, unsere Identität, ist nichts weiter als ein zufälliges Miteinander im Strom der Zeit.“ Ein Widerhall wird aber auch von der Seite hörbar, die wir für den diametral entgegengesetzten, „klassischen“ und hierarchisch gesinnten Pol der Moderne erachten, nämlich von seitens Humes, der das Vertrauen in „die substantielle Einheit der Seele“ als ein weiteres Stück unseres verfehlten humanistischen Erbes verwirft. Ähnliche Gedanken klingen auch bei anderen Autoren der Moderne nach, so z. B. bei dem eben genannten Musil, und Proust sagt ebenfalls, wir seien „plusieurs personnes superposées“. Joyce wiederum erkundet in Finne­ gans Wake eine Ebene des Erlebens, auf der die Grenzen der Persönlichkeit fließend werden. Das Bedürfnis, den Beschränkungen des einheitlichen Selbst zu entrinnen, ist in der Tat zu einem der immer wiederkehrenden Hauptthemen dieses Jahrhunderts geworden, und dies in noch verstärktem Maße im Bereich der mitunter so bezeichneten „Postmoderne“, wie in einer Hinsicht aus Foucaults Angriff auf das disziplinäre oder beichtende Selbst hervorgeht, in anderer Hinsicht aus den Arbeiten Lyotards.14

Taylor sieht also auch im Schaffen von Musil und Proust den Nachklang von Nietzsches Ideen, denn ähnlich wie dieser unterminieren die beiden Schriftsteller in ihren Werken die gängigen Schemata des Nachdenkens über das Individuum. An diese Vorstellungen wiederum knüpften einige Jahrzehnte später die postmodernen Theore­tiker an, die sich in ihrer Argumentation nicht von ungefähr häufig auf den modernen Roman beriefen. Sie verstanden sich sozusagen als jene, die der Prosa der Moderne den Tribut zurückzahlten, dass diese Anfang des 20. Jahrhunderts in den Dialog mit der damaligen Philosophie getreten war. Taylors treffende Bemerkung über die

12 Sigmund Freud, „18. Vorlesung: Die Fixierung an das Trauma, das Unbewusste“, in ders., Vor­ lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1969, 284. Erstveröffentlichung des Textes im Jahr 1916/1917. 13 Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“, in Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin 1976, 385. Erstveröffentlichung des Textes im Jahr 1844. 14 Charles Taylor, Quellen des Selbst: Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1996, 800 f.



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­Zusammenhänge zwischen Literatur und Philosophie in Bezug auf die Konzeption des Subjekts möchte ich um einen weiteren Aspekt ergänzen: Die Kritik an der Identität in der Prosa der Moderne scheint mit der Kritik am Bewusstsein eng verbunden zu sein. Die modernen Schriftsteller erforschen mit großer Vorliebe die Nuancen der menschlichen Psyche – hier wird der Dämmerzustand zum wiederkehrenden Motiv. Das Interesse für die Fehlleistungen des Bewusstseins lässt sich aber nicht allein mit der Philosophie in Verbindung bringen. Um die Komplexität dieses Denkens nachvollziehen zu können, müssen wir auch noch andere Disziplinen berücksichtigen – wie es zum Beispiel Peter Sloterdijk in seiner Abhandlung Du musst dein Leben ändern (2009) tut. Er betont, dass sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts parallel zu den theo­ retischen Überlegungen über die scheinbare Unabhängigkeit des der Ratio huldigenden Subjekts auch gesellschaftliche Praktiken entwickelten, die dem Individuum vor allem Passivität und Machtlosigkeit zuschreiben wollten. Es entwickelte sich ein ­lebhaftes Interesse für andere Zustände des menschlichen Bewusstseins. So wurde ­beispielsweise der Somnambulismus zum „psychopathologischen Leitsymptom des 19. Jahrhunderts“.15 Die Ursprünge dieser Faszination für Dämmerzustände datiert Sloterdijk allerdings noch früher. Seiner Meinung nach trugen schon Erscheinungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts dazu bei: so etwa der animalische Magnetismus, die Erfindung der Anästhesie sowie die damals (insbesondere unter adligen Personen weiblichen Geschlechts) populäre Modegeste des In-Ohnmacht-Fallens. Darin äußerte sich die Vorstellung, dass der Mensch nicht nur ein Wachleben führe, sondern auch das Recht auf Ohnmacht habe – auf ein „Nicht-Dabei-Sein-Müssen“.16 Sloterdijk ­bemerkt, dass das Spiel mit dem künstlich erzeugten Dämmerzustand in den 1830er Jahren kulminierte. Hysterie, Mesmerismus, Betäubungen mit verschiedenen Mitteln, Hypnose, Trance und nicht zuletzt Schlafwandeln – all das waren Phänomene bzw. teils auch Techniken einer „suspendierten Animation (suspended animation)“, um die „Passivitätskompetenz“ des Subjekts zu erweitern und es in Zustände jenseits des ­Tagesbewusstseins zu versetzen.17 Der Dämmerzustand war aber nicht nur im medizinischen Diskurs im Zusammenhang mit der Narkose ein Thema. Man begegnet ihm ebenso in der Kunst: zum einen in der extremen Erfahrung des Bohème-Lebens, zum anderen in zahlreichen Motiven der Prosa der Moderne. Hermann Broch spricht beispielsweise in seiner bereits erwähnten Trilogie Die Schlafwandler explizit den somnambulen Zustand des Menschen an, mit dem man sich zu seiner Zeit nicht zuletzt in der Massenkultur intensiv befasste – denken wir an den Film Das Cabinet des Dr. Caligari von Robert Wiene aus dem Jahr 1920. Der Somnambulismus dient Broch als Metapher zur Reflexion über die conditio humana, vielmehr: über die Krise des traditionellen Subjektverständnisses. Das Schlafwandeln ist bei ihm

15 Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern: Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009, 565. 16 Ebd., 601. 17 Ebd., 601 f.

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ein demokratisches Phänomen, das nicht nur für elitäre Künstlerkreise reserviert bleibt. In seinem Werk agieren Protagonisten aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten in einem somnambulen Modus – jede Figur der Trilogie tut es auf ihre eigene Art und Weise. Die unbestimmte Bewusstseinslage zwischen Wachsein und Traum wird zum Anlass, über die Selbstwahrnehmung des Menschen und sein Verhältnis zur Wirklichkeit nachzudenken: Legte ich mir zum Beispiel die alte Frage vor, ob mein Leben noch eine sinnhafte Wirklichkeit besäße, so war es jenes Körpergefühl, das mir Antwort erteilte und mir die Gewissheit schenkte, in einer Art Wirklichkeit zweiter Stufe zu leben, dass eine Art unwirklicher Wirklichkeit, wirklicher Unwirklichkeit angehoben hatte, und sie durchrieselte mich mit sonderbarer Freudigkeit. Es war eine Art Schwebezustand zwischen Noch-nicht-Wissen und Schon-Wissen, es war Sinnbild, das sich nochmals versinnbildlichte, ein Schlafwandeln, das ins Helle führte, Angst, die sich aufhob und sich doch wieder aus sich selbst erneuerte, es war wie ein Schweben über dem Meer des Todes, ein beschwingtes Auf- und Abgleiten über den Wellen, ohne sie zu berühren, so leicht war ich geworden, – es war eine beinahe körperliche Erkenntnis, mit der ich die höhere platonische Wirklichkeit der Welt aufnahm, und alles in mir war voller Sicherheit, dass ich bloß einen geringen Schritt zu tun brauchte, um solch körperliche Erkenntnis in eine rationale zu verwandeln.18

Diese Passage stammt aus dem letzten Band der Trilogie, 1918 Huguenau oder die Sach­ lichkeit, der aus mehreren Erzählsträngen besteht – hier geht es um die Reihe der Ge­ schichten des Heilsarmeemädchens in Berlin. Der Ich-Erzähler befindet sich in einem sonderbaren Zustand, in dem er sich selbst und die Umgebung nicht klar umrissen wahrnehmen kann. Seine Verfasstheit ist von einem Gefühl der Labilität und Unsicherheit gekennzeichnet. Auffällig ist auch die Fokussierung auf den Körper, betont durch Ausdrücke wie „Körpergefühl“ oder „körperliche Erkenntnis“. Weiterhin im Vordergrund stehen Formulierungen, die auf eine unreflektierte und ziellose Bewegungen verweisen: „schlafwandeln“, „schweben“, „abgleiten, ohne zu berühren“. Der Vergleich mit der Mondsüchtigkeit unterstreicht die diffuse Wahrnehmung des Ich-Er­ zählers sowie dessen unklare Position – so ist z. B. die Rede von einem Leben in der „Wirklichkeit zweiter Stufe“. Die Bewusstseinslage bleibt unbestimmt, sie wird als dynamisches Spannungsverhältnis zwischen Gegensätzen beschrieben – als „Schwebezustand zwischen Noch-nicht-Wissen und Schon-Wissen“. Auch der Chiasmus „unwirkliche Wirklichkeit und wirkliche Unwirklichkeit“ signalisiert Unentschiedenheit, die sowohl den Zugang des Ich-Erzählers zur Außenwelt als auch sein Bewusstseins­ zustand betrifft. Eine ähnliche Vorstellung vom Subjekt, in der sich Identität- und Bewusstseinskrise ausdrücken, lässt sich in M. Blechers Roman Aus der unmittelbaren Un­ wirklichkeit (1936) finden. Der Titel deutet bereits programmatische Entfremdung an. Blechers Ich-Erzähler wird von Ohnmachtsanfällen heimgesucht, im Text als „die

18 Hermann Broch, Die Schlafwandler, 635.



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­ risen“ bezeichnet. Er erlebt Augenblicke des Identitätsverlustes und der SelbstverK gessenheit: Betrachte ich über längere Zeit denselben Punkt an der Wand, so kommt es mitunter vor, dass ich nicht mehr weiß, wer ich bin und wo ich mich befinde. Dann fühle ich meine Identitätslosigkeit so, als wäre ich für einen Augenblick eine völlig fremde Person.19

Sie ähneln den Momenten einer profanen Epiphanie, denn nach der Phase des Bewusstseinsabsturzes nimmt der Ich-Erzähler die Welt deutlicher wahr als zuvor und entdeckt neue Einzelheiten an den Dingen. In den Beschreibungen der Krisen wird immer wieder der Körperzustand des Ich-Erzählers unterstrichen; er ist z. B. „erschlagen von Müdigkeit“ oder zittert „am ganzen Körper“.20 Die Krisen rufen starke somatische Symptome hervor, die er schwer in Worte fassen kann. In den metapoetolo­ gischen Sätzen reflektiert er die Unaussprechbarkeit seiner Körpererfahrungen. Alle Versuche, einen entsprechenden Ausdruck für sie zu finden, kommen ihm „völlig unpersönlich“ vor, wie „eine schlichte Übertreibung“ – statt Worte findet er „nichts als Bilder“.21 Die Wende zur Körperlichkeit und Sinnlichkeit geht im Text mit der Hinterfragung der Dichotomien Körper / Geist bzw. Innen / Außen einher. Somit werden die Krisen zu einem ekstatischen Augenblick der Transgression, in dem das Subjekt aus sich selbst heraustritt und seine eigene Wahrnehmungsperspektive verlässt. Für Blechers Ich-Erzähler sind die Krisen aber nicht nur Ohnmachtsanfälle, in denen er sich der bewussten Teilnahme an der Welt entzieht: „Der Höhepunkt der Krise bestand aus einem Aus-der-Welt-Gleiten.“22 Es handelt sich, außer der – mit Sloterdijks Vokabular – „Erweiterung der Passivitätskompetenz“, auch um eine unmittelbare Erfahrung der Welt, der sich der Protagonist völlig hingibt, so dass es zwischen ihm und der Umgebung „keine trennende Distanz“ mehr besteht.23 Auffällig in Blechers Roman ist auch das zwiespältige Verhältnis des Ich-Erzählers zu den Krisenmomenten, die ihn zugleich abstoßen und anziehen. Sie werden als „angenehm und betäubend“ oder als „angenehm und schmerzlich“ bezeichnet.24 Der Protagonist vergleicht sie mit dem Geruch von verfaulten Schalen, der unangenehm und dennoch lieblich ist. Von den Augenblicken des Bewusstseinsverlustes gehen gleichermaßen Faszination wie Entsetzen aus: Plötzlich war das ganze Zimmer erhaben, und ich fühlte mich überglücklich in seinem Raum. Doch war dies nichts als ein Trugbild, das lag größtenteils an der Krise; eine ihrer anmutigen

19 M. Blecher, Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit, übers. v. Ernest Wichner, Frankfurt a. M. 2003, 7. 20 Ebd., 13. 21 Ebd., 9 u. 15. 22 Ebd., 15. 23 Ebd., 16. 24 Ebd., 12 u. 15.

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und subtilen Gemeinheiten. Auf den Rauschzustand folgte unmittelbar der totale Umsturz, und alles geriet durcheinander.25

Die Krisen werden personifiziert: Nicht ohne eine gewisse „Anmut“ schleichen sie sich ein, lösen zunächst rauschhafte Euphorie aus und enden in Bewusstlosigkeit. Aus den Beschreibungen der Anfälle lassen sich nostalgische Töne heraushören. Im Nachhinein erinnert sich der Protagonist sehnsuchtsvoll an den „etwas traurigen Zauber“ seiner Krisen, unter denen er in der Kindheit litt und die im Laufe der Zeit vergingen.26 Was übrig bleibt, ist „jener Dämmerzustand, der ihnen vorausging, und das Gefühl der extremen Hinfälligkeit der Welt, das stets auf sie folgte.“27 Ein solches Verständnis des Individuums, wie es in den besagten Romanen von Broch und Blecher aufscheint, ist auch in Musils Vereinigungen zu finden. Die In­ fragestellung des entscheidungsfähigen Subjekts wird bei Musil schon auf der Ebene der Handlung deutlich gemacht. Die Protagonistinnen beider Erzählungen, Claudine und Veronika, befinden sich in einem merkwürdigen Bewusstseinszustand zwischen Traum und Wachsein. Über Claudines Empfinden heißt es: Und ganz langsam wurde ihr, als sei sie in Wirklichkeit gar nicht hier, wie wenn nur irgend etwas von ihr gewandert und gewandert wäre, durch Raum und Jahre, und wachte nun auf, fern von ihr selbst und verstiegen, und sie stünde in Wirklichkeit immer noch bei jenem versunkenen Traumgefühl … irgendwo … eine Wohnung tauchte auf … Menschen … eine grässliche, verstrickte Angst … (V 40)

Die Verbformen im Konjunktiv, die Indefinitpronomina und die Auslassungspunkte verstärken die träumerische Stimmung. Alle Wahrnehmung erscheint der Protagonistin in ephemeren Formen, alles kommt ihr fremd vor – sowohl die Umgebung als auch ihre eigene Person. Es ist, als würde sie schlafwandeln. An einer anderen Stelle wird ihre Bewusstseinslage folgendermaßen beschrieben: „Aber alles das war, wie wenn man im Halbschlaf einen schweren Traum empfindet, dessen Unwirklichkeit man stets ein wenig bewusst bleibt“ (V 32). Ihre Wahrnehmung ist von einem Ton des Zweifels geprägt: „Es war ein Dämmerndes um sie und Ungewisses“ (V 19). Auffällig auch sind die Schattierungen des Lichts bzw. der Dunkelheit, die den Text durchziehen: „Etwas Dunkles [glitt] durch ihr Bewusstsein“ (V 38). Gedämpftes oder auch flackerndes Licht steigert die Atmosphäre des Unheimlichen („kahle Dämmerung des flackerndes Lichts“; „eine trübe Lampe“, die „schwankende Kreise an die Decke“ wirft, V 36). Helles Tageslicht ist kaum zu finden, auch gibt es keinen Sonnenaufgang, der – mit einem Wort von Hegel – wie „ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt

25 Ebd., 13. 26 Ebd., 9. 27 Ebd., 18.



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hinstellt“.28 Das Licht, eine für die Philosophie bedeutungsträchtige Metapher, eng verbunden mit Kategorien wie Logos oder Sinn, bleibt trübe. Dieses lichtscheue ­Verfahren im Text kann als eine Art Polemik gegen die Philosophie der Vernunft ange­ sehen werden. Die Protagonistin lebt in einer Sphäre des Unbestimmten, Vorbegriff­ lichen und präreflexiv Körperlichen. Im Dämmerzustand kann sie ihr Tun nicht gänzlich bestimmen, vielmehr bleibt sie passiv, lässt sich von den schemenhaften Wahrnehmungen treiben, die sich mit Traumrealitäten mischen: „Sie schloss die Augen und gab sich dem hin“ (V 21). Ähnliche Stilmittel kommen auch in der Darstellung Veronikas zum Tragen. Wie Claudine befindet sich Veronika in einem Dämmerzustand. Ihre Selbst- und Weltwahrnehmung ist diffus: „[S]ie empfand mit einemmal, dass ihr Gefühl von ihrer Umgebung sich verändert hatte und hinausgedehnt in ein unbekanntes Gebiet zwischen Träumen und Wachen“ (V 109) – „[S]ie hatte ein unklares, fließendes Gefühl von sich selbst“ (V 96). Ähnlich wie Claudine verzichtet auch Veronika auf die Durchsetzung ihres ­eigenen Willens. Anstatt mit der Welt in eine Interaktion zu treten, überlässt sie sich den äußeren Reizen und ihren Gemütslagen: „Und allmählich begann eine seltsame Lust Veronika zu tragen wie eine leichte, grausame Luft“ (V 107). Claudine und Veronika bewegen sich wie im Halbschlaf oder in einer somnambulen Trance – zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Tagesbewusstsein und Schlaf. Die Verfasstheit der Subjekte in den beiden Erzählungen konstituiert sich im Spannungsverhältnis zwischen diesen Oppositionen. Musils Protagonistinnen sind sich ihrer Handlung weder bewusst noch unbewusst – sie befinden sich in einem Dämmerzustand, das heißt in einem dritten Zustand zwischen den Dualismen. Der Augenblick des Umschlagens zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein wird suspendiert, so dass alles im Unentschiedenen bleibt und ihre Identitätskrise zum ewigen Balancieren zwischen Gegensätzen wird. Festzuhalten bleibt, dass Musil eine für die Moderne charakteristische Erfahrung der Versprengtheit und Zerrissenheit des Individuums thematisiert. Diese Erfahrung darf als bevorzugtes Motiv moderner Prosa gelten, wie die Beispiele der Romane von Broch und Blecher veranschaulichen. Das Interesse der Schriftsteller an dieser Thematik bezeichnet Paul Ricœur in seiner Abhandlung Das Selbst als ein Anderer (1990) als „Fiktionen des Identitätsverlusts“.29 In seinem Versuch, die andere Subjektauffassung in der Prosa der Moderne zu beschreiben, bezieht er sich ausdrücklich auf Musil – allerdings auf dessen Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften. Doch lassen sich seine Überlegungen auch auf die beiden Erzählungen übertragen:

28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in Werke, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1986, 18. 29 Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, übers. v. Jean Greisch, München 1996, 183.

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Um die philosophische Tragweite eines derartigen Identitätsschwundes der Figur zu präzisieren, kommt es darauf an, zu betonen, dass in dem Maße, in dem die Erzählung sich auf den Punkt der Annullierung der Figur zubewegt, auch der Roman seine eigentlich narrativen Qualitäten verliert […]. Dem Identitätsverlust des Charakters entspricht so ein Konfigurationsverlust der Erzählung und im Besonderen eine Krise des Abschlusses der Erzählung. Es kommt zu einer Rückwirkung der Figur auf die Fabel. […] So führt im Falle Robert Musils die Zersetzung der narrativen Form, die mit dem Identitätsverlust der Figur einhergeht, über die Schrecken der Erzählung hinaus und zieht das literarische Werk in die Nähe des Essays. […] Was aber bedeutet hier Identitätsverlust? Genauer: Um welche Modalität der Identität handelt es sich? Meine These besagt: Diese verwirrenden Fälle von Narrativität lassen sich […] neu interpretieren als Entblößung der Selbstheit durch den Verlust der sie unterstützenden Selbigkeit. In diesem Sinne bilden sie den entgegengesetzten Pol zum Helden, der sich durch Überlagerung von Selbstheit und Selbigkeit identifizieren lässt. Was nunmehr unter dem Titel der „Eigenschaft“ verlorengegangen ist, erlaubte zuvor, die Figur mit ihrem Charakter gleichzusetzen.30

Musils Roman ist für Ricœur das Paradebeispiel eines solchen „verwirrenden Fall[es] der Narrativität“. Das Thema des Identitätsverlustes, das der Roman behandelt, wirkt sich nach Ricœurs Auffassung auf die Erzählweise aus. Der Roman geht über die Grenzen der Gattung hinaus, absorbiert andere Ausdrucksformen, vermischt sie mitein­ ander und wird essayistisch. In den 1911 erschienenen Vereinigungen – die noch vor den in den 1920er Jahren einsetzenden Arbeiten am Roman entstanden – lässt sich eine andere Tendenz erkennen. Die Erzählungen wirken weniger essayistisch als vielmehr poetisch verdichtet. Damit entfernen sie sich von den Merkmalen einer klassischen Prosa, die eine lineare und strukturierte Handlung aufweist. Infolge dieser Transgression des literarischen Genres erhalten die beiden Erzählungen ihre besondere Qualität. Ricœurs These besagt, dass ein ähnlicher Mechanismus bei der Iden­ titätskrise zu erkennen sei. Der Identitätsverlust ist nicht mit der völligen Selbstauf­ lösung oder der radikalen Ablehnung des Subjekts gleichzusetzen. Vielmehr sollte er als „Entblößung der Selbstheit“ verstanden werden. Was damit gemeint ist, erklärt Ricœur ausführ­licher an einer anderen Stelle: Warum sollten wir uns für das Drama der Auflösung der Identität bei der Figur Musils interessieren und so in Verlegenheit gebracht werden? Wäre das Nicht-Subjekt nicht doch eine Gestaltung des Subjekts, wenn auch im negativen Modus? Ein Nicht-Subjekt ist nicht nichts, wie die Semiotik des Rede- oder Handlungssubjekts in Erinnerung ruft. Dieses Plädoyer für die Selbstheit, das die verwirrenden Fälle der literarischen Fiktion dokumentieren, beginnt in sein Gegenteil umzuschlagen, sobald die Fiktion zum Leben zurückgekehrt ist und der auf Identitätssuche befindliche Leser der Hypothese seines eigenen Identitätsverlusts gegenübersteht – jener Ich­ losigkeit, die zugleich Musils Qual war, und der Bedeutungseffekt, der in seinem Werk unentwegt gepflegt wurde. Das hier von der Erzählung nachgestaltete Selbst ist in Wirklichkeit mit der Hypothese seiner eigenen Nichtigkeit konfrontiert. Gewiss ist dieses Nichts nicht das Nichts, über das gar nichts gesagt werden kann. Im Gegenteil: Diese Hypothese gibt viel zu sagen, wie es die ungeheure Größe eines Werkes wie Der Mann ohne Eigenschaften bezeugt. Der Satz „Ich bin

30 Ebd., 183 f.



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nichts“ muss seine paradoxe Form behalten: „nichts“ würde gar nichts mehr bedeuten, wenn das „nichts“ nicht tatsächlich dem „Ich“ zugeschrieben würde. Aber wer ist noch Ich, wenn das Subjekt sagt, es sei nichts? Ein der Unterstützung durch die Selbigkeit beraubtes Selbst, so haben wir mehrfach betont und wiederholt. […] In diesen Augenblicken äußerster Entblößung verweist die Nicht-Antwort auf die Frage Wer bin ich? keineswegs auf die Nichtigkeit, sondern auf die Blöße der Frage selbst.31

Nach Ricœur schildert die Prosa der Moderne keine Negation des Subjekts, sondern postuliert sein anderes Verständnis. Im „negativen Modus“ der Auseinandersetzung mit dem Ich, in der Verneinung der Kategorien, die bislang die Subjektauffassung ­determinierten, sieht er den Impuls zur Erkenntnis. Auf diese Weise wird die Frage nach dem Wesen, nach der Essenz in ihren metaphysischen Voraussetzungen entblößt, woraus sich neue anthropologische Konzepte entwickeln können. Diese Spur möchte ich für meine Überlegungen übernehmen und in Musils ­Er­zählungen nicht nur die Ablehnung des bewusst und rational handelnden Subjekts sehen, sondern auch die im Text vorgeschlagene andere Anthropologie entschlüsseln. Eine ihrer Kategorien scheint die Verführung zu sein, die für Musils Protagonistinnen konstitutiv wird. Die Krise des Ichs und seines Bewusstseins löst in den Vereinigungen eine Reihe verführerischer Spannungen aus. Wo der Identitätsverlust sich abzeichnet, beginnt die Anziehungskraft zu wirken und wird für das Subjekt ­konstitutiv. Sowohl Claudine als auch Veronika haben keine scharfen Konturen. Als Subjekte stehen sie vor der Unmöglichkeit ihrer Selbstbestimmung. Diese Uneindeutigkeit geht mit einer inneren Disposition zur Verführung einher, ist mit einer gewissen Reizoffenheit – bei zugleich unklaren Erwartungen – verbunden. In beiden Erzählungen, die jeweils von Dreiecksverhältnissen handeln (Claudine – ihr Ehemann – der Ministerialrat, Veronika – Johannes – Demeter), finden Verführungen statt. Es sind die Männer (der Ministerialrat und Demeter), die versuchen, die Frauen zu verführen, doch weisen die Szenen eine wechselseitige Dynamik auf. Claudine und Veronika sind nicht nur verführbar, sie verfügen auch selbst über eine besondere Verführungsenergie. Die Rollen des handelnden und des passiven Subjekts lassen sich also nicht eindeutig fest­ legen. Zugleich fällt auf, dass das Verführerische der beiden Protagonistinnen sich nicht auf einen Anderen bezieht. Ihre Phantasien sind autoerotisch und nach innen gerichtet. In der Versuchung der stillen Veronika ist die Selbstbezogenheit der Verführungsenergie besonders prägnant: [Veronika] konnte es nicht fassen, es erschien ihr sinnlos und im Augenblick fast gemein. Sie hatte niemals ein geradehinzielendes Begehren gespürt, aber nie so sehr wie damals erschienen ihr die Männer nur als ein Vorwand, bei dem selbst man sich nicht aufhalten soll, für etwas

31 Ebd., 203 f.

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anderes, das sich in ihnen nur ungenau verkörpern konnte. Und sie sank plötzlich wieder in sich zurück. (V 100)

Die Männer betrachtet sie als einen Vorwand, um sich letztlich auf sich selbst zu konzentrieren. Dieser Rückzug ins Innere sowie ihre Verführbarkeit und Verführungskraft sind Ausdruck einer Konstitution des Ichs, das unentschieden zwischen binären ­Kategorien schwankt. Veronika wird nicht nur als Objekt der Begierde, sondern auch als Begehrende dargestellt. Doch ist sie nicht imstande, ihr Objekt zu identifizieren, wie sie auch ihre eigene Subjektivität nicht bestimmen kann. Auch Claudines Gefühle bleiben selbstbezogen. Sie fühlt sich „zagend und weich in sich gehüllt“ (V 35). Verschlossenheit und Unzugänglichkeit sind Merkmale, die häufig der Verführerin zugeschrieben werden. Jean Baudrillard macht in seiner bereits erwähnten Abhandlung Von der Verführung darauf aufmerksam: „Sag mir, wer ich bin“, wo sie doch nichts ist und auch gleichgültig demgegenüber, was sie ist, da sie immanent, unvordenklich und ohne Geschichte ist und ihre Macht gerade darin liegt, da zu sein, ironisch und unfassbar, blind gegenüber ihrem eigenen Wesen, jedoch trefflich über die Vernunft- und Wahrheitsapparate unterrichtet, derer die anderen bedürfen, um sich vor der Verführung zu schützen, im Schutze derer sie sich jedoch, wenn man sie zu bedienen weiß, unaufhörlich verführen lassen werden.32

Claudine und Veronika entsprechen dieser Beschreibung, doch resultieren ihre Selbstbezogenheit und Unfassbarkeit nicht aus einer ironischen Haltung, sondern aus der Unmöglichkeit der Selbstbestimmung. Baudrillard hebt hervor, dass zur Verführung immer die doppelte Bewegung gehöre: sich gegen die Verführung zu wehren und sich trotzdem verführen zu lassen. Diese Eigenschaft des verführerischen Spiels arbeitet er anhand von Søren Kierkegaards Tagebuch des Verführers heraus. Kierkegaards Erzähler Johannes spinnt eine minutiös angelegte Intrige, um die junge und unschuldige Cordelia zu verführen und nach ihrer Hingabe dann skrupellos abzuweisen. Während der Durchführung seines Plans scheint er sich jedoch in den eigenen Strategien und Gefühlsregungen zu verlieren. Deshalb ist er für Baudrillard gleichermaßen sowohl „der Meister des Spiels“, als auch sein Opfer.33 Im Hinblick auf diese Zwiespältigkeit der Situation stellt Baudrillard fest: „So steht es im Tagebuch des Verführers: es gibt in der Verführung kein Subjekt, das Herr einer Strategie wäre.“34 Diese Doppelbödigkeit der Verführung – Verführbar-Bleiben und VerführerischSein –, die Kierkegaards Protagonist verkörpert, kennzeichnet auch Claudine und Veronika. Im Gegensatz zu Johannes sind sie jedoch keine starken Subjekte, die bewusste Strategien zu ihren eigenen Gunsten entwickeln könnten. Statt zu handeln, lassen sie

32 Jean Baudrillard, Von der Verführung, 122. 33 Ebd., 137. 34 Ebd.,183.



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sich von dem leiten, was ihnen widerfährt. So erstarren sie in einem Zustand der Selbstbezogenheit, verführt von ihrem eigenen anziehenden Zauber. Der gemeinsame Nenner zwischen ihnen und dem Verführer bei Kierkegaard wäre die Selbstvergessenheit, die allerdings im Falle von Johannes kurze Augenblicke des Kontrollverlustes bedeutet und in Bezug auf Claudine und Veronika als dauerhafter Dämmerzustand zu verstehen ist. Der romantisch-ironische Verführer unterscheidet sich von seiner Version in der Prosa der Moderne auch dadurch, dass die Verführung mit Bedeutungen aufgeladen wird. Für Johannes ist die Intrige auf den ästhetischen Genuss ausgerichtet und dient ihm – durch ihren kunstvollen Aufbau – zur narzisstischen Kontemplation. Bereits im Vorwort zum Tagebuch, das einem fiktiven Herausgeber zugeschrieben ist, wird diese Motivation deutlich: Das Poetische war das Mehr, das er selbst einbrachte. Dieses Mehr war das Poetische, das er in der poetischen Situation der Wirklichkeit genoss; er nahm es in Form dichterischer Reflexion wieder zurück. Das war der zweite Genuss, und auf Genuss war sein ganzes Leben ausgerichtet. Im ersten Fall genoss er persönlich das Ästhetische, im zweiten Fall genoss er ästhetisch seine Persönlichkeit. Im ersten Fall war der Punkt der, dass er egoistisch persönlich das genoss, was ihm zum Teil die Wirklichkeit gab, womit er zum Teil die Wirklichkeit geschwängert hatte; im zweien Fall verflüchtigte sich seine Persönlichkeit und er genoss dann die Situation und sich selbst in der Situation. Im ersten Fall brauchte er beständig die Wirklichkeit als Anlass, als Moment; im zweiten Fall war die Wirklichkeit eingegangen in das Poetische. […] Er besaß somit stets das Poetische durch die Zweideutigkeit, in der sein Leben verlief.35

Die Verführung ist für Johannes Teil eines größeren Plans, nach dem er sein Leben zum Kunstwerk gestaltet. In dieser Hinsicht sind Musils Claudine und Veronika nicht die weibliche Form des von Kierkegaard geprägten Bildes vom romantischen Ver­ führer. Die ironische Haltung setzt nämlich ein bewusstes Verständnis des Subjekts voraus, vor allem bedeutet sie eine Distanzierung von der Wirklichkeit. Kierkegaards Verführer genießt das Ästhetische in den Situationen, die er in seinem Umfeld vor­ findet bzw. die er selbst initiiert. Die Grenze zwischen dem Selbstbewusstsein des Individuums und seiner Wirklichkeitswahrnehmung wird demnach nicht radikal infrage gestellt, was hingegen in Musils Erzählungen der Fall ist. Die Verführung als Element der Handlung scheint bei Musil den Impuls zu einer umfassenden anthropologischen Reflexion zu geben. Für die Selbstkonstitution der Protagonistinnen ist das von wesentlicher Bedeutung, denn die Verführung ermöglicht ihnen den Rückzug ins Innere. Da aber sowohl die Kategorie des inneren Wesens als auch die klassischen Dichotomien Innen versus Außen im Text unterminiert werden, kommt es letztlich zu einer Verschmelzung des Ichs mit der Wirklichkeit. Eine klare Trennung zwischen Selbst- und Wirklichkeitswahrnehmung erweist sich als unmöglich. Auf diese Weise wird die Verführung in Musils Erzählungen zum entscheidenden Faktor bei der

35 Søren Kierkegaard, Tagebuch des Verführers, 12 f.

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­ estimmung des Subjekts. Sie tritt anstelle der Identität als die Erfahrung bzw. EigenB schaft, die das Individuum angesichts seiner Eigenschaftslosigkeit – im Hinblick auf den Verlust der Wesenseinheit und auf die Bewusstseinskrise – auszeichnen kann. Doch gibt es noch weitere Unterschiede. Verführung wird bei Musil nicht nur situativ verstanden, als Situation, Motiv oder Bestandteil der Handlung. Auch lässt sich die Verführungskraft nicht nur auf Personen beziehen. Beide Erzählungen sind von einer Atmosphäre verführerischer Unerfüllbarkeit durchdrungen. Eine der wichtigsten Szenen in der Vollendung der Liebe, die fast unmittelbar zum Höhepunkt der Erzählung – der Verführung und dem Ehebruch – führt, ist der Moment des Erwachens von Claudine. Während sie auf den Liebhaber wartet, löst sich in ihr eine Lawine unklarer Gefühlsregungen. Das Warten verschiebt ihre Gedanken umso mehr in die Sphäre des Unbestimmten, bis das Objekt ihres Begehrens schließlich verschwindet. Nicht die ­Begegnung mit dem Mann ist ihr Wunsch, sondern der Reiz der unendlich dauernden Erwartung: „Und doch begriff sie dunkel, daß es nicht jener Fremde war, der sie lockte, sondern nur dieses Dastehn und Warten, eine feinzahnige, wilde, preisgegebene ­Seligkeit“ (V 38). Auch diesen Zustand kann sie nicht klar beschreiben oder ver­ stehen – sie begreift ihn nur vage. Doch enthält dieser Augenblick verführerischer ­Erregung auch ein Moment der Selbstreflexion: [U]nd da kam es jetzt plötzlich von dort über sie […] eine Verheißung, ein Sehnsuchtsschimmer, eine niemals gefühlte Weichheit, ein Ichgefühl, das – von der fürchterlichen Unwiderruflichkeit ihres Schicksals nackt, ausgezogen, seiner selbst entkleidet – während es taumelnd nach immer tieferen Entkräftungen verlangte, sie dabei seltsam wie der in sie verirrte, mit zielloser Zärtlichkeit seine Vollendung suchende Teil einer Liebe verwirrte, für die es in der Sprache des Tags und des harten, aufrechten Ganges noch kein Wort gab. (V 39)

In Gedanken versucht sie sich dem anzunähern, was ihre Identität ausmacht – sie sucht nach einer Selbstdefinition, mit der sie ihr Ich zurückerlangen, es festlegen könnte. Doch weiß sie auch, dass ihre Suche zu nichts führt. Das „Ichgefühl“ ist nichts Stabiles, ein unerreichbares Ziel, eine Verheißung oder eine diffuse Sehnsucht, die so anziehend wirkt, weil sie unerfüllbar bleibt. Die Versuche, sich das eigene Wesen bewusst zu machen, sind zum Scheitern verurteilt – Claudine kann sich keine Eigenschaften zuschreiben, sie fühlt sich „ihrer selbst entkleidet“. Das Erahnen ihres Ichs vollzieht sich im Modus der Verführung, weil eine Ahnung, die nie Gewissheit wird, ewige Erwartung bedeutet. Musils andere Anthropologie lässt sich mithilfe vieler Ansätze auslegen. Verschiedene Theorien in den aktuellen Geisteswissenschaften eignen sich dazu, seine Auf­ fassung vom literarischen Subjekt näher zu beleuchten, die sonst häufig vor allem mit Freud und der frühen Psychoanalyse verbunden wurde. Mit Ricœur könnte man beispielsweise feststellen, dass Musil mit seinen Protagonistinnen versucht, das „NichtSubjekt“ zu imaginieren. Aus der Negation des tradierten Subjektverständ­nisses entfaltet er ein Projekt des Individuums, das sich jenseits solcher Kategorien wie Identität, Bewusstsein oder Vernunft zu definieren versucht. Auch mit Michel F ­ oucaults Voka-



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bular ließe sich seine Vorgehensweise beschreiben. In diesen beiden Erzählungen scheint Musil das Subjekt avant la lettre als einen „leeren Platz“ zu begreifen, der von beliebigen Individuen ausgefüllt werden kann – wie es Foucault in der Archäologie des Wissens (1969) formuliert.36 Claudine und Veronika mangelt es an Eigenschaften im gängigen Sinne, ihr Wesen lässt sich kaum festlegen. Sie gehen über die Einschränkungen der eindeutigen Bestimmungen hinaus, entkommen der De­finition und untergraben die konventionellen Zuschreibungen. Ihre Unbestimmtheit hat paradoxerweise ein subversiv-transgressives Potenzial. Sie befinden sich zwar in einem Dämmer­ zustand und sind sich ihres Handelns nicht ganz bewusst, gerade d ­ eshalb aber bewegen sie sich zwischen den tradierten Subjektpositionen: zwischen einem romantisch selbstbezogenen Subjekt, einem auf die eigene Gefühlswelt konzentrierten Ich der Empfindsamkeit und einem klischeehaften Bild von der Frau als Objekt männlicher Verführungskunst. Auch psychoanalytische Zugänge, die Foucaults Konzept ergänzen, können Musils Verfahren erklären. Slavoj Žižek bemerkt in seiner Abhandlung The Sublime Ob­ ject of Ideology (1989), dass man das Subjekt nicht auf Subjektpositionen reduzieren könne, denn diese setzten etwas Stabiles und bereits Vorhandenes voraus. In Anknüpfung an Jacques Lacan stellt Žižek fest, dass dem Subjekt vielmehr das NichtGegebene – die Erfahrung des Mangels – zugrunde liege. Sein Begriff „Subjekt des Mangels“ (engl. subject of a lack) kann auch auf die Figuren in den beiden Erzählungen Musils bezogen werden.37 Die verführerische Unerfüllbarkeit, das Streben nach Vollendung sind bedeutende Komponenten in den psychischen Strukturen Claudines und Veronikas. Žižek prägt in seiner Studie noch eine weitere treffende Wendung. In Bezug auf das Werk Kafkas spricht er vom „Subjekt vor der Subjekt-Werdung“ (engl. subject before any subjectivation), womit er Kafkas Protagonisten meint, die vor dem ­Prozess ihrer Bewusstwerdung dargestellt werden.38 Man lernt sie sozusagen kennen, bevor bei ihnen der Prozess der Selbsterkenntnis und Identifikation in Gang kommt. Žižeks Formulierung erinnert an den „Individualismus ohne Subjekt“ (engl. individ­ ualism without a subject), eine Prägung, mit der Alain Renaut in seiner Studie zur

36 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1995, 139. Als Kommentar vgl. Luc Ferry u. Alain Renaut, Antihumanistisches Denken: Gegen die französischen Meister­philosophen, München 1987, 81–131. 37 Ernesto Laclou, „Preface“, in Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, London 1989, XII. 38 Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, 44. Der entscheidende Abschnitt lautet: „And again, it was no accident that we mentioned the name of Kafka: concerning this ideological jouis-sense we can say that Kafka develops a kind of criticism of Althusser avant la lettre, in letting us see that which is constitutive of the gap between ‚machine‘ and its ‚internalization‘. Is not Kafka’s ‚irrational‘ bureaucracy, this blind, gigantic, nonsensical apparatus, precisely the Ideological State Apparatus with which a subject is confronted before any identification, any recognition – any subjectivation – takes place? What, then, can we learn from Kafka?“

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Ideen­geschichte des Subjekts die Philosophie Nietzsches subsumiert.39 Beide Wendungen scheinen Musils anderes Verständnis vom Menschen gleichermaßen einzufangen, weil sie versuchen, auf Alternativen zu verweisen, die die tradierte Subjektauffassung unterlaufen.

2.1.2 Sprachbilder eines anderen Subjektverständnisses: Verflüssigung Im nächsten Schritt möchte ich untersuchen, mit welchen stilistischen Mitteln, Motiven und rhetorischen Figuren die andere Anthropologie in Vereinigungen zum Ausdruck gebracht wird. Mithilfe welcher literarischen Strategien und Sprachbilder schildert Musil den Dämmerzustand des Individuums? Wie setzt er die Erfahrungen des modernen Ichs in Prosa um – Erfahrungen, die Lyrik in so knappen und prägnanten Versen formulieren kann wie „things fall apart; the centre cannot hold“ (William Butler Yeats) oder „I am large, I contain multitudes“ (Walt Whitman)? Zunächst ist zu sehen, dass Musil bei der Konstruktion seiner Protagonistinnen die Persönlichkeitsspaltung und Selbstentfremdung betont. In der Vollendung der Liebe empfindet Claudine sich selbst als innerlich zerrissen und fremd: „Es war ihr, als stünde sie sehr weit fort von sich“ (V 36). Das Gefühl der inneren Inkohärenz ­kulminiert darin, dass ihr der eigene Körper als zersplittert erscheint: Claudine war an diesem Tag nicht wieder im Institut gewesen, aber es war ihr unmöglich zu antworten, sie schien plötzlich nur mit irgendeinem empfindungslosen Teil von sich, mit den Haaren oder den Nägeln oder als hätte sie einen Leib aus Horn, unter diesen Menschen zu sein. Dann entgegnete sich doch irgend etwas und hatte dabei die Vorstellung, daß alles, was sie sagte, sich wie in einem Sack oder in einem Netz verstrickte; ihre eigenen Worte erschienen ihr fremd zwischen den fremden, wie Fische an den feuchtkalten Leibern anderer Fische zappelten sie in dem unausgesprochenen Gewirr der Meinungen. Es faßte sie ein Ekel. (V 56)

Sie fühlt sich wie ein fremdes Wesen, das auf bestimmte Glieder reduziert wird. Haare, Nägel, Horn – Körperteile, die empfindungslos sind. Sie gehören zwar zum Organismus, sind aber nicht zu Sinneswahrnehmungen fähig. Sie schützen eher vor der Außenwelt. Ihr Wachsen ist nicht zu spüren, sie werden abgeschnitten, und selbst nach dem Tod des Körpers wachsen sie noch eine Weile weiter. Im Anschluss an diesen Vergleich wird das Gefühl des Ekels hervorgehoben, das mit den Bildern der zappelnden Fische und feuchtkalten Leiber evoziert wird. Claudine identifiziert sich mit dem, was ekelerregend ist und beseitigt wird – zum einen als Bestandteil des Körpers gilt, zum anderen als Abfall bezeichnet wird. In ihrer Selbstwahrnehmung setzt sie sich mit dem Abscheulichen und Verdrängten gleich. Mit den Begrifflichkeiten von Julia

39 Alain Renaut, The Era of the Individual: A Contribution to a History of Subjectivity, ins Englische übers. v. Malcolm B. De Bevoise u. Franklin Philip, Princeton 2014, 132.



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Kristeva kann man sagen, dass sich Claudines Ich in Anlehnung an das Ekelhafte (fr. abject) zwischen den Dualismen Subjekt und Objekt konstituiert, denn es ist für sie – wie die eigenen abgeschnittenen Nägel – weder etwas ganz Eigenes noch etwas völlig Fremdes.40 Während der Ekel als ein Moment der Entfremdung zu verstehen ist und für Distanzierung von der Wirklichkeit steht, lassen sich im Vorstellungskomplex der Krise und des Zerfalls der Identität in Musils Erzählungen auch andere Strategien der Subjektdarstellung beobachten, die – statt auf Ablehnung – auf Affirmation der Wirklichkeit abzielen. Zu ihnen gehört das Zerfließen, mit dem das Ich als Emanation der Welt aufscheint. Besonders auffällig sind die Bilder des Fluiden in der Versuchung der stil­ len Veronika. Die Protagonistin hat ein „unklares, fließendes Gefühl von sich selbst“ (V 96) oder empfindet sich selbst „mit einer leise zerfließenden Deutlichkeit“ (V 122). In ihrer Wahrnehmung verwischen sich die scharfen Konturen, Grenzen zerfließen: „[S]ie verabscheute ihn so dunkel wie alles Fremde, ohne Haß, ohne Schärfe, nur wie ein fernes Land jenseits der Grenze, wo weich und trostlos das eigene mit dem Himmel zusammenfließt“ (V 97).41 Auch in der Vollendung der Liebe werden häufig Prozesse des Zerfließens beschrieben, ein Verschwimmen und Verschmelzen der Umrisse. Auffällig sind die Häufungen indefiniter Zusätze: „Nur einmal, irgendwann, glitt irgendwo von diesem unbegrenzten Horizont her etwas Dunkles durch ihr Bewusstsein“ (V 38). Die Tendenz zur Verflüssigung betrifft zunächst Claudines Selbstwahrnehmung: „Allmählich fühlte sie nicht mehr, wie sie aussah, wie ein absonderliches Loch im Finstern, im Gegen­wärtigen erschien ihr ihr Umriß“ (V 40). Nicht deutliche Eindrücke, klare Gefühle und scharfe Konturen, sondern eine diffuse Körperlichkeit bestimmen diese Selbstbetrachtung:

40 Darüber schreibt Kristeva in ihrem Essay wie folgt: „Neither subject nor object. The abject has only one quality of the object – that of being opposed to I. If the object, however, through its opposition, settles me within the fragile texture of a desire for meaning, which, as a matter of fact, makes me ceaselessly and infinitely homologous to it, what is abject, on the contrary, the jettisoned object, is radically excluded and draws me toward the place where meaning collapses. […] Not me. Not that. But not nothing, either. A ‚something‘ that I do not recognize as a thing. A weight of meaninglessness, about which there is nothing insignificant, and which crushes me. On the edge of non-existence and hallucination, of a reality that, if I acknowledge it, annihilates me. There, abject and abjection are my safeguards. The primers of my culture.“ Julia Kristeva, Powers of Horror: An Essay on Abjection, ins Englische übers. v. Leon S. Roudiez, New York 1982, 1 f. Zu Kristevas Theorie vgl. Winfried Menninghaus, Ekel: Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a. M. 1999, 516–567. 41 Auf die Strategie der Verflüssigung macht auch Nicole Masanek in ihrer Analyse der Erzählung Die Versuchung der stillen Veronika aufmerksam – sie widmet diesen Betrachtungen ein ganzes Unterkapitel: „Der Fluss und die Flüssigkeiten – Die Auswölbung des Raumes“. Unter anderem vergleicht sie Musils Vorstellungskomplex des „Zerfließens eines scheinbar ‚festen‘ Elementes […] in ‚Fremdes‘ und ‚Eigenes‘, in ‚Gegenwärtiges‘ und ‚Vergangenes‘, ‚Objektives‘ und ‚Subjektives‘“ mit Jacques Derridas Begriff différance. Nicole Masanek, Männliches und weibliches Schreiben? Zur Konstruktion und Sub­ version in der Literatur, Würzburg 2005, 227.

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„Es füllte sich ihr Körper mit einer leisen, fast unterwürfigen Sinnlichkeit wie ein dunkles Versteck um die Heimlichkeit seiner Seele“ (V 34). Die Satzstellung unterstreicht noch die Bedeutung des Körpers. Der Ausdruck wirkt unpersönlich, denn nicht Claudine ist hier die Agierende. Ihr Bewusstsein ist in eine passive Position gerückt, der Körper wird zum eigenständigen Element, zum Subjekt ihrer selbst. Die meisten Beschreibungen konzentrieren sich auf ihre Unfähigkeit zum Handeln: „[V]on ihrer Haut hob sich die Wärme des Schlafs, unbestimmt und widerstandslos schwang sie mit ihr wie in einer Wolke von Schwäche durch die Finsternis hin und her“ (V 37). Um die Haut, der Grenze des Körpers, schwebt etwas Flüchtiges, Ephemeres und Unbestimmtes. Claudines Dämmerzustand ähnelt einer fließenden Bewegung des Hin-und-herSchwingens. Das Bild des Zerfließens charakterisiert neben Claudines Selbstwahrnehmung auch ihre Perzeption der Außenwelt. Musil verschmilzt in dieser Passage die Sinneswahrnehmungen; neben dem Sehsinn werden vor allem Gehör- und Tastsinn an­ gesprochen: Claudine sah jetzt hinaus. […] Schal und unnachgiebig lag ein Widerstand darüber, als sähe sie durch eine dünne, milchige Widrigkeit hindurch. Jene unruhige, überleichte, tausendbeinige Lustigkeit war unerträglich gespannt geworden; es trippelte und floß, überreizt und äffend, wie von zwergenhaften Schritten darinnen etwas allzu Lebhaftes und blieb für sie doch stumm und tot; da, dort warf es sich wie ein leeres Klappern empor, schliff wie mit einer ungeheuren Reibung dahin. Es tat ihr körperlich weh, in diese Bewegung zu schauen, in der ihr Empfinden nicht mehr war. Dieses Leben, das kurz vorher noch in sie hineingedrungen und Gefühl geworden war, sah sie noch da, draußen, voll von sich und benommen, aber sobald sie es an sich zu ziehen suchte, bröckelten die Dinge ab und zerfielen unter ihrem Ansehn. Es entstand eine Häßlichkeit, die seltsam in den Augen bohrte, als beugte sich dort ihre Seele hinaus, weit und gespannt, und langte nach etwas und griffe ins Leere … Und mit einemmal fiel ihr ein, daß auch sie – genau so wie all dies – in sich gefangen und auf einen Platz gebunden dahinlebte, in einer bestimmten Stadt, in einem Hause darin, einer Wohnung und einem Gefühl von sich, durch Jahre auf diesem winzigen Platz, und da war ihr, als ob auch ihr Glück, wenn sie einen Augenblick stehen bliebe und wartete, wie solch ein Haufen gröhlender Dinge davonziehen könnte. (V 26 f.)

Zu betonen wäre an dieser Stelle, dass Claudines Blick nicht auf die Straße einer Metropole fällt – es handelt sich also nicht um überwältigende Sinneseindrücke einer Großstadt wie Paris, wie sie etwa Rainer Maria Rilke in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) beschreibt. Claudine befindet sich in einem Provinzstädtchen: „Am nächsten Morgen fuhr Claudine nach der kleinen Stadt, wo das Institut war, in dem ihre dreizehnjährige Tochter Lilli erzogen wurde“ (V 16). Ihr Blick aus dem Fenster wirkt getrübt, als sehe sie alles wie durch einen Filter. Das Gesehene erfährt keine Konkretisierung, es wird nur als Gewimmel empfunden, als „eine Lustigkeit“. Mit diesem Wort wird eigentlich eine Gemütslage bezeichnet. Die Beschreibung richtet sich also nicht auf das Visuelle, sondern auf die Gefühle, als ob Claudine die Ereignisse auf der Straße körperlich empfinden würde, statt sie zu sehen. Der Anblick verursacht ihr zugleich physischen Schmerz („es tat ihr körperlich weh“). So unscharf sie sieht, so



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aufdringlich wirkt das Gesehene, bohrt „in den Augen“. Das Geschehen auf der Straße erscheint ihr diffus: „es trippelte und floss“. Auffällig ist die entpersonifizierte Kon­ struktion mit dem Pronomen „es“. Weder gibt es Subjekte in dieser Straßenszene, noch werden diese zu Objekten der Reflexion. Was sich draußen abspielt, ist anonyme Bewegung, für Claudine ohne Sinn, ohne Ziel. Zugleich geht von diesem Bild auf der Straße eine starke Wirkung aus: „gespannt“, „überreizt“, „äffend“, „lebhaft“, „tausendbeinig“. Im Zentrum der Wahrnehmung stehen Berührung und Geräusche, die Dynamik der Straße rückt dabei bedrohlich nahe an Claudine heran („Reibung“, „dahinschleifen“, „klappern“). Ihr Blick aus dem Fenster führt zu einer Extension ihrer Sinne, die mit der Wirklichkeit zusammenfließen. Zwischen Claudine und der Außenwelt entsteht ein ebenso prekäres wie wechselseitiges Verhältnis. Einerseits versucht sie Abstand von der Umgebung zu gewinnen, andererseits empfindet sie sich als Teil davon. Sowohl sich selbst als auch die Welt nimmt sie als verflüssigt war. Eine klare Grenze zwischen Ich und Welt erlaubt der Text nicht zu ziehen. Ich und Nicht-Ich werden bei Musil nicht als Gegensatzpaar aufgefasst. Das Individuum scheint sozusagen das Universum zu durchdringen, wie es umgekehrt von ihm durchdrungen werden kann. Sucht man nach adäquaten Beschreibungsmodi für diese Form der Beziehung zwischen dem Subjekt und der Außenwelt, wird man z. B. bei Maurice Merleau-Ponty fündig. In seiner Abhandlung Das Sichtbare und das Unsichtbare (1964) widmet er sich der Phänomenologie des Sehens: Im Augenblick genügt die Feststellung, dass der Sehende das Sichtbare nicht besitzen kann, außer er ist von ihm besessen, außer er ist von ihm und ist – gemäß den Vorschriften der Artikulation des Blickes und der Dinge – grundsätzlich eines der sichtbaren Dinge, das diese – als eines von ihnen – durch eine eigenartige Umkehr zu sehen vermag. Nun wird verständlich, weshalb wir die Dinge selbst an ihrem Ort und in ihrem Sein sehen, das weit mehr ist als ihr Wahrgenommenen-Sein und zugleich durch die ganze Dichte des Blickes und des Leibes von ihnen entfernt sind: denn diese Distanz ist nicht das Gegenteil dieser Nähe, sondern sie steht in tiefem Einklang mit ihr, sie ist ihr sinnverwandt.42

Im Akt des Sehens besteht nach Merleau-Ponty ein besonderes Verhältnis zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen, das nicht nur einseitig verläuft. Die Wahrnehmung der Welt durch das Sehvermögen erzeugt für ihn keine hierarchischen Abhängigkeitsstrukturen, mit denen die sichtbaren Dinge automatisch zu Objekten degradiert würden. Eine solche Definition des Blickes setzt eine andere Auffassung vom Subjekt voraus, das sich nicht nur die Welt unterordnet, sondern ihr auch unterliegt. Weiterhin heißt es bei Merleau-Ponty: [D]enn vielleicht sind das Selbst und das Nicht-Selbst wie Vorderseite und Kehrseite, und vielleicht ist unsere Erfahrung diese Umkehr, die uns weit weg von „uns“ in die Anderen, in die

42 Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare: Gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. v. ­Claude Lefort, übers. v. Regule Giuliani u. Bernhard Waldenfels, München 1994, 178 f.

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Dinge platziert. Wie der natürliche Mensch versetzen wir uns in uns und in die Dinge, in uns und in die Anderen, bis wir durch eine Art Chiasma zu Anderen, zur Welt werden.43

Merleau-Ponty beschreibt die „vorobjektive“44 Beziehung des Menschen zur Außenwelt. Diese Beziehung hat einen offenen Charakter, sie beruht auf Gleichrangigkeit, im Sinne einer reziproken Verbindung zwischen Avers und Revers, sie kann als eine Art Verflechtung oder Chiasmus verstanden werden – mit einem anderen Wort: Es sind Vereinigungen. Versuche der sprachlichen Annäherung an das andere Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt durchziehen das gesamte Schaffen Merleau-Pontys. In seinem Essay Das Auge und der Geist (1961), der der Malerei gewidmet ist, spricht er ebenfalls das Sehen an; er bedient sich dabei der Metapher des Atems: Es gibt tatsächlich eine Inspiration und Exspiration des Seins, ein Atmen im Sein, eine Aktion und Passion, die so wenig voneinander zu unterscheiden sind, dass man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und wer gemalt wird.45

Merleau-Ponty ist – ebenso wie Musil – auf der Suche nach einem anderen Verständnis  vom Individuum. Beide möchten die konventionelle Subjektauffassung modi­­ fizieren und erweitern. Sie tasten sich an alternative Relationen zwischen Ich und Welt heran, um das Subjekt von der hierarchischen Vorstellung einer übergeordneten ­Instanz zu befreien, die schon in seiner Etymologie – das lateinische Verb subicere bedeutet so viel wie etwas darunter stellen, unterwerfen, unterordnen – festgeschrieben ist. Die verflüssigte Subjektauffassung hingegen wehrt sich gegen die hierarchische Festschreibung. Indem das Subjekt nicht als fest umrissene Einheit, sondern als durchlässig dargestellt wird, tritt es in eine neue Sphäre des Kontaktes mit seiner ­Umgebung. Um die Besonderheit von Musils verflüssigter Subjektauffassung zu verdeutlichen, möchte ich einen weiteren literarischen Text zum Vergleich heranziehen, und zwar möchte ich die oben besprochene Szene mit Claudine, die Passanten auf der Straße beobachtet, mit einem Ausschnitt aus Gertrud Kolmars Roman Die jüdische Mutter ­parallel lesen. Vorab ein paar Worte zur Kontextualisierung des Werkes: Gertrud Kolmar, 1894 in Berlin geboren, 1943 in Auschwitz ermordet, wird häufig mit Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs verglichen und als „dritte große jüdische Lyrikerin“ der deutschen Litera-

43 Ebd., 208 f. 44 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966, 282. 45 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist: Philosophische Essays, übers. v. Hans Werner Arndt, Hamburg 1984, 21.



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tur des 20. Jahrhunderts bezeichnet.46 Diese Zusammenstellung ist sicherlich aufgrund der Zeitgenossenschaft, der jüdisch-bürgerlichen Herkunft und der bevorzugten poetischen Sujets berechtigt. Doch wird diese Verortung ihrer Prosa wie ihrem dramatischen Werk nicht gerecht.47 In ihrem Œuvre spielen aber auch die Prosatexte eine wichtige Rolle. Nur zwei davon – der genannte Roman und die Erzählung Susanna – blieben erhalten. Die jüdische Mutter gilt als Kolmars Prosadebüt, das sie 1930/1931 verfasste; die vollständige Publikation erfolgte jedoch erst 1999.48 Die Geschichte, die in diesem Roman erzählt wird, bricht viele gesellschaftliche Tabus und arbeitet mit provokativen Themen: Die Handlung wird durch ein Verbrechen determiniert. Ein fünfjähriges Mädchen – die Tochter der Protagonistin – wird Opfer eines Kinderschänders. Die Sexualstraftat löst die aus der Kriminalliteratur bekannte Ereignisfolge aus: der Wunsch nach Rache, ein Detektiv nimmt Ermittlungen auf, fahndet nach dem perversen Täter. Doch nicht die Suche nach dem Verbrecher steht im Mittelpunkt des Romans, sondern die Darstellung der Persönlichkeitsentwicklung von Martha, der Mutter des Kindes. Die jüdische Mutter konzentriert sich also auf die Gefühlszustände einer Protagonistin. Und eine Szene findet sich in diesem Roman, die mit der oben erwähnten Passage aus der Vollendung der Liebe verglichen werden kann. Martha steht am Fenster: Sie trat vor das offene Fenster. Und wie der Gehetzte an einem Becher kühlen, reinen Wassers sich sänftigt, sah sie hinaus. Sternenklar. Vor ihrem Blick hielt der Große Wagen; das Gestirn seiner Deichsel lag scharf flimmernd in den Himmel hinein. Andere Welten, die sie nicht kannte,

46 Diese Bezeichnung taucht beispielsweise in einer Rezension von Manfred Koch auf. Er schreibt ironisch, dass die Literaturgeschichte die Einteilungen liebe, vorzüglich in Dreiergruppen, und daher auch Gertrud Kolmar ihr Trio finden müsse. Manfred Koch, „Eidechsmundart. Eine neue Ausgabe der Gedichte von Gertrud Kolmar“, in Neue Zürcher Zeitung vom 23. Dezember 2003. Verfügbar unter: http://www.lyrikwelt.de/rezensionen/daslyrischewerk-r.htm (25. Mai 2017). 47 Ein anderer Vergleich, der eine Wertschätzung ausdrückt und zugleich jedoch eine Art von Einschränkung oder Schublade sein kann, die eine latente Einengung ihres facettenreichen, nicht nur aus Lyrik bestehenden Gesamtwerks zur Folge hat, ist jener mit Annette von Droste-Hülshoff. Die Einordnung in diese dichterische Traditionslinie führte als erster Walter Benjamin – Kolmars Vetter – ein, der im Jahr 1928 in der Zeitschrift Die literarische Welt eine Einleitung zum Abdruck von zwei Gedichten seiner Cousine verfasste. Dieses Zitat wird in vielen Beiträgen zu Kolmars Schaffen gerne wiederholt. Vgl. dazu Monika Shafi, Gertrud Kolmar: Eine Einführung in das Werk, München 1995, 11. Oder Johanna Woltmann, Gertrud Kolmar – Leben und Werk, München 1995, 125. 48 Die Veröffentlichungsgeschichte dieses Romans ist kompliziert: Die Erstausgabe erfolgte 1965 im Kösel Verlag unter dem verkürzten Titel Eine Mutter. In demselben Verlag wurde 1978 die zweite Ausgabe vorbereitet, die dann unter dem Titel Eine jüdische Mutter erschien. Erst 1999 gab Thedel von Wallmoden im Wallstein Verlag den Roman als Die jüdische Mutter vollständig heraus – die Edition folgt dem Text des Typoskripts von Gertrud Kolmar, das sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet. Kurz danach wurde diese Ausgabe in der Reihe „Bibliothek Suhrkamp“ wieder aufgelegt. Im editorischen Kommentar wird erläutert, welchen Modifikationen – vor allem in der Betitelung – der Roman unterlag und wie das seine Interpretationen beeinflusst haben könnte.

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blühten und glitzerten. Die Ulmen rauschten. Sie standen so unschwer, so körperlos da, nur Fläche, Tintengerinnsel und -tupfen auf bläulich grauem Papier. Dort aber, dort hinten ballten sie sich, wipfelten in ein Kamelgehöcker, in einen zackigen Kamm. Den Kamm des schwarzgrünen Drachen. Oder des Fischgreifen, der seinen Flossenschwanz fern noch in Wellen badet. Er erfrischte das Antlitz der Dürstenden mit einem meerkühlen Hauch. Sie lehnte sich weiter über die Brüstung und fand auch den Mond, zunehmend, fast ohne Form wie eine blasse zerdrückte Zitrone. Sie schaute ihn an. „Von oben durch der Kuppel Öffnung wirft Der Mond den bleichen, silberblauen Schein …“ Sie wusste nicht, wie ihr das kam, woher ihr das kam. Sie hatte als Fünfzehn-, als Sechzehnjährige in ihrem Schulbuch für sich allein von dem Bilde zu Sais gelesen, war oft und oft einsam nachgetappt der Wahrheit hinter dem Schleier. Das fiel ihr nicht bei. So stand sie am Fenster und blickte sich ein in das, was kein Leben, kein Einzelnes war, nur noch eine nächtliche Landschaft.49

Der Bewusstseinszustand der Protagonistin in Kolmars Werk scheint getrübt zu sein – allerdings aus anderen Gründen wie bei Musil. Sie ist traumatisiert, mit der Verarbeitung der Trauer beschäftigt und von Rachephantasien besessen, die sie fast an die Grenze zum Wahnsinn treiben, so dass sie letzten Endes Selbstmord begeht. Durch diese Palette von Erfahrungen wirkt der Roman besonders modern und kühn. Der ­Tabubruch im Werk besteht aber nicht nur im Aufgreifen von kontroversen Sujets. Im Roman kommt eine ganze Kontamination von Themenkomplexen vor, die man mit dem Verstummen, der Unaussprechbarkeit und der Situation des Ausgeschlossenseins assoziiert: Trauerarbeit einer Mutter nach dem Verlust ihres Kindes, jüdische und weibliche Identitätsproblematik. Die Autorin scheint alldem eine Stimme zu verleihen oder, anders gesagt, sie versucht „das Wort den Stummen“ zu geben, um den Titel von einem Gedichtband Kolmars zu paraphrasieren.50 Die Sprache im Roman ist dynamisch und expressiv – in der Forschungsliteratur spricht man vom „spätexpressionistischen Stilwillen und Satzführung“.51 Trotz der Expressivität und Poetizität des Textes macht die bereits zitierte Szene eher den Eindruck einer traditionellen Naturbeschreibung. Vor Martha erstreckt sich ausgerechnet eine malerische Landschaft, obwohl sie sich auch in der modernen Großstadt – in ­Berlin zu Zeiten der Weimarer Republik bewegt.52 Sie zieht sich von Zivilisation und

49 Gertrud Kolmar, Die jüdische Mutter, Frankfurt a. M. 2003, 34 f. 50 Es handelt sich um den spät entdeckten Gedichtzyklus Das Wort der Stummen, der sich im Nachlass von Hilde Benjamin handschriftlich erhalten hatte und erstmals 1970 vom Verlag Der Morgen herausgegeben wurde. Zur Besprechung dieses Zyklus vgl. Ingeborg Fiala-Fürst, „Der Gedichtzyklus Das Wort der Stummen“, in Karin Lorenz-Lindemann (Hg.), Widerstehen im Wort: Studien zu den Dich­ tungen Gertrud Kolmars, Göttingen 1996, 34–44. 51 Friedhelm Kemp, „Nachbemerkung“, in Gertrud Kolmar, Eine jüdische Mutter, München 1978, 247. 52 Das Motiv der Stadt als Schauplatz der Romanhandlung kommt im Text stark zum Ausdruck, so



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Hektik zurück, lebt am Rande der Stadt und hat einen fast idyllischen Blick vom Fenster. Obwohl sie sich als Subjekt nach einer Grenzerfahrung in einem extremen Zustand befindet, verläuft ihre Wahrnehmung ungestört und harmonisch. Sie sieht alles deutlich, den Sternenhimmel und die Ulmen. Die Nacht wird nicht mit der Dunkelheit verbunden, es gibt viel Licht, die Sterne glitzern und flimmern. Die Stimmung der Beschreibung hat romantisch-lyrische Züge und ist geheimnisvoll. Das Naturerlebnis wird intellektuell durch die Brille der Literatur gefiltert und erinnert die Protagonistin an die Verse aus dem Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais von Friedrich Schiller, dessen Name symbolisch für kulturelle Assimilation stehen kann. Es passiert weder eine innere Verwandlung der Figur, noch eine mystische Erfahrung der Verschmelzung mit der Natur. Martha distanziert sich von dem, was sie sieht – die Landschaft hat für sie „kein Leben“. Ihr Ich ist eine feste Einheit, kann sich der Außenwelt entgegensetzen und bildet somit einen Kontrapunkt zu der verflüssigten Verfasstheit von Musils Claudine, die mit ihrer Aussicht vom Fenster zusammenfließt.53 Der Vergleich mit Kolmars Werk sollte Musils Strategie der Verflüssigung des ­Subjekts veranschaulichen. Im Roman Die jüdische Mutter wird auch auf einer anderen Ebene das Thema der Identitätskrise behandelt, die Protagonistin ist Mutter ohne Kind und Jüdin ohne Gemeinde. Hinter der Problematisierung ihrer Selbstbestimmung scheint sich aber im Text eine eher konventionelle, steife Auffassung vom Individuum zu verbergen. Erst in dieser Perspektive wird die Besonderheit von Musils Vorgehensweise deutlich, mit der er in den Vereinigungen das tradierte Subjektverständnis lockert und die andere, verflüssigte Anthropologie postuliert.

2.1.3 Enge und Exotik Zur Beschreibung der anderen Auffassung vom Subjekt verwendet Musil häufig das metaphorische Bild der Verflüssigung. Das Fluide spiegelt den prozessualen und dynamischen Charakter der inneren Verfasstheit seiner Protagonistinnen. Das Ich wird als veränderbare, unvollständige und instabile Kategorie verstanden, die sich stets im Werden befindet und in Opposition zu den festen Formen steht. Die Ursprünge des fluiden Vorstellungskomplexes lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen – um nur Heraklits panta rhei in Erinnerung zu rufen –, und Rekurse

dass es sogar im Titel der englischen Übersetzung des Werkes A Jewish Mother from Berlin berücksichtigt wurde. Der Roman wurde von Brigitte Goldstein ins Englische übersetzt und 1997 veröffentlicht (New York u. London). 53 Man könnte den Vergleich erweitern und andere Prosatexte erwähnen, in denen das Ausblicken vom Fenster eine wichtige Rolle spielt, wie zum Beispiel die bekannte, in medientheoretischen Zusammenhängen häufig interpretierte Erzählung Des Vetters Eckfenster von E. T. A. Hoffmann. Vgl. E. T. A. Hoffmann, „Des Vetters Eckfenster“, in Poetische Werke in sechs Bänden, Bd. 6, Berlin 1958, 742–774.

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auf eine Motivik der fluktuierenden Substanz sind in der Ideengeschichte häufig zu finden.54 Sie lag einem Verständnis zugrunde, das das Sein in mystische und naturmagische Denkströmungen eingebettet sah und sich damit gegen einen dogmatischen Rationalismus positionierte. Um einen Eindruck von der Rhetorik der Verflüssigung zu vermitteln, möchte ich zwei Beispiele anführen. Wenn Gershom Scholem die jüdische Mystik des 16. und 17. Jahrhunderts beschreibt, hebt er immer wieder hervor, dass in dieser Perspektive das Sein nicht als statisch, sondern als prozesshaft begriffen wird, es befindet sich in permanenter Bewegung, in einem pulsierenden Rhythmus. Deshalb bedient sich Scholem bei der Charakteristik der kabbalistischen Entwürfe Isaak Lurias (1534–1572) einer Metaphorik des Fluiden. So spricht er beispielsweise – mit Blick auf Lurias Weltauffassung – von „einer ständigen Wechselwirkung zwischen Ebbe und Flut, zwischen dem sich ausbreitenden und dem sich zurückziehendem Prinzip“.55 Auch im romantischen Naturverständnis wird der zirkulierende Umlauf flüssiger Substanz betont. In Goethes Morphologielehre liest man z. B. von der fließenden und wandelbaren Beschaffenheit der Natur, die als ewiges Wechselspiel zwischen Prozessen der „Ausdehnung und Zusammenziehung“ imaginiert wird.56 Die Fluidität war als Vorstellung nicht nur für ontologische Überlegungen attraktiv, sondern ebenso für die Literatur als poetologische Metapher oder für medientheoretische Reflexionen als Attribut der Mündlichkeit im Gegensatz zur „starren“ Dimension der Schrift.57 Bilder des Flüssigen waren auch, wie Aleida Assmann in einem ihrer Aufsätze darlegt, eine beliebte Denkfigur in der Kulturkritik der Moderne, Beispiele finden

54 Die fluide Metaphorik lässt sich etwa in der Forschung über Melancholie deutlich verfolgen, die letztlich zur antiken Temperamentenlehre zurückführt. Diese beruhte auf der Vorstellung vom Einfluss der vier Körperflüssigkeiten auf Persönlichkeit und Charakter des Menschen, die Dominanz des Blutes im Organismus bilde den Sanguiniker, Schleim – den Phlegmatiker, die gelbe Galle – den Choleriker und die schwarze Galle – den Melancholiker. Letzterer wurde mit dem Saturn und dem Wasser in Verbindung gebracht. Vgl. z. B. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Saturn und Melan­ cholie: Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übers. v. Christa Buschendorf, Frankfurt a. M. 1992, 94–124. 55 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967, 289. 56 Zur Veranschaulichung ein Zitat: „Haben wir nun bemerkt, daß von den Samenblättern herauf eine große Ausdehnung und Ausbildung der Blätter, besonders ihrer Peripherie, und von da zu dem Kelche eine Zusammenziehung des Umkreises vor sich gehe; so bemerken wir, daß die Krone abermals durch eine Ausdehnung hervorgebracht werde. Die Kronenblätter sind gewöhnlich größer als die Kelchblätter, und es läßt sich bemerken, daß, wie die Organe im Kelch zusammengezogen werden, sie sich nunmehr als Kronenblätter, durch den Einfluß reinerer, durch den Kelch abermals filtrierter Säfte, in einem hohen Grade verfeint wieder ausdehnen, und uns neue, ganz verschiedene Organe vorbilden.“ Johann Wolfgang von Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften I, Hamburger Ausgabe Bd. 13, München 1975, 75. 57 In der Geschichte der Medienmetaphorik wurde die Schriftlichkeit und Mündlichkeit mit den Vorstellungskomplexen des Erstarrten und Flüssigen verknüpft. Vgl. Horst Wenzel, „Die ‚fließende‘ Rede und der ‚gefrorene‘ Text. Metaphern der Medialität“, in Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus: Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart u. Weimar 1997, 481–503.



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sich unter anderem bei Henri Bergson, Georg Simmel oder Edmund Husserl.58 Georg Witte fügt in seinem Artikel über die Fluidität als Metapher hinzu, dass Flüssigkeit auch in poststrukturalistischen Theorien ein häufig benutztes Assoziationsfeld darstellt – im Sinne einer Kritik an den statischen Auffassungen der Zeichensysteme –, etwa in den Schriften von Jacques Lacan, Julia Kristeva, Gilles Deleuze und Félix Guattari, wobei vieles an diesen Konzepten „in den fluidalen Poetiken der Moderne ein halbes Jahrhundert zuvor“ präfiguriert wurde.59 Die besondere Faszination der Denkfigur der ­Verflüssigung erklärt Witte damit, dass sie mit „Dynamik, Flexibilität, Weichheit der Sinnbildung, einer Unterspülung fixierter symbolischer Ordnungen, einer sinnlichen Affizierung der Schreibenden und Lesenden als Aufweichung von per­ zeptiven Verstockungen, als Eintauchen in Lebens- und Materieströme“ konnotiert w ­ erden kann.60 Eine solche fluide Poetik lässt sich auch in den Vereinigungen erkennen. In b ­ eiden Erzählungen spielt Verflüssigung eine wichtige Rolle als Element von Musils Subjektauffassung, was jedoch nicht mit einem Identitätszerfall gleichzusetzen wäre. Vielmehr scheinen die Bewusstseinszustände der Protagonistinnen Claudine und ­Veronika zwischen der Verflüssigung (im Sinne einer Selbstauflösung) und der Verdichtung (im Sinne einer Proliferation neuer Bedeutungen) zu oszillieren. Die Tendenz zur Dichte drückt sich zum einen in der Poetizität und Hermetik der Sprache aus. Zum anderen fällt die Atmosphäre der Enge ins Auge, die die beiden Erzählungen auf mehreren Ebenen durchzieht. Sie betrifft beispielsweise die Raumwahrnehmung, ebenso die Ortsbestimmungen. Claudine empfindet Beengung: „Eng lag das Zimmer hinter ihr und es war noch etwas Sonderbares in dieser Enge, wie ein Käfig oder wie Geschlagenwerden“ (V 36). Auch Veronikas Empfindungen werden durch enge Räume bestimmt: „Es war jener enge Gang, in dem sie einst lief und dann kroch und dann kam jenes Weiterwerden, jenes leise Heben und Sichaufrichten und nun schloß es sich wieder“ (V 122). Diese Darstellung ruft Assoziationen mit der Geburt hervor, die als Bild für den schmerzhaften Prozess der Subjektwerdung verstanden werden kann. Brigitte Röttger weist in ihrer Interpretation auf das „Spiel zwischen Erweiterung und Eingrenzung“ in Bezug auf die Ortsbeschreibungen hin – mal suggeriert die

58 Aleida Assmann, „Fest und flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur“, in Aleida Assmann u. Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a. M. 1989, 181–199. 59 Georg Witte, „Die Flüssigkeit des Worts. Verführungen einer poetologischen Metapher“, in Para­ grana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie Nr. 19.1/2010. hg. v. Gunter Gebauer u. Christoph Wulf, 165–179, hier 169. Witte unterscheidet im „Tropeninventar des Fluidalen“ drei Vorstellungskomplexe: das Wasser (das Fluidale als Substanz), den Strom (das Fluidale als Dynamik), die Verflüssigung (das Fluidale als Aggregatzustand, etwas Hartes wird weich). Dabei betont er, dass diese drei Formen von Vorstellungen in literarischen Texten häufig in Überschneidungen auftreten. 60 Ebd., 165.

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­ rzählinstanz ein unbestimmtes Raumgefühl, mal schildert sie präzise eine enge E Räumlichkeit.61 Die Verdichtung des Raumes bezieht sich in den Vereinigungen vor allem aber auch auf die innere Verfassung der Subjekte. Mitunter scheint diese Enge auch als Metapher des Dämmerzustands zu fungieren. Über Claudines Bewusstseinslage heißt es zum Beispiel: „Sie tat dies alles, wie man im Schlaf auffährt, mit dem engen Raum eines Bewusstseins, das wie eine kleine unbewohnte Insel herauftaucht“ (V 35 f.). Auch in der Beschreibung von Veronika wird der getrübte Bewusstseinszustand mit der Enge in Verbindung gebracht: Sie hatte vor heute nie etwas davon gewußt, nur zuweilen war sie, wenn sie aufwachte, – wie einer andern Bewegung gewohnt – an die Enge ihres Bewußtseins gestoßen und irgendwo hinter einer Ritze war es noch hell, … nur eine Ritze, aber sie fühlte einen weiten Raum dahinter. (V 112)

Zur Verbindung von Enge und Dämmerzustand lässt sich auch ein Essay von Musil heranziehen. In seinem Text Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) reflektiert er über die Rolle der Kunst, vergleicht sie mit den Religionspraktiken der Naturvölker und bemerkt, dass künstlerische Mittel auch „auf eine Einengung des Bewusstseins [zielen], die der leichten Hypnose ähnlich ist“.62 Die Einengung scheint also auch für die bereits besprochene Passivitätskompetenz des Subjekts zu stehen. In den beiden Erzäh­lungen ist zwar nicht die Rede von einem In-Trance-Versetzen im Sinne einer Kunst­wirkung, doch der krisenhafte Zustand der Verengung des Bewusstseins kann auf einer Metaebene auch als ästhetisches Phänomen betrachtet werden, das durch das Medium der Kunst vermittelbar ist. Die Atmosphäre der Enge und Verdichtung wäre damit in den Texten als Strategie zur Darstellung des Dämmerzustands zu deuten, als literarisches Mittel, das durch die Einschränkung des Sichtfelds – vergleichbar dem Bild, das sich beim Blick durch ein Fernglas bietet – eine verschärfte und verdichtete Erfassung des Individuums ermöglicht. Im Weiteren möchte ich nun zwei Schriftsteller nennen, Hermann Broch und Bruno Schulz, die in ihren Werken ein ähnliches Verständnis vom Subjekt präsentieren und sich dabei vergleichbarer Mittel wie Musil in den Vereinigungen bedienen. ­Zunächst möchte ich noch einmal Hermann Brochs Trilogie Die Schlafwandler ansprechen, in der die Dämmerzustände des Ichs gleichfalls über ein Wechselspiel zwischen Verflüssigung und Enge beschrieben werden. Zur Veranschaulichung verweise ich auf einen exemplarischen Abschnitt aus einem Kapitel des bereits erwähnten dritten Bandes 1918 Huguenau oder die Sachlichkeit, in dem Brochs Strategien besonders deutlich

61 Brigitte Röttger, Erzählexperimente: Studien zu Robert Musils „Drei Frauen“ und „Vereinigungen“, Bonn 1973, 97. 62 Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [März 1925]“, in ders., Prosa und Stücke – Kleine Prosa – Aphorismen – Autobiographisches – Essays und Reden – Kritik, in Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, 1141.



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zu sehen sind. Es handelt sich um den Abschnitt Nr. 71, in dem die Geschichte der Anwaltsgattin Hanna Wendling erzählt wird. In der Forschungsliteratur gilt diese Figur häufig als Symbol des „Verfalls der wilhelminischen Gesellschaft“.63 Geschildert werden ihre Gefühlszustände, nachdem ihr Ehemann nach einem Fronturlaub wieder in den Krieg gezogen ist. Sie versucht die Ereignisse der jüngsten Zeit zu rekonstruieren und den Besuch des Gatten zu verarbeiten. Ihre Erinnerungen werden als Momente einer krisenhaften Entropie dargestellt: Das physische Ereignis als welches sie diese sechswöchige Urlaubszeit sohin mit Fug bezeichnen durfte, stellte sich jetzt in ihrem Geiste wie eine Verengung ihres Lebensstromes dar, wie eine Verengung ihres Ichs; es war wie ein Eindämmen ihres Ichs in die Grenzen der Körperlichkeit gewesen, wie ein schäumendes Hindurchpressen eines Flusses durch eine Klamm. Hatte sie, wenn sie es recht bedachte, stets das Gefühl gehabt, als werde ihr Ich nicht durch ihre Haut begrenzt und als könnte es durch die sehr durchlässige Haut bis in die Seidenwäsche dringen, die sie am Leibe trug, und war es fast, als würden sogar ihre Kleider einen Hauch ihres Ichs beherbergen (daher wohl die große Sicherheit in Modedingen), ja war es fast, als lebte dieses Ich weit außerhalb des Leibes, viel eher ihn umgebend als in ihm wohnend, und als würde es nicht mehr in ihrem Kopfe denken, sondern irgendwie außerhalb desselben, sozusagen auf einer höheren Warte, von der aus sie ihre eigene Körperlichkeit, wie sehr wichtig diese auch sein mochte, als eine kleinwinzige Belanglosigkeit betrachten konnte, so war während der sechswöchigen Dauer des physischen Ereignisses, während des stürzenden Durchgangs durch die Klamm, von all der diffusen Weiträumigkeit nur mehr ein glitzernder Dunst übrig geblieben, ein Regenbogenglast über den tosenden Wassern, gewissermaßen das letzte Refugium der Seele. Jetzt aber, da sich die gemächliche Ebene wieder weitete und es gleichsam ein Abnehmen der Fesseln war, da wurde solches Aufatmen und Glätten gleichzeitig zu dem Wunsche, die tosende Enge zu vergessen.64

Dieser Zustand überfällt die Protagonistin plötzlich, am Anfang des zitierten Abschnitts steht das Adverb „jetzt“. Hannas Gedankengang ist ein Gemisch aus losen und intensiven Empfindungen: Es ist ein „Durcheinanderfließen von unklaren Vorstellungen, ein Fluten halberinnerter Erinnerungen, halbgedachter Gedanken, halbgewollter Wollungen, ein Fluss ohne Ufer mit silbrigem Dunst darüber, silbriger Hauch, der bis in die Wolken und zu den schwarzen Sternen reicht“.65 Sowohl die Wassermetaphorik („Fluten“, „Fluss ohne Ufer“) als auch Wörter mit dem Präfix „halb-“ weisen auf den prekären seelischen Zustand der Protagonistin hin, auf ihre vage Schwebe zwischen Wachsein und Traum. Es entsteht der Eindruck von etwas Ephemerem und Flüchtigem. Bedeutsam sind auch die Lichteindrücke. Sie evozieren zum einen Weite, zum anderen aber auch Unbestimmtheit und Instabilität: „diffuse Weiträumigkeit“, „ein glitzernder Dunst“, „ein Regenbogenglast über den tosenden Wassern“, „ein Hauch ihres Ich“. Die innerlich zerrissene Protagonistin fühlt sich „wie ein leerstehendes Haus, in dem man

63 Paul Michael Lützeler, Die Entropie des Menschen: Studien zum Werk Hermann Brochs, Würzburg 2000, 81. 64 Hermann Broch, Die Schlafwandler, 613 f. 65 Ebd., 614.

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die Gardinen heruntergelassen hat“.66 Die Stimmung gedämpften Dämmerlichtes wird  noch mehrfach im Text auftauchen. Die Grenzen zwischen Tag und Nacht, ­zwischen Traum und Wachsein verwischen sich: „Tag wob sich um Nacht, und Nacht wob sich um Tag und was die Tage einender reichten, war unkenntlich, manchmal noch unkenntlicher als die Träume“.67 Das schafft eine unbehagliche, somnambule Stimmung der Unsicherheit, die mit der Selbstwahrnehmung der Protagonistin korrespondiert. Für Hanna ist der Dämmerzustand eine Extension des Selbstbewusstseins. Sie versucht die Grenzen ihres Ichs zu ziehen und stößt dabei auf eine Aporie: Selbst ihre Haut ist keine definitive Grenze, auch ihre Kleider beherbergen „einen Hauch ihres Ichs“. Der Raum hat metaphorische Bedeutung, die Krise wird verstanden als Mangel an Raum – als Enge. Im Text tauchen Formulierungen auf wie: „Verengung ihres Lebensstroms“, „Verengung ihres Ichs“, „Eindämmen ihres Ichs“, „die tosende Enge“, „Hindurchpressen eines Flusses durch eine Klamm“, „stürzender Durchgang durch die Klamm“.68 Die Atmosphäre der Enge ergänzt die Tendenz zur Verflüssigung – mittels der beiden Strategien werden zwei Dimensionen der anderen Auffassung des Subjekts unterstrichen. Die Fluidität betont den Aspekt der Dekonzentration des Individuums, seiner Dissoziation, Unentschlossenheit und Unbestimmtheit sowie die Stimmung der Entschärfung der Konturen, der Einteilungen und Gegensätze. Die Enge indessen zeigt den Dämmerzustand als Konzentration und Verdichtung des Sinns. Brochs Verknüpfung der Verflüssigung mit der Verengung – im Bild der Klamm – erschließt mehrere Interpretationshorizonte für poetologische Reflexionen.69 Die andere Auffassung des Menschen als „Verengung des Ichs“, als somnambuler Dämmerzustand des Individuums wird zu einer Art ästhetischer Erfahrung. Ein ähnliches Subjektverständnis wie in den Werken von Musil und Broch ist in der Prosa von Bruno Schulz zu finden. Die Figuren in seinen Erzählungen sind ebenfalls keine starken Subjekte, die als Regisseure ihres eigenen Lebens gelten dürften, und auch ihre Verfassung wird häufig mithilfe einer Rhetorik der Fluidität dargestellt. Verflüssigung und Abkehr von der Festigkeit scheinen insgesamt für das Schaffen von Schulz paradigmatische Postulate zu sein, die das Verständnis der Relation zwischen dem Ich und der Welt thematisieren. Entsprechende Stellen finden sich nicht nur in

66 Ebd., 613. 67 Ebd., 614. 68 Ebd., 613. 69 Die Krise als Durchgang durch „die Klamm“ ist eine der rätselhaftesten Figuren in Brochs Trilogie, auf die unter anderem Paul Celan aufmerksam wurde. Er schreibt diesen Ausdruck in eines seiner Vokabelhefte, die sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befinden. Auf diese Formulierung scheint er dann in seinem Gedicht Das NICHTS (in dem Band Zeitgehöft) anzuspielen. Mehr darüber siehe Agnieszka Hudzik, „Der verführerische Zauber der Krisen. Über Brochs literarische Strategien aus komparatistischer Perspektive“, in Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik Nr. 4.1/2014, 67–70.



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seinen Erzählungen, sondern auch in den Essays und Kommentaren. Gegen ein Prinzip der harten, fest umrissenen Form, das seiner Auffassung nach die menschliche Selbst- und Wirklichkeitswahrnehmung einschränke, polemisiert er beispielsweise in einem Brief an den Schriftsteller Stanisław Ignacy Witkiewicz alias Witkacy: „Es gibt keine toten, festen [twarde – hart, Anm. AH], begrenzten Gegenstände. Alles dringt über seine Grenzen hinaus und währt nur einen Augenblick in bestimmter Form, um sie bei erster Gelegenheit aufzugeben.“70 Wie noch zu zeigen ist, lässt sich dieser Satz auf die Konstruktion seiner Protagonisten übertragen. Tendenzen zur Verflüssigung kommen insbesondere in der Erzählung Der Komet (1938) zum Tragen. Da sie in den weiteren Teilen meiner Arbeit ausführlich besprochen wird, möchte ich an dieser Stelle nur kurz darauf eingehen. Im Mittelpunkt der Erzählung stehen Experimente, die der Vater des Ich-Erzählers durchführt; was er mit seinen Versuchen erreichen möchte, erklärt folgender Passus: „Panta rhei!“ rief er und zeichnete mit der Hand den ewigen Kreislauf der Substanz nach. Schon lange verlangte es ihn danach, die in ihr kreisenden geheimen Kräfte zu mobilisieren, ihre Festigkeit [im Original sztywność – die Steifheit, Anm. AH] zu verflüssigen und ihnen den Weg zu einer universalen Durchdringung zu bahnen, zu einer Transfusion, zu einer allumfassenden Zirkulation, die allein ihrer Natur zu eigen war. „Das principium individuationis – nichts als Unfug“, sagte er und bekundete damit seine grenzenlose Verachtung für dieses oberste aller mensch­ lichen Prinzipien. (S 310 f.)71

Programmatisch vertritt er die Auffassung, dass es in der Wirklichkeit nichts Festes und Statisches gebe. So will er denn mit seinen Experimenten vor allem eine „Lockerung fundamentaler Gesetze“ erreichen (S 319). Das Individuum vom principium indi­ viduationis zu befreien – so das erklärte Ziel einer seiner Versuche. Zu diesen Zwecken stellt sich Onkel Edward zur Verfügung, er ist bereit, sich um der Erkenntnis willen aufzuopfern: Onkel Edward hatte nichts dagegen, sich zum Wohl der Wissenschaft physisch auf das nackte Prinzip des Neef’schen Hammers reduzieren zu lassen. Klaglos ließ er die allmähliche Reduktion all seiner Eigenschaften zu, mit dem Ziel, das Innerste seines Wesens bloßzulegen, das, wie er längst bemerkt hatte, identisch mit dem erwähnten Prinzip war. (S 315)

70 Bruno Schulz, „An St. I. Witkiewicz“, in ders., Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes, 91 f. Auf Polnisch lauten diese Sätze wie folgt: „Nie ma przedmiotów martwych, twardych, ograniczonych. Wszystko dyfunduje poza swoje granice, trwa tylko na chwilę w pewnym kształcie, ażeby go przy pierwszej sposobności opuścić.“ Bruno Schulz, „List do St. I. Witkiewicza“, in ders., Opowiadania. Wybór esejów i listów, hg. v. Jerzy Jarzębski, Wrocław 1998, 476. 71 Das Zitat auf Polnisch: „Panta rei! – wołał i zaznaczał ruchem rąk wieczne krążenie substancji. Od dawna pragnął zmobilizować krążące w niej utajone siły, upłynnić jej sztywność, torować jej drogi do wszechprzenikania, do transfuzji, do wszechcyrkulacji, jedynie właściwej jej naturze. – Principium individuationis furda – mówił i wyrażał tym swą bezgraniczną pogardę dla tej naczelnej ludzkiej zasady.“ Bruno Schulz, Opowiadania, 356.

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Die meisten Interpretationen in der Forschungsliteratur konzentrieren sich auf die einprägsame Formel „Das principium individuationis – nichts als Unfug“, untersuchen Schulz’ intertextuelle Anspielungen auf die Philosophie von Friedrich Nietzsche und setzen sich damit auseinander, welche Rolle diese Referenzen spielen könnten.72 Für mich ist der Kontext dieser Aussage ausschlaggebend. Die Ablehnung des Individuationsprinzips folgt unmittelbar nach dem Aufruf zur Verflüssigung. So werden in der Erzählung zwei Subjektkonzeptionen entworfen und einander entgegengesetzt: das verflüssigte Individuum, das die festen Ordnungen lockert und von der Figur des ­Vaters verkörpert wird, und – um ein Wort Herbert Marcuses zu gebrauchen – „der eindimensionale Mensch“, der auf das positivistische Denken in seiner praktisch-­ rationalen Dimension reduziert wird. Nicht zufällig taucht hier der Neef’sche Hammer auf, der als Sinnbild für ein Prinzip der Entweder-Oder-Funktion gelten darf. Einmal in Gang gesetzt, agiert der Neef’sche Hammer mechanisch nach immer demselben Muster. Sobald der Strom zu fließen beginnt, wird der Kreis unterbrochen, worauf er sich wieder schließt, um wieder unterbrochen zu werden.73 Der Versuch mit Onkel Edward endet folgendermaßen: Mein Onkel funktionierte ausgezeichnet. Es kam nie vor, dass er den Gehorsam verweigerte. Er war der verwickelten Komplikation entkommen, in der er sich früher so oft verloren und verheddert hatte, und er hatte nun endlich die Klarheit eines einheitlichen und gradlinigen Prinzips gefunden, dem er sich fortan konstant unterordnen sollte. Auf Kosten seiner schwer zu administrierenden Vielfalt hatte er nun eine simple, unproblematische Unsterblichkeit erlangt. Ob er glücklich war? Eine müßige Frage. Diese Frage ist nur dann sinnvoll, wenn es um ein Wesen geht, das reich an Alternativen und Möglichkeiten ist, dank deren sich die herrschende Realität den halb realen Möglichkeiten gegenüberstellen und sich darin spiegeln kann. Doch Onkel Edward hatte keine Alternativen, die Gegenüberstellung „glücklich – unglücklich“ existierte für ihn nicht, weil er bis in den letzten Winkel mit sich selbst identisch war. (S 317)

Im Laufe des Experiments erlangt der Onkel einen Zustand, in dem er eine eindeutige, „steife“ Identität besitzt. Allerdings verbirgt sich dahinter kein Glücksversprechen, vielmehr ein ödes, definitiv festgelegtes Dasein, in dem kein Platz mehr bleibt für Möglichkeiten. Sein Gegenpol ist der Vater, für den keine endgültigen Formen existieren und der für die unerschöpfliche Kraft der Phantasie steht. Bevor ich genauer untersuche, wie die andere, auf der Vorstellung vom verflüssigten Subjekt beruhende Anthropologie in Schulz’ Texten zum Ausdruck kommt, möchte ich noch einmal zu Musil zurückkehren. In seinen Texten ist die bereits besprochene Verknüpfung der beiden Aspekte – die Abkehr von der einschränkenden Form und die fluide Auffassung des Individuums – deutlich zu sehen, und zwar nicht nur in den

72 Vgl. Włodzimierz Bolecki, „Principium individuationis. Motywy nietzscheańskie w twórczości Brunona Schulza“, in Teksty Drugie Nr. 5/2003, 17–33. 73 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Indust­ riegesellschaft, übers. v. Alfred Schmidt, München 2004.



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Vereinigungen (dort eher implizit), sondern ebenso in dem Roman Der Mann ohne ­Eigenschaften. Folgende Aussage über den Protagonisten Ulrich lässt sich mit den ­Postulaten des Vaters in Schulz’ Komet zusammendenken: Die Häuser daneben, die Himmelsdecke darüber, überhaupt eine unaussprechliche Übereinstimmung in allen Linien und Räumen, die den Blick aufnahmen und leiteten, das Aussehen und der Ausdruck der Leute, die unten vorbeigingen, ihre Bücher und ihre Moral, die Bäume auf der Straße …: das alles ist ja manchmal so steif wie spanische Wände und so hart wie der geschnittene Stempel einer Presse und so – man kann gar nicht anders sagen als vollständig, so vollständig und fertig, daß man ein überflüssiger Nebel daneben ist, ein ausgestoßener kleiner Atemzug, um den sich Gott weiter nicht kümmert. In diesem Augenblick wünschte er es sich, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein.74

Das Bewusstsein der Steifheit der Wirklichkeit, ihrer erdrückenden Vollständigkeit und der Unbezweifelbarkeit ihrer Regeln ist für Ulrich so beklemmend, dass er beschließt, auf seine Eigenschaften zu verzichten. Eine ähnliche Infragestellung des fest umrissenen Subjektverständnisses vollzieht sich in der Erzählung Der Komet. Und eine weitere Parallele ist zu erkennen: Ulrichs Eigenschaftslosigkeit lässt sich als ein Rückzug interpretieren, als eine Art Selbstauflösung, wobei die dezidiert passive ­Position, die er einnimmt, nicht Ausweglosigkeit bedeutet. Eine Alternative zur unerbittlichen Wirklichkeit findet er im Möglichkeitssinn – also in dem, was potenziell geschehen „könnte, sollte oder müsste“.75 Denselben Weg wählt die Figur des Vaters bei Schulz. In einer Nische des Alltäglichen, einer Sphäre, die sozusagen zur Abseite der Wirklichkeit gehört – im Kamin, zu dem er während seiner Experimente „mit halb zugekniffenen Augen [trippelt]“ (S 313) –, findet er den Spielraum für die Imagination. Die Verflüssigung der Subjekte in den Werken von Musil und Schulz ist zum einen als Abneigung zu sehen gegen alle Bestimmungen, die das Individuelle und Heterogene immer einschränken und reduzieren. Zum anderen geht sie mit der Würdigung des Schaffenspotenzials der Vorstellungskraft einher, die parallel, unabhängig und gleichberechtigt neue Welten kreieren kann. Der Wunsch nach Verflüssigung, den M ­ usils Ulrich und Schulz’ Vater äußern, antwortet auf die Vision einer Welt, die als fertig vorgegeben gelten soll und nicht als Werk im Werden, das der Einzelne mit­ gestalten kann. Während Ulrich angesichts dessen eine passive Lebenseinstellung ­entwickelt und eine Beobachterposition einnimmt, entwirft Schulz nicht eine Strategie des Rückzugs, sondern lässt seine Hauptfigur vielmehr mit einer aktiven und affirmativen Haltung reagieren. Diese Tendenz kommt einerseits im kreativen Verhalten des Vaters zum Ausdruck. Er widmet sich seinen phantasievollen Experimenten und arbeitet an den Möglichkeiten, die Materie neu zu formen, in die er „vernarrt ist“ – wie

74 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 2011, 129. 75 Ebd., 16.

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Artur Sandauer es formuliert.76 An einer anderen Stelle, in den Erzählungen über die Schneiderpuppen – enthalten in dem Band Die Zimtläden – hält der Vater blumig-­ faszinierende Reden über die Notwendigkeit einer neuen Schöpfung und entfaltet eine alternative Version der Genesis. Andererseits äußert sich die Aktivität und Affirmation der Figur des Vaters auch in seiner inneren Verfasstheit, die veränderlich ist. Die Verflüssigung betrifft sowohl seine Identität, als auch seinen Körper. Er befindet sich nämlich stets im Wandel, erlebt Metamorphosen, nimmt immer neue Formen an, von denen keine endgültig ist. Die verflüssigte Kondition des Subjekts ohne Eigenschaften wird bei Schulz als Quelle unendlicher Möglichkeiten verstanden. Mal wird der Vater zu einer Kakerlake (wie in der Erzählung Die Kakerlaken), mal zu einem Kondor (Die Vögel). Auch kann er nicht sterben, er verwandelt sich nur – in einen Krebs bzw. in einen riesigen Skorpion und geht „auf eine Wanderschaft ohne Heimkehr“ (Die letzte Flucht des Vaters, S 281). Seine Verfasstheit erinnert an die groteske Körperkonzeption und an das ­materiell-leibliche Prinzip, das Michail Bachtin auf die Menippeische Satire zurückführte und in der Volkskultur des Karnevals sowie im Schaffen von François Rabelais wiederfand.77 Die Unbestimmtheit der Figur des Vaters löst eine ganze Reihe karne­ valesker Verwandlungen aus, denen er stets affirmativ begegnet. Teils werden sie frei erfunden und durch Eigeninitiative geschaffen, wie die Selbsternennung zum Vögelkönig beim Gründen der Brutstätte für exotische Vögelgattungen auf dem Dachboden (Die Vögel), teils von der Umgebung, gleichsam durch eine Ansteckung, übernommen. In der Erzählung Die Kakerlaken wird beispielsweise dargestellt, wie der Vater unter dem Einfluss der durchs Zimmer laufenden Kakerlaken seine Gestalt verändert. Nach dem Prinzip der Mimikry passt er sich an sie an und verwandelt sich allmählich in eine Küchenschabe: Mein Vater hatte damals schon die Abwehrkraft eingebüßt, die gesunde Menschen vor der Faszination des Grauens bewahrt. Statt sich von der schrecklichen Anziehungskraft der Faszination abzugrenzen, verstrickte sich mein Vater, eine Beute des Wahnsinns, immer mehr darin. Die traurigen Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Rasch zeigten sich erste verdächtige Anzeichen, die uns mit Bestürzung und Kummer erfüllten. Das Verhalten meines Vaters hatte sich verändert. Seine Manie und seine erregte Euphorie waren erloschen. Seine Bewegungen und sein Mienenspiel verrieten mehr und mehr Anzeichen schlechten Gewissens. Er begann uns zu meiden. Den ganzen Tag über hielt er sich in Ecken, in Schränken oder unter dem Federbett versteckt. Nicht selten sah ich ihn, wie er gedankenversunken seine Hände betrachtete und die Konsistenz seiner Haut und seiner Fingernägel prüfte, auf denen sich immer wieder schwarze Flecken zeigten, schwarz glänzende Flecken, wie Kakerlakenpanzer. Tagsüber brachte er noch die Reste seiner Kraft auf und kämpfte, doch in den Nächten brach die Faszination mit aller Macht über ihn herein. Ich sah ihn spät nachts im Licht einer auf dem Fußboden stehenden

76 Artur Sandauer, „Rzeczywistość zdegradowana (Rzecz o Brunonie Schulzu)“, 32. 77 Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, hg. v. Renate Lachmann, übers. v. Gabriele Leupold, Frankfurt a. M. 1995.



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Kerze. Mein Vater lag nackt auf der Erde, übersät mit den schwarzen Flecken seines Totems, gezeichnet von den Linien seiner Rippen, dem phantastischen Muster seiner nach außen durchscheinenden Anatomie, alle Viere ausgestreckt, besessen von einer faszinierenden Aversion, die ihn ins Innerste ihrer verschlungenen Wege gezogen hatte. Mein Vater schob sich mit den vielgliedrigen, komplizierten Bewegungen eines seltsamen Rituals vorwärts, in dem ich mit Entsetzen eine Imitation des Zeremoniells der Kakerlaken erkannte. (Z 154 f.)

Das nicht festgelegte Individuum erliegt der verführerischen Ausstrahlung einer Form, die es allmählich übernimmt. Sein instabiler Zustand macht es anfällig für Reize der Außenwelt. Es ist ein Wechselspiel zwischen Anziehen und Abstoßen, von dem der Vater fast verschlungen wird, wobei sich das Gefühl der Faszination durchaus mit Aversion vermischt. Der Vater wird in Irrgänge hineingezogen, in denen der ­Abscheu in eine unheimliche Zuneigung umschlägt. Er kann keine Abwehrreaktion dagegen entwickeln, nimmt nach und nach die Lebensweise der Kakerlaken an und lässt sich von ihrem eigentümlichen Zauber verführen. Fast scheint es, als verberge sich hinter dieser Verführung ein Potenzial an latenter Gewalt. Die Anziehungskraft der Insekten ist „schrecklich“, wird als „Grauen“ bezeichnet und mit der Kategorie des Wahnsinns verglichen. Die Verwandlung vollzieht sich aber nicht eindeutig gegen den Willen des Vaters, für den die Kakerlaken eine seltsam widerwärtige Anmut ausstrahlen. Seine Verwandlung erregt auch letztlich kein großes Aufsehen. Lapidar heißt es: „Mit der Zeit gewöhnten wir uns daran“ (Z 155). Die Änderung seines Zustands ist schlicht die nächste Metamorphose in einer Reihe von Verwandlungen, die er durchläuft. Dieses Beispiel sollte aber nicht zeigen, dass das andere Subjektverständnis in Schulz’ Erzählungen auf Metamorphosen zurückzuführen ist. Diese zählen nämlich zu den altbekannten Motiven in der Literaturgeschichte – man denke nur an das gleichnamige Werk von Ovid, in dem ein Reigen mythischer Verwandlungen dargestellt wird, die einmal als Privileg der Götter, einmal als Bestrafung des Menschen an­ zusehen sind. In der Forschung versuchte man Metamorphoseon libri psychologisch neu zu interpretieren: Man sah darin, außer naturreligiösen Botschaften, die auf die ­vorsokratische Vorstellung von der ständigen Veränderbarkeit aller Dinge und den Glauben an die Metempsychose rekurrieren, auch einen „Ausdruck schwankender und gespaltener Identität“.78 Das Ich, so der Deutungsansatz, kristallisiere sich in den Konflikten und Spannungen zwischen den tierischen Trieben und dem Bewusstsein heraus. Es wäre aber unangemessen, nun den Schluss zu ziehen, dass in dem antiken Werk bereits die moderne Auffassung des Individuums und die Infragestellung seiner Einheit präfiguriert werde. Das Verwandlungsmotiv in den Metamorphosen führt eher die Unveränderlichkeit der menschlichen Natur vor, die dem Machtstreben und der

78 Niklas Holzberg, „Einführung“, in Ovid, Metamorphosen, übers. v. Erich Rösch, München 2010, 20.

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sexuellen Leidenschaft unterworfen ist.79 Solch eine Konstante lässt sich wiederum in Schulz’ Erzählungen nicht finden. Hinter der fluktuierenden Verfasstheit seiner Subjekte verbergen sich keine festen Wesensmerkmale, was zunächst in der Rezeption auch auf Kritik stieß. Die erste Phase der Schulz-Rezeption in der Vorkriegszeit war von skeptischen Stimmen geprägt, zu ihnen gehörten etwa Stefan Napierski und K ­ azimierz Wyka. Die beiden Literaturwissenschaftler warfen Schulz die anachronis­ tische Sprache und einen „Antihumanismus“ vor.80 Damit meinten sie das Moment der Reifizierung in seiner Prosa und die Tendenz, dass seine Figuren im Laufe der ­Verwandlungen auf ihre Physiologie reduziert werden, was im Hinblick auf den sich damals entwickelnden faschistischen Diskurs der Eugenik gewisses Unbehagen erweckte. Gegen diesen Vorwurf polemisierten später immer wieder weitere Genera­ tionen von Schulz-Interpreten, sie verwiesen auf seine historische Kontextualisierung und deuteten die vermeintlichen Kritikpunkte als Komponenten des anderen Subjektverständnisses – der neuen Anthropologie. Die Werke von Schulz seien nicht anti­ humanistisch, sondern repräsentierten die in der Moderne verbreitete Sichtweise auf den Menschen, dessen Identität nicht mehr als unhinterfragbar festgeschriebene Größe gelten könne.81 In den Metamorphosen der Figuren von Schulz kommt es jedoch nicht nur auf die Strategie der Verflüssigung an. So wie in den Werken von Musil und Broch die Entropie um das Motiv der Verdichtung und Enge ergänzt wurde, taucht auch in den Erzählungen von Schulz ein zusätzliches Element auf, das die Kondition des modernen Subjekts zum Ausdruck bringt. In der zuvor erwähnten Erzählung über die Verwandlung des Vaters in eine Kakerlake fällt das exotische Vokabular ins Auge. Der Vater weist beispielsweise, wie schon erwähnt, nach und nach die „schwarzen Flecken seines ­Totems“ auf. Die Anspielungen auf die Lebenswelt der Naturvölker werden noch deutlicher in der folgenden Beschreibung seines Verhaltens: Ach, dieser wilde, panische Wahnsinn, mit glänzendem schwarzen Strich auf die Tafel des Fußbodens geschrieben! Ach, diese Entsetzensschreie meines Vaters, der mit einem Wurfspieß in der Hand von einem Stuhl zum nächsten sprang! Mein Vater war völlig verwildert […]. Mit einem wilden Aufschrei sprang er plötzlich von seinem Sitz, raste blindlings in eine Zimmerecke – und schon hob er den Wurfspieß, an dem eine riesige Kakerlake steckte, die verzweifelt mit dem Gewirr ihrer Beine in der Luft zappelte. Dann kam Adela dem Schreckensbleichen zu Hilfe, nahm ihm die Lanze samt aufgespießter Trophäe ab, um diese in einem Kübel zu ertränken. (Z 153 f.)

Die Wildnis, der Wurfspieß, die Jagd, mit einer Trophäe gekrönt, das Sichhinein­ versetzen in die Kakerlaken nach dem Gesetz der Partizipation – eine Szene, die an

79 Vgl. ebd., 24. 80 Stefan Napierski u. Kazimierz Wyka, „Dwugłos o Schulzu“, 153–163. 81 Vgl. Michał P. Markowski, Powszechna rozwiązłość, 143–186



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Fotografien der ersten ethnologischen Expeditionen denken lässt.82 Die Exotisierung des Umfelds scheint in der Erzählung die Funktion einer Projektionsfläche für die Verflüssigungsphantasien des Protagonisten zu haben. Um ihre weiteren Bedeu­ tungen zu entschlüsseln und das Assoziationsfeld zu erweitern, möchte ich einen Text erwähnen, in dem gleichfalls Momente des Exotischen – koloniale Phantasmata des Urtümlichen – dazu dienen, die Kategorie der Identität zu hinterfragen, und auch hier vollzieht sich ein Verlust der Eigenschaften. Ich denke an den Roman Macunaíma: Der Held ohne jeden Charakter des brasilianischen Schriftstellers Mário de Andrade (1893–1945). Diese Zusammenstellung mag auf den ersten Blick selbst etwas exotisch wirken, doch lassen sich zwischen Schulz und de Andrade Parallelen erkennen, die neues Licht auf die Darstellungsweise des Subjekts in Schulz’ Erzählungen werfen können. Der 1928 veröffentlichte Roman von de Andrade – er gilt als Höhepunkt der Strömung Modernismo Brasileiro – entstand in der Zeit, da sich die brasilianische Literatur mit ihrer Selbstbestimmung auseinandersetzte. Man versuchte sich von der portugiesischen Literaturtradition zu distanzieren, reflektierte intensiv das Wesen des Brasi­ lientums bzw. man schickte sich an, es überhaupt erst zu kreieren. Daher war man vor allem am von den europäischen Besatzern verdrängten Kulturerbe vor der KonquistaZeit interessiert, an den Zivilisationen der autochtonen Bevölkerung. Von diesem ­Interesse an volkstümlichen Elementen, an Mythen und Legenden, Riten und Bräuchen der Naturvölker ist auch der Roman von de Andrade stark geprägt, obwohl die

82 Dorota Wojda untersuchte Schulz’ Prosa im Kontext postkolonialer Theorie. Sie widmete sich dem Aspekt des kulturellen Grenzgebietes, insbesondere dem Mythos von den „Kresy“ (Ostpolen); in ihrer Interpretation wendet sie Begriffe an wie Hybridität, Mimikry und Palimpsest. Dorota Wojda, „Schulzowskie reprezentacje pogranicza kulturowego w perspektywie postkolonialnej“, in Teksty Drugie Nr. 4/2007, 233–247. Es wäre lohnenswert, Schulz’ Schaffen in Zusammenhang mit den ethnologischen Untersuchungen und Kulturtheorien seiner Zeit zu lesen, für die er sich interessierte. Vgl. die fragmentarisch erhaltenen Notizen zu seinem Vortrag Cywilizacje pierwotne i cywilizacje pochod­ ne [Die primären und sekundären Zivilisationen], in denen er sich explizit auf die Kunstphilosophie von Hippolyte Taine bezieht: Bruno Schulz, „Cywilizacje pierwotne i cyw.[ilizacje] pochodne“, in ders., Szkice krytyczne, hg. v. Małgorzata Kitowska-Łysiak, Lublin 2000, 128. Diese Lektüre könnte in komparatistischer Perspektive besonders ergiebig sein, wenn man etwa zum Vergleich Texte von Witkacy und Gombrowicz einbezöge. Witkacy war mit Bronisław Malinowski befreundet – einem der Begründer der ethnographischen Feldforschung –, die Erfahrungen einer gemeinsam unternommenen Reise nach Ceylon (1914) schlugen sich auch in Witkacys Werk nieder (tropische Exotik findet sich sowohl in seiner Prosa als auch in seinen Zeichnungen). Gombrowicz wiederum thematisierte aus der Perspektive seines argentinischen Exils die Distanzierung von der europäischen Zivilisation, die er in ihrer selbstbewussten Behauptung der Vollkommenheit und ihren kolonialen Ansprüchen als bedrängende Lebensform ansah, aus der er Auswege suchte in die erlösende Unvollständigkeit und Unreife außereuropäischer Zivilisationen. In der Wendung „Europa erbrechen“ spitzte er seine Skepsis in markanter Weise zu; mehr dazu in seiner Erzählung Die Begebenheiten auf der Brigg Ban­ bury (1932) im Band Bacacay, vgl. weiterhin Maria Janion, Żyjąc, tracimy życie: Niepokojące tematy egzystencji, Warszawa 2001, 127–130.

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Erkundung der Folklore nicht sein Hauptthema ist. Diese denkt sich der Autor im ­Übrigen auch teilweise aus oder übernimmt sie – Ironie der Kolonialgeschichte – aus den Überlieferungen europäischer Ethnologen, hauptsächlich aus den Werken des deutschen Forschers Theodor Koch-Grünberg.83 Die besondere Form und Sprache verleihen dem Roman sein eigenes Gepräge. Der Text ist parodistisch, selbstironisch und erinnert mit seinem Balancieren an der Grenze zum Derben und Vulgären an Rabelais’ Gargantua und Pantagruel. Die Titelfigur Macunaíma wird zwar als „Held unseres Volksstamms“ vorgestellt, doch bleibt die Frage, was ihn eigentlich zum Helden mache, offen. Wie im Untertitel des Romans angedeutet, besitzt er keine bestimmten Charaktereigenschaften, denn sein Zustand verändert sich permanent. Wie in einem balladenhaften Epos erlebt er zahlreiche Abenteuer und wechselt dabei beliebig das Alter, die Gestalt und sogar die Hautfarbe. Der erzählten Geschichte werden von vornherein mythische Züge verliehen. Der Roman beginnt mit dem schlichten Satz: „Tief im Urwald wurde Macunaíma geboren.“84 Der märchenhafte Anfang, in dem die Verbindung des Protagonisten zur Natur hervorgehoben wird, verschiebt die Abenteuer des Helden in die Sphäre des Mythos. Zum einen sind die Zeit sowie der Ort der Handlung wie in jeder Legende, schwer zu bestimmen, zum anderen werden sie in die modernen Realien eingebettet – wie in den Werken des magischen Realismus, dessen Wegbereiter nicht zuletzt auch de Andrade war. Im Roman verschmilzt das Mythische, afro-brasilianische Riten, Götter und Kulte, mit der Gegenwart – mit der gesellschaftshistorischen Situation in Brasilien der 1920er Jahre. In einem Abschnitt wird beispielsweise parallel über die magische Kraft der Talismane und über das großstädtische Leben in der Metropole São Paulo gesprochen. Die Selbstverständlichkeit der Verwandlungen der Titelfigur und ihr Hineinfließen in immer neue Gestalten ähnelt den Metamorphosen des Vaters in Schulz’ Erzählungen. Beide Texte scheinen an die Tradition des mündlichen Erzählens bzw. an literarische Formen anzuknüpfen, denen der mündliche Vortrag zugrunde liegt. Vor allem lassen sich in beiden Werken die Merkmale der Rhapsodie wiederfinden. Wie in der altgriechischen Gattung der epischen Dichtung gibt es auch in der Prosa von de Andrade und Schulz keine lineare Handlung. Die Abenteuer der Protagonisten werden stattdessen lose miteinander verbunden. Außerdem kommen in den Texten phantastische und volksliedhafte Elemente vor, viele Motive und Figuren wiederholen sich, denn die rhythmische, musikalische Dimension der Sprache spielt – ähnlich wie im Schaffen der hellenischen Wandersänger – eine eminente Rolle.85

83 Curt Meyer-Clason, „Nachwort“, in Mário de Andrade, Macunaíma: Der Held ohne jeden Charak­ ter, übers. v. Curt Meyer-Clason, Frankfurt a. M. 1982, 172. 84 Mário de Andrade, Macunaíma, 7. 85 Die Rhapsodie als Gattung wird an einer Stelle in Schulz’ Erzählung Edzio explizit genannt: „Es ist eigentlich eine einzige, große Geschichte, die aus einzelnen Partien, Kapiteln und Rhapsodien besteht, und die unter den Schlafenden aufgeteilt ist. Sobald der eine aufhört und verstummt, nimmt der nächste seinen Faden auf, und so geht diese Erzählung immer weiter, während die Schlafenden



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In Schulz’ Erzählungen herrscht eine ähnlich mythisch-realistische Stimmung wie in Macunaíma.86 Trotz der phantastischen Verwandlungen agiert der Vater weiterhin im Alltagsleben, kümmert sich um seinen Tuchladen. Auf die Ambivalenz des Vaters zwischen realer Welt und Traumwelt weist die Feststellung des Ich-Erzählers in der Erzählung Die Kakerlaken hin, der sich selbst nicht mehr sicher ist, ob er die Abenteuer des Vaters wie Legenden vom Hörensagen kennt, oder ob er sie miterlebt hat: „Schon ­damals hätte ich jedoch nicht sagen können, ob mir Adela mit ihren Erzählungen diese Bilder eingeflüstert hatte, oder ob ich selbst Zeuge davon gewesen war“ (Z 154). Festzuhalten bleibt, dass sich Schulz und de Andrade gleichermaßen an neuen Konzep­ tionen des modernen Mythos interessiert zeigen und versuchen diese mit der Gegenwart zu verbinden. Auch die andere Subjektauffassung ist ihren Werken gemeinsam. Ähnlich wie im Roman Macunaíma verbindet sich auch in Schulz’ Erzählungen der nicht festgelegte, verflüssigte Zustand des Protagonisten – sein Mangel an Eigenschaften – mit einer Faszination für die Welt der Naturvölker. Beide Autoren spielen bei der Konstruktion ihrer Figuren auf phantasmagorische Vorstellungen vom Ursprüng­ lichen, Naturhaften und Einfachen an. Zu bedenken bleibt jedoch, dass der Protagonist Macunaíma bei de Andrade vor allem im Kontext der damaligen politischen Debatten und der Reflexion über das brasilianische Narrativ betrachtet werden muss. Der Roman setzt sich mit dem Nationaldiskurs eines Staates auseinander, der im Entstehungsjahr dieses Textes noch relativ jung gewesen ist – Brasilien erlangte seine Unabhängigkeit im Jahr 1822. Die verflüssigte Verfasstheit der Romanfigur steht für das Unterminieren und Dekonstruieren der nationalen Mythen und zeigt somit die Grundlosigkeit und den Vertragscharakter solcher Konstrukte. Die Metamorphosen von Macunaíma symbolisieren das „brasilianische Wesen“: die Bevölkerung Brasiliens, ihre historisch begründete Mannigfaltigkeit und Differenziertheit. Die Figur des Helden, der keine Charaktereigenschaften besitzt und sich nicht bestimmen lässt, betont, dass solche aus der europäischen Ideengeschichte entnommenen Begriffe wie Nation oder Rasse unübersetzbar sind und der postkolonialen Wirklichkeit nicht entsprechen. Das brasilianische Volk lässt sich mithilfe dieser Kategorien nicht definieren – seine Zusammengehörigkeit verlangt eine neue Sprache und neue Darstellungsmittel. Während die Verflüssigung des Subjekts und seine exotisierende Schilderung bei de Andrade eine politische Aussage erkennen lassen, haben diese Aspekte bei Schulz eine andere Bedeutung. In seinen Texten dienen die exotischen Elemente zur

reglos wie Mohnkörner in den Fächern einer riesigen, stillen Kapsel, in den Zimmern des Hauses liegen und auf diesem Atmen in breitem, epischem Zickzack der Morgenröte entgegen wachsen“ (S 244). 86 Zum Thema Bruno Schulz und der magische Realismus vgl. Dorota Wojda, „Bruno Schulz and the Magical Realism of Gabriel García Márquez in One Hundred Years of Solitude“, in Dieter de Bruyn u. Kris Van Heuckelom (Hg.), (Un)masking Bruno Schulz, 173–193. Henryk Siewierski, „Gdzie ‚wszystko dyfunduje poza swoje granice‘: Bruno Schulz i realizm magiczny“, in Wiera Meniok (Hg.), Bruno Schulz jako filozof i teoretyk literatury, 135–144.

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Selbstentfremdung des Individuums und zur Hinterfragung seiner Identität. Im Übrigen kommen sie in den Erzählungen erstaunlich häufig vor. Man denke nur an die exotischen Vogelarten, die der Vater aus „Hamburg, Holland oder afrikanischen zoo­ logischen Warten“ bestellt und auf dem Dachboden unterbringt (Z 43). Oder an die ­legendären Zimtläden, die „nach dem Aroma ferner Länder und seltener Materialien“ dufteten und in denen man die ganze Palette der Kolonialwaren finden konnte (Z 114). In solchen exotischen Einschüben schwingen aber nicht nur nostalgische Töne – an einer anderen Stelle klingen darin auch eine latente Bedrohung von Seiten der Umgebung sowie ein Moment des Überdrusses an. Der Ich-Erzähler beklagt beispielsweise den Übermaß an Reizen, den er „den tropischen Stil“ nennt: „So ist es, dieser Stil war eigentlich von Grund auf ungeheuer abstoßend – er war liederlich, raffiniert, tropisch und unerhört zynisch“ (S 90). Die Verbindung der Exotik mit der Ästhetisierung des Fremden könnte man auf den ersten Blick als unkritische Übernahme des kolonialen Denkens verstehen. Sicherlich stehen diese Motive auch in Schulz’ Werk in engem Zusammenhang mit den zu seinen Lebzeiten intensiv sich entwickelnden ethnologischen Forschungen. Doch wäre es zu einfach, diese Momente auf ornamentales Beiwerk reduzieren zu wollen, vielmehr scheinen sie wesentlich zur Strategie der Verflüssigung zu gehören, als Ausdrucksmittel der anderen Anthropologie. Diese Funktion lässt sich mit einem Zitat aus der Erzählung Der Frühling illustrieren. Als der Ich-Erzähler im Briefmarkenalbum ­seines Freundes blättert, entfaltet sich folgende exotische Assoziationskette: Mit der Briefmarkenmappe in der Hand las ich diesen Frühling. War sie denn nicht der große Kommentar dieser Zeit, die Grammatik der Tage und Nächte? Dieser Frühling deklinierte sich durch sämtliche Kolumbiens, Costa Ricas und Venezuelas, denn Mexiko, Ecuador oder Sierra Leone ist ja im Wesentlichen nichts anderes als ein erdachtes Spezifikum, eine Verschärfung des Weltgeschmacks, ein auserlesenes und äußerstes Extrem, eine Sackgasse des Aromas, in die sich die Welt verrannt hat, bei ihrem Versuch, an ihre Grenzen zu stoßen und auf allen Tasten gleichzeitig zu spielen. Man darf nicht – wie Alexander der Große – die Hauptsache vergessen: Kein Mexiko ist endgültig, es ist ein Übergangsort, der über die Welt hinausgeht, hinter jedem Mexiko eröffnet sich ein neues Mexiko, in noch leuchtenderen Farben – in Überfarben und Über­aromen … (S 83)

Wir finden in dieser Textpassage die für Schulz so typischen Häufungen von Bildern und Motiven, es ist gleichsam ein Zustand der Ekstase, dem die mäandrierenden Gedanken entspringen. Die Aufzählung der fernen Länder dient dem Ich-Erzähler als Projektionsfläche seiner Verfasstheit und als Extension seines Selbst. Die Länder, die er aufzählt, sind ehemalige Kolonien. Auch Spanien oder Portugal könnten exotisch wirken, doch der Fokus auf Länder mit kolonialer Vergangenheit versinnbildlicht weit deutlicher noch die Dezentrierung und Entmachtung des Ichs. Andere Kontinente ­ermöglichen eine andere Imagination: Der Erzähler versetzt sich in eine weite Ferne, abseits vom Zentrum seiner Identität. Die tropischen Gebiete sind wie Übergangsorte, die ihm neue Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung und neue sinnliche Erfahrungsbereiche erschließen wie Farben oder Aromen.



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Zur Frage, warum bei Schulz die Hinterfragung und Erweiterung des Ichs mit Exotik in Verbindung gebracht wird, möchte ich abschließend folgenden Gedanken anführen, den Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrer Abhandlung Was ist Philosophie? (1991) formulieren: Artaud sagte: Schreiben für die Analphabeten – sprechen für die Aphasiker, denken für die Azephalen. Freilich, was bedeutet „für“? Nicht „zugunsten von …“, nicht einmal „an Stelle von …“. Es bedeutet „vor“. Es ist eine Frage des Werdens. Der Denker ist kein Azephaler, Aphasiker oder Analphabet, aber er wird es. Er wird Indianer, hört nicht auf, es zu werden, vielleicht „damit“ der Indianer, der Indianer ist, selbst etwas anderes wird und sich aus seiner Agonie herausreißt. Man denkt und schreibt für die Tiere selbst. Man wird Tier, damit das Tier etwas anderes wird.87

Diese Passage ist ohne Frage als Huldigung an die transgressive Kraft der Philosophie zu sehen, die imstande ist, den Ausgeschlossenen und Verdrängten eine Stimme zu geben. Zugleich scheint sie auch die hier analysierte andere Anthropologie auf den Punkt zu bringen. Die andere Auffassung des Ichs in der Prosa der Moderne besteht nicht zuletzt darin, sich das Subjekt als den Anderen, als den Fremden vorzustellen. Auf diese Weise wäre auch die Exotik in Schulz’ Erzählungen zu deuten und sozusagen zu rechtfertigen. Das Exotische wird dem Individuum nicht gegenübergestellt, sondern ist ein Teil von ihm. In der erwähnten Erzählung Der Frühling wird der Ich-Erzähler, der in seiner Stadt auffällige Gäste bemerkt – „Mohren, Mohren, jede Menge Mohren in der Stadt! […] Dieser Frühling ist von Mohren durchsetzt“ (S 115) –, mit eben diesen Fremden gleichgesetzt: „Dann wirst du zu einem von ihnen, zu einem dieser schwarzen Mohren“ (S 125). Der Exot wird also nicht als sauvage, als Wilder oder Fremder, aus der Distanz und von einer überlegenen Warte aus betrachtet. Vielmehr kann das ­europäische Ich ohne Weiteres ein „Mohr“ werden, oder auch – um die Anspielung auf Kafka im Zitat aufzugreifen – Indianer88 oder Chinese89.

87 Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übers. v. Bernd Schwibs u. Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1996, 127. 88 Vgl. Franz Kafka, „Wunsch, Indianer zu werden“, in ders., Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. v. Roger Hermes, Frankfurt a. M. 2008, 7. Der Indianer scheint um diese Zeit eine symptomatische Figur in der Reflexion über die europäische Identität zu sein. Er taucht beispielsweise auch bei Edmund Husserl auf. Edmund Husserl, Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philo­ sophie, hg. v. Bernhard Waldenfels, Hamburg 2012, 26. 89 Auf das Motiv des Chinesen bei Kafka und seine Leidenschaft für chinesische Literatur macht unter anderem Elias Canetti aufmerksam, in dessen Roman Die Blendung der Protagonist ein bibliophiler Professor der Sinologie ist. Elias Canetti, „Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice“, in ders., Das Gewissen der Worte, Frankfurt a. M. 1998, 146 u. 149. Er zitiert dort die bekannte Stelle aus Kafkas Brief an Felice Bauer vom 15. Mai 1916: „Marienbad ist unbegreiflich schön. […] Ich denke, wenn ich ein Chinese wäre und gleich nach Hause fahren würde (im Grunde bin ich ja Chinese und fahre nach Hause), müsste ich es doch bald erzwingen, wieder herzukommen. Wie würde es Dir gefallen!“ Zum Motiv des Chinesen bei Kafka als Antisemitismus-Chiffre siehe Mirjam Triendl-Zadoff, Nächstes Jahr in Marienbad: Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne, Göttingen 2007, 80 f.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

Das Spiel mit exotischen Elementen erweist sich somit als eine weitere Strategie der Darstellung des anderen Subjektverständnisses. Unabhängig davon, ob das Subjekt in der Prosa der Moderne „in der Klamm“ oder im Kontext der Tropen dargestellt wird, handelt es sich um ein dynamisches Verständnis. Das Individuum befindet sich in einem Prozess des Werdens, der auf Transgression und Überschreitung der Grenzen und Schwellen der Identität abzielt.

2.2 Verführung als alternative Wissensform Der folgende Teil widmet sich der Kategorie der Verführung im Kontext der Auffassung vom Wissen im Schaffen von Bruno Schulz. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Beobachtung, dass die Verführung in seinen Texten auf den ersten Blick der Ratio entgegengesetzt wird. In der Erzählung Der Komet, die zu seinen letzten, verstreuten Werken gehört und erstmals 1938 in der Zeitschrift Wiadomości Literackie erschien, ist dies jedoch nicht der Fall. Da diese Erzählung zum Spätwerk des Autors zu rechnen ist, darf sicher von einer besonders reifen und subtil ausgearbeiteten ­Wissenskonzeption gesprochen werden. Deren wesentlicher Bestandteil wiederum ist die Verführung. Faszinierende Anziehungskraft gilt – in Verbindung mit Sinnlichkeit und Irrationalität – häufig als Merkmal dessen, was scheinbar im Gegensatz zum Wissen steht. In der Erzählung Der Komet spielt Schulz ironisch mit dieser geläufigen Zuschreibung. Er versucht die Gegenüberstellung von Wissen und Unwissenheit kritisch zu hinterfragen, indem er sich der Kategorie der Verführung als epistemologischer Metapher für ein alternatives Wissensmodell bedient. Dabei zielt er darauf ab, die verdrängten verführerischen Denkblockaden aufzuwerten und diese in den modernen Wissensund Wissenschaftsbegriff zu integrieren. Das folgende Unterkapitel ist in drei Teile gegliedert. Zunächst möchte ich das Motiv der Verführung bei Schulz mit der Verwendung dieser Kategorie in der wissenschaftstheoretischen Denktradition seiner Zeit vergleichen, die ich exemplarisch ­anhand der Studie Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes (1938) von Gaston B ­ achelard analysiere. Dann werden die Anspielungen auf das Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitete und von der Kunst intensiv benutzte Bilderrepertoire der Alchemie bzw. deren vereinfachende, in der Öffentlichkeit kursierende Interpretation untersucht, die im Text als Beispiel für andere Formen des Wissens dienen. Die Bezugnahmen auf den alchemistischen Vorstellungskomplex sind Austragungsfeld der Reflexion über die Beziehungen zwischen Verführung und Wissen. Im letzten Teil versuche ich Schulz’ Wissenskonzeption im Kontext der Epoche zu betrachten und zu deuten.



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2.2.1 Zum Verhältnis von Verführung und Ratio Das Hauptthema der Erzählung Der Komet ist die Konfrontation der Moderne – hier verstanden als positivistischer Fortschrittsgedanke und wissenschaftliche Erkenntnis – mit der Tradition und dem Glauben an das, was dem rationalen Denken unzugänglich bleibt. Diese Dichotomie scheint ein wiederkehrendes Motiv im Schaffen von Bruno Schulz zu sein, das sich konsequent durch sein Gesamtwerk zieht – sowohl durch das literarische als auch durch sein graphisches Werk. Dieselbe Gegenüberstellung ist etwa auch auf seinem Bild Eine Begegnung zu sehen – dem einzigen Öl­gemälde, das nach den Wirren des Zweiten Weltkriegs, neben zahlreichen Kohlezeichnungen und dem Zyklus von Glasklischeedrucken – dem Götzenbuch (Xięga bałwochwalcza) – erhalten blieb.90 Darauf ist ein junger Chassid im schwarzen Kaftan zu sehen, der sich vor zwei elegant und städtisch bekleideten Damen vorbeugt. Mit einer von ihnen wechselt er Blicke, die andere Frau schaut auffordernd in Richtung des Betrachters und bezieht diesen sozusagen in das elektrisierende Spannungsfeld mit ein. In Der Komet kommt diese Kombination von Gegensätzen noch deutlicher zum Ausdruck. Den Handlungsstrang der Erzählung determiniert das im Titel angekündigte Ereignis – der Einschlag eines Kometen, was verheerende Folgen haben könnte. ­Dieses Geschehen ist schon in seiner Semantik doppeldeutig. Es verbindet traditionelle, apokalyptisch-mythische Vorstellungen vom Weltende mit Parametern der Wissenschaft, kann sowohl im Rahmen astronomischen Wissens als auch im Register astrologischer Spekulation betrachtet werden. Das Sujet bietet also überaus ergiebigen Anlass zu einer Auseinandersetzung mit binären Einordnungen. Die Erzählung beginnt allerdings nicht unmittelbar mit der Nachricht von dem herabstürzenden Himmelskörper, sondern mit der Beschreibung bestimmter Ver­ änderungen, die in dem galizischen Städtchen – dem festen Schauplatz von Schulz’ Prosa – vor sich gehen. Die neuesten Erfindungen der Mechanik und Elektrizität sind eingetroffen, rasch verbreiten sich „Wunder der Technik“ (S 309) wie Feuerzeuge, ­Velozipede, Zwei- und Dreiräder, mechanische Musikschatullen, Spieldosen, elektrische Klingeln – und lösen glühende Begeisterung aus. Im Stil von Theateraufführungen werden in Salons vor fasziniertem Publikum die ersten Versuche mit elektrischem Strom demonstriert. Nur der Vater des Ich-Erzählers bleibt den Neuigkeiten gegenüber kritisch und schlägt eigene, alternative Experimente vor, mit denen er zugleich sein philosophisches Programm bzw. seine esoterische Anschauung präsentiert. Wie bereits erwähnt, taucht die Opposition zwischen geheimer Lehre und modernem Wissen in mehreren Erzählungen von Schulz auf. Dabei wird dem Wissen, das sich gegen die fortschrittliche Rationalität wendet, häufig eine besondere Verführungskraft zugeschrieben, so etwa in der durchkomponierten Folge von insgesamt vier

90 Die Veröffentlichungen mit Schulz’ Zeichnungen: Bruno Schulz, Księga obrazów, hg. v. Jerzy ­Ficowski, Gdańsk 2012. Bruno Schulz, Das graphische Werk, München 2000.

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Erzählungen über die Schneidepuppen in dem Band Die Zimtläden, wo ebenfalls der Vater als zentrale Figur auftritt. Dort experimentiert er jedoch nicht, sondern ergeht sich in quasi theologisch-philosophischen Reden über die Materie und ihr Schöpfungspotenzial. Er möchte seine eigene Kosmologie entwickeln und dabei, so scheint es, die Schneiderinnen verführen. Sie zeigen sich von dem Redner zunächst auch beeindruckt. Er kommt ihnen wie ein „metaphysischer Prestidigitateur“ vor, sein Monologisieren wird als „brillante Gaukelei“ oder „souveräne Magie“ bezeichnet (Z 50). Das Verhalten des Vaters wird aber nicht nur als unterhaltsame Performance oder Spielerei wahrgenommen. Seine Äußerungen haben noch eine weitere Dimension: „Unser Häresiarch wandelte wie ein Magnetiseur inmitten der Dinge, steckte sie an und verführte sie mit seinem gefährlichen Zauber“ (Z 62). In diesem Satz sind zwei Aspekte wichtig. Der Vater wird zunächst als Ketzer bezeichnet, unmittelbar danach ist von seiner unwiderstehlichen Anziehungskraft die Rede. Hier scheint ein Kausalzusammenhang zu bestehen. Seine Anschauungen stellen die offiziellen Lehren infrage – und eben darin liegt ihr verführerischer Reiz. Die Reden des Vaters sind imstande, die Umgebung zu entflammen, selbst die Gegenstände bleiben nicht gleichgültig ihm gegenüber, sie ­lassen sich von seinen Ideen anstecken. Das Häretische an diesen Anschauungen besteht nicht nur darin, dass sie zu einer neuen Formung der Welt nach dem Prinzip der Unvollkommenheit – symbolisiert vom Torso der Schneiderpuppen – aufrufen und somit gegen die Schöpfungsgeschichte polemisieren.91 Sie richten sich auch offensiv gegen das doktrinäre Wissen. Die Gedanken des Vaters werden in drei einzelnen Abschnitten ausgeführt: Traktat über die Schneiderpuppen oder Das zweite Buch Genesis; Traktat über die Schneiderpuppen. Fortsetzung; Traktat über die Schneiderpuppen. Schluss. Die Bezeichnung „Traktat“, zusätzlich hervorgehoben durch die Ergänzungen „Fortsetzung“ und „Schluss“, lässt an den Aufbau einer klaren Argumentationsführung denken, wie man sie etwa aus scholastischen Schriften kennt. Im ekstatischen Monolog des Vaters aber ist davon wenig zu finden, die Bezeichnung „Traktat“ erweist sich als ironisch. Seine Rede ist

91 Das Wort „Schneiderpuppen“ (auf Polnisch manekiny) steht programmatisch für die Neuübersetzung der Erzählungen von Doreen Daume. In der alten Übertragung von Josef Hahn aus den 1960er Jahren wurde dieses Substantiv mit „Mannequins“ wiedergegeben, das heutzutage – wie Daume in ihrem Nachwort bemerkt – seine Bedeutung gewandelt hat und veraltet klingt. Mit Mannequins ­assoziiert man vor allem Modepuppen aus Kunststoff, die in den Schaufenstern von Konfektions­ geschäften stehen; das Wort „Schneiderpuppen“ verweist auf die im Schneidergewerbe benutzten Torsi aus Stoff, die auf einem Ständer aus Holz befestigt sind. Solche „Schneiderpuppen“ sind auch auf dem Umschlag der gebundenen Ausgabe der Neuübersetzung zu sehen. Der Torso – ohne Kopf und Gliedmaßen – steht bei Schulz für die ketzerische, unvollkommene Demiurgie, die „zweite Genesis“. Doreen Daume, „Nachwort. ‚Eine Brücke ins Ausland‘“, in Bruno Schulz, Die Zimtläden, 201–224. Vgl. Benjamin Voelkel, Poetik und Strategie der Übersetzung von Bruno Schulz’ „Die Zimtläden“: Eine vergleichende Analyse der Übersetzungen von Josef Hahn und Doreen Daume, Berlin 2010, unveröffentlichte Magisterarbeit Humboldt-Universität zu Berlin.



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vielmehr verworren und mysteriös – nicht zu vergleichen mit strukturierten wissenschaftlichen Abhandlungen. Die väterliche Lehre ist demnach häretisch in doppeltem Sinne: Sie verstößt sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Präsentationsform gegen die dogmatischen Wissensordnungen. Unabhängig von der Lesart der Ausführungen des Vaters – ob man darin nach einem tieferen Sinn, nach mystischen und kabba­ listischen Anspielungen sucht oder ob man sie lediglich als Ironie und rhetorisches Spiel betrachten möchte – liegen ihnen die Irritation und Ablehnung der gängigen Logik rationalistischer Denkschemata zugrunde. Eben dieser Duktus übt die an­ ziehende Wirkung aus. Dieselbe Gegenüberstellung – das Wissen der Verführung kontra rationalistische Moderne – ist auch in der Erzählung Die Krokodilstraße zu finden. Einerseits ruft der im Titel genannte Straßenname unter den Einwohnern des Städtchens Entsetzen hervor. Die Krokodilstraße ist eine von Gewinn- und Spekuliersucht geprägte Gegend mit schlechtem Ruf, die großstädtische Modernität und Verderbtheit verkörpert. Sie ist „ein parasitäres Viertel“, in dem sich „die modernen nüchternen Formen des Kommerzialismus“ entwickeln (Z 131). Andererseits besitzt sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft, für die sich keine Erklärung findet. Alle, die sich dorthin begeben, sind sich darüber im Klaren, dass dieser Bezirk einen unechten Charakter hat, dass er ­Fotografien von Großstädten in Illustrierten nachahmt, nur eine Schauspielerei, „eine improvisierte Maskerade“ ist, und dennoch können die Menschen der Verführungskraft nicht widerstehen: „Wider besseres Wissen fühlen wir uns vom faulen Zauber des Viertels angezogen“ (Z 139).92 Was verführt, steht in Opposition zur Vernunft und ist zugleich von der Aura der Sünde umgeben. Die Krokodilstraße steht für das Profane und die Versuchungen der Sinnlichkeit, die Reize des Körpers. Ein Besuch in dieser Gegend kommt dem moralischen Verfall gleich: „Das träge und liederliche Fluidum der Sünde schwebt über dem ganzen Viertel“ (Z 146). Oder an einer anderen Stelle: „Doch an den Tagen des Niedergangs, in Stunden der niedrigen Verlockung kam es vor, dass sich der eine oder andere Stadtbewohner halb zufällig in die zweifelhafte ­Gegend verirrte“ (Z 133). Doch ist die Anziehungskraft bei Schulz nicht nur ein Attribut des Niederen, Profanen und Liederlichen. Im Gegensatz zur Krokodilstraße versinnbildlichen die Zimtläden den anziehenden Zauber des Heiligen. Sie sind die einzigen „wahrhaft vornehmen“ Geschäfte in der Stadt, in denen Kolonialwaren aus der ganzen Welt verkauft werden – Zimtläden heißen sie „wegen der dunklen Farbe ihrer Holzvertäfelungen“ (Z 113). Der Ich-Erzähler verehrt diese Läden, sie sind der Ort seiner „heißen Sehnsüchte“ (Z 114). Und Sehnsuchtsorte sind sie umso mehr, als sie sich seiner Gegenwart

92 Im polnischen Text übrigens klingt diese Stelle (wbrew lepszej wiedzy) ein wenig gekünstelt, sie wirkt wie eine Entlehnung aus dem Deutschen. Der ganze Satz im Original: „Wbrew lepszej wiedzy czujemy się wciągnięci w tandetny czar dzielnicy.“ Bruno Schulz, Opowiadania, 81.

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entziehen, sie bestehen nur mehr als Sphären einer zauberhaften Erinnerung, in der die Kaufleute wie fromme Gelehrte, ja wie Zaddikim, auftreten: Ich erinnere mich noch an die alten und würdevollen Kaufleute, die mit gesenkten Lidern diskret schweigend ihre Kunden bedienten, mit Bedacht [im Original pełni mądrości – voller Weisheit, Anm. AH] und voll Verständnis für deren geheimste Wünsche. (Z 114)93

Die erhabene Verführungskraft der Zimtläden geht zwar nicht in Richtung des Obszönen und Vulgären, doch ist auch dieser Zauber mit Sinnlichkeit und einer latenten erotischen Spannung verbunden. Der Ich-Erzähler erwähnt, dass in den Tiefen der Zimtläden „seltene und verbotene Drucke“ sowie „Publikationen von Geheimclubs“ zu finden sind, „die quälende und berauschende Geheimnisse enthüllten“ und die er sich einmal dort ansehen konnte (Z 114). Ausschlaggebend ist die Tatsache, dass die Zimtläden mit illegalem, von der Norm abweichendem Wissen im Zusammenhang stehen. Auch die oben erwähnte Weisheit der Kaufleute widerspricht dem rationalen Denken, denn sie ist mysteriös und esoterisch. Schon in der Schilderung der Lage ­innerhalb des Stadtraums ist das Moment des Abgelegenen enthalten: Die Verlockungen der Winternächte beginnen meist unschuldig mit der Lust, den Weg abzukürzen, einen ungewöhnlichen, aber schnelleren Durchgang zu benutzen. Verführerische Gedanken entstehen, man könnte etwa das wirre Herumstreifen mit einer noch nie erprobten Querstraße abschneiden. […] In so einer Nacht ist es ein Ding der Unmöglichkeit, beim Gang durch die Wall-Straße oder eine beliebige andere dunkle Straße, die auf der Rückseite gewissermaßen das Unterfutter der vier Geraden des Marktplatzes bilden, nicht daran zu denken, daß zu dieser späten Stunde manchmal noch einige der sonderbaren und so verlockenden Läden geöffnet haben, die man tagsüber gewöhnlich vergißt. (Z 112 f.)

Um die Zimtläden zu erreichen, muss man gewissermaßen vom Weg abkommen, die Prinzipien der Ratio hinter sich lassen. Die Atmosphäre der Nacht steigert zusätzlich das Traumhafte der Szenerie. In den erwähnten Erzählungen Die Schneiderpuppen, Die Krokodilstraße und Die Zimtläden – alle stammen aus dem Band Die Zimtläden (1934) – schreibt Schulz den Wissensformen, die der Rationalität entgegenstehen, Verführungskraft zu. Anziehend ist, was vom Standpunkt des Fortschritts, der Technik oder der wissenschaftlichen Erkenntnis als unvernünftig erscheint. Dasselbe Thema nimmt er in seiner später entstandenen Erzählung Der Komet wieder auf – welche Unterschiede sich im Einzelnen erkennen lassen, wird noch zu untersuchen sein. Für eine Analyse des Verfahrens von Schulz ist es hilfreich, weitere Texte heranzuziehen, denn die Reflexion über das ­Wissen im Kontext des verführerischen Zaubers darf in der Kulturgeschichte als Topos

93 Der ganze Satz im Original: „Pamiętam tych starych i pełnych godności kupców, którzy obsługiwali klientów ze spuszczonymi oczyma, w dyskretnym milczeniu, i pełni byli mądrości i wyrozumienia dla ich najtajniejszych życzeń.“ Bruno Schulz, Opowiadania, S.65.



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gelten, der gerade in den 1920er und 1930er Jahren seine Faszination besaß. Das Themenfeld war nicht nur Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzungen, sondern ebenso ein Sujet theoretischer Arbeiten – auch die Wissenschaftsgeschichte beschäftigte sich damit. Gaston Bachelard geht zum Beispiel in seiner Abhandlung Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes scheinbar nebenbei auf die Relation zwischen dem verführerischen Reiz und den Vorstellungen vom Wissen, von der Wissenschaft und ihrer Entwicklung ein. Seine Studie erschien 1938, in demselben Jahr also wie die Erzählung Der Komet. Die Gedankenverbindungen, die Bachelard ausarbeitet, können meiner Auffassung nach Schulz’ Interpretation bereichern und bestimmte Aspekte in pointierter Weise zum Ausdruck bringen. Bachelard interpretiert die Geschichte der Entstehung des wissenschaftlichen Denkens aus der Perspektive der Hindernisse, die in der menschlichen Vorstellungskraft überwunden werden mussten, damit sich die Wissenschaft im heutigen Verständnis herauskristallisieren konnte. Bei der Schilderung dieses Weges konzentriert er sich vor allem auf die Wissenschaftsvorstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts. In jedem Kapitel wird eine bestimmte Denkschwierigkeit beschrieben. Doch Bachelards Absicht ist es nicht, eine evolutionäre Entwicklung nachzuvollziehen oder den Fortschritts­ gedanken zu favorisieren, vielmehr interessiert er sich für die Darstellung der Prozesse, die zur Aufhebung von Denkblockaden führten. Im Zentrum seines Interesses stehen folgende Fragen: Wie kommt es dazu, dass die Menschen im Rahmen ihrer Vorstellungswelt gewisse Schemata und Konstruktionen schaffen, die ein Weiterdenken blockieren? Wie determinieren wiederum solche Denkblockaden das Weltverständnis und wie setzten sich die Forschenden mit den Aporien auseinander? Und schließlich: Was muss getan werden, um die Schwierigkeiten bewältigen zu können? Mit dieser Fragestellung geht Bachelard an ausgewählte Phänomene heran. So befasst er sich beispielsweise mit der „Gefahr der ersten Erfahrung“. Gemeint ist die gängige Praxis früherer Naturforscher, die sich von den Ergebnissen des ersten Experiments gefangen nehmen ließen. Diese ersten Resultate konnten über Jahrhunderte hinweg die Bildung eines theoretischen Gerüstes und die Einbettung anderer Resultate in ein abstraktes Regelsystem erschweren. An anderer Stelle nennt Bachelard „sprachliche Hindernisse“. Darunter versteht er sprachliche Gewohnheiten und metaphorische Wendungen, die sich im Sprachgebrauch eingeschliffen haben und durch einprägsame Bildlichkeit wesentlich dazu beitrugen, dass ein vereinfachtes Weltbild entstand. Auffällig ist die Art und Weise, wie Bachelard über diese Denkblockaden in der Vorgeschichte der modernen Wissenschaft schreibt und welche Formulierungen er verwendet. Ein kleines Beispiel: Das Kapitel „Einheitliche und pragmatische Erkenntnis“ ist dem Streben nach Verallgemeinerung gewidmet. Bachelard verfolgt hier, wie frühere Forschung sich mit einem generalisierenden Denken begnügte und immer auf der Suche nach einem einheitlichen Zusammenhang war, der mit der Idee einer a ­priori gesetzten Kohärenz alle Einzelphänomene verdrängte, die von den gesetzten Regeln abwichen. Dieses Problem bezeichnet er als Bedürfnis nach „synthetischen Ideen, die ihre Verführungskraft nicht verloren haben“ und bemerkt weiter: „Für den vorwissen-

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schaftlichen Geist ist die Verführung durch eine einheitliche, auf einer einzigen Eigenschaft beruhende Erklärung unwiderstehlich.“94 Die hinderliche Denkstruktur bezeichnet er als Verführung, die das Subjekt von der Erkenntnis ablenkt, ja man kann sogar den Eindruck gewinnen, dass das Erkenntnishindernis bzw. die Denkblockade und die Verführung synonym gesetzt werden. Die Gleichsetzung dieser Begriffe lässt sich in der ganzen Abhandlung verfolgen. Stets ist die Rede von der verführerischen Kraft bestimmter Möglichkeiten, die Welt zu deuten, die als unbezweifelbare, quasiwissenschaftliche Paradigmen angenommen wurden und die das Verständnis physikalischer oder chemischer Gesetzmäßigkeiten erschwerten. Um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie markant sich das im Text äußert, möchte ich einige Beispiele anführen. So nennt Bachelard z. B. die „Verführungskraft der Substanzvorstellung“95, nach der die Zirkulation einer fast magischen Substanz die Antwort auf alle Fragen bietet, weiterhin „die Verführungskraft der Verallgemeinerungen“, „die Verführungskraft der allzu raschen Antwort“, „die Verführungskraft der einfachen und fertigen Formen“.96 All diese Formulierungen stehen für das Hindernis der automatischen Vereinfachung und Anpassung aller Phänomene an bereits bestehende Schemata. Weiter wird noch „die Anziehungskraft einer unbestimmten Mathematisierung“ erwähnt, die die Gelehrten von präzisen Berechnungen abbringt, oder die Aporie der gleichzeitigen „Anziehung des Singulären und Anziehung des Universellen“, die die Herausbildung eines Systems von Gesetzlichkeiten unmöglich macht.97 Darüber hinaus verführerisch ist das Denken in Bildern und bildhaften Metaphern, die, „ob man es will oder nicht, eine Verführung [für die Vernunft darstellen]“.98 Ebenso als hinderlich gelten „verführerische geometrische Formen“ und „verführerische einfache Vorstellungen“.99 Dementsprechend sei, so Bachelard, der vorwissenschaftliche Geist so beschaffen, dass sein Denken „mühelos verführt“ werden könne bzw. dass er dieser „naiven Verführung“ nachgebe.100 Im Zusammenhang mit den Denkblockaden führt Bachelard auch Alexander von Humboldt an, der als Inbegriff des modernen Naturforschers gelten kann. In Humboldts Schrift Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser (1797), die gal­ vanischen Experimenten gewidmet ist, findet er eine Stelle, an der Humboldt die ­Er­gebnisse ­seiner Beobachtungen verwirft und trotz des kritischen Spürsinns seine Auffassung an übliche Anschauungen anpasst, von denen angenommen wird, sie seien unan­fechtbar. Dieses Vorgehen kommentiert Bachelard folgendermaßen: Unab-

94 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes: Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1987, 155. 95 Ebd., 201. 96 Ebd., 140, 105 u. 338. 97 Ebd., 307 u. 110. 98 Ebd., 134. 99 Ebd., 335 u. 323. 100 Ebd., 189 u. 262.



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hängig von ­seinem Wissen werde Humboldt von der geltenden „Ansicht verführt“ und sei dann zuletzt bereit, „die Wissenschaft des Zauberstabes zu akzeptieren“.101 Hier kommt noch einmal der Grundgedanke der Abhandlung in verdichteter Form zum Ausdruck. Nach Bachelard führen das Magische, Abergläubische, Irrationale und die damit verbundenen Formen des Wissens durch ihre Einfachheit vom kritischen Denken weg und blockieren die wissenschaftliche Erkenntnis. Zugleich besitzen diese Muster – wie Bachelard betont – eine unerklärbare und unwiderstehliche Anziehungskraft, der selbst Humboldt erlegen sei. Daher möchte Bachelard solche Muster als anthropologische Invariante verstehen. Die Neigung zu irrationalen Lösungen und magischen Denkkonstruktionen, so seine Auffassung, begleite die Menschheit seit jeher und erst im Prozess einer mühseligen Überwindung dieser Muster sei die Wissenschaft im heutigen Sinne entstanden. Die Dichotomie zwischen Verführung und wissenschaftlicher Erkenntnis, die B ­ achelard in seiner Studie aufbaut, ist aber nur scheinbar so radikal. Die Genauigkeit seiner Beschreibungen beinhaltet noch eine andere Dimension. Anhand historischer Quellen erörtert er ausführlich die Probleme, mit denen sich die damaligen Forschenden beschäftigten. Ebenso kritisch wie emphatisch versucht er deren jeweilige Gedankenwelten auszuloten. Präzise sondiert er die Gründe und Prämissen der „Forschungsgebiete“, auch wenn manche heute befremdlich oder auch skurril erscheinen mögen, wie beispielsweise die im 17. und 18. Jahrhundert verbreitete, eigenartige Faszination für Verdauungsprozesse oder die Beschäftigung mit der Frage nach dem Geschlecht der Himmelskörper, die durchaus eine ganze Weile für Kopfzerbrechen sorgte. Aus der Sorgfalt der Ausführungen lässt sich Bachelards Begeisterung für diese Denkweisen ablesen, für ihre Komplexität und innere Kohärenz. Mit den Worten von Wolf Lepe­nies, der zu Bachelards Abhandlung eine Vorrede verfasste: Der Autor „liebt, was er kri­ tisiert“.102 Die Hindernisse auf dem Weg zur Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes werden mit liebevoller Präzision als geradezu anmutige Erscheinungen dargestellt. Die ihnen zugeschriebene Verführungskraft verändert dadurch ihre Bedeutung und erscheint nicht mehr explizit als negativ besetzt. Eine eindeutige Zuschreibung der Kategorien wie richtig oder falsch bzw. modern oder vormodern lässt sich nicht mehr vornehmen, ja die Kategorien selbst stehen damit im Licht schematisierender Reduktion. In diesem Zusammenhang kristallisiert sich bei Bachelard ein neues Bedeutungsfeld der Kategorie der Verführung heraus. Statt als Eigenschaft oder Bezeichnung für eine Denkblockade zu gelten, steht sie vielmehr für einen Denkanreiz, der das Reflektieren über ein anderes Verständnis vom Wissen zulässt und stimuliert. Eine solche Redefinition des Spannungsverhältnisses zwischen Verführung und Wissen unternimmt auch Schulz in seiner Erzählung Der Komet. Im Gegensatz zu den

101 Ebd., 247. 102 Wolf Lepenies, „Vergangenheit und Zukunft der Wissenschaftsgeschichte – das Werk Gaston ­Bachelards“, in Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 33.

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oben erwähnten früheren Erzählungen wie Die Schneiderpuppen, Die Krokodilstraße oder Die Zimtläden lässt sich in diesem Text die Anziehungskraft im Rahmen der konstruierten Dichotomien nicht eindeutig zuordnen. Sie tritt hier nicht als Merkmal dessen auf, was als vernunftwidrig zu bezeichnen wäre und im Widerspruch zum modernen Wissen stünde. Stattdessen wird mit der üblichen Zuschreibung der Kategorie der Verführung ironisch gespielt. Zum einen steht sie in Verbindung mit vermeintlich ­wissenschaftlicher Erkenntnis. Diese tritt in Form von Velozipeden und galvanischen Experimenten auf, die im Übrigen Anfang des 20. Jahrhunderts – in jenem Zeitraum spielt die Erzählung – nicht unbedingt zu den besonders fortschrittlichen Errungenschaften zählten. Trotzdem geht von diesen Phänomenen ein unwiderstehlich verführerischer Zauber aus. Die Advokaturkonzipienten fahren auf riesigen Zwei- und Dreirädern durch das Städtchen, mit denen sie „den belustigten Pöbel“ und eine Menge von „lärmenden Gaffern“ begeistern (S 308). Ebenso verführen die jungen Elegants, die in den Salons das Phänomen des elektrischen Stroms demonstrieren, die Damen im Publikum: „Ein elektrischer Leiter öffnete den Weg in die Frauenherzen. Nach einem gelungenen Experiment schickten die Helden des Tages Kußhändchen in den applaudierenden Salon“ (S 308). Zum anderen strahlen ebenso die esoterischen Gegenentwürfe des Vaters, in denen er sich auf zeitgemäße Forschungsmethoden bezieht (die „ermüdende Psychoanalyse“, S 316), eine besondere Verführungskraft aus, denn es gelingt ihm, „die Reihen seiner Anhänger und Adepten“ um sich zu versammeln (S 318). Onkel ­Edward ist von den Unternehmungen des Vaters zutiefst beeindruckt: „Die Experimente meines Vaters schlugen wie der Blitz bei ihm ein“, so dass er sich ihm ganz zur Verfügung stellt und aus Leidenschaft „vorbehaltlos“ der Wissenschaft dienen möchte (S 314). Die Funktion der Kategorie der Verführung besteht in Der Komet demnach darin, Oppositionen wie wissenschaftlich und nicht wissenschaftlich, rational und irrational oder Wissen und Unwissenheit kritisch zu hinterfragen.103 Weder der einen Seite noch der anderen wird die intensiv anziehende Wirkung abgesprochen. Dadurch stellen sich die binären Einteilungen letztlich als oberflächlich, scheinbar und gekünstelt heraus. Im Zuge dessen wird die Kategorie der Verführung zu einer epistemologischen Metapher für ein anderes Wissensmodell. Dieses Modell schließt mit ein, was im hergebrachten Schema als verführerische Denkblockade gilt – zum Beispiel das Sinnliche, Ursprüngliche, Unmittelbare, Mythische, Magische oder Affektive – und bildet somit eine Alternative zu der Vorstellung, dass der moderne wissenschaftliche Geist sich distanziert verhalte zu allem, was konventionell mit dem Wirkungsfeld der Verführung

103 In Bezug auf die Demaskierung und Unterminierung der scheinbaren Gegensatzpaare in Schulz’ Erzählung kann man Walter Benjamins Bemerkung über Fotografie zitieren, denn in der Erzählung Der Komet wird auch „die Differenz von Technik und Magie als durch und durch historische Vari­ able“ ersichtlich. Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Photographie“, in Gesammelte Schriften, Bd. II.1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, 371 f.



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zu verbinden wäre. Wie der Gegenentwurf einer alternativen Wissensform in der Erzählung beschrieben wird und wie der Prozess der Unterminierung der Dichotomien verläuft, wird im Weiteren zu untersuchen sein. Zunächst möchte ich auf eine weitere Parallelität zwischen Bachelards Studie und Schulz’ Erzählung verweisen. Beide Texte verbindet, wie oben bereits erwähnt, das Erscheinungsjahr 1938. Es ist die Zeit eines tief greifenden Wandels in den Geistes- und Naturwissenschaften sowie umwälzender Entdeckungen im Bereich der Chemie, Biologie, Astronomie und Physik. Um einen Eindruck von den Veränderungen zu vermitteln, möchte ich einen knappen Überblick über die wichtigsten Wendepunkte verschaffen. Damals wurden zum Beispiel neue chemische Elemente (Rhenium, 1925), ein neuer Planet (Pluto, 1930), lebensrettende Medikamente (Penizillin, 1928) sowie revolutionäre Theorien entdeckt bzw. geschaffen, die die bisherigen Kosmologien sowie das Verständnis des Universums gänzlich infrage stellten, so etwa die Theorie des Urknalls (1927) oder die Theorie der Expansion des Weltalls (1929). Zu erwähnen wären außerdem bahn­ brechende Erfindungen – 1931 wurde das erste Elektronenmikroskop gebaut, das stärkere Vergrößerungen ermöglichte und das zuvor Unsichtbare vor Augen führte. Nicht zu vergessen auch die Vorführung bedeutender Experimente, von deren Folgen sich die Forscher nur vage Vorstellungen machen konnten: Eben im Jahr 1938 gelang im Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie die erste Kernspaltung von Uran. Es ist also eine Zeit rasanter Entwicklungen in der Wissenschaft. Alles scheint ­erforschbar und rationalisierbar zu sein. Die letzten Rätsel der Natur werden gelöst: alle Planeten im Sonnensystem sind jetzt bekannt, die letzten natürlich auftretenden ­chemischen Elemente werden entdeckt. Viele dieser Entdeckungen bzw. Neuerungen nehmen auch unmittelbar Einfluss auf das tägliche Leben – eine fortschrittsgläubige Zuversicht breitet sich aus. Das alles geschieht in den Jahren der Aufrüstung zum Zweiten Weltkrieg. Die Stimmung dieser Epoche der Um- und Durchbrüche fasst Schulz am Rande seiner 1936 veröffentlichten Rezension des Essaybandes Music at Night and Other ­Essays von Aldous Huxley zutreffend zusammen: Seit den Zeiten des guten Alten ist jedoch die Welt durch viele Siebe und enge Maschen hindurchgegangen, in denen sie allmählich ihre Konsistenz zurückließ. Freud und die Psychoanalyse, die Relativitätstheorie und die Mikrophysik, die Quantentheorie und die nichteuklidische Geometrie. Das, was durch diese Siebe hindurchtropfte, war bereits eine der Welt sehr unähnliche Welt, eine Fauna, schleimig und formlos, ein Plankton von fließenden und wogenden Konturen.104

Die Wirklichkeit erscheint hier als entzaubert: konturlos, abgeseiht, verdünnt, gleich einer wässrigen Suppe. Die neuesten Erfindungen, so Schulz, hätten der Welt ihre Konsistenz, das heißt ihre Geheimnisse und ihren verführerischen Zauber genommen.

104 Bruno Schulz, „Wanderungen eines Skeptikers (Gedanken zu Aldous Huxleys Essayband Music at Night)“, in ders., Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes, 313 f.

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Dieser Gedanke liefert einen interessanten Ansatz zur Interpretation der Texte von Schulz und Bachelard. Die im vorigen Abschnitt aufgezählten Errungenschaften der Wissenschaft und Technik stehen zwar im Hintergrund der Entstehung dieser Werke, spielen aber keine primäre Rolle, denn sie werden nicht erwähnt, weder explizit noch implizit. Stattdessen scheinen sich die beiden Autoren auf ein anderes Thema zu fokussieren: Sie widmen sich nicht der rasanten technischen Entwicklung ihrer Zeit, sondern dem mythisch-naturmagischen Denken der vorausgegangenen Epochen. Im Zentrum ihres Interesses stehen frühere Wissensformen, und zwar vor allem die ­Alchemie. Für Bachelard ist sie das Musterbeispiel eines „vorwissenschaftlichen ­Geistes“, denn „mehr als jede andere“ Denktradition erhebe sie den paradoxen ­Anspruch, „objektiv und subjektiv“ zugleich zu sein.105 Auf alchemistische Rhetorik rekurriert auch Schulz – in welcher Form, soll im nächsten Unterkapitel genauer b ­ eschrieben werden. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass sowohl Bachelard als auch Schulz in ihren so unterschiedlichen Texten auf ein früheres Verständnis vom Wissen blicken. Ihr Ziel scheint dabei, die Kategorie der Verführung zu restituieren, die verführerischen Denkblockaden als Denkanreize neu aufzuwerten sowie diese in den modernen Wissens- und Wissenschaftsbegriff zu reintegrieren. Selbstverständlich nehmen die beiden Autoren verschiedene Perspektiven ein: Bachelard untersucht anhand der Quellentexte die Genealogie des wissenschaftlichen Denkens, Schulz reflektiert hingegen über die verlorene Konsistenz der Welt und versucht diese auf literarischem Wege neu zu schaffen. Aus diesem Grunde bezieht er sich auf die Alchemie, die im Übrigen, einer der möglichen etymologischen Deutungen zufolge, ihre Ursprünge in der arabischen Sprache hat und so viel wie die Kunst des Legierens, also auch des Eindickens einer verdünnten Flüssigkeit, bedeuten kann. Die Bezugnahme auf alchemistische Auffassungen vom Universum ist in der Erzählung Der Komet aber nicht Ausdruck des von Nostalgie geprägten romantischen Wunsches nach der Wieder­verzauberung der Welt. Schulz favorisiert keineswegs die bruchlose Rückkehr zur Vormoderne bzw. die Reaktualisierung eines wissensgeschichtlich vergangenen ­Zeit­alters. Vielmehr zeigt er dadurch die historische Dialektik der konflikthaften, wechselseitigen Durchquerung alter und neuer Wissenspraktiken. Die Anspielungen auf die Alchemie werden bei ihm zum Austragungsfeld der Reflexion über die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Verführung und Wissen.

2.2.2 Alchemie als Alternative zum modernen Wissensbegriff In diesem Teil möchte ich untersuchen, wie die Assoziationen mit der alchemistischen Lehre in der Erzählung Der Komet aktiviert werden. Die Alchemie scheint bei Schulz

105 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 92.



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als Beispiel für eine Wissensform zu dienen, in der bestimmte Vorstellungen noch nicht – mit Bachelard gesprochen – als Verführungen und Denkblockaden abgelehnt wurden. Allerdings ist sie als eines der möglichen Bezugsfelder zu verstehen, als modellhafter Bestandteil, Metonymie bzw. Inbegriff der hermetischen Philosophie, die jahrhundertlang das Verständnis vom Wissen und von der Wissenschaft determinierte. Zu den Ursprüngen der Hermetik formulierte die Forschung mehrere Theorien. Aby Warburg sah sie in der spätantiken Stadt Alexandria, in der sich griechische, römische, jüdische und ägyptische Einflüsse gegenseitig durchdrangen.106 Die Mischung aus Elementen der hellenischen Philosophien, orientalischen Religionen und Mysterienkulten sowie des Gnostizismus und des Neuplatonismus bildete die Basis für die ­Entstehung der hermetischen Einzeldisziplinen, zu denen neben der Alchemie auch Astralmagie oder Kabbala gehören.107 Die Prosa von Schulz wurde in diesen Kontexten bereits erforscht. Seine Anspielungen auf die kabbalistische Tradition, die jüdische Mythologie und Mystik waren Gegenstand zahlreicher Studien.108 Auch die intertextuellen Bezüge zur Alchemie in seinen Erzählungen sind kein Neuland mehr – Stefan Chwin, Arkadiusz Kalin oder Renate Lachmann haben dazu publiziert.109 Im Weiteren werde ich auf diese Arbeiten eingehen, denn auch hier wird versucht, die Spuren der alchemistischen Rhetorik und Symbolik bei Schulz zu rekonstruieren, allerdings unter einem anderen Gesichtspunkt. Die unten folgende Analyse der Erzählung Der Komet soll Schulz’ alchemistisches ­Wissen weder überprüfen noch verifizieren. Im Zentrum steht die Frage, mit welchen

106 Aby Warburg, „Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten“, in Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, hg. v. Horst Bredekamp u. a., Berlin 1998, 487–535. Bekannt ist seine symbolische Gegenüberstellung von Alexandria und Athen: „Die Wiederbelebung der dämonischen Antike vollzieht sich dabei, wie wir sahen, durch eine Art polarer Funktion des einfühlenden Bildgedächtnisses. Wir sind im Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler – zwischen magischer Praktik und kosmologischer Mathematik – den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu erringen versuchte. Athen will eben immer wieder neu aus Alexandrien zurückerobert sein.“ Ebd., 534. 107 Auf die häufige Vermengung der hermetischen Disziplinen weist unter anderem Gershom Scholem hin. Er bemerkt, dass bei einigen Denkern die Kabbala, Alchemie, Astronomie und „Wissenschaft von den Sphären“ gleichgesetzt wurden und ein Amalgam bildeten. Gershom Scholem, Alchemie und Kabbala, Frankfurt a. M. 1984, 47. 108 Siehe in dieser Studie Fußnote 57 in Kapitel 1. „Einführende Überlegungen“. 109 Auch Jerzy Ficowski, einer der ersten Schulz-Biographen und Schulz-Forscher, erwähnt den Vergleich mit der Figur des Alchemisten: „Schulz’ Kult der Kindheit, sein Glaube an deren demiurgische Macht hat etwas von der Haltung eines eifrigen Alchimisten, der ein Elixier entdeckt hat, das gewöhnliche Materie in das Edelmetall der Poesie verwandelt.“ Jerzy Ficowski, Bruno Schulz 1892–1942: Ein Künstlerleben in Galizien, übers. v. Friedrich Griese, München 2008, 69. Vgl. die Bemerkung von Lauren Benjamin am Rande ihrer Interpretation der Erzählung Traktat über die Schneiderpuppen: „The Heresiarch is a modern day alchemist, one who seeks to form an alternative creation myth in which the dross of the everyday is transformed into animate gold.“ Lauren Benjamin, „The Lost Cause of Poetry: Resistance and Re-Creation in Bruno Schulz’s Traktat o manekinach“, in New Zealand Slavonic Journal Nr. 45.1/2011, 48.

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Stilmitteln er das assoziative Bild einer Wissensform hervorruft, die den Normen der Ratio nicht gänzlich entspricht, die Verführungen der Unvernunft nicht ausschließt und dadurch eine der Figuren der Überschreitung des modernen Wissensbegriffs ist. Die Hinweise auf die Alchemie scheinen in der Erzählung als Vorwand zu dienen, um über ein anderes Modell des Wissens nachzudenken, das die Kategorien der Vernunft und Verführung nicht antagonistisch auffassen würde. Diese These bestätigt auch der Charakter von Schulz’ Andeutungen: Sie sind weniger als eine literarische Auseinandersetzung mit neuzeitlichen Quellentexten der Alchemisten zu verstehen, sondern vielmehr als ironische und impressionistische Collage aus Elementen des zu seiner Zeit kursierenden Bild- und Vorstellungskomplexes von der alchemistischen Lehre. Deshalb ist das Alchemieverständnis, das hier zugrunde liegt, eher Ergebnis eines ­sekundären Zugriffs und wird durch die Interpretationen zu Schulz’ Lebzeiten ge­ filtert. Das öffentliche Interesse an der Alchemie war damals groß, und zumal in Künstler- und Intellektuellenkreisen – auf die Gründe werde ich im Einzelnen noch zurückkommen. Als Ausdruck dieser Tendenz können die vielen theoretischen Arbeiten verstanden werden, die dieses Thema damals in verschiedenen Zusammenhängen aufgriffen. Nicht nur Gaston Bachelard versuchte in seiner Studie Die Bildung des wissenschaft­ lichen Geistes die alchemistische Vorstellungswelt zu systematisieren, auch Mircea Eliade widmete sich intensiv dem Phänomen der Alchemie in verschiedenen Kulturen. In den 1930er Jahren publizierte er zwei Essays auf Rumänisch: Alchimia asiatică (1935) und Cosmologie și alchimie babiloniană (1937);110 1956 dann erschien seine bekannte Abhandlung auf Französisch: Schmiede und Alchemisten. Auch die Untersuchungen von Carl Gustav Jung sind von Bedeutung. Seit den späten 1920er Jahren widmete er sich der alchemistischen Symbolik, was in dem opulenten Band Psychologie und A ­ lchemie (1944) resultierte. Die drei exemplarisch genannten Autoren verfassten ihre Schriften zu Alchemie ungefähr in der Entstehungszeit der Erzählung Der Komet. Ich möchte sie nicht als Schulz’ intertextuelle Bezugsfelder interpretieren, sondern als Barometer der intellektuellen Stimmung seiner Zeit betrachten. In der Erzählung tauchen viele Motive aus dem Bereich der Alchemie, Astrologie und Mantik auf. Wie anfangs erwähnt, versucht der Vater mit seinen Experimenten einen Gegenentwurf zu den im Städtchen sich verbreitenden Errungenschaften der Wissenschaft und Technik vorzuschlagen. Er führt sie in einem Laboratorium durch, das zu einer Alchemistenküche stilisiert wird. Die Einrichtung ist schlicht: „Einige auf eine Spule gewickelte Drahtstücke und ein paar Schraubgläser mit Säure, Zink, Blei und Kohlenstoff – das war die ganze Werkstatt dieses äußerst wunderlichen Esote­ rikers“ (S 310). Zur Ausstattung gehören also Elemente und Metalle, die den Alche­ misten als Basis ihrer Untersuchungen dienten. Doch nicht nur das Motiv des alten ­Gelehrten als Alchemisten, der die jungen Adepten in seine Geheimlehre einweiht, ist

110 Die beiden Essays wurden in der Anthologie Drumul spre centru (Bukarest 1991) publiziert.



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auffällig. Auch das gesamte Vokabular der Erzählung ruft Assoziationen mit alchemistischen Versuchen hervor. So werden beispielsweise die Tierkreiszeichen erwähnt, Planeten, Himmelskörper, Horoskope, und vor allem Sterne tauchen in verschiedenen Sprach- bzw. Bildvarianten auf. Es ist die Rede von der „gestirnten Nachtarena“ oder von „sternenklirrender Nacht“ (S 323, S 321), vom „Sternengewimmel“ (S 321), „Sternengeflimmer“ (S 324), „Sternenstrahl“ (S 325), „Sternenglanz“ (S 325) sowie von den „Sternennebelschwärmen“ (S 320). Deutlich wird auf die Vorstellung vom Einfluss der Konstellationen auf die irdischen Begebenheiten angespielt. Gleich im ersten Satz ­findet sich der Hinweis auf „eine besonders günstige astronomische Konjunktion“ (S 304). Auch die Gesichtsfarbe des Dienstmädchens Adela soll sich, vom Mond beeinflusst, verändert haben – ihr Teint „verjüngte sich jetzt unter dem Einfluß der frühlingshaften Gravitation des Monats, die in jeder Mondphase zunahm, er bekam milchige Reflexe, tönte sich wie ein Opal und glänzte wie Email“ (S 318). Mehrfach findet sich lunare, solare und astrale Metaphorik: „der Mond, der unerschöpfliche Transformator“ (S 304), „Explosionen ferner Sonnen“ oder „siderische Erleuchtungen“ (S 322). Ebenso werden die Wahrsagekunst und das Kartenlegen angesprochen, in Vergleichen tauchen Kartenspiele wie Préférence oder Patience auf (S 304). Neben dem Wortschatz lässt sich auch die esoterische Stimmung in der Erzählung mit hermetischen Lehren wie der Alchemie in Verbindung bringen. Das Motiv des ­Geheimnisses durchzieht den ganzen Text. Die Experimente des Vaters fußen auf der Vorstellung von Zeichen und verschlüsselten Botschaften, die in der Welt verborgen seien: „Die Materie“, sagte er [der Vater – AH] und senkte schamhaft den Blick über einem mit aller Kraft unterdrückten Ausbruch von Gelächter, „die Materie, meine Herren …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende, man durfte annehmen, daß er einem deftigen Witz auf der Spur war, und daß wir alle, wie wir da saßen, zum Narren gehalten wurden. Mein Vater senkte die Lider und bedachte den ewigen Fetisch mit leisem Spott. „Panta rhei!“ rief er und zeichnete mit der Hand den ewigen Kreislauf der Substanz nach. Schon lange verlangte es ihn danach, die in ihr kreisenden geheimen Kräfte zu mobilisieren. (S 310)

Der ironische Unterton unterminiert den Ernst seines Vorhabens. Im Stillen verspottet der Vater sowohl sein Publikum als auch die eigenen Versuche und deren Gegenstand – die Materie. Effektvoll erweckt er den Eindruck, als sollten seine Ausführungen in einen Witz münden. Zugleich drückt er sich kryptisch und vage aus. Er spricht die Sätze nicht zu Ende, benutzt mehrdeutige Formulierungen, was die geheimnisvolle Aura seiner Worte steigert. Die Rätselhaftigkeit seiner Äußerungen kann als Anspielung auf die Rhetorik der Alchemie gelesen werden, die auf das Mysteriöse setzte und – manchen Interpretationen zufolge, so etwa bei Carl Gustav Jung – wegen eben dieser Dunkelheit der Sprache und einer inhaltsleeren Allegorik als Lehre im Laufe der Zeit

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an Bedeutung verlor und von der Bühne abtreten musste.111 Im angeführten Zitat ist aber nicht nur das Motiv des Geheimnisses, sondern auch die Vorstellung von okkulten Kräften ausschlaggebend, die der Vater überall wittert. Für ihn zählt das Verborgene und Unsichtbare, deshalb vertraut er weniger dem Sehvermögen als seinen anderen Sinnen wie dem Hören oder Tasten: Wie nebenbei ließ er diese Bemerkung fallen, er lief dabei an einem Draht entlang, schloß die Augen und strich zart über verschiedene Stellen des Stromkreises, wobei er die verschwindend geringen Unterschiede der Potentiale fühlte. (S 311)

Seine Wahrnehmung ist besonders empfänglich für Impulse und Reize, die mit den Augen nicht zu erfassen sind. Durch seine Experimente versucht er die erahnten Potenziale geheimer Energien freizusetzen. So taucht er zum Beispiel – wie ein Alchemist – Metalle in Säurelösungen, was folgendes Resultat erbringt: „Unsichtbare Ladungen ließen die Pole anschwellen, schossen über diese hinaus und verschwanden in die wirbelnde Dunkelheit“ (S 311). Verborgene Energien treten über die Ufer, werden in ekstatische Gärung versetzt. Auch das Motiv vom Beleben des Unbelebten, eine der zentralen naturmagischalchemistischen Vorstellungen, tritt zu Tage – der Vater kann auf geheimnisvolle Weise tote Gegenstände zum Leben erwecken: In unserem Esszimmer hatten die Stühle schöne, geschnitzte, hohe Lehnen. Es waren Girlanden, Blätter und Blüten, ein nachempfundener Realismus, doch genügte eine Berührung von meinem Vater, und das Schnitzwerk erhielt plötzlich eine außergewöhnlich witzige Physiognomie oder eine undefinierbare Pointe, sie begann zu flackern und bedeutungsvoll zu zwinkern. (S 314)

Der Vater erlebt also nicht nur mannigfaltige Verwandlungen, er ist auch selbst ein Transformierer, der sozusagen Instabilität in seiner Umgebung sät.112 Selbst die

111 Carl Gustav Jung, Psychologie und Alchemie, in Gesammelte Werke, Bd. 12, hg. v. Dieter Baumann, Olten u. a. 1972, 265. 112 Auf die besonderen Eigenschaften der schulzschen Räume macht auch Olaf Kühl am Rande seines Artikels über das Übersetzen aufmerksam. Als Beispiel führt er den folgenden Satz aus der Erzählung Die Kakerlaken an: „Każda szczelina mogła wystrzelić z nagła karakonem“ (Bruno Schulz, Opowiadania, 88). Kühl bemerkt, dass sich Schulz besonders gern des Instrumentals bedient. Dieser Kasus, typisch für die slawischen Sprachen, ist mehrdeutig und schwer ins Deutsche übertragbar. Im Zitat ist die Ritze (szczelina) das grammatikalische Subjekt, während das Lebewesen, die Kakerlake (karakon), zum Objekt wird. Kühl vergleicht, wie die beiden Übersetzungen diese Aufgabe lösen. Die alte Übersetzung von Josef Hahn gibt nach Kühl die Lebendigkeit des Raumes wieder: „Jede Ritze konnte plötzlich Küchenschaben ausspeien.“ Die Neuübersetzung von Doreen Daume scheint ihm hingegen weiter vom Original abzuweichen, weil hier die Kakerlake das Subjekt ist: „Aus jeder Ritze konnte plötzlich eine Kakerlake hervorschießen.“ Olaf Kühl, „Was macht die Zunge mit uns?“, in Ma­ gazin Polenplus Nr. 3/2008, 50–53. Ein Ausschnitt des Textes verfügbar unter: http://www.similitudo. de/Zungenzauber.html (25. Mai 2017).



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­ egenstände sind keine sicheren Konstanten mehr. Sie beginnen zu oszillieren, ihr G Status entzieht sich den Maßen der Empirie. Darüber hinaus erscheinen infolge der väterlichen Versuche abwesende Menschen „in ihrer ganzen Gewöhnlichkeit und Gemeinheit“, wie zum Beispiel Tante Wandzia: „[Das war sie] wie leibhaftig, nein, sie war es wirklich, sie war zu Besuch, sie saß schon da, führte ihren nicht enden wollenden Diskurs und ließ niemanden zu Wort kommen“ (S 314). Insgesamt ist in der Erzählung eine starke Tendenz zur Anthropomorphisierung bemerkbar, die auch die Rhetorik der Alchemie und Astrologie charakterisiert. Alte Vorstellungen früherer Naturforscher, die die Gegenstände ihrer Untersuchungen für Lebewesen hielten, auf die sie menschliche Eigenschaften übertrugen, lassen sich im Übrigen bis heute in der Sprache nachvollziehen (z. B. „Himmelskörper“). Auch Schulz verwendet in den Schilderungen der Experimente häufig Metaphern und Vergleiche, die sich auf den menschlichen Körper beziehen. Der Vater versucht „den Körper der modernen Physik mit Mesmerismus zu infiltrieren“ (S 318). Eines seiner wichtigsten Experimente zielt darauf ab, den im Titel der Erzählung genannten Kometen zu ­personifizieren. Im Kamin fängt er ihn ein, wo der Komet die Form eines Embryos ­annimmt und wie in einer Retorte oder einer gläsernen Ampulle zu einem „ewig lächelnde[n] Homunculus“ heranwächst (S 328). Die Stilfigur der Personifizierung sowie das Motiv des Belebens können in der E ­ rzählung Der Komet noch in einem breiteren Kontext betrachtet werden. Die Fähigkeit des Vaters, die Dinge lebendig zu machen, entspricht nicht nur dem Wunschtraum jedes Alchemisten, sie ist auch das Phantasma aller Demiurgen. Der unbelebten Materie Leben einzuhauchen, ist zudem eine bekannte Metapher für das künstlerische Schaffen, die sich bis zum Mythos von Pygmalion zurückverfolgen lässt. Der Vater bei Schulz bringt zwar keine Kunstobjekte hervor, doch erzielt er mit seinen Experimenten auch ohne eine solche kreative Produktion starke Wirkung und löst heftige Emotionen aus. Seine Versuche haben den Charakter einer Performance oder eines Happenings, denn immer richten sie sich an ein Publikum. In ihrem Duktus ähneln sie kleinen Theaterstücken bzw. Zaubertricks, die nach einem Spielplan vorgeführt werden: „Mein Vater hatte wirklich deprimierende Kunststücke im Repertoire, die uns durch ihre variable Melancholie bestürzten“ (S 313). Wenn diese Auftritte des Vaters ihrerseits als subtil transformiertes Bild für das künstlerische Schaffen gedeutet werden, kann noch eine weitere mythische Reminiszenz in Erinnerung gerufen werden: Orpheus, der nach der Rückkehr vom Totenreich mit seiner Musik die Umgebung mit Leben erfüllt, Flora und Fauna beschwört, dass selbst die Bäume sich zu bewegen beginnen und seine Nähe suchen.113 Eine ähnlich magisch-belebende Wirkung hat – mutatis mutandis – der Vater auf sein Umfeld.

113 In Ovids Metamorphosen wird die belebende Wirkungskraft der Musik von Orpheus nach seiner Rückkehr aus der Unterwelt folgendermaßen beschrieben: „Schatten fehlte dem Ort. Als der götterentstammende Sänger dort sich niedergesetzt und die tönenden Saiten gerührt, da kam der Schatten

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Exkurs zur Konzeption von Dichtung und Sprache bei Schulz Die Parallele zwischen den väterlichen Versuchen und der Dichtkunst wird umso deutlicher, wenn wir einen genaueren Blick auf die Art der Darstellung werfen: Die in eine Säurelösung getauchten Metalle, die sich in diesem schmerzhaften Bad mit Salz und Grünspan überzogen, entwickelten im Dunklen Leitereigenschaften. Aus der Totenstarre geweckt, summten sie monoton, sangen metallisch und leuchteten innermolekular in der immerwährenden Dämmerung dieser traurigen und späten Tage. […] Mal hier, mal dort sandten die Apparate aus dem Schlaf Signale, sie antworteten einander verspätet, verzögert, mit hoffnungslosen Monosyllabismen, einem Strich oder einem Punkt, wenn ihre dumpfe Lethargie pausierte. Mein Vater stand mit schmerzlichem Lächeln mitten in diesen wandernden Strömen, erschüttert von der stotternden Artikulation, vor diesem ein für alle mal und ausweglos abgeschlossenen Malheur, das monoton, mit verkrüppelten Halbsilben aus der Tiefe der Unfreiheit Signale sandte. (S 311 f.)

Die Belebung der Gegenstände führt dazu, dass sie beginnen, Laute hervorzubringen. Sie äußern sich nicht nur durch Summen oder Singen, sie geben auch Signale von sich: einzelne Silben oder, wie beim Morsen, Striche und Punkte. All diese Artikulationsversuche sind in sich beschädigt, unvollkommen, bruchstückhaft. Sie werden als „stotternd“, „verkrüppelt“, „monoton“, als „Halbsilben“ und „hoffnungslose Monosyllabismen“ bezeichnet. Eine Verständigung ist nur schwer möglich – die Kommunikation ist gestört, „verspätet“ und „verzögert“. Der verborgene Wunsch nach einer verständlichen und vollständigen Sprache bleibt unerfüllt, befangen in der „Tiefe der Unfreiheit“. Mit dieser Unmöglichkeit der Artikulation wird der Vater konfrontiert und erkennt sie als unüberwindbare Aporie, als „ausweglos abgeschlossenes Malheur“. Er steht inmitten dieser Laute, die zwischen kakophonen Signalen und melodischem Summen variieren, und kann nur „schmerzlich lächeln“. Das angeführte Zitat verdeutlicht Schulz’ Dichtungs- und Sprachkonzeption, die er in seinem 1936 veröffentlichten Essay Die Mythisierung der Wirklichkeit detailliert ausgearbeitet hat. Im Vorfeld wäre zu betonen, dass Schulz den Begriff der Poesie unter anderem in Anspielung auf die romantische Idee der Universalpoesie verwendet und damit die Kunst im Allgemeinen meint. Zwar handelt der genannte Essay vor allem von der theologisch-magischen Auffassung der literarischen Sprache und von ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit und zum Mythos, das Wort selbst kommt jedoch nur ­einmal vor – an jener Stelle, an der er Sprache als „das metaphysische Organ des Menschen“ definiert (Z 196). Schulz unterscheidet zwischen zwei Stadien der Sprache. Erstens

dem Ort.“ Ovid, Metamorphosen, übers. v. Erich Rösch, München 2010, 254 (Buch X, Verse 89–90). Die letzten Worte im Zitat lauten im Original „umbra loco venit“. Die Geschichte findet bei Ovid ihre Widerspiegelung in der Sprache. Das Wort Schatten, das früher für den Tod stand, wechselt jetzt seine Bedeutung und spendet Leben. Der Übergang von der Welt der Toten in die Welt der Lebendigkeit findet auf verschiedenen Textebenen statt – das Umkehrmoment ist die orphische Musik, die die Umgebung belebt.



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­ eschreibt er die abstrakte Urform der Sprache, den „tausendfältigen, doch integralen b Wort-Organismus“ (Z 194), der die kosmischen und absoluten Kategorien – „den universalen Sinn“ und „die allumfassende, integrale Mythologie“ (Z 193) – verkörpert. Zweitens ist im Essay von der „Umgangssprache“ die Rede, von einer Sprache, die im alltäglichen Gebrauch der zwischenmenschlichen Verständigung dient. Diese Differenzierung der Sprachformen stellt er mithilfe bekannter Erzählstrukturen dar. Er spricht vom Zerfall der mythischen Ursprache, die „in einzelne Wörter, [in Laute, in Umgangssprache] zerrissen worden“ sei und dadurch eine neue, „dem praktischen Bedarf angepasste“ Form erhalten habe (Z 194). Ähnlich wie in der Erzählung Der Komet verweist er auf den bruchstückhaften Charakter der Sprache, in deren fragmentarisierten Formen sich das Verborgene vergeblich zu artikulieren versuche. Die Worte sind ihm zufolge degradierte Ableitungen und Fetzen einer einstigen Ganzheit. Schulz begreift die Sprache als ein sekundäres Gebilde, als „ein späteres Produkt“ (Z 193), das infolge einer Zerstückelung entstanden ist. Den Prozess des Zerfalls verdeutlicht er auch mit einem allegorischen Bild – die zerrissenen Worte ähneln dem „zerstückelte[n] Leib der Schlange in der Legende, deren Einzelteile einander in der Dunkelheit suchen“ (Z 194). Was den Zerfall verursacht habe, bleibt offen, doch lässt sich eine Kritik an der Rationalisierung herauslesen, denn das Wort wird als „Resultat der Technik“ bezeichnet (Z 193). Wichtiger indes als die Gründe für den Zerfall scheint der gegenwärtige fragmentarische Status der Sprache zu sein. Schulz unterstreicht es mehrfach: Das Wort ist ein „Bruchstück“, ein „Rudiment“, ein „Mosaikstein“ (Z 193). Deshalb wohnt jedem Wort der Drang inne, eine Ergänzung zu suchen. Das Moment der Sehnsucht ist also der Sprache selbst schon eingeschrieben. Aus diesen Gedanken ent­ wickelt Schulz seine Konzeption einer Poesie, der durch „Kurzschlüsse des Sinns ­zwischen den Worten“ (Z 194) wenigstens für Augenblicke eine Wiederherstellung der verlorenen sprachlichen Gesamtheit gelingt. Schulz’ Konzeption von Dichtung und Sprache lässt sich in verschiedenen Kontexten interpretieren. Man kann sie, wie Władysław Panas in seiner Studie Księga blasku [Das Buch des Glanzes], vor dem Hintergrund der jüdischen Mystik lesen – mit Blick auf die lurianische Kabbala und insbesondere die Vorstellung vom Bruch der ­Gefäße, mit der der Rabbiner Isaak Luria (1534–1572) die Frage zu beantworten versuchte, warum das Schöpfungswerk eines als vollkommen gedachten Schöpfers mit Makeln behaftet sei.114 Weiterhin verweist das Konzept von Schulz auf den Entwurf einer verborgenen Sprache der Natur, der letztlich theologischen Ursprungs ist und in der Epoche der Empfindsamkeit unter anderem in den Schriften von Johann Georg ­Hamann (1730–1788) aufgegriffen wurde. In seiner Aesthetica in nuce schreibt Hamann, dass die Poesie „die ausgestorbene Sprache der Natur von den Todten wieder“

114 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967, 295. Władysław Panas, Księga blasku, 107–169. Vgl. auch Lothar Quinkensteins Schulz-Lektüre, die sich wesentlich auf Panas stützt: „Bruno Schulz – ein Kabbalist der Moderne“, 189–228.

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auferwecke.115 Die Aufgabe des Dichters sei es, die bruchstückhafte Sprache der Dinge – die „Turbatverse“, wie er sie nennt – zu erkennen, zu ordnen und zum Klingen zu bringen.116 Zur Veranschaulichung der Mitteilungskraft, die in der Natur wirkt, bedient er sich des Bildes der „verkehrten Seite von Tapeten“, die der Poet durchscheinen lassen solle. Die Tapeten spielen notabene bei Schulz eine bedeutende Rolle – sie führen nicht nur ein geheimnisvolles Eigenleben, sie sind sogar zu vorsprachlichen Äußerungen fähig. In der Erzählung Die Heimsuchung spürt der Vater beispielsweise, „wie der Raum ihn mit dem pulsierenden Dickicht der Tapeten, ihrem Flüstern, Zischeln und Lispeln überwucherte“ (Z 30). Die Verborgenheit der Sprache war auch für die romantische Auffassung des Dichters ausschlaggebend, der in besonderer Weise für versteckte Impulse empfänglich sein sollte. Das dichterische Sprechen stellte man sich als ein Benennen vor. Der Poet war der Namengebende, der für jenes Geheimnis, das sich in den Dingen verberge, das offenbarende „Zauberwort“ finde – um es in Anlehnung an Joseph von Eichendorff zu sagen.117 Auch Schulz’ Sprachkonzeption kann in diesem romantischen Zusammenhang gelesen werden. Wenn der Vater in der Erzählung Der Komet keine Worte findet, sondern nur erschüttert „vor der stotternden Artikulation“ (S 312) der Welt steht, nimmt er am fragmentarisierten Geheimnis des Sinns teil. Da ausdrücklich davon die Rede ist, dass „verkrüppelte […] Halbsilben aus der Tiefe der Unfreiheit“ (S 312) dringen, lassen sich die Überlegungen zur Sprache auch mit Walter Benjamins früher Sprachphilosophie zusammendenken, in der sowohl die Idee der Sprachmagie als auch die Vorstellung einer Übersetzung bzw. Freisetzung eines schlummernden Potenzials der Dinge von zentraler Bedeutung sind.118 Im Anschluss möchte ich jetzt die Perspektive erweitern und auf einige Elemente aus Schöpfungs- und Künstlermythen in der Erzählung Der Komet aufmerksam machen. Renate Lachmann hat sich mit diesen Fragen auseinandergesetzt und auf die breite Palette möglicher intertextueller Bezugsfelder bei Schulz hingewiesen: Trotz der Verstellungen und Verzerrungen, denen Bruno Schulz seine Prätexte unterzieht, sind sowohl die gnostische wie die kabbalistische Folie zu erkennen. Aber nicht nur die Schöpfungsspekulationen von Gnosis und Kabbala werden zu Elementen einer grotesken Semantik, sondern auch

115 Johann Georg Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten: Aesthetica in nuce, hg. v. Sven-Aage Jørgensen, Stuttgart 1986, 116. 116 Ebd., 87. 117 Ich beziehe mich auf das Gedicht Wünschelrute (1835): „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ Joseph von Eichendorff, Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1962, 90. 118 Siehe Winfried Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a. M. 1980, 17–21. Vgl. auch den Aufsatz von Mieke Bal, die sich der Anschlussfähigkeit von Benjamins Sprachtheorie widmet, indem sie selbige auf die historische Interpretation der visuellen Wahrnehmung der Gegenstände überträgt. Mieke Bal, „Ekstatische Ästhetik (Bernini metaphert)“, in dies., Kulturanalyse, hg. v. Thomas Fechner-Smarsly u. Sonja Neef, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2002, 224–262.



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die Homunculus-Alchimie (Faust-Legende) sowie bestimmte thematische und narrative Details literarischer Interpretationen der Schöpfungsmytheme: so z. B. die Marionetten-, Automaten- und Puppenphantasie der Romantik (Kleist, E. T. A. Hoffmann, Brentano); die techno-magische, präscience-fiction Version des Pygmalion-Mythos (Villiers de L’Isle-Adam); die synkretistische, spätsymbolistische Bearbeitung des Golem-Stoffes (Meyrink), die mechano-morphotischen Fabrikationen des Dadaismus (M. Duchamp, M. Ernst) und der Puppenzerstückelungswahn (H. Bellmer).119

Die Entschlüsselung aller genannten Konnotationen wäre sicher ein ergiebiges Unterfangen, ich möchte mich an dieser Stelle auf den Verweis auf die „Homunculus-­ Alchimie“ und die „Faust-Legende“ konzentrieren. Mehrfach unterstreicht Lachmann, dass Schulz mit den Anspielungen „eklektisch, synkretisierend und groteskisierend“ ­verfahre, so dass sie oft kaum wiederzuerkennen bzw. nur schwer voneinander zu trennen seien. Insbesondere in Bezug auf die Erzählung Der Komet spricht sie von einer „skurrile[n] Verknüpfung von Gnosis und Alchimie“.120 Diese Formulierung trifft meines Erachtens den Textbefund sehr gut, denn tatsächlich fällt in diesem Text die Überblendung von Motiven und Bildern aus diesen Bereichen ins Auge, so etwa das Motiv der Stufenleiter, der Komet als Opus Magnum der väterlichen Experimente oder der Kamin in der Funktion einer alchemistischen Retorte oder eines Ofens, in dem der Embryo des Kometen – der Homunculus – bebrütet wird. Vor allem das Motiv des Homunculus in dieser Erzählung wurde mehrfach in der Forschungsliteratur gedeutet. Zum einen gilt es als Persiflage der Parusie. Jan Gondowicz interpretiert den Kometen als messianische Wiederkehr à rebours und bringt die Erzählung mit dem verschollenen und legendenumwobenen Roman Mesjasz [Der Messias] in Verbindung, an dem Schulz angeblich bis zu seinem Tod arbeitete – beide Werke sollen in derselben Zeit entstanden sein.121 Zum anderen versucht etwa Arkadiusz Kalin, den Homunculus noch stärker im Kontext der alchemistischen Vorstellungswelt zu verorten. Kalin folgt nicht der religiösen Interpretationsspur, sondern geht von der Verwandtschaft der Figur des Vaters mit Goethes Faust aus. Der Komet im Kamin symbolisiert für ihn den von den Alchemisten gesuchten Stein der Weisen (lat. lapis philosophorum). Kalin argumentiert nicht nur damit, dass im Text die steinerne Beschaffenheit des Kometen hervorgehoben wird – „kalkige Skulptur“ oder „kalkiger Globus“ (S 325) –, er sieht in dem zum Homunculus gewordenen Kometen auch eine Synthese der Gegensätze im Sinne der Vereinigung von Magie und Wissenschaft

119 Renate Lachmann, „Der Demiurg und seine Phantasmen. Schöpfungsmythologische Spekulationen im Werk von Bruno Schulz“, 135. 120 Ebd., 150. 121 Jan Gondowicz, „Noc komety“, in Wiera Meniok (Hg.), Bruno Schulz jako filozof i teoretyk litera­ tury, 215–235. In einer der Fußnoten benutzt Gondowicz in Bezug auf den Homunculus bei Schulz den Ausdruck ludus naturae – damit verweist er auf das naturphilosophische Konzept der wunderlichen und befremdenden Naturdinge. Mehr dazu vgl. Hartmut Böhme, „Ludi Naturae. Transformationen einer Denkfigur. Vorwort“, in Natascha Adamowsky, Hartmut Böhme, Robert Felfe (Hg.), Ludi Natu­ rae: Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft, München 2008, 33–48.

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in der Figur des Faust.122 Die Vermählung der Oppositionen gehört nach Kalin zu den wichtigsten alchemistischen Phantasien und wurde in der Ikonographie häufig unter anderem von einem Zwitter versinnbildlicht.123 Dieser hermaphroditische Charakter ist auch auf sprachlicher Ebene präsent – in der Übersetzung allerdings muss dieser Aspekt verloren gehen. Der Komet ist im Deutschen ein Maskulinum, im Polnischen dagegen ein Femininum: ta kometa, dem Maskulina wie „der Homunculus“ oder „der Bruder des Mondes“ (S 325) zur Seite stehen. Auf Kalins These, dass wir in dieser Erzählung mit der vom Homunculus verkörperten Vision einer harmonischen Verbindung der Oppositionen zu tun haben, werde ich noch zurückkommen. Hervorzuheben wäre vor allem, dass in Der Komet intensiv mit klassischen Dichotomien – Dunkelheit versus Helligkeit, Farbigkeit, Glanz – ge­ arbeitet wird, die auch in der alchemistischen Rhetorik von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die Kontraste kristallisieren sich im Fortgang der Erzählung heraus. Zu ­Beginn sehen wir in den Beschreibungen ein buntes Farbenspiel. Dominant scheint das Rot zu sein – „die farbigen Orakel des Kalenders blühten rot im Schnee“ (S 304). Mehrfach wird die Intensität dieser Farbe unterstrichen: „grelles Zinnober“, das Rot ist „brennend“, es lässt die Tage „mit falschem Feuer, mit Strohfeuer, kalt aufflackern“, man ist „geblendet von diesem prophetischen Rot“ (S 304). Des Weiteren wird auf die Mannigfaltigkeit der Farben hingewiesen: „farbige Funkerei des Kalenders“, „buntes Firmament“, alles schillert von Farben „wie schuppiges Perlmutt“ (S 305). Auch die Intensität der Helligkeit wird betont: Es wird „heller und immer heller“, alles glänzt und leuchtet wie ein „von Kerzenständern und Silber glitzernder Tisch“ (S 304). Diese Farbenvielfalt bildet einen Kontrapunkt zur Dunkelheit im Kamin, der dem Vater als Zufluchtsort dient. Ab und an unterbricht er nämlich seine Experimente, um seinen Kopf ins Ofentürchen zu stecken und um das „warme und schwarze Nichts“ zu genießen, denn „[d]ort war es dunkel, rußig-still und heimelig wie im innersten Kern des Nichts, und warme Ströme wanderten hinauf und hinab“ (S 313). Die Stille im Kamin kontrastiert auch mit den lauten Geräuschen der bunten Welt. Zu Beginn der Erzählung ist vom „gedankenlosen Spatzengezwitscher“ oder vom „durchdringenden Piepsen“ der Finken, Gimpel und Meisen die Rede (S 305). Auch das Wetter ist von Bedeutung: Der Sturm „[tost] hoch über der Stadt“, und der

122 Arkadiusz Kalin, „Zaklinanie katastrofy. Ezoteryka i nauka w Komecie Brunona Schulza“, in ­Joanna Michalik u. Przemysław Bursztyka (Hg.), Schulz: Między mitem a filozofią, Gdańsk 2014, 317 f. Auf die markante Verbindung des Magischen und Wissenschaftlichen weist auch Bruno Arich-Gerz in seiner Interpretation dieser Erzählung hin. Vgl. Bruno Arich-Gerz, „The Comet and the Rocket: Intertextual Constellations about Technological Progress in Bruno Schulz’s Kometa and Thomas Pynchon’s Gravity’s Rainbow“, in Comparative Literature Studies Nr. 41.2/2004, 231–256. 123 Hierzu auch die repräsentative Sammlung von Graphiken und Zeichnungen in einem populärwissenschaftlichen Kompendium: Alexander Roob, Alchemie & Mystik: Das hermetische Museum, Köln u. a. 1996, 354–377. Vgl. weiterhin den Ausstellungskatalog in Form eines Karteikastens: Jörg Völlnagel (Hg.), Alchemie: Die Große Kunst, Berlin 2017.



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Wind trägt aus der Ferne „den verlorenen Refrain eines Leierkastens“, so dass „die leisen Worte […] kaum zu vernehmen“ waren (S 306). Bei solcher Witterung bleibt man lieber im Haus – wie es auch Adela tut. Sie widmet sich der Reinigung der großen Kupferpfannen, „die unter ihrer Berührung metallisch klappern“ (S 306). Und auch dieses Detail passt in den Kontext: Kupfer steht in der Alchemie für den Planeten Venus. Durch die Fülle an Farben und Klängen entsteht in der Erzählung eine karnevalistische Stimmung – in einem Vergleich wird „eine Handvoll Konfetti“ erwähnt, wie in einem festlichen Umzug fahren in der Stadt unzählige Velozipede umher, auf den ­Straßen versammeln sich immer wieder die Menschen, elegant angezogene Advokaturkonzipienten, die spazierenden Damen den Hof machen. Diese bunte Geschäftigkeit steht im Gegensatz zur bedächtigen Arbeit im Laboratorium des alchemistischen ­Experimentators. Im Zentrum der Versuche des Vaters steht die Materie, die den Schlüssel zur ­alchemistischen Lehre darstellt. Sie wird sowohl mit dem Chaos und der Dunkelheit als auch mit wuchernder Kraft in Verbindung gebracht. Ihr permanentes Zirkulieren hält die Welt in Gang, aus diesem „Schoß der ewigen Materie“ (S 313) geht alle Existenz hervor. Erhellend sind in diesem Zusammenhang die Worte Mircea Eliades zum Weltverständnis der Alchemisten: Das vas mirabile des Alchemisten, sein Ofen, seine Retorten zeugen von noch größerem Ehrgeiz. Diese Apparate sind Schauplatz einer Rückkehr zum urzeitlichen Chaos, einer Wiederholung der Kosmogonie: die Stoffe sterben und auferstehen, um schließlich in Gold verwandelt zu werden.124

Das Motiv eines neuen Schöpfungsaktes kehrt in Schulz’ Prosa auch an anderen ­Stellen wieder, so spekuliert der Vater etwa in der schon erwähnten Reihe von Erzählungen über die Schneiderpuppen über die „zweite Genesis“ und äußert den Wunsch nach der Erschaffung einer „zweiten Generation der Geschöpfe“ (Z 66), die einen ­Gegenpol zur göttlichen Creatio bilden würden und aus dem bestehen sollten, was als minderwertig gilt. Sie wären also in einem programmatischen Sinne unvollkommen und mit Mängeln behaftet. Damit würden sie dem Unvollkommenen eine Form ver­ leihen, das sonst in der Kultur unsichtbar bliebe bzw. verdrängt werde. An diesem Punkt zeichnet sich ein wichtiger Unterschied zwischen den Ansichten des Vaters in Schulz’ Erzählungen und der alchemistischen Rhetorik ab. In vielen Arbeiten zur Alchemie wird auf die Motivkomplexe einer unfertigen Schöpfung und einer ­verdorbenen Materie hingewiesen. Der Wunsch der Alchemisten, diese Mängel zu b ­ eheben, die Unvollkommenheiten der Materie sozusagen auszugleichen, habe dann im Laufe der Zeit

124 Mircea Eliade, Schmiede und Alchemisten, übers. v. Emma von Pelet, Stuttgart 1980, 181.

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den Weg zur Entstehung der modernen Naturwissenschaften g ­ eebnet.125 Bei Schulz hingegen lässt sich ein solcher Drang, die Fehler der Schöpfung zu beheben und selbige dadurch der Vollkommenheit näher zu bringen, nicht erkennen. Ganz im Gegenteil – die neue Genesis, die dem Vater vorschwebt, soll gerade das Fehlerhafte aufwerten, ohne es zu korrigieren. Die Reden des Vaters in den Schneiderpuppen-Erzählungen sind ein leidenschaftliches Plädoyer für den Ausschuss, ja für den Schund. Denn eben hier, in der unfertigen, chaotisch keimenden Materie sieht er das eigentliche künstlerische Potenzial. Stefan Chwin hat sich mit diesen Gedanken auseinandergesetzt und auf den doppelten Kontext der Darstellung der Materie bei Schulz verwiesen. Zum einen sieht Chwin sie von alchemistischen Vorstellungen des dunklen Urstoffs beeinflusst, zum anderen von den naturwissenschaftlichen Forschungen der Zeit von Schulz geprägt, die sich intensiv auch den pathologischen E ­ ntwicklungen der Substanzen und Organismen widmeten.126 Im Zusammenhang mit der Problematik der Materie in der Erzählung Der Komet möchte ich noch den Aspekt ihrer Zirkulation und Transformation hervorheben. Unter anderem finden wir eine Bildlichkeit des Kreises, des Rades oder der Spirale, die den ganzen Text konsequent durchzieht und an das alchemistische Bild des Mandala erinnert: Stromkreis, Tierkreiszeichen, „Kreisen und Spiralen eines Magnetfelds“ (S 312), „der ewige Kreislauf der Substanz“ (S 310) oder die „kreisenden geheimen Kräfte“ (S 310). Nicht zu vergessen die Zweiräder und Velozipede – auch Onkel Edward verschafft sich ein solches und fährt mit „spiralig aufgebogenem“ Schnurrbart „um den ganzen Marktplatz herum“ (S 315). Wie schon erwähnt, stellt er sich freiwillig für die Experimente des Vaters zur Verfügung, lässt sich auf „das nackte Prinzip des Neef’schen Hammers reduzieren“ (S 315), lässt den Prozess einer „ermüdenden Psychoanalyse“ (S 316) über sich ergehen, wodurch er schließlich unsterblich wird. Onkel Edwards Psyche wird im wahrsten Sinne des Wortes zerlegt, der Vater führt sie, gleich einem Gespinst aus Leitungen, über die Wand, wo er sie mit Häkchen befestigt. Hier finden wir eine hochkonzentrierte Verdichtung alchemistischer Motive: Es ist der Initiationsritus eines Adepten der Alchemie; die Unsterblichkeit erscheint als Phantasma und erstrebtes Ideal der Alchemisten; Destillation und Extraktion gelten als die wichtigsten Praktiken der Alchemie. Gaston Bachelard etwa verweist in seiner Analyse histo-

125 Hierzu Alexander Roob: „Und erst auf der Grundlage des Motivs einer unvollkommenen und verbesserungsbedürftigen Schöpfung konnte sich die breite Bahn der modernen Naturwissenschaften eröffnen.“ Alexander Roob, Alchemie & Mystik, 23. 126 Stefan Chwin, „‚Grzeszne manipulacje‘. Historia sztuki a historia medycyny“, in Jerzy Jarzębski (Hg.), Czytanie Schulza, 278–285. Der Text in englischer Übersetzung: Stefan Chwin, „Bruno Schulz’s ‚Sinful Manipulations‘. The History of Art and the History of Medicine“, in Wojciech Chmurzyński (Hg.), Bruno Schulz 1892–1942: English supplement of Catalogue-Memoirs of the Exhibition „Bruno Schulz (1892–1942). Ad memoriam“ in Muzeum Literatury in Warsaw, Warszawa 1995. Auch in Periphe­ ry. Journal of Polish Affairs Nr. 1–2/1997, 75–78. Zu diesem Thema außerdem Stefan Chwin, „Twórczość i autorytety. Bruno Schulz wobec romantycznych dylematów tworzenia“, 69–93.



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rischer Quellen auf die Lust am Destillieren, die unter den Laboralchemisten mitunter in Besessenheit ausuferte: Alles wollte man in die Destillierkolben stecken, von Kröten bis zur Elefantenhaut.127 In diesem Zusammenhang macht Bachelard die interessante Bemerkung, dass die Vorstellung vom Kreislauf der Materie mit der Annahme ihrer Durchlässigkeit einhergehen müsse. Deshalb, so Bachelard weiter, tauche auch das Motiv der Pore so häufig in den alchemistischen Schriften auf, denn „mit diesem besonders blendenden Begriff gelingt es ohne große Schwierigkeiten, die Gegensätze zu versöhnen“.128 Die porige Faktur, die den permanenten Austausch zwischen an sich getrennten Bereichen ermögliche, sei demnach ein Sinnbild für die Zirkulation aller Substanzen sowie für den Wunsch nach der ersehnten Synthese. Diese Vorstellung einer sozusagen undichten Struktur der Welt ist auch bei Schulz präsent. In den Traktaten über die Schneiderpuppen spricht der Vater von der „Liebe zur Materie an sich, zu luftiger und poröser ­Materie, zu ihrer einzigartigen mystischen Konsistenz“ (Z 68). Der Kreis oder die Pore sind Beispiele für eine Symbolik, die Schulz’ Erzählung und alchemistische Schriften gemeinsam haben. Auf diesen Aspekt der Rhetorik der Alchemie macht auch Michel Butor in einem seiner Essays aufmerksam: „Die alchemistischen Texte tauchen uns in ein geistiges Universum zurück, in dem alles als symbolisch betrachtet werden kann.“129 Das komplexe System von Symbolen diente der Alchemie, die sich stets an der Grenze zur Häresie befand, zur Tarnung gegenüber der Zensur der Kirche. Bei Schulz steigert diese Bildlichkeit die geheimnisvolle Stimmung im Text und betont den ketzerischen Charakter der väterlichen Experimente, die sich gegen die Normen wenden, die Einteilung in das Rationale und Irrationale überwinden wollen. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass in der Erzählung Der Komet ­Elemente wie Feuer oder Wasser – die zu den Grundbegriffen alchemistischer Lehre gehören – in verschiedenen Kontexten auftauchen. Sie werden als unkontrollierbare Naturgewalten („Manchmal brach ein Feuer in der fernen Vorstadt aus“, S 305) sowie als Leben spendende Urstoffe betrachtet – der Komet „keimte im Feuer und begann in der dunklen Kaminretorte zu sprossen“ (S 325). Vor allem das Wasser ist für die Experimente des Vaters ausschlaggebend, der sich programmatisch gegen die „vertraute und solide Prosa ewiger Ordnungen“ (S 319) richtet. Mit seinen Versuchen möchte der Vater die steifen Regeln der Wirklichkeitswahrnehmung unterminieren und auf diese Weise die „Lockerung fundamentaler Gesetze“ (S 319) anstreben: „Panta rhei!“ rief er und zeichnete mit der Hand den ewigen Kreislauf der Substanz nach. Schon lange verlangte es ihn danach, die in ihr kreisenden geheimen Kräfte zu mobilisieren, ihre Festigkeit zu verflüssigen […]. (S 310)

127 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 186. 128 Ebd., 136. 129 Michel Butor, Die Alchemie und ihre Sprache: Essays zur Kunst und Literatur, übers. v. Helmut Scheffel, Frankfurt a. M. 1984, 22.

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Hier begegnet uns die Metapher der Verflüssigung wieder, die im vorigen Teil in Bezug auf das Subjekt besprochen wurde. Der Vater postuliert eine andere Erfahrung der Welt, die sozusagen ihren Aggregatzustand ändert und als flüssige – das heißt veränderbare – Masse empfunden wird. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich auch ein neues Verständnis vom Wissen, das nicht mehr primär für die progressive Akkumulation von Kenntnissen steht, sondern mit der Fähigkeit verbunden ist, das Vorgefundene kritisch zu betrachten und normative Setzungen zu verflüssigen.130

2.2.3 Reintegration der Verführung in das Wissensverständnis In diesem Teil möchte ich mich der Frage widmen, warum in der Erzählung Der Komet Assoziationen mit der Alchemie und der mit ihr verwandten Astrologie aktiviert werden. Warum sind bei einer Reflexion über ein alternatives Verständnis vom Wissen und vom Subjekt gerade diese Bilderreservoire so ergiebig? Um die Frage zu beantworten, möchte ich zunächst von Schulz’ Gesamtwerk ausgehen und seine Anspielungen auf eine alchemistische Rhetorik innerhalb der Themenkomplexe verorten, die seine Erzählungen durchziehen. In einem weiteren Schritt versuche ich dann den intellektuellen Kontext der Epoche mitzuberücksichtigen. Wenn wir die Alchemie als Sinnbild für etwas Eigentümliches und Wunderliches verstehen wollen, stellen sich die alchemistischen Bezüge als Verweise auf ein größeres Thema dar, das Schulz beschäftigte. Sie belegen seine Faszination für die Abweichung, für das Nicht-Konventionelle, für die unsteten Formen der Ränder. Sein Rückgriff auf die Alchemie wäre somit als Rekurs auf eine Erscheinung zu deuten, die aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts als kulturelles Randphänomen gilt. In Schulz’ gesamtem Schaffen spielt das Interesse an marginalen Themen bzw. am Marginalen schlechthin eine wichtige Rolle.131 Auf mehreren Ebenen drückt es sich aus – so findet

130 Diese Dynamik der Lockerung der Fundamente gilt Michał P. Markowski in seiner neuesten ­Monographie als Schlüssel für das Verständnis des Werkes von Schulz. Ein ganzes Kapitel entfaltet er aus der Beobachtung, dass Schulz häufig das polnische Präfix „roz-“ benutzt, das unter anderem eine Bewegung der Ausbreitung und Lockerung signalisiert. Markowski zieht eine Parallele zu Hegel, der im Vorwort zur Phänomenologie des Geistes den Übergang von der Substanz zum Subjekt gleichfalls mit den Vorsilben „aus-“ bzw. „ent-“ markiert. Markowskis These lautet, dass Schulz in derselben Tradition ontologischer Einbildungskraft wie Hegel stehe. Sowohl für Schulz als auch für Hegel sei der Rückzug ins Innere eine Regression, die wirkliche Entwicklung aber bestehe darin, sich nach außen zu bewegen – von der Essenz zur Existenz –, also einen Prozess zu durchlaufen, bei dem die Substanz verschiedene Formen annehme, von denen keine definitiv sei. Michał P. Markowski, Powszechna rozwiązłość, 61–69, vor allem 67. 131 Auf diesen Aspekt verweist auch Krzysztof Stala in seiner Studie Na marginesach rzeczywistości (Erstveröffentlichung auf Englisch als On the Margins of Reality. The Paradoxes of Representation in Bruno Schulz’s Fiction, Stockholm 1993). Er analysiert Schulz’ Prosa mithilfe dekonstruktivistischer Theorien (vor allem mit Begriffen von Jacques Derrida) und bemerkt, dass die „Ränder der Wirklich-



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sich beispielsweise mehrfach das Motiv einer Flora, die im Hintergrund des Geschehens wuchert. Schon in der Erzählung August, die den Band Die Zimtläden eröffnet, haben wir ein sprechendes Beispiel: Vom großen Tag vergessen, wucherte hier reichlich und still allerlei Grün, Blumen und Unkraut, froh über die Pause, die es jenseits der Zeitgrenze am Rand eines noch nicht vollendeten Tages verträumen konnte. (Z 13 f.)

Die Pflanzenarten werden nicht näher bezeichnet, es ist „Unkraut“, das sich ausbreitet.132 Die wuchernden Pflanzen wachsen auch nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern an den Rändern der Tage, an den Rändern der Zeit. In diesem Wachsen jenseits der Kategorie der Nützlichkeit steckt ein ungeheures Potenzial: Das verflochtene Dickicht aus Gras, Unkraut, Grünzeug und Disteln lodert im Feuer des Nachmittags. […] Und zum Zaun hin erhebt sich der Rasenpelz zu einem bucklig-gewölbten Hügel, als hätte sich der Garten im Schlaf auf die andere Seite gedreht, und als atmeten seine breiten Bauernschultern nun die Stille der Erde. Auf diesen Gartenschultern war die liederliche weibische Üppigkeit des August bis in die stillen Klüfte der mächtigen Kletten ausgeufert und hatte sich mit haarigen Blattblechen und wuchernden Zungen fleischigen Grüns breitgemacht. […] Doch auf der anderen Seite des Zaunes, hinter diesem Rückzugsort des Sommers, wo sich die Idiotie des verblödeten Unkrauts ausgebreitet hatte, befand sich ein wild von Disteln überwucherter Abfallhaufen. (Z 14 f.)

Das zum Dickicht verwucherte Grün wird anthropomorphisiert, es erhält Körperteile wie Schultern oder Zungen. Den sinnlichen Charakter der Naturbeschreibung unterstreichen Adjektive wie „fleischig“, „liederlich“, „üppig“, die dem Text eine haptische Dimension verleihen. Die Vegetation befindet sich in einem permanenten Wachstum, sie „wuchert“, „überwuchert“ und droht ständig „auszuufern“. Das Wuchern findet seine Widerspiegelung in der Sprache – in der üppigen Metaphorik wie in der Syntax, die gleichfalls alles andere als asketisch ist. Durch die Vergleiche mit dem Bäuerlichen („Bauernschultern“) und Weiblichen („weibische Üppigkeit“) werden Assoziationen mit einer primitiven Ursprünglichkeit geweckt. Das an den Rändern wuchernde Grün widerspricht der Ratio („die Idiotie des verblödeten Unkrauts“) und dem Prinzip der

keit“ und damit die Strategien der Desintegration und Dezentralisierung ausschlaggebend für das schulzsche Verständnis der Mimesis seien. Er unterscheidet in den Erzählungen zum einen die „negative Mimesis“, die mit Motiven der Verfremdung, Desillusionierung, Deformation oder auch einer Abwertung der Wirklichkeit verbunden sei (mit Schulz’ Worten: „der Bankrott der Wirklichkeit“); zum anderen betont er die „positive Mimesis“, die in einer Mythisierung der Wirklichkeit, in der Pluralität der Ordnungen, der Potenzialität der Bedeutungen und in den Illusionen möglicher Welten zum Tragen komme. Krzysztof Stala, Na marginesach rzeczywistości, 223–255. 132 Zur Symbolik der einzelnen Motive vgl. die jeweiligen Lemmata (rośliny / Pflanzen, chwasty / Unkraut und wegetacja / Vegetation) im „Schulz-Wörterbuch“: Włodzimierz Bolecki, Jerzy Jarzębski, Stanisław Rosiek (Hg.), Słownik schulzowski, 315 f., 54 f., 406 f.

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Nützlichkeit (es ist nutzlos wie ein „Abfallhaufen“). Schulz’ Interesse am Marginalen tritt uns in dieser Passage deutlich vor Augen. Doch betrifft das Wuchern in seinen Erzählungen nicht nur die Pflanzenwelt, auch in anderen Phänomenen tritt es uns entgegen. In der Beschreibung der Krokodilstraße beispielsweise heißt es, dass sie wegen ihrer Künstlichkeit im Vergleich zu anderen Stadtteilen wie ein krankhaft vermehrter Auswuchs wirke, und dass alles, was sich dort abspiele, als Aberration zu betrachten sei: „Hier, in der Atmosphäre exzessiver Leichtlebigkeit beginnt auch die winzigste Anwandlung zu keimen, jede flüchtige Spannung schwillt und bläht sich zu einem aufgetriebenen, leeren Gewächs“ (Z 146). Auch Tiere und Menschen sind von diesem Wuchern betroffen. Die Erzählung Die K ­ akerlaken handelt von der Invasion der Insekten im Haus. Die Kakerlaken werden als riesig bezeichnet, so dass man beinahe an mutierte Monster denken möchte. Sie erscheinen in Massen, als „schwarze, wimmelnde Flut, die das Dunkel der Nacht mit hauchzartem Huschen erfüllte“ (Z 153). Ein weiteres Beispiel für die Dynamik der ­Wucherung und Mutation sind die Experimente des Vaters in der Erzählung Die Vögel. Der Vater möchte neue Vogelarten schaffen, daher lässt er sich aus fernen Ländern exotische Vogeleier schicken, lässt sie ausbrüten und beschäftigt sich dann damit, ­Vogelhochzeiten zu veranstalten. Bei dieser durchaus wunderlichen Tätigkeit geht er mit dem Ehrgeiz eines Züchters vor – die ausgeschlüpften Küken nennt er „Auswüchse des Lebens“ (Z 44). Auch in vielen weiteren Erzählungen von Schulz zeichnen sich die Protagonisten dadurch aus, dass sie von gesellschaftlichen Normen abweichen bzw. als Randfiguren zu betrachten wären, zum Beispiel die schwachsinnige Bettlerin Tłuja, der Nachbar Edzio mit den verkrüppelten Beinen, der geistig zurückgebliebene Cousin Dodo, dem das Bewusstsein für die Zeit fehlt, der schrullig-menschenscheue Onkel Hieronim, der wieder zum Kind gewordene Pensionist und schließlich nicht zuletzt der Vater des Erzählers selbst, der von seiner Umgebung auch dann als Sonderling wahrgenommen wird, wenn er sich gerade nicht in einen Kondor oder eine Kakerlake, in einen Krebs oder einen Skorpion verwandelt. Der Themenkomplex der mutierenden Wesen und der wuchernden Natur wird in der Forschungsliteratur – zum Beispiel in den schon erwähnten Aufsätzen von S ­ tefan Chwin – in Bezug auf die Eugenik interpretiert, die sich zu Schulz’ Lebzeiten intensiv entwickelte.133 Man kann das Phänomen aber auch breiter in den Blick nehmen und dahinter eine Reaktion auf philosophische, geschichtliche und soziokul­ turelle Umbrüche Anfang des 20. Jahrhunderts sehen. Die Konfrontation mit einer axiologisch zerfallenden Welt, deren Leitbegriffe und Paradigmen hinterfragt wurden, fordert eine kritische Auseinandersetzung mit den nicht mehr als unanfechtbar geltenden Normen, also letztlich eine Beschäftigung mit Rändern, Abweichungen und Mutationen heraus. So rückt auch bei Schulz alles, was herkömmlich als marginal abgewertet wurde, ins Zentrum seines künstlerischen Interesses. Nicht auszuschließen

133 Stefan Chwin, „‚Grzeszne manipulacje‘. Historia sztuki a historia medycyny“, 279.



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ist in diesem Zusammenhang der Aspekt der Geopoetik. Die besondere Erfahrungsqualität der Grenzregion, des galizischen Städtchens Drohobytsch, aus dem er stammte und das in seinem Schaffen – wie Witebsk bei Marc Chagall – zum poetisch bzw. surrealistisch modifizierten Mittelpunkt der Welt wird, mag ihn in besonderer Weise für solche Phänomene sensibilisiert haben. Auch die Alchemie wäre in diesem Sinne als Randerscheinung und Abweichung von einer fortschrittsorientierten Entwicklungs­ linie der Wissenschaft zu verstehen. Der nächste Themenkreis, der die alchemistischen Anspielungen in Schulz’ Text erklären könnte, ist das Barocke als festes Bezugsfeld seiner Prosa.134 Die in der Erzählung evozierte Vorstellung der Alchemistenküche wirkt als ironische Brechung der wissenschaftlichen Bestrebungen – als Inszenierung einer Wissenschaft, wie sie im Barock üblich war. Das Laboratorium des Vaters mit dem im Kamin gelandeten Kometen ähnelt einem barocken Kuriositätenkabinett. Auffällig sind im Text auch die Spuren barocken Stils, die sich etwa in der blumigen Sprache niedergeschlagen haben, in der Intensität der Dichotomien, in den zahlreichen Fremdwörtern und nicht zuletzt im rhetorischen Schmuck: Die Glorie dieser Nächte hatte unsere Gesichter himmelblau gefärbt, und so wanderten wir über die Firmamente, von den Explosionen ferner Sonnen, in siderischen Erleuchtungen pulsierend – ein Menschengetümmel, das auf breiten Pfaden durch die Untiefen der über den Himmel gegossenen Milchstraßen zog, ein Menschenstrom, überragt von den Velozipedisten auf ihren Spinnenapparaten. (S 322)

Das Zitat ist ein Musterbeispiel für die rhetorische Figur der Übertreibung. Die Sprache explodiert geradezu, katapultiert sich bis an die Grenzen der Verständlichkeit, der Leser verliert sich in der Vielzahl der Details, in der Überfülle der Bilder. Die kosmische Perspektive („Himmel“), die Buntheit, Dynamik, Intensität und Abruptheit der Erscheinungen („Explosionen“, „Erleuchtungen“), die Wirkung der als Kippbild arrangierten Wirklichkeit (der Menschenstrom auf der „Milchstraße“), die Einsprengsel aus Fremdsprachen („siderisch“, „Velozipedist“), die Monumentalität des Ganzen (Kollektiva wie „Menschengetümmel“, „Menschenstrom“) sowie die Häufungen von Pluralformen („Sonnen“, „Firmamente“, „Explosionen“, „Nächte“) – all das erinnert an die barocke Ästhetik des Übermaßes. Doch nicht nur auf der Ebene des Sprachgestus spielt Schulz mit solchen Verweisen. Auch die Raumauffassung trägt barocke Züge. In der Erzählung Die Krokodilstraße wird der Stadtplan mit „barocken Prospekten“ verglichen (Z 130). Diese zeichneten sich durch eine besondere Darstellung der Tiefendimension aus. Die Besonderheit ­solcher Perspektiven kann man sich mithilfe von Stichen aus dieser Zeit vergegenwärtigen – zum Beispiel in dem Atlas Civitates orbis terrarum, der um die Wende vom

134 Mehr über die Affinitäten zwischen Avantgarde und Barock vgl. Živa Benčić, „Avantgarde und Barock“, in Aleksandar Flaker (Hg.), Glossarium der russischen Avantgarde, Graz 1989, 48–60.

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16. zum 17. Jahrhundert von Georg Braun und Frans Hogenberg in Köln herausgegeben wurde und über fünfhundert Ansichten von Städten in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika beinhaltet. Die dort abgebildeten Pläne stellen ganze Städte dar. Darauf sind dreidimensionale Gruppen von Gebäuden sowie einzelne Elemente der Landschaft zu sehen. Die Genauigkeit ihrer Darstellung hängt von der Sicht des idealen Betrachters ab und wird mit der Entfernung geringer – am Rande der Stiche werden häufig Menschen gezeichnet, der Betrachter nimmt quasi deren Sicht auf die Stadt ein. Auch in der Prosa von Schulz ist die Raumwahrnehmung stark an den subjektiven Blickwinkel gebunden. Der Raum entsteht aus den Blicken des Subjekts – er entwirft sich als individuelle Erfahrung. Diese hat keine klare Struktur, die sich präzise auf einer Landkarte darstellen ließe. Die Räume bei Schulz entziehen sich den Regeln der klassischen Logik, der euklidischen Geometrie oder der Physik Newtons. Sie werden nicht als eine geordnete, fertige Form – nicht more geometrico – dargestellt, sondern als fließende, in steter Bewegung und Verwandlung befindliche Sphären. Die Protagonisten irren in traumhafter Atmosphäre durch labyrinthische Räume, die keinen übersichtlichen Aufbau aufweisen, vielmehr ein Amalgam aus realen, imaginären und mythisch-magischen Elementen darstellen. Der Vater gründet das Königreich seiner Vögel auf dem Speicher – der Dachboden wird zur „Arche Noah, in die Geflügeltes ­jedweder Art aus fernen Landen geflogen kam“ (Z 47). Auch verändert das Elternhaus im Ganzen – gleich einem Rhizom – seine räumliche Struktur, es wächst und wuchert in irritierenden Verzweigungen: „Die Wohnung besaß keine bestimmte Anzahl von ­Zimmern, niemand hatte sich je gemerkt, wie viele davon an fremde Mieter vergeben waren“ (Z 27). Der Raum lässt sich nicht endgültig erfassen oder messen, er bleibt ungezähmt, belebt und damit unberechenbar. Ebenso vermittelt das Interieur ein Gefühl der Instabilität. Die Tapeten sind ein „pulsierendes Dickicht“, das sein eigenes Leben führt – sie welken, rollen sich ein, verlieren Blätter und Blüten oder lichten sich herbstlich (Z 30). Doch nicht nur die geschlossenen Räume werden in ihrer Geschlossenheit relativiert, auch der öffentliche Raum hat einen organisch-vitalen Charakter. Die Straßen der Stadt – vielmehr des Schtetls – werden zu einem „vielfach verschlungenen Labyrinth“, aus dem sich „Lichtnester herausgeschält [hatten]: die Läden – große, ­farbige Laternen mit aufgetürmter Ware und dem Stimmengewirr der Käufer“ (Z 175). Der Raum erschließt sich als Wahrnehmungswert des Individuums, er ist erfahrbar, aber nicht messbar. Auch die Position des Subjekts wird durch diese Dynamik instabil. Wenn die Größen der Räume variieren, ist kaum zu erraten, aus welcher Perspektive sie gerade dargestellt werden, so etwa in der Beschreibung des väterlichen Ladens, der mit einem Mal riesige Ausmaße annimmt, wenn „die Gehilfen auf den Tuchballen [herumkugeln], auf den Regalen Stoffzelte [aufschlagen] und in den Faltenbahnen [schaukeln]“ können (Z 170). Das letzte Zitat liefert eine weitere Spur für Schulz’ barocke Anspielungen: das suggestive Bild der Falte, das in seiner Prosa häufig wiederkehrt. Im Tuchladen des Vaters wird beispielsweise eine „nicht enden wollende, durch […] Hände fließende Stoffbahn“ (Z 176) gefaltet und drapiert, was ein Übermaß an wuchernder Materie und



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damit eine Überfülle an Schöpfungsmöglichkeiten suggeriert.135 Die Falte als Metapher taucht nicht nur in Bezug auf Räume oder Gegenstände auf, sondern ebenso im Zusammenhang mit Kategorien wie der Zeit – so heißt es etwa von einer Herbstnacht, dass sie „in ihren dunklen Falten noch helle Taschen“ verstecke, „Säckchen mit Kleinigkeiten in allen Farben“ (S 176). Gilles Deleuze schreibt die Falte – im Rekurs auf die Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz – in bemerkenswerter Weise als philosophischen Leitbegriff der Epoche des Barocks zu. Er verbindet sie mit der fruchtbaren Vieldeutigkeit, die sich bis ins Unendliche multiplizieren kann.136 Solch eine mehrdeutige und unendliche Figur, die der Falte in der Deutung von Deleuze ähnelt, ist in der Erzählung Der Komet der Kamin. Er verbindet die Mikro- und Makroperspektive, ermöglicht zugleich den Blick ins Zellulare (der Kometen-Embryo) wie ins Kosmische. Durch den Kamin wird eine Dialektik von Nähe und Ferne in Gang gesetzt, die Grenzen zwischen der vertrauten Häuslichkeit und dem Unfassbaren des Weltraums verschwimmen. Der Kamin steht nicht nur für den alchemistischen Ofen, er erinnert auch an ein Mikroskop bzw. an ein Fernrohr. In der Zusammenstellung der beiden optischen Geräte, die im 17. Jahrhundert erfunden wurden, die die Raumwahrnehmung revolutionierten und sich als festes Motiv barocker Dichtung etablierten, kann eine Variation der Figur des Absoluten gesehen werden.137 Der Kamin bei Schulz vereinigt mikro- und makroskopische Raumperspektiven und wird somit zu einer säkularen Absolutheit. Die Bezüge zur Alchemie als Anlehnungen an das Barocke zu verstehen, ist eine der möglichen Deutungsweisen. In der Forschungsliteratur wird Schulz’ Werk aber häufiger im Kontext der Romantik untersucht, vor allem mit Blick auf deutsche Repräsentanten wie Friedrich Schlegel und Novalis.138 Romantischer Provenienz sind bei Schulz

135 Michał P. Markowski weist darauf hin, dass zu Schulz’ Lebzeiten im Polnischen die Ausdrücke materiał [die Stoffbahn] und materia [die Materie] synonym verwendet wurden. Diese Doppeldeutigkeit ist Markowski zufolge ausschlaggebend für das Verständnis der Weltanschauung von Schulz, der notabene im Seiden- und Textilwarengeschäft des Vaters aufwuchs und vielleicht deshalb für die Verwandtschaft dieser Wörter besonders sensibilisiert war. Michał P. Markowski, Polska literatura nowoczesna, 198. 136 „Der Barock verweist nicht auf ein Wesen, sondern vielmehr auf eine operative Funktion, auf ein Charakteristikum. Er bildet unaufhörlich Falten. […] Die ins Unendliche gehende Falte ist das Charakteristikum des Barocks.“ Gilles Deleuze, Die Falte: Leibniz und der Barock, übers. v. Ulrich Johannes Schneide, Frankfurt a. M. 1996, 11. 137 Als Beispiel für das Motiv des Fernrohrs und Mikroskops in der Poesie des 17. Jahrhunderts vgl. das Gedicht Obsequies to the Lord Harrington von John Donne: „Though God be our true glass, through which we see / All, since the being of all things is he, / Yet are the trunks, which do to us derive / Things, in proportion fit, by perspective / Deeds of good men; for by their living here, / Virtues, indeed remote, seem to be near.“ John Donne, The Major Works, hg. v. John Carey, Oxford 2000, 253. 138 In vielen Forschungsarbeiten wird betont, dass Schulz über sehr gute Deutschkenntnisse verfügte und vermutlich mit den Werken der deutschen Romantiker im Original vertraut war. Seine romantischen Bezugnahmen werden zumeist im Kontext des Begriffs der Ironie und der Poetik des Fragments analysiert und durch das Prisma der Schriften von Friedrich Schlegel untersucht. Hierzu Jerzy Jarzębski, „Schulz: uniwersalność i poetyka fragmentu“, 143–156. Michał P. Markowski, Powszechna rozwiązłość, 105–107. Michał P. Markowski, Polska literatura nowoczesna, 193–197.

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zum Beispiel das Motiv der Arabeske sowie manche Aspekte seiner Konzeption von Sprache, Poesie und Mythos. Auch in der Erzählung Der Komet lassen sich viele Spuren der Romantik ausmachen – etwa intertextuelle Referenzen auf den zwischen 1820 und 1822 entstandenen Roman Der Komet oder Nikolaus Marggraf von Jean Paul.139 Dieses Werk handelt vom Leben und den Abenteuern des im Titel genannten Protagonisten. Er ist Apotheker, der zugleich – ähnlich wie der Vater im Text von Schulz – ­alchemistische Experimente durchführt. Auch eine weitere Romanfigur, Peter Worble (ein Schulfreund des Protagonisten), weist Gemeinsamkeiten mit dem Vater bei Schulz auf. Worble ist Freimaurer und beschäftigt sich mit Esoterik, außerdem tritt er als ­Magnetiseur auf. Am Ende des Romans rettet er seinen Kameraden Nikolaus vor dem geheimnisvollen Feind – einem seltsamen, ganz in Leder gekleideten Mann –, den er „entmagnetisiert“. Einen der letzten Sätze des Romans – häufig zitiert – spricht der gezähmte Gegner aus: „Und ich liebe nun die ganze Welt, als wär’ ich ein Kind.“140 Auch in Schulz’ Erzählung wird das drohende Unheil abgewendet, die angekündigte Katastrophe tritt nicht ein. Statt den Weltuntergang auszulösen, verwandelt sich der Komet im Kamin in den sprossenden Homunculus. Eine weitere Verbindung zwischen den Werken von Jean Paul und Bruno Schulz ist der besondere Duktus der Erzählung. Der Ich-Erzähler bei Jean Paul ist geschwätzig und selbstreflektierend, benutzt eine phantasievolle und bildreiche Sprache, er verwendet viele Neologismen und Fremdwörter, neigt zu blumigen Übertreibungen und verschrobenen Einschüben, seine Exkurse werden häufig so weitschweifig, dass der rote Faden verloren zu gehen droht.141 Bereits in der Vorrede werden die Rezipienten auf diese Erzählweise vorbereitet: Gerade im politisch-bösen Jahre 1811, da in mir der „Komet Nikolaus Marggraf“ aufging, entwarf ich den Plan zu einem großen Romane, welchen ich auf dem Titel „mein letztes komisches Werk“ nennen wollte, weil ich darin mich mit der komischen Muse einmal in meinem Leben ganz auszutanzen vorhatte; in der Tat wollt’ ich mich einmal recht gehen und fliegen lassen, ästhetische und unschuldige Keckheiten nach Keckheiten begehen, ein ganzes komisches Füllhorn ausschütteln, ja mit ihm wie mit einem Satyrhörnchen zustoßen, nicht viele Ausschweifungen im Buche machen und einschwärzen, sondern der ganze Roman sollte nur eine einzige sein und sollte deswegen (vielleicht mit mehr Recht als dieses unschuldige Werkchen) der Komet oder Schwanzstern betitelt werden, weil er wirklich ins Unendliche, in eine Hyperbel hinausfahren und nichts zurücklassen sollte als starken Kometenwein für Leser von Magen und Kopf. Kurz ich wollte in meinem Alter,

139 In den Werken der beiden Schriftsteller sind zahlreiche Gemeinsamkeiten zu finden (Maske, Wachsfiguren, schauerromantische Apparaturen). Auch der Humor, die üppige Phantasie, die Bilderfülle der poetischen Sprache sowie einzelne stilistische Mittel, z. B. häufige Apostrophen oder Personifikationen, lassen Ähnlichkeiten erkennen. 140 Jean Paul, Der Komet oder Nikolaus Marggraf, in Werke, Bd. 6, hg. v. Norbert Miller, München 1967, 1003. 141 Von der zahlreichen Sekundärliteratur zum Roman Der Komet vgl. Uwe Schweikert, Jean Pauls „Komet“: Selbstparodie der Kunst, Stuttgart 1971. Paul-Michael Oschatz, Jean Paulscher Humor, Essen 1985. Cosima Lutz, Aufess-Systeme: Jean Pauls Poetik des Verzehrs, Würzburg 2007.



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worin andere Schreiber und Philosophen und Dichter, geistig wie körperlich, durch lauter FunkenGeben zu hohlbauchigen und gekrümmten Feuerzeugen geschlagen und ausgetieft sind, mich als runden Wilsonschen Knopf elektrisch zeigen und vollgeladen mich entladen und unausgesetzt blitzen; – aber, wie ich freilich deshalb mich an den galvanischen unsterblichen Säulen eines Gargantua und Don Quixote unaufhörlich zu laden suchte, dies läßt sich vorstellen.142

Im Hinblick auf sein hohes Alter möchte der Autor etwas Besonderes schaffen.143 Seine Absicht ist ein Roman voller Komik, der als ebenso spektakuläres Ereignis wahr­ge­ nommen werden soll wie der Komet Flaugergues, der der Welt im Jahr 1811 keine ­Katastrophe bescherte, sondern einen Kometenwein.144 Im Vorwort wird explizit darauf hingewiesen, dass der Roman eine ähnliche Qualität erreichen wolle. Mit seinem Humor möchte er seine Leserschaft erheitern, als Inspirationsquellen werden Rabelais und Cervantes genannt – doch sicher darf hier auch an Laurence Sterne mit seinem Roman Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman (1759) gedacht werden. Im Fortgang des opulenten Romans bestätigt sich das Kometenhafte des Werkes. In Anlehnung an die Flugbahn des Kometen ist die Hyperbel die dominierende Stilfigur des Textes, die als „Ausschweife“ betitelten Kapitel bilden den literarischen Kometenschweif. Sie haben die Funktion, „den magern Band sowohl zu verbrämen als zu verdicken“,145 das heißt, sie dienen dazu, die Erzählung ironisch zu unterbrechen und zugleich das Versprechen einzulösen, dass es sich um eine unterhaltsame, nicht „eingeschwärzte“ Geschichte handele.146 Nimmt man die beiden Texte – Jean Pauls Roman und die Erzählung von Schulz – genauer in den Blick, findet man tatsächlich erstaunliche Ähnlichkeiten. Zunächst fällt ins Auge, dass Schulz seinem Text einen ähnlich hohen Grad an Reflexivität auf der Metaebene der Erzählung mitgegeben hat. Sein Ich-Erzähler betont mehrfach, dass er sich seines Erzählens bewusst ist, und immer wieder versucht er durch entsprechende Einschübe eine Art von augenzwinkernder Verständigung mit der Leserschaft zu erwirken, zum Beispiel mit Formulierungen wie: „Ich bitte um Verzeihung, wenn ich bei der Beschreibung dieser Szenen […] ins Übertreiben gekommen bin“ (S 322) oder „Bevor wir zu den anderen Ereignissen dieses denkwürdigen Winters übergehen,

142 Jean Paul, Der Komet, 596. 143 Der Roman erschien zwischen 1820–1822, Jean Paul verstarb 1825. 144 Historische und literarische Quellen vermerken, dass der Jahrgang 1811 ein besonders guter Wein gewesen sei, was man mit der Erscheinung des besagten Himmelskörpers in Verbindung brachte – man sprach vom „Kometenwein“, der sprichwörtlich wurde (eine Erwähnung findet sich auch in Goethes West-östlichem Divan). 145 Jean Paul, Der Komet, 596. 146 Auch Käte Hamburger weist auf die ironischen Einschübe in Jean Pauls Der Komet hin. Diese Einmischungen des Erzählers hätten jedoch nicht, wie man zunächst annehmen könnte, die Funktion, die Fiktion aus den Angeln zu heben: „[E]s wurde nicht scharf genug gesehen, dass eben dadurch die Illusion der Fiktion weit weniger gestört als gerade betont, unterstrichen wird.“ Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung, Stuttgart 1957, 86 f.

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sollten wir noch kurz an einen besonderen Inzident erinnern“ (S 314). Dadurch entsteht eine Art von Intimität, die die Rezipienten unmittelbar anspricht und versucht, sie emotional zu involvieren. Auffallen muss auch das Vokabular in dem oben angeführten Zitat von Jean Paul, etwa die Feuerzeuge, der Wilsonsche Knopf, die galvanischen Säulen. Ebenso springt die Übertragung von Phänomenen der Elektrizität auf Struktur und Wirkung des Textes ins Auge. Bei Schulz finden sich gleichfalls elektrische Feuerzeuge, ferner der Neef’sche Hammer, galvanische Phänomene, Stromkreise oder elektrische Leiter. Doch ginge es hier nun weniger darum, einen direkten Einfluss nachzuweisen, als vielmehr herauszustreichen, dass in beiden Texten frühe elektrische Erfindungen bzw. entsprechende Apparaturen mit Vorstellungswelten der Alchemie kombiniert werden. Als gemeinsamer Nenner sind zudem die Ausschweife hervorzuheben. Verstanden als Abschweifungen und Exkurse der Phantasie scheinen sie von zentraler Bedeutung auch für Schulz’ Schaffen zu sein. In vielen Erzählungen dienen sie als kompositorisches Prinzip. In der Erzählung Der Frühling etwa wird die Vision eines Textes entworfen, in dem sich die Jahreszeit ausdrückt, und dieser Text des Frühlings – der erwachenden Lebenskräfte – muss als Inbegriff der Abschweifung schlechthin verstanden werden. „[D]urch und durch von Hintergedanken, von Andeutungen und Ellipsen gekennzeichnet“, spielt er sich „auf vielen verzweigten Geleisen“ ab (S 45). Zum anderen bilden die Abschweifungen einen untrennbaren Bestandteil der Experimente des Vaters: Manchmal unterbrach er sich an einem unerwarteten Punkt des Experiments, stand unentschlossen, mit halb zugekniffenen Augen da und trippelte gleich darauf in den Flur, wo er den Kopf in das Kamintürchen steckte. Dort war es dunkel, rußig-still und heimelig wie im innersten Kern des Nichts, und warme Ströme wanderten hinauf und hinab. Mein Vater schloß die Augen und stand so einige Zeit in diesem warmen, schwarzen Nichts. Wir alle spürten, daß dieser Inzident nicht zur Sache gehörte, daß er sozusagen aus der Kulisse herausgetreten war, und angesichts dieser Tatsache, die außerhalb der Grenzen stattfand, die schlichtweg zu einer anderen Ordnung der Dinge gehörte, drückten wir innerlich ein Auge zu. (S 313)

Das vom Vater proklamierte andere Verständnis vom Wissen umfasst das, was vom Ziel der Experimente, vom Weg zur Erkenntnis abschweift und „nicht zur Sache gehört“. Somit entwickelt er eine Vorstellung von einer alternativen Wissensform, die auf das Alogische und Marginale setzt. Es handelt sich hier also um eine Aufwertung der Abschweifung im Geiste der Romantik, mithin um die Betonung ihres Erkenntnispotenzials, was sich mit einem Wort aus Walter Benjamins Erkenntniskritischer Vorrede auf den Punkt bringen ließe: Auch bei Schulz ist der Umweg die Methode. Ebenso können die alchemistischen Anspielungen – im Sinne einer romantischen Stilisierung – als Form einer Abschweifung verstanden werden. Diese Deutungsweise würde zugleich die Übernahme der in der Romantik etablierten binären Denkschemata implizieren, die unter dem Gegensatz Verstand versus Herz zu subsumieren wären. Die Alchemie ist dabei auf der Seite des Herzens zu verorten, sie wird – um diesmal den polnischen Romantiker Adam Mickiewicz und seine programmatische Ballade



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Romantyczność (1822) zu paraphrasieren – dem Gefühl und Glauben zugeschrieben und nicht dem kühlen Augenglas des Gelehrten. Somit erscheint die Alchemisten­ küche als Allegorie des Irrationalen, sie bildet den Gegenpol zum Laboratorium des modernen Naturwissenschaftlers. Das romantische Denken in Dichotomien fasst Paul Valéry in einem seiner Essays zutreffend zusammen, in dem er das in der Romantik vehement erwachende Interesse an den Grenzgebieten rationalistischer Kultur ­erörtert: Ihr Geist [der Romantiker – AH] suchte sich eine Fluchtburg in einem Mittelalter, das sie sich zurechtmachten; an der Esse des Alchemisten brachten sie sich vor dem Chemiker in Sicherheit. Wohl fühlten sie sich nur in der Welt der Sage oder der Geschichte, das heißt bei den Gegenfüßlern der Physik. Sie retteten sich vor den Bedingtheiten eines durch die Mechanismen der Gesellschaft geprägten Daseins durch die Flucht in die Leidenschaft und die Wallungen des Gemüts, deren Pflege und Ausbeutung sie zu einer Institution ausbauten (und sogar zu einer Komödie). Auf die Vergötzung des Fortschritts antwortete man mit der Vergötzung der Verdammung des Fortschritts.147

Bei der Charakteristik des Geistes der Romantiker hebt Valéry interessanterweise die Faszination für die Alchemie hervor, die er als Gegenbewegung zum Primat der Ratio deutet, als Abwehrreaktion gegen den Fortschrittsgedanken der Aufklärung und des Positivismus, als symbolische Zuflucht vor der Allmacht der Vernunft. Auch in Schulz’ Erzählung ist der Rekurs auf diese romantischen Vorstellungen erkennbar, mit dem Unterschied allerdings, dass der Wunsch nach einer Wiederverzauberung der Welt ironisch unterlaufen wird. Die schulzsche Poetik zielt nicht auf eine Reaktivierung des Denkens in solchen Oppositionen, vielmehr möchte sie die Irrelevanz dieser Dichotomien vor Augen führen, indem sie die Kategorien in subversiver Weise in Bewegung versetzt. Am Rande sei bemerkt, dass das Motiv der Alchemie auch in Leo Perutzʼ Roman Nachts unter der steinernen Brücke zu finden ist, und zwar in einer ganz ähnlichen Funktion – auch bei Perutz geht es darum, die Fragwürdigkeit einer solchen binären Denkstruktur bewusst zu machen. Perutz, ein Zeitgenosse von Schulz, 1884 in Prag geboren, begann die Arbeit an diesem Roman schon Mitte der 1920er Jahre, er ver­ öffentlichte den Text aber erst 1953, kurz vor seinem Tod.148 Perutz’ Roman und Schulz’ Erzählung entstanden also ungefähr in derselben Epoche. Perutz wählte für seine Handlung eine Zeit, in der Magie und Wissenschaft noch nicht streng geschieden waren – die Jahre um 1600 –, und einen Ort, der auf geradezu klassische Weise mit der Alchemie in Verbindung gebracht wird: Prag. Zu den zahlreichen Protagonisten ­gehören unter anderem ein alter Alchemist, der sich der Vergeblichkeit seiner Experi-

147 Paul Valéry, „Bemerkungen über den Fortschritt“, in ders., Über Kunst, übers. v. Carlo Schmid, Frankfurt a. M. 1959, 118 f. 148 Zur Entstehungsgeschichte des Romans siehe Ernest Wichner u. Herbert Wiesner (Hg.), Prager deutsche Literatur: Ausstellungskatalog, Berlin 1995, 80–83.

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mente bewusst wird, sowie der Gelehrte Johannes Kepler. In seiner Stube prallen – ähnlich wie bei Schulz im Laboratorium des Vaters – „vorwissenschaftliches“ und „modernes“ Denken aufeinander. Kepler beschäftigt sich sowohl mit Horoskopen als auch mit moderner Astronomie. Einerseits glaubt er, dass die Konstellationen einen Einfluss auf das menschliche Leben haben, andererseits möchte er die phantastischen „Einbildungen und Erfindungen“ verwerfen und nicht als Wahrsager, sondern als „ein der Mathematik Beflissener“ angesehen werden.149 Im Folgenden komme ich nun zu einer Erörterung der Erzählung Der Komet im Zusammenhang mit den intellektuellen Strömungen der Epoche. Bisher war nur am Rande die Rede davon, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Disziplinen lebhaftes Interesse an der alchemistischen Lehre zeigten. Als Beispiele erwähnte ich die Schriften von Eliade, Bachelard und Carl Gustav Jung. Diese Erscheinung ist auf eine Tendenz zurückzuführen, deren Beginn noch früher datiert werden kann. Um die Jahrhundertwende lässt sich nämlich von einer besonderen Begeis­ terung der Kunst – nicht nur der Literatur sondern auch der bildenden und darstel­ lenden Künste – für das Nicht-Diskursive, Archaische, Ursprüngliche, Unmittelbare, ­Mystische und Okkulte verzeichnen. Man denke etwa an die heidnische Urtümlichkeit im Ballett Le sacre du printemps von Igor Stravinsky aus dem Jahr 1913, an die eso­ terische Symbolik in Gemälden von Nicholas Roerich (1874–1947), an die Figur des P ­ aracelsus im gleichnamigen, 1899 in Wien uraufgeführten Theaterstück von Arthur Schnitzler oder an die alchemistischen Experimente in August Strindbergs Inferno von 1898. Die Stimmung dieser Zeit resümiert George Steiner in seiner Abhandlung Von realer Gegenwart (1989): Von besonderer Faszination ist die Entwicklung von Religion zum Mystizismus, vom Theologischen zum Esoterischen, wie sie sich im Dadaismus, im Surrealismus, in gegenwärtigen Schulen nicht-objektiver und nicht-gegenständlicher Kunst manifestiert. Immerhin schon im Mai 1917 trug Hans Arp dazu bei, Dada auf den Weg zu bringen, indem er öffentlich aus den theosophischen Spekulationen Jacob Böhmes in seinem Werk Aurora über das gnostische Wechselspiel zwischen Licht und Dunkel vorlas. Immer wieder zitiert der Kubismus die von Blavatsky formulierte Vorstellung von „den Geometrien Gottes“.150

Seine These, dass man in der Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts einen Hang zum hermetischen Denken, zur Mystik, Magie und Esoterik erkennen könne, bezieht er auf mehrere Kunstrichtungen wie den Dadaismus, Surrealismus oder Kubismus und

149 Leo Perutz, Nachts unter der steinernen Brücke, Wien 1975, 107 f. 150 George Steiner, Von realer Gegenwart: Hat unser Sprechen Inhalt?, übers. v. Jörg Trobitius, München 1990, 289. Im englischen Original ist der Ausdruck für die Entwicklung doppeldeutig, er kann sowohl den Übergang als auch die Rückentwicklung bezeichnen: „Of special fascination is the devolution from religion to mysticism, from the theological to esoteric, in Dada, in Surrealism, in current schools of non-objective and non-representational art.“ George Steiner, Real presences, Chicago 1989, 222.



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nennt als besonders markantes Beispiel das Werk von Hans Arp. Steiner sieht in dieser Tendenz eine Antwort der Kunst auf die Veränderungen, die sich in der damaligen Welt vollzogen und in denen die Zeitgenossen eine Gefahr für das Individuum mit seinen humanen Werten sahen – mit anderen Worten: er deutet diese Tendenzen als Reaktion auf die rasche Entwicklung der Wissenschaft und Technik sowie auf die damit zusammenhängende Ökonomisierung und Rationalisierung aller Lebensbereiche. Auch Walter Benjamin weist darauf hin, dass die fortschreitende Modernisierung einen Hang zur Esoterik und zum Okkultismus befördert habe: Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfaltung der Technik über die Menschen gekommen. Und von dieser Armseligkeit ist der beklemmende Ideenreichtum, der mit der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Scholastik und Spiritismus unter – oder vielmehr über – die Leute kam, die Kehrseite. Denn nicht echte Wiederbelebung findet hier statt, sondern eine Galvanisierung.151

Benjamin kritisiert die Oberflächlichkeit dieser Denkbewegungen und schlägt im Gegenzug eine andere Form der Auseinandersetzung mit der Thematik vor. In mehreren Aufsätzen widmet er sich solchen „Grenzgebieten“ wie der Graphologie, der Telepathie oder der Astrologie.152 In diesen Disziplinen und kulturellen Praktiken möchte er die utopische Idee des Ursprünglichen und Unmittelbaren sehen oder – wie es Martin Jay in seiner Schrift Songs of Experience (2005) in Kapitel zu Benjamins Erfahrungsbegriff formuliert – „einen weiteren Code der alternativen Auffassung der Erfahrung“.153 Die besagten Grenzgebiete sind für Benjamin Formen des „mimetischen Vermögens“154 – also andere, vom wissenschaftlichen Mainstream verdrängte und vergessene Modi, die Welt, das Sein, die Wahrheit zu erkennen bzw. zu erfahren. Über Okkultismus und Moderne ist schon viel geschrieben worden, ohne dass das  Themenfeld gänzlich erschöpft worden wäre.155 Steiner erwähnt in dem oben ­angeführten Zitat die im späten 19. Jahrhundert wohl bekannteste Okkultistin deutsch-

151 Walter Benjamin, „Erfahrung und Armut“, in Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 214 f. 152 Walter Benjamin, „Zu Grenzgebieten“, in Gesammelte Schriften, Bd. VI, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, 185–194. 153 Martin Jay, Songs of Experience: Modern American and European Variations on a Universal Theme, Berkeley u. a. 2005, 325. Der ganze Passus von Jay im Original: „A similar willingness to risk entering territory that was potentially dangerous allowed Benjamin to find in astrology another cipher of an alternative notion of experience. As in the case of graphology, what astrological doctrine suggested was the survival of a way of experiencing the world that had been all but lost in modernity.“ 154 Zu diesem Begriff zwei Aufsätze von Walter Benjamin, „Lehre vom Ähnlichen“ und „Über das mimetische Vermögen“, in Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 204–213. 155 Vgl. hierzu Priska Pytlik, Okkultismus und Moderne: Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn 2005. Leon Surette u. Demetres P. Tryphonopoulos (Hg.), Literary Modernism and the Occult Tradition, Orono, Maine 1996. Leigh Wilson, Modernism and Magic: Experiments with Spiritualism, Theosophy and the Occult, Edinburgh 2012. John Bramble, Mo­ dernism and the Occult, London 2015.

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russischer Herkunft Helena Blavatsky (1831–1891), die als Begründerin der sogenannten Theosophie und als Erneuerin der modernen abendländischen Esoterik gilt. Ihre Ansichten, in denen sich klassische Vorstellungen der Kabbala und Alchemie mit Elementen orientalischer Religionen vermischten, waren in der Öffentlichkeit weit verbreitet und fanden einigen Widerhall auch bei Intellektuellen und Künstlern. Was ihre Lehre und die anderen esoterischen Strömungen charakterisiert, ist das Streben nach einer absoluten Synthese – nach einem ganzheitlichen Weltverständnis, das intellektuelle und spirituelle Erkenntnis versöhnen und damit ein Gleichgewicht zwischen Wissenschaft und Spiritualität schaffen möchte. Festzuhalten ist, dass gerade diese Vorstellung eine kulturelle Invariante zu sein scheint, die sich seit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften konsequent und intensiv an den Rändern der ra­ tionalistischen Kultur entwickelte: in der romantischen Naturverehrung wie in der ­anglikanischen Mystik, in naturmystischen Reformbewegungen wie in pietistischen Strömungen. Mircea Eliade betont sogar, dass Naturforscher wie Isaac Newton ein Gleichgewicht zwischen Wissenschaft und Hermetik angestrebt hätten, während spätere Generationen moderner Wissenschaftler dieses Denken aus den Augen verloren hätten. An dieser Stelle lohnt es sich, Eliade noch einmal zu Wort kommen zu lassen: In ihrer spektakulären Entwicklung hat die moderne Naturwissenschaft das Erbe des Hermetismus ignoriert oder verworfen. Mit anderen Worten, der Triumph der Mechanik von Newton hat dazu geführt, dass sein eigenes wissenschaftliches Ideal damit vernichtet wurde. In der Tat haben Newton und seine Zeitgenossen eine ganz andere Art von wissenschaftlicher Revolution erwartet. Als Weiterführung und Entwicklung der Hoffnungen und Ziele der Renaissance-Neoalchemisten (in erster Linie die Wiederauferstehung der Natur) sahen so verschiedene Geister wie Paracelsus, John Dee, Comenius, J. V. Andreä, Fludd und Newton in der Alchemie nichts weniger als das Modell eines Unternehmens, das die Vervollkommnung des Menschen durch eine neue Methode des Wissens herbeiführt. In ihrer Perspektive hätte eine solche Methode in einem nichtkonfessionellen Christentum die hermetischen Traditionen und die Naturwissenschaften – Medizin, Astronomie, Mechanik – integrieren sollen. Diese Synthese sollte zu einer neuen christlichen Geistesschöpfung werden, wie die frühere Integration von Platonismus, Aristotelismus und Neoplatonismus. Das „Wissen“, von dem geträumt wurde und das im 18. Jahrhundert auch tatsächlich ausgearbeitet wurde, war der letzte Versuch einer „totalen“ Wissenschaft im christlichen Europa. Ähnliche Systeme des „totalen Wissens“ hatten in Griechenland Pythagoras und Platon vorgeschlagen. Diese Systeme charakterisieren ebenso die traditionelle chinesische Kultur, in der keine Kunst, Wissenschaft oder Technik ohne ihre kosmologischen, ethischen und „existentiellen“ Voraussetzungen und Implikationen verständlich war.156

Nach Eliade war für Newton und seine Zeitgenossen die Alchemie das ideale Modell, eine perfekte „neue Methode des Wissens“, weil sie hermetische Spekulation mit dem Forschungsgeist verband und dabei ein umfassendes Weltverständnis postulierte. Auch Schulz’ Anspielungen auf alchemistische Rhetorik sind in diesem Kontext zu lesen. Sie sind nicht lediglich als Allegorie oder Sinnbild für ein prärationales und

156 Mircea Eliade, Schmiede und Alchemisten, 189 f.



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präidentifikatorisches Wissen zu verstehen. Wenn in der Erzählung Der Komet auf die Alchemie rekurriert wird, so scheint es vielmehr darum zu gehen, alte und neue Diskurse über das Wissen zu aktivieren und damit einen Impuls zum Nachdenken über ideale Wissensformen zu geben. Zugleich schwingt darin der Wunsch nach einer ­Renovation der von Eliade beschriebenen Vorstellung eines holistischen Wissens mit, das in der Moderne seine Fragmentarisierung erlebte, wenn es mehr und mehr in Einzeldisziplinen zersplitterte. In diesem Zusammenhang gewinnt Schulz’ Erzählung neue Dimensionen. Seine Bezüge auf die Alchemie lassen sich nicht nur als ironisches oder verfremdendes ­Element lesen und auf eine Stilisierung des Irrationalen reduzieren. Vielmehr dienen sie als Initialzündung einer Reflexion über andere Formen des Denkens, die dem ­modernen Wissensverständnis entgegengestellt werden können. Auf eine ähnliche Weise war die alchemistische Vorstellungswelt für die wiederbelebten okkultistischen Bewegungen inspirierend, die ausgerechnet in der Alchemie die Vision eines Wissens suchten, das Spiritualität und Intellekt miteinander versöhnen könne. Auch die sich damals etablierende neue Wissenschaftsdisziplin der Ethnologie, die programmatisch auf die Pluralität der Wissensformen hinwies, rekurrierte immer wieder über Ver­ gleiche auf die alchemistische Lehre, um die Logik anderer Denkmodelle zu ver­ anschaulichen.157 Es lässt sich also feststellen, dass die Alchemie oder, genauer gesagt, ihre besondere, Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitete Interpretation, ein wichtiges Reservoir von Vorstellungen für die Moderne war, aus dem auch Schulz Inspirationen für seine Prosa bezog. In der Kunst wie in der Ethnologie oder auch im Okkultismus fand die Alchemie ihren Niederschlag. Auffassungen, die damals scheinbar anachronistisch waren, ­sozusagen zu den Abflüssen der Geschichte gehörten und als Reste des kulturell ­Ausgeschlossenen galten, lebten in diesen Formen weiter fort. Allerdings sind die Anspielungen auf das hermetische Denken in der Erzählung Der Komet nicht als Versuche zu verstehen, selbiges Denken im Sinne eines Remediums zu reaktivieren, mit dem die entzauberte Welt zu kurieren sei. Die Bezugnahmen auf bestimmte, der Alchemie zugeschriebene Bilder dienen dazu, sich gegenüber gängigen Denkmustern zu positionieren und alternative Vorstellungen vom Wissen oder von der Kultur zu entwerfen, die sich nicht in Kategorien wie rational und irrational einschließen lassen. An dieser Stelle kann noch einmal auf Aby Warburg verwiesen werden, der sich dieser Thematik ausführlich widmete. In einem Bericht, den er 1926 auf dem

157 Marcel Mauss etwa beschreibt in seinem Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (1904), in dem er den für sein Werk zentralen Begriff mana entwickelt, die magischen Riten verschiedener vorschriftlicher Gesellschaften, vor allem australischer und indianischer Stämme. Mehrfach vergleicht er die Riten explizit mit den Praktiken der neuzeitlichen Alchemisten. Marcel Mauss, „Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (1904)“, in ders. Schriften zur Religionssoziologie, hg. v. Stephan Moebius u. a., übers. v. Eva Moldenhauer u. Henning Ritter, Frankfurt a. M. 2012, 347–351.

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Orientalistentag in Hamburg vortrug, nahm er gerade astrologische Bilder zum Anlass, europäische Kultur zu reflektieren, die er als einen Prozess begreifen wollte, bei dem man „nach Symptomen einer zwischen weitgespannten Gegenpolen pendelnden, aber in sich einheitlichen Seelenschwingung: von kultlicher Praktik zur mathematischen Con­templation – und zurück“ suchen sollte.158 Schulz’ Anspielungen auf die Hermetik können mit dieser Reflexion zusammengedacht werden, denn auch in dieser Prosa geht es um den Versuch, durch die Restitution solcher Kategorien wie der Verführung oder des Geheimnisses einen Ausweg zu finden aus dem Bannkreis des Denkens in Dichotomien.

2.3 Rhetorik der Alchemie und der Verführung In der Erzählung Der Komet haben Anspielungen auf die Alchemie bzw. auf bestimmte, Anfang des 20. Jahrhunderts entstandene Interpretationen dieser äußerst heterogenen Lehre nicht nur die Funktion, in die Reflexion über andere Formen des Wissens einzuführen; sie dienen vielmehr auch als Mittel der Rhetorik der Verführung. In seiner Abhandlung Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes stellte der zuvor schon genannte Gaston Bachelard fest, dass die Sprache der Alchemisten „von einer verführerischen Rede begleitet“ gewesen sei.159 Das Ziel der alchemistischen Lehre habe darin bestanden, die ungezähmte Materie zu bändigen und ihre Gunst zu erlangen oder, mit anderen Worten, sie zu verführen. Diese Bemerkung über den Konnex zwischen ­Alchemie und Verführung ist für meine weiteren Untersuchungen ausschlaggebend, denn sie wirft ein neues Licht auf Schulz’ intertextuelle Bezüge. Im folgenden Unterkapitel möchte ich daher in Der Komet nach Motiven suchen, die den Sprachen der Alchemie und der Verführung gemeinsam sind und das Verhältnis des Subjekts zur Wirklichkeit beschreiben. Mein theoretisches Framing werde ich um Arbeiten über Diskurse der Liebe erweitern – wegweisend sind hier die Studien Fragmente einer Sprache der Liebe (1977) von Roland Barthes und Liebe als Passion (1982) von Niklas Luhmann. Beide Autoren untersuchen das Phänomen der Liebe als eine kodifizierte Praxis, die sich bestimmter Figuren, Floskeln und Gesten bedient.

158 Aby Warburg, „Orientalisierende Astrologie“, in Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, 565. Auf diese Stelle macht auch Giorgio Agamben in seinem Essay über Warburg aufmerksam und stellt fest, dass sich Warburg subtiler Kategorien bediene, die das Verhältnis zwischen Rationalismus und Irrationalismus nicht als Opposition auffassen. Giorgio Agamben, „Aby Warburg oder die namenlose Wissenschaft“, in ders., Die Macht des Denkens: Gesammelte Essays, übers. v. Francesca Raimondi, Frankfurt a. M. 2013, 139–166. 159 Bachelard bekräftigt seine Bemerkung mit dem Zitat einer anonymen Quelle: „Öffne ihr also den Leib mit einer stählernen Klinge und bediene dich einer sanften, einschmeichelnden, liebkosenden und brennenden Sprache. Durch diesen Kunstgriff wirst du an den Tag bringen, was verborgen ist.“ Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 92.



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Zur Dekodierung der Liebe spürt Barthes dem liebenden Subjekt in der Literatur und Philosophie nach, er rekurriert dabei auf Platon und Nietzsche, auf Texte der Psychoanalyse, Mystik oder des Zen-Buddhismus, vor allem aber auf Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774). Luhmann hingegen fokussiert sich auf die Liebe im gesellschaftlichen Kontext und stützt sich dabei auf die Romanliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, darunter auch auf den kanonischen Werther-Roman. Im Zentrum des ­Interesses beider Theoretiker steht der Code der Liebe, den ich hier in das breite semantische Feld der Verführung einschließen möchte. Zwar unterscheidet Luhmann zwischen „wahrer Liebe“ und „bloßer Verführung“, er konstatiert aber zugleich: „Die Liebe bleibt echt empfunden, die Verführung bleibt Sache des Verführers – und beides letztlich die Wirkung eines Code[s].“160 Diesen einen Code, der der Liebe wie der Verführung gemeinsam ist, scheint Schulz in seiner Erzählung Der Komet durch Anspielungen auf Alchemie zu aktivieren. Darüber hinaus ziehe ich in diesem Teil Romane von Witold Gombrowicz und Franz Kafka zum Vergleich heran, in denen diese mithilfe derselben rhetorischen Mittel – also durch Bezugnahmen auf den hermetischen und verführerischen Diskurs – eine besondere Relation des Menschen zur Außenwelt darstellen. Diese basiert auf einer Vorstellung von Wirklichkeit, die aktiv und unverständlich ist, aber dennoch verführerisch auf das Subjekt wirkt. Zum Schluss versuche ich dieses andere Verhältnis zur Umwelt mit psychoanalytischen Ansätzen von Jean Laplanche und Slavoj Žižek zu beschreiben. In diesem Zusammenhang kristallisiert sich die Verführung als eine andere epistemologische Haltung heraus – als alternativer Modus der Erkenntnis und moderne Form des In-der-Welt-Seins.

2.3.1 Alchemie und die Sprache der Verführung Verehrung und anbetende Haltung – das ist das erste Motiv, das in Schulz’ Der Komet besonders auffällt. Man kann es auch in der Rhetorik der Alchemie wie der Verführung finden. Bachelard zufolge herrscht die Alchemie „in einer Zeit, in der der Mensch die Natur mehr liebt als benutzt“.161 Daher folgt der Alchemist bei der Durchführung seiner Experimente mehr der Liebe und Zärtlichkeit als seinem Erkenntniswunsch oder Eroberungsdrang. Er hofft darauf, dass innige Überredungskunst der Materie ihre Geheimnisse entlocken werde. Dieser liebevolle Umgang zeigt sich, so Bachelard, auf der Ebene der Sprache: So lese man in den Beschreibungen alchemistischer Experimente nicht nur, welche Elemente für das Auslösen einer Reaktion nötig sind; es gehe auch darum, auf welche Art und Weise man diese Elemente im Hinblick auf die Sensibilität der Materie mische: zum Beispiel mit Modalbestimmungen wie „mit ganzem Herzen“

160 Niklas Luhmann, Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M. 1994, 80 f. 161 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 100.

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oder „voller Zärtlichkeit“.162 Bachelard schildert zudem, wie in alchemistischen Schriften die Materie häufig anthropomorphisiert wird, und dass man sich geduldig, mit größter Behutsamkeit und mit exquisiten Apostrophen an sie wendet, um sie zärtlich anzusprechen. Eine direkte Ansprache wäre ein zu dreistes, zu offensives Verfahren, geradezu eine Unverschämtheit und könnte ihren Unwillen wecken. Entsprechend wimmelt die Rhetorik der Alchemie von Umschreibungen, Vergleichen, Metaphern, ausgesuchten Namen und sich litaneiartig häufenden Euphemismen, die auf eine schmeichelnde Anrede der Materie abzielen.163 Diese Strategien sind auch der Sprache der Liebe bekannt, die sich rhetorischer Mittel für die Verehrung und Anbetung des geliebten Objekts bedient. Lange Reihen von indirekten Wendungen, ganze Listen mit verhüllenden Namen, beschönigenden Eigenschaften und umschreibenden Bezeichnungen – das kann man als Ausdruck der Adoration lesen. Gleichzeitig aber auch, wie Umberto Eco in seiner Abhandlung Die unendliche Liste (2009) bemerkt, als Abwehrreaktion gegen das Unaussprechbare. Das Sammeln und Auflisten von Bezeichnungen ist ein Symptom dafür, so Eco, dass es dem Individuum an Worten mangelt, um ein Phänomen zu beschreiben. Die Listen helfen dann, das Unbegreifliche zu begreifen, das Unendliche, Rätselhafte und Unfassbare zu erfassen.164 Sie bieten sich besonders dann an, wenn das liebende Subjekt mit dem Übermaß seiner Gefühle nicht zurechtkommt – man denke nur an das Hohe Lied, in dem die Liebeserklärung die Form einer Aufzählung von Merkmalen annimmt. Für Roland Barthes ist das Umschreiben des Unbegreiflichen ein Charakteristikum der Sprache der Liebe oder, wie er es nennt, eine ihrer wichtigsten Figuren, weil sich das liebende Subjekt „unaufhörlich bemüßigt fühlt, das Liebesobjekt zu definieren, und an den Ungewissheiten dieser Definition leidet.“165 Trotzdem versuche es immer wieder sich ihm anzunähern und dessen Wesen „an sich zu verstehen und im Sinne des charakterologischen, psychologischen oder neurologischen Typs zu definieren.“166 Die Suche nach dem richtigen Ausdruck für die Unfassbarkeit des geliebten Anderen erfordere sprachliche Kreativität, um „das Gleiche anders zu sagen“.167 Das liebende Subjekt ist demzufolge dadurch charakterisiert, dass es trotz der Unmöglichkeit einer Definition des Anderen nach kunstvollen Formulierungen zur Beschreibung des ­Liebesobjekts sucht, das anbetungswürdig und unbegreiflich bleibt.

162 Ebd. 163 Ebd., 284. 164 Umberto Eco, Die unendliche Liste, übers. v. Barbara Kleiner, München 2009. Vgl. auch das Interview mit Umberto Eco von Susanne Beyer und Lothar Gorris, „We Like Lists Because We Don’t Want to Die“, in Der Spiegel vom 11. November 2009, verfügbar unter: http://www.spiegel.de/international/ zeitgeist/0,1518,659577,00.html (25. Mai 2017). 165 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, 200. 166 Ebd., 218. 167 Ebd., 40.



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Dasselbe Verfahren der leidenschaftlichen Suche nach Umschreibungen und Euphemismen für einen Gegenstand, an den man sich emotional gebunden fühlt, findet man auch in Schulz’ Erzählung. Der im Titel angekündigte Komet ist das Hauptereignis der Erzählung. Im Städtchen wird die Nachricht verbreitet, dass er sich der Erde gefährlich nähere. Während sich alle vor einem Weltuntergang fürchten und aufgeregt umher­ irren, behält einzig und allein der Vater die Ruhe – er kennt nämlich „den geheimen Ausweg aus dieser Falle, aus den hinteren Kulissen der Kosmologie, und [lacht] sich ins Fäustchen“ (S 325). Es geling ihm, die drohende Gefahr zu zähmen: Der Komet löst keine Katastrophe aus, denn letztendlich fällt er nicht auf die Erde, sondern nistet sich gemütlich im Kamin ein und wird zum Bestandteil der väterlichen Experimente. Der Vater beobachtet ihn aufmerksam durch das Ofentürchen und erblickt deutlich „die durchscheinenden Konturen eines Embryos, in der charakteristischen Purzelbaumstellung mit den Fäustchen beim Gesicht, der kopfüber seinen seligen Schlaf im klaren Wasser des Amnios schlief“ (S 326). Der Komet ist also kein Verkünder des Todes, sondern eine keimende Lebensknospe. Die schutzlose Leibesfrucht wächst im Kamin wie in einer gläsernen Ampulle unter dem achtsamen Auge des Vaters zum „ewig lächelnden Homunculus“, der ihm „lächelnd“ und voller Liebe zuschaut (S 328). Die Zähmung des Kometen scheint sich auf lexikalischer Ebene zu vollziehen. Obwohl der Komet als Ereignis im Mittelpunkt der Geschichte steht, kommt das Wort Komet im ganzen Text, außer im Titel, nur einmal vor, nämlich wenn die Rede vom „Schicksal des Kometen“ ist, der doch nicht herunterfällt (S 327). Sonst wird er mit ­euphemistischen Ausdrücken beschrieben wie etwa „ferner“, „unermüdlicher“ oder „leuchtender Bolide“ (S 327); „dieser kleine Wurm, der unschuldig inmitten des großen Sternengeflimmers leuchtete“; „das schicksalhafte, mondhelle Geschöpf“, „der kalkige Globus“, „die kalkige Skulptur in der schweigenden Schwärze der planetaren Wüstenei“, „ein leibhaftiger Bruder des Mondes, ein verlorener Doppelgänger, der nach tausendjähriger Wanderung zum mütterlichen Globus zurückkehrte“ (S 325 f.). Weiterhin wird er als Embryo, als Homunculus und – im letzten Satz der Erzählung – als „ein Archivposten in der großen Registratur des Himmels“ bezeichnet (S 328). Das ausgesuchte Vokabular betont seine Rarität und Besonderheit. Vor allem aber sind die sprachliche Kreativität und die Verweigerung der direkten Benennung Zeichen der starken emotionalen Beziehung zum Kometen, der nicht nur Gegenstand der alchemistischen Experimente des Vaters, sondern auch das Objekt seiner Gefühle ist. An den Umschreibungen kann man bemerken, wie sich das Verhältnis zum Kometen im Laufe der Erzählung allmählich verändert: Zunächst erzeugt er Angst und Furcht, später – wenn er im Kamin wie in einer Retorte oder einem Reagenzglas landet – ruft er Zärtlichkeit und Vaterliebe hervor. Die vielfältigen Bezeichnungen mit affektiver Färbung bieten einen Schutzraum für das phantastische Ereignis, das dadurch die Aura des Geheimnisvollen behalten kann. Die Erzählung hat ein mysteriöses Ende: Der Komet ist als Embryo in einer Phase des Wachsens, es bleibt in der Schwebe, was aus ihm wird – er lässt sozusagen auf sich warten. Dies ist ein weiterer Topos des D ­ iskurses

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der Liebe, auf den Roland Barthes aufmerksam macht: „Die fatale Identität des Liebenden ist nichts anderes als dieses ich bin der, der wartet.“168 Doch der Komet ist nicht das einzige Objekt der Liebe und der alchemistischen Versuche des Vaters. Dessen liebevoller Umgang charakterisiert seine Einstellung zur Materie und zur Umwelt im Allgemeinen. Er hat nicht nur zu dem Kometen ein emo­ tionales Verhältnis, sondern zum Beispiel auch zu Personen aus dem Kreis der Ein­ geweihten, die, wie die Materie, ebenfalls durch Experimente verführt werden sollen. Die innige Wendung an den Anderen ist für die Rhetorik der Alchemie kennzeichnend, die sich häufig der „Dialogform auf der Achse ich – du“ bedient, schreibt Bachelard.169 Ihm zufolge muss der Alchemist, um anderen die Leidenschaft zur Materie zu ver­ mitteln, die Adepten in spe durch eine besondere, zärtliche und geheimnisvolle ­Sprache für seine Lehre begeistern. Diese dialogische Form lässt sich auch in Schulz’ ­Erzählung wiederfinden. Der Vater tritt mit seinem Programm in der Öffentlichkeit auf, seine Auftritte ähneln einer Show, in der er sich häufig direkt an das Publikum wendet. Seine Zuhörerschaft bleibt weitgehend unbestimmt – es ist die Rede von „Reihen ­seiner Anhänger und Adepten“ (S 318) –, für den Vater ist sie aber keine entperso­ nifizierte Masse. Wenn er spricht, wendet er sich statt an die Gesamtheit an Einzel­ personen. Während seiner alchemistischen Séancen bringt er zwar nicht viele Worte hervor – insgesamt nur ein paar kurze Sätze bzw. sloganartige Satzäquivalente wie „Die Materie, […] die Materie, meine Herren …“, „Panta rhei!“ oder „Das principium individuationis – nichts als Unfug“ (S 310). Seine längste Aussage ist aber gerade eine überraschende Wendung an einen konkreten Zuschauer aus der Menge und seine höfliche Aufforderung zum Platzwechsel. Das liebevolle Verhältnis zwischen dem Vater und der Materie bzw. dem Kometen ist keine geschlossene Relation. Ganz im Gegenteil, sie steht auch anderen offen und lädt sie zur Teilnahme ein.

Exkurs zur Erzählung Das Buch Auch in Bruno Schulz’ Erzählung Das Buch geht es um ein geheimnisvolles, unfassbares und anbetungswürdiges (Liebes)Objekt. Hier ist ein Buch Gegenstand der Sehnsüchte des Ich-Erzählers, der es nur aus Kindheitserinnerungen kennt, als es noch auf dem Schreibtisch des Vaters lag. Allein schon darin zu blättern war für ihn von ekstatischen Gefühlen und einer „Invasion des Glanzes“ (S 9) begleitet. Das wichtigste Merkmal des Buches ist aber, dass es allen Definitionsversuchen entkommt, was schon im ersten Satz der Erzählung angedeutet wird:

168 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, 100. 169 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 283.



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Ich nenne es einfach Das Buch, ohne nähere Bezeichnung und ohne Epitheta, und in dieser Abstinenz und Beschränkung liegt ratloses Seufzen, eine stille Kapitulation vor der Unfaßbarkeit des Transzendenten, denn kein Wort und keine Andeutung kann so funkeln und so duften, kann uns mit solchen Schreckensschaudern überlaufen, kann eine Ahnung dieses namenlosen Etwas sein, dessen alleiniger Vorgeschmack auf der Zungenspitze das Fassungsvermögen unseres Entzückens übersteigt. (S 9)170

Wie der Komet bleibt auch „Das Buch“ etwas Unbestimmbares und Unaussprechliches, für das man keine anderen Formulierungen als kunstvolle Umschreibungen, Vergleiche und Metaphern finden kann. Doch daraus geht hervor, dass in ihm die Lösung aller Geheimnisse der Welt, der Natur und des Lebens enthalten sind. Wenn es als „das Original“ bezeichnet wird, ruft dies Assoziationen mit dem Authentischen, Wahren und Heiligen hervor. „Das Buch“ bleibt aber mehrdeutig, ist weder Bibel noch eine andere heilige Schrift.171 Es hat auch keine bestimmte materielle Form: So findet der Ich-Erzähler Reste davon, „die letzten Seiten, den inoffiziellen Anhang“, in belang­ losen Fetzten einer Zeitung (S 15). „Das Buch“ wird zu einer mythisch-magischen Figur, in der sich die ganze Welt offenbart, es ist der Schlüssel zum Weltverständnis oder sogar die absolute Erkenntnis selbst. Es hat also einen vergleichbaren Status wie der Komet und seine Verehrung kommt in ähnlichen Formen zum Ausdruck. In seiner Darstellung lassen sich viele Umschreibungen finden, von deren Unzulänglichkeiten sich der Ich-Erzähler distanziert. Es scheint sich einer klaren, rationalen Kriterien entsprechenden Darstellung zu entziehen, obwohl es als Ausdruck von Ratio und Gelehrsamkeit gilt. Die euphemistischen Formulierungen schwanken zwischen liebevoller Begeisterung für „Das Buch“ und seiner Glorifizierung als unerreichbarer Idee bis zum Drang, es zu erforschen und seine konkrete Gestalt und materielle Präsenz in der Welt zu ­fixieren. „Das Buch“ wird einerseits als eine intellektuelle Herausforderung und als ein in Buchform verfasster Text dargestellt, den der Vater mit Bedacht studiert; andererseits wird es als pure emotionale Erregung der Seele und mystische Ekstase geschildert. Um einen Eindruck zu vermitteln, wie dieses Oszillieren sich auf der lexikalischen Ebene abspielt, möchte ich auf einen Satz eingehen, in dem dieses Vorgehen besonders sichtbar wird. Hier tauchen nämlich mehrere Ausdrücke über den prekären ­Zugang zu dem auf, was „Das Buch“ ausmacht. Zur Verdeutlichung bestimmter Aspekte wird der polnische Text mit zwei Übersetzungen konfrontiert, mit der älteren

170 Bruno Schulz benutzt das Wort Księga, das etwas veraltet und gehobener klingt als das geläufige książka. Dadurch und durch die konsequente, im Polnischen für Substantive ungewöhnliche Großschreibung wird die Bedeutung des Buches hervorgehoben. Doreen Daume hat sich daher in ihrer Neuübersetzung dazu entschlossen, den Artikel vor dem Wort Buch groß zu schreiben. 171 Władysław Panas verweist in diesem Zusammenhang auf das kabbalistische Werk Zohar, das wörtlich übersetzt „strahlender Glanz“ bedeutet, denn Schulz verbindet hier auch „Das Buch“ mit dem Motiv des Lichtes und der „Invasion des Glanzes“ (S 10). Vgl. Władysław Panas, Księga blasku, 76, 99 f., 172.

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von Josef Hahn aus den 1960er Jahren und der neuen von Doreen Daume (2011), die unterschiedliche Interpretationen anbieten: W tym krótkim a mocnym spojrzeniu, w przelotnym ściśnięciu ręki pochwyci on [czytelnik prawdziwy, na jakiego liczy ta powieść – AH], przejmie, odpozna – i przymknie oczy z zachwytu nad tą recepcją głęboką.172 Durch diesen kurzen, aber mächtigen Blick, durch meinen flüchtigen Händedruck wird er [der echte Leser, mit dem unsere Erzählung rechnet – AH] begreifen, eindringen und erkennen – und die Augen schließen vor Entzücken über sein tiefes Verständnis.173 Er [der Leser, der richtige Leser, auf den unsere Geschichte zählt – AH] wird es an diesem kurzen doch festen Blick, am flüchtigen Händedruck erkennen, er wird es aufnehmen und erfassen – und er wird die Augen schließen vor Entzücken über diese tiefe Empfindung. (S 9)

Der Ich-Erzähler möchte das unaussprechliche Geheimnis „Des Buches“ an andere weitergeben. Daher versucht er, dem Alchemisten ähnelnd, einen Kreis von Eingeweihten zu bilden. Das Unfassbare kann nicht in Form langwieriger Erklärungen vermittelt werden, dies geschieht vielmehr durch Blickwechsel und Händedruck, was die Grenzen des Textes hinterfragt, die den Ich-Erzähler von den Lesern trennen. Er möchte, dass man seine Erzählung sinnlich wahrnimmt und nicht kognitiv erschließt; nur die imaginierte Erfahrung von Nähe und Sensualität kann erklären, was „Das Buch“ bedeutet, ohne es intellektuell zu begreifen und durch Vernunft zu beherrschen. Im Zitat sind drei Verben auffällig, mit denen der zum Verstehen alternative Prozess charakterisiert wird: pochwycić, przejąć und odpoznać. Das erste Wort ist eine Ableitung vom Verb chwytać, das so viel wie fangen, greifen oder fassen bedeutet – deshalb übertragen es die Übersetzer mit begreifen (Hahn) oder erfassen (Daume); beide Wörter beinhalten in ihren Wortstämmen so etwas wie eine haptische Berührung. Das zweite Verb przejąć ist doppeldeutig: Man kann es als eine Derivation des Wortes wziąć (nehmen) verstehen und mit auf- oder übernehmen wiedergeben, oder seine andere Bedeutung betonen, die sich auf Gefühle und emotionale Zustände bezieht, z. B. kogoś przejął smutek – jemand wurde von Traurigkeit ergriffen, berührt oder durchdrungen. Hier mussten die Übersetzer interpretativ vorgehen: Daume verwendet aufnehmen im Sinne von hinnehmen, empfangen, erfassen, in das Bewusstsein dringen lassen, beschreibt also einen passiven Vorgang. Bei Hahn hingegen wird mit dem Verb eindringen eine aktive, sogar offensive Tätigkeit bezeichnet. Das dritte Verb odpoznać, das in beiden Fällen mit „erkennen“ übersetzt wird, ist eigentlich ein Neologismus und besteht aus dem Verb poznać (kennen / erkennen) und dem Präfix „od-“ (weg-, ab-, ent-, abseits-), das häufig einen Verlust bzw. das Entfallen von etwas aus-

172 Bruno Schulz, „Księga“, in ders., Opowiadania, 113. 173 Bruno Schulz, Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen, übers. v. Josef Hahn, München 1966, 111.



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drückt (z. B.: odpadać – entfallen, odciążyć – entlasten), oder einen Wechsel: etwas geht in die andere, umgekehrte Richtung (oddalać się – sich entfernen), etwas verändert seinen Zustand ins Gegenteil (odczarować – entzaubern). Man stolpert über dieses Verb und könnte es auch als Umkehrung, als Negation des Wortes poznać inter­ pretieren, so etwas wie ent-erkennen. Alle drei Verben werden im polnischen Satz syntaktisch ­unvollständig benutzt: Es fehlt ihnen eine Ergänzung, ein Objekt, das begriffen, auf­genommen, erkannt oder erfasst werden soll. In dieser elliptischen Formulierung ist nur aus dem Kontext zu erahnen, dass es sich hier um „Das Buch“ handelt. Die Verben kreisen um das Verstehen, nennen es aber nicht direkt, sondern aktivieren andere Bedeutungsfelder, die vom Vorgang einer Sinnverleihung oder ratio­ nalen Auslegung abdriften. Stattdessen werden Formulierungen verwendet, die auf sensuelle Berührung, emotionale Ergriffenheit, unreflektiertes Wahrnehmen oder auf ein rätselhaftes Nicht-Erkennen abzielen. Dieses Spiel mit der Mehrdeutigkeit der ­Bezeichnungen, mithilfe dessen man versucht, das Wort verstehen zu vermeiden, ­kulminiert am Ende des zitierten Satzes, bei dessen Übertragung die Interpretationen auseinandergehen. Die Bemühungen des Ich-Erzählers, das Geheimnis „Des Buches“ zu erklären, sollen bei dem echten bzw. richtigen Leser tiefes Verständnis (Hahn) bzw. tiefes Empfinden (Daume) bewirken. Im Polnischen steht hier das Substantiv recepcja (Rezeption), ein auffälliges, in diesem Kontext ungewöhnlich klingendes Lehnwort aus dem Lateinischen. Die häufige Benutzung von Lehn- und Fremdwörtern aus vielen Sprachen ist für Schulz charakteristisch. Sie dienen ihm zur Verfremdung seiner Texte und ermöglichen es, an der Grenze sprachlicher Korrektheit und Verständlichkeit zu lavieren. Im Falle des hier analysierten Satzes gelingt es dem Autor, mit Hilfe des Lehnwortes mehrdeutig zu bleiben. Das Substantiv recepcja bezeichnet nämlich gleichermaßen das Verständnis sowie das Empfinden; es kann sowohl für die bewusste, ­verstehende Aufnahme (im Sinne der intellektuellen Rezeption eines literarischen Werkes) stehen als auch für eine unbewusste Aneignung, unreflektierte Empfänglichkeit und intuitive Wahrnehmung (gemeint ist die Rezeptivität als Fähigkeit der Lebewesen, auf Reize von der Außenwelt zu reagieren). Sowohl in Das Buch als auch in Der Komet kommen Motive des Geheimnisses und des hermetischen Denkens sowie stilistische Mittel der Rhetorik der Alchemie und der Verführung vor, so die liebevolle Anrede des verehrten Objekts, Versuche seiner Definition oder obsessives Umschreiben. Wieder handelt es sich auch um eine andere Form des Wissens, das mehr mit Sensualität als mit Intellekt zu tun hat, dem Verstehen ­entkommt und rational nicht nachvollziehbar ist. Wie „Das Buch“ aussieht und ­welche Form es hat, kann man – ähnlich wie bei dem Kometen – nur erahnen. Beide gehören – um auf die Formulierung von Giorgio Agamben zu rekurrieren – zur „Zone der Unwissenheit“.174

174 Giorgio Agamben, „Das letzte Kapitel der Weltgeschichte“, 189–191.

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In der Schilderung „Des Buches“ ist zudem die paradoxe Haltung des Subjekts besonders auffällig, das zwischen absoluter Hingabe an den mysteriösen, nie erfassbaren Gegenstand und dem Wunsch, ihn zu beherrschen, dem Drang zu seiner Erkenntnis schwankt. Dies ist eine weitere Figur, die den Diskursen der Alchemisten und Verliebten gemeinsam ist. Darauf weist Gaston Bachelard in seinen Analysen alchemistischer Schriften hin. Diese seien von der „Dialektik der Liebe zur Wirklichkeit und der Erkenntnis der Wirklichkeit“ geprägt.175 Der Alchemist unterliege einerseits dem verführerischen Zauber der Materie, indem er das emotionale, nicht distanzierte Verhältnis zu ihr betone; andererseits versuche er sie zu erforschen und seine Experimente zu forcieren. In dieser prekären Einstellung würden sich die scheinbar widersprüchlichen Tendenzen zur Hingabe und Eroberung miteinander vermischen. Die Alchemisten strebten die Versöhnung der Gegensätze an und wollten ihre Ziele „dank Stahl und Sprache, Wasser und Feuer, Gewalt und Überredungskunst“ erreichen.176 Damit hebt Bachelard die besondere Rolle und magische Funktion der Sprache in der Alchemie hervor, die sogar zur Autoreferentialität tendiere. Es handele sich nicht nur darum, die Gunst der Materie und neue Adepten für die eigene Lehre zu gewinnen, sondern man wolle sich auch selbst zu sprachlicher Kreativität, zum Ausdenken von neuen hermetischen Formulierungen und kunstvollen Zauberformeln anspornen.177 Trotzdem gilt der Alchemist als kein selbstbewusster Verführer, der sich selbst in lustvollen Sprachproduktionen vergisst, in seinem Redeschwall versinkt und im ­Genuss der eigenen Rhetorik verfangen bleibt. Im Gegenteil, er wird in den alche­ mistischen Werken häufig als der Verführte präsentiert, der hoffnungslos in die Materie vernarrt ist und seine Schwäche für sie offenbart. Bachelard zufolge zeigt das tradierte Bild des Alchemisten ihn niemals als den „erhörten Liebhaber einer Chimäre“, stattdessen werde er als „der lächerliche Besiegte“ vorgestellt bzw. inszeniere er sich selbst als solcher. Indem er seine Verführbarkeit, Bescheidenheit und eine gewisse Selbstunterwerfung präsentiere, versuche er das Wohlwollen der Materie zu gewinnen.178 Diese Vorstellung eines zwiespältigen Subjekts, das andere verführt und gleichzeitig selbst verführt wird, bietet sich ausgezeichnet als Projektionsfläche für Künstler­ konzeptionen an und ist auch eine der Figuren, die der Rhetorik der Liebe zugrunde liegt. Die Verbindung von Hingabe und Eroberung im Kontext der Sprache der Verführung behandelt Niklas Luhmann in der schon genannten Studie Liebe als Passion. Aus

175 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 221. 176 Ebd., 282. 177 Auf die Literarizität der Rhetorik der Alchemie weist Bachelard hin, indem er bemerkt: Der ­Alchemist „macht keine Geometrie, er macht Gedichte!“ Ebd., 285. Es wäre lohnenswert, umgekehrt die Vorstellung von Literatur als Alchemie zu untersuchen. Vor allem in Bezug auf Lyrik wird häufig die Metapher der „Alchemie des Wortes“ benutzt, man denke zum Beispiel an das so überschriebene Kapitel in Arthur Rimbauds Eine Zeit in der Hölle (1873). 178 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 92.



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diesem Werk möchte ich einen längeren Abschnitt zitieren, in dem ähnliche Motive wie in Bachelards Analyse der alchemistischen Rhetorik auftauchen: Einmal Lehre und Literatur geworden, ist Verführung ein Spiel mit zwei Parteien. Es kann sich dann nur noch um ein durchschautes Spiel handeln, an dem man sich nur beteiligt, wenn man sich beteiligen will. Man unterstellt sich dem Code und seinen Regeln, läßt sich verführen oder spielt zumindest eine Weile mit dem Feuer, wobei der Reiz nicht zuletzt darin besteht, daß das Spiel außer Kontrolle geraten kann, und auch dies: für beide Seiten. Die Verschmelzung von Aktivität und Passivität auf beiden Seiten zu einem neuen Begriff von Passion bedeutet nicht, daß die Asymmetrie in der Beziehung der Geschlechter aufgehoben wird. Aber sie muß auf der Basis dieser Einheit von Aktion und Passion rekonstruiert werden, und das geschieht durch zwei gegenläufige Asymmetrien. Einerseits wird Liebe als Kampf charakterisiert: als Belagerung und Eroberung der Frau. Andererseits ist bedingungslose Selbstunterwerfung unter den Willen der Geliebten die Form, in der Liebe sich darstellt und „gefällt“. In der absoluten Unterwerfung geht es um volle Aufgabe der persönlichen Eigenart. Dafür sind die mystischen Traditionen des Mittelalters und des italienischen Renaissance-Platonismus ein noch nachwirkendes Vorbild. Auch die Astrée ist von diesem Prinzip der Selbstaufgabe, der Annihilation und der Wiedergeburt im anderen beherrscht. […] Demnach kulminiert die Liebe im Verlust der Identität – und nicht, wie man heute denken würde, im Gewinn der Identität. […] Die Liebe kombiniert also scheinbar Entgegengesetztes: Eroberung und Selbstunterwerfung.179

Für Luhmann basiert der Code der Verführung auf paradoxen Zusammenstellungen und Verschmelzung von Oppositionen wie das Verführerisch- und Verführbar-Sein, Aktivität und Passivität, kalkuliertes, eigennütziges Denken und Selbstvergessenheit, Selbstunterwerfung und Eroberung sowie Identitätsgewinn und Identitätsverlust. Die Paradoxa als Merkmal der Rhetorik der Verführung kann man als eine Variation der Strategie des Umschreibens betrachten, denn sie scheinen auch ein Versuch der sprachlichen Annäherung an die Sinnlichkeit, an extreme Gefühlszustände und ­emotionale Spannungen oder, mit einem Wort, an das Unaussprechliche zu sein. Ähnliche Figuren findet Roland Barthes in seiner Analyse der Sprache der Liebe. Zum einen betont er die Selbstunterwerfung des liebenden Subjekts, das sich „hassenswert“ nennt und auf jedes „Habenwollen“ des Liebesobjekts verzichtet.180 Zum anderen unterstreicht er die Selbstbezogenheit des Liebesdiskurses. Diesen Gedanken – der an den selbstbezogenen Charakter der alchemistischen Sprache erinnert – ­entwickelt er im Abschnitt, den er Die Liebe lieben betitelt. Ausgehend von Goethes Werther erklärt er den Mechanismus der „Entwertung“ und des „Sprachwirbels“, im Zuge dessen das Gefühl der Liebe selbst und nicht das geliebte Objekt in den Mittelpunkt des Interesses des Subjekts rückt.181 Lotte könne man auch, so Barthes, als eine „durchaus reizlose“ und „dürftige Hauptfigur“ ansehen, die der junge Werther

179 Niklas Luhmann, Liebe als Passion, 76 f. 180 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, 121 u. 170. 181 Ebd., 85.

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­ nhimmelt, weil er nach Gefühlsüberschwang sowie nach der Erkenntnis und Bestäa tigung seiner eigenen Identität sucht.182 Das Perverse an seinem Verhältnis zu ihr bestehe darin, dass er das frenetische Empfinden der Liebe mehr begehre als Lotte. Die sei für ihn nur ein Vorwand, um der Phantasie freien Lauf zu lassen und mithilfe der erhabenen Leidenschaft das Innere zu entfalten. Nicht Lotte, sondern das Gefühl der überwältigenden Liebe zu ihr werde glorifiziert und nicht zuletzt das unter ihr leidende männliche Subjekt, das im Zentrum des Interesses und im Titel des Romans steht. Im Wirbel der Lobreden scheine sich die Sprache so zu verselbstständigen, dass sie an die Stelle des angebeteten und beweihräucherten Objekts trete. Figuren und Motiven, die Bachelard, Luhmann und Barthes der Rhetorik der Alchemie oder der Liebe zuschreiben, kann man auch in Schulz’ Erzählung Der Komet begegnen. Die Haltung des Vaters lässt sich einerseits durch eine gewisse Überheblichkeit charakterisieren. Beim Experimentieren tritt er selbstsicher vor dem Publikum auf und möchte die Geheimnisse der Materie sowie der menschlichen Natur erforschen. In seinen Versuchen schwingt ein latenter Wunsch zur Eroberung mit. Zum Beispiel bemüht er sich bei der schon erwähnten „Auseinanderlegung“ der Psyche von Onkel Edward darum, dessen verborgenes Innere ans Licht zu holen und dadurch zu zeigen, dass es beherrschbar sei. Die Psyche des Onkels wird als ein handhabbarer, dreidimensionaler Gegenstand beschrieben, der Raum einnimmt. Der Vater zerlegt sie in Einzelteile, blättert die „Komplexe seines Ichs“ auf dem Arbeitstisch auf, zieht seine Lebensfäden „durch die ganze Länge des Flurs und den linken Flügel des Gebäudes“, „die ganze derzeitige Lebensbahn des Onkels“ hängt er auf kleinen Haken an der Wand auf (S 316). Die Psychoanalyse wird zu einer Installation oder Assemblage – der Vater möchte mit seinem Experiment dem Verborgenen und Verdrängten in der mensch­ lichen Psyche Raum verleihen, es sichtbar machen und dadurch als erobert erklären. Manchmal wirkt der Vater sogar etwas eingebildet: Er macht sich lustig über die Errungenschaften der Technik, über einen Elektromagneten lacht er „überlegen“ (S 310), von der Materie spricht er mit Ironie und „mit leisem Spott“ (S 310). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass er sich nicht für einen unkritischen und bedingungslos ergebenen Untertanen der allmächtigen Natur hält, sondern für ihren gleichrangigen Partner – für einen Experimentator, der sie zur Auseinandersetzung herausfordern und unterordnen kann. Andererseits ist seine Einstellung zur Materie aber auch von Selbstunterwerfung geprägt. Er gibt sich den Experimenten völlig hin, ist sich aber bewusst, dass er damit seine Ziele nicht durchsetzen kann, weil er vom Willen der Natur abhängig ist und sich ihm fügen muss, wie das im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt: „Die Natur wollte und wirkte, und der Mensch war der oszillierende Richtungsweiser, das Schiffchen einer Webstube, das nach Belieben mal hierhin, mal dorthin schoß“ (S 312). Daher führt er seine Versuche mit einer gewissen Demut und Behutsamkeit durch – er streicht beispielsweise „zart über verschiedene Stellen des Stromkreises“

182 Ebd.



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(S 311). Auch das Lauschen ist auffällig. Der Vater versucht sich in den Willen der Materie hineinzuhören und scheint dabei „zehn Hände zu haben, und zwanzig Sinne“ (S 311). Die Empfänglichkeit und (Über)Empfindlichkeit für verborgene Zeichen und Nuancen wären die nächste Figur, die sowohl in der Rhetorik der Alchemie als auch der Verführung vorkommt.183 Während der Experimente beugt sich der Vater mehrfach vor: „Er kerbte den Draht ein, beugte sich lauschend vor und war schon wieder zehn Schritte weiter […]. Er beugte sich vor, stach mit einem Draht in einen bestimmten Punkt des Stromkreises“ (S 311). Diese Geste symbolisiert die Zwiespältigkeit seiner Haltung, die sich zwischen Selbstunterwerfung und Gewaltanwendung hin- und herbewegt. Sie kann für die ­Huldigung der Materie stehen, aber auch – wenn man bedenkt, dass die Experimente theatralisch vor Zuschauern vorgeführt werden – für das Selbstbewusstsein des Subjekts, das sich dadurch auch selbst inszeniert. Das Oszillieren zwischen Selbstunterwerfung und Durchsetzungswillen scheint mir ausschlaggebend für Schulz’ Gesamtwerk zu sein. Durch Das Götzenbuch (Xięga bałwochwalcza) – einen Zyklus von über 20 Glasklischeedrucken, der um 1920 entstanden ist – zieht sich beinahe obsessiv das Thema der Selbstunterwerfung.184 Auf den meisten Bildern, zum Beispiel Infantin und ihre Zwerge, Der Stamm der Parias, Die Prozession oder Die Pilger, sind halbnackte Frauenfiguren in selbstbewusster Pose zu sehen, oft von einer Schar kleinerer Männergestalten umgeben, die sie verehrungsvoll anschauen und sich ihnen zu Füßen werfen. Die psychoanalytische Lesart unterstreicht die erotische Spannung in diesen Bildern, deutet sie im Kontext des Sadomasochismus und Fetischismus, sucht nach ­intertextuellen Anspielungen auf die Novelle Venus im Pelz (1870) des Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch, der übrigens im galizischen Lemberg in der Nähe von

183 Als Beispiel für die besondere Wachsamkeit des liebenden Subjekts für die Zeichen nennt Luhmann in seiner Studie die Szene des Kennenlernens im Werther-Roman: „Lotte tanzte nicht, sie schnitt Schwarzbrot. Auch das kann der empfindsamen Seele genügen; freilich nur bei einer Empfindsamkeit, die die ganze Welt in Anspruch nehmen kann, um Liebe und Leid erfahrbar zu machen.“ Niklas Luhmann, Liebe als Passion, 42. Man kann Luhmanns Überlegung noch weiter fortführen: Der entscheidende Beweis der Seelenverwandtschaft mit Lotte ist für Werther der Augenblick, in dem sie am Fenster stehen, das Gewitter beobachten und gleichzeitig das Wort „Klopstock“ aussprechen. Die gemeinsame Assoziation ist zugleich die Bestätigung, dass sie denselben Code der Dichtung benutzen. Werther schaut durch die Brille literarischer Werke auf die Welt, sieht statt Natur das Gedicht Frühlingsfreier. Deshalb kann man ihn als homme-copie (Formulierung von Stendhal, siehe Niklas Luhmann, Liebe als Passion, 50) bezeichnen, weil er die literarischen Muster reproduziert. Zum Thema der Wahrnehmung der unsicheren Liebeszeichen vgl. auch Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, 258. 184 Diese besondere graphische Technik wird auch cliché-verre genannt. Ausgabe auf Deutsch: Bruno Schulz, Das Götzenbuch: Xięga bałwochwalcza, hg. v. Jerzy Ficowski, übers. v. Wolfgang Reder, Warszawa 1988.

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Schulz’ Heimatstadt Drohobytsch geborenen wurde.185 In einer Deutung, die sich auf kabbalistische Schriften und postmoderne Theorien stützt, fokussiert man sich hingegen auf die beiden titelgebenden Glasklischeedrucke im Zyklus Götzenbuch I und Göt­ zenbuch II, auf denen nicht nur eine Frau, sondern auch ein Buch angebetet wird.186 Im ersten Bild kniet ein Mann vor einem voluminösen geöffneten Buch nieder, aus dem eine Frau heraustritt; im zweiten wird die Frau auf einer Liege abgebildet – ein klassischer Akt, der stark an Venus-Kompositionen von Tizian erinnert. Zu Füßen der Frau steht ein tief gebeugter Mann in serviler Haltung, der ein geöffnetes Buch in den Händen hält, als ob es eine kostbare Gabe für sie wäre. In beiden Fällen bleibt das Objekt der Anbetung unklar. Die Verbindung von Frau und Buch – im Polnischen übrigens beides feminine Substantive, was die Verquickung der Symbole noch steigert – verschiebt den Gestus der Verehrung in Richtung einer mystisch-geheimnisvollen Versenkung in den Text im Allgemeinen.187 Diese Lesarten greifen ineinander über, ergänzen sich gegenseitig und machen auf das Motiv der Anbetung in Schulz’ Schaffen aufmerksam. Es handelt sich dabei aber nicht ausschließlich um eine Selbstunterwerfung, um den Götzendienst eines unreflektierten Untertanen. Bei Schulz ist dieses Motiv mehrdeutig, ähnlich wie in der oben beschriebenen Mischung aus Demut und Hochmut, aus Selbsterniedrigungs- und Eroberungsphantasien, die für die Rhetorik der Alchemie und der Liebe kennzeichnend ist. Ein Beispiel ist das Bild Die Widmung, das den Zyklus eröffnet. Im Mittelpunkt steht ein Mann mit gesenktem Kopf – das Selbstbildnis des Autors. In den Händen hält er eine Platte, darauf eine Krone. Vor wem er sich verbeugt, wen oder was er anbetet, für wen die Krone vorgesehen ist, bleibt offen. Er blickt herausfordernd in Richtung der Betrachter. Im Hintergrund stehen ein paar kleine Männergestalten, die mit aufgerissenen Augen das sehen wollen, wohin der gebeugte Mann seine Schritte wendet – letzten Endes aber auf ihn, auf seinen Rücken schauen. Diese Szene ist eine vorzügliche Illustration jener Doppelbewegung des Subjekts, das dem verführerischen Zauber unterliegt, sich aber gleichzeitig der eigenen Verführungskraft bewusst ist. Der Mann auf dem Bild inszeniert sich durch die untertänige Pose als schwach. Doch er verliert sich nicht in der Verehrung, sondern führt die Geste der Anbetung höchst

185 Ariko Kato, „The Early Graphic Works of Bruno Schulz and Sacher-Masoch’s Venus in Furs“, in Dieter de Bruyn u. Kris Van Heuckelom (Hg.), (Un)masking Bruno Schulz, 218–238. 186 Kris Van Heuckelom, „Artistic Crossover in Polish Modernism. The Case of Bruno Schulz’s Xięga Bałwochwalcza (The Idolatrous Booke)“, in Image and Narrative. Online Magazine of the Visual Nar­ rative Nr. 15/2006, http://www.imageandnarrative.be/inarchive/iconoclasm/heuckelom.htm (25. Mai 2017). 187 Das Verbeugen vor dem Text führt zur nächsten Interpretationsmöglichkeit, die den Zyklus als eine Geschichte über künstlerische Impotenz liest: Ihr zufolge suchte der Künstler nach einer neuen Muse, um seine Schaffenskrise zu überwinden. Małgorzata Kitowska-Łysiak, „Bruno Schulz – Xiega Balwochwalcza: wizja – forma – analogie“, in dies. (Hg.), Bruno Schulz: In memoriam 1892–1942, Lublin 1992, 133–152.



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selbstbewusst und theatralisch vor. Er steht im Zentrum und hält die Krone, das heißt, er entscheidet, wem er sie überreicht. Das adorierte Objekt bleibt unsichtbar und unwichtig. Im Vordergrund steht vielmehr die mehrdeutige, selbstbezogene Geste der Verbeugung des verführten und verführerischen Subjekts. Eine ähnliche Haltung findet sich auch in den Beschreibungen des Vaters in der Erzählung Der Komet. Dieses Motiv ist zum einen eine interessante epistemologische Denkfigur, die für eine andere Art des Zugangs zur Wirklichkeit steht. Dabei kristal­ lisiert sich die Position des Subjekts als instabil heraus. Sein Kontakt zur Außenwelt oszilliert zwischen aktiver Teilnahme und passiver Hingabe: Es unterliegt den Reizen der Umgebung, lässt sich von ihnen treiben und verführen, versucht aber auch gleichzeitig, die eigene Wirk- und Verführungskraft durchzusetzen. Zum anderen dient Schulz dieses Motiv als Projektionsfläche für seine Künstlerkonzeption. In seinen ­Werken stilisiert er die Figur des Vaters zum Alter Ego des Schreibenden – zum „­Verteidiger der verlorenen Sache der Poesie“ (Z 50). In Der Komet wird der Vater als ­Verehrer der Materie dargestellt, die man auch als künstlerischen Stoff, als Sprache ­verstehen kann. Er bleibt ihr ausgesetzt und bemüht sich zugleich, ihre Gunst zu erlangen, sie zu erobern und sich zu eigen zu machen.

2.3.2 Vergleich mit Gombrowicz und Kafka Auch in den Romanen Pornographie (1960) von Witold Gombrowicz und Der Proceß (1925) von Franz Kafka strebt das Subjekt nicht nur nach Vorherrschaft, sondern wirbt – ähnlich wie der Vater bei Bruno Schulz – auf verführerische Weise um die Gunst der Materie und der Außenwelt. Diese andere Art der Erkenntnis zeichnet sich zunächst durch die Vorstellung von einer Aktivität der Außenwelt aus, wie man sie bereits in Der Komet finden kann. An den wissenschaftlichen Erfindungen und technischen Erneuerungen kritisiert der Vater, dass ihnen die Idee einer Überlegenheit des Menschen zugrunde liegt. Ihm zufolge wird die Aktivität der Natur unterschätzt, denn sie lässt sich nicht zum statischen Objekt machen, das stabil verharrt, damit man sie mithilfe der Errungenschaften der Technik kontrolliert. Daher betrachtet er alle Versuche, die Natur durch physikalische Formeln zu erklären und zu beherrschen, mit großem Zweifel und Spott. In seiner Sicht ist die Natur ein allumfassendes Magma, das den Erkenntnisansprüchen der Menschen entkommt: Nicht der Mensch war hier in das Laboratorium der Natur eingebrochen, sondern die Natur hatte den Menschen in ihre Machinationen hineingezogen und gelangte durch dessen Experimente zu ihren eigenen Zielen, von denen niemand wusste, wo genau sie lagen. […] Er selbst war nur ein Bestandteil, ein Teil des Neef’schen Hammers. (S 312)

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Die aktive und dynamische Natur lässt sich nicht in mechanische Schemata einordnen – man kann sie nicht im Laboratorium einschließen. Sie ist ein organisches und unbegreifbares Universum, das dem Individuum für immer unzugänglich bleiben muss. Zugleich besitzt sie durch ihre Unfassbarkeit eine starke Anziehungskraft, wirkt verführerisch und kann die Menschen in sich „hineinziehen“. Diese Formulierung beinhaltet latente Gewalt: Die Natur nimmt jene gefangen, die versuchen, in ihre Geheimnisse einzudringen und sie mit aufgezwungenen Regeln zu systematisieren. Es kommt demnach zu einer Umkehrung: Der Mensch verliert seine Autonomie, wird zum ­mechanischen Teil im großen System, zum passiven, entmündigten und belanglosen Zahnrad in den Machinationen der Natur, die jetzt die Initiative ergreift. Die Versuche, sie auf die Gesetzte der Mechanik zu reduzieren, müssen misslingen. Die Natur wird personifiziert und gewinnt an Selbständigkeit. Diese andere Sicht auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und der Wirklichkeit besteht aber nicht nur in der Verkehrung der Aktivität, die man jetzt der Natur ­zuschreibt. Vielmehr handelt es sich darum, dass der Kontakt des Subjekts – der ­Figuren sowie des Ich-Erzählers – mit der Umgebung nicht mehr neutral verläuft und distanziert ist. Es kommt also nicht auf die Erkenntnis im klassischen Sinne an, die die Spaltung in eine erkennende Instanz und das Erkannte voraussetzt. Im Gegenteil, hier hat dieses Verhältnis eine besondere Dynamik und emotionale Färbung und ist durch eine permanente Hin- und Herbewegung zwischen Anziehung und Abstoßung gekennzeichnet, durch eine Verwischung der Grenzen zwischen dem Wirklichen und Imaginären, zwischen Subjekt und Objekt. Demzufolge ist auch die Anziehungskraft nicht nur die Domäne der Natur und der Außenwelt. Darüber verfügt auch, wie schon erwähnt, der Vater beim Durchführen seiner Experimente: Einerseits wird er von den unbegreiflichen Geheimnissen der Materie beinahe verschlungen, andererseits versucht er durch seine experimentelle Tätigkeit sie und das Publikum zu verführen. Einen ähnlichen Zugang zur Wirklichkeit haben auch die Figuren in Gombrowicz’ Roman Pornographie, der in Kapitel 3 dieser Arbeit ausführlich untersucht wird. An dieser Stelle möchte ich nur auf die Haltung des Protagonisten Friedrich zur Außenwelt eingehen. Ebenso wie die Einstellung des Vaters in Der Komet schwankt sie zwischen Unterwürfigkeit und Selbstbewusstsein. Friedrich plant eine perverse Intrige, die zum Ziel hat, ein Mädchen und einen Jungen ohne ihr Wissen zu verkuppeln. Seinen geheimen und gemeinen Plan teilt er nur dem Ich-Erzähler Witold mit, und zwar schriftlich in Briefen, in denen er auch sein Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Natur erläutert: Man muss die alte Hu… kennen. Sie wissen, wen ich meine? Sie, das heißt die Natur. Wenn Sie von der Seite mit so etwas Unerwartetem zu drängen beginnt, soll man nicht protestieren, sich nicht sträuben, man muss sich gehorsam, schmiegsam anpassen, faire bonne mine … aber innerlich nicht lockerlassen, nicht unser Ziel aus den Augen verlieren, so, dass Sie weiß, dass wir dennoch ein anderes, ein eigenes Ziel haben. Sie pflegt anfangs in Ihren Eingriffen s. resolut, entschlossen etc. zu sein, doch nachher, als höre es auf, Sie zu interessieren, lässt Sie nach, und dann kann man heimlich zur eigenen Arbeit zurückkehren und dann sogar auf ihre Nachsicht rechnen … (P 134)



Rhetorik der Alchemie und der Verführung 

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Friedrich, der alle Regeln und Ordnungen prinzipiell ablehnt, scheint die Allmacht der Natur anzuerkennen, die das Schicksal der Menschen steuern kann. Sie wird personifiziert und mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben (im Polnischen ist das für Substantive ungewöhnlich; im Deutschen wird das Personalpronomen in der Regel nur dann großgeschrieben, wenn Gott gemeint) und wie eine göttliche, übermächtige Instanz betrachtet, der die Welt untergeordnet ist und die in das Leben der Individuen eingreift. Friedrichs Verhältnis zu ihr ist jedoch eher ambivalent: Einerseits fürchtet er sich vor ihr und behauptet, man solle ihrem Willen gehorchen und ihren Absichten nicht widersprechen. Andererseits verachtet er sie und überschüttet sie mit heftigen Schimpfworten – wobei er es aber nicht wagt, vielleicht aus vor Respekt vor ihr, diese auszuschreiben. Er bemerkt, dass man trotz ihrer Macht nicht auf die eigenen Ziele verzichten dürfe. Durch Gehorsamkeit und Anschmiegsamkeit könne man ihre Gunst erlangen, so dass sie ihren Einfluss mindere, Nachsicht zeige und gutmütig den Menschen erlaube, das Beabsichtigte zu realisieren. In Friedrichs Einstellung kann man – wie in der Erzählung von Schulz – die Anspielungen auf die Rhetorik der Alchemie wiederfinden. Friedrich, einem Alchemisten ähnelnd, bemüht sich ebenfalls, durch einen liebevollen Umgang mit der Natur Änderungen in der Welt zu bewirken und seine Absichten zu verwirklichen, was in einem anderen Brief an seinen Freund Witold zum Ausdruck kommt: Vorsichtig! Man darf nichts forcieren. Besser delikat und mit Gefühl, um nicht zu reizen, nichts unnötig zu riskieren, bisher, unberufen, ist uns das Glück günstig – alles liegt daran, nichts zu verderben. Passen Sie auf sich auf. Vorsichtig! (P 178)

Die Umsetzung seines Vorhabens ist kein kühl kalkuliertes Handeln, sondern ein unsicheres, vorsichtiges und besonders feinfühliges Verhandeln mit den Mächten der Natur. Es scheint, als ob er mit seinen Briefen die Wirklichkeit verzaubern oder verhexen wolle, um seinen Plan zu realisieren. Im Zitat taucht die Interjektion „unberufen“ auf – im Original steht an dieser Stelle die Redewendung na psa urok, wörtlich übersetzt etwa: ein Zauber über den Hund.188 Dieser volkstümliche Zauberspruch wird verwendet, damit etwas in Erfüllung geht. Friedrich verknüpft das Gelingen der Intrige also mit der Verwendung von Zauberformeln. Mithilfe der Sprache und niedergeschriebener Anweisungen möchte er die Natur beeinflussen. Der Ich-Erzähler Witold bemerkt, dass nicht er der Adressat der Briefe ist, sondern lediglich ihr Vermittler. Seiner Meinung nach versucht Friedrich durch die Briefe mit der Natur zu kommunizieren und einen „unermüdliche[n] Dialog mit den Mächten“ zu führen (P 134). Es handelt sich demnach um etwas mehr als eine abergläubische Vorstellung. Im Zentrum steht das besondere Verhältnis Friedrichs zur Außenwelt: Er ist ihr ausgesetzt und will sich

188 Witold Gombrowicz, Pornografia, hg. v. Jan Błoński, Kraków 2011, 194.

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ihr mit Überzeugungskraft und der Rhetorik der Liebe nähern – eben „besser delikat und mit Gefühl“. Diese Haltung kann man im Kontext der vorangegangenen Überlegungen als eine Figur alchemistischer Sprache betrachten. Tatsächlich hat die Forschung zu Gombrowicz schon sehr früh auf die Alchemie als Bezugsfeld dieses Romans aufmerksam gemacht. So weist Peer Hultberg, der Übersetzer von Gombrowicz’ Werken ins Dänische, in einem Artikel aus den frühen 1970er Jahren auf eine Reihe von Symbolen und Motiven hin, die er der alchemistischen Lehre zuschreibt und in Pornographie wiederfindet.189 Hultbergs Ausführungen haben mit meiner Untersuchung der alchemistischen Rhetorik in Schulz’ Erzählung Der Komet einiges gemeinsam. Allerdings besteht mein Hauptanliegen – im Gegensatz zur Textanalyse von Hultberg – nicht darin, ausschließlich die intertextuellen Anspielungen auf Alchemie bei Gombrowicz oder Schulz zu verfolgen. Im Hinblick auf ihre Werke betrachte ich die Alchemie vielmehr als ein Musterbeispiel für das hermetische Denken im Allgemeinen, als Metonymie einer Naturauffassung, die auf attrahierenden und repulsiven Kraftwirkungen basiert. In der ­Hermetik sowie im Diskurs der Liebe suchen die Autoren nach Inspirationen, um ein anderes Verständnis von Wissen und Erkenntnis zu entfalten. Indem sie in ihren Texten bestimmte rhetorische Figuren der Alchemie und der Verführung verwenden, beziehen sie sich auf eine besondere Auffassung vom Individuum und seinem Verhältnis zur Welt. Beiden Rhetoriken liegt das Phänomen des Geheimnisses zugrunde, woraus

189 Peer Hultberg, „Pornografia i alchemia. Prolegomena do analizy Pornografii Gombrowicza“, ins Polnische übers. v. Ignacy Sieradzki, in Pamiętnik Literacki Nr. 2/1973, 179–188. Hultberg stützt sich auf Carl Gustav Jungs Abhandlung Psychologie und Alchemie (1944) und hebt das stark präsente Motiv der Synthese und des Strebens nach der vollkommenen Einheit im Roman hervor. Das Ziel von Friedrichs Intrige ist die Vereinigung von zwei Jugendlichen, von denen man im Grunde genommen nicht viel erfährt. Sie stehen vielmehr, wie Hultberg bemerkt, symbolisch für weibliche und männliche Prinzipien, die wie Elemente in einer chemischen Reaktion zu verbinden sind. Das jugendliche Alter der beiden, die verkuppelt werden sollen, assoziiert er mit dem Fauststoff – durch die Verkuppelung scheinen Witold und Friedrich nach dem Geheimnis der ewigen Jugend zu suchen. Weiter stellt Hultberg fest, dass der Ich-Erzähler dem ganzen Unterfangen eine immer größere Bedeutung beimisst, davon wie verzaubert ist und eine solche Verzauberung zu den charakteristischen Merkmalen alchemistischer Projektionen gehört. Die Durchführung der Intrige interpretiert er als Phasen eines alchemistischen Experiments: Der Roman beginnt damit, dass der Ich-Erzähler den Verlust des Sinns in der Welt als Einbruch der Dunkelheit empfindet, was Hultberg mit Nigredo verbindet – der ersten Stufe zur Herstellung des Steins der Weisen, die in der „Schwärzung“ bzw. dem Faulenlassen der prima materia besteht. Auch andere Analogien zur Alchemie werden aufgezählt, etwa die symbolische Bedeutung von Farben und Orten. Viel Raum widmet Hultberg dem Protagonisten Friedrich, den er als Hermes Psychopompos interpretiert. Der Götterbote Hermes gelte in der Alchemie als symbolische Figur und werde wegen seiner Schnelligkeit mit Quecksilber assoziiert, so Hultberg. In altgriechischen Vorstellungen geleite er die Seelen der Verstorbenen ins Jenseits – so wie Friedrich den Ich-Erzähler bei der Durchführung der Intrige begleite, die dem alchemistischen Opus Magnum ähnele. Die Anspielungen auf alchemistische Lehre machen für Hultberg den Kern von Pornographie aus, so dass er Gombrowicz’ Werk als „den alchemistischen Roman“ bezeichnet. Ebd., 187.



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eine Relation zwischen Subjekt und Objekt resultiert, die sich mit Verben wie „erkennen“ oder „verstehen“ nicht beschreiben lässt. In Anlehnung daran scheinen Schulz und Gombrowicz eine neue epistemologische Haltung literarisch zu formulieren. In ihren Werken oszilliert die Einstellung des Subjekts zur Wirklichkeit – ähnlich wie in der Sprache der Alchemie oder der Liebe – zwischen Selbstauflösung und Selbstkonstituierung. Das Individuum gibt sich den Reizen der Außenwelt hin, ist von ihnen verführt, ordnet sich ihnen fügsam unter. Gleichzeitig versucht es seine Präsenz in der Welt zu markieren, um die eigenen Absichten durchzusetzen – jedoch nicht mit Eroberung und Gewalt, sondern mit Überzeugungskraft und Verführungsstrategien. Dieses Verhältnis zur Außenwelt kristallisiert sich als eine Strategie des modernen In-derWelt-Seins heraus und ist eine Reaktion auf die Wirklichkeit, die man als aktiv und unverständlich wahrnimmt. Um die Besonderheit dieser anderen Relation zwischen dem Subjekt und der Welt zu beleuchten und um zu zeigen, dass sie sich als eine bedeutsame Erscheinung in der Prosa der Moderne verstehen lässt, möchte ich noch ein Beispiel anführen, und zwar Franz Kafkas Roman Der Proceß.190 Kafkas Protagonist wird bekanntlich mit Ereignissen konfrontiert, die er kaum versteht, mit denen er sich aber abfinden muss. Sie zwingen ihn, ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit aufzubauen. Der Roman beginnt mit einer Unordnung, die den Verlust der bisherigen Stützpunkte, Verhaltensmuster und Erkenntnisstrukturen verdeutlicht. Diese taugen nämlich nicht mehr, um mit der Außenwelt zurechtzukommen. Nach seiner Verhaftung denkt Josef K. daran, sein Zimmer wieder in Ordnung zu bringen.191 Die Wiederherstellung der alten Ordnung erweist sich jedoch als unmöglich. Der Advokat Dr. Huld erklärt dem verlorenen K. die Regeln, wie man sich mit den neuen Umständen zurechtfinden kann. In einem Kapitel hält er eine lange Rede, in der sich eine Einstellung des Subjekts zur Wirklichkeit abzeichnet, die an die Werke von Schulz und Gombrowicz sowie an die Rhetorik der Alchemie und Verführung erinnert. Der Advokat scheint in seinen Bemühungen einem Alchemisten zu ähneln, doch statt die Allmacht und Omnipräsenz der Materie muss er die des Gerichts anerkennen, ihm huldigen – wie es sein bedeutungsträchtiger Name verlangt – und stets „die Gunst der Herren“ anstreben.192

190 Franz Kafka, Der Proceß: Roman in der Fassung der Handschrift, Kritische Ausgabe Bd. 3, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002. Die Menge der Forschungsliteratur, die auch die Verführungsproblematik – vor allem im Kontext der Frauenfiguren – berücksichtigt, kann entmutigen. Ich möchte aber auf einige wichtige Aspekte aufmerksam machen, die mit den bisherigen Überlegungen übereinstimmen und sie ergänzen. 191 „[Es] schien ihm, als ob durch die Vorfälle des Morgens eine große Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach verursacht worden sei und daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wiederherzustellen. War aber einmal diese Ordnung hergestellt, dann war jede Spur jener Vorfälle ausgelöscht und alles nahm seinen alten Gang wieder auf.“ Ebd., 26. 192 Ebd., 123.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

Das Gericht lässt sich nicht verorten, ebenso wie die Materie umfasst es alles und macht sozusagen die Wirklichkeit im Roman aus. Den Verhältnissen dieser Welt ist mit kausalen Schlussfolgerungen und Logik im herkömmlichen Sinne nicht beizu­ kommen. Alles dreht sich um das Wohlwollen der übergeordneten Instanz, die unberechenbar ist und nicht nach festgelegten Gesetzlichkeiten handelt. Sie richtet sich vielmehr nach spontaner Geneigtheit, Gunst und Missgunst oder nach diffusen Anziehungskräften. Attrahierende Spannungen determinieren die Handlung: Zum einen besitzt das Gericht „eine eigentümliche Anziehungskraft“, zum anderen wird es „von der Schuld angezogen“.193 Die Außenwelt kennzeichnet sich durch Dynamik und ­organische Vitalität: So wird das Gericht beispielsweise als „der große Organismus“ bezeichnet.194 Der Kontakt zur Welt verläuft geheimnisvoll: Das gerichtliche Verfahren ist niemandem zugänglich, spielt sich im Geheimen ab und ist Gegenstand permanenter Mutmaßungen. Deswegen befindet man sich im dauerhaften Zustand der Unwissenheit, was in solchen Formulierungen zum Ausdruck kommt wie: „K. wusste ja gar nicht, was der Advokat unternahm“; der Advokat erfährt „nur gerüchtweise“ über den Prozess; die Beamten selbst „wissen nichts“ oder „man weiß daher im allgemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste Eingabe zu richten hat“.195 Das Gefühl der Unsicherheit ist bestimmend, denn „nichts mehr [scheint] sicher“.196 Im Laufe seiner Rede geht Huld auf die Strategien ein, die die Advokaten angesichts dieser Gegebenheiten entwickelt haben. Bei der Verteidigung der Angeklagten versuchen sie Kontakte zu den mit dem Gericht verbundenen Menschen herzustellen. Dabei spielen Überzeugungskraft und geschickte Rhetorik eine wichtige Rolle, weil man so das Wohlwollen der Beamten gewinnen kann. Wirklichen Wert haben Huld zufolge nur „ehrliche persönliche Beziehungen“, nicht jedoch Logik oder Nachvollziehbarkeit der Beweisführung.197 Letztlich kommt es auf das Besänftigen allmächtiger Kräfte an, was naturmagischen Vorstellungen und alchemistischem Verhandeln mit der personifizierten Natur ähnelt. Den Glauben an die rhetorische Wirksamkeit der Sprache repräsentiert auch Huld selbst. Er ergeht sich in langen Tiraden, die K. für „nutzlose wie langweilige Reden“198 hält: In solchen und ähnlichen Reden war der Advokat unerschöpflich. Sie wiederholten sich bei jedem Besuch. Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Art dieser Fortschritte mitgeteilt werden.199

193 Ebd., 35 u. 45. 194 Ebd., 126. 195 Ebd., 118–120. 196 Ebd., 127. 197 Ebd., 122. 198 Ebd., 119. 199 Ebd., 129.



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Es handelt sich hier um sich wiederholende, rituelle Sprechakte, die eine magische Funktion haben. Der informative Wert der Mitteilung ist gering – von welchen Fortschritten die Rede ist, lässt sich nicht festhalten und ist im Grunde genommen völlig unbedeutend. Im Vordergrund steht die Rhetorizität und Performativität der Sprache, ihre Selbstbezogenheit und die Vorstellung von ihrer Wirksamkeit. Die wird im Text stets infrage gestellt. Trotzdem gibt sich der Advokat dem Sprechen „unermüdlich“ und stets mit demselben Eifer hin, sich dabei fast selbst vergessend, als ob von seinen Reden das Bezähmen und Behexen der Wirklichkeit abhinge. Der Glaube an die magisch-performative Kraft der Sprache bei gleichzeitigem Zweifel daran charakterisiert die Haltung der Advokaten, deren rhetorische Bestrebungen allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Das erinnert an die schon erwähnte Haltung des Alchemisten als einen „lächerlichen Besiegten“.200 Das Gericht verachtet die Advokaten – man duldet sie lediglich, weil die Verteidigung grundsätzlich verboten ist. Dagegen rebellieren die Anwälte aber nicht, sondern sie sind widerstandslos mit dem Gegebenen nach dem Motto einverstanden, dass es das einzig Richtige sei, „sich mit den vorhandenen Verhältnissen abzufinden“.201 Es ist ihnen klar, dass sie keinen Einfluss auf die Wirklichkeit haben, sie wissen, dass sie mit ihren Beschwerden an die Verwaltung „nicht den geringsten Erfolg“ erzielen können,202 und sie akzeptieren diesen Zustand. Ähnlich wie bei den Protagonisten in den Werken von Schulz und Gombrowicz geht diese etwas masochistische Geste der Selbstunterwerfung allerdings mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein einher. Die Advokaten sind sich ihrer Bedeutsamkeit bewusst: „Nichts wäre aber verfehlter, als daraus zu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten für den Angeklagten unnötig sind.“203 Ihre Unterlegenheit hindert sie nicht daran, immer wieder um die Gunst der Beamten zu buhlen. Sie glauben, durch ihre rhetorische Geschicklichkeit doch ein wenig wirksam zu sein. Huld zufolge kann der Prozess „zunächst nur unmerklich, später aber immer deutlicher beeinflußt werden.“204 Tatsächlich sind die Beamten für die Überzeugungskunst der Anwälte empfänglich: Nein, K. habe es ja selbst gesehen, die Beamten, und darunter recht hohe, kommen selbst, geben bereitwillig Auskunft, offene oder wenigstens leicht deutbare, besprechen den nächsten Fortgang der Prozesse, ja sie lassen sich sogar in einzelnen Fällen überzeugen und nehmen die fremde Ansicht gern an. Allerdings dürfe man ihnen gerade in dieser letzteren Hinsicht nicht allzu sehr vertrauen …205

200 Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, 92. 201 Franz Kafka, Der Proceß, 126. 202 Ebd., 121. 203 Ebd. 204 Ebd., 122. 205 Ebd., 123.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

Indem sie die performative Kraft der Sprache beschwören und gleichzeitig anzweifeln, entsteht der Eindruck, dass die Advokaten ein ambivalentes Verhältnis zur Wirklichkeit haben, das zwischen passiver Demut und Versuchen aktiver Einflussnahme schwankt. Diese Haltung versinnbildlicht die Geschichte, die Huld dem K. im Ton leichten Zweifelns erzählt. Diese Geschichte, die „sehr den Anschein der Wahrheit“ habe,206 handelt von einem Beamten, der die Advokaten nicht ins Gericht hereinlassen möchte und sie deswegen absichtlich von den zum Gerichtssaal führenden Treppen stürzt. Die Juristen finden jedoch eine Lösung: Sie laufen einer nach dem anderen hinauf und lassen sich „unter möglichstem, allerdings passivem Widerstand“ hinunterwerfen,207 um auf diese Weise den Beamten zu ermüden, was ihnen letztlich auch gelingt. Die Geschichte klingt, als sei sie – so Reiner Stach – aus einer Slapstickkomödie oder einem Stummfilm.208 Ob die Advokaten die Wirklichkeit beeinflussen können, indem sie die Gunst der allmächtigen Instanz gewinnen oder ihre Wachsamkeit einschläfern, hängt vom Zufall ab; meistens geschieht dies jedoch durch das Sprechen. Beiläufige Aussagen können die Beamten in gute Laune versetzen – sie lassen sich zum Beispiel „durch einen kleinen Scherz, den man nur deshalb wagt, weil alles aussichtslos scheint, zum Lachen bringen und sind versöhnt“.209 Wenn es den Advokaten gelingt, das Gericht zu beschwichtigen, können sie „neue Kundschaft anlocken“210 – denn das zeigt ihre Verführungskraft und dass sie imstande sind, andere anzuziehen. Ihren ­Kontakt zur Wirklichkeit bestimmt allerdings nicht nur die paradoxe Verbindung von Selbstunterwerfung und Macht- und Einflussphantasien, sondern auch ihre besondere Behutsamkeit: Nur keine Aufmerksamkeit erregen! Sich ruhig verhalten, selbst wenn es einem noch so sehr gegen den Sinn geht! Einzusehen versuchen, daß dieser große Gerichtsorganismus gewissermaßen ewig in der Schwebe bleibt […].211

Die Advokaten wie die Angeklagten sollen, so der Ratschlag Hulds, unbemerkt und voller Ruhe handeln. Das erinnert an die furchtsame Verehrung einer übergeordneten Gewalt, beispielsweise der Materie in der alchemistischen Lehre. Nur durch ein solches Verhalten kann man das Gericht, die unbestimmte gefürchtete und allmächtige Kraft,

206 Ebd., 125. 207 Ebd. 208 Reiner Stachs Kommentar dieser Szene: „Das ist reiner Slapstick, und wenn in einem jener zahllosen Klamaukfilme, an denen sich Kafka schon seit Jahren erheiterte, eines glücklichen Tages diese Szene entdeckt werden wird, so sollte es niemanden überraschen. Sein Lachen ist das des Kino­ gängers.“ Reiner Stach, Kafka: Die Jahre der Entscheidung, Frankfurt a. M. 2010, 555. 209 Franz Kafka, Der Proceß, 127. 210 Ebd., 122. 211 Ebd., 126.



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besänftigen und den unvermeidlichen Schuldspruch suspendieren. Die Folge ist ein ewiges Warten, was wiederum ein bekanntes Motiv in der Rhetorik der Alchemie und der Liebe ist.

2.3.3 Verführung, Erkenntnis und Einbildungskraft Sowohl Josef K. im Proceß als auch Friedrich in Pornographie und der Vater in Der Komet sehen sich einer Wirklichkeit gegenüber, die ihnen unbegreiflich und allgewaltig vorkommt. Sie sind ihr einerseits passiv ausgesetzt und unterworfen, andererseits versuchen sie die Außenwelt zu beeinflussen, häufig kraft der magisch-performativen Funktion der Sprache. Dieses besondere Verhältnis scheint ein epistemologisches ­Potenzial zu haben, das ich mithilfe des psychoanalytischen Ansatzes von Jean ­Laplanche genauer zu beschreiben versuche. In seiner „allgemeinen Verführungs­ theorie“ (fr. théorie de la séduction généralisée) widmet er sich „der anthropologischen Grundsituation“,212 in der das Neugeborene mit der unverständlichen Welt der Erwachsenen konfrontiert wird. In diesem Zusammenhang führt er den Begriff „Urverführung“ (fr. séduction originaire) ein: Mit dem Ausdruck „Urverführung“ bezeichnen wir also jene grundlegende und grundsätzliche Situation, in der der Erwachsene an das Kind sowohl verbale als auch nicht-verbale Signifikanten heranträgt, oder sogar solche, die sich in seinem Verhalten anbieten – Signifikanten, die von unbewussten, sexuellen Bedeutungen durchsetzt sind.213

Diese sprachlichen und außersprachlichen Zeichen, die das Kleinkind vom Außen bekommt und hinter denen sich sexuelle Bedeutungen verbergen, bezeichnet Laplanche als „rätselhafte Botschaften“. Sie sind für das Kind unverständlich wie ein irritierendes Rätsel und daher auch verführerisch, denn sie locken durch das Versprechen, das Rätsel zu lösen, und erregen so mehr Interesse und Aufmerksamkeit als Angst. Das Rätsel und die Verführung sind aus der Sicht von Laplanche unzertrennbar, ja sogar gleichzusetzen: „Das Rätsel, jenes, dessen treibende Kraft unbewusst ist, ist in sich Verführung.“214 Auch Sigmund Freud befasste sich mit der Urverführung, gab die Arbeit an seiner „eingeschränkten Verführungstheorie“ aber 1897 auf. Laplanche knüpft an Freuds ­Entwürfe an. In dem Aufsatz Von einer eingeschränkten zur allgemeinen Verführungs­

212 Jean Laplanche, „Die rätselhaften Botschaften des Anderen und ihre Konsequenzen für den Begriff des ‚Unbewussten‘ im Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie“, übers. v. Udo Hock, in Psyche Nr. 58/2004, 901. 213 Jean Laplanche, „Von der eingeschränkten zur allgemeinen Verführungstheorie“, in ders., Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze, übers. v. Gunter Gorhan, Tübingen 1988, 223. 214 Ebd., 225.

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theorie aus den 1970er Jahren – also aus einer Zeit, in der die Kategorie der Verführung in den Geisteswissenschaften wiederbelebt wurde – erweitert Laplanche Freuds Deutung dieser Situation. Während für Freud der Säugling schlechthin „der Äußerung, dem Einbruch der erwachsenen Sexualität ausgesetzt“ ist,215 sieht Laplanche das Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind viel komplexer: Die Konfrontation zwischen dem Kind und dem Erwachsenen enthält eine grundsätzliche Beziehung zwischen Aktivität und Passivität, eine Beziehung, die an die unvermeidbare Tatsache gebunden ist, dass die elterliche Psyche „reicher“ ist als jene des Kindes. Aber, im Unterschied zu den Cartesianern, sprechen wir nicht von einer größeren „Vollkommenheit“, denn dieser Reichtum kann genauso gut als Gebrechen gelten: sein Abgespaltet-sein vom Unbewussten.216

Laplanche setzt zwei neue Akzente. Erstens sind die Erwachsenen in seiner Sichtweise dem Kind nur scheinbar überlegen, denn die Bedeutung der Zeichen, die sie geben, ist ihnen unbewusst – die Botschaften sind auch für sie verführerisch. Beide Seiten, sowohl die Erwachsenen als Sender der Botschaften, als auch das Kind als deren Empfänger, stehen vor derselben unlösbaren Rätselhaftigkeit.217 Zweitens kann man die Haltung des Kindes nicht auf ein Ausgeliefertsein reduzieren. Sie schwingt vielmehr zwischen Passivität und Aktivität, denn das Kind versucht die Botschaften zu über­ setzen – für Laplanche ist der Mensch nämlich von Geburt an „ein sich selbst übersetzendes, sich selbst theoretisierendes Wesen“.218 Die Übersetzung ist allerdings eine schwierige Aufgabe, die unausweichlich misslingen muss. Sie lässt Reste zurück, die verdrängt werden, was zur Entstehung des individuellen Unbewussten beiträgt. Darauf geht Laplanche in einem anderen Artikel detaillierter ein: [Das Infans] muss neue Codes zu Hilfe nehmen. Allerdings erfindet es diese nicht aus dem Nichts. Ihm stehen schon sehr früh durch seine allgemeine kulturelle (und nicht nur familiäre) Umgebung Codes oder vorgefertigte narrative Schemata zur Verfügung. Man könnte hier von einer regelrechten „Übersetzungshilfe“ sprechen, die ihm von der umgebenden Kultur dargeboten wird.219

215 Ebd., 200. Vgl. auch ebd., 209. 216 Ebd., 223 f. 217 Jean Laplanche, „Die rätselhaften Botschaften des Anderen und ihre Konsequenzen für den Begriff des ‚Unbewussten‘ im Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie“, 901. Ausschlaggebend ist der folgende Satz: „Diese Botschaften sind folglich rätselhaft, sowohl für den Sender, den Erwachsenen, als auch für den Empfänger, das Infans.“ 218 Jean Laplanche, „Von der eingeschränkten zur allgemeinen Verführungstheorie“, 228. 219 Jean Laplanche, „Die rätselhaften Botschaften des Anderen und ihre Konsequenzen für den Begriff des ‚Unbewussten‘ im Rahmen der Allgemeinen Verführungstheorie“, 908. Der Autor weist in einer Fußnote darauf hin, dass die Idee der Übersetzungshilfe von Francis Martens vorgeschlagen und entwickelt wurde.



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Das Kind schöpft beim Übersetzen aus dem kulturellen Universum sowie aus der Sphäre des Mytho-Symbolischen. Die Codes helfen ihm, das Unverständliche und Unbekannte zu überwinden. Ebenso in den Werken von Schulz, Gombrowicz und Kafka sind die Beziehungen der Protagonisten zur Wirklichkeit nur scheinbar asymmetrisch. Die Welt kommt zwar auch ihnen unverständlich, rätselhaft und verführerisch vor, sie sind ihr aber nicht nur passiv ausgeliefert. Sie versuchen die eigenen Aktivitäten zu entfalten und vor allem kraft ihrer Sprechakte eine gewisse Wirksamkeit zu erzielen. Außerdem lässt sich in diesen Texten etwas beobachten, das man mit Laplanche als Übersetzungs­ arbeit bezeichnen könnte: Die Relation des Subjekts zur Außenwelt wird nämlich mithilfe von kulturellen, mytho-symbolischen Codes dargestellt – das Rätselhafte wird sozusagen in die Sprache der Alchemie und der Liebe übersetzt. Zum Schluss möchte ich diesen Gedanken weiterführen und auf die Interpretation der Verführungstheorie von Slavoj Žižek eingehen, der in seiner Abhandlung ­Parallaxe (2006) die Ansichten von Laplanche kommentiert: In seiner ausführlichen Darstellung der Ausweglosigkeiten des Freudschen Themas der Verführung wiederholt Jean Laplanche im Grunde exakt die Struktur der Kantischen Antinomie. Auf der einen Seite steht der brutale empirische Realismus der Verführung durch einen Elternteil: Die eigentliche Ursache späterer Traumata und Pathologien ist die tatsächliche Verführung und sexuelle Belästigung von Kindern durch Erwachsene; auf der anderen Seite steht die berühmtberüchtigte Reduzierung der Verführungsszene auf die Phantasie des Patienten. Die eigentliche Ironie, bemerkt Laplanche, liegt darin, dass das Abtun der Verführung als Phantasie heute als die „realistische“ Haltung gilt, während diejenigen, die auf der Realität der Verführung bestehen, am Ende alle möglichen Arten des Missbrauchs, bis hin zu satanischen Riten und Übergriffen durch Außerirdische verflechten … Die Lösung, die Laplanche anbietet, ist im präzisen Sinne transzendental: Die „Verführung“ kann nicht einfach auf die Phantasie des Subjekts reduziert werden, sie muss sich auf eine traumatische Begegnung mit der „rätselhaften Botschaft“ des anderen beziehen und das Unbewusste des anderen bezeugen; und ebensowenig lässt sie sich auf ein Ereignis in der Realität der tatsächlichen Interaktion zwischen Kind und Elternteil reduzieren. Verführung ist vielmehr eine Art transzendentale Struktur, die minimale apriorische formale Konstellation des Kindes gegenüber den undurchdringlichen Akten des Anderen, die das Unbewusste des Anderen bezeugen – und dabei geht es nie um einfache „Tatsachen“, sondern stets um solche, die im Raum der Unbestimmtheit zwischen „zu früh“ und „zu spät“ angesiedelt sind: Das Kind ist ursprünglich hilflos, es wird in die Welt geworfen, ohne selbst für sich sorgen zu können, d. h., seine Überlebensfähigkeiten entwickeln sich zu spät; gleichzeitig kommt die Begegnung mit dem sexualisierten Anderen strukturnotwendig immer „zu früh“, als unerwarteter Schock, der nie richtig symbolisiert und in das Bedeutungsuniversum übersetzt werden kann. Die Wirklichkeit der Verführung ist folglich, gleich der der transzendentalen Unbekannten x bei Kant, ein strukturell notwendiger transzendentaler Schein.220

220 Slavoj Žižek, Parallaxe, übers. v. Frank Born, Frankfurt a. M. 2006, 23 f.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

Für Žižek hat der Begriff der Verführung in der Theorie von Laplanche eine transzendentale, das heißt apriorische, von der Erfahrung unabhängige Struktur, die er mit der Einbildungskraft bei Kant vergleicht. Über die Einbildungskraft schrieb der Königsberger Philosoph vor allem in der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787), später auch in der Kritik der Urteilskraft (1790). Sie ist für ihn eine Grundvoraussetzung für die Erkenntnis, ein unentbehrliches menschliches Vermögen, das vor der Erfahrung auftritt und zwischen den Sinnen und dem Intellekt vermittelt und die abstrakten Begriffe ästhetisch erweitern kann.221 Ein einfaches Beispiel: Die Einbildungskraft hilft uns Kant zufolge dabei, dass wir ein konkretes Glas Wasser erfahren und darüber urteilen können, denn sie versammelt unsere einzelnen Eindrücke – etwas Flüssiges, warm oder kalt, still oder mit Sprudel etc. – in eine Ganzheit und lässt uns diese als Wasser kategorisieren. Allein die Kenntnis des Wortes oder der Definition von Wasser würde uns hingegen nicht viel nützen, wenn wir sie dem erwähnten Glas nicht zuordnen könnten. Indem die Einbildungskraft eine Brücke zwischen gedachten Inhalten und sinnlichen Wahrnehmungen, also zwischen dem aktiven Prozess des Denkens und den passiven Vorstellungen schlägt, verbindet sie laut Kants Auffassung die beiden sonst getrennten Stämme der menschlichen Erkenntnis – den Verstand und die Sinnlichkeit – und kann sogar, wie es später Heidegger in seiner berühmten Kant-Interpretation ausdrückte, als „Quelle“ dieser beiden Erkenntnisbereiche angesehen werden.222 Im Zitat bemerkt Žižek, dass die Verführung bei Laplanche nach demselben ­Muster wie die Einbildungskraft bei Kant funktioniert. Sie vereint nämlich ebenso die klassischen Oppositionen Aktivität und Passivität oder Spontaneität und Rezeptivität in sich, d. h. die passive Wahrnehmung der „rätselhaften Botschaften“ sowie deren aktive Übersetzung. Deshalb sieht Žižek gerade in der Verführung die Voraussetzung für Erkenntnis. Die Verführung ermöglicht uns, dass wir die für uns unverständlichen und rätselhaften Phänomene nicht einfach ignorieren, sondern dass wir uns von ihnen angezogen fühlen, uns mit ihnen beschäftigen und versuchen, über sie zu kommu­ nizieren, sie in unsere eigene Sprache zu übersetzen, über sie zu urteilen. Die Ver­ führung ist es, die den Menschen im Zustand ewigen Strebens nach der Erkenntnis erhält. Insofern erweist sich die Verführung als eine epistemologische Grundrelation, die den Kontakt des Menschen zur Welt bestimmt und der Erkenntnis vorausgeht.

221 Zur Verdeutlichung ein Zitat aus der Kritik der Urteilskraft: „Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert; so ist die Einbildungskraft hierbei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann.“ Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Stuttgart 1986, 247. Vgl. auch Paragraph 8 „Allgemeine Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik“ in Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M. 1977, 85–89. 222 Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1991, 151–161.



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Diese ­hingegen bleibt ein unerreichbares und ewig suspendiertes Ziel der verführe­ rischen Spannung. Mit der Kategorie der Verführung werten Laplanche und Žižek Kants Begriff der Einbildungskraft auf, die dem Verstand entkommt, jedoch untrennbar zum Prozess der Erkenntnis gehört. Der Intellekt ist ohne sie hilflos, kann die Phänomene zwar abstrakt erfassen, aber nicht erfahren. Dazu Kant im Original: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“223 Die Einführung des Begriffs der Verführung in die Psychoanalyse und Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man als einen Versuch interpretieren, über die Sackgassen des Rationalismus der abendländischen Kultur hinauszugehen und Erkenntnis als Verstehen umzudeuten. Erkenntnis wird nicht mehr als ein mit dem Verstand verbundener Prozess betrachtet, sondern als Denken – als eine Aktivität, die unendlich ist, die nicht hierarchisch oder linear, sondern zirkulär verläuft und nicht unbedingt auf ein Ergebnis abzielt. Für die Epistemologie oder philosophische Anthropologie bedeutet dies eine Redefinition des Subjektverständnisses: Das Ich, das nicht erkennt, sondern denkt, ist instabil, unsicher und inkohärent, kann seine Relation zum Anderen nicht bestimmen, konstituiert sich im Spannungsverhältnis zwischen den Kräften des Anziehens und Abstoßens. Gleichzeitig verbreitet es sich in der Außenwelt. Die Welt ist nicht mehr das zu erkennende Objekt, sondern sie wird vom denkenden Subjekt mitgeschaffen, trägt dessen Spuren, teilt dessen Eigenschaften. Man kann also von einer Verschiebung des Verhältnisses des Menschen zum Objekt zum Verhältnis des Menschen im Objekt sprechen, das ihn deshalb verführt, weil es zu seinem Bestandteil wird. Die auf diese Weise verstandene Verführung, die im 20. Jahrhundert gleichermaßen von der Psychoanalyse wie von der Literatur entdeckt und ­untersucht wird, beginnt den offenen Begriff der Einbildungskraft auszufüllen.

2.4 Mittel der Verführung: Sprache und Schrift Oben habe ich das hermetische Denken als wichtiges Bezugsfeld der analysierten Werke untersucht, vor allem die Anspielungen auf das Bilderrepertoire der Alchemie in ihrer modernen Interpretation als Metonymie und Austragungsfeld der literarischen Reflexion über alternative Wissensmodelle. Das verweist auf ein weiteres Thema, das für die Prosa der Moderne von zentraler Bedeutung ist: Umberto Eco zufolge trans­ formiert die Hermetik „das ganze Welttheater in ein Sprachphänomen und leugnet zugleich die Mitteilungskraft der Sprache“.224 Diese Feststellung trifft das Sprachverständnis der hier ausgewählten Autoren, die zum einen durch Sprachexperimente und Momente poetischer Verdichtung in ihren Werken die Selbstbezogenheit der Sprache

223 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 97. 224 Umberto Eco, „Interpretation und Geschichte“, in ders., Zwischen Autor und Text, 39.

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betonen und zum anderen Kritik und Misstrauen gegenüber dem Medium Sprache thematisieren. Im folgenden Unterkapitel werde ich der Frage nachgehen, welche Sprachkonzeptionen aus einer solchen Haltung resultieren und welche Rolle bei ihrer Formulierung die Verführung spielt. Als besondere Form der Kommunikation ist sie mit Themenkomplexen wie Unaussprechlichkeit, Rhetorizität und Performativität der Sprache eng verbunden. Zunächst analysiere ich die Verführungsszenen in Musils Erzählungen, in denen seine Sprachkritik und -spekulation kulminieren. Im Zentrum des Interesses stehen die Motive des Rauschens und Verstummens bei Musil sowie in Texten von Broch und Schulz. Im zweiten Teil werden diese Phänomene mithilfe verschiedener theoretischer Ansätze interpretiert, in denen die Kategorie der Verführung von besonderer Bedeutung ist. Der letzte Teil beschäftigt sich mit der Schrift als materieller ­Erscheinung der Sprache in Schulz’ Erzählung Der Komet.

2.4.1 Sprachkritik und neue Sprachkonzepte In Musils Vereinigungen werden Claudine und Veronika von Männern angesprochen, die sie verführen wollen. Die Verführung vollzieht sich hier aber nicht mittels der Sprache. Die Verführungsszenen sind stattdessen mit sprachkritischen Reflexionen verbunden, was allerdings keineswegs als Abkehr von der Sprache schlechthin zu verstehen ist.225 Musil entwickelt hier vielmehr komplexe Sprach- und Literaturkonzeptionen. In der Vollendung der Liebe ist ein Ministerialrat Claudines Verführer. Darüber, wie er genau aussieht und inwieweit Claudine ihn attraktiv findet, erfährt man nichts. Stattdessen beschreibt Musil sein beharrliches Werben: Sie hörte ihn sagen: „Ich habe mich damit abgefunden, daß Sie mich zurückweisen, aber nie wird Sie ein Mensch so selbstlos verehren wie ich.“ Claudine antwortete nicht. Seine Worte kamen langsam, nachdrücklich; sie fühlte, wie es sein müßte, wenn sie wirken würden. Dann sagte sie: „Wissen Sie, daß wir wirklich eingeschneit sind?“ Es erschien ihr alles so, wie wenn sie es schon einmal erlebt hätte; ihre Worte schienen in den Spuren von Worten steckenzubleiben, die sie früher einmal gesprochen haben mußte. […] Nach einer Weile sagte der Ministerialrat plötzlich: „Ich fühle, daß etwas in Ihnen zögert. Ich kenne dieses Zögern. Jede Frau steht einmal in ihrem Leben davor. Sie schätzen Ihren Mann und wollen ihm gewiß nicht weh tun und verschließen sich darum. Aber eigentlich müssten Sie sich wenigstens für Augenblicke davon freimachen und auch den großen Sturm erleben.“ Wiederum schwieg Claudine. Sie fühlte, wie

225 Auch Filippo Smerilli unterstreicht in seiner Monographie, dass Musils Sprachkritik in Verei­ nigungen ein komplexes Thema ist und „keineswegs […] mit der völligen Abkehr von Sprache, mit Sprachlosigkeit und Verstummen“ gleichgesetzt werden kann. In seiner Analyse beleuchtet er, wie die Protagonistinnen zu kommunizieren versuchen. Filippo Smerilli, Moderne – Sprache – Körper: Analysen zum Verhältnis von Körpererfahrung und Sprachkritik in erzählenden Texten Robert Musils, Göttingen 2009, 119.



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er ihr Schweigen mißdeuten mußte, aber es tat ihr eigenartig wohl. Daß es etwas in ihr gab, das sich nicht in Handlungen ausdrücken ließ und von Handlungen nichts erleiden konnte, das sich nicht verteidigen konnte, weil es unter dem Bereich der Worte lag, das um verstanden zu werden geliebt werden mußte, wie es sich selbst liebte, etwas das sie nur mit ihrem Mann gemeinsam hatte, empfand sie stärker bei diesem Schweigen; so war es eine innere Vereinigung, während sie die Oberfläche ihres Wesens diesem Fremden überließ, der sie verunstaltete. (V 51 f.)

Die Worte des Ministerialrats haben keine Wirkung, auch ihrer eigenen Sprache kann Claudine nicht vertrauen, sie kommt ihr abgenutzt vor und bleibt ihr im Halse stecken. Ihr Schweigen unterstreicht das Versagen der Sprache, die nicht mehr fähig ist, die Welt wiederzugeben und zwischen den Menschen zu vermitteln. Claudines Wesen bleibt in einer Sphäre des Unsagbaren, befindet sich „unter dem Bereich der Worte“. Während Claudine an der Überzeugungskraft der Sprache zweifelt, setzt ihr aufdringlicher Verführer sein Gerede fort: Der Ministerialrat sagte noch: „Es ist Schicksal, es gibt Männer, deren Schicksal das Bringen der Unruhe ist, man soll sich ihr öffnen, es schützt nichts davor …“ Aber sie hörte es kaum. Ihre Gedanken gingen indessen in sonderbaren, fernen Gegensätzen. Sie wollte mit einem Satz, mit einer großen, unbedachten Gebärde sich frei machen und dem Geliebten zu Füßen stürzen; sie fühlte, daß sie es noch gekonnt hätte. Aber etwas zwang sie, vor dem Schreienden, Gewaltsamen daran einzuhalten; vor diesem Strom sein zu müssen, um nicht zu versickern, sein Leben an sich zu pressen, um es nicht zu verlieren, selbst nur zu singen, um nicht plötzlich ratlos zu verstummen. Sie wollte es nicht. Etwas Zögerndes, nachdenklich Gesprochenes schwebte ihr vor. Nicht schreien wie alle, um die Stille nicht zu spüren. Auch nicht Gesang. Nur ein Flüstern, ein Stillwerden, … Nichts, Leere … (V 59 f.)

Claudine hört kaum zu; sie denkt an Alternativen zur Sprache und an nonverbale Ausdrucksmöglichkeiten wie Gebärden, Gewalt oder Stille, die sie vom Zwang zur Fest­ legung und Bedeutung befreien. Sie konzentriert sich nicht auf den Sinngehalt der Aussagen, sondern auf die akustischen Empfindungen und Emotionen, die im Schrei und Gesang oder beim Flüstern ein Ventil finden. Hinter Musils Sprachkritik verbergen sich Spuren von dem Mythos der Unmittelbarkeit und eine Vorstellung von einem „inneren Wesen“, das sich außerhalb der Sprache – durch Körpergesten, den Klang und Tonfall der Stimme oder das Verstummen – ausdrückt. Erst zum Schluss der Erzählung beginnt Claudine, zu sprechen und sogar längere Sätze zu artikulieren. In der Kulminationsszene, in der sie den Bemühungen des Verführers nachgibt, kommt es zu einer Art Dialog zwischen den beiden: Der Ministerialrat sagte dann, als er bei ihr im Zimmer saß, beiläufig dies: „Nicht wahr du liebst mich? Ich bin zwar kein Künstler oder Philosoph aber ein ganzer Mensch, ich glaube, ein ganzer Mensch.“ Und sie antwortete: „Was ist das, ein ganzer Mensch?“ „Sonderbar fragst du,“ ereiferte sich der Ministerialrat, aber sie sagte: „Nicht so, ich meine, wie sonderbar, daß man einen gern hat, eben weil man ihn gern hat, seine Augen, seine Zunge, nicht die Worte sondern den Klang …“ Da küßte sie der Ministerialrat: „So also liebst du mich?“ Und Claudine fand noch die Kraft zu entgegnen: „Nein, ich liebe, daß ich bei Ihnen bin, die Tatsache, den Zufall, daß ich bei

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Ihnen bin. Man könnte bei den Eskimos sitzen. In Hosen aus Fell. Und hängende Brüste haben. Und das schön finden. Gäbe es denn nicht auch andere ganze Menschen?“ Aber der Ministerialrat sagte: „Du irrst dich. Du liebst mich. Du kannst dir bloß noch nicht Rechenschaft darüber geben und gerade das ist das Zeichen der wahren Leidenschaft.“ Unwillkürlich, wie sie ihn so sich über sie breiten fühlte, zögerte etwas in ihr. Aber er bat sie: „Oh, schweig.“ Und Claudine schwieg; nur noch einmal sprach sie; während sie sich entkleideten; sie begann zwecklos zu reden, unpassend, vielleicht wertlos, bloß wie ein schmerzliches Überetwashinstreicheln war es: „… es ist wie wenn man durch einen schmalen Paß tritt; Tiere, Menschen, Blumen, alles verändert; man selbst ganz anders. Man fragt, wenn ich hier von Anbeginn gelebt hätte, wie würde ich über dies denken, wie jenes fühlen? Es ist sonderbar, daß es nur eine Linie ist, die man zu überschreiten braucht. Ich möchte Sie küssen und dann rasch wieder zurückspringen und sehen; und dann wieder zu Ihnen. Und jedes Mal beim Überschreiten dieser Grenze müßte ich es genauer fühlen. Ich würde immer bleicher werden; die Menschen würden sterben, nein, einschrumpfen; und die Bäume und die Tiere. Und endlich wäre alles nur ein ganz dünner Rauch … und dann nur eine Melodie … durch die Luft ziehend … über einer Leere …“ Und noch einmal sprach sie: „Bitte, gehn Sie weg,“ sprach sie, „mir ekelt.“ Aber er lächelte nur. Da sagte sie: „Bitte, geh weg.“ Und er seufzte befriedigt: „Endlich, endlich, du liebe, kleine Träumerin, sagst du: Du!“ (V 72–74)

Wieder wird die Aporie zwischenmenschlicher Verständigung thematisiert. Die Figuren reden aneinander vorbei und bemühen sich überhaupt nicht, sich zu verständigen, was der Szene einen fast komischen Effekt verleiht. Claudine befindet sich in einer traumähnlichen Stimmung zwischen Bewusstheit und Unbewusstheit und lässt sich von den sinnlichen Reizen der Außenwelt leiten. Das Gerede des Ministerialrats ist ihr gleichgültig. Noch bevor sie seinem Willen unterliegt, spricht sie davon, dass man am Menschen „nicht die Worte sondern den Klang“ gern mag. Sie zieht die akustischen Eindrücke dem Inhalt vor, ein weiteres Mal wiederholt sich das Motiv des Primats der Sensualität vor dem Sinn. Musil führt hier zwei Arten des Sprechens vor, aus denen man seine Sprach­ konzeption erschließen kann. Der Ministerialrat steht für Geschwätzigkeit. Sein ­Geplapper übertönt „das Wesentliche“, das sich nur im Schweigen andeutet. Mit ­diesem Gedanken steht Musil in einer langen Denktradition, die Kritik an überflüssiger Sprache übt und die Existenz von etwas Unaussprechbarem voraussetzt – man denke nur an Kierkegaards Postulat „O, schaffet Schweigen!“226, an Wittgensteins

226 Der bekannte Satz beendet den folgenden Gedanken: „Der Mensch, dieser gewitzigte Kopf, sinnt fast Tag und Nacht darüber nach, wie er zur Verstärkung des Lärms immer neue Mittel erfinden und mit größtmöglicher Hast das Geräusch und das leere Gerede möglichst überallhin verbreiten kann. Ja, was man auf solche Weise erreicht, ist wohl bald das Umgekehrte: die Mitteilung ist an Bedeutungsfülle wohl bald auf den niedrigsten Stand gebracht, und gleichzeitig haben umgekehrt die Mittel der Mitteilung in Richtung auf eilige und alles überflutende Ausbreitung wohl das Höchstmaß erreicht, denn was wird wohl hastiger in Umlauf gebracht als das Geschwätz?! Und anderseits – was findet willigere Aufnahme als das Geschwätz?! – O, schaffet Schweigen!“ Søren Kierkegaard, Die Leidenschaft des Religiösen, übers. v. Heinz Küpper, Stuttgart 1968, 158 f.

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e­ nigmatischen Aphorismus „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“227 oder an Heideggers Konzeption vom Gerede als „Modus der Un­eigent­ lichkeit“228. Claudine hingegen repräsentiert den assoziativen Schwall von Worten. Ihr ungezügeltes Vor-sich-hin-Reden ist kein störender Lärm, sondern eine beinahe kakophone Wortfolge, in der sich ihr „inneres Wesen“ bruchstückhaft mitteilen kann. Damit knüpft Musil an ein mystisch-frühromantisches Sprachverständnis an, das im 20. Jahrhundert unter anderem von Walter Benjamin besonders intensiv rezipiert wurde. Dieser Auffassung zufolge ist Sprache – wie Benjamin es formuliert – „[j]ede Äußerung menschlichen Geisteslebens“, so wie es z. B. die Sprache der Musik, Plastik, Justiz oder Technik gibt.229 Auch Musils Claudine hat solch ein weites Verständnis von der Sprache, die für sie Gebärden oder Stille umfasst. In Benjamins Sprachkonzeption ist zudem ausschlaggebend, dass sich das kryptische „geistige Wesen“ nicht „durch die Sprache“, sondern „in der Sprache“ mitteilt.230 Nicht nur der Sinngehalt der Worte macht demnach den Mitteilungswert einer Aussage aus, sondern auch die Sprechweise, die weitergehende Bedeutungen transportieren kann. Bei Claudines „Über­ etwashinstreicheln“ kommt es nicht auf den Sinn ihrer Worte an, sondern hier zeigt sich vielmehr ihre Sinnlichkeit, ihr Unbewusstes. Die Verführungsszene in Die Versuchung der stillen Veronika weist gewisse Ähnlichkeiten mit der Geschichte über Claudine auf. Es handelt sich wieder um ein Dreiecksverhältnis: Veronika erzählt ihrem Partner Johannes von ihren Begegnungen mit einem Mann namens Demeter, der im selben Haus wie das Paar wohnt und eine starke Anziehungskraft auf Veronika ausübt. Seine Verführungskunst hat allerdings nichts mit floskelhafter Rhetorik zu tun, er ist eher wortkarg und symbolisiert das anima­ lische Begehren. Veronika berichtet von einem Gespräch mit ihm: Und Demeter sagte: „Es ist nicht meine Art, Worte zu machen, das trifft Johannes besser, aber ich versichere dir, es ist manchmal etwas sinnlos Aufgerichtetes in mir, ein Schwanken wie von einem Baum, ein fürchterlicher, ganz unmenschlicher Laut, wie eine Kinderrassel, eine Osterquarre, … ich brauche mich bloß zu beugen, so komme ich mir wie ein Tier vor, … ich möchte manchmal mein Gesicht bemalen …“ Da kam mir vor, als wäre unser Haus eine Welt, in der wir allein sind, eine trübe Welt, in der alles verkrümmt und seltsam wird wie unter Wasser, und es erschien mir beinahe natürlich, daß ich Demeters Wunsch nachgeben sollte. Er sagte: „Es bleibt unter uns und existiert kaum wirklich, da es niemand weiß, es hat keine Beziehungen zur wirklichen Welt, um hinausgelangen zu können …“ Du darfst nicht glauben, Johannes, daß ich irgend etwas für ihn fühlte. Er tat sich bloß vor mir auf wie ein großer mit Zähnen bewehrter Mund, der mich verschlingen konnte, als Mann blieb er mir so fremd wie alle, aber es war ein Hineinströmen in ihn, was ich mir plötzlich

227 Ludwig Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus“, in ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1988, 85. 228 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2006, 165–170. 229 Walter Benjamin, „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in Gesammelte Schriften, Bd. II.2, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, 140. 230 Ebd., 142.

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vorstellte und zwischen den Lippen in Tropfen wieder Zurückfallen, ein Hineingeschlucktwerden wie von einem trinkenden Tier, so teilnahmslos und stumpf … Man möchte manchmal Geschehnisse erleben, wenn man sie bloß als Handlungen tun könnte und mit niemandem und mit nichts. Aber da fielst du mir ein, und ich wußte nichts Bestimmtes, aber ich wies Demeter zurück. (V 86 f.)

Demeters verführerischer Zauber besteht nicht in schmeichelhafter Anrede. Veronika fühlt sich vielmehr durch sein schweigsames und geheimnisvolles Erscheinen, seine Triebhaftigkeit, Sinnlichkeit und Wildheit instinktiv angezogen. Er stellt sich selbst als ein Tier vor, möchte einen „fürchterlichen, ganz unmenschlichen Laut“ hervorbringen und sein Gesicht bemalen, wie in Naturvölkern bei Ritualen oder vor Kämpfen. Die Sprache wird hier einer angeblichen Natürlichkeit entgegengesetzt. Demeter bedient sich keiner ausgesuchten Sätze, sondern außersprachlicher Ausdrucksmittel wie der Gewalt: „In solch einem Augenblick packte Demeter meinen Kopf und drückte ihn gegen die Brust hinab, sagte nichts und drückte ihn fest nach abwärts, flüsterte Veronika; und wieder war danach dieses Schweigen“ (V 80). Die Problematik dieser Verführung lässt sich nicht nur auf den animalischen ­Magnetismus von Demeter reduzieren, den Veronika letztlich zurückweist. Der Text wimmelt von Anspielungen auf Versuchungen von christlichen Heiligen und auf ­andere literarische Werke, die diese Thematik behandeln.231 In der Erzählung deutet sich aber auch eine komplexe Sprachkonzeption an, zu der ich hier die wichtigsten Forschungen vorstellen möchte. In vielen Studien betont man die symbolischen Namen in der Erzählung. Sofort fällt es auf, dass der Name Demeter – der Name der Göttin des Ackerbaus in der altgriechischen Mythologie –, den der Verführer trägt, seine phallische Aggressivität konterkariert und Assoziationen mit Vitalität und Fruchtbarkeit erweckt. Aber das ist noch nicht alles. Monika Schmitz-Emans weist in einem ihrer Artikel auf Veronikas Partner Johannes hin, der Priester werden wollte und nicht zufällig den Namen des jüngsten Evangelisten trägt. Diese Verbindung veranlasst sie, über „die mystische Sprache“ und die Vorstellung vom Wort als Ursprung jeglichen Seins im Kontext der Sprachauf­ fassung bei Musil zu reflektieren.232 Hartmut Böhme hingegen fokussiert in seinem schon genannten Nachwort zu Vereinigungen auf Veronika und erinnert an die Geschichte vom Sudarium Christi. Veronika trägt nämlich den Namen der legendären Frau, „die auf wunderbare Weise in ihrem Tuch den Abdruck des Gesichts Christi während seiner Passion empfing.“233 Böhme bemerkt, dass dieses Tuch im Vatikan als ­Bildreliquie – als wahres Bild, vera ikon, aufbewahrt wird, was ein Anagramm des

231 Nicole Masanek z. B. untersucht Musils Anspielungen auf Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius (1874). Nicole Masanek, Männliches und weibliches Schreiben?, 193. 232 Monika Schmitz-Emans, „Das Doppelleben der Wörter. Zur Sprachreflexion in Robert Musils ­Vereinigungen“, in Hans-Georg Pott (Hg.), Robert Musil – Dichter, Essayist, Wissenschaftler, München 1993, 70–125, hier 73. 233 Hartmut Böhme, „Nachwort. Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle“, 211.



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­ amens Veronika ist.234 Daraus folgert er, dass Musils Erzählung das Thema der N Bildauthentizität vom bildlichen Zeichen auf das sprachliche übertrage. Es handele sich also um die Vision einer idealen Sprache, die das Wesen der Dinge offenbare, sowie um die Frage nach der Leistung der Literatur in diesem Prozess oder – mit Böhmes Worten – nach der „Möglichkeit der vera ikon im Medium der Sprache“.235 Musils Überlegungen zum Thema Repräsentation und sprachliche Referenzialität scheinen noch komplexer zu sein. Er reflektiert über das Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit, ist sich aber bewusst, dass diese von der Sprache bestimmt und konstruiert wird. In der Versuchung der stillen Veronika sind zwei Motive auffällig, die neue Perspektiven auf die Problematik der Sprache eröffnen. Beide kommen im folgenden Satz vor: „[E]s war etwas in ihrem Dasein, ein Verstummen, ein wieder Sinken, es verstummte etwas in ihr und sank wieder in jene murmelnde Vielstimmigkeit zurück, aus der es sich kaum herausgehoben hatte“ (V 122). Verstummen und Murmeln erscheinen hier als Phänomene, die das Verständnis von Sprache als Medium erweitern können. Um deren Bedeutung zu verstehen und Musils Sprachauffassung schärfer zu konturieren, möchte ich weitere Werke der Prosa der Moderne heranziehen, die mit den­ selben Motiven arbeiten. Auch im Roman Der Tod des Vergil (1945) von Hermann Broch über die letzten Stunden des sterbenden antiken Dichters gehören die Stille und der undeutliche Redefluss zu den wichtigsten Elementen der Sprachauffassung. Beide Aspekte kommen besonders deutlich im letzten Satz des Werkes zum Ausdruck, in dem die Erzähl­ instanz über „das reine Wort“ spekuliert: Das Brausen hielt an und es tönte auf aus der Vermengung des Lichtes mit der Finsternis, aufgewühlt sie beide von dem anhebenden Klange, denn jetzt erst begann es zu klingen, und das Klingende war, mehr als Gesang, war mehr als Leierschlag, war mehr als jeder Ton, war mehr als jede Stimme, da es alle zusammen und zugleich war, hervorbrechend aus Nichts und All, hervorbrechend als Verständigung, höher als jedes Verständnis, hervorbrechend als Bedeutung, höher als jedes Begreifen, hervorbrechend als das reine Wort, das es war, erhaben über alle Verständigung und Bedeutung, endgültig, und beginnend, gewaltig und befehlend, furchteinflößend und beschützend, hold und donnernd, das Wort der Unterscheidung, das Wort des Eides, das reine Wort, so brauste es daher, brauste über ihn hinweg, schwoll an und wurde stärker und stärker, wurde so übermächtig, dass nichts mehr davor bestehen sollte, vergehend das All vor dem Worte, aufgelöst und aufgehoben im Worte, dennoch im Worte enthalten und aufbewahrt,

234 Zum Thema vera ikon in Musils Erzählung vgl. auch Gerhard Meisel, Liebe im Zeitalter der Wis­ senschaften vom Menschen, 53–61. Und Jürgen Gunia, Die Sphäre des Ästhetischen bei Robert Musil: Untersuchungen zum Werk am Leitfaden der „Membran“, Würzburg 2000, 141 f. 235 Hartmut Böhme, „Nachwort. Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle“, 212. Für Böhme ist Musils Sprachauffassung mit einer theologischen Tradition der Sprachbegründung verwandt, deren Echo sich u. a. noch in den Schriften von Johann Georg Hamann und Walter Benjamin finden lässt. Sie basiert auf einer Vorstellung von der adamitischen Sprache, „die ursprungstheologisch sicherstellt, dass prinzipiell das Wesen der Dinge im Aussprechen ihres Namens präsent ist.“ Böhme sieht Parallelen dazu bei Musil. Ebd., 211.

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vernichtet und neuerschaffen für ewig, weil nichts verlorengegangen war, weil das Ende sich zum Anfang fügte, wiedergeboren, wiedergebärend; das Wort schwebte über dem All, schwebte über dem Nichts, schwebte jenseits von Ausdrückbarem und Nicht-Ausdrückbarem, und er, von dem Worte überbraust und von dem Brausen eingeschlossen, er schwebte mit dem Worte, indes, je mehr es ihn einhüllte, je mehr er in den flutenden Klang eindrang und von ihm durchdrungen wurde, desto unerreichbarer und größer, desto gewichtiger und entschwebender wurde das Wort, ein schwebendes Meer, ein schwebendes Feuer, meeresschwer und meeresleicht, trotzdem immer noch Wort: er konnte es nicht festhalten, und er durfte es nicht festhalten; unerfaßlich unaussprechbar war es für ihn, denn es war jenseits der Sprache.236

Vergil nimmt die Welt immer undeutlicher wahr und stellt sich eine ideale Dichtersprache vor, die das Geheimnis der Welt unverschlüsselt darlegt. „Das reine Wort“ kann man der Erzählinstanz zufolge weder erfassen noch nachvollziehen, es geht über die kognitiven Fähigkeiten des Menschen hinaus und entzieht sich Begriffen wie Verständnis, Bedeutung und Begreifen. Vielmehr ist es mit Sinnlichkeit verbunden, mit akustischen Dimensionen, dem Klang. Und anstelle kognitiver Begriffe taucht das Motiv des Unsagbaren auf mit Formulierungen wie „unerfaßlich unaussprechbar“, „jenseits von Ausdrückbarem und Nicht-Ausdrückbarem“ oder „jenseits der Sprache“. „Das reine Wort“ soll im Zustand unendlichen Schwebens bleiben, man kann und darf es nicht festlegen. Im Text steht es auch für das Ursprüngliche und Unmittelbare, daher wird es mit Naturelementen wie Feuer, Wind oder Wasser und den Verben „fluten“ und „brausen“ assoziiert. Allerdings offenbart sich „das reine Wort“ nicht nur in unverständlichem Rauschen, sondern auch in dessen Unterbrechung, mit dem der zitierte Abschnitt beginnt, in der Stille. Insofern kann man den Schluss des Romans auch als eine Anspielung auf Friedrich Hölderlins Kommentar zu Sophokles’ Tragödie Ödipus lesen; auch Hölderlin spricht dort vom reinen Wort. Damit bezeichnet er die Zäsur im Vers des antiken Dramatikers. Sie ist für Hölderlin „das reine Wort, die gegenrhythmische Unterbrechung“, in der nicht nur „der Wechsel der Vorstellung“, sondern auch „die Vorstellung selber erscheint“.237

236 Hermann Broch, Der Tod des Vergil, Kommentierte Werkausgabe Bd. 4, hg. v. Paul Michael-Lützeler, Frankfurt a. M. 1994, 453 f. 237 Friedrich Hölderlin, „Anmerkungen zum Ödipus“, in Sämtliche Werke, Bd. 5, Stuttgart 1954, 196. Am Rande sei bemerkt, dass dieser Gedanke Hölderlins den Ausgangspunkt der Studie Arresting Language von Peter Fenves bildet. Der Autor weist auf die Doppeldeutigkeit von Hölderlins Auffassung „des reinen Wortes“ hin. Es unterbreche die Sprache, halte die Kontinuität der Repräsentationen auf, strukturiere sie aber zugleich und könne auch Repräsentationen zum Erscheinen bringen. „The caesura, as pure word, does not simply mark an interruption; it carries the interruption out. Such is the decisive character of this word: although it cannot be experienced within a continuum of representations, it structures this continuum by interrupting it and dividing it into unequal parts. Language not only arrests the succession of representations, moreover; language is arrested in turn. This double-sided arrest would be altogether paradoxical if the language that arrests the succession of representation were the same language that was arrested; but it is nor – or not quite: the arresting language is the pure word, whereas the arrested language is the empirical word, which is to say, the



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Für das Brausen in der Endszene von Brochs Der Tod des Vergil sowie Claudines „Überetwashinstreicheln“ und Veronikas Murmeln bei Musil findet sich im Polnischen das Verb majaczyć, das im Deutschen keine präzise Entsprechung hat. Dieses schwer übersetzbare Wort ist der Schlüsselbegriff von Bruno Schulz’ Sprachauffassung und kommt in seinen Erzählungen häufig vor – nicht nur als Verb, sondern auch als Substantiv (majak, majaczenie) oder Adjektiv (majaczliwy). Schulz spielt mit seiner Mehrdeutigkeit und setzt es in vielen, oft ungewöhnlichen Kontexten ein. In seinem Essay Die Mythisierung der Wirklichkeit bezeichnet er mit majaczenie – das als „das kreisende Blinken“ oder „das Phantasiegebilde“ übersetzt wurde – die mythischen Ursprünge der Sprache.238 Das Wort weckt Assoziationen mit traumhaften und tranceartigen Dämmerzuständen, sein Bedeutungsfeld hat aber nicht nur eine visuelle Dimension, die mit Unschärfe (wie z. B. bei den Verben blinken, flimmern oder schimmern) oder mit trügerischen Erscheinungen (etwa in den Substantiven Phantasiegebilde, Hirngespinst oder Halluzination) verbunden ist. Vielmehr drückt es auch auditive Phänomene aus und kann sich auf die Wahrnehmung und Erzeugung von Lauten beziehen – auf eine besondere Art der Sprachproduktion. Mit majaczenie beschreibt man das Faseln, das Phantasieren im Fieber oder im Traum, das Hervorbringen einzelner Silben oder Laute ohne Zusammenhang und Sinn.239

word through which appearances are represented. The pure word, by contrast, says nothing. For this reason, it is by no means certain that the pure word is even a word – one word among others. Rather, the pure word even interrupts the process of judgment through which words are separated from, and connected to, one another. The arresting of empirically variable language by the pure word renders all accounts based on language – including the calculation one has a language – unreliable.“ Peter Fenves, Arresting Language: From Leibniz to Benjamin, Stanford 2001, 3. 238 „Pierwotne słowo było majaczeniem, krążącym dookoła sensu świat[ł]a, było wielką uniwersalną całością.“ Bruno Schulz, Opowiadania, 383. Es lohnt sich, die alte Übersetzung von Josef Hahn und die neue von Doreen Daume nebeneinander zu stellen, um die große Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten dieses Ausdrucks zu skizzieren: „Jedes ursprüngliche Wort war ein kreisendes Blinken um den Sinn des Lichtes, war ein großes universales Ganzes.“ Bruno Schulz, „Das Mythisieren der Wirklichkeit“, übers. v. Joseph Hahn, in ders., Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes, 240. „Das ursprüngliche Wort war ein Phantasiegebilde, das den Sinn der Welt umkreiste, es war ein großes universales Ganzes“ (Z 193). Auffällig ist die Diskrepanz zwischen den Ausdrücken „Sinn des Lichtes“ bzw. „Sinn der Welt“ – im Polnischen unterscheiden sich die Worte „die Welt“ und „das Licht“ im Genitiv nur durch den Buchstaben „ł“ (świata/światła). In der Erstveröffentlichung des Essays kommt zwar die Formulierung „der Sinn des Lichtes“ vor, aber die späteren Herausgeber markierten diese Stelle mit dem Kommentar, dass es sich hier höchstwahrscheinlich um einen Druckfehler handele, denn im weiteren Teil des Textes benutze Schulz konsequent den Ausdruck „der Sinn der Welt“. Dieser feine Unterschied wurde von der Forschung aufgegriffen. Vor allem die kabbalistischen SchulzInterpreten spielen auf die Doppeldeutigkeit an. Sie assoziieren das Licht – unabhängig davon, ob es sich im Text um Tippfehler oder Freud’sches Versprechen handelt – mit Zohar, dem bedeutendsten Schriftwerk der Kabbala, dem Buch des Glanzes, und legen Schulz’ Werk in Bezug auf die jüdische Mystik aus. Siehe Władysław Panas, Księga blasku, 128 f. 239 Solche Äußerungen werden in der Psychiatrie Logorrhoe oder Polyphrasie genannt.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

In der Erzählung Der Komet führt der Ich-Erzähler das vor, was majaczenie ausmacht. Bei der Beschreibung der drohenden Katastrophe stellt er selbstreflexive Überlegungen an, in denen er seine Erzählweise kommentiert und sich dabei direkt an die Leserschaft wendet. Um die lautmalerische Dimension der Textstelle zu verdeutlichen, lohnt es sich diese auch im Original zu zitieren: Proszę mi wybaczyć, jeśli opisując te sceny pełne ogromnego spiętrzenia i tumultu wpadam w przesadę, wzorując się mimo woli na pewnych starych sztychach w wielkiej księdze klęsk i katastrof rodzaju ludzkiego. Wszak zmierzają one do jednego praobrazu, i ta megalomaniczna przesada, ogromny patos tych scen wskazuje, że wybiliśmy stu dno odwiecznej beczki wspomnień, jakiejś prabeczki mitu, i włamaliśmy się w przedludzką noc pełną bełkocącego żywiołu, bulgocącej anamnezy, i nie możemy już wstrzymać wezbranego zalewu. Ach, te rybne i rojne noce, zarybione gwiazdami i lśniące od łusek, ach, te ławice pyszczków łykających ­niestrudzenie drobnymi haustami, głodnymi łykami wszystkie wezbrane, nie wypite strugi tych czarnych i ulewnych nocy! Do jakich fatalnych więcierzy, do jakich żałosnych niewodów ciągnęły te ciemne pokolenia tysiąckroć rozmnożone?240 Ich bitte um Verzeihung, wenn ich bei der Beschreibung dieser Szenen mit ihren ungeheuren Türmungen und Tumulten ins Übertreiben gekommen bin, ich habe mich dabei unwillkürlich an die alten Stiche aus dem großen Buch der Katastrophen und Desaster des Menschengeschlechts angelehnt. Freilich zielen diese auf ein Urbild hin, und die megalomanische Übertreibung, das ungeheure Pathos der Szenen zeigt es: Wir haben den Boden des ewigen Erinnerungsfasses, des mythischen Urfasses ausgeschlagen, wir sind bis zur vormenschlichen Nacht mit ihrem geschwätzigen Element, mit ihrer gluckernden Anamnesis durchgedrungen und können die schwellenden Fluten nicht mehr aufhalten. Ach, diese schwarmreichen, schuppenschillernden Nächte mit ihren ausgesetzten Jungsternen, ach, diese Scharen von Mäulern, die unermüdlich, mit hungrigen Schlucken, nach den nicht ausgetrunkenen, schwellenden, schwarzen und überschwenglichen Nachtstrahlen schnappen! In welch verhängnisvolle Reusen, in welch jammervolle Netze waren diese dunklen, tausendfach vervielfältigten Generationen geraten? (S 322)

Zu Beginn tauchen die Ausdrücke „das Urbild“ und „das mythische Urfass“ auf, aus dem die Menschen seit jeher die Inspirationen für ihre Einbildungskraft schöpfen sollen. Dieser Gedanke wird dann auf die Ebene der Sprache übertragen: Alles Sprechen strebt auf majaczenie zu – auf das „geschwätzige Element“, das die letzten Zeilen im Zitat demonstrieren. Die beiden letzten Sätze versinnbildlichen die „schwellenden Fluten“ der Sprache, die sich nicht aufhalten lassen. Das Substantiv Flut löst eine Kaskade von Vorstellungen aus, die um das Wasser und den Fisch kreisen und fließend ineinander übergehen. Es entsteht eine Reihe von wechselnden Bildern: Fischschwärme, schillernde Fischschuppen, das Aussetzen der Fischbrut, Scharen von schluckenden Fischmäulern bis hin zu Fischreusen und Netzen. Das ist nichts anderes als Onomatopöie mit klangvollem „R“ und melodischen „L / Ł“-Lautkombinationen. Die beiden Laute sind Liquida, was den dem Wasser entspringenden Bildern ent-

240 Bruno Schulz, Opowiadania, 366.



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spricht; sie entstehen durch kontinuierlich ausströmende Luft, was zusätzlich den sanft strömenden Bilderfluss betont. In der deutschen Übersetzung wird das mit dem wie Wasser rauschenden Frikativ „Sch“ wiedergegeben. Schulz’ Vorgehensweise ist kein unbekanntes Verfahren. Die bedeutungslose und ungehemmt schwebende Assoziationskette in Der Komet könnte man mit dem Begriff der heraklitischen Metapher beschreiben, den Osip Mandel’štam in Bezug auf Dantes Stil prägte und der „den fließenden Charakter des Phänomens“ unterstreichen soll.241 Genau das passiert im Text mit dem Bild des Fisches, der metaphorisch für die Sprache steht. Dieses Bild ist nicht statisch, sondern es wuchert, nimmt verschiedene ­Formen an, wandelt sich und mutiert permanent, so dass aus einer Vorstellung die nächste hervorgeht. Die Sätze ließen sich auch als eine Form der Zungenrede bezeichnen. Diese verortet man automatisch zuerst im religiösen Kontext und verbindet sie mit der Apostelgeschichte oder mit den Praktiken von Sekten wie etwa der im 17. Jahrhundert aus der russisch-orthodoxen Kirche hervorgegangenen Chlysten. Zu deren kultischen Handlungen gehörten ekstatische Rituale, die häufig in besessenen Lautgebeten mündeten. Diese Form des Sprechens wurde aber auch in der Moderne adaptiert. Andrej Belyj erkundete – von William Blake und Rudolf Steiners Eurythmie-­ Konzept inspiriert – in seinem 1922 veröffentlichten Poem Glossolalie die Beziehung zwischen Laut und Sinn, um die Sprachgrenzen mit lautbestimmten Assoziationen zu überschreiten.242 Allerdings kann man die Reihe der mit dem Bild des Fisches verbundenen Hyperbeln in Schulz’ Der Komet auch als Lust am Erzählen schlechthin und als eine Form der Sprachekstase verstehen. Der Ich-Erzähler scheint den lustvollen ­Charakter seines Sprechens durch die onomatopoetischen Ausdrücke zu steigern. Das Verknüpfen von Vorstellungen, die sich vom Klang der Wörter ausgehend weiter­ entwickeln, begeistert beispielsweise auch den Ich-Erzähler in Saša Sokolovs Die Schule der Dummen (1976). Er ist ein unter einer Persönlichkeitsspaltung leidender Sonderschüler, der in den 1970er Jahren einen Sommer in einer Feierabendkolonie in der Nähe von Moskau verbringt. Bei seinem höchst angeregten Erzählen in einem scheinbar naiven Plauderton werden Assoziationsketten entfaltet, die permanenten Mutationen unterliegen, aber wie im Zustand der Bewusstseinstrübung nur lose

241 „Manchmal vermag Dante ein Phänomen so zu beschreiben, dass von ihm so gut wie nichts übrigbleibt. Dabei verwendet er ein Verfahren, das ich die heraklitische Metapher nennen möchte: Sie unterscheidet den fließenden Charakter des Phänomens mit solcher Kraft und überdeckt es derart mit Federstrichen der eigenen Handschrift, dass von der direkten Anschauung, ist das Werk der Metapher getan, auch nicht ein Kümmel übrigbleibt.“ Osip Mandel’štam, „Gespräch über Dante“, in Gesammelte Essays II (1925–1935), übers. v. Ralph Dutli, Zürich 1991, 141 f. Im Kontext von Schulz’ Schaffen spricht Jerzy Ficowski von „Metaphern-Metamorphosen“. Vgl. Jerzy Ficowski, Bruno Schulz 1892–1942: Ein Künstlerleben in Galizien, 81. 242 Andrej Belyj, Glossolalie / Glossolalia: Poem über den Laut / A Poem about Sound, hg. v. Taja Gut, ins Deutsche übers. v. Maka Kandelaki u. ins Englische übers. v. Thomas R. Beyer, Jr., Dornach 2003.

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­ iteinander verbunden sind. Die Aneinanderreihungen gründen – ähnlich wie bei m Schulz – auf der lautlichen Dimension der Sprache.243 Die Sprachauffassungen von Musil, Broch und Schulz haben einiges gemeinsam. Alle drei thematisieren in ihren Werken Formen der Sprache, die das konventionelle Verständnis überschreiten. Die Motive der „murmelnden Vielstimmigkeit“, des Brausens oder majaczenie beschreiben das Hervorbringen von unverständlichen, sinnlosen Lauten. Dahinter verbirgt sich zum einen eine mythisch-utopische Vorstellung vom Authentischen und Ursprünglichen. Sie versinnbildlichen eine ideale Übereinstimmung von Zeichen und Bedeutung, die einen unverfälschten Zugang zur Wirklichkeit ermöglicht – sie sind vera ikon, „das reine Wort“, „die Urform der Sprache“. Zum anderen lassen sie sich als Apotheose der Selbstreferenzialität der Prosa interpretieren, die sich auf die sinnliche, lautmalerische Dimensionen der Sprache konzentriert und dadurch die Beziehung zwischen Literatur und Wirklichkeit neu denkt. Das formuliert Schulz besonders prägnant: „Wir halten das Wort üblicherweise für den Schatten der Wirklichkeit, für ihr Abbild. Richtiger wäre die umgekehrte Behauptung: die Wirklichkeit ist der Schatten des Wortes“ (Z 197). Es geht also um mehr als nur um die performative Wirkungskraft der Sprache, denn das Wort kann für die modernen Prosaschriftsteller die Wirklichkeit nicht nur verändern, sondern auch ersetzen.

2.4.2 Verführerisches Versprechen der Literatur Um ein neues Licht auf das sinnlose „Überetwashinstreicheln“ bei Musil, das unverständliche Brausen bei Broch und das majaczenie bei Schulz sowie auf die dahinter verborgenen Literaturauffassungen zu werfen, möchte ich auf drei Ansätze eingehen, die über ähnliche sprachliche Erscheinungen reflektieren. Diese theoretischen Texte setzen sich mit allgemeinen Fragen zur Repräsentation bzw. zur Refenzialität der Sprache auseinander und liefern wichtige Begrifflichkeiten, Metaphern und Kategorien, die bei der Interpretation der Werke der Prosa der Moderne behilflich sein können. Zunächst ein phänomenologischer Blick: Roman Ingarden (1893–1970), Zeit­genosse der genannten Autoren und Schüler Edmund Husserls, beschäftigte sich in seinem 1934

243 Zur Veranschaulichung ein längeres Zitat, das selbstverständlich im russischen Original noch deutlicher mit der musikalischen Dimension der Sprache spielt: „wie ist dein Name ich heiße Zweig Wetka ich bin die Wetka der Zweig der Akazie ich die Wetka der Eisenbahn ich die Weta schwanger von einem zärtlichen Vogel mit dem Namen Nightingale ich bin schwanger vom künftigen Sommer und vom Unfall des Güterzuges da nehmt mich nehmt mich ich verblühe ja doch das ist gar nicht teuer […] ich sprach nicht die Wahrheit ich bin Weta die Reine der weiße Wetka-Zweig ich blühe Sie haben nicht das Recht ich wohne in den Gärten schreien Sie nicht ich schreie nicht da schreit der der entgegenkommt ra ta ta worum geht es ra ta ta was ra wer da ta wo da da da Weta Wetter Wärter Wetka-Zweig hinterm Fenster im Haus da ra ta in dem von dem wovon von Wetka Wetter vom Wind ratatam“. Saša Sokolov, Die Schule der Dummen, übers. v. Wolfgang Kasack, Frankfurt a. M. 2001, 16 f.



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erstmals veröffentlichten Essay Ein Grenzfall des literarischen Werks mit den mirohłady des polnischen Lyrikers Julian Tuwim.244 Mirohłady sind besondere und unübersetzbare kurze Gedichte, die vom „normalen“ Sprachgebrauch stark abweichen und aus bedeutungslosen Reihen von gewöhnlichen wie auch umgeformten Wörtern bestehen.245 Ingarden versucht sich dieser Form von Literatur anzunähern und fragt, inwieweit sich hier eine „Deformation der Wirklichkeit“ zeigt.246 Die Gedichte lassen sich nicht auf die lautliche Ebene reduzieren, so Ingarden, denn sie haben etwas mehr in sich. Für die „mirohłady“ ist eben das charakteristisch, dass die mit irgendeinem bestimmten emotionalen Charakter ausgestatteten Lautgefüge keine konkrete Situation, keine Ereignisse, keine dargestellten Gegenstände entwerfen – wie das im literarischen Werk in der strengen Bedeutung des Wortes der Fall ist – sondern lediglich einen nebelhaften Urstoff solcher Situationen, eine entstehende, aber letztlich unentstandene Welt, flüchtig und vergänglich, die nur durch ihre Gefühlsatmosphäre einen emotionalen Nachklang in der Seele des „Lesers“ hinterlässt. […] Dabei schiebt sich die lautliche Seite der „mirohłady“ immer in den Vordergrund. Sie ist nicht nur das über den gesamten urnebelhaften und emotionalen Rest eines „mirohład“ Entscheidende, sondern gleichzeitig dasjenige, was durch seine besonderen Eigentümlichkeiten, durch seinen Rhythmus, seine Melodie, durch den Reim usw. die Aufmerksamkeit vor allem auf sich zieht und den „Leser“ durch seine Werte frappiert. Und erst wenn wir von alldem erfüllt sind, lassen wir uns gewissermaßen in jenen potentiellen flüchtigen Nebel unklarer und unbestimmter Situationskeime tragen und einhüllen, indem wir von ihnen deutlich nur sozusagen ihren emotionalen Tonfall nehmen. Die „mirohłady“ sind zwar keine literarischen Werke im strengen Sinne dieses Wortes, sie können aber wertvolle Kunstgebilde aus dem Grenzbereich der Literatur sein und uns ein ästhetisches Erlebnis vermitteln, obwohl sie immer nur liebenswerte Kleinigkeiten bleiben werden.247

244 Roman Ingarden, „Ein Grenzfall des literarischen Werks“, übers. v. Rolf Fieguth, in Rolf Fieguth (Hg.), Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft: Aufsätze und Diskussionsbeiträge (1937– 1964), Tübingen 1976, 102–109. Erstveröffentlichung des Textes auf Polnisch in Wiadomości Literackie Jg. 11, Nr. 43/1934. 245 Rolf Fieguth, der deutsche Übersetzer von Ingardens Essay, führt in Fußnoten seiner Übersetzung zur Verdeutlichung von mirohłady die Verse von Kurt Schwitters an, unter anderem einen Auszug aus dessen Gedicht Porträt Rudolf Blümner: „Der Stimme schwendet Kopf verquer die Beine. / Greizt Arme qualte schlingern Knall um Knall. / Unstrahlend ezen Kriesche quäke Dreiz.“ Zit. n. ebd., 102. 246 Ebd., 102 f. An dieser Stelle bezieht sich Ingarden explizit auf die Kunsttheorie der „Reinen Form“ von Stanisław Ignacy Witkiewicz alias Witkacy, an der dieser in den 1920er Jahren arbeitete. Sie setzte unter anderem die Abkehr vom Realismus und Naturalismus voraus. Die nach dem Prinzip der „Reinen Form“ konstruierten Kunstwerke sind Witkacy zufolge durch die radikale Deformation der Wirklichkeit und die Ablehnung gängiger Denkmuster wie Kausalität, Logik oder Chronologie charakterisiert. Auf diese Weise können sie den Rezipienten die Erfahrung vom Geheimnis des Daseins ermöglichen. Stanisław Ignacy Witkiewicz, Czysta Forma w teatrze, hg. v. Janusz Degler, Warszawa 1986. Ders., Nowe formy w malarstwie i wynikające stąd nieporozumienia: Szkice estetyczne, hg. v. Janusz Degler u. Lech Sokół, Warszawa 2002. In deutscher Sprache: Ders., „Einführung in die Theorie der Reinen Form des Theaters“, übers. v. Friedrich Griese, in ders., Verrückte Lokomotive: Ein Lese­ buch mit Bildern des Autors, hg. v. Andrzej Wirth, Frankfurt a. M. 1985, 41–77. 247 Roman Ingarden, „Ein Grenzfall des literarischen Werks“,107 f.

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Tuwims Gedichte haben keinen konkreten Sinn, sie stellen nichts dar und ähneln darin den zuvor analysierten Passagen aus den Werken von Musil, Broch und Schulz. Wenn Ingarden das Verhältnis der mirohłady zur Wirklichkeit charakterisiert, bedient er sich häufig der Metapher des Nebels und solcher Ausdrücke wie „nebelhafter Urstoff“ (poln. mgławicowa zaródź), „flüchtig“, „vergänglich“, „Gefühlsatmosphäre“ oder „potenzieller flüchtiger Nebel unklarer und unbestimmter Situationskeime“. Das Bild des Keimens soll verdeutlichen, dass die Gedichte zwar keine Bedeutungsträger sind, aber für diffuse Inhalte offen bleiben, wenn sie „entstehende, aber letztlich unentstandene“ Welten andeuten. Außerdem hebt Ingarden ihre besondere Anziehungskraft hervor: Sie ziehen die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich, sprechen sie emotional an, frappieren, bieten ästhetischen Genuss und hinterlassen einen „emotionalen Nachklang“ in der Seele. Obwohl die mirohłady für Ingarden zum Grenzbereich der Literatur gehören und lediglich „liebenswerte Kleinigkeiten“ sind, stellt er fest, dass die Klärung dessen, womit wir es beim Umgang mit ihnen zu tun haben, „wesentliche Bedeutung nicht nur für die Theorie der literarischen Kunst, sondern auch für die Sprachtheorie und die Erkenntnistheorie“ hat.248 Am Beispiel der mirohłady untersucht er Formen der Sprache, die zwar keinen Sinn ergeben, aber doch in einem Verhältnis zur Wirklichkeit ­stehen. Für eine solche Beziehung prägte Claude Lévi-Strauss den Begriff der flottierenden Signifikanten. In seiner Schrift Einleitung in das Werk von Marcel Mauss aus dem Jahr 1950 schreibt der Strukturalist: Wir glauben, dass die Begriffe vom Typus mana, so verschieden sie sein können, in ihrer all­ gemeinsten Funktion betrachtet […], eben diesen flottierenden Signifikanten repräsentieren, der die Last alles endlichen Denkens (aber auch die Bedingung aller Kunst, aller Poesie, aller mythischen und ästhetischen Erfindung) ist und den die wissenschaftliche Erkenntnis zwar nicht stillzustellen, wohl aber partiell zu disziplinieren vermag.249

Für Lévi-Strauss sind die flottierenden Signifikanten für magische Vorstellungen, Kunst und vor allem Literatur charakteristisch – ja sie sind sogar deren Voraussetzung. Die flottierenden Signifikanten sind als bedeutungslose Ausdrücke zu verstehen, die in der Gesellschaft kursieren und dann gebraucht werden, wenn es eine Unstimmigkeit zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten gibt.250 Sie füllen sozusagen die Lücke,

248 Ebd., 108. 249 Claude Lévi-Strauss, „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss“, in Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. 1: Theorie der Magie und Soziale Morphologie, übers. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M. u. Berlin 1978, 39. 250 Darauf macht auch Vincent Descombes in seinem Kompendium über Philosophie in Frankreich Das Selbst und das Andere aufmerksam. Die flottierenden Signifikanten bei Lévi-Strauss sind für ihn, neben der „signifikanten Metapher“ bei Lacan, Beispiel für die These: „Der Sinn geht aus dem NichtSinn hervor“. Das Zitat von Lévi-Strauss kommentiert Descombes folgendermaßen: „[J]edesmal wenn der Sprecher vor etwas Unbekanntem steht, weiß er nicht, was er sagen soll, weil dieser neuartigen



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die dann entsteht, wenn die Referenz versagt. Diese Funktion scheinen auch die Sprachexperimente in der Prosa von Musil, Broch und Schulz zu haben. Die „murmelnde Vielstimmigkeit“, das Brausen und majaczenie sind Versuche, die Verbindung zwischen Wort und Wirklichkeit neu zu definieren. Diese Verbindung erscheint in ihren Werken nicht als adäquate Übereinstimmung, sondern als flottierende Relation. Als Letztes möchte ich noch die poststrukturalistische Sichtweise auf die Referenzialität der Sprache präsentieren, mit der sich die Literaturtheorie vor allem in den späten 1970er Jahren intensiv auseinandersetzte. In diesem Kontext sind besonders die Arbeiten von Shoshana Felman und Paul de Man hervorzuheben. Sie fassen das, was Ingarden mit der Metapher des Nebels und Lévi-Strauss mit der des Flottierens intuitiv zu beschreiben versuchen, unter den Sammelbegriff der Verführung. An das Problem der Referenz gehen sie freilich anders heran. Die Literatur ist ihnen zufolge durch offene semantische Strukturen gekennzeichnet, in denen sich alle Relationen nur zwischen den Zeichen abspielen. In ihrer Studie The Scandal of the Speaking Body: Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages, die erstmals 1980 in französischer Sprache veröffentlicht wurde, spricht Felman von „Resten der Referenz“ und weist auf die Notwendigkeit des Umdenkens hin, da man sich das Bezeichnete nicht mehr als eine feste Substanz vorstellen solle, sondern eher im performativen Sinne als einen dynamischen Akt.251 Sie untersucht am Beispiel der Figur Don Juan, der seine Versprechen nie erfüllt, das Auseinanderklaffen der Verbindung zwischen dem

Situation keine Botschaft im Code entspricht, mit der man sie anderen mitteilen könnte, und dennoch präsentiert sich die unbekannte Situation dem Sprecher gerade als unbekannt, neu, mysteriös. Er verwechselt sie mit keiner der Situationen, die er im Code der Gemeinschaft eindeutig aussagen kann. Wie soll man diese Fähigkeit des Menschen erklären, das Unbekannte als Unbekanntes wahrzunehmen (und folglich nach seiner Erkenntnis zu streben und es so zum Verschwinden zu bringen)? Die Erklärung liegt in der Natur der Sprache: das Wort zu haben und etwas zum Sagen zu haben sind zwei verschiedene Dinge. In dem Augenblick, als der erste Mensch zum ersten Mal das Wort ergriff, hat er eine entscheidende Prüfung durchgemacht: da er über die Sprache verfügte, konnte er alles sagen, wozu die Sprache befugt (nichts in seiner sprachlichen Kapazität hielt ihn davon ab, die ­Genesis vorzutragen oder Newtons Principia auszusprechen), und hatte doch nichts zu sagen (weil er über keinerlei Wissen noch Signifikat verfügte). Da bestand also völlige Unstimmigkeit zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat: der gesamte Signifikant flottierte …“ Vincent Descombes, Das Selbe und das Andere: Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933–1978, übers. v. Ulrich Raulff, Frankfurt a. M. 1981, 115 f. 251 „The self-reflexiveness of consciousness, the linguistic self-referentiality of subjectivity no longer refer to an identity, but to a referential residue, to a performative excess.“ Shoshana Felman, The Scandal of the Speaking Body: Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages, Stanford 2003, 55. Von zentraler Bedeutung ist in Felmans Studie auch der folgende Satz, auf den Judith Butler im Nachwort aufmerksam macht: „Referential knowledge of language is not knowledge about reality (about a separate and distinct entity), but knowledge that has to do with reality, that acts within reality, since it is itself – at least in part – what this reality is made of. The referent is no longer simply a preexisting substance, but an act, that is, a dynamic movement of modification of reality.“ Ebd., 51.

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­ eichen und seiner Bedeutung – die Enttäuschung über die entsprechende UnstimZ migkeit nennt sie Don-Juan-Effekt.252 Ausschlaggebend für meine Überlegungen ist die Parallele, die sie zwischen der literarischen Sprache und der Verführung schafft. Unter Verführung versteht sie die autoreferenzielle Sprachproduktion – das Erzeugen lustvoller Sprache, die nur um ihrer selbst willen begehrt wird.253 Sowohl die Literatur als auch das Phänomen der Verführung sind ihrer Meinung nach selbstbezogen und bestehen darin, dass sie ­unentwegt eine „Illusion der Referenzialität“ (referential illusion) schaffen, an die sie sich dann aber nicht halten.254 Dieses unerfüllbare Versprechen macht für Felman die ­Literatur aus: [L]iterature is precisely the impossibility of choice: the impossibility of keeping the promise of meaning, of consciousness; the impossibility of not continuing to make this promise and to believe in it. Even as literature, through the figure of Don Juan himself, deconstructs its own seductiveness, it goes on seducing; but it promises nothing except that it will continue to promise.255

Die unerreichbare, ständig wiederholte Verheißung von Bedeutung, deren Erfüllung ins Unendliche suspendiert wird, ist für Felman das wichtigste Merkmal literarischer Werke. Das Thema des Versprechens der Literatur greift auch Paul de Man in Allegorien des Lesens aus dem Jahr 1979 auf. Bei der Auseinandersetzung mit dem Problem der Referenz bedient auch er sich der Kategorie der Verführung. Er verbindet sie mit einer Wiederaufwertung der Rhetorik, die für ihn „die radikale Suspendierung der Logik“ ist und „schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verirrungen“ eröffnet.256 Die rhetorischen Figuren in der Literatur hätten die Funktion, die Rezipienten von der nichtreferenziellen Natur der Sprache wegzuführen und die anziehende Illusion einer vorgeblich natürlichen Übereinstimmung zwischen Wort und Wirklichkeit aufrecht-

252 „The Don Juan effect is, pragmatically, that of confusion between meaning and reference, and, theoretically, that of problematization, of subversion of the dichotomy between self-referentiality and linguistic referentiality.“ Ebd., 54. 253 „To seduce is to produce felicitous language. Now for Don Juan itself is nothing other than having no more to say. […] The desire of Don Juan is thus at once desire for desire and desire for language; a desire that desires itself and that desires its own language. Speech is the true realm of eroticism, and not simply a means of access to this realm. To seduce means to produce language that enjoys, language that takes pleasure in having no more to say. To seduce is thus to prolong, within desiring speech, the pleasure-taking performance of the very production of that speech.“ Ebd., 15. 254 Ebd., 17. 255 Ebd., 47 256 Paul de Man, Allegorien des Lesens, übers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt a. M. 1988, 40.



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zuerhalten, die Utopie einer idealen sprachlichen Repräsentation oder – um auf Musil anzuspielen – den unmöglichen Wunsch nach der vera ikon in der Sprache.257 Die drei theoretischen Ansätze stehen zum einen für bedeutende Wendepunkte in den Geisteswissenschaften. Zum anderen zeigen sie das unentwegte Interesse der Theo­rie an Fragen der Repräsentation und Referenzialität, mit denen sich auch die Prosa der Moderne literarisch auseinandersetzt. Die Theorietexte liefern viele Metaphern, die das literaturwissenschaftliche Instrumentarium bereichern, etwa die des Nebels oder des Flottierens. Diese Bilder gehören zum allgemeinen Bedeutungsfeld des ­Begriffs der Verführung, mit dessen Hilfe man die Sprachphänomene in den Werken von Musil, Broch und Schulz deuten kann.

2.4.3 Schrift und Verführung Nach den Überlegungen zur Sprache drängt es sich geradezu auf, deren besondere Erscheinungsform Schrift als ein weiteres Mittel der Verführung zu untersuchen. Die Problematik der Schrift und des literarischen Schreibens greift Schulz in der Erzählung Der Komet auf – zwar nicht explizit, aber in Form einer verschlüsselten Figur.258 Hier arbeitet er die Komplexität dieser Phänomene heraus und durchleuchtet ihre Paradoxa. Er versucht die Verführungskraft der Schrift zu erklären und sie mit einer metapoetologischen Reflexion über die Rolle der Literatur zu verbinden. Dabei kann der Komet im Kamin als mehrdeutige Metapher gelesen werden, die einerseits für die Schrift und andererseits für künstlerische Imagination steht, was ich im Folgenden zeigen werde. Auch wenn in der Erzählung kaum die Rede von der Schrift ist, kann die ganze ­Situation als Anspielung auf sie gelesen werden. Diese Lesart legt die Szene nahe, in der der Komet scheitert und die Erdkugel nicht trifft. Wie denn das, was ist aus dem Weltuntergang geworden, was ist mit dem großartigen Finale nach der so exzellent entwickelten Introduktion? […] Was war also geschehen? Hören Sie bitte selbst: Der Bolide raste tapfer dahin, er sprengte einher wie ein wackeres Roß, um rechtzeitig am Ziel zu sein. Und mit ihm raste die Mode der Saison. Einige Zeit flog er an der vordersten Front der Epoche, der er seine Form und seinen Namen verliehen hatte. Dann glichen sich die beiden

257 Diesen Mechanismus untersucht de Man unter anderem in den Werken von Rilke, Proust und Rousseau. Bezüglich der Gedichte des deutschen Lyrikers bemerkt er beispielsweise Folgendes: „Rilke kann nur verstanden werden, wenn man der Dringlichkeit dieses Versprechens und der ebenso drängenden und poetischen Notwendigkeit innewird, dies Versprechen genau in dem Moment zurückzuziehen, in dem er im Begriffe scheint, es uns zu geben.“ Ebd., 87. 258 Auch Musils Erzählungsband Vereinigungen wird unter dem Aspekt des Schreibens betrachtet. Peter-André Alt sieht in ihm eine „verschlüsselte Schreiberfahrungen Musils“. Peter-André Alt, „­Allegorische Formen in Robert Musils Erzählungen“, in Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft Nr. 32/1988, 314–343.

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separaten Kufen aneinander an und liefen im Gleichschritt weiter, im strengen Galopp, in den auch unsere solidarischen Herzen verfielen. Bald jedoch schob sich die Mode langsam um eine Nasenlänge nach vorn und überholte den unermüdlichen Boliden. Dieser eine Millimeter war ausschlaggebend für das Schicksal des Kometen. Die Entscheidung war gefallen: Er war ein für alle Mal überrundet. Unsere Herzen liefen mit der Mode, sie ließen den leuchtenden Boliden langsam hinter sich, wir sahen gleichgültig zu, wie er blasser und kleiner wurde und zuletzt resigniert am Horizont stand, er neigte sich zur Seite und legte sich vergeblich in die letzte Kurve auf seiner gebogenen Bahn, fern und himmelblau, für immer unschädlich geworden. Kraftlos war er zurückgeblieben, er hatte das Rennen verloren, die Kraft der Aktualität hatte sich erschöpft, und keiner kümmerte sich mehr um den Verlierer. Sich selbst überlassen, welkte er still in der allgemeinen Gleichgültigkeit vor sich hin. (S 326 f.)

Die Erklärung, warum der Komet kein Weltende mit sich bringt, hat die Form einer parodistischen Sportberichterstattung über ein Wettrennen: Der Komet läuft mit der Mode um die Wette und diese überholt ihn. Der Bericht über das Schicksal des Kometen täuscht geschickt eine mündliche Erzählung vor und spricht die Emotionen der Rezipienten an. Das einschließende und gemeinschaftsstiftende Personalpronomen „wir“ macht aus den Rezipienten begeisterte Sportfans, die der Geschichte voller ­Spannung folgen. Es ist die Rede von „unseren Herzen“, die sich mal auf die Seite des Kometen stellen, mal auf die der Mode. Die Verwandlung des Kometen vom Verkünder der Apokalypse in den eines Aufbruchs passiert also auf der Ebene der Rhetorik. Im Laufe der Berichterstattung über das phantastische Wettrennen wird den Rezipienten suggestiv vermittelt, dass sie, anstatt Angst vor dem Weltende zu haben, Mitleid mit dem von der Mode besiegten Himmelskörper empfinden sollten. In der Beschreibung des Wettrennens kann man die Überkreuzung verschiedener Zeitebenen bemerken. Hier konkurrieren nämlich zwei Figuren miteinander, die man mit gegensätzlichen zeitlichen Strukturen assoziiert: Während der Komet für den Weltuntergang, das Ende der Geschichte, also für die Aufhebung der Zeit steht, ist die Mode ein Phänomen schnell vergehender Präsenz bzw. permanenter Gegenwärtigkeit.259 Die Aktualität der Mode besiegt den apokalyptischen Kometen, der sich zurückzieht und im Kamin landet. Durch die Transformation des Himmelskörpers in einen Homun­ culus, die schon in der Beschreibung des Wettlaufs eingeleitet wird, verwandelt sich die Untergangsstimmung allmählich in Aufbruchsstimmung. Im Text kommen Symbole des Neubeginns vor, der Komet als Embryo schläft im Kamin wie „im klaren Wasser des Amnios“ (S 326) – aber der letzte Satz der Erzählung bleibt mehrdeutig: Manchmal öffnete er [der Vater – AH] das Kamintürchen und blickte lächelnd in den dunklen Schlund, wo ein ewig lächelnder Homunculus, in eine gläserne Ampulle gesperrt und von strahlendem Licht wie von Neongas umflossen, voreilig verurteilt, abgehakt und ad acta gelegt, seinen leuchtenden Schlaf schlief – ein Archivposten in der großen Registratur des Himmels. (S 328)

259 Vgl. Georg Simmel, „Zur Psychologie der Mode. Soziologische Studien“, in ders., Soziologische Ästhetik, hg. v. Klaus Lichtblau, Wiesbaden 2008, 49–56.



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Die Verwandlung des Kometen in einen Keim neuen Lebens aktiviert verschiedene Assoziationsfelder. Wie schon erwähnt, kann man darin Anspielungen auf die messianische Tradition sehen. Der Himmelskörper nimmt die Gestalt eines menschlichen Körpers an, verwandelt sich quasi in den Gottessohn, der in sich eine göttliche und eine menschliche Komponente verbindet – himmlische Herkunft und irdische Sinnlichkeit. Vor allem assoziiert man aber das keimende Leben mit Entwicklungspotentialen, die auf die Zukunft verweisen. Doch dieses Künftige, das Erwachsenwerden wird dem Embryo verweigert. Man sperrt ihn als „Archivposten“ semantisch in die Schublade der Vergangenheit. Die zeitliche Verquickung in dieser Szene spiegelt die Problematik und die Paradoxa der Schrift wider, das Spannungsverhältnis zwischen der Einmaligkeit eines ­Phänomens und der Frage nach den Möglichkeiten seiner Aufbewahrung und Archivierung. Der Komet – Sinnbild des Einmaligen und schnell Vergehenden – wird dadurch vor dem Vergessen und dem Andrang der aktuellen Begebenheiten (der Mode) gerettet, dass er Zuflucht im Kamin findet und dort eingeschlossen und gleichzeitig verewigt wird. Er bekommt ein neues Leben, indem er aus seinem Bedeutungsfeld gerissen und in einen anderen Kontext versetzt wird (aus dem Untergang wird Aufbruch). Im Kamin kann der Komet unter sicheren und sterilen Bedingungen wie in einer ­Retorte erhalten bleiben. Eine Weiterentwicklung ist aber nur im Konjunktiv denkbar. Die Schrift als Technik der Aufbewahrung und Wiedergabe des Vergangenen funktioniert nach demselben Prinzip. Schreiben bedeutet ebenfalls ein Einschließen der Phänomene: in die Sprache, in die Linearität der Schrift, in die Chronologie der Zeichen. Wenn der Komet im Kamin eingeschlossen wird, kann man dies als Symbol des Schreibaktes lesen. Die Schrift erzeugt eine Wandlung, bedeutet Verlust und Gewinn zugleich. Der Verlust der Einmaligkeit und Besonderheit des Phänomens geht mit seiner Aufbewahrung und Verewigung einher. Aus der Bewegung des Augenblicks wird etwas Festgelegtes, Greifbares, auf eine bestimmte Form Beschränktes. Diese Ambi­ valenz spiegelt sich in den Bezeichnungen des Kometen als keimendes Leben und ­lebloser Archivposten wider. An die Lesart des Kometen im Kamin als Metapher der Schrift schließt eine weitere sprachliche Assoziation an, wenn man darüber nachdenkt, warum der Kamin in der Erzählung eine so große Rolle spielt. Warum landet der Komet ausgerechnet dort? Wieso steckt der Vater wiederholt seinen Kopf in den Kamin? Sowohl in der polnischen als auch in der deutschen Sprache gibt es die Redewendung zapisać coś węglem w ko­ minie – „etwas in den Schornstein schreiben“. Im Deutschen wird damit etwas bezeichnet, das verloren ist – das in den Schornstein geschriebene Geld wird man sicherlich nicht zurückbekommen. Das steht mit der wörtlichen Bedeutung der Redewendung im Einklang, die eine vergebliche Tätigkeit beschreibt: Das Auftragen von Schriftzeichen im Schornstein ist sinnlos, denn der Ruß wird sie gleich wieder bedecken und unleserlich machen. Daran knüpfte früher auch das Bedeutungsfeld dieses Ausdrucks im Polnischen an. Es hat sich aber, wie Agnieszka Jawór herausgearbeitet hat, im Laufe der Zeit allmählich verändert, wozu die verschiedenen Variationen der Redewendung

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beitrugen.260 Seine Bedeutung wandelte sich von Unlesbarkeit, Unerkennbarkeit und der Unmöglichkeit des Erinnerns zu einer Bezeichnung für etwas Einmaliges, Selt­ sames – zum Synonym für Absonderlichkeit. Die Bedeutung der Redewendung erschließt semantische Felder, die den Kern der Schriftkonzeption bei Schulz treffen. Das ­Schreiben scheint bei ihm, so wie in der Redewendung, ein von Vornherein zum Scheitern verurteiltes Vorhaben zu sein, das trotzdem unternommen wird. Es besteht die Gefahr, dass das Phänomen im Augenblick des Beschreibens für immer verloren geht und in der Schrift nicht reaktivierbar ist. Dennoch ist das Schreiben bei Schulz etwas Einzigartiges – ebenso wie es die Ereignisse im Kamin sind. Ein weiterer Aspekt, der den Kometen im Kamin und die Schrift verbindet, ist die (Un)Lesbarkeit. Der Komet als Homunculus verursacht keinen spektakulären Welt­ untergang. Zwar ist seine Landung im Kamin eine faszinierende Angelegenheit, sie erweckt aber kein allgemeines Aufsehen. Der Komet gilt als ein Versager, weil er das Wettrennen mit der Mode verliert und kein historisches Ereignis, kein Weltende verursachen kann. Dennoch beobachtet ihn der Vater mit Begeisterung; er allein widmet sich ihm, den die anderen vergessen haben. Die Ereignisse im Kamin sind also nicht für alle lesbar. Bei Schulz bildet der Kamin als Metapher der Schrift einen Schutzraum für ein in den Augen der anderen unbedeutendes, individuelles Schicksal. An dieser Stelle wird deutlich, dass Schulz die Problematik der Schrift mit dem ­literarischen Schreiben zusammendenkt. Literatur soll sich seiner Meinung nach nicht den Universalien widmen, sondern dem Individuellen und Besonderen, das in der Philosophie traditionell ein verdrängtes Thema war – man denke nur an den häufig zitierten Satz aus der Poetik von Aristoteles: „Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine […] mit.“261 Dieser Denktradition zum Trotz sieht Schulz die Aufgabe der Literatur gerade in der Abkehr vom Allgemeinen, deshalb steht der besiegte Komet als Sinnbild für das von allen vergessene Individuum im Zentrum seiner Erzählung. Dadurch thematisiert er die Probleme der literarischen Darstellung: Wie kann man einem Ereignis oder einem Phänomen im Text gerecht werden und es aus dem Sog des Alltags und der Zufälligkeit herausholen? Wie verleiht man ihm Dauerhaftigkeit, ohne es seiner Vielfältigkeit und Komplexität zu berauben? Wie kann man das Vergehende aufbewahren und es gleichzeitig vor Verdinglichung schützen? Schließlich verbindet die Ambivalenz den Kamin und die Schrift. Den Kamin kann man sowohl als Zufluchtsort wie auch als Käfig für den Kometen verstehen. Ebenso

260 Folgende Formen waren im Gebrauch: zapisać coś węglem / kredą w kominie / w piecu / w czeluściach – mit Kohle / mit Kreide in den Schornstein / in den Ofen / in den Höllenschlund schreiben. Vgl. Agnieszka Jawór, „Zmiany znaczeniowe związków frazeologicznych“, in LingVaria Nr. 4.1/2009, 95. Verfügbar unter: http://www.lingvaria.polonistyka.uj.edu.pl/documents/5768825/64f94459-3070-­ 446d-9ae6-e4edc4487d60 (25. Mai 2017). 261 Aristoteles, Poetik, übers. und hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2010, 29 [1451 b].



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paradox erscheint die Schrift. Seit der Antike gilt sie als ein verdächtiges, in seiner Funktion und Bedeutung ambivalentes und dadurch faszinierendes Medium, das mit gewissem Misstrauen betrachtet wird. Diese Haltung ist geradezu ein Topos in der ­Geschichte der abendländischen Philosophie, den ich hier anhand von zwei exemplarischen Zitaten veranschaulichen möchte. In Platons Phaidros (4. Jahrhundert v. Chr.) ist in Bezug auf die Schrift eine ­markante Verbindung von Skepsis und Faszination zu finden. Folgende Worte werden Sokrates in den Mund gelegt: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften.262

Besonders auffällig ist das Wort deinon (gr. δεινòν), hier von Friedrich Schleiermacher als „dieses Schlimme“ wiedergegeben, in anderen Übersetzungen „das Missliche“263 oder „dies Bedenkliche“264, in englischer Übertragung „strange quality“265. In diesem Urteil ist nicht nur eine Verdammung der Schrift enthalten, sondern auch das Staunen von Sokrates über ihre sonderbaren Eigenschaften. Sie ist ihm zufolge trügerisch, kann leicht irreführen, Wissen vortäuschen und so tun, als ob sie das Medium der Wahrheit wäre. Wie er aber konstatiert, ist sie nichts mehr als ein graphisches System von Zeichen – ein zweidimensionales Bild. Mehr als zwei Jahrtausende später wiederholt Claude Lévi-Strauss in seiner Abhandlung Traurige Tropen (1955) dieses Staunen über die befremdenden und gleichzeitig bewundernswerten Möglichkeiten der Schrift: Die Schrift ist eine seltsame Angelegenheit.266 Man würde eigentlich vermuten, dass ihre Erfindung tiefgreifende Veränderungen im Leben der Menschheit hervorgerufen hat, und dass diese Veränderungen vor allem intellektueller Natur gewesen sind. Denn die Schrift vertausendfacht die Möglichkeit, Kenntnisse zu erwerben und zu bewahren. […] Wenn die Schrift allein nicht

262 Platon, „Phaidros“, in Werke, Bd. 2, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 2004, 604 f. 263 „Dieses Missliche nämlich, o Phaidros, hat doch die Schrift, und sie ist darin der Malerei gleich.“ Platon, „Phaidros“, in Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. v. Erich Loewenthal, übers. v. Ludwig Georgii, Heidelberg 1982, 475. 264 „Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleich sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber etwas fragst, so schweigen sie stolz.“ Platon, Phaidros, übers. v. Kurt Hildebrandt, Stuttgart 2008, 87. 265 „Writing, Phaedrus, has this strange quality, and is very like painting; for the creatures of painting stand like living beings, but if one asks them a question, they preserve a solemn silence.“ Plato, Phaedrus, in Plato in Twelve Volumes, Bd. 9, ins Englische übers. v. Harold N. Fowler, Cambridge MA 1925, 275. 266 Im Original: „C’est une étrange chose que l’écriture.“ Claude Lévy-Strauss, Tristes Tropiques, Paris 1955, 342.

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genügt hat, um das Wissen zu festigen, so war sie vielleicht unentbehrlich, um die Herrschaft zu konsolidieren.267

Für Lévi-Strauss transportiert die Schrift Wissen und gaukelt ein Versprechen von Freiheit vor. Doch sie verfestigt die Machtstrukturen, statt die Menschen von ihnen zu befreien. Trotzdem ist sie eine beeindruckende Errungenschaft der Kultur, die erstaunlich, seltsam und paradox wirkt. Zwar trennt die beiden Zitate eine große Zeitspanne, sie drücken aber in pointierter Weise die wichtigsten Argumente der Reflexion über die Schrift aus. Warum aber ruft die Schrift ambivalente Gefühle hervor? Warum bewundert man sie und misstraut ihr zugleich? Diese Fragen beschäftigten Jacques Derrida, der in ­seinem bekannten Aufsatz Platons Pharmazie aus dem Jahr 1968 dem Geheimnis der Schrift nachzugehen versuchte. Ich möchte einen längeren Abschnitt aus diesem Text zitieren, denn in ihm nennt Derrida wichtige Aspekte, die mit der Thematik der Schrift in Schulz’ Erzählung Der Komet korrespondieren. Derrida beginnt mit einem close r­ eading von Phaidros und stolpert über das mehrdeutige Wort pharmakon, das gleich zu Beginn des Dialogs erwähnt wird: Ist die knappe Erwähnung von Pharmakeia, am Anfang des Phaidros, ein Zufall? Ein Außer-, ein Beiwerk (hors-d’œuvre)? […] Pharmakeia ist auch ein allgemeiner Name, der die Verwaltung des pharmakon, der Droge bedeutet: des Heilmittels und/oder des Giftes. […] Nur wenig weiter unten vergleicht Sokrates die von Phaidros mitgebrachten geschriebenen Texte mit einer Droge (pharmakon). Dieses pharmakon, diese „Arznei“, dieser Zaubertrank, Heilmittel und Gift zugleich, führt sich mit seiner ganzen Ambivalenz bereits in das Korpus der Rede ein. Dieser Zauber, diese Kraft der Faszination, diese Macht der Verzauberung können – nacheinander oder gleichzeitig – wohltuend und bösartig sein. Das pharmakon wäre eine Substanz, mit allem, was dieses Wort wird konnotieren können, nämlich den für okkulte Mächte geeigneten Stoff, die kryptisch verschlossene Tiefe, die der Analyse ihre Ambivalenz nicht preisgibt und bereits den Raum der Alchimie vorbereitet, wenn wir nicht weiter unten dahin kommen sollten, sie als die Anti-Substanz schlechthin anzuerkennen: als das, was jedem Philosophen widersteht, was als Nicht-Identität, Nicht-Wesen, Nicht-Substanz endlos darüber hinausgeht und ihr gerade dadurch die unerschöpfliche Gegenwendigkeit ihres Fundus (fonds) und ihres Mangels an Tiefe (fond) verschafft. Mit dem Mittel der Verführung operierend, sorgt das pharmakon dafür, dass die allgemeinen, natürlichen oder habituellen Wege und Gesetze verlassen werden. Es sorgt hier dafür, dass Sokrates seinen eigenen Platz und seine gewöhnlichen Wege verlässt. Diese hielten ihn stets im Innern der Stadt. Die Schriftrollen wirken wie ein pharmakon, das denjenigen, der niemals die Stadt, nicht einmal im letzten Moment, um dem Schierling zu entgehen, verlassen wollte, aus der Stadt heraus treibt oder zieht. Sie sorgen dafür, dass er aus sich herausgeht, und reißen ihn mit auf einen Weg, der eigentlich ein exodos ist […].268

267 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen: Indianer in Brasilien, übers. v. Susanne Heintz, Köln 1970, 261 f. 268 Jacques Derrida, „Platons Pharmazie“, in ders., Dissemination, hg. v. Peter Engelmann, übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien 1995, 78 f.



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In Derridas Exegese ist die Grundidee der dekonstruktivistischen Theorie von der Schrift enthalten, die dort für die Differenz, für das Nicht-Identische, für den Gegenpol zu Kategorien wie Identität, Wesen oder Substanz steht. Im Zitat wird die Schrift mit der Verführungskraft verbunden – Derrida schreibt ihr wörtlich einen Zauber, die Kraft der Faszination und die Macht der Verzauberung zu. Besonders interessant für meine Analyse von Schulz ist eine weitere Assoziation, die Derrida in diesem Kontext her­ vorhebt. Die Schrift kann seiner Meinung nach nicht nur verführen, sondern auch wegführen. Damit rekurriert er auf die lateinische Etymologie des Wortes Verführung (seducere), das vom Verb subducere stammt und die Vorsilbe sub – „unten“, „weg“ sowie das Verb ducere – „führen“ beinhaltet. Die Anziehungskraft der Schriftrollen besteht auch darin, dass sie Sokrates aus der Stadt hinausführen und ihn von seinen vertrauten Wegen ablenken, so dass er in der Schrift den éxodos – die Zuflucht und den Ausgang aus der Routine findet. Die Verlockung der Schrift setzt Derrida mit dem Wegbringen vom Gewöhnlichen gleich. Diese Interpretationsspur möchte ich auf die Erzählung Der Komet übertragen. Hier spielen doch das Wegführen und Ablenken eine wichtige Rolle. Der Kamin wird zu einem besonderen Ort, der den Vater von seinen Experimenten im Laboratorium wegbringt: Manchmal unterbrach er [der Vater – AH] sich an einem unerwarteten Punkt des Experiments, stand unentschlossen, mit halb zugekniffenen Augen da und trippelte gleich darauf in den Flur, wo er den Kopf in das Kamintürchen steckte. Dort war es dunkel, rußig-still und heimelig wie im innersten Kern des Nichts, und warme Ströme wanderten hinauf und hinab. Mein Vater schloss die Augen und stand so einige Zeit in diesem warmen, schwarzen Nichts. Wir alle spürten, dass dieser Inzident nicht zur Sache gehörte, dass er sozusagen aus der Kulisse herausgetreten war, und angesichts dieser Tatsache, die außerhalb der Grenzen stattfand, die schlichtweg zu einer anderen Ordnung der Dinge gehörte, drückten wir innerlich ein Auge zu. (S 313)

Das Verhalten des Vaters bleibt unverständlich für die Umgebung. Der Kamin scheint ihn auf eine merkwürdige Weise anzuziehen und versetzt ihn in einen halbbewussten Zustand, in dem er seine gewöhnlichen Beschäftigungen unterbricht und sich nicht mehr kontrollieren kann. Seine Kontrollverluste passieren unerwartet und haben folgenden Verlauf: Der Vater steht zunächst unentschlossen da, als ob er versuchen würde, der Anziehungskraft des Kamins zu widerstehen. Vergeblich, denn die Art und Weise, wie er sich in die Richtung des Kamins bewegt, das Trippeln mit halb zugekniffenen Augen, macht deutlich, dass es sich hier um eine fast magnetische Kraft handelt. Ein unerklärlicher Zauber zieht ihn zum Kamin, verführt ihn und führt ihn zugleich von seiner hauptsächlichen Tätigkeit, dem Experimentieren weg. Der Kamin lenkt aber nicht nur den Vater, sondern auch den Kometen von seiner Bahn ab, der, anstatt auf die Erde herunterzufallen und so eine Katastrophe auszulösen, letzten Endes im Kamin landet. Wie in einem Mutterleib nistet er sich dort ein, verwandelt sich in den Embryo eines Homunculus und wird vom Vater liebevoll beaufsichtigt. Die Apokalypse, die

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man mit dem Weltende und dem Jüngsten Gericht verbindet, wandelt sich zu einem hoffnungsvollen Neubeginn mit kindlicher Unschuld. Dass der Kamin sowohl den Vater wie den Kometen anzieht und beide von ihren Absichten ablenkt, lässt sich nicht nur als Hinweis auf die Schrift interpretieren, sondern erinnert auch an das in der Prosa der Moderne bekannte Motiv des verführerischen Nicht-Ortes. Zu dessen Merkmalen gehören Leere, Unerreichbarkeit und besondere Anziehungskraft. Der Kamin ist ein Ort außerhalb von Raum und Zeit, der „nicht zur Sache gehört“ (S 313) und dem deswegen Michel Foucaults Begriff der Heterotopie ­nahesteht.269 Eine ähnliche Vorstellung ist auch in Kafkas Roman Das Schloss wiederzufinden. Der Landvermesser K., der metaphorisch für das Geometrische und Messbare des Raumes steht, wird hier mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die einer klaren Darstellung entkommt: Das Schloss bleibt trotz aller Bemühungen unbegreiflich und ist nicht beschreibbar. Manchmal zweifelt K. sogar, ob es wirklich existiert, denn jeder Versuch einer Annäherung ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.270 Das Schloss lässt sich nicht vermessen, ist unerreichbar und dennoch anziehend – wie etwas ­Heiliges. Der Vergleich mit der Sphäre des Sakralen ist nicht zufällig, denn die Religion war Anfang des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Thema in der Philosophie und Anthropologie. Mit dieser Problematik setzte sich unter anderem Walter Friedrich Otto auseinander. Der Religionswissenschaftler und Altphilologe stellt in der Schrift Die Götter Griechenlands (1929) die These auf, dass das Heilige und das Profane kein Gegensatzpaar bilden. Die Trennung der beiden Bereiche sei eine sekundäre Erscheinung, die in den Naturreligionen oder im altgriechischen Polytheismus gar nicht vorkomme. In diesen frühen Formen des religiösen Lebens sei die Religion ein Bestandteil des Weltverständnisses gewesen.271 Nicht das Heilige sei den Menschen ursprünglich, sondern das Gefühl „des ganz Anderen“.272 Diese Vorstellung scheint die Erfahrung der ­Moderne auf den Punkt zu bringen. In ihr äußert sich nämlich die Verfasstheit der modernen Menschen, die in einem Zeitalter hinterfragter Autoritäten leben, trotzdem aber

269 Als eines der Merkmale der Heterotopie nennt Foucault den Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis von Zeit und Raum. Michel Foucault, „Andere Räume“, übers. v. Walter Seitter, in Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, 43. 270 „Die Hauptstraße des Dorfes führte nicht zum Schlossberg, sie führte nur nahe heran, dann aber, wie absichtlich, bog sie ab, und wenn sie sich auch vom Schloss nicht entfernte, so kam sie ihm doch auch nicht näher.“ Franz Kafka, Das Schloss, Kritische Ausgabe Bd. 4, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2008, 19. 271 Siehe Walter Friedrich Otto, Die Götter Griechenlands: Das Bild des Göttlichen im Spiegel des grie­ chischen Geistes, Bonn 1929, 205. 272 Diesen Begriff entnimmt er der Abhandlung Das Heilige (1917) von Rudolf Otto. Zum Begriff „des ganz Anderen“ vgl. Rudolf Otto, Das Heilige: Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 2004, 31.



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eine strukturierende, archaische Ordnung benötigen, die einen Rahmen für ihr Empfinden schafft. In diesem Sinne sind weder das Schloss noch der Kamin als konkrete Orte zu verstehen.273 Sie lassen sich vielmehr als säkularisierte Formen der literarisch verfassten Erfahrung „des ganz Anderen“ imaginieren – als symbolische Schwellenräume, in denen die Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Profanen überschritten werden. Diese Überschreitung ist im Hinblick auf den Kometen im Kamin auf mehreren Ebenen zu verstehen. Dieses Bild lässt sich nicht nur als Reflexion über Schrift und literarisches Schreiben interpretieren, sondern ebenso als metapoetologische Figur für künstlerische Imagination und das Kunstwerk im Allgemeinen. Der Kamin ist nicht nur ein Refugium für den Kometen, sondern auch für den Vater. Dieser unterbricht seine Experimente und „trippelt“ zum Kamin, der für ihn ein Ort des Rückzugs ist. Dieser Rückzug ist mit Verzicht und Verstummen verbunden, denn am Kamin spricht der Vater nicht mehr. Man könnte darin eine Umkehrung eines alten Topos sehen: Am Kamin werden meist Geschichten erzählt. Ist der schweigende Vater am Kamin also das Symbol einer gescheiterten Erzählung, einer Niederlage? Er wird als Verlierer inszeniert, Scharen von Adepten wenden sich gelangweilt von ihm ab – „die Unlust und der Überdruss“ beschleichen sie (S 319). Der Vater hat keine Macht über den Kometen: Der wird nicht festgehalten und im Kamin eingeschlossen, sondern er landet dort freiwillig. Der Vater kontrolliert ihn nicht, sondern öffnet nur ab und zu das Kamintürchen und beobachtet ihn mit Vergnügen. Seine eigenartige Leistung besteht ausschließlich darin, dass er ihn als Einziger wahrnimmt. Dennoch macht er daraus keine sensationelle Entdeckung, sondern setzt sie eher ironisch herab. Auch für den Kometen bedeutet der Kamin ein Verstummen. Er zieht sich nach dem misslungenen Einschlag auf die Erde dorthin zurück, denn als Verkünder des Weltendes kommt er nicht zu Wort. Insofern ist der Kamin mit dem zweifachen Verstummen und Nichterscheinen des ­Vaters und des Kometen verbunden, er kann aber potenziell neue Geschichten stiften. Die Erzählung endet mit einem Neubeginn: mit dem im Kamin wachsenden Homunculus. Der wird zwar ins Archiv gesteckt, sein Schicksal bleibt dennoch unentschieden. Der Kamin ähnelt daher einer Leerstelle, die eine Ergänzung erfordert – er bietet einen Freiraum an, der zum Weitererzählen und Neuinterpretieren einlädt. Im Kamin wird der Komet am öffentlichen Erscheinen gehindert. Zugleich bringt der Kamin den Himmelskörper aber wörtlich zum Aufleuchten, denn der Komet schläft dort „seinen leuchtenden Schlaf“, umflossen „von strahlendem Licht wie von Neongas“ (S 328). Der Kamin schafft sozusagen die optimalen Umstände, damit sich der Komet auf eine andere Weise präsentiert. Im Kamin ähnelt er einem Kunstwerk,

273 Hier sei auch an Maurice Blanchots Bemerkung zum literarischen Raum erinnert, der „nicht mehr in der Präsenz eines Ortes“ zu denken ist. Marco Gutjahr, „Randbemerkungen zu Blanchots Der literarische Raum“, in Maurice Blanchot, Der literarische Raum, übers. v. Marco Gutjahr u. Jonas Hock, Zürich 2012, 321.

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weil er „das Objekt eines anderen Erscheinens“ ist, um auf Martin Seels Abhandlung ­Ästhetik des Erscheinens (2003) zurückzugreifen.274 Zudem verbindet der Komet zwei Eigenschaften in sich, das Demonstrieren und das Imaginieren, die laut Seel ausschlaggebend für die Definition des Kunstwerks sind. Der Komet ist nämlich „ein sinnliches Objekt“, sogar ein lebendiges Wesen, das „die interpretierende und imaginierende Erschließung“ in Gang setzt.275 Auch die Tatsache, dass der Komet erst im Kamin aufleuchtet, ist nicht ohne Bedeutung. Diese Verbindung könnte man mit Seels Begrifflichkeiten – die er im Übrigen von Walter Benjamin und Theodor W. Adorno übernimmt – eine „konstellative Darbietung“ nennen, also eine einmalige Konfiguration, die das Kunstwerk ausmacht, seine Wahrnehmung und sein Erscheinen ermöglicht.276 Das phantastische Ereignis in Schulz’ Erzählung scheint metaphorisch die Wirkungskraft der Kunst auszudrücken, denn es erweitert – Seel paraphrasierend – „die menschliche Welt um Welten einer unwahrscheinlichen Erfahrung“ und lädt „die menschliche Wahrnehmung mit ungeahnten Energien“ auf.277 Im Kamin verbinden sich wie in einer alchemistischen Retorte symbolisch zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen. Zum einen steht er für die Einbildungskraft; es gibt dort nichts, nur einen leeren Raum für die Phantasie, der sich dann zu einem Wohnsitz des Kometen verwandelt: „Dort war es dunkel, rußig-still und heimelig wie im innersten Kern des Nichts, und warme Ströme wanderten hinauf und hinab“ (S 313). Das Motiv des Kamins drückt ein Lob der Imagination aus, aber ohne Pflicht zur ­Kreativität. Nicht der Vater entdeckt die sich im Kamin abspielenden Wunder, sondern der Kamin eröffnet sie ihm: „Was kann uns der eigene vertraute Kamin nicht alles ­erschließen!“ (S 326). Zum anderen ist es „unser Kamin“, er ist uns „vertraut“, deshalb steht er auch für das Nahe und Alltägliche – also für das, was man gerade nicht mit dem Phantasievollen verbindet. Darin kann man eine Art von Aufwertung des Alltags und der alltäglichen Erfahrung sehen, ohne Genieästhetik und Apotheose des ­Schreibens. Sich in den Alltag hineinhören und der Imagination freien Lauf lassen – das sind Schulz’ Postulate für die Literatur, wenn man den Kometen im Kamin als Metapher der Schrift und des literarischen Schreibens versteht. In dieser Schreibkonzeption gleicht die Literatur einem Laboratorium: Sie ist ein experimenteller Raum wie ein Reagenzglas der Alchemisten, in dem man versuchen kann, das scheinbar Unvereinbare zu vereinen, das Inkohärente zusammenzubringen oder – wie es Wolfgang Iser in Bezug auf die Funktionen der Literatur formuliert – das Unüberbrückbare zu überbrücken (engl. bridging the unbridgeable).278 Dieser Prozess bleibt bei Schulz unvollendet: Der

274 Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, 172. 275 Ebd., 188. An dieser Stelle beruft sich Seel auf Paul Valéry. 276 Ebd., 157. 277 Ebd., 215. 278 Wolfgang Iser, Prospecting: From Reader Response to Literary Anthropology, Baltimore 1993, 213.



Ein Beispiel für Rewriting: Maxim Billers Novelle Im Kopf von Bruno Schulz 

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Komet wächst im Kamin und verweist auf eine mögliche Versöhnung, die als ein nie zu ­erfüllendes und daher verführerisches Versprechen einer Überschreitung zu denken ist. In diesem Ausblick auf eine Weiterentwicklung, in der Möglichkeit einer zukünftigen Versöhnung und Aufhebung aller Dualismen, Ambivalenzen und Paradoxa schwingt auch eine Reflexion über Kunst mit. Der liebliche Anblick des kleinen Homunculus im Schlaf, mit dem Schulz’ Erzählung endet, drückt die Verheißung einer glücklichen Zukunft aus, was auf die Kunstauffassung übertragen werden kann. Auch Theodor W. Adorno spricht in seiner Ästhetischen Theorie (1970) mit Stendhals Worten von der promesse du bonheur, dem Glücksversprechen der Kunst.279 Dieses Glücksversprechen ist keine Utopie, sondern eine Negation der bestehenden Sachverhalte. Die Kunst sagt nein zu Gegenwart und Mode, von denen sich auch Schulz’ Komet während des Wettlaufs abwendet. Er keimt dann als Lebensknospe im Kamin, zusammen mit Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.

2.5 E  in Beispiel für Rewriting: Maxim Billers Novelle Im Kopf von Bruno Schulz Nach den Ausführungen über Schulz’ Schreib- und Künstlerkonzeption möchte ich einen Blick auf die gegenwärtige künstlerische Rezeption werfen. Wie setzen sich Autoren der Gegenwart mit diesen Texten der Moderne auseinander? Welche verführe­ rische Kraft hat diese Literatur heutzutage? Diese Fragen möchte ich am Beispiel von Maxim Billers Novelle Im Kopf von Bruno Schulz (2013) beantworten, die sich als Re­ writing, also als Neu- und Umschreiben, betrachten lässt. Eine solche Erweiterung des Forschungsfeldes kann vor Augen führen, dass die Prosa der Moderne nach wie vor ein inspirierendes Kapitel der Literaturgeschichte ist. Zunächst ein paar Worte zur Kontextualisierung: Maxim Biller – 1960 in Prag in eine russisch-jüdische Familie geboren, als Zehnjähriger nach Westdeutschland umgesiedelt – ist Autor mehrerer Romane und Erzählungen, Essayist, Feuilletonist und streitbarer Literaturkritiker. In seinem Schaffen konzentriert er sich auf Fragen der ­jüdischen Identität in der Gegenwart. Sein Romandebüt Wenn ich einmal reich und tot bin (1990) feierte die Presse als Wiederbelebung einer deutschsprachigen jüdischen Literatur. Der Protagonist seiner 2013 erschienenen Novelle ist Bruno Schulz. Damit fügt sich das Werk in eine ganze Reihe literarischer Fiktionen, in denen Schulz bzw. seine Manuskripte in der Hauptrolle auftreten. Zu den bekanntesten Texten dieser Art gehören die Romane Un uomo che forse si chiamava Schulz (1998) des italienischen Schriftstellers Ugo Riccarelli oder Stichwort: Liebe (1991) von David Grossman. Im Buch des Letztgenannten kommt Schulz nicht 1942 ums Leben, sondern fährt nach Danzig an die

279 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 2003, 461.

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Ostsee und verwandelt sich in einen Salm, der mit einem Fischschwarm durch die Weiten des Atlantiks schwimmt. Zu erwähnen wären weiterhin Cynthia Ozicks Roman The Messiah of Stockholm (1987), der mit Zügen einer Krimihandlung das Rätsel des verschollenen Messias-Romans von Schulz zum Thema nimmt, sowie der Briefroman Ćilibar, med, osorusa (2001) des serbischen Autors Mirko Demić, der aus fiktiven Liebesbriefen von Schulz an eine geheimnisvolle Geliebte besteht. Auch Biller konzentriert sich auf das Motiv des verlorenen Manuskripts. Ausgangspunkt der Handlung ist ein angeblich an Thomas Mann gesandter Brief, den Schulz vor dem Zweiten Weltkrieg – zusammen mit seiner einzigen auf Deutsch geschriebenen Erzählung Die Heimkehr – nach Zürich geschickt haben soll. In der Forschungs­ literatur gilt dieser Brief als nicht eindeutig nachweisbar, unbestritten hingegen ist Schulz’ Faszination für die Werke Thomas Manns. Zu den intertextuellen Anspielungen auf die Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder liegen mehrere Untersuchungen vor, manche Interpreten, Jerzy Jarzębski etwa, gehen noch einen Schritt weiter und suchen nach wechselseitigen Inspirationen. So vertritt Jarzębski die Auffassung, dass nicht nur Schulz sich für Mann begeistert habe, sondern auch Mann von Schulz hätte inspiriert sein können. Als Beleg führt Jarzębski die Ähnlichkeit zwischen der Figur des Vaters von Adrian Leverkühn im Doktor Faustus (1947) und dem Vater in Schulz’ Erzählungen an. Dieser Befund spreche dafür, dass Mann wohl doch das Manuskript der Erzählung Heimkehr gelesen und damit Zugang zu wesentlichen Motiven der schulzschen Prosa gefunden habe.280 Im Folgenden werde ich mich zunächst der Intertextualität in Billers Werk widmen. Im zweiten Teil versuche ich die Frage zu beantworten, welche Neuinterpretation die schulzsche Poetik in der Novelle erfährt. Bei der Analyse steht unter anderem die Strategie der Verführung im Brennpunkt des Interesses. Auch das Motiv der unkritischen Faszination der Kultur wird hervorgehoben, bei dessen Ausarbeitung sich die Bezeichnung von Wolf Lepenies German seduction als besonders hilfreich erweist. Abschließend möchte ich das Thema Erinnerung in der Novelle erörtern, das ich unter anderem mit Walter Benjamins Konzeption des Eingedenkens und der kleinen Ver­ rückung lese, da die Erinnerung auch bei Biller als endloser Prozess einer Entstellung erscheint, der stets offen bleibt für alternative Abläufe der Vergangenheit.

280 Jerzy Jarzębski, „Tomasz Mann“, in Włodzimierz Bolecki, Jerzy Jarzębski, Stanisław Rosiek (Hg.), Słownik schulzowski, 200. Am Rande sei noch angemerkt, dass die Spekulationen über den möglicherweise verschollenen Brief neue Impulse erfuhren, als 2013 im Thomas Mann-Archiv in Zürich „zufällig“ und in der Atmosphäre eines Skandals Dutzende von Kisten Katja Manns gefunden wurden, die Tausende von bisher unveröffentlichten Briefen enthielten (u. a. von Hermann Hesse, Lion Feuchtwanger oder Bruno Walter). Dieser „Fund“ forderte geradezu eine künstlerische In(ter)vention heraus.



Ein Beispiel für Rewriting: Maxim Billers Novelle Im Kopf von Bruno Schulz 

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2.5.1 Intertextuelles Spiel mit dem Werk von Schulz Billers Text hat die Form einer klassischen Novelle, in der sich die Handlung linear entwickelt und die Spannung schrittweise gesteigert wird. Der Beginn der Novelle – eine detailreiche Prosa im Duktus realistischen Erzählens – mutet eher unspektakulär an: Billers Schulz grübelt, welche Anredeform einem Nobelpreisträger angemessen sei. Schon in diesen ersten Absätzen treten die zwei verflochtenen Perspektiven zu Tage: Den schreibenden Ich-Erzähler Schulz kommentiert und ergänzt eine auktoriale Erzählinstanz. Dank diesem Perspektivenwechsel erhalten die Lesenden ein recht ­genaues Porträt des Schriftstellers. So erfahren sie etwas über Schulz’ Studium in ­Lemberg und Wien, über seine Arbeit als Lehrer am Gymnasium in Drohobytsch, seine sehr guten Deutschkenntnisse werden erwähnt, die Atmosphäre seines Elternhauses kommt zur Sprache, Momente seiner Kindheit scheinen auf, ebenso wird geschildert, dass er aufgrund des Todes des Vaters und – einige Jahre später – der Mutter materielle Pflichten übernehmen musste, insbesondere sorgte er für seine verwitwete Schwester und deren Kinder. Weiterhin werden bedeutende Stationen seines Lebens angeführt, etwa die Auflösung der Verlobung mit Józefina Szelińska, die Kafkas Roman Der Pro­ ceß ins Polnische übersetzte, wofür Schulz zu Marketingzwecken seinen Namen zur Verfügung stellte – oder die Auszeichnung mit dem Preis der Polnischen Akademie für Literatur. Auch einzelne Texte von Schulz finden Erwähnung, so der Traktat über die Schneiderpuppen oder der verschollene Roman Mesjasz [Der Messias], an dem Billers Protagonist im Zuge der Novellenhandlung zu arbeiten plant. Ferner wiederholt Biller einige Aspekte, die das weithin verbreitete Bild von Schulz als Künstler prägten. So ist beispielsweise die Rede von seiner Idealisierung der Kindheit und seinem zwiespältigen Verhältnis zum Judentum – in diesem Zusammenhang heißt es, dass literarische Figuren wie Malte Laurids Brigge oder Gustav von Aschenbach ihn mehr angesprochen hätten als die Religion. Hinzu kommt noch das Motiv des Sadomasochismus, nicht nur in Bezug auf die Erotik: Der Künstler kristallisiert sich bei Biller als Subjekt heraus, das zum einen schwach und fügsam, zum anderen narzisstisch ist und durchaus von perversen Wünschen verfolgt wird. Die Hassliebe zu seiner Heimatstadt Drohobytsch, die Schulz – nicht zuletzt der materiellen Situation wegen – gefangen hält, während er zugleich von europäischen Metropolen träumt, vervollständigt das Bild. Doch strebt die Novelle keine detailgetreue Rekonstruktion der Biographie an. Vielmehr steigt die Spannung im Text in dem Maße, in dem die zunächst realistische Darstellung mehr und mehr einer bedrückenden Deformation unterliegt. Dieses Verfahren entspricht dem Motto der Novelle – es ist ein Zitat aus Samuel Joseph Agnons Erzählung Und das Krumme wird gerade (1912): „Gelobt sei, der seltsame Wesen schafft.“281 Die Untersuchung von Billers Anspielungen auf das Werk von Agnon,

281 Maxim Biller, Im Kopf von Bruno Schulz, Köln 2013, 5. Samuel Joseph Agnon (eigtl. Szmuel Josef Czaczkes, 1888–1970), geb. im galizischen Buczacz, erhielt 1966 zusammen mit Nelly Sachs als e­ rster

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Schulz’ Zeitgenossen aus Galizien, könnte ein Thema für eine weitere Studie sein, an dieser Stelle sei nur Folgendes angemerkt: Der Protagonist der Erzählung Und das Krumme wird gerade, Menascheh Chajim, kehrt nach langjähriger Abwesenheit nach Hause zurück, in seiner Stadt erkennt ihn aber niemand, nicht einmal seine Ehefrau, die inzwischen einen anderen Mann geheiratet und ein Kind bekommen hat – alle halten ihn für tot. Das Motiv der Heimkehr (seit Homers Odyssee als Nostos genannt) und des scheinbaren bzw. vorgetäuschten Todes taucht zwar häufig in der Literatur auf – etwa in Texten wie Der lebende Leichnam (1900) von Tolstoj, Mattia Pascal (1904) von Pirandello oder Die Amsel (1936) von Musil –, in Agnons Text ist aber der Epilog der Erzählung einzigartig. Chajim beschließt, sich nicht zu erkennen zu geben, um das Glück der anderen nicht zu zerstören, er geht fort und irrt ziellos über Friedhöfe. Erstaunlich ist sein Verhältnis zu den traumatischen Erlebnissen. Chajim, der seinen nahen Tod vorahnt, „weint und lacht“, „wischt seine Tränen ab und presst sein Lachen nieder“.282 Trotz der unglücklichen Ereignisse verliert er seinen Glauben nicht und akzeptiert das eigene Schicksal, rezitiert voller Hoffnung Psalmen und überlegt sich, ob „es möglich wäre, dass die Geschichte nicht geschehen wäre“.283 Genau dieser tragikomische Gedanke an einen alternativen Ablauf der Geschichte scheint das Hauptthema der Novelle von Biller zu sein. Billers Schulz erzählt in seinem Brief an Thomas Mann eine Geschichte, die nach und nach immer unheimlicher wird. Ganz ähnliche Geschichten soll Schulz – den Erinnerungen seiner Schüler nach – in den Unterrichtsstunden erzählt haben, wenn er die Aufmerksamkeit der Klasse zu gewinnen versuchte. Eine ähnliche Episode finden wir auch in der Erzählung Die Zimtläden, in der der Ich-Erzähler nach einem schlafwandlerischen Spaziergang durch die Stadt zur Schule gelangt, wo Professor Arendt bis spät in die Nacht fakultativen Unterricht abhält und „seine Phantasien [weiterführt]“ (Z 119). Biller setzt denselben Kunstgriff ein: Sein Schulz in der Novelle möchte mit seiner Geschichte das Interesse des Adressaten wecken und ihn bei der Gelegenheit um Hilfe bei der Veröffentlichung seiner Werke im Ausland bitten. Scheinbar

Schriftsteller des Hebräischen den Literaturnobelpreis. 1908 emigrierte er nach Palästina, begab sich dann nach Deutschland, um nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Berlin und Bad Homburg nach Jerusalem zurückzukehren. Nahezu sein gesamtes Schaffen ist geprägt von der Welt des Schtetls und den mit dieser Lebenswelt verbundenen Formen der Gelehrsamkeit. Der von Biller zitierte Satz stammt aus einem seiner ersten Werke – aus der bereits in Jaffa geschriebenen Erzählung, die direkt nach dem Umzug nach Palästina entstand und 1912 als We-haja he-akow le-mischor veröffentlicht wurde. Auf Deutsch erschien das Buch schon im Jahr 1918. Der Titel bezieht sich auf den bekannten Bibelvers: „Was krumm ist, soll gerade werden, und was hügelig ist, werde eben“ (Jesaja 40, 4). In der deutschen Übersetzung konnte ich das von Biller angeführte Zitat in voller Länge nicht finden – doch ist Agnons Text in einem biblischen Stil geschrieben, und Wendungen wie „gelobt sei …“ wiederholen sich mehrfach. 282 Samuel Agnon, Und das Krumme wird gerade, übers. v. Max Strauß, Berlin 1918, 148. 283 Ebd., 152.



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­ erichtet er sachlich über merkwürdige Ereignisse in seiner Heimatstadt, doch geht b der Bericht fließend ins Phantastische über. Auch sind die Geschichten keineswegs harmlos, sie enthalten Momente des Unheimlichen, ja sie muten geradezu apoka­ lyptisch an. Die Grenzen zwischen dem Möglichen, Wahrscheinlichen und Irrealen verschwimmen. Billers Konzept scheint darin zu bestehen, die Anziehungskraft des ­Erzählens an sich auf mehreren Ebenen zur Entfaltung zu bringen und vor Augen zu führen. Die Geschichte, die Schulz Thomas Mann erzählt, ist folgendermaßen konstruiert: In Drohobytsch ist ein Fremder aufgetaucht, der sich als Thomas Mann vorstellt. Da alle im Städtchen den Autor des Romans Der Zauberberg nur von Fotografien in der Presse kennen, halten sie den Ankömmling für das Original. Dem Autor des Briefes aber kommt die Sache von Anfang an verdächtig vor. Auffällig sind der schwarze Humor sowie die traumhaft groteske Stimmung, die an surrealistische Filme oder eben an Schulz’ Erzählungen erinnert. Doch Biller versucht nicht die Atmosphäre der schulzschen Prosa schlicht wiederzugeben, vielmehr jongliert er geschickt mit ihren Motiven, deren Enträtselung den Lesenden einiges Vergnügen bereitet. Sofort fällt die Enge der Räume ins Auge, die meist im Halbdunkel liegen und deren Maße sich nicht genau bestimmen lassen. Schulz’ Arbeitszimmer, in dem der Brief entsteht, befindet sich im Keller unter der Küche. Durch das kleine Fenster unter der Decke sieht er die Straße. Er blickt sozusagen von unten auf die Welt – er schaut zu „dem schmalen, verschmutzten Oberlicht hinauf, vor dem immer wieder Schuhe und Beine, Schirmspitzen und Rocksäume der auf der Florianskastraße vorbeigehenden Passanten“ auftauchen.284 Der Kellerraum ist vollgestopft mit Gegenständen. Überall liegen Papiere verstreut, an den Wänden hängen Zeichnungen. Die Möbel sind zu klein und stehen ungünstig im Zimmer, Schulz stößt immer wieder gegen sie. Den Brief schreibt er auf dem Boden sitzend. Der Raum ist unberechenbar, als wäre er lebendig, der Protagonist hat das Gefühl, „als würden gleich aus den Wänden um ihn herum große, schwarze Echsen und böse grinsende, schielende, petrolgrüne Schlangen herauskriechen.“285 Auch die Einrichtungsgegenstände zeichnen sich durch ein seltsames Eigenleben aus. Das Sofa kann zum Beispiel, nachdem es „einen kleinen Klaps“ bekommen hat, aus dem Wohnzimmer in die Bibliothek trippeln.286 Doch sind dies nicht nur Eigenheiten des Hauses, in dem der Protagonist wohnt. Während der Lesung des angeblichen Doppelgängers von Thomas Mann in einer ­Apotheke machen es sich die Zuhörer „in vielen kleinen Schubladen und Fächern“ b ­ equem.287 Das erinnert an die Gehilfen aus Schulz’ Erzählungen, die im Laden des

284 Maxim Biller, Im Kopf von Bruno Schulz, 7. 285 Ebd., 9. 286 Ebd., 43. 287 Ebd., 49.

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Vaters „auf den Tuchballen [herumkugeln], auf den Regalen Stoffzelte [aufschlagen] und in den Faltenbahnen [schaukeln]“ (S 170). Dass der Protagonist nicht in der Lage ist, die exakten Dimensionen seiner Umgebung zu erfassen, geht mit einer beunruhigenden Vorahnung einher – dem Gefühl eines herannahenden Unheils. Hier handelt es sich weder um rhetorisches Pathos noch um ein romantisch inszeniertes Grauen, sondern um das verhängnisvolle Aufziehen einer ebenso realen wie unvermeidbaren Katastrophe. Zu den auffälligen Anspielungen auf das Schaffen von Schulz gehören sicherlich auch die Tiermotive. Neben zahlreichen Vergleichen (z. B. rollt der Bleistift auf dem Boden „wie eine ängstliche Maus“) sind auch konkrete Verkörperungen zu finden. So ähneln etwa die Schüler Tauben, denn „statt zu zeichnen und ihre Rechenaufgaben zu machen, [sitzen sie] meist gurrend und pickend auf den Dächern der Häuser, oder sie umkreisen stundenlang den Rathausturm“.288 Das Motiv der Vögel – bzw. auch die damit verbundenen Momente einer Plage (Federn, Exkremente) – kehrt ebenso wieder wie die Metamorphose. Schulz, der sich beim Verfassen des Briefes auf dem Boden windet, verwandelt sich in einen Hund. Er knurrt statt zu sprechen, verliert „die Fähigkeit, aufrecht zu stehen“ und bewegt sich auf vier Beinen.289 Seine Verwandlung ist jedoch nicht irreversibel. Die zeitweiligen Metamorphosen verlaufen fließend und ähneln in ihrer liquiden Form dem Zustand jener rätselhaften Figur, die der Ich-Erzähler im Sanatorium zur Sanduhr trifft: „Es war ein Hund – zweifellos, aber in mensch­ licher Gestalt. Die Beschaffenheit des Hundes ist eine innere Eigenschaft und kann sich genauso gut in menschlicher wie in tierischer Gestalt manifestieren“ (S 219). Ein ganzes Repertoire von Figuren ist zu finden, die sich auf Schulz’ Prosa und Zeichnungen beziehen. In diesem Kontext wären vor allem die Frauengestalten hervorzuheben. Helena, die Sport- und Philosophielehrerin am Gymnasium, das Objekt der sadomasochistischen Phantasien von Billers Schulz, ist eine Kompilation kurioser Personen, von denen der Ich-Erzähler in Schulz’ Erzählung Das Buch aus den Papierfetzen erfährt. Helena scheint die Eigenschaften von Anna Csillag, „der Apostelin der Behaarung“ und Erfinderin eines Wundermittels für Haarwachstum (S 15), und der Domina Magda Wang zu verbinden, die „auf die Prinzipien der Männer [pfeift]“ und über mancherlei Erfahrungen „auf dem Gebiet der Menschendressur“ verfügt (S 21). Billers Helena ist „klein, athletisch und im Gesicht behaart wie eine kluge BonoboDame“290 – und sie hat „übel riechende Sägespäne“ in den „stinkenden, struppigen Haaren“.291 Der Protagonist begehrt sie auf eigentümliche Weise – er ist gleichermaßen begeistert wie entsetzt. Einen anderen Typus der Weiblichkeit repräsentiert in der ­Novelle die Schwester von Schulz, die sich um den Haushalt kümmert. Sie verkörpert

288 Ebd., 28. 289 Ebd., 30. 290 Ebd., 10. 291 Ebd., 54.



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jedoch nicht nur Wärme und Mütterlichkeit, sie birgt in sich auch das Moment des Wahnsinns. Nach dem Selbstmord ihres Mannes ist sie tief traumatisiert: Feierlich angezogen wartet sie Tag und Nacht auf die Rückkehr des Gatten und stellt sich vor, dass er auf einer Dienstreise sei. Sie entdeckt die „Wonnen des Unwirklichen“292, ähnlich der Mutter in der Erzählung Die Kakerlaken, die behauptet, dass der Vater sich nicht in einen Kondor verwandelt habe, sondern „als Commis voyageur durch das Land reist“ (Z 156). So kommen auch in der Novelle die phantastische Figur des Vaters Jakub und der Mutter vor, die zwar kein Verständnis für die väterlichen Eskapaden hat, sich aber liebevoll um ihn kümmert, damit er in seiner magischen Welt leben kann. Ferner tauchen das Dienstmädchen Adela, der Hund Nimrod und Doktor Franck in der N ­ ovelle auf. Letzterer gilt im Städtchen, ähnlich wie die schwachsinnige Tłuja in Schulzʼ E ­ rzählung August, als verrückt. Nach einem religiösen Erweckungserlebnis schließt Doktor Franck seine Arztpraxis und wendet sich dem orthodoxen Judentum zu. Seitdem sitzt er auf einer Bank am Bahnhof und betet. Er erinnert an die Darstellungen gläubiger Juden in Schulz’ Erzählungen und Zeichnungen – die würdigen „Männer des Hohen Rates“, wie sie in den Zimtläden genannt werden, die „in farbigen Kaftanen und mit breitkrempigen Pelzhüten auf dem Kopf […] zurückhaltende, diplomatische Gespräche“ führen (Z 183). Biller legt großen Wert auf Details. So finden sich in seiner Novelle Adelas Staubwedel, das Schatzkästchen oder die Droschke. Doch spielt er nicht nur auf einzelne Motive bei Schulz an, auch stilistische Eigenheiten fallen auf, insbesondere die Plastizität und Sinnlichkeit der Beschreibungen. In der Darstellung der Physiognomie des Protagonisten sind die Züge schulzscher Selbstportraits zu finden. Somit stellt sich auch das graphische Werk als Bezugsfeld der Novelle dar. Mehrfach kommen kurze Ekphrasen von Skizzen vor, die entweder an den Wänden im Kellerraum hängen oder dem Protagonisten als Erinnerungen durch den Sinn gehen. Diese Anspielungen ergänzen die Handlung, dienen mitunter als Kommentar oder zur Visualisierung einzelner Ereignisse. Die Bildebene ist zudem selbst präsent: Das Buch enthält sechs Zeichnungen von Schulz, die die Überschreitung der Grenze zwischen Text und Bild – eines der wichtigsten Elemente der schulzschen Kunstauffassung – verdeutlichen. Die Bildhaftigkeit des Textes von Biller und die Dichte seiner Bezugnahmen verleihen dem Text besondere Dynamik. Wenn Schulz den Brief verfasst, krümmt er sich in Krämpfen, packt mit weit abgewinkelten Ellenbogen seinen Kopf, bedeckt seine Ohren mit den Händen, nimmt verschiedene Haltungen ein, schaut in den Spiegel, beginnt plötzlich, sich selbst zu zeichnen. Sein Verhalten erinnert an die Ekstasen des Ich-Erzählers beim Zeichnen in der Erzählung Die geniale Epoche, der „hastig, in Panik, kreuz und quer, über die bedruckten und beschriebenen Seiten“ skizziert, seine „Buntstifte […] im Fieber über die Kolumnen unleserlicher Texte“ fliegen und sie „in genialem Gekritzel, in halsbrecherischen Zickzacklinien“ dahinlaufen lässt (S 32). Der von Biller dargestellte

292 Ebd., 27.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

Schreibakt erinnert auch an die Anstrengungen des Vaters, der in der Erzählung Edzio den Brief an „Chrystian Seipel und Söhne, mechanische Spinnereien und Webereien“ (S 242), mit vollem Körpereinsatz verfasst: Immer wieder springt er vom Tisch auf, läuft im Zimmer herum und zerrauft sich mit beiden Händen das Haar, und wenn er so im Kreise läuft, dann kommt es vor, daß er im Vorbeieilen in die Wand übergeht, er rast an den Tapeten entlang, wie eine riesige, schemenhafte Schnake, stößt schillernd an die Arabesken der Muster an der Wand und vollendet auf dem Boden seinen entrückten Rundumlauf. (S 242)

Biller konzentriert sich bei der Charakteristik der Gesten des Protagonisten auf die Beschreibung des Manuskriptes: Schulz kritzelt unermüdlich „winzige, violette Striche, Kringel und Häkchen“.293 Seine Handschrift sieht eher wie eine Zeichnung aus, sie wirkt, als wäre sie – um ein weiteres Zitat aus einer Erzählung von Schulz zu gebrauchen – „halb Text, halb Bild, mit vielen Streichungen, Korrekturen und Gekritzel“ (S 242). Am Rande noch eine Anmerkung zur Sprache der Novelle. Biller geht nicht epigonenhaft vor, er entwickelt einen originellen Sprachstil. Dabei scheint er sich ähnlicher sprachlicher Assoziationen wie Schulz zu bedienen bzw. er spielt „augenzwinkernd“ auf diese an. Er bemüht sich nicht, den schulzschen Sprachduktus mit seiner Buntheit und barocken Üppigkeit nachzuahmen, seinem Text fehlen die rhetorischen Schnörkel und die endlos wuchernden Sätze. Biller ahmt also nicht die Ästhetik der Über­ treibung und des Überflusses nach, die bei Schulz häufig an der Grenze der sprach­ lichen Korrektheit oszilliert. Sein Stil ist eher minimalistisch, doch durchweben den Text zahlreiche Formulierungen, die auf Schulz’ Werke verweisen. So verwendet Biller veraltetes Vokabular (z. B. „Kontorstuhl“)294 und spezifische Bilder, die als öster­ reichisch-galizisch konnotiert gelten dürfen, etwa das „Biedermeiercanapé mit rie­ sigen Geierfüßen und -krallen“.295 Außerdem spielt Biller mit Momenten des Exo­ tischen („Bonobo-Dame“, „Archaeopteryxflügel“, „Krakenarmee“). Auffällig sind ferner die Fachtermini aus dem Bereich der Architektur („Portikus des Stadtparks“), die Schulz – als ehemaliger Student dieses Studiengangs – immer wieder in seine ­Erzählungen einfließen ließ.

2.5.2 Kultur und German seduction Was bietet die Novelle an Neuem auf der literarischen, künstlerischen oder faktographischen Ebene an, abgesehen vom bereits beschriebenen intertextuellen Spiel mit

293 Ebd., 44. 294 Ebd., 44. 295 Ebd., 43.



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Schulz’ Prosa? Was trägt der Text zum bestehenden Wissen über den Künstler aus Drohobytsch und sein Schaffen bei? Welche neuen Bedeutungen oder „Kurzschlüsse des Sinns“ (Z 194) – um die Formulierung aus Schulz’ Essay Die Mythisierung der Wirk­ lichkeit zu gebrauchen – bringt Billers Werk hervor? Zum einen versucht Biller, wie oben dargelegt, die Welt der schulzschen Erzählungen sorgfältig zu rekonstruieren. Zum anderen deformiert er sie auch, indem er andere ästhetische Mittel einsetzt. Auffällig vor allem ist das Fehlen der für Schulz so typischen arabesken Ornamentik. Mit anderen Worten: In der Novelle scheint die Atmosphäre ekstatischer Schöpfung verschwunden zu sein. Bei Biller ist nichts mehr zu spüren vom verführerischen Zauber der pulsierenden Materie. Die Dinge haben ihren Glanz verloren. Das bedeutet aber nicht, dass damit auch alle Raffinesse verloren ist. Die schulzschen Andeutungen und Ellipsen ersetzt Biller zwar durch eine gewisse Deftigkeit. „Das träge und liederliche Fluidum der Sünde“ (S 146), das über der Krokodilstraße schwebt, nimmt beispielsweise die konkrete Form eines Bordells an, und statt der geheimnisvollen Zimtläden kommen in der Novelle Erotikshops vor, die sich „hinter dem Marktplatz“ befinden und „immer nur am späten Abend für einige Stunden öffneten und manchmal auch das nicht.“296 Doch wäre es verfehlt, hier von einer Banalisierung zu sprechen. Die Subtilitäten der Prosa von Schulz überträgt Biller auf eine andere Ebene, indem er eine düstere Atmosphäre aufbaut – die Vorahnung der Katastrophe. Dies ist der entscheidende Punkt, der ihn von Schulz unterscheidet und der ihm sozusagen das Recht auf literarische Freiheit gibt – auf eine Entstaltung und Ergänzung seiner Prosa. In Schulz’ Erzählungen laufen, wie Jerzy Jarzębski bemerkt, alle selt­ samen und phantastischen Beschreibungen auf ein harmonisches Ende hin, auf Bilder der Affirmation und einer versöhnlichen Ordnung. Adela mahlt den Kaffee in einer Mühle, die Katze putzt sich in der Sonne – so endet der Band Die Zimtläden.297 Nach Billers Verständnis ist eine Fortsetzung dieser Erzähltradition nach der Shoah nicht mehr möglich. Seine Novelle durchzieht von Anfang an eine düstere Atmosphäre der Katastrophe. Das Zimmer des Protagonisten ist kein buntes Vogelkönigreich, wie es der Vater in der Erzählung Die Vögel auf dem Dachboden gründet, sondern ein dunkler Kellerraum. Und dieser wird auch nicht von einer prächtigen „Melusinen-Lampe“ oder von Kronleuchtern und Kandelabern erhellt, wie sie im Traktat über die Schnei­ derpuppen. Schluss am Deckengebälk aufgehängt sind. Das Licht in Billers Novelle ist stets gedämpft und schwach – an Schulz’ Schreibtisch steht eine „kalte, deutsche Lampe, deren schwarzer Metallschirm auch nach Jahren so glänzte wie polierte Kavalleristenstiefel“.298 Statt des affirmativen Erstaunens über die Welt empfindet Billers Schulz vor allem große Traurigkeit und Angst, ja letzteres Gefühl wird schließlich

296 Ebd., 13 f. 297 Jerzy Jarzębski, „Schulz – ironiczny ład i dyskurs uwodzicielski“, 25–31. 298 Maxim Biller, Im Kopf von Bruno Schulz, 44.

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 Verführung als epistemologische Metapher in Musils und Schulz’ Erzählungen

zu einem ständigen Begleiter, die Hauptfigur der Novelle wendet sich gar an den „grauen, warmen Klumpen Angst“, der sich immer wieder in seinem Bauch dreht.299 Die Vorahnung der Vernichtung drückt sich auch in der zeitlichen Konstruktion der Novelle aus. Sie beginnt mit einer konkreten Raum-Zeit-Verortung: Die Handlung setzt im November 1938 in Drohobytsch ein – an einem Herbsttag, der so überraschend warm ist wie jener in Schulz’ Erzählung Der andere Herbst. Die präzise Lokalisierung in Zeit und Raum – die im Subtext die Erinnerung sowohl an die Novemberpogrome (November 1938) als auch an die Ermordung von Bruno Schulz (November 1942) aufruft – wird aber bald relativiert und driftet in eine Sphäre des Unbestimmten ab. Der Erzähler bemüht sich nicht mehr, den Schein einer Normalität zu wahren, er ist sich des kommenden Krieges bewusst, er weiß von der Shoah, weiß davon, dass Schulz’ Tod bevorsteht. Die Perspektiven vor und nach der Katastrophe überschneiden sich, auch die Figuren handeln manchmal so, als wüssten sie, was die nahe Zukunft bringen wird. Die Schwester von Schulz hofft beispielsweise, „es bleibe von ihr und ihm und den Kindern und Jankel mehr übrig als ein bisschen Asche und das, was Bruno über sie in seinen beiden Büchern geschrieben habe“.300 Auch Bruno scheint sich darüber im Klaren zu sein, was bald geschehen wird. Im Brief an Thomas Mann notiert er, dass „wir sowieso alle verloren sind und Gott für jeden von uns ein anderes Ende vorhergesehen hat“.301 Die Handlungszeit wird damit sozusagen aufgehoben; die Geschehnisse spielen sich gewissermaßen in einer Jetztzeit ab, auf die der Schatten der künftigen Katastrophe fällt. Anders ausgedrückt: Alle – der Erzähler wie die Protagonisten – wissen von Anfang an, dass Schulz bald ums Leben kommen wird. Die Komposition der Erzählung soll die Rezipienten in eine andere Zeitdimension versetzen. Auf ähnliche Weise versucht Doktor Gotard im Sanatorium zur Sanduhr, die „Vergangenheit mit all ihren Möglichkeiten“ (S 191) zu reaktivieren, die Zeit zurückzustellen und die unvermeidliche Abfolge der Ereignisse aufzuhalten. Doch gewinnt in der Novelle die unbestimmte Zeit weder allegorische noch mythische Bedeutungen. Sie ist – nicht unähnlich der Zeit im Sanatorium zur Sanduhr – etwas „abgenutzt“. Vor allem aber ist sie durchlöchert von Geschichtsbewusstsein. Die vorausweisenden Andeutungen, die die Nähe zur Welt der schulzschen Erzählungen suchen, sind auch durchaus nicht so unpassend, wie es in den Anfangsszenen der Novelle scheinen mag. Biller spürt die Vorahnung der Katastrophe in Schulz’ Texten auf und entfaltet die Vorstellung von der Vernichtung in Anlehnung an seine eigene Einbildungskraft. Er greift bestimmte Motive auf, wiederholt sie und verschiebt dabei die Akzente, um ihnen eine unheilverkündende Bedeutung zu verleihen. Bei der Beschreibung der Zeichnungen, die im Kellerraum verstreut liegen bzw. an den Wänden hängen – sie erinnern an Schulz’ graphisches Werk Das Götzenbuch –, hebt der

299 Edd., 42. 300 Ebd., 23. 301 Ebd., 53.



Ein Beispiel für Rewriting: Maxim Billers Novelle Im Kopf von Bruno Schulz 

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Erzähler die kleinen, nackten, abgemagerten und schwächlich wirkenden Männergestalten hervor, die sich um die begehrte Frau versammeln. Unmittelbar im Anschluss verbindet er dieses Bild nackter Männer mit Uniformierten – es entsteht die Assoziation zu einem Fotodokument der Shoah. An einer anderen Stelle taucht der aus den Erzählungen bekannte leuchtende Sternenhimmel auf – der nun zur Feuersbrunst der Kriegsbrände wird. Ebenso verschiebt Biller die Akzente, wenn er versucht, die Atmosphäre des Schtetls wiederzubeleben. Das Phantastische kippt ins Gefährliche. Es scheint, als würde für Biller der schulzsche Mikrokosmos mit seinen Wucherungen und Merkwürdigkeiten bereits den Keim der kommenden Katastrophe enthalten. Eine weitere Umakzentuierung besteht darin, dass die dunkle, allenthalben gärende Materie in der Novelle keine Schöpfungswunder auslöst, sondern vielmehr Angst einflößt. Drohobytsch ist bei Biller ein Ort beängstigender Kuriositäten. Nichts ist hier so, wie es sein sollte: Die Menschen verwandeln sich in Tiere, verfallen dem Wahnsinn, eine Skurrilität löst die andere ab. „Es kommt mir so vor“, notiert Billers Schulz im Brief, „als hätten die Menschen von Drohobytsch darauf gewartet, dass jemand wie der ­falsche Nobelpreisträger in die Stadt kommt, um ihnen noch mehr den Kopf zu verdrehen.“302 Man wartet quasi auf jemanden wie diesen Doppelgänger Thomas Manns, der alles andere ist als der Messias – mit dessen Ankunft der verschollene Roman von Schulz angeblich einsetzte –, ja der sich letztlich als Verkünder der V ­ ernichtung entpuppt. Was aber tut der angebliche Literaturnobelpreisträger überhaupt in der Stadt? Er sucht Inspirationen für neue Werke und er hat auch einige Lesungen, wartet zudem auf das amerikanische Visum, allerdings wirkt er zugleich wie ein Phantom. Abgestiegen ist er im Hotel „Zur schwankenden Pyramide“, nachts fährt er mit einer Droschke zur nächsten Bierstube, die der nackte, wie ein Pferd schnaubende Hotelbesitzer zieht. Billers Schulz vermutet zwar, dass der Fremde kein Doppelgänger Manns ist, sondern als deutscher Spion arbeitet, doch geht er auf das Spiel ein und lässt sich als zweites Pferd vor die Droschke spannen. Den Kulminationspunkt der Novelle bildet die Szene im Hotel: Etliche Einwohner der Stadt versammeln sich im Bad des Hotelzimmers, in dem der angebliche Schriftsteller residiert. Der Raum sieht wie eine Gaskammer aus – es gibt darin „nur einige in die nackte Betonecke eingelassene Duschen, zwei Bänke und eine Stange mit Kleiderhaken“.303 Alle sitzen dort nackt und hören schweigend der Rede des selbsternannten Thomas Mann zu. Als sie erfahren, dass er bald die Stadt verlassen möchte, werfen sie verzweifelt die Arme um seinen Hals und bitten ihn, dass er doch bleiben möge. Wie in dem Roman Das Parfum (1985) von Patrick Süskind sind sie kurz davor, ihn vor Bewunderung zu zerreißen.304 Darauf reagiert er mit Wut und

302 Ebd., 31 f. 303 Ebd., 33. 304 Das Motiv der massenwahnartigen Ekstasen, die der Fremde unter den Menschen auslöst, kann man auch mit dem Roman Die Verzauberung von Hermann Broch assoziieren – erste Fassung 1936,

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Aggression; er zieht eine Pferdepeitsche hervor und schlägt – wie der Prügler aus Kafkas Roman Der Proceß – alle Männer, Frauen und Kinder um sich herum. Zuletzt steht er erschöpft vor der Pyramide der nackten Körper, die Düsen der Duschen beginnen zu zischen, silbrige Wolken füllen den Raum. Es ist eine eindringliche Szene über die Grausamkeit und Brutalität der Zivilisation. Thomas Mann – der Praeceptor Germaniae, Sinnbild und Repräsentant der deutschen Kultur – vergilt seinen Verehrern die Treue und Verehrung mit Gewalt. Intellektuelle Raffiniertheit schlägt in Vernichtungswillen um. Die Liebe der Drohobytscher zur deutschen Kultur bleibt unerwidert,305 die Dichter und Denker wiederum entlarven mit ihrer Grausamkeit diese Kultur als Schein von besonderer Verführungskraft, für die – wie Wolf Lepenies in seiner Abhandlung The Seduction of Culture in German His­ tory (2006) betont – gerade die Deutschen besonders anfällig waren. Lepenies prägte gar die Formulierung German seduction, um die Tendenz zur Verklärung der Kultur im deutschen bildungsbürgerlichen Diskurs zu bezeichnen.306 Biller aber ist in seiner Kritik am Mythos der Kultur universeller und dadurch vielleicht revisionistischer. Das paradoxe Verhältnis – je verehrter, desto brutaler – stellt er als anthropologische Invarianz vor, die für alle und überall zutrifft. Als Bestätigung dieser These bezieht er sich in der Novelle, parallel zur Haupthandlung, auf die alttestamentliche Parabel über den König Abimelech aus Sichem. Auch dieser Kunstgriff, die Einführung von Parallel­ geschichten, ist ein Verfahren von Schulz: In der Erzählung Der Frühling spielt sich die Erzählung „auf vielen verzweigten Geleisen“ ab (S 45), in der Genialen Epoche spricht der Erzähler von „den parallelen Zeitbahnen in einer zweigleisigen Zeit“ (S 28). Billers Narration ist ebenso zweigleisig: Er schafft eine Analogie zwischen dem biblischen Abimelech und dem Schicksal Thomas Manns in der Novelle. Der erste mordet die Menschen als Vergeltung dafür, dass sie ihn zum König ernannt haben; der zweite

erschienen posthum zunächst als Kontamination der drei Romanfassungen mit dem Titel Der Ver­ sucher (hg. v. Felix Stössinger, Zürich 1953). In Brochs Werk steht das Moment der Verführung zum Bösen im Mittelpunkt. Ein Fremder namens Marius Ratti kommt in ein Alpendorf und ordnet sich durch Manipulationen im Sinne faschistischer Ideologie die Dorfgemeinschaft unter. Ratti verfügt, ähnlich wie der Doppelgänger bei Biller, über eine unerklärbare Verführungskraft. Selbst Brochs IchErzähler, der das Treiben des gefährlichen Ankömmlings durchschaut, kann ihm nicht widerstehen: „War ein allgemeiner Wahnsinn ausgebrochen? hatte er auch mich ergriffen? gewiß, ich konnte kaum mehr anders, ich wurde mitgezerrt, ich mußte mit.“ Hermann Broch, Die Verzauberung, Kommentierte Werkausgabe Bd. 3, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1994, 262. 305 Über „unerwiderte Liebe“ der jüdischen Intellektuellen zur deutschen Kultur siehe Amos Elon, Zu einer anderen Zeit: Porträt der Deutsch-Jüdischen Epoche, München 2003. 306 Die Formel German seduction definiert Lepenies folgendermaßen: „the tendency to see in culture the noble substitute for politics, if not better politics altogether“. Wolf Lepenies, The Seduction of Cul­ ture in German History, New Jersey 2006, 5. In Lepenies’ Studie spielt Thomas Mann eine besonders wichtige Rolle als „guide in whose life and letters the German attitude toward culture and politics, in different facets and variations, miscues and paradoxes, has found its most eloquent, often painfully honest and always ironic expression“. Ebd., 8.



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misshandelt seine Verehrer. Diese Parallelität, die ein wenig befremdend wirken mag, ist jedoch nicht auf Effekt ausgerichtet, vielmehr zielt sie auf die unlösbare Frage unde malum? ab. Biller stellt der Kultur eine pessimistische Diagnose, er warnt vor der in ihr lauernden Gewalt, plädiert für eine Haltung skeptischen Misstrauens, kritisiert die bedingungslose Faszination. Wer aber ist dieser Dr. Thomas Mann, der die Stadt besucht? Der vermeintliche Doppelgänger gibt sich wenig Mühe, dem Original zu ähneln. Die ganze Situation ist von vornherein grotesk, und alle sind sich dessen auch bewusst. Der Fremde wirkt wie eine Karikatur, was er auch keineswegs zu verbergen versucht. Er ist unordentlich ­gekleidet, in der Innentasche seines abgetragenen, zerrissenen, schief geknöpften Tweed-Jacketts steckt eine „halb angerauchte Zigarre“,307 auch verströmt er einen „starken Körpergeruch“.308 Er trägt Rouge auf den Wangen, malt sich mit Schuhcreme einen dünnen Schnurrbart – ein böser Clown. Er spricht unsicher, gibt vage Antworten, veranstaltet eine Lesung in der Apotheke, bei der er „in einem blutroten persischen Chalat“ auftritt.309 Insgesamt legt er das Verhalten eines Sadisten und Zynikers an den Tag, seine antisemitischen Züge treten hervor, als er auf der Suche nach Stoffen für neues Werk eine Nachinszenierung von Pogromen durchführen will. Das ist weniger ein raffinierter Hochstapler und Verführer wie Felix Krull als vielmehr ein frag­ würdiger Gaukler, der an Thomas Manns Erzählung Mario und der Zauberer (1930) denken lässt. Deren Protagonist ist der Zauberkünstler Cavaliere Cipolla, „ein fahrender ­Virtuose, ein Unterhaltungskünstler, Farzatore, Illusionista und Prestidigitatore (so bezeichnete er sich)“,310 der sich, ganz wie die Figur bei Biller, durch ein ebenso groteskes wie abstoßendes Aussehen charakterisiert: Hüft- und Gesäßbuckel, kleines, schwarz gewichstes Schnurrbärtchen, schlechte Zähne. Auch er demonstriert gerne seine Überlegenheit und neigt zu Brutalität – er tritt mit einer Reitpeitsche auf. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass bei Mann wie bei Biller die anfänglich als amüsante Unterhaltung dargebotene Vorführung des Gauklers nach und nach abgleitet, bis sie in einem Exzess von sadistischer Gewalt kulminiert. Die Geschichte, die Billers Schulz im Brief erzählt, hinterfragt sich fortwährend selbst; indem sie sich fortspinnt, vollzieht sie ihre Dekonstruktion. Damit übernimmt Biller eine der zentralen Regeln des schulzschen Weltverständnisses, eines der Hauptprinzipien seiner Ästhetik: die „Demaskierung der Panmaskarade“. Im Kontext des eigenen Schaffens macht Schulz folgende metapoetologische Bemerkung: Das Leben der Substanz beruht auf der Verwandlung einer endlosen Menge von Masken. Diese Wanderung der Formen ist das Wesen des Lebens. Deshalb fließt aus dieser Substanz auch

307 Maxim Biller, Im Kopf von Bruno Schulz, 37. 308 Ebd., 9. 309 Ebd., 49. 310 Thomas Mann, „Mario und der Zauberer“, in Gesammelte Werke, Bd. 9: Erzählungen, Berlin u. Weimar 1965, 723.

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die Aura einer gewissen Panironie. Dort ist ständig die Atmosphäre der Kulissen, von hinteren Wänden der Szene vorhanden, wo die Schauspieler nach Ablegung der Kostüme über das Pathos ihrer Rollen lachen. In der Tatsache eines allgemeinen Daseins allein ist schon Ironie, Windbeutelei, die närrisch herausgestreckte Zunge enthalten.311

Schulz entwirft ein Setting des Theatralischen, Schauspieler demaskieren ihr eigenes Spiel, lachen über den dramatischen Ernst ihrer Rollen. Dieselbe Geste ist für das Kunstverständnis von Schulz ausschlaggebend, dieselbe ironische Strategie überträgt er auf das Medium der Sprache. Sein Postulat der Demaskierung erinnert nicht nur an die romantische „Ironie der Ironie“, an die subversiven Strategien des Humors, wie sie Jean Paul in der Vorschule der Ästhetik entworfen hat,312 sowie an Friedrich Schlegels Begriff der „permanenten Parekbase“,313 sondern auch an die Strategie der Verführung, die Jean Baudrillard am Beispiel der illusionistischen Malerei erläutert: Im trompe-l’œil geht es nicht darum, mit dem Realen zu verschmelzen, es geht darum, ein Simulakrum zu produzieren, während man sich voll und ganz des Spiels und des Kunstgriffes bewusst ist – indem man die dritte Dimension nachahmt, zieht man die Realität dieser dritten Dimension in Zweifel – indem man den Effekt des Realen nachahmt und überschreitet, zieht man das Realitätsprinzip radikal in Zweifel.314

In Billers Novelle sehen wir das von Baudrillard beschriebene Bewusstsein des Spiels am Werk. Der Text stellt seinen Kunstgriff zur Schau bzw. er scheint die eigene Absurdität – um die Metapher von Schulz zu gebrauchen – als närrisch herausgestreckte

311 Bruno Schulz, „Brief an Stanisław Ignacy Witkiewicz“, in ders., Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes, 92. Die „närrisch herausgestreckte Zunge“ taucht auch in der bereits erwähnten Erzählung Mario und der Zauberer auf – der Zauberkünstler Cipolla bringt einen Burschen im Publikum dazu, dass er die Zunge herausstreckt, was allgemeine Verblüffung hervorruft: „Übrigens war klar, daß die Leute nicht wußten, was sie aus einer so ungereimten Eröffnung einer Taschenspielersoiree machen sollten, und nicht recht begriffen, was den Giovanotto, der doch sozusagen ihre Sache geführt hatte, plötzlich hatte bestimmen können, seine Keckheit gegen sie, das Publikum, zu wenden. Man fand sein Benehmen läppisch, kümmerte sich nicht weiter um ihn und wandte seine Aufmerksamkeit dem Künstler zu.“ Thomas Mann, „Mario und der Zauberer“, 730. Die Geste des Zungezeigens hat bei Mann allerdings eine andere Funktion als im Zitat von Schulz und kündet, statt karnevalesker Stimmung oder ironischer Leichtigkeit, das Unheilvolle an. 312 In einem der Kapitel spricht Jean Paul von der „vernichtenden oder unendlichen Idee des Humors“ als eines „umgekehrten Erhabenen“. Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in Werke, Bd. 5, hg. v. Norbert Miller, München 1973, S. 129–132. 313 Friedrich Schlegel, „Philosophische Fragmente. Erste Epoche. II (1797)“, in Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe (KFSA), Bd. 18, hg. v. Ernst Behler, Darmstadt 1963, 85 (Nr. 668). Marika Müller sieht in Schlegels Begriff der permanenten Parekbase „das ständige Reflektieren und Transzendieren der Dichterpersönlichkeit im eigenen Kunstwerk in ständigem Hinblick auf das Publikum“. Marika Müller, Die Ironie: Kulturgeschichte und Textgestalt, Würzburg 1995, 63. 314 Jean Baudrillard, Von der Verführung, 91.



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Zunge zu präsentieren. Seine Künstlichkeit führt er vor, anstatt sie zu verbergen, und stellt sich damit selbst infrage – wie der Doppelgänger Manns mit seinem Aussehen und Verhalten das Vortäuschen des Nobelpreisträgers ad absurdum führt. Auf der Spur der schulzschen Poetik der Demaskierung gelangen wir letztlich zu einem Gedanken von beunruhigender Dimension: „Worin der Sinn dieser universalen Desillusion der Wirklichkeit liegt, vermag ich nicht zu sagen. Ich behaupte nur, dass die Wirklichkeit unerträglich wäre, wenn sie keine Entschädigung in irgendeiner anderen Dimension erführe.“315

2.5.3 Erinnerung: Wiederholen, Entstalten, Erfahren Die Zusammenstellung der beiden Motive – der Desillusionierung und des Doppel­ gängers – ist auch in Schulz’ Nachwort zur polnischen Übersetzung von Kafkas Der Proceß zu finden. Schulz widmet sich dort der Frage, wie Kafka in seinem Roman die Welt kreiert und nach welchen Regeln diese funktioniert. Seine Überlegungen enthalten Momente einer Reflexion über das eigene Schreiben, die sich wiederum auf Billers Novelle beziehen lassen: In diesem Sinn ist Kafkas Methode, die Schaffung einer parallelen, doppelgängerischen, stellvertretenden Wirklichkeit, eigentlich ohne Vorbild. Er erreicht den doppelgängerischen Charakter seiner Wirklichkeit mittels einer bestimmten Art von Pseudorealismus, der eines besonderen Studiums würdig ist. Kafka sieht die realistische Oberfläche der Wirklichkeit ungewöhnlich scharf, er kennt ihre Gestikulationen, die ganze äußere Technik der Ereignisse und Situationen, ihre Verzahnung und Überschichtungen sozusagen auswendig, aber das ist für ihn eine schlaffe Fruchthaut ohne Wurzeln, die er wie eine zarte Hülle abnimmt und auf seine transzendente Welt legt, auf seine Wirklichkeit transplantiert. Seine Wirklichkeit ist durch und durch ironisch, verräterisch und voll bösen Willens – das Verhältnis eines Illusionisten zu seiner Apparatur. Er täuscht die Genauigkeit, den Charakter, die angestrengte Präzision dieser Wirklichkeit nur vor, um sie desto gründlicher zu kompromittieren.316

Zwei Aspekte möchte ich hier hervorheben. Zum einen besteht „der doppelgänge­rische Charakter der Wirklichkeit“ nach Schulz’ Verständnis in folgender literarischer Strategie: Es geht um eine möglichst genaue Wiederholung und Nachahmung der Wirklichkeit („ungewöhnlich scharf“, „Genauigkeit“, „angestrengte Präzision“) sowie um ihre gleichzeitige Entstellung. Die „Transplantation der schlaffen Fruchthaut“ darf als Veränderung der Form bei Beibehaltung der Oberfläche verstanden werden. In dieser

315 Bruno Schulz, „Brief an Stanisław Ignacy Witkiewicz“, 92. 316 Bruno Schulz, „Nachwort zum Prozeß von Kafka“, in ders., Die Wirklichkeit ist Schatten des ­Wortes, 245 f. Schulz’ Metapher des Doppelgängers wurde auch in Bezug auf seine Prosa angewandt. Vgl. hierzu Tadeusz Brezas Aufsatz „Doppelgänger der gewöhnlichen Wirklichkeit“: Tadeusz Breza, „Sobowtór zwykłej rzeczywistości“, in Kurier Poranny Nr. 103/1934.

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Deformation steckt die subversive Kraft – das umstürzlerische Potenzial der Bloßstellung. Je mehr der Text scheinbar versucht, die Wirklichkeit exakt wiederzugeben, desto mehr entstellt er sie und kompromittiert dabei sowohl die Wirklichkeit als auch sich selbst. Zum anderen vergleicht Schulz diese Taktik mit dem Vorgehen eines Illusio­ nisten (im Original steht das auffällige Fremdwort prestidigitator). Entsprechende Anspielungen kommen auch in Schulz’ Prosa mehrfach vor. In der Erzählung Der Komet zeigt der Vater „die Charakterzüge eines Magiers und Prestidigitateurs“, seine Expe­ rimente erhalten „den Beigeschmack einer parodistischen Gaukelei“ (S 313). Biller übernimmt die von Schulz charakterisierte doppelgängerische Strategie der Desillusionierung. Mit großer Genauigkeit stellt er seine Figuren dar, benennt die Motive, spielt mit ihnen, als ob er durch diese scheinbare Treue zum Original sein ­Schreiben legitimieren wollte. Es kommt ihm aber nicht darauf an, das Original zu ­kopieren, denn er widerlegt es zugleich, indem er die eigenen Versuche dieser Simulierung unterminiert. Die Welt der Novelle ist – wie die Welt in der Erzählung Die Kro­ kodilstraße – „dünn wie Papier und jeder Spalt verrät, daß sie bloß imitiert ist“ (Z 139). Biller versucht nicht ihren karikaturhaften und absurden Charakter zu verbergen, ­sondern hebt ihn noch zusätzlich hervor. In diesem Sinne steht die Wirklichkeit der ­Novelle in demselben doppelgängerischen Verhältnis zu Schulz’ Prosa wie der fatale Betrüger, der sich selbst kompromittiert, zum realen Schriftsteller. Offen bleibt nach wie vor die Frage, welches Ziel diese demaskierende Entstellung verfolgt. Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf eine Szene aus der Erzählung Der Früh­ ling. Dort verfolgt Schulz die Strategie der „Ironie der Ironie“, ganz im Sinne jenes Gauklers von Jean Paul, der, „auf dem Kopfe tanzend, den Nektar hinaufwärts“ trinkt.317 Die vermeintliche Illusionsnummer des Zauberkünstlers wird zur jähen Erfahrung der Transzendenz: Einmal sah ich einen Prestidigitateur. Er stand auf einer Estrade, schlank, von allen Seiten sichtbar, und präsentierte seinen Zylinderhut, er zeigte uns allen seinen leeren und weißen Boden. Nachdem er solcherart sein Kunststück über alle Zweifel erhoben und vom Verdacht betrügerischer Manipulationen befreit hatte, skizzierte er mit seinem Zauberstab ein verschnörkeltes magisches Zeichen, woraufhin er, rasch und mit übertriebener Präzision und Evidenz, sein Stöckchen aus dem Zylinder Papierbänder hervorholen ließ, farbige Bänder, ellenlang, klafterlang und schließlich kilometerlang. Das Zimmer füllte sich mit der raschelnden, bunten Masse, es wurde hell von dieser hundertfachen Vervielfältigung, von schäumendem und luftigem Seidenpapier, das sich leuchtend übereinander türmte, und er hörte nicht auf, diese unendlichen Streifen hervorzuziehen, trotz der entsetzten Stimmen, begeisterten Proteste, Ekstaserufe und spasmatischen Schluchzer, bis es zum Schluß klar auf der Hand lag: All das kostete ihn nichts, er schöpfte diese Fülle nicht aus eigenen Vorräten, es hatten sich ihm ganz einfach überirdische Quellen aufgetan, jenseits von menschlichem Maß und Kalkül. Wer damals für die Rezeption eines tieferen Sinns dieser Demonstration prädestiniert war und nun nachdenklich und beein-

317 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, 129.



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druckt nach Hause ging, der war bis ins Innerste von der ihm zuteil gewordenen Wahrheit durchdrungen: Gott ist unfaßbar … (S 60–62)

In diesem Abschnitt kommt es zu einer Kontamination aller bisherigen Motive. Die Szene ist theatralisch an sich, der Illusionist steht auf einer Bühne vor Publikum. Seine Tricks präsentiert er mit „übertriebener Präzision und Evidenz“. Von Anfang an ist allen klar, dass sie einen Gaukler vor sich sehen, von dem sie gewiss keine Wunder erwarten, sondern Zauberkunststücke. Doch scheint der Magier im Laufe der Vorführung die Grenze dessen, was durch Taschenspielertricks an Illusionswirkung zu erreichen ist, zu überschreiten, was beim Publikum zunächst Verblüffung und schließlich ekstatische Verzückung auslöst. Mehr noch, für einige kann sein Spektakel zur Quelle einer mystischen Erfahrung werden. Dank dem Zauberkünstler erfahren die Zuschauer den doppelgängerischen Charakter der Wirklichkeit sozusagen in umgekehrter Richtung – als Desillusionierung der vermeintlichen Illusion. Sie lassen sich auf die bezaubernde Illusion ein, obwohl sie wissen, dass sie nur eine Sinnestäuschung ist, und erleben dadurch eine Art Abweichung von der Norm – eine Demaskierung der Wirklichkeit, die ihnen nur scheinbar vertraut vorkommt, die sie aber nicht gänzlich erkennen und vorhersehen können. Die Überfülle dessen, was der Magier aus seinem Hut zaubert, steht in solch eklatantem Widerspruch zur Evidenz des leeren Zylinders, dass das Publikum am Ende mit einer Erfahrung der Transzendenz nach Hause geht. Aus der Nummer eines Taschenspielers ist eine Unio mystica geworden.318 Biller verfolgt eine ähnliche Strategie, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen. ­Zunächst versucht er die Wirklichkeit von Schulz’ Prosa nachzuahmen, um sie dann stufenweise zu entstellen und gleichzeitig diese Entstellung wiederum zu demaskieren. Was aber möchte er dadurch erreichen? Billers Novelle nimmt gerade nicht die Erfahrung der Transzendenz in den Blick, sie konfrontiert die Lesenden mit einer Ebene des Profanen – der Vergangenheit. Damit greift die Novelle das Problem der Erinnerung auf: Wie kann man das individuelle Schicksal vor dem Vergessen retten? Wie

318 Die Verwischung der Grenze zwischen Zauberkunststück und Wunder ist auch das Thema der Erzählung Der Zauberkünstler des jiddischsprachigen Schriftsteller Jizchok Leib Perez aus Zamość (1852–1915). Diese handelt von der Ankunft eines seltsamen Menschen kurz vor Pessah in einem Städtchen Wolhyniens. Der Fremde ist Zauberkünstler und veranstaltet Aufführungen, bei denen er seine Tricks präsentiert. Ein armes Ehepaar, das er unerwartet zum Sederabend besucht, erfährt ein Wunder, von dem es zunächst glaubt, es sei ein Zauberkunststück – ehe sie begreifen, dass der Magier in Wirklichkeit der Prophet Elija ist. Jizchok Leib Perez, „Der Zauberkünstler“, übers. v. Theodor Zlocisti, in Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum Nr. 4/1905, 239–246. In Perez’ Text sowie in der Passage von Schulz lässt sich ein Echo der Legende von den 36 Gerechten (hebr. Lamedwaw zaddikim) vernehmen. Diese Vorstellung der jüdischen Mystik besagt, dass die Welt dank den selbstlosen Werken der anonymen sechsunddreißig Gerechten, die in jeder Generation leben, nicht untergehe. Ihre Identität dürfe nie aufgedeckt werden – niemand weiß, wer sie sind, jeder, selbst der ärmste Bettler oder der größte Schelm, können einer der Gerechten sein.

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kann man davon erzählen, ohne zum einen zu verdinglichen und zum anderen die persönliche Erfahrung im Universalen aufzulösen? Wie kann man Zeugnis von der Vergangenheit ablegen und sie erfahrbar machen? Wie übersetzt man sie in die ­Gegenwart? Diese Dilemmata werden im Text auch explizit thematisiert. In der brutalen ­Kulminationsszene im Badezimmer des Hotels schickt der angebliche Thomas Mann – nachdem er die Drohobytscher bestialisch ausgepeitscht hat – Schulz mit dem Befehl nach Hause, an seinem neuen Roman Der Messias zu arbeiten. Zugleich prophezeit er ihm, dass in dem Moment, da er sein Werk beenden wird, deutsche Soldaten nach Drohobytsch kommen und ihn zusammen mit seinem Manuskript verbrennen werden. Seine Rede schließt er mit den Worten: „Herrlich, was für ein Stoff! Aber wer schreibt darüber einen Roman, wenn Sie tot sind, Jude Schulz?“319 Das Doppelgängertum macht den Kern der Erinnerungskonzeption der Novelle aus. Diese besteht im Wiederholen und Entstalten. Die Wiederholung als Basis des ­Rituals war immer eine Form des Erinnerns, vor allem in den vorschriftlichen Kulturen. Sie hob die Zeit auf, indem sie die Vergangenheit mit der Zukunft verband und der Erfahrung der Wirklichkeit einen zyklischen Rhythmus verlieh. Billers Text versucht die Vergangenheit wiederzugeben, die Geschehnisse mit allen Details zu rekonstruieren, doch deformiert er sie zugleich, er entstellt und verschiebt sie – und er verbirgt dieses Vorgehen nicht, vielmehr legt er es mit einem Verfahren der Selbstdemaskierung offen. Welche Bedeutung hat diese Entstaltung? Sollte man darin das unvermeidliche Scheitern des Erinnerungsprozesses sehen, der nie imstande sein wird, das Ver­ gangene wiederherzustellen? Biller hebt mehrfach die Inkongruenz zwischen Vergangenheit und Erinnerung hervor. Dieses Auseinanderklaffen deutet er aber nicht als Niederlage, sondern er schreibt ihm erlösende Kraft zu, ja eben hier scheint das messianische Potenzial der Kunst zu liegen. Die Inkongruenz nämlich ermöglicht eine ­Erinnerungsarbeit, die als kreativer Prozess abläuft und keinen definitiven Abschluss findet. Sie möchte das Vergangene erfassen, das sich ihr aber ständig entzieht, woraus sich die Dynamik der Wiederholung und Entstaltung ergibt. Dasselbe, nur ein wenig anders – mit dieser Formel ließe sich das Prinzip der Erinnerungsarbeit in der Novelle zusammenfassen. Ausschlaggebend ist die Wendung „ein wenig anders“: Die Entstaltung gehört zur Gegenwart und markiert jedes Mal wie ein Datumsstempel die Wiederholung, so dass die einzelnen Erinnerungsprozesse niemals identisch sind. Ein solches Verständnis von Erinnerung betrachtet die vergangene Zeit nicht als linear festgeschriebene Reihenfolge von Ereignissen, sondern als einen unendlichen Prozess, der dank der fortwährenden Entstaltung offen bleibt für alternative Verläufe. Die kleine Verrückung als Möglichkeit und Quelle der Restitution des Vergangenen ist ein bekannter Topos in einigen Strömungen des jüdischen Messianismus. Diese Idee besagt, dass die Ankunft des Messias keine radikalen Veränderungen der Welt

319 Maxim Biller, Im Kopf von Bruno Schulz, 41.



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bewirken wird, alles bleibt im Grunde so, wie es vor seiner Ankunft war – es wird nur ein wenig anders sein. Diese Vorstellung, von Hans Blumenbergauch als messianischer Minimalismus bezeichnet, wurde im vorigen Jahrhundert intensiv von der Philosophie rezipiert, unter anderem in den Schriften Ernst Blochs und Walter Benjamins.320 Letzterer beruft sich in seinem Aufsatz über Kafka auf den alten chassidischen Ausspruch von einem „großen Rabbi“, der über den Messias gesagt haben soll, „dass er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde“.321 Benjamin erinnert an diese Worte im Kontext seiner Überlegungen zum „entstellten Leben“, das er in Kafkas Odradek oder auch im „bucklicht Männlein“ verkörpert sieht. Der Status dieser Figuren bleibt unbestimmt, sie lassen sich nicht einordnen, sind als Wesen deformiert und schwach, stets bedroht, in den Peripherien des Vergessens zu verschwinden. Odradek hat keine feste Gestalt, hält sich „auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur“ auf.322 Das bucklicht Männlein bittet in dem Kinderreim: „Liebes Kindlein, ach ich bitt, bet’ für’s bucklicht Männlein mit!“323 Benjamin glaubt an das utopische Potenzial der Erinnerungsarbeit. Sobald der Messias kommt und die kleine Verrückung sich vollzieht, kann das entstellte Leben gerettet werden, kann das Unvollkommene erlöst, kann das Krumme gerade werden – wie im biblischen Zitat, das Samuel Joseph Agnon im Titel der Erzählung verwendet, der Biller das Motto für seine Novelle entnahm. Die erlösende Geste der kleinen Verrückung ist aber nicht ausschließlich die Domäne Gottes. Sie ist auch den Menschen eigen und gehört zur Erinnerungsarbeit, die Benjamin als Eingedenken bezeichnet. Dieser Begriff steht für eine besondere Form der Erinnerung, die Biller in der SchulzNovelle vorzuführen versucht. Der im Text beschriebene Minimalismus der Erinnerung stellt sich als Replik des messianischen Minimalismus heraus. Über das Eingedenken schreibt Benjamin unter anderem in seinem Text Über den Begriff der Geschichte. Es ist für ihn eine Form der empirischen Erinnerung, die der Erfahrung nahe steht. Thora und Gebet, so Benjamin, üben im Eingedenken und helfen, das Vergangene zu vergegenwärtigen. Auf diese Weise kann man den „homogenen Verlauf der Geschichte“ unterbrechen und die „unterdrückte Vergangenheit“ befreien.324 Das Eingedenken hat also einen prozessualen und offenen Charakter. Es hebt die lineare Zwangsläufigkeit des Vergangenen auf, lässt für das bereits Geschehene

320 Vgl. Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988, 273–277. Siehe die Erzählung Die Glückliche Hand in Ernst Bloch, Spuren, Frankfurt a. M. 1985, 198–202. Vgl. auch Michael Brocke, Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, Reinbek bei Hamburg 1989, 284. 321 Walter Benjamin, „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“, in Gesammelte Schriften, Bd. II.2, 432. 322 Franz Kafka, „Die Sorge des Hausvaters“, in ders., Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. v. Roger Hermes, Frankfurt a. M. 2008, 343 f. 323 Walter Benjamin, „Franz Kafka“, 432. 324 Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in Gesammelte Schriften, Bd. I.2, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, 703.

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„die kleine Pforte“ offen, durch die in jeder Sekunde „der Messias treten“ kann.325 Oder – denn auch das ist damit gemeint – durch die jeder von uns treten kann. In dieser Form der Erinnerung finden die Subjekte ihren Platz, denen die Geschichtsbücher keinen Raum gewähren – die Besiegten, Unterdrückten und Vergessenen. Das Eingedenken scheint darin der Kunst zu ähneln. Eines ihrer Anliegen war stets, gegen den Sog des Vergessens anzusprechen, dem Verlorenen und Verdrängten eine Stimme zu verleihen. In diesem Sinne wird die Erinnerung zu einer Form der menschlichen Existenz, zu einer Strategie der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. In diesem Kontext lässt sich auch der Schluss der Novelle verstehen: Schulz rennt durch die Stadt, nackt, auf allen Vieren, halb Mensch, halb Hund, mit dem Brief an Thomas Mann zwischen den Zähnen. Drohobytsch ist in Brand geschossen, Panzer rollen durch die Straßen, Befehle werden gebrüllt. Die Tauben fliegen „in den roten Feuerschein hinein, wo sie wie Zunder“ verbrennen.326 Schulz aber läuft weiter, obwohl er verwundet ist, sein Schicksal ist nicht das des Josef K., der „wie ein Hund“ sterben muss.327 Der Katastrophe zum Trotz freut sich Billers Schulz auf das Treffen mit einer Frau, denkt an das bevorstehende Vergnügen sadomasochistischer Spiele. Er läuft am Park in Drohobytsch vorbei, wo eine Gedenktafel daran erinnert, dass Bruno Schulz am 19. November 1942 an dieser Stelle erschossen wurde. Billers Protagonist aber kommt nicht ums Leben, er wartet „beim Portikus des Stadtparks“328 – bei der Pforte, die vielleicht geöffnet ist.

325 Ebd., 704. Ariella Azoulay prägt in Anlehnung an Benjamins Idee des Eingedenkens den Begriff potential history, mit dem sich auch Billers Werk zusammenlesen lässt: „Potential history, then, is at one and the same time an effort to create new conditions both for the appearance of things and for our appearance as its narrators, as the ones who can – at any given moment – intervene in the order of things that constituent violence has created as their natural order. I call this move history that exposes past potential and the potential created by this exposure. In this case, potential has a dual meaning. On the one hand, it signifies the reconstruction of unrealized possibilities, practices, and dreams that motivated and directed the actions of various actors in the past. These were not fully realized but rather disrupted by the constitution of a sovereign regime that created a differential and conflictive body politic. On the other hand, it means the transformation of the past into an unending event, into what Benjamin has called incomplete history, in which our deeds in the present allow us to read the violently constituted achievements of the past in ways that historicize the sovereign power of the past and render it potentially reversible.“ Ariella Azoulay, „Potential History: Thinking through Violence“, in Critical Inquiry Nr. 39.3/2013, 565. 326 Maxim Biller, Im Kopf von Bruno Schulz, 69. 327 Franz Kafka, Der Proceß, 241. 328 Maxim Biller, Im Kopf von Bruno Schulz, 68.

3 A  ndere Ordnung der Dinge in Witold Gombrowicz’ Romanen Im vorigen Teil wurde die Verführung in den Erzählungen von Musil und Schulz als eine epistemologische Metapher interpretiert, die mit der Passivitätskompetenz des Subjekts (Formulierung von Sloterdijk), mit prärationalem und präidentifikatorischem Wissen verbunden ist sowie eine andere Erfahrungsweise der Welt, ein anderes Verhältnis von Individuum und Außenwelt sowie von Sprache bzw. Literatur und Wirklichkeit beschreibt. Es kristallisierte sich eine alternative Wissensform jenseits von Dualismen wie dem Rationalen und Irrationalen heraus, die für das Unbegriffliche steht. Als Ausdrucksformen dieses unbegrifflichen Wissens ließen sich die Anspielungen auf die Rhetorik der Alchemie erkennen. Während also bisher die Konsequenzen der Verführung für das Individuum und seine Kompetenzen als wahrnehmendes Subjekt im Mittelpunkt standen, geht es im folgenden Kapitel um die Qualitäten der wahrgenommenen Welt, um ihre materielle Präsenz und Evidenz als Objekt der Wahrnehmung. Die Verführung wird dadurch auf die Ebene ontologischer Überlegungen übertragen: Sie scheint nämlich als Sammelbezeichnung oder Hilfskonstruktion die Veränderungen im literarischen Verständnis vom Sein, von der Beschaffenheit der Welt in der Prosa der Moderne auf den Punkt zu bringen. Als Ausgangspunkt dient mir der Roman Pornographie von Witold Gombrowicz. Die Verführung spielt in diesem Text die Rolle einer neuen Gesetzlichkeit, die imstande ist, das Verhalten der Protagonisten zu bestimmen, andere Zusammenhänge in der Welt zu schaffen und diese anders zu ordnen. Die hier postulierte Ontologie unterstreicht den prozessualen Charakter der Wirklichkeit und wendet sich gegen feste Strukturen. In der Sekundärliteratur zu Gombrowicz hat man auf die Verwandtschaft seiner ontologischen Vorstellungen mit einer Philosophie hingewiesen, die Gianni Vattimo als das schwache Denken (ital. il pensiero debole) bezeichnet.1 Die schwache Ontologie ist Vattimo zufolge der Gegensatz zu den „harten metaphysischen ­Formulierungen“, ihre Grundlage bildet eine Sammlung von Phänomenen und Kategorien wie beispielsweise Differenz, Ereignis, Spur oder das Zufällige, Instabile und ­Ephe­mere.2 Diese Merkmale des Seins lassen sich auch im Werk von Gombrowicz

1 Vgl. Andrzej Zawadzki, „Gombrowicz a myśl słaba“, in Jerzy Jarzębski (Hg.), Witold Gombrowicz – nasz współczesny, 129–137. Oder Michał Januszkiewicz, „Kosmos Witolda Gombrowicza a problem ­nihilizmu europejskiego“, in Słupskie Prace Filologiczne. Seria Filologia Polska Nr. 3/2004, 253–261, vor allem 261. 2 Vgl. Gianni Vattimo, „Dialektik, Differenz und schwaches Denken“, in Hans-Martin SchönherrMann (Hg.), Ethik des Denkens: Perspektiven von Ulrich Beck, Paul Ricœur, Manfred Riedel, Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch, München 2000, 79–99, hier 79. https://doi.org/10.1515/9783110572049-003

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­ iederfinden. Man kann sich fragen, ob das, was Vattimo „diese neue Ontologie“3 w nennt, nicht eher ein wiederkehrendes Motiv ist, das die gesamte Geschichte des philoso­phischen Denkens durchzieht. Die Vorstellung, dass das Sein etwas Unfestes ist, sich durch Bewegung, Dynamik und pulsierenden Rhythmus auszeichnet und über statische Beschreibungen hinausgeht, scheint nämlich nicht nur das dekonstruktivistische Denken zu charakterisieren, sondern bereits der vorsokratischen Tradition, der Philosophie Nietzsches oder etwa mystischen und kabbalistischen Strömungen nahe zu liegen. Die stete Präsenz dieser anderen Ontologie in der Kulturgeschichte und ihre Konkurrenz zu den festen Formen des Seinsverständnisses lenkt die Fragestellung auf die ontologischen Konzeptionen in den Werken der Prosa der Moderne und insbesondere auf Gombrowicz’ Roman. Dabei geht es nicht in erster Linie um die philosophische Originalität und Bedeutsamkeit dieser Konzepte, sondern um ihre literarische Umsetzung: Welche Motive, Metaphern, rhetorische Stilmittel oder erzählerische Verfahren bringen die alternative Vorstellung vom Sein zum Ausdruck? Welche Strategien dienen ihrer Beschreibung? Welche Assoziationen und Bilder werden im Text evoziert? Mit diesem Fragenkomplex untersuche ich in diesem Teil den Roman Pornogra­ phie. Meine Hypothese lautet, dass die Verführung und ihr verwandte Kategorien wie z. B. Sympathie und Antipathie, Perversion, Liebe oder Ekstase, die gleichzeitig auch in den Bereich der Ästhetik gehören, bei der literarischen Konstruktion der anderen ontologischen Ordnung eine wichtige Rolle spielen. Zur Bezeichnung des in Gombrowicz’ Roman postulierten Verständnisses vom Sein benutze ich in den folgenden Abschnitten Begriffe wie die Ontologie der Verführung, in Anlehnung an die Ontologie des Akzidentiellen von Catherine Malabou,4 oder die andere Ordnung der Dinge, die auf die Terminologie von Michel Foucault rekurriert. Er schlägt folgende Definition der Ordnung im Allgemeinen vor: Die Ordnung ist zugleich das, was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert.5

3 Ebd., 88. 4 Mit dem Begriff der Ontologie des Akzidentiellen entwirft Catherine Malabou in ihrer gleichnamigen Abhandlung die Vorstellung einer anderen ontologischen Ordnung. Malabous experimenteller Ontologie liegt das mehrdeutige französische Wort accident zugrunde, das – wie ihr Übersetzer ins Deutsche bemerkt – sowohl Unfall, Zufall, Zwischenfall und Zusammenstoß meinen kann, als auch Assoziationen mit Substanz und Akzidens hervorruft. Catherine Malabou, Ontologie des Akzidentiel­ len: Über die zerstörerische Plastizität des Gehirns, übers. v. Ronald Voullié, Berlin 2011, 10. 5 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. ­Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974, 22.

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Als das mögliche innere Gesetz, das die Zusammenhänge oder Verbindungen zwischen den Dingen in der Welt bestimmt, möchte ich in Gombrowicz’ Roman die ­Verführung untersuchen. Zunächst werde ich analysieren, wie es in Pornographie zur Auflösung der be­ stehenden Ordnung kommt und wie daraufhin der neue Kosmos entsteht. Der zweite Abschnitt widmet sich den Merkmalen der alternativen Ontologie: ihrer Verwandtschaft mit der Hermetik (bzw. dem hermetischen Verständnis von Sinn) und ihrem Verhältnis zur konventionell verstandenen Kausalität und Logik. Der dritte Teil ist als eine Art Zwischenbilanz gedacht: Auf die ausführlichen Interpretationen des Romans folgt ein Vergleich mit Beispielen klassischer realistischer Prosa, um die Besonder­ heiten des ontologischen Konzepts von Gombrowicz hervorzuheben. Dabei wähle ich Werke aus der russischen und nicht aus der polnischen oder deutschen Literatur, weil es mir um breit rezipierte literarische Musterbeispiele außerhalb des strikten Kontextes dieser Studie geht, die meine komparatistische Perspektive erweitern können. Im folgenden Schritt suche ich ähnliche ontologische Vorstellungen in Robert Musils ­Essays. Zum Schluss kehre ich zu Pornographie zurück und versuche anhand der von Musil entnommenen Begriffe die Ordnung der Dinge in Gombrowicz’ Text genauer unter die Lupe zu nehmen, um das Phänomen der Dialektik der Verführung zu ­erläutern.

3.1 Das Prinzip Verführung in Pornographie Pornographie wurde 1960 zum ersten Mal in polnischer Sprache veröffentlicht und 1963 von Walter Tiel ins Deutsche übertragen. Die erste deutsche Übersetzung erschien also im Jahr der Ankunft von Gombrowicz in West-Berlin. Er hatte seine Wahlheimat Argentinien für ein Jahresstipendium der Ford-Stiftung verlassen und kehrte nach fast einem Vierteljahrhundert in Südamerika nach Europa zurück.6 In Deutschland wurde der Roman zunächst unter dem Titel Verführung herausgegeben, was schon andeutet, wie relevant dieses Thema hier ist. In den 1980er Jahren wurde die Übersetzung von Renate Schmidgall revidiert und als Pornographie in der Reihe der von Rolf Fieguth herausgegebenen Werkausgabe neu veröffentlicht.

6 Zur gleichen Zeit erhielt Ingeborg Bachmann ebenfalls dieses Stipendium, das sich später zum Berliner Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes entwickelte. Beide Schriftsteller lernten sich kennen. Daraufhin verfasste Bachmann einen häufig zitierten Essayentwurf über Gombrowicz und ihre Eindrücke von Berlin, den sie für die französische Zeitschrift Cahiers de L’Herne vorbereitete, der aber erst posthum erschien. Dort berichtet sie, dass Gombrowicz und sie beide in Berlin „verloren waren, dass dieser Ort nach Krankheit und Tod riecht, für mich auf eine Weise, für ihn auf eine andere“. Ingeborg Bachmann, „[Witold Gombrowicz] Entwurf“, in Werke, Bd. 4: Essays, Reden, Vermischte Schriften, Anhang, hg. v. Christine Koschel u. a., München u. Zürich 1993, 326–330, hier 326.

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Die Verführung scheint eine zentrale Rolle in diesem Roman zu spielen und auf mehreren Ebenen gleichzeitig präsent zu sein. Verstanden als eine besondere Dynamik, als Wechselspiel zwischen Anziehung und Abstoßung, kristallisiert sie sich im Text als eine verbindende Kraft heraus, die imstande ist, die zerfallende Welt neu zu organisieren. Um die Neuordnung der Dinge nach dem Prinzip der Verführung zu beschreiben, möchte ich vom Motiv der Krise ausgehen, das zum Auslöser und Katalysator der Wandlungen innerhalb der ontologischen Vorstellungen wird. Im zweiten Teil widme ich mich dem Prozess des Zerfalls im Roman und frage, was zum Zusammenbruch des Weltverständnisses des Erzählers beiträgt und wie es dazu kommt, dass die Rätsel­ haftigkeit des Protagonisten Friedrich und dessen ambivalente und zurückgezogene Erscheinung in eine Apotheose der Verführung münden. In diesem Zusammenhang analysiere ich im nächsten Schritt Gombrowicz’ Bezüge zu Künstlerkonzeption von Thomas Mann. Den Schluss bildet die Interpretation jener ausschlaggebenden Szene in Pornographie, in der die ontologische Neuordnung entsteht. Im Zentrum meines Interesses stehen die Motive der Grenzerfahrung und des Zustands der Ekstase; sie werden von der Entstehung neuer Gesetzlichkeiten in der Welt begleitet, denen die überwältigende Anziehungskraft zugrunde liegt. Im Laufe der Analyse tauchen philosophische Begriffe auf, die das Konzept der Verführung besser beleuchten, etwa der Begriff der konkreten Utopie von Ernst Bloch, der der inneren Erfahrung von Georges Bataille oder der der Aura von Walter Benjamin.

3.1.1 Krise und eine andere Ontologie Das Motiv der Krise ist in jeder Epoche der Kulturgeschichte präsent.7 Man setzt Krise häufig mit Untergangsstimmung gleich; im Sinne der Vorahnung einer Katastrophe fungiert sie als Topos bzw. kulturelle Invariante, die insbesondere in Zeiten geschichtlicher und gesellschaftspolitischer Umbrüche aktiviert wird, beispielsweise um Jahrhundertwenden oder nach Kriegen größeren Ausmaßes.8 So lösten auch die Geschehnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viele philosophische Reaktionen aus – man denke nur an die Schriften von Oswald Spengler oder Martin Heidegger, die damals den Rahmen für den Krisendiskurs bestimmten –, aber auch künstlerische, in denen sich die AutorInnen, auch die in dieser Studie behandelten Schriftsteller, mit dem Zusammenbruch bestehender Verhältnisse auseinandersetzten. Das Stichwort Krise trifft wie kein anderes den Kern ihrer Werke. Vom Facettenreichtum und von der großen Bandbreite dieses Themas fasziniert, schildern sie in ihrer Prosa mit besonde-

7 Mehr zur Begriffsgeschichte der Krise bei Reinhart Koselleck, „Krise“, in Otto Brunner u. a (Hg.) Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, 617–650. 8 Zur Bekräftigung dieser These vgl. die Beispiele im Sammelband von Helga Scholten (Hg.), Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen: Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit, Köln 2007.

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rer Sensibilität und Genauigkeit die verschiedenen Dimensionen der Krise, die Krisenzustände des Individuums und die krisenhaften Tendenzen in der Kulturgeschichte. Das Motiv der Krise durchzieht auch die Romane von Hermann Broch. Es sind in erster Linie konkrete historische Geschehnisse und gesellschaftspolitische Krisensituationen, die sein Gesamtwerk beeinflussen. Die Handlungszeit des Romans Die Schuld­ losen (1950) ist die kritische Periode vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Auch in Die Verzauberung (erste Fassung 1936) untersucht Broch auf symbolischer Ebene diesen Zeitraum vor der Katastrophe; das Werk handelt von der Entstehung von Massenwahnmechanismen in einer Dorfgemeinschaft, die zu einer Tragödie führen. Broch versucht aber vom gesellschaftspolitischen Kontext zu abstrahieren und das Phänomen von Krise und Untergang metaphorisch als Wendemoment in der Ideen- und Kulturgeschichte zu reflektieren. Eines der zentralen Themen in seiner schon ­erwähnten Trilogie Die Schlafwandler ist eine mehrschichtige kulturpessimistische Zeitdiagnose – die Untersuchung der Genealogie des krisenhaften Zustands der abendländischen Kultur und die Auseinandersetzung mit der diagnostizierten Epochendämmerung. Auf der Handlungsebene des Romans und vor allem in der Reihe von essayistischen Kapiteln Zerfall der Werte im dritten Teil der Trilogie, 1918 Huguenau oder die Sachlichkeit, schildert Broch das Problem der Auflösung der alten Wertsysteme. In diesem „grandiosen und fürchterlichen Prozess der Umwertung der Welt“, wie er es selbst in einem Kommentar formuliert, sieht er den wichtigsten Grund für die Zivilisationskrise bzw. den Anfang eines in den Abgrund führenden Weges, an dessen Ende „die völlige Wertzersplitterung“ und „die Selbstzerfleischung der Welt in Blut und Not“ stehen.9 Ähnliche Überlegungen sind in der Literatur seiner Zeit nicht selten. So klagen die Figuren in Stanisław Ignacy Witkiewicz’ Roman Abschied vom Herbst, der 1927, wenige Jahre vor der Schlafwandler-Trilogie, veröffentlicht wurde, über den allumfassenden Krisenzustand, den sie als „das Ende der bürgerlichen Kultur“ bezeichnen, und s­ tellen mit latentem Bedauern fest, dass „jene Werte, die man früher die ewigen nannte: die Religion, die Kunst und sogar die Philosophie“ unabwendbar verschwunden seien.10 Auch in seinem nächsten Roman Unersättlichkeit (1930) spielt sich die Krise auf mehreren Ebenen ab, sie betrifft das Individuum sowie die ganze Gesellschaft, wird zum Element der Atmosphäre im Text und zum Dauerzustand. Das In-die-Länge-Ziehen des momentanen Charakters der Krisenzustände und das permanente Verschieben des Wendepunkts sind Merkmale der Neudefinition dieses Motivs im modernen Roman. Allerdings kann man die Krise nicht auf kulturpessimistische Diagnosen nach dem Verlust der alten Ordnungen und Werte reduzieren. In der Prosa der Moderne behandelt man sie nicht nur als einen Prozess des Zugrundegehens, sondern auch als ein

9 Hermann Broch, „Der Wertzerfall und die Schlafwandler“, in ders., Die Schlafwandler, 734. Dem Thema der Krise in Brochs Werk ist das ganze Heft der Zeitschrift für Mitteleuropäische Germanistik Nr. 4.1/2014 gewidmet. 10 Stanisław Ignacy Witkiewicz, Abschied vom Herbst, übers. v. Walter Tiel, München 1987, 163 u. 207.

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strikt ästhetisches Phänomen. Darunter ist zum einen die Ästhetisierung der Krise zu verstehen: Die Faszination durch den Zerfall, die als ein Echo des Fin de Siècle, einer dekadenten Haltung oder naturalistischer Ästhetik verstanden werden kann, war schon in früheren Epochen ein verbreitetes Sujet. Der Komplexität und der Anziehungskraft der Krise widmete sich beispielsweise Thomas Mann in den Buddenbrooks (1901), wo er pietätvoll den Niedergang einer Familie und der bürgerlichen Welt beschreibt.11 Auch Hermann Broch verlieh in Der Tod des Vergil (1945) dem Verfall eine besondere ästhetische Qualität: Die Darstellung der letzten Stunden des im Sterbebett liegenden Vergil nimmt dort eine höchst kunstvolle Form an und bietet eine Projek­ tionsfläche für poetologische Reflexionen. Der Krisenzustand des Protagonisten verbindet sich im Roman mit Überlegungen zur Rolle und Aufgabe des Künstlers und mit der Auseinandersetzung mit der Frage, wozu der Dichter in dürftiger Zeit. Darüber hinaus scheint die Thematisierung der Krise in der Prosa der Moderne noch eine weitere Funktion zu haben: Die Krise als Form der Kritik am Bestehenden kann Reflexionen über alternative Weltvorstellungen, über andere ontologische Ordnungen in Gang setzen. Einerseits verbirgt sich hinter den Krisengedanken immer gewisses Maß an Kulturkritik und Zivilisationspessimismus, was dazu führen kann, vor allem kulturhistorische Rückentwicklungen zu beklagen, das Vergangene implizit zu verklären und die bestehenden Umstände zu kritisieren. Andererseits steht das ­Phänomen der Krise nicht nur für einen Prozess allmählicher Destruktion, sondern kündigt auch einen Wendepunkt an – einen Moment des Wandels zum Anderen schlechthin, der nicht immer in einem totalen Kollaps münden muss. Diesen Gedanken formulierte Hermann Broch in einem seiner Briefe: „Denn Krise bedeutet Aufbruch, auch wenn es ein Abgrund ist.“12 Das Wortspiel in diesem knappen Satz betont das schöpferische Potenzial der Krise. Als Neuanfang verstanden kann die Krise die Literatur dazu veranlassen, neue Wirklichkeitskonzepte zu entwickeln, Gegenmodelle zum Bestehenden zu entwerfen sowie utopische oder dystopische Vorstellungen zu formulieren. So kann man zum Beispiel im hier schon besprochenen Erzählungsband Verei­ nigungen von Robert Musil einer anders erfahrbaren Wirklichkeit begegnen, zu deren Wahrnehmung Kausalität und Logik nicht taugen. Stattdessen entsteht eine neue Art von Beziehungen zwischen den Figuren bzw. der Erzählinstanz und der Umgebung, die auf einer emotionalen Bindung basiert und den Regeln der Ratio entkommt. Die Protagonistinnen bewegen sich in „eine[r] unabhängige[n], unfassbare[n] Welt des Gefühls, die sich nur willkürlich, zufällig und lautlos flüchtig mit der der täglichen Vernunft verbindet“ (V 74). Dasselbe trifft auf Kafkas Prosa zu: In den

11 Ausführlicher über die Krisenproblematik im Werk Thomas Manns vgl. Barbara Beßlich, Faszina­ tion des Verfalls: Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin 2002. 12 Hermann Broch, „Brief an Waldo Frank vom 20. Juni 1947“, in ders., Briefe, Kommentierte Werkausgabe Bd. 13.3, hg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. M. 1981, 146.

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­Romanen Der Proceß und Das Schloss wird eine Wirklichkeit kreiert, deren Prinzipien, von außen betrachtet, unverständlich wirken oder – wie es später seine existenzialistischen Interpreten bezeichnen sollten – den Inbegriff des Absurden darstellen.13 Das Motiv der Krise als Auslöser von neuen epistemologischen und ontologischen Überlegungen ist auch in den Werken von Broch wiederzufinden. In Der Tod des Vergil wird eine Erfahrung der Welt geschildert, die ein Amalgam aus realen, mythischen und phantas­tischen Elementen ist; ebenso beschreibt Broch in Die Unbekannte Größe (1933) die Suche nach einer anderen Art der Erkenntnis jenseits der szientistischen Prinzipien. Besonders interessant für meine Fragestellung sind aber jene Romane, in denen die Autoren alternative Wirklichkeitskonzepte nicht in einer fertigen Form vorstellen, sondern den Prozess ihres Schaffens darstellen. So im Roman Pornographie von Gombrowicz, der dezidiert den Zusammenbruch einer Ordnung und den Aufbruch zu einer anderen schildert. Der Roman handelt von zwei Männern, dem Ich-Erzähler Witold und Friedrich, die während des Zweiten Weltkrieges aus der okkupierten Hauptstadt Warschau fliehen und zu dem Gutsbesitzer Hippolyt aufs Land ziehen. Dort treiben sie aus Langeweile ein perverses Spiel und inszenieren eine Verkuppelung. Sie möchten Hippolyts Tochter Henia, die mit einem älteren Rechtsanwalt verlobt ist, mit dem jungen Gehilfen Karol zusammenbringen. Die ganze Intrige wird mit höchster Akribie geplant und beinahe wie ein alchemistisches Experiment durchgeführt. Ihren machiavellistischen Plan betrachten Friedrich und der Ich-Erzähler aber nicht lediglich als bösartigen Witz, sondern sie messen ihm eine besondere Bedeutung bei. Durch die Verkuppelung versuchen sie die in ihren Augen axiologisch zerfallene Wirklichkeit neu zu ordnen und andere Zusammenhänge herzustellen. Jerzy Jarzębski bemerkt in einer seiner Studien über Gombrowicz, dass das Hauptthema von Pornographie der Akt des Kreierens von Wirklichkeit sei und dass dort die Welt im Prozess des Werdens, in statu nascendi präsentiert werde. An diesem Schöpfungsakt, so Jarzębski, sei nicht nur der Erzähler beteiligt, sondern auch die Leserschaft, die von der spielerischen Lust am Schaffen ins Mitgestalten hineingezogen und geradezu verschlungen werde.14

13 Über Kafka und das Absurde siehe z. B. die heute schon kanonische Interpretation von Albert Camus, „Die Hoffnung und das Absurde im Werk von Franz Kafka“, in ders., Der Mythos des Sisyphos, übers. v. Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg 2009, 163–180. 14 Das hier paraphrasierte Zitat lautet auf Polnisch: „W ten sposób Gombrowicz, zamiast opisywać pewien świat i narzucać odbiorcy złudzenie, że on istnieje w jakiś określony, ‚prawdziwy‘ sposób poza dziełem, demonstruje proces wyłaniania się z chaosu elementów kilku konkurencyjnych wizji rzeczywistości, prezentuje świat in statu nascendi, wciągając też odbiorcę […] w przedsięwzięcie kreacji“. [So demonstriert Gombrowicz, statt eine Welt der Gewissheit zu beschreiben und den Rezipienten vorzutäuschen, dass diese auf eine bestimmte, ‚wirkliche‘ Weise außerhalb des Werkes existiert, den Prozess der Herausbildung verschiedener, miteinander konkurrierender Wirklichkeitsvisionen aus dem Chaos der Elemente; er präsentiert die Welt in statu nascendi und zieht auch den Rezipienten für dieses Unterfangen heran. Übers. v. AH]. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, 120.

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­ eshalb möchte ich im Weiteren folgende Fragen stellen: Wie wird im Roman der D ­Zusammenbruch der bestehenden Ordnung und die Herausbildung einer neuen Ontologie dargestellt? Worin genau besteht die Neuordnung? Wer ist an dieser Erneuerung beteiligt? Werden Beliebigkeit und Willkür zu ordnenden Kriterien oder etablieren sich im Prozess der Erneuerung gewisse Gesetzlichkeiten – und wenn ja, welche? Mithilfe welcher Mittel wird der Wendemoment geschildert?

3.1.2 Subversive Anziehungskraft: Rätsel und Ambivalenz Der Zerfall der bestehenden Ordnung erscheint im Roman in einer personifizierten Form. Der Ich-Erzähler Witold schreibt dem Protagonisten Friedrich zu, dass er mit seinem Verhalten den Sinn und Inhalt der bisher allgemeingültigen Wahrheiten, Regeln und Werte untergrabe und alle darauffolgenden Ereignisse in Gang setze. Friedrich ist für ihn ein irritierendes und zugleich faszinierendes Rätsel, das er im Laufe des Romans zu lösen versucht. Er möchte Friedrichs Wesen in Worte fassen, hat aber den Eindruck, dass ihm das misslingt. Er kann ihm keine Eigenschaften zuordnen, denn Friedrich passt in kein Schema, sein Charakter und Benehmen lassen sich sprachlich kaum auf den Punkt bringen. Selbst sein Aussehen bleibt unbestimmt, man erfährt nur, dass der Ich-Erzähler eigentlich nichts Besonderes an ihm feststellen kann – er entzieht sich einer präzisen Darstellung, sieht aus wie „ein typischer städtischer Intellektueller“, „gebeugt, schwächlich, zusammengefallen, mit einem Zwicker, mit nervösem Mund, die Hände in den Taschen“ (P 18). Friedrichs Rätselhaftigkeit und die Unmöglichkeit, ihn zu beschreiben, drückt Witold vor der gemeinsamen Fahrt auf das Landgut wie folgt aus: Fahren? Zu zweit? Mich beschlichen schwer zu formulierende Zweifel hinsichtlich dieser Fahrt zu zweit … denn, ihn mitzunehmen, damit er dort, auf dem Land, sein Spiel weitertreibt … Und sein Körper, dieser so … „spezifische“ Körper? … Mit ihm fahren, ungeachtet seiner unermüdlichen „schweigsam-schreienden Unanständigkeit“? … Sich mit jemandem belasten, der so „kompromittiert und infolgedessen auch kompromittierend“ war? … Sich diesem „Dialog“ auszusetzen, der so hartnäckig geführt wurde … mit … ja, mit wem eigentlich? … Und sein „Wissen“, dieses Wissen über …? Und seine Gerissenheit? Und seine List? Nun ja, all dies schien mir nicht sehr verlockend, aber andererseits war er in seinem ewigen Spiel so abgesondert … (P 11)

Der Ich-Erzähler nimmt Friedrich als etwas Irritierendes wahr, obwohl er keine klaren Vorwürfe gegen ihn formulieren kann. Das, was ihn ausmacht, lässt sich nur in rätselhaften Oxymora ausdrücken, seine Unanständigkeit etwa ist schweigsam und schreiend zugleich. Friedrich scheint alle Widersprüchlichkeiten zu verkörpern, er verbindet die Gegensätze bzw. befindet sich jenseits davon. Dazu tauchen in seiner Charakteristik noch viele Auslassungspunkte auf, als ob es eine Aporie wäre, passende Worte für ihn zu finden, und als ob diese rein asemantischen Zeichen seine Bedeutungsfülle

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markieren sollten. Nicht nur die stockenden kurzen Sätze, immer wieder von Pausen unterbrochen, machen die Beschreibung holprig und elliptisch. Auffällig sind auch die vielen Formulierungen in Anführungszeichen, bei denen es sich aber nicht um die Wiedergabe der Meinungen anderer handelt; vielmehr dienen sie dem Ich-Erzähler dazu, sich vom Erzählten zu distanzieren und zu signalisieren, dass diese Äußerungen nur versuchsweise eingeführt und nicht wörtlich zu nehmen sind. Der Informationswert dieser Darstellung ist eher gering – alles bleibt im Bereich von Mutmaßungen. Deutlich wird aber die Unmöglichkeit, Friedrich einzuordnen; er wirkt wie ein unpassendes, rätselhaftes Element aus einem anderen Puzzlespiel, das wahrgenommen wird, aber nicht zugeordnet werden kann und daher für die Umgebung unverständlich bleibt. Die Versuche, sich seinem Wesen anzunähern, sind zum Scheitern verurteilt, auch wenn sich der Ich-Erzähler permanent darum bemüht. Friedrich wird daher zum Gegenstand seiner Projektionen. Auf das prekäre Verhältnis zwischen den beiden Protagonisten werde ich in Kapitel 3.5 ausführlicher eingehen. Friedrichs Unbestimmbarkeit ähnelt teilweise der des Protagonisten in Ferdyd­ urke, des ersten Romans von Gombrowicz aus dem Jahr 1937. Auch er lässt sich kaum definieren, keine Bezeichnung ist für ihn zutreffend. Nicht einmal er selbst ist imstande, sich festzulegen – er befindet sich permanent in einem merkwürdigen Zwischenzustand zwischen oder außerhalb aller Kategorisierungen. Er ist weder erwachsen noch unerwachsen. Seine Lage beschreibt er als „nicht geklärt“ und stellt fest: „[I]ch selbst wusste nicht, war ich nun ein Mensch oder ein Grünschnabel; und so war ich denn auf dem Umbruch der Jahre weder dies noch das – ich war nichts –, und die Altersgenossen […] behandelten mich mit einem berechtigten Misstrauen“ (F 9). Seine Unfassbarkeit beunruhigt die Umgebung und er wird von den anderen im Laufe des Romans dazu gezwungen, bestimmte Formen anzunehmen, gegen die er jedoch Widerstand leistet und denen er zu entfliehen versucht. In Ferdydurke nimmt man die Unbestimmbarkeit des Protagonisten als eine latente Bedrohung wahr, weshalb die anderen permanent versuchen, Kontrolle über ihn zu erringen. Seine unentschiedene Fassung wird misstrauisch beäugt und man bemüht sich, ihn sogar mit Gewalt zu einer Festlegung zu zwingen und dadurch zu neutralisieren. In Pornographie verfügt der Protagonist hingegen über eine viel gefährlichere, subversivere Macht. Seine Unbegreiflichkeit und Rätselhaftigkeit haben eine Sprengkraft, die nicht aufzuhalten ist und das Bestehende ins Wanken bringen kann. Der Ich-Erzähler spürt die Überlegenheit Friedrichs: [D]enn Friedrich … war ja hier, neben mir. Und er war ungeheuer still. Da ich ihn bei mir hatte, wollte ich lieber niemandem ins Gesicht sehen … denn plötzlich begriff ich, dass dieses Etwas, das neben mir saß, in seiner Stille radikal war, radikal bis zum Wahnsinn! Ja, das war ein Extremist! Unberechenbar extrem! Nein, das war keine gewöhnliche Existenz, sondern etwas eher Raubtierhaftes, angespannt in einem Extrem, von dem ich bisher keine Vorstellung hatte. (P 14)

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Die früher durch Auslassungspunkte und abgebrochene Sätze angedeutete Aporie der Beschreibung Friedrichs verwandelt sich hier in eine rhetorische Übertreibung, die allerdings nicht sehr informativ ist.15 Das Sonderbare an Friedrich ist die Radikalität seines Schweigens und Nichtstuns. Für sein in der Luft hängendes Geheimnis findet der Erzähler keine Erklärung, bezeichnet es aber als raubtierhaft. Friedrich wird also als wildes, gefährliches Wesen geschildert, als rätselhafter Dämon, der Unheil und Zerstörung mit sich bringt, zugleich aber durch seine geheimnisvolle Erscheinungsweise besonders anziehend erscheint und den Ich-Erzähler zum permanenten Raten auffordert.16 Seine Undurchschaubarkeit wirkt gefährlich und störend. In Bezug auf Friedrichs passive Haltung, in der etwas von Nihilismus mitschwingt, weisen manche Interpreten darauf hin, dass sein Name eine Anspielung auf Philosophie von Friedrich Nietzsche sei.17 Gombrowicz’ intertextuelle Bezüge auf nietzscheanisches Gedankengut waren schon Gegenstand mehrerer Studien. Alfred Gall etwa bezeichnet in seiner umfangreichen Abhandlung Performativer Humanismus den Faden der Auseinandersetzung mit Nietzsche als ausschlaggebend für die Interpretation von Pornographie.18 Gombrowicz selbst widmete in seinem persönlichen Philosophiehandbuch Führung durch die Philosophie in sechs Stunden und fünfzehn Minuten Nietzsche ein ganzes

15 Jarzębski bezeichnet diese rhetorische Figur als „leere Hyperbel“. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombro­ wicza, 321. 16 Die Gründe für die besondere Anziehungskraft eines rätselhaften Individuums versuchte Georg Simmel zu erläutern: „Das Geheimnis gibt der Persönlichkeit eine Ausnahmestellung, es wirkt als ein rein sozial bestimmter Reiz, prinzipiell unabhängig von dem Inhalt, den es hütet, aber natürlich in dem Maße steigend, in dem das ausschließend besessene Geheimnis bedeutsam und umfassend ist … Aus diesem Geheimnis, das alles Tiefere und Bedeutende beschattet, wächst die typische Irrung: alles Geheimnisvolle ist etwas Wesentliches und Bedeutsames. Der natürliche Idealisierungstrieb und die natürliche Furchtsamkeit des Menschen wirken dem Unbekannten gegenüber zu dem gleichen Ziele, es durch die Phantasie zu steigern und ihm eine Aufmerksamkeitsbetonung zuzuwenden, die die offenbarte Wirklichkeit meistens nicht gewonnen hätte.“ Den Reiz des Geheimnisvollen deutet er als eine anthropologische Invariante, beinahe als atavistisches Denken. Georg Simmel, Soziologie: Un­ tersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M. 1992, 408 f. Auf dasselbe Zitat macht auch Umberto Eco in seinem Essay über die hermeneutische Interpretation aufmerksam. Umberto Eco, „Interpretation und Geschichte“, in ders., Zwischen Autor und Text, 45. Mehr zum Thema der verführerischen Kraft des Rätsels vgl. Paolo Fabbri, „Du secret“, in Traverses Nr. 18/1980, 76–83. In dieser Nummer auch zwei Beiträge zur Logik und Ontologie der Verführung: Mario Perniola, „Logique de la séduction“ (2–9) und Pierre Sansot, „Une question ontologique: la séduction“ (119–134). 17 Vgl. Jerzy Franczak, „W katastrofie“, das Nachwort in Witold Gombrowicz, Pornografia, hg. v. Jan Błoński, Kraków 2011, 215. 18 Alfred Gall, Performativer Humanismus: Die Auseinandersetzung mit Philosophie in der literari­ schen Praxis von Witold Gombrowicz, Dresden 2007, vor allem das Unterkapitel über Nietzsches Philosophie in Pornographie, 261–327. Vgl. auch den Aufsatz von Grzegorz Kowal, der den prägenden Einfluss von Nietzsche bei Gombrowicz, Schulz und Witkacy untersucht: Grzegorz Kowal, „Die polnische avantgardistische Triade und ihr von Nietzsche hergeleitetes dichotomisches Welt- und Menschenbild“, in Marta Kopij u. Wojciech Kunicki (Hg.), Nietzsche und Schopenhauer: Rezeptionsphänomene der Wendezeiten, Leipzig 2006, 187–200.



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­ apitel, das mit der kuriosen Behauptung beginnt, dass Nietzsche, ähnlich wie Kant K und Schopenhauer, ein Pole gewesen sei.19 Friedrichs Rätselhaftigkeit kann aber nicht nur auf Zurückgezogenheit und Pas­ sivität reduziert werden, seine Verhaltensweise ist alles andere als autistisch. Sein Verhältnis zur Außenwelt ist pragmatisch und unauffällig. Er präsentiert sich „korrekt und wohlerzogen“ (P 11), benimmt sich „einwandfrei und sehr taktvoll“ (P 80), ist wendig, hat Geschäftssinn und kann sich leicht an die Umstände anpassen, so dass er imstande ist, sich während des Krieges den Lebensunterhalt zu sichern. Der Ich-Erzähler wird schon bei der ersten Begegnung auf ihn aufmerksam, Friedrichs Benehmen bezeichnet er als „besonders“ und fügt hinzu: „(denn er „benahm sich“ eigentlich, er „benahm sich“ ununterbrochen)“ (P 10). Durch die Wiederholung der Formulierung und ihre Setzung in Klammern gewinnt man den Eindruck, dass diese Bemerkung eine wichtige zusätzliche Information beinhaltet, obwohl sie im Grunde genommen inhaltslos ist. Friedrichs Agieren bleibt weiter unbestimmt, rückt aber in den Vordergrund, als ob er Unscheinbarkeit anstreben oder vortäuschen wollte. Sein Verhalten scheint etwas mit List Vorgespieltes zu sein – eine Art gemeiner Schauspielerei, weshalb ihn der Ich-Erzähler mit Ausdrücken wie „Was für ein Schauspieler!“ (P 110) oder „Der Schlaumeier! Der Kombinierer! Der Fuchs!“ (P 120) bezeichnet. Friedrichs spielerische Selbstinszenierung ist jedoch keine Pose, vielmehr übernimmt er auch die Rolle des Regisseurs und Schöpfers; er führt nicht nur theatralisch Gesten vor, sondern ins­ zeniert auch bestimmte Situationen und fädelt die Verkuppelung der beiden Jugend­ lichen ein. Die Stimmung des ironischen Spiels, das er in Gang setzt, hat eine subversive Kraft, ist eine Gefahr für die bestehende Ordnung. Friedrich treibt nämlich „sein ewiges Spiel“ (P 11) und ruft Konsternation bei den anderen hervor: „Es tat sich eine Gegend des Unbestimmten auf, dieser sonderbaren Andersartigkeit, in der sie [Amelia – AH] sich verlor, betäubt und aus dem Spiel gestoßen … ähnlich jemandem, dem man die Waffe aus der Hand geschlagen hat“ (P 84). Sein Verhalten führt zu einer ­metaphorischen Entwaffnung, zum Verlust der schonenden Stützpunkte, zur Unterminierung und Entfremdung der geltenden Regeln und Gesetzlichkeiten. Friedrichs umstürzlerische Kraft kulminiert in zwei Szenen, in denen der Ich-Erzähler ihn als den Auslöser des symbolischen Zerfalls der bestehenden Ordnung sieht. Zum ersten Zusammenbruch kommt es schon am Anfang des Romans während der gemeinsamen Zugfahrt zum Landgut. Durch Friedrichs verfremdendes Verhalten verwandelt sich die Welt für den Ich-Erzähler in Nonsens und erscheint ihm „unbekannt, und unverständlich, ba, unbegreiflich, nicht zu erfassen!“ (P 11).20 Die zweite Erschütterung, auch von Friedrich ausgelöst, passiert beim Besuch einer Messe in der Kirche:

19 Witold Gombrowicz, Führung durch die Philosophie in sechs Stunden und fünfzehn Minuten, übers. v. Jutta Baden, Bonn 1994. 20 Die Szene im Zug bildet den Ausgangspunkt der Interpretation von Michał P. Markowski. In seiner in der Einführung schon genannten Studie Czarny nurt interpretiert er das obige Zitat als Eindringen

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So etwas hatte ich noch nie erlebt. Nie hätte ich geglaubt, dass so etwas überhaupt geschehen könnte. Aber – was war denn geschehen? Eigentlich – nichts, eigentlich war geschehen, dass irgend jemandes Hand der Messe ihren ganzen Inhalt, ihre ganze Bedeutung genommen hatte – und da bewegte sich der Pfarrer, kniete nieder, ging von einer Seite des Altars zur anderen, und die Ministranten schüttelten die Glöckchen, und der Weihrauch stieg empor, aber der Inhalt verflüchtigte sich daraus wie das Gas aus einem Ballon, und die Messe klappte zusammen in fürchterlicher Impotenz … schlaff … schon unfähig zur Befruchtung! Diese Beraubung des Inhalts aber war Mord, begangen am Rande, außerhalb von uns, außerhalb der Messe, als lautloser, aber mörderischer Kommentar. […] Die Kirche hörte auf, Kirche zu sein. Der Raum drang ein, aber ein schon kosmischer, schwarzer Raum. (P 22 f.)

Beide Szenen wurden in der Forschungsliteratur schon mehrfach analysiert. In vielen Deutungen hebt man vor allem hervor, wie die Welt auf einmal aus den Fugen gerät, ihren Sinn und Inhalt verliert. Diesen ontologischen Kollaps ruft ein verfremdendes Element des Unverständlichen – in diesem Fall Friedrich – hervor, das plötzlich innerhalb eines Systems zum Vorschein kommt, um es aus dem Inneren heraus zu zersprengen. Auf die Dynamik des Ordnungszerfalls bei Gombrowicz macht Gilles Deleuze in seiner Abhandlung Differenz und Wiederholung (1968) aufmerksam und bemerkt, dass man in Gombrowicz’ Prosa, ähnlich wie in der von Jorge Luis Borges, die Identität „Chaos = Kosmos“ finden kann.21 Ich möchte dieser Spur nachgehen und mich im Weiteren damit beschäftigen, wie sich in Pornographie nach dem Zusammenbruch das neue Ganze formiert. Nach welchen Regeln beginnt sich die Neuordnung der Dinge herauszukristallisieren und wie wird sie beschrieben? Doch vorher werde ich in einem Rekurs auf Thomas Mann kurz auf intertextuelle Bezüge in der Konstruktion von Gombrowicz’ Friedrich eingehen, denn die neue Gesetzlichkeit der anderen Ordnung der Dinge scheint sich gerade in Friedrichs Rätselhaftigkeit und Ambivalenz anzudeuten.

3.1.3 Vergleich mit Thomas Manns Künstlerkonzeption Friedrichs subversives Potenzial besteht in seiner schon erwähnten ambivalenten Haltung. Er bleibt rätselhaft und unzugänglich, weil er sich zwischen den klassischen Gegensätzen wie Aktivität und Passivität oder Leidenschaft und Zynismus bzw. jenseits von ihnen bewegt. Deshalb und wegen seiner Neigung, das Leben zu inszenieren,

der Unverständlichkeit in die Welt. Die Beschreibung dieses Ereignisses determiniert symbolisch seine Lesart von Gombrowicz’ Texten, die stark an die Philosophie von Gilles Deleuze angelehnt ist. Michał P. Markowski, Czarny nurt, 68 f. 21 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, übers. v. Joseph Vogl, München 1992, 162. Deleuze beruft sich sowohl in diesem Werk als auch in seiner Abhandlung Logik des Sinns (1969) auf Gombrowicz’ Romane Pornographie und Kosmos, die ihm zur Veranschaulichung seiner Theorien dienen. Mehr darüber Hanjo Berressem, „Fluchtlinien. Deleuze liest Gombrowicz“, in Andreas Lawaty u. Marek Zybura (Hg.), Gombrowicz in Europa, 224–252.



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wird er als Künstlerfigur interpretiert, in der sich viele Parallelen zur Künstlerkonzeption von Thomas Mann finden lassen. Der wichtigste gemeinsame Nenner ist der Spannungszustand zwischen der vorgeführten Kälte bzw. Unzugänglichkeit und der Sensibilität für Sinnlichkeit. Die Ambivalenz der Künstlerfigur ist ein wiederkehrendes Motiv in Thomas Manns Prosa, das schon in seiner frühen Novelle Tonio Kröger (1903) auftaucht.22 Sie handelt vom Werdegang eines Dichters. Im Text sind die selbstreflexiven Überlegungen des Protagonisten über das Wesen der literarischen Tätigkeit von zentraler Bedeutung: Was aber das „Wort“ betrifft, so handelt es sich da vielleicht weniger um eine Erlösung als um ein Kaltstellen und Aufs-Eis-Legen der Empfindung? Im Ernst, es hat eine eisige und empörend anmaßliche Bewandtnis mit dieser prompten und oberflächlichen Erledigung des Gefühls durch die literarische Sprache. Ist Ihnen das Herz zu voll, fühlen Sie sich von einem süßen oder erhabenen Erlebnis allzusehr ergriffen: nichts einfacher! Sie gehen zum Literaten, und alles wird in kürzester Frist geregelt sein. Er wird Ihnen Ihre Angelegenheit analysieren und formulieren, bei Namen nennen, aussprechen und zum Reden bringen, wird Ihnen das Ganze für alle Zeit erledigen und gleichgültig machen und keinen Dank dafür nehmen. Sie aber werden erleichtert, gekühlt und geklärt nach Hause gehen und sich wundern, was an der Sache Sie eigentlich soeben noch mit so süßem Tumult verstören konnte. Und für diesen kalten und eitlen Scharlatan wollen Sie ernstlich eintreten? Was ausgesprochen ist, so lautet sein Glaubensbekenntnis, ist erledigt. Ist die ganze Welt ausgesprochen, so ist sie erledigt, erlöst, abgetan … Sehr gut! Jedoch ich bin kein Nihilist …23

Tonio Kröger verbindet Literatur mit Kälte.24 Literarisches Schreiben ist für ihn ein Prozess des Stillstellens von Gefühlen, in dem man Empfindungen und Leidenschaften

22 Die Rezeptionsgeschichte dieser einzelnen Erzählung in Polen zu verfolgen wäre ein interessantes Thema für eine separate Studie. Tonio Kröger scheint nämlich für eine ganze Künstlergeneration prägend gewesen zu sein – viele Schriftsteller haben in ihren ästhetischen Überlegungen direkten Bezug auf diese Novelle genommen. So beginnt z. B. Czesław Miłosz seinen späten Essay Niemoralność sztuki [Die Unmoral der Kunst] mit einem Zitat aus dieser Novelle. Czesław Miłosz, Życie na wyspach, Kraków: Znak 1997, 9–18. Eine veränderte Version dieses Textes auf Englisch: „A Poet Between East and West“, in Michigan quarterly review Nr. 16.3/1977, 263–271. Verfügbar unter: http://hdl.handle.net/­ 2027/spo.act2080.0016.003:06 (25. Mai 2017). 23 Thomas Mann, Tonio Kröger, Frankfurt a. M. 1964, 38. 24 Auf das Motiv der Kälte als Kunstprinzip bei Thomas Mann – das Mann vor allem in seinen späteren Romanen Lotte in Weimar (1939) und Doktor Faustus (1947) weiterentwickelte – wurde schon in den ersten Rezensionen seiner Werke hingewiesen. Diese Interpretation prägte vor allem Karl Muth in seiner Kritik aus dem Jahr 1904, in der er sich des Ausdrucks „kalter Künstler“ bediente. Diese Formulierung übernahm er von Christian Gottfried Körner, der sich auf diese Weise über Goethe in einem Brief an Schiller (4. März 1789) geäußert hatte. Karl Muth, „Vom kalten Künstler“, in Hochland (München) Nr. 2/1904, 614–616. Wiedergedruckt in Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seiner Zeit: Dokumente 1891–1955, Frankfurt a. M. 2000, 37–40. Mehr zum Thema der Kälte in Manns Rezeption vgl. das Kapitel „Zur Rezeptionsgeschichte: Hundert Jahre ‚kalter Künstler‘“ in Wolfgang Schneider, Lebensfreundlichkeit und Pessimismus: Thomas Manns Figurendarstellung, Frankfurt a. M. 1999, 9–21.

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zum Gefrieren bringt. Der Schriftsteller muss also eine distanzierte Position der Wirklichkeit gegenüber einnehmen und mit einem gefühllosen Blick auf die Welt schauen bzw. so eine Perspektive vortäuschen. Thomas Manns Protagonist greift hier einen Topos auf: die Kälte der Kunst und des Geistes versus die Wärme des Lebens, der Natur und der Emotionen. Die Aufgabe und Rolle des Schriftstellers sieht Tonio Kröger darin, die Glut der Gefühle zu kühlen, das heißt, sie kunstvoll zu bearbeiten, in der poetischen Sprache wie in Eis erstarren zu lassen. Den Schriftsteller vergleicht er mit einem „kalten und eitlen Scharlatan“, der wie ein Gaukler eine künstliche wie künstlerische Distanz zur Welt vorspiegelt. Auch an anderer Stelle unterstreicht Tonio Kröger Kälte als Attribut der Künstler – er bezeichnet sie als „die Stolzen und Kalten, die auf den Pfaden der großen, der dämonischen Schönheit abenteuern und den ‚Menschen‘ verachten“. Er bewundere sie, aber beneide sie nicht, fügt er umgehend hinzu.25 Tonio Kröger bewertet das Künstlertum nicht nur von außen, sondern bezieht seine Urteile auch konsequent auf das eigene dichterische Dasein und rechnet sich der Gruppe der Künstler zu. Über deren Verhältnis zu Gefühlen äußert er sich wie folgt: Das Gefühl, das warme, herzliche Gefühl ist immer banal und unbrauchbar, und künstlerisch sind bloß die Gereiztheiten und kalten Ekstasen unseres verdorbenen, unseres artistischen Nervensystems. Es ist nötig, daß man irgend etwas Außermenschliches und Unmenschliches sei, daß man zum Menschlichen in einem seltsam fernen und unbeteiligten Verhältnis stehe, um imstande und überhaupt versucht zu sein, es zu spielen, damit zu spielen, es wirksam und geschmackvoll darzustellen. Die Begabung für Stil, Form und Ausdruck setzt bereits dies kühle und wählerische Verhältnis zum Menschlichen, ja, eine gewisse menschliche Verarmung und Verödung voraus. Denn das gesunde und starke Gefühl, dabei bleibt es, hat keinen Geschmack. Es ist aus mit dem Künstler, sobald er Mensch wird und zu empfinden beginnt.26

Die künstlerische Tätigkeit erfordert vom Autor eine gewisse Unbeteiligtheit, ein Sichfernhalten von Ausbrüchen der Leidenschaft. Der Künstler soll diese Distanz anstreben, sie – wie ein Schauspieler und Regisseur zugleich – inszenieren und anderen vorspielen. Solche Einstellung ist seiner Meinung nach für die ästhetische Qualität des Kunstwerks unentbehrlich. Allerdings bedeutet diese distanzierte Haltung weder Armseligkeit noch Askese. Den Verzicht auf die natürlichen Gefühlsregungen kompensiert der Künstler durch Gereiztheit und kalte Ekstasen, wie sie auch für Tonio Kröger bezeichnend sind: Er gedachte der wüsten Abenteuer der Sinne, der Nerven und des Gedankens, die er durchlebt, sah sich zerfressen von Ironie und Geist, verödet und gelähmt von Erkenntnis, halb aufgerieben von den Fiebern und Frösten des Schaffens, haltlos und unter Gewissensnöten zwischen krassen Extremen, zwischen Heiligkeit und Brunst hin und her geworfen, raffiniert, verarmt, erschöpft

25 Thomas Mann, Tonio Kröger, 80. 26 Ebd., 31 f.

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von kalten und künstlich erlesenen Exaltationen, verirrt, verwüstet, zermartert, krank – und schluchzte vor Reue und Heimweh.27

Man hat den Eindruck, Tonio Kröger bewege sich zwischen extremen Zuständen und Oppositionspaaren wie sakral und profan oder arm und raffiniert. Durch Ironie kann der Protagonist den für seine Dichtung nötigen Abstand zum Leben behalten, der ihn jedoch viel kostet. Seine Existenz als Dichter bedeutet eine Art von geistiger Verkrüppelung, Qual und Schwäche. Man kann ihn für ein verletztes Individuum halten, das nicht mehr lebensfähig ist, sich aber „kalten und künstlich erlesenen Exaltationen“ hingibt. Im Hintergrund dieser Beschreibung klingt eine Vorstellung von Kunst als Perversion und Pathologie mit, der zufolge die Quelle der schöpferischen Kraft und somit der ästhetischen Erfahrung in der Abgeschiedenheit des Künstlers vom Leben liegt, die man als qualvoll und dennoch lustvoll empfinden kann. Hier werden Ähnlichkeiten von Tonio Kröger und Friedrich sichtbar. In Gom­ browicz’ Pornographie hat die Konstruktion des Protagonisten ähnliche Züge wie die Konzeption des Künstlers in Manns Novelle. Friedrich wirkt durch die Kälte und Ambivalenz seiner Erscheinung – Tonio nennt dies Attribute der künstlerischen Existenz – unzugänglich und wird zum undurchschaubaren Rätsel für den Ich-Erzähler. Ähnlich wie Tonio ist auch Friedrich zwischen den Extremen hin und her geworfen und entkommt dadurch einer Bestimmung und Festlegung; sein Schwanken zwischen Dichotomien bezeichnet Gombrowicz’ Ich-Erzähler als „schweigsam-schreiende Unanständigkeit“ (P 11). Das impliziert ein distanziertes Verhältnis zur Welt sowie eine kalte und zynische Haltung anderen gegenüber. In seinen Versuchen, Friedrich zu beschreiben, hebt der Ich-Erzähler häufig dessen reserviertes Verhalten hervor, das er zunächst als gefährlich wahrnimmt: „Zum erstenmal empfand ich ihn als etwas Feindliches, und zwar als etwas unmittelbar Bedrohliches. Er hielt mich weiterhin freundschaftlich am Arm, doch seine Nähe war zynisch und kalt“ (P 40). Diese kühle Distanziertheit erscheint ihm als grausam und anziehend zugleich: „Er war verdammt zu dem ewigen Terror dessen, was ist, in seiner Kälte, durch nichts erwärmt – er war, wie er war. […] Ich fing auch seinen Blick auf, mit dem er Amelia entkleidete, ganz wie Don Juan ein kleines Mädchen“ (P 81). Die Erwähnung der literarischen Figur des Verführers unterstreicht Friedrichs Anziehungskraft. Dieser verhält sich so, „als ob er seiner Person nicht erlaubte, vollen Anteil an dem zu nehmen, was er tat“ (P 38). Auf diese Weise scheint er jene Unbeteiligtheit zu repräsentieren, von der auch in Manns Text die Rede ist. Statt lebhaft und engagiert am Geschehen teilzunehmen, widmet er sich künstlichen Exaltationen oder – mit den Worten aus Tonio Kröger – „kalten Ekstasen“. Auf der Suche nach solchen Gereizt­ heiten denkt er sich die Intrige aus, die beiden Jugendlichen zu verkuppeln. Die

27 Ebd., 78.

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­ erverse Idee hat etwas „Außermenschliches und Unmenschliches“,28 ihre Künstlichp keit und Widernatürlichkeit irritiert, weil mit List ein Gefühl zwischen den Menschen ausgelöst werden soll, das es nicht gibt. Zugleich hat der Plan trotz seiner Lüsternheit das kreative Potenzial eines prometheischen Schöpfungsaktes – aus etwas Nichtvorhandenem will Friedrich etwas Neues schaffen. Seine Kälte, Ambivalenz, Rätselhaftigkeit und Unzugänglichkeit dienen – anders als bei Thomas Manns Tonio Kröger – nicht dazu, über die Dekadenz des Künstlers zu reflektieren und metapoetologische Reflexionen anzustellen. Die Verbindung dieser Eigenschaften wird in Pornographie stattdessen zum Inbegriff einer subversiven Anziehungskraft, die imstande ist, das Bestehende zu unterminieren und in der sich das Prinzip der künftigen Neuordnung andeutet. Gombrowicz beruft sich übrigens häufig auf Thomas Manns Kunst- und Künstlerkonzeption – zum Beispiel in seinen Tagebucheinträgen, die während seiner Arbeit an Pornographie entstanden sind.29 Es lohnt sich, diesen Kommentar in die Inter­ pretation einzubeziehen und die Passage zu untersuchen, in der er ausdrücklich die Novelle Tonio Kröger erwähnt und verdeutlicht, von welchen Ansichten Thomas Manns er besonders fasziniert war. Gombrowicz’ Tagebuch ist ein autonomes fiktionales Werk mit autobiographischen Bezügen. Der folgende Abschnitt wurde 1959, ein Jahr vor ­Erscheinen des Romans notiert, das literarische Subjekt schreibt hier über sich selbst in der dritten Person kursiv.

28 Ebd., 31 f. 29 Mehr über Gombrowicz’ Verhältnis zu Thomas Mann bei Piotr Millati, Gombrowicz wobec sztuki: Wybrane zagadnienia, Gdańsk 2002, 40 f, 45, 70. Auf Einflüsse des Schaffens von Thomas Mann im Werk von Gombrowicz weist auch Rolf Fieguth hin. Er bemerkt, dass die Novellen Tod in Venedig und Tonio Kröger „existenziell wichtig“ für den polnischen Schriftsteller waren, und fügt in der Fußnote hinzu: „Mit Thomas Mann teilte Gombrowicz (außer der sexuellen Orientierung) ein verdecktes Penchant für die Romantik und für die Poesie überhaupt, die explizite Vorliebe für Schopenhauer und Nietzsche, das produktive Interesse für englische, russische und skandinavische Literatur, sowie eine besonders ausgeprägte Stilartistik.“ Rolf Fieguth, „Gombrowicz mit deutscher Fresse. Zweiter Versuch“, in Andreas Lawaty u. Marek Zybura (Hg.), Gombrowicz in Europa, 124. Über Anspielungen auf Tonio Kröger in Gombrowicz’ Tagebuch vgl. Peter Langemeyer, „Gombrowiczs Berlin. Zu den Berliner Notizen“, in Andreas Lawaty u. Marek Zybura (Hg.), Gombrowicz in Europa, 51. Und Grzegorz Gugulski, Die Selbstdarstellung im Tagebuch: Am Beispiel des Tagebuchs Witold Gombrowicz’, Wien 2002, 103 f. Auch Heinrich Kunstmann unterstreicht am Rande eines seiner Aufsätze Gombrowicz’ Respekt vor Manns Prosa und erinnert an eine Befragung, in der Gombrowicz dem Tagesspiegel seinen Standort innerhalb der Literatur folgendermaßen beschrieben haben soll: „Dostoevskij stehe ihm persönlich nicht nahe, die Komik des Übermenschen Nietzsche irritiere ihn bisweilen, auch keine Prousts oder Joyces oder Kafkas hätten es ihm angetan, Alfred Jarry jedoch sei sein persönlicher Geschmack und Thomas Mann der einzige zeitgenössische Schriftsteller, dem er die Hand küssen möchte.“ In indirekter Rede gibt dies Gombrowicz’ Brief vom 5. Dezember 1966 an Rudolf Richter vel Walter Tiel wieder, seinen Übersetzer ins Deutsche. Heinrich Kunstmann, „Die Rückkehr des Witold Gombrowicz nach Europa. Aus den Anfängen seiner deutschen Rezeption“, in Andreas Lawaty u. Marek Zybura (Hg.), Gombrowicz in Europa, 112.



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Von all diesen Stilen, mit denen sich so viele Meister in der Größe versuchten, stand ihm vielleicht der am nächsten, den Thomas Mann sich im Laufe seiner langjährigen Karriere erarbeitet hatte. Denn Mann war es – im Geiste seiner Epoche – gelungen, Größe und Krankheit, Genie und Dekadenz, Erhabenheit und Erniedrigung, Ehre und Beschämung enger als jeder andere zu verbinden, er unternahm diese wahnwitzige Verknüpfung der Widersprüche mit vertrauen­ erweckender Aufrichtigkeit … und er behandelte diese peinliche Widersprüchlichkeit nicht als etwas Abstoßendes und Verdammenswerten, sondern gerade als etwas Leidenschaftliches und Betörendes, ja Liebenswertes, so dass der große Künstler, wie Mann ihn spielt, widerwärtig und lächerlich, aber auch großartig und anziehend ist … wie ein Liebhaber. Diese Mannsche „Gerechtigkeit“ bei der Verteilung von Licht und Schatten, die tiefe Intelligenz der Problemstellung gefielen Gombrowicz über alles, und er berief sich in Gesprächen gern und oft auf diesen Autor und seine trefflich gezeichnete Erzählung Tonio Kröger, die er, Gombrowicz, schon früh als Geschichte des eigenen Schicksals und seiner Berufung gelesen hatte.30

An Manns Künstlerverständnis ist für Gombrowicz die Verbindung von Oppositionen wie das Erhabene und das Niedrige faszinierend, die – neben weiteren klassischen Gegensatzpaaren wie etwa die Jugend und das Alter, die Schönheit und die Hässlichkeit oder der Geist und die Sinnlichkeit – auch sein Gesamtwerk determinieren. Die auktoriale Erzählinstanz in der Tagebuchaufzeichnung weist auf den besonderen Umgang mit den Widersprüchlichkeiten in Manns Werk hin, in denen die Binaritäten in „wahnwitzigen Verknüpfungen“ zusammengebracht werden. Dieser Ausdruck betont den intensiven, unsinnigen, dafür aber kühnen und lustvollen Charakter dieser ­Verbindungen.31 Dem unentschiedenen, elektrisierenden Spannungsverhältnis der D ­ ichotomien in Tonio Kröger schreibt Gombrowicz dezidiert eine besondere Verführungskraft zu – die Bezeichnungen wie „leidenschaftlich“, „betörend“, „liebenswert“, „großartig“, „anziehend“ oder „der Liebhaber“ – und empfindet sie als außerordentlich prägend für sein eigenes Selbstverständnis als Autor. Das Schaffen von Ambivalenzen und „wahnwitzigen Verknüpfungen“ ist ein ­obsessiv wiederkehrendes Thema in Gombrowicz’ Werken. Gleichzeitig will er dieses Element der Künstlerkonzeption von Mann modifizieren, um damit „Mann zu überwinden“ und „eine Generation moderner“ als er zu sein.32 Gombrowicz ergänzt die

30 Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953–1969, übers. v. Olaf Kühl, Frankfurt a. M. 2004, 536–537 (Kapitel 1959, XI). Auch Artur Sandauer liest Pornographie und diesen Tagebucheintrag zusammen, aber in einem anderen Kontext: Er sieht eine Analogie zwischen dem doppelgängerischen Verhältnis des Ich-Erzählers zu Friedrich im Roman und der stilistischen Erneuerung im Tagebuch, die im Wechsel von der Ich-Perspektive zur Erzählung in der dritten Person besteht. Artur Sandauer, „Gombrowicz – człowiek i pisarz“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 124. Zum Thema der Erzählperspektive im Roman siehe Kapitel 3.5 in dieser Studie. 31 Gombrowicz wählte dafür einen besonders klangvollen Satz mit vielen Zischlauten: „[P]odszedł on do tego szalonego sprzęgnięcia sprzeczności ze szczerością wzbudzającą zaufanie“, „er unternahm diese wahnwitzige Verknüpfung der Widersprüche mit vertrauen­erweckender Aufrichtigkeit“). Witold Gombrowicz, Dziennik 1957–1961, hg. v. Jan Błoński, Kraków 1989, 152. 32 Den Worten der Bewunderung für Manns Prosa folgen Ironie und leichter Spott über dessen

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Kälte und Ambivalenz der Künstlerfigur bei Mann durch subversive und sinnliche Anziehungskraft. In Tonio Kröger ist der Dichter ein Individuum, das den Freuden des Lebens entsagt, eine distanzierte, rücksichtslose und unzugängliche Haltung zur Wirklichkeit einnimmt, emotional unbeteiligt bleibt und stattdessen nach „kalten Ekstasen“ sucht und daraus seine Kreativität schöpft – diese Idee wird Thomas Mann im Doktor Faustus weiterentwickeln. Gombrowicz betont darüber hinaus die sinnliche Anziehungskraft des Künstlers, dem es aber nicht darum geht, seine Rezipienten kühl kalkulierend zu verführen. Der Künstler ist kein unbeteiligter Stratege der Verführungskunst, vielmehr wird er als ein selbst leicht verführbares Wesen dargestellt, das der Anziehungskraft der Welt unterliegt. Er führt kein entsagungsreiches Leben, sondern lässt sich von äußeren Impulsen, Spannungen und Begierden leiten. Gombrowicz’ Reinterpretation von Manns Ansichten besteht darin, dass er in Pornographie das Moment des Scheiterns seiner Konzeption vorführt: Die von den Protagonisten anfangs angestrebte Kälte muss misslingen. Ihre Distanziertheit stellt sich als eine Attitüde heraus, die schnell ins Gegenteil umkippt. Diese Verbindung von Verführbarkeit und Verführungskraft deutet Gombrowicz aber weder als Niederlage oder Schwäche noch als Erhabenheit oder prätentiöse Überlegenheit des Künstlers.33 Vielmehr sieht er darin das kreative und subversive Potenzial der Sinnlichkeit, das imstande ist, die bestehende Ordnung der Dinge ins Wanken zu bringen und eine neue hervorzurufen. In Pornographie wird das Paradigma der Kälte im Laufe der Intrige unterminiert. Anfangs scheint es, dass Friedrich mit der Verkuppelung etwas Perverses anstellen möchte. Er wirkt, als ob er mit kaltem Kalkül, gefühl- und rücksichtslos handeln würde. Seine Unbeteiligtheit schlägt mit der Zeit jedoch ins Gegenteil um – seine Intrige verschlingt allmählich auch ihn selbst. Während er anfangs schweigsam, unzugänglich und distanziert ist, beginnt er sich immer mehr für die Durchführung des

Selbststilisierung als Künstler: „Und wie das Mannsche Werk wuchs, ließ sich hinter jener demaskierenden Zerstörungswut des Revolutionärs eine schwerfällige Rhetorik vernehmen, die sich gern würdig gab, mit Virtuosität schöntat, majestätisch und im Purpur, wie ein Kardinal. Au Mann, du alte Kokotte – so ein eitler Pfau bist du? Was also sollte Gombrowicz tun? Konnte er Mann überwinden, indem er sich auf ihn stützte – und so zu einem neuen Mann werden, einem Mann auf höherer Stufe? Eine Generation moderner?“ Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953–1969, 537. 33 Für Peter Hamm sind Verführbarkeit und Verführungskraft die Schlüssel zu Gombrowicz’ Schaffen. „Es sind sehr mächtige, oft übermächtige Feinde, die sich Gombrowicz da ausgesucht hat. Sie lassen sich nicht so leicht aus dem Weg räumen, zumal sie sich ja längst in ihm selbst – in Gombrowicz – eingenistet haben, ein Teil von ihm geworden sind. Sie bekämpfen heißt also immer auch: sich selbst bekämpfen. Der Reife muss die Unreife in sich wiedererwecken, der Formvollendete muss den noch Ungeformten in sich freisetzen, der Bekleidete sich zur Nacktheit bekennen, der Vater muss den Sohn in sich entdecken und der Sohn den Vater in sich am Wachsen hindern. Das Ziel aller dieser Kämpfe und Mühen ließe sich auch auf die einfache Formel bringen: verführbar belieben, nach Verführung verlangen – und selbst Verführer sein, gerade als Schriftsteller und Künstler.“ Peter Hamm, „‚Menschsein heißt den Menschen spielen‘. Witold Gombrowicz und seine Tagebücher“, in ders., Der Wille zur Ohnmacht, 136.



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Vorhabens zu engagieren und verfasst Briefe an den Ich-Erzähler, in denen er seinen listigen Plan weiterspinnt und Folgendes berichtet: „Sie fragen, welchen Plan ich habe? Gar keinen. Ich gehe der Linie der Spannungen nach, verstehen Sie? Ich gehe der Linie der Erregungen nach“ (P 123). Dieses Zitat kann man als selbstreflexive Aussage lesen und in Gombrowicz’ Künstlerkonzeption einbeziehen, was schon mehrere Interpreten getan haben. Den Spannungen nachzugehen lässt sich als poetologische Metapher verstehen, die auch den Sprachbildern in den Metakommentaren von Schulz ähnelt. Auch er bedient sich einer gewissermaßen elektrischen Metaphorik, wenn er im Zusammenhang mit dem literarischen Schaffen vom Zurückgeben von Spannungen spricht.34 Hanjo Berressem interpretiert dies mit einem psychoanalytischen Ansatz und bemerkt, dass die Spannungen für ein unbewusstes verdrängtes Begehren stünden, das die Literatur ans Licht bringen und in Worte fassen könne.35 Michał P. Markowski hingegen bezeichnet Gombrowicz’ „Linien der Spannungen“ mit einer von G ­ illes Deleuze entnommenen Bezeichnung als Fluchtlinien, die das transgressive und befreiende Potenzial der Literatur betonen. Dadurch, dass sich Friedrich von Erregungen leiten lasse, überführe er seine hermetische Zurückgezogenheit in einen von außen her erfassbaren und zugänglichen Zustand.36 Tatsächlich überwindet Friedrich in den

34 In dem schon erwähnten Aufsatz Die Mythisierung der Wirklichkeit liefert Schulz folgende Definition der Dichtung: „Poesie – das sind die Kurzschlüsse des Sinns zwischen den Worten, die schlagartige Regeneration der ursprünglichen Mythen“ (Z 194). Über Aufgabe der Dichters bemerkt er: „Der Dichter gibt den Worten die Führung durch neue Spannungen zurück, die aus Kumulationen entstehen“ (Z 196 f.). 35 Hanjo Berressem, Lines of Desire: Reading Gombrowicz’s Fiction with Lacan, Evanston 1998, 150–196. Berressem liest Pornographie mit dekonstruktivistischen und postmodernen Theorien und schreibt Gombrowicz antizipatorische Fähigkeiten zu: „In these deconstructions avant la lettre, Gombrowicz actually seems to anticipate Jacques Derrida’s strategy for the deconstruction of the oppositional logic underlying metaphysical concepts and their hierarchical structure.“ Ebd., 56. Berressems Interpretation basiert aber auf der alten englischen Übersetzung des Romans aus dem Französischen und nicht aus dem Polnischen. Das im Titel seiner Studie benutzte Zitat „lines of desire“ ist ein Übersetzungsfehler. Gemeint ist eine Linie der Spannungen und Erregungen und nicht des Begehrens. In der mit Preisen ausgezeichneten amerikanischen Neuübersetzung von Danuta Borchardt wird dieser Ausdruck richtig als line of tensions, line of excitements übertragen. Auf die Falle, in die Berressem geraten ist, wird im Vorwort zur Übersetzung hingewiesen. Sam Lipsyte, „Foreword“, in Witold Gombrowicz, Pornografia / Pornography, ins Englische übers. v. Danuta Borchardt, New York 2009, XII. 36 Markowski zufolge zeichnet Gombrowicz seine Fluchtlinien außerhalb der Literatur und Philosophie, weil er die Spannungen und Erregungen aus ihrer hermetischen Geschlossenheit im Individuum holt und sie in die Außenwelt bringt, in der sie zur Perversion werden. Michał P. Markowski, Czarny nurt, 28. Auf das Konzept der Fluchtlinie von Deleuze beruft sich auch Hanjo Berressem in seinem schon erwähnten Artikel, allerdings geht er außer Titel nirgendwo in seinem Text auf diesen Begriff ein. Vgl. Hanjo Berressem, „Fluchtlinien. Deleuze liest Gombrowicz“, 224–252. Siehe auch Gilles Deleuze, „Signes et événements, un entretien avec Gilles Deleuze par Raymond Bellour et François Ewald“, in Magazine Littéraire Nr. 257/1988, 16–29. Deleuze entwickelte den Begriff der Flucht­ linie zusammen mit Félix Guattari unter anderem am Beispiel der Prosa Kafkas. Sie beschreiben die Fluchtlinie als Denkbewegung oder subversiven Prozess wie das Zum-Tier-Werden, in dem das Tier

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Briefen seine kalte und verschlossene Haltung. Die Verkuppelung den beiden Jugendlichen ist ihm keine „kalte Ekstase“ und kein Anlass mehr für eine künstliche Exal­ tation. Im Gegenteil, er gibt sich dem Geschehen mit Leidenschaft hin, verlässt seine distanzierte Position und kommuniziert mit der Außenwelt. Einerseits hinterfragt Friedrich also die Distanziertheit des Künstlers, andererseits bestätigt er dessen hermetische Verfasstheit, aber in einem anderen Sinn. Im Künstler kann man nämlich eine Variante des Götterboten Hermes oder seiner römischen Entsprechung Merkur sehen, was sich wiederum als Rekurs auf die Künstlerkonzeption von Mann deuten lässt. Friedrichs Ambivalenz ist ein Zustand des Dazwischen. In seiner nicht festgelegten und unbestimmten Haltung ähnelt er einem Boten. Sein Wesen ist nicht zu erfassen; er bewegt sich zwischen Gegensätzen wie jung und alt oder sakral und profan, berührt die Extreme. Dabei hat er – wie Sybille Krämer in ihrer Interpretation der Figur des Boten bemerkt – „ein symbolisch-diabolisches Doppelgesicht“, das heißt, er bringt die gegensätzlichen Sphären zusammen (gr. symbállein) und trennt sie zugleich voneinander (gr. diabállein).37 Diese Assoziation scheint für Gombrowicz’ Verständnis des Künstlers programmatisch zu sein, der wie der Götterbote verführerisch handeln muss. Diesen Gedanken formulierte der Autor in einem Interview, das er kurz vor seinem Tod gab: Das ist die Sublimation der Sinnlichkeit; in gewissem Sinne muss jeder Künstler durchgeistigt sein und zugleich sinnlich, weil er auf diese Weise körperlos wird. Wie es Thomas Mann richtig bemerkte, der Künstler ist fast wie Merkur, wie der Bote zwischen der menschlichen und der göttlichen Welt. Er reibt sich an Göttlichkeit und ist dabei gleichzeitig äußerst sinnlich.38

Der Verweis auf Thomas Mann ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig. Die Figur des Hermes vel Merkur ist ein stets wiederkehrendes und mehrdeutiges Motiv in des-

der bestehenden Ordnung entkommt. So wird das bisherige Verständnis von Sinn und Bedeutung hinterfragt: „Das Wesentliche am Tier ist für Kafka der Ausweg, die Fluchtlinie, auch ohne sich von der Stelle zu rühren, selbst wenn man im Käfig bleibt.“ Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Kafka: Für eine kleine Literatur, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt a. M. 1976, 49. Simon Ruf bemerkt, „die vitalistische Fluchtlinie“ ist ständig im Denken von Deleuze präsent und „so scheint der Kunst gerade in der Verwirklichung dieses Vitalismus eine hervorragende Bedeutung zuzukommen“. Simon Ruf, Fluchtlinien der Kunst: Ästhetik, Macht, Leben bei Gilles Deleuze, Würzburg 2003, 11. 37 Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, 116. 38 Das obige Zitat ist meine Übersetzung der folgenden Aussage: „To jest sublimacja zmysłowości; w pewnym sensie każdy artysta musi być uduchowiony i zarazem zmysłowy, ponieważ w ten sposób staje się bezcielesny. Jak słusznie stwierdził Tomasz Mann, artysta jest kimś w rodzaju Merkurego, posłańcem między światem ludzkimi boskim. Ociera się o boskość i jednocześnie jest niezwykle zmysłowy.“ Witold Gombrowicz, „Gombrowicz: forma i rytuał. Wywiady Piera Sanavio (1968)“, aus dem Italienischen ins Polnische übers. Katarzyna Bielas u. Francesco M. Cataluccio, in ders., List do ferdydurkistów, Varia Bd. 3, Kraków 2004, 223.



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sen Werk. Er steht für Schönheit, Jugend, spielerische Leichtigkeit und homoerotische Liebe.39 Insbesondere verbindet Mann den mythologischen Boten mit seiner Künstlerkonzeption, über die er in einer seiner Reden Folgendes bemerkt: Die vermittelnde Aufgabe des Künstlers, seine hermetisch-zauberhafte Rolle als Mittler zwischen oberer und unterer Welt, zwischen Idee und Erscheinung, Geist und Sinnlichkeit kommt hier zum Vorschein; denn dies ist sozusagen die kosmische Stellung der Kunst.40

Für Mann ist Hermes – neben Don Juan, Don Quijote und Faust, wie Hans Wysling hinzufügt – ein typisches Bild für den modernen Künstler.41 Hermes verdeutlich die vermittelnde Rolle des künstlerischen Schaffens, das sich als eine versöhnende Tätigkeit herausstellt. Der Schriftsteller vereint Geist und Sinnlichkeit und strebt nach ihrer Synthese.42 Gombrowicz modifiziert in seinem Roman Thomas Manns Hermes-Motivik. Friedrich ähnelt einem Boten, hat aber nicht die vermittelnde und vereinigende Kraft des mythologischen Götterboten, sondern besitzt ein Potenzial, das unmerklich einen ­Umsturz bewirken und die Entstehung einer neuen Ordnung in Gang setzen kann. Daher passt zu ihm statt des Vergleichs mit Hermes eher die Bezeichnung „der dunkle ­Vorbote“ (fr. précurseur sombre), die Gilles Deleuze in seiner Abhandlung Differenz und Wiederholung einführt:

39 Als Beispiel kann man die Figuren Felix Krull, den jungen Joseph in der Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder oder Tadzio nennen. Letzterer spielt in Tod in Venedig (1911) die Rolle des Hermes Psychopompos, der den Protagonisten Gustav von Aschenbach wie ein mythologischer Seelenbegleiter in die Unterwelt führt und zugleich homoerotische Phantasien verkörpert. Zum Thema HermesFigurationen bei Thomas Mann vgl. Walter Jens, „Der Gott der Diebe und sein Dichter. Ein Versuch über Thomas Manns Verhältnis zur Antike“, in Antike und Abendland Nr. 5/1956, 139–153. Jürgen Rothenberg, „Der göttliche Mittler. Zur Deutung der Hermes-Figuration im Werk Thomas Manns“, in Euphorion Nr. 66/1972, 55–80. Gerald Gillespie, „The Ways of Hermes in the Work of Thomas Mann“, in Karl Konrad Polheim (Hg.), Sinn und Symbol: Festschrift für Joseph P. Strelka zum 60. Geburtstag, Bern u. a. 1987, 371–385. Oder eine der neuesten und umfangreichsten Abhandlungen Hélène Vuillet, Thomas Mann: Les métamorphoses d’Hermès, Paris 2007. Zu Beginn ihrer Studie führt die Autorin zwei Zitate von Mann an, die zwar nicht aus seinen Prosawerken stammen, aber in denen der Romancier direkt sein besonderes Verhältnis zu Hermes anspricht. Erstens werden Manns Erinnerungen an seine Kinderspiele zitiert: Als Kind sei er „als Hermes mit papiernen Flügelschuhen durch die Zimmer“ gehüpft (Thomas Mann, Reden und Aufsätze 3, Frankfurt a. M. 1974, 329). Zweitens wird einer von Manns Briefen erwähnt, in dem er Folgendes feststellte: „Hermes, meine Lieblingsgottheit“ (Brief vom 24. März 1934 an Karl Kerényi). Zit. n. Hélène Vuillet, Thomas Mann, 17. Über das Hermes-Motiv im Kontext der Problematik der Verführung bei Mann vgl. auch Margot Berghaus, Versuchung und Verführung im Werk Thomas Manns, Hamburg 1971, 156 f. 40 Thomas Mann, „Schopenhauer“, in Reden und Aufsätze 1, Frankfurt a. M. 1974, 534. 41 Vgl. Hans Wysling, „Abenteuer-Motiv bei Wedekind, Heinrich und Thomas Mann“, 89–125. 42 Mehr zum Thema der Synthese bei Mann vgl. Sabine Appel, Naivität und Lebenskunst: Die Idee der Synthese von Leben und Geist in Thomas Manns Hochstapler-Memoiren, Frankfurt a. M. u. a. 1995.

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Der Blitzschlag entlädt sich zwischen verschiedenen Intensitäten, es geht ihm aber ein unsichtbarer, unspürbarer dunkler Vorstrom voraus, der im vorhinein dessen umgekehrten Weg wie im Negativabdruck bestimmt. Ebenso enthält jedes System seinen dunklen Vorboten, der die Kommunikation der Begrenzungsreihen sicherstellt.43

Der Anmerkung des Übersetzers zufolge bedeutet dieser Ausdruck wörtlich eine schwache elektrische Entladung, die dem Blitzschlag vorausgeht. Im übertragenen Sinne bezeichnet Deleuze damit eine Dynamik, die in jedem System vorkommt und auch in Pornographie zu finden ist. Friedrich als dunkler Vorbote geht dem Zusammenbruch der bestehenden Ordnung der Dinge voraus: Wie ein Trickster entschlägt er sich dieser Ordnung, hinterfragt sie und bringt sie zum Zusammenbrechen, indem er mit seiner Ambivalenz zunächst die dem System zugrunde liegende Vorstellung von klaren Zuweisungen und Dichotomien infrage stellt.44 In den folgenden Abschnitten möchte ich untersuchen, was auf die symbolische, vom dunklen Vorboten angekündigte Entladung folgt. Die zerfallende Ordnung scheint nämlich nicht, wie bei einem Negativabdruck, einfach in ihr Gegenteil umzuschlagen. Wie entsteht in Pornographie die neue Ordnung und nach welchen Regeln funktioniert sie?

3.1.4 Verführung als Grundprinzip der neuen Ordnung der Dinge Der Ich-Erzähler schreibt dem Protagonisten Friedrich zu, dass er all das, was bisher den Sinn ausmachte, hinterfragt und ein ontologisches Chaos erzeugt. Die Wirklichkeit scheint für ihn jeglichen Sinn verloren zu haben. Sie wirkt vollkommen leer – sie ist da, aber sie bedeutet ihm nichts. Deshalb fühlt er sich unmittelbar mit der „Wirklichkeit in crudo“ (P 24) konfrontiert und – wie es Jerzy Franczak formuliert – dem Abgrund des Realen ausgesetzt, der „rohen, fremden, unverständlichen Wirklichkeit“, der noch kein Sinn verliehen wurde.45 Die Zertrümmerung der bisherigen Gesetze empfindet er zunächst als triumphale Befreiung und Entgrenzung, als ersehntes Ereignis und lange erhoffte Überwindung von Einschränkungen. Als bei einem bereits erwähnten Besuch einer Messe die alte Werteordnung obsolet wird, kommentiert der Ich-Erzähler das folgendermaßen:

43 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 157. Zu dem im Original kursiv gesetzten Ausdruck „dunkler Vorstrom“ bemerkt der Übersetzer Joseph Vogl in einer Fußnote, dass die französische Formulierung précurseur sombre eine elektrische Entladung bedeute, die dem Blitzschlag vorausgehe, und in nicht-physikalischen Zusammenhängen im Text auch als „dunkler Vorbote“ übersetzt werde. Ebd., 157. 44 Mehr zur Figur des Ticksters in der Literatur vgl. Harold Bloom u. Blake Hobby (Hg.), The Trickster, New York 2010. 45 Jerzy Franczak, „W katastrofie“, 215.



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O Triumph! Welch ein Sieg über diese Messe! Welch ein Stolz! Als wäre diese Liquidation irgendein von mir erwünschtes Ende: endlich allein, ich allein, ohne alle, und nichts außer mir, allein in absoluter Finsternis … also war ich an meine äußerste Grenze gelangt, hatte die Finsternis erreicht! (P 24)

Der Sieg über die Messe bedeutet nicht nur die Negation der christlich geprägten Weltvorstellungen, sondern steht symbolisch für die Auflösung jeder Ordnung, die die Wirklichkeit mit unanfechtbaren Gesetzmäßigkeiten und einem unbezweifelbaren Wahrheitsbegriff strukturiert. Friedrich negiert dem Ich-Erzähler zufolge alle Regeln und Dogmen. Die Verheißung der Freiheit nach dem Zerfall der Ordnung kippt auf einmal in Angst vor Anarchie um: Ein bitteres Ende, ein bitterer Geschmack des Erlangens und ein bitteres Ziel. Aber stolz war das, schwindelerregend, gezeichnet von der unerbittlichen Reife des Geistes, der nun selbständig war. Aber es war auch entsetzlich, und, jeglicher Stütze beraubt, fühlte ich mich in mir selber wie in den Händen eines Ungeheuers, denn ich konnte alles mit mir anstellen, alles, alles! Trockenheit des Stolzes. Frost der Endgültigkeit. Strenge und Leere. Was also? (P 24)

Die Freude angesichts der zertrümmerten Weltordnung erweist sich als bitter, sie hat auch ihre Kehrseite. Mit ihr gehen Verunsicherung und Instabilität einher. Das Gefühl absoluter Autonomie, des Sichlosreißens von allen Normen und der völligen Selbstbestimmung ist für den Ich-Erzähler einerseits befreiend, andererseits unheimlich, beunruhigend und „schwindelerregend“. Das Motiv des Schwindels kennzeichnet die Erfahrung der Moderne und kommt – um nur ein Beispiel zu nennen – in Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924) vor.46 Hier versinnbildlicht der Schwindel, der Manns Protagonisten Hans Castorp im Sanatorium heimsucht, dessen Entfernung vom stabilen bürgerlichen Wertesystem. Auch Gombrowicz beschreibt einen schwindel­erregenden Zustand, der eintritt, als seine zentrale Gestalt auf einmal alle Stützen verliert. Dieser Verlust ist für den Ich-Erzähler eine Grenzerfahrung. Er befindet sich an der Schwelle zu einem neuen Zustand. Diese Übergangssituation könnte man mit dem Begriff rite de passage assoziieren, den der französische Ethnologe Arnold van Gennep geprägt hat. Selbstverständlich sind die in Pornographie beschriebenen Ereignisse keine rituellen Zeremonien, die wiederholbar sind und eine initiierende und in die Gemeinschaft integrierende Funktion haben. Aber im Roman lassen sich Phasen eines modellhaften Übergangs wiederfinden. Der Ich-Erzähler erlebt zunächst so etwas wie

46 Darauf, dass das Motiv des Schwindels mit seinem kritischen Potenzial nicht nur ein erst für die Moderne charakteristisches Phänomen ist, sondern dass es sich beispielsweise bei Pascal, Montaigne oder Nietzsche finden lässt, weist Anne Eusterschulte in ihrem Vortrag „Krisen der Erfahrungen: Schwindel“ hin, den sie am 17. Oktober 2014 im Rahmen der Tagung „Erfahren als / von Grenzgebiet. Erfahrung in der Prosa der Klassischen Moderne“ im Deutschen Literaturarchiv in Marbach hielt. Vgl. auch den Sammelband von Rolf-Peter Janz u. a. (Hg.), Schwindelerfahrungen: Zur kulturhistorischen Diagnose eines vieldeutigen Symptoms, Amsterdam u. New York 2003.

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eine Weltentfremdung, er trennt sich von seinen Vorstellungen vom Sinn und löst sich von der bestehenden Ordnung. Unmittelbar darauf wird sein liminaler Zustand genau analysiert: Witold erlebt eine Ekstase, die ihn in eine andere Ordnung der Dinge überführt und seine Weltsicht verändert. Nach den ekstatischen und extrem intensiven Gefühlen kehrt er in die Wirklichkeit zurück, allerdings mit einer transformierten Auffassung von ihrer ontologischen Struktur.47 Um die andere Beschaffenheit der Welt zu beschreiben, hier ein längeres Zitat zur Ekstase des Ich-Erzählers, denn damit beginnt die Entstehung der neuen Ordnung. [A]ber in einem bestimmten Augenblick wurde mein Blick … wurden meine Augen … Augen panisch und schwer. Ja, irgend etwas zog sie an, die Augen … Verführerisch, verlockend – ja. Was? Was war es, das sie anzog, reizte? Das Wunderbare, wie im Traum, verschleierte Stellen, die wir begehren und nicht enträtseln können, und wir kreisen um sie herum mit stummem Schrei in einer alles verschlingenden Sehnsucht, einer zerreißenden, beglückenden, entzückten. So kreiste ich umher, noch scheu, unsicher … aber schon lustvoll durchdrungen von einer geschmeidigen Verführung, die mich ergriff – behexte – entzückte – bezauberte – locke und unterjochte – spielte – und der Kontrast zwischen dem kosmischen Frost jener Nacht und diesem sprudelnden Quell der Lust war derart unermesslich, dass ich unklar dachte: Gott und das Wunder! Gott und das Wunder! Was war das aber? Das war … ein Stückchen Wange und etwas Nacken … zu jemandem gehörend, der vor uns stand, in der Menge ein paar Schritte von uns … Ach fast wäre ich erstickt! Das war … (ein Junge) (ein Junge) Und als ich begriffen hatte, dass es nur (ein Junge) war, begann ich, mich gewaltsam aus meiner Ekstase zurückzuziehen. Denn übrigens sah ich ihn kaum, nur ein wenig gewöhnliche Haut – vom Nacken und von der Wange. Da bewegte er sich, und diese unmerkliche Bewegung ging mir durch und durch wie eine unheimliche Attraktion! Aber es war doch (ein Junge). Und nichts als (ein Junge). (P 24 f.)

Alles geschieht genauso abrupt wie der ontologische Zusammenbruch während der Messe. Sobald die Weltordnung negiert wird, erscheint eine neue Ordnung der Dinge,

47 Über die Dreiteilung von Übergangsriten in Ablösungsphase, Zwischenphase und Integrationsphase siehe Arnold van Gennep, Übergangsriten, Frankfurt a. M. u. a. 2005, 21 (Erstausgabe 1909).



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ein anderes System von Abhängigkeiten am Horizont. Für den Ich-Erzähler sind alle bisherigen Werte und Vorstellungen nichtig, aus den Trümmern beginnt sich aber plötzlich etwas Neues zu erheben, das er kaum in Worte fassen kann. Im Text folgen viele Auslassungspunkte und kurze Fragesätze, die einerseits Spannung aufbauen, andererseits auf den unbestimmten und unaussprechlichen Charakter des Novums hinweisen. Es hat weder eine konkrete Gestalt noch eine erklärbare Logik. In den ­ersten Absätzen werden viele Adjektive genannt, mit denen die groben Umrisse der Neuordnung gezeichnet werden. Das neue ontologische Prinzip wird mit Synonymen ­beschrieben, die die Überwältigung des Ich-Erzählers durch einen verführerischen Zauber, eine unwiderstehliche Anziehungskraft beschreiben; etwas wirkt auf ihn verführerisch, verlockend, zieht ihn an und reizt ihn, wird wie eine verschleierte, nicht zu enträtselnde Stelle begehrt. Wovon sich der Protagonist verführt fühlt und warum, bleibt unklar. Vielmehr geht es um die Wirkung der Verführung: Sie „verschlingt“, „zerreißt“, „beglückt“, entzückt“, „ergreift“, „behext“, „bezaubert“, „lockt“, „unterjocht“, „spielt“, bringt zum Ersticken. Trotz der vielen Worte bleibt das Prinzip der Verführung weiter unklar. Man erfährt nur von seiner Allmacht und Stärke sowie davon, dass es mit dem Sinnlichen und Präkognitiven verbunden und ein „Quell der Lust“ ist. Anstelle der alten Inhalte und Bedeutungen tritt auf einmal die „unheimliche ­Attraktion“ auf – das Prinzip Verführung als anziehender, überwältigender Reiz ohne Gegenstand.48 Es stellt sich heraus, dass die neue Gesetzlichkeit, mit der man die Welt erfassen kann, ein unbegreifliches Gefühl allgemeiner Anziehungskraft ist – ein Zustand des Entzückens über die Verführung, die sich im Raum ausbreitet und zu einer neuen ordnenden Regel wird. Nach dem ontologischen Kollaps hält die Dynamik der Verführung die Welt zusammen und bestimmt die Zusammenhänge zwischen den Dingen. Die Logik der zerfallenden Ordnung lockert sich und verwandelt sich in etwas Nebulöses, das keinen klaren Sinn ergibt, nur verführerisch wirkt und die Sphäre des Körperlichen und Affektiven aktiviert.

48 Am Beispiel der gerade zitierten Formulierung „unheimliche Attraktion“ wird deutlich, dass die Betonung der Attraktion – der besonderen Rolle der Verführung – in Gombrowicz’ Vorstellung von der Beschaffenheit der Welt nur eine von vielen möglichen Interpretationen ist. Markowski fokussiert sich zum Beispiel in seiner schon erwähnten Studie auf das Unheimliche: In Pornographie werde ihm zufolge die Invasion des Unheimlichen dargestellt, mit Jacques Lacan als Angst vor dem Realen verstanden. Gombrowicz’ Ontologie gliedert er in drei Welten, die er als das Alltägliche, das Dämonische und das Unheimliche bezeichnet. Sie seien nicht scharf voneinander getrennt und das Subjekt lebe in allen gleichzeitig. Mit dem Alltäglichen sei die Welt der naiven und verständlichen Relationen gemeint. Das Dämonische stehe für die Welt, die aus den Fugen gerate, hermetisch geschlossen und unverständlich für das Individuum werde. Das Unheimliche zeige sich in Gombrowicz’ Romanen dann, wenn es dem Menschen gelinge, sich aus den Trümmern der zerfallenen Wirklichkeit zu erheben. In der neuen Ordnung herrschen Perversion und Ambiguität. Michał P. Markowski, Czarny nurt, 37–39.

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Gombrowicz’ Strategie kann man aber nicht darauf reduzieren, dass er an die Stelle klarer Ordnung diffuses Gewimmel setzt.49 Eher geht es um ein mehrdeutiges Wechselspiel. So gibt es außer dem Gegensatzpaar Bestimmtheit und Unbestimmtheit noch eine andere Kategorie, die Hyperschärfe. Plötzlich fixiert der Ich-Erzähler Wange und Nacken eines Jungen. Doch in dem Augenblick, als die Verführung die Form dieses konkreten Objekts annimmt, endet die Entzückung und der Ich-Erzähler zieht sich aus seiner Ekstase zurück. Im Roman ergänzen sich das Utopische des Prinzips der Verführung und die Konkretheit und Eindeutigkeit der perversen Intrige. Deshalb scheint es passend zu sein, Gombrowicz’ Vorstellung einer anderen Ontologie mit Ernst Blochs Begriff der konkreten Utopie zu vergleichen. In Pornographie beginnt die Neuordnung der Dinge mit einem atheistischen Bekenntnis – mit der radikalen Ab­lehnung der für alle alten Ordnungen stehenden Religion. Der Bruch mit der Religion verwandelt sich jedoch paradoxerweise in eine, wie Bloch es formuliert, „häretische Hoffnung der ­Religion“, in eine Hoffnung auf eine neue maßgebende Absolutheit. In Gombrowicz’ Roman ist dies die Verführung, die allerdings ironisch zwischen Abstraktheit und ­materieller Umsetzung changiert.50 Die Verführung ist hier keine Interaktion, die sich zwischen dem Verführer und dem Verführten abspielt. Sie ähnelt eher einem spirituellen Erlebnis oder einer beinahe mystischen Erfahrung, die den Ich-Erzähler plötzlich ergreift. Als Reaktion auf die Erfahrung des Verführerischen wiederholt er zweimal die Aussage „Gott und Wunder“. Er fühlt sich von den anziehenden Kräften verschlungen, mitgerissen, vergisst sich selbst. Das Unaussprechliche und Unermessliche der Anziehungskraft erinnern an die Beschreibungen der Unio mystica, der Selbstauflösung und Vereinigung mit dem Universum. Der Ich-Erzähler verknüpft die erotisch konnotierte Verführung spielerisch mit dem Mystischen:

49 Das Wechselspiel zwischen Schärfe und Unschärfe bzw. zwischen Ordnung und Entropie scheint für die avantgardistische Kunst im Allgemeinen charakteristisch zu sein. Laut Aage A. Hansen-Löve ist es im russischen Formalismus ein Topos, der auf Russisch mit dem einprägsamen Wortpaar roj / stroj (рой / строй, Gewimmel, Schwarm versus Struktur, System) bezeichnet wird. Vgl. Aage A. Hansen-Löve, Der russische Formalismus: Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978, 170. 50 Ernst Bloch, Atheismus im Christentum: Zur Religion des Exodus und des Reichs, Gesamtausgabe Bd. 14, Frankfurt a. M. 1968, 317. Die zitierte Formulierung lautet in der vollen Länge: „Atheismus ist die Voraussetzung konkreter Utopie, aber konkrete Utopie ist ebenso unnachlaßliche Implikation des Atheismus. Atheismus mit konkreter Utopie ist im gleichen menschlichen Akt die Vernichtung der Religion wie die häretische Hoffnung der Religion, auf menschliche Füße gestellt. Konkrete Utopie ist die Philosophie und Praxis des in der Welt latenten Tendenz-Inhalts.“ Diesen Gedanken nimmt Bloch auch an anderer Stelle auf: „Gibt es ohne Atheismus keine Utopie des Reichs, so gibt es implicite auch keine ohne den utopisch-realen Hohlraum, den der Atheismus so übriggelassen wie eröffnet hat.“ Ders., Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1976, 1533. Mehr zum Begriff der konkreten Utopie vgl. Beat Dietschy u. a. (Hg.), Bloch-Wörterbuch: Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, Berlin u. Boston 2012, 633–663 (Stichwort Utopie von Peter Zudeick).



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Und doch klopfte mir das Herz. Und etwas Göttliches ging von ihm aus, da er etwas köstlich Bezauberndes und Einnehmendes war in der maßlosen Leere dieser Nacht, ein Quell der Wärme und des atmenden Lichts. Eine Gnade. Ein unbegreifliches Wunder: warum wurde diese Bedeutungslosigkeit bedeutungsvoll? […] [U]nd plötzlich begriff ich mit Leichtigkeit, ohne Anstrengung: dieser Nacken und jener Nacken. Diese beiden Nacken. Diese Nacken waren … Wie denn? Was denn? Das war, als ob ihr Nacken (des Mädchens) sich losrisse und sich mit jenem Nacken (des Jungen) verbände, als sei dieser Nacken durch jenen am Nacken gepackt, und als packte er jenen am Nacken! Verzeihen Sie mir bitte die Unbeholfenheit dieser Metapher. Es ist nicht ganz einfach, davon zu sprechen (und ich werde auch irgendwann erklären müssen, warum ich die Worte [Junge] und [Mädchen] in Klammern setze, ja, dies bleibt auch noch zu erklären) … (P 26)

Zur Beschreibung der Anziehungskraft benutzt Witold explizit religiös aufgeladene Wörter wie „Gnade“ und „unbegreifliches Wunder“. Auch Ausdrücke wie „Quell der Wärme“, „etwas köstlich Bezauberndes“ und „atmendes Licht“ lassen sich mit dem Sakralen assoziieren und ähneln der bildreichen Sprache der Mystiker wie etwa der von Meister Eckhart.51 Hinzu kommt die immer wieder beschworene Unsagbarkeit. Der Ich-Erzähler wendet sich mit einer Apostrophe an die Leserschaft, entschuldigt sich bei ihr für seine ungeschickte Metaphorik und beklagt, dass er die Verführung kaum in Worte fassen kann. Es handelt sich hier aber nicht nur darum, dass die Verführung zu einer Variante der mystischen Erfahrung wird. Der Ich-Erzähler stellt sie eher als einen geheimnisvollen Zustand rauschhafter, körperlicher Verzückung dar, dem kein klares Objekt als Auslöser zugrunde liegt. Dieses Gefühl ähnelt zwar einer Epiphanie, doch anstatt auf das Transzendentale zu verweisen, basiert es auf sinnlichen, ja erotischen Reizen und Empfindungen – es ist eine profane oder sogar blasphemische Ekstase. Zur Bezeichnung des sonderbaren Zustands der Überwältigung des Ich-Erzählers durch die ­Verführung kann man Georges Batailles Begriff der inneren Erfahrung verwenden. Der französische Philosoph und Schriftsteller erklärt ihn in der gleichnamigen Abhandlung aus dem Jahr 1943: Ich verstehe unter innerer Erfahrung das, was man gewöhnlich mystische Erfahrung nennt: die Zustände der Ekstase, der Verzückung oder wenigstens einer meditativen Gemütsbewegung. Aber ich denke weniger an die glaubensmäßige Erfahrung, an die man sich bisher halten musste,

51 Licht, Wärme und Sinnlichkeit, die in Gombrowicz’ Zitat genannt werden, sind auch häufige Metaphern in Meister Eckharts Texten. Seiner bildreichen Sprache widmen sich mehrere Studien und Aufsätze – Martina Roesner weist beispielsweise in ihrem noch nicht veröffentlichten Beitrag Bilder der Eigenschaftslosigkeit. Die Verwendung relationaler Metaphorik in Meister Eckharts lateini­ schen Schriften darauf hin, dass seine Metaphorik nicht nur eine rhetorisches Funktion hat, sondern auch Ausdruck seines metaphysischen Denkansatzes ist (19. April 2013, Tagung „Sprachbilder und Bildersprache bei Meister Eckhart und in seiner Zeit. Strategien des Sprechens über das Unsagbare“ in Mainz).

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 Andere Ordnung der Dinge in Gombrowicz’ Romanen

als an eine entblößte Erfahrung, die selbst ihrer Herkunft nach von Bindungen an einen beliebigen Glauben frei ist. Darum liebe ich das Wort Mystik nicht.52

Batailles Verständnis von der inneren Erfahrung hat viel mit der von Gombrowicz ­beschriebenen Verführung gemeinsam: Beide Autoren versuchen eine ekstatische Erfahrung, die Selbstvergessenheit des Individuums zu imaginieren, die mit der Extension seiner Sinnlichkeit und Erotik einhergeht, aber keinen religiösen Ursprung hat. Die Verführung in Pornographie hat zwar eine mystische Dimension und geheimnisvolle Ausstrahlung, aber ihre Erhebung auf die Ebene des Sakralen kippt sofort ins Profane um. Die Beschreibung der Ekstase des Ich-Erzählers kann nicht ewig vage bleiben, sie erfordert letztendlich eine Bestimmung oder – um im religiösen Wortschatz zu bleiben – eine Inkarnation. Als der Protagonist die Anziehungskraft auf einen Jungen bezieht, verschwindet der Zauber des Mystischen sofort. Er bezeichnet ihn zwar als „Attraktion“ und verbindet die verführerische Ausstrahlungskraft mit ihm, aber als Quelle seines besonderen Zustands ist ihm der Jugendliche irgendwie zu wenig, er ist „nichts als (ein Junge)“ (P 25). Erst als der Ich-Erzähler das Mädchen ­bemerkt, wird ihm klar, was das Verlockende ausmacht. Diese Bewusstwerdung geschieht „plötzlich“ und „mit Leichtigkeit“, wie eine Erleuchtung oder Offenbarung. In diesem Augenblick kommt ihm die Idee, die beiden zu verkuppeln – das Mysteriöse der Verführung wird ins Konkrete überführt. Dadurch verliert die Verführung ihre unfassbare, schwammige Bedeutung, wird zu einem bestimmten Ziel, schlägt in den perversen Plan der Verkuppelung um. Das erste Stadium erinnert an Walter Benjamins Begriff der Aura, die dieser als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein

52 Georges Bataille, Die innere Erfahrung, übers. v. Gerd Bergfleth, München 1999, 13. Zum Thema der inneren Erfahrung und ihres Verhältnisses zur Mystik und Erotik vgl. auch ders., Die Erotik, übers. v. Gerd Bergfleth, München 1994, 31–41 (Kapitel „Erotik und innere Erfahrung“) u. 215–245 („Mystik und Sinnlichkeit“). Das Verhältnis von mystischer Transzendenz, sinnlicher Immanenz und Verführung untersuchte auch René Girard: „Die Transzendenz kann sich nur um den Preis des Rückfalls in die Immanenz wieder zu den Menschen herabbegeben, indem sie sich in eine wahrhaft schändliche Verführung verwandelt.“ René Girard, Das Heilige und die Gewalt, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Zürich 1987, 211. Mehr zum Vergleich von Gombrowicz und Bataille siehe Konstanty Jeleński, „Gombrowicz le drame et l’antidrame“, in Cahiers de L’Herne 1971, 380–385. Michał Głowiński, „Parodia konstruktywna (O Pornografii Gombrowicza)“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 366 f. Als gemeinsamen Nenner von Bataille und Gombrowicz nennt Józef Olejniczak die „verzweifelte Suche“ der beiden Autoren nach einer transzendentalen Erfahrung in der postnietzscheanischen Welt ohne Gott und Werte. Józef Olejniczak, Powroty w śmierć, Katowice 2009, 209. Auch Michael Goddard weist darauf hin und stellt fest: „In a manner highly resonant with the wartime writings of Georges Bataille, Gombrowicz associates the world of perversion with a sacrificial economy that distinguishes itself from the binary oppositions between totalitarianism and national resistance engendered by the war.“ Michael Goddard, Gombrowicz, Polish Modernism, and the Subversion of Form, West Lafayette 2010, 96 f.



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mag“, definierte.53 Auch die durch die Verführung ausgelöste Ekstase, die sich semantisch schwer konkretisieren lässt, bringt eine ferne, unerreichbare Absolutheit zum Erscheinen, die aber gleichzeitig sehr sinnliche und menschennahe Züge hat. Gombrowicz verortet die Verführung im Spannungsverhältnis zwischen dem ­Sakralen, den mystischen Assoziationen und dem Profanen, der Sündhaftigkeit und Perversion; er verbindet sie aber auch mit dem Gegensatz von Evidenz und Verborgenheit. Einerseits stellt er sie als eine unaussprechbare, geheimnisvolle und unsichtbare Anziehungskraft dar. Ihre Beschreibung erfordert Anspielungen auf Diskurse, die mit Verborgenheit, Rätselhaftigkeit und Unbestimmtheit operieren wie zum Beispiel die der Mystik oder Alchemie. Andererseits geht die Verführung bei ihm, wie schon erwähnt, mit Hyperschärfe, Prägnanz und Evidenz bei der Detailwahrnehmung einher und spricht unmittelbar den Sehsinn an. In der Beschreibung der ekstatischen Erfahrung der Verführung kommen mehrfach die Augen des Ich-Erzählers vor: „meine Augen … Augen [wurden] panisch und schwer“ oder „irgend etwas zog sie an, die Augen“ (P 25). Das Oszillieren zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwischen der einer konkreten Fixierung entschlüpfenden Ekstase und der sinnlichen Präsenz des anziehenden Gegenstands – die übrigens auch die voyeuristische Lust an der Pornographie charakterisiert – potenziert im Roman noch die Rätselhaftigkeit des Phänomens der Verführung. Dieses Spannungsverhältnis wird zusätzlich durch die Verwendung von Klammern im Text verdeutlicht, in die sowohl der Junge als auch das Mädchen gesetzt sind. Zum einen macht dieses Satzzeichen die Worte gewissermaßen unsichtbar. Denn bei solchen Parenthesen handelt es sich meistens um beiläufig eingeschobene, für die allgemeine Bedeutung der Hauptaussage verzichtbare Informationen, um etwas, was man am Rande erwähnt. Zum anderen hebt diese Markierung die eingeklammerten Wörter typographisch hervor, die so im Fließtext besonders auffallen. Das gleichzeitige Verbergen und Unterstreichen bestimmter Inhalte ist nur ein Beispiel für die Funktion der Klammern in Pornographie. Sie können dem Ich-Erzähler aber auch zur Distanzierung von der Quelle des ekstatischen Gefühls dienen, die Austauschbarkeit des In-Klammern-Gesetzten andeuten oder eine Verfremdung erzeugen. Indem er mit ­diesem Satzzeichen spielt, spielt der Ich-Erzähler auch mit Schreibnormen und Lese­ erwartungen. An einer Stelle kündigt er an, dass er den Sinn seiner Klammern bald erklären werde: „(irgendwann werde ich den Sinn dieser Klammern erläutern)“ (P 53). Dieses Versprechen klammert er aber ebenso ein und erfüllt es nie. Schließlich lassen sich die Klammern als kritische Anspielung auf Edmund Husserls Phänomenologie und seiner „Einklammerung der Welt“ interpretieren. Dieser Begriff kommt in den Schriften von Husserl im Zusammenhang mit dem Begriff Epoché häufig vor und bezeichnet eine Distanzierung des Beobachtenden von der Außenwelt: seine

53 Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (dritte Fassung)“, in Gesammelte Schriften, Bd. I.2, 479.

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 Andere Ordnung der Dinge in Gombrowicz’ Romanen

Abgeschiedenheit und Zurückhaltung, die Reduktion der eigenen Involviertheit im Prozess des Erfassens der Phänomene – der Wesensschau – und das Bemühen, sich des Urteilens zu enthalten.54 Bei Gombrowicz versucht der Ich-Erzähler anfangs, in­ dem er Junge und Mädchen in Klammern setzt, diesen unerschütterlichen sterilen Abstand beizubehalten. Doch das gelingt ihm nicht, weil er sich von den Jugendlichen angezogen fühlt. Die Klammern sind deshalb als Parodie der phänomenologischen Erkenntnishaltung zu lesen, denn insbesondere von dem, was der Ich-Erzähler typographisch eingeklammert hat, kann er sich unmöglich distanzieren. Insofern sind die Klammern in Pornographie eine Metapher für die Unmöglichkeit einer absoluten Distanzierung von der Welt und für die Vergeblichkeit, Interaktionen mit den Reizen der Umgebung ausschalten zu wollen.55 Die Umdeutung der Klammer führt bei Gombrowicz zu einem ontologischen Bruch. Die „geschmeidige Verführung“ (P 24) tritt an die Stelle des verlorenen Sinns und wird zum neuen Prinzip, das alles Sein im Roman bestimmt. In dieser neuen Ordnung verwischen sich die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt: Die Außenwelt ist nicht mehr Gegenstand der Erkenntnis, sondern sie wird aktiv und überwältigt den Ich-Erzähler. Ergriffen von der Erfahrung der Ekstase wird er aus dem Zustand der Selbstgewissheit gestoßen. Der daraus resultierenden anderen Ontologie liegt die Vorstellung von der Welt als unabgeschlossen, sinnlich, reizvoll, hermetisch, verführerisch und verführbar zugrunde. Die Besonderheit der neuen Ordnung der Dinge, die der von der Verführungsekstase inspirierte Ich-Erzähler um sich herum erschafft, birgt in sich „eine verborgene Willensanstrengung“, die versucht den „Zerfall zu maskieren, oder […] wenigstens zu einer sympathischen Ganzheit zu organisieren“ (P 65). Die Neuordnung soll den Zusammenbruch der alten Wert- und Ordnungssysteme verbergen; das Chaos wird zu einer „sympathischen Ganzheit“, die auf Sympathie, Anziehungskraft und verführerischem Zauber beruht.

54 Dazu zwei prägnante Zitate aus Husserls Schriften: „Aber die phänomenologische ἐποχή, die der Gang der gereinigten Cartesianischen Meditationen von dem Philosophierenden fordert, inhibiert die Seinsgeltung der objektiven Welt und schaltet sie damit ganz und gar aus dem Urteilsfelde aus, und somit auch die Seinsgeltung, wie aller objektiv apperzipierten Tatsachen so auch derjenigen der inneren Erfahrung.“ Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Parisier Vorträge, Den Haag 1950, 64. „Die Existenz einer Welt, und so dieses Würfels hier, ist vermöge der ἐποχή eingeklammert, aber der eine und selbe erscheinende Würfel ist dem strömenden Bewußtsein kontinuierlich immanent, deskriptiv in ihm, wie auch deskriptiv in ihm ist das ein und dasselbe.“ Ebd., 80. 55 Vgl. dazu die Bemerkung von Peter Fenves: In seiner schon erwähnten Abhandlung Arresting Lan­ guage bezeichnet er die philosophische Methode von Walter Benjamin als „a parody of the phenomenological reduction: instead of ‚bracketing‘ the world, Benjamin brackets words, taking citations out of their ‚natural‘ contexts and making them legible for the first time“. Ebd., 225.



Merkmale der Ontologie der Verführung 

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3.2 Merkmale der Ontologie der Verführung Nachdem ich die Verführung als neues Ordnungsprinzip interpretiert habe, möchte ich im folgenden Teil auf die Beschaffenheit der Welt eingehen, wie Gombrowicz sie in Pornographie beschreibt. Dort versucht der Ich-Erzähler die zufälligen und un­ zusammenhängenden Elemente der Wirklichkeit in einer scheinbar überschaubaren Darstellung zu einer Ganzheit zu verbinden, die nachvollziehbar und kohärent wäre. Die Verknüpfungen, die er schafft, sind zwar weder verständlich noch logisch, sie ­werden aber wie eine mathematische Formel geschildert, minutiös und als ob die ­vor­getäuschte Symmetrie den mangelnden Sinnzusammenhang verbergen und den relativen Charakter der Wirklichkeit hervorheben könnte. In der Forschungsliteratur wird häufig auf die geradezu geometrische Konstruktion des Romans hingewiesen; im Nachwort zur deutschen Übersetzung von Pornographie rekonstruiert Felix Philipp Ingold die Beziehungen zwischen Figuren im Werk sogar in Form eines Diagramms.56 Die neue, andere Ordnung im Roman lässt sich aber nicht auf Geometrie und Willkür reduzieren. Deshalb werde ich mich mit folgenden Fragen beschäftigen: Wie stellt sich der Ich-Erzähler die Abhängigkeiten in der Welt vor? Welche Kategorien können seine Ordnung der Dinge beschreiben? Das Kapitel besteht aus vier Teilen: Zunächst versuche ich das Sinnverständnis im Roman zu beleuchten. Dann widme ich mich dem Phänomen der Befreiung vom Sinn bzw. dessen Suspendierung. Dabei scheint mir die Hermetik eine Sprache zu sein, die die Sinnauffassung in Pornographie auf den Punkt bringen kann. Im dritten Teil stehen die Strategien im Zentrum meines Interesses, mit deren Hilfe die neuen Sinn­ zusammenhänge im Roman geschaffen werden. Dazu werde ich Gombrowicz’ Prosa mit theoretischen Ansätzen von Michel Foucault und Gernot Böhme vergleichen. Die andere Ordnung der Dinge im Roman ist mit Kategorien wie Atmosphäre, Ähnlichkeit, Sympathie und Antipathie, neuer Taktilität oder dem Inkommensurablen verbunden. All das sind Begriffe, die zur Ästhetik gehören, was die These von Odo Marquard bestätigt, dass der Sinn vor dem Tribunal der Vernunft – angesichts des Zwangs zum ständigen Rationalisieren und Argumentieren – ins Ästhetische flieht.57 Der letzte Teil ergänzt die Überlegungen durch den Vergleich mit Gombrowicz’ Roman Kosmos.

56 Vgl. Felix Philipp Ingold, „Nachwort“, in Witold Gombrowicz, Pornographie, 213. 57 Odo Marquard, „Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts“, in Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Rudolf Vierhaus (Hg.), Deutschlands kultu­ relle Entfaltung: Die Neubestimmung des Menschen, München 1980, 193–209.

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 Andere Ordnung der Dinge in Gombrowicz’ Romanen

3.2.1 Neue Sinnzusammenhänge und Sinnaufschub Die Entstehung der anderen Ordnung der Dinge in Pornographie ist mit der Frage nach der Sinngebung verbunden. Die bisherigen Weltvorstellungen des Ich-Erzählers brechen zusammen, durch den Protagonisten Friedrich werden subversive Kräfte wirksam und auf einmal wird die Welt zum „Chaos, des Herrschers beraubt, also auch des ­Gesetzes, bevölkert einzig von der grenzlosen Willkür des Menschen“ (P 108). Infolgedessen kommt es zu einer Art Umwertung der Werte, die überkommene Sinngebung wird hinterfragt und die konventionellen Entsprechungen zwischen den Zeichen und deren Bedeutungen werden aufgehoben. Der Ich-Erzähler sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, neue Zusammenhänge zu schaffen, und stellt sich dabei scheinbar beiläufig die Frage: „Warum wurde diese Bedeutungslosigkeit bedeutungsvoll?“ (P 26). Die Zweifel, ob man etwas als Zeichen interpretieren kann und wie es eigentlich dazu kommt, dass etwas Bedeutung hat oder nicht, stehen im Zentrum des Werkes. Die ­Reflexion darüber beeinflusst die Handlung und drückt sich sowohl in inneren Monologen des Ich-Erzählers sowie in Dialogen aus. So fühlt sich Wacław, der Verlobte von Henia, unsicher und verloren, als er die Bedeutung einer Situation beurteilen soll: „Aber ich weiß nicht, welches Gewicht ich dem beimessen soll?! Ob das etwas Wesentliches ist? Und inwieweit?“ (P 143). Er reagiert auf einen aus seiner Sicht unverständlichen Vorfall, dessen Zeuge er wird. Heimlich beobachtet er eine für ihn hinterlistig arrangierte Szene mit Henia und dem Gehilfen Karol, die ihm zunächst banal und albern vorkommt: Das Paar steht unter einem Baum, fällt auf den Boden und steht gleich wieder auf. Die Situation verwirrt ihn, er kann dem, was er gesehen hat, keinen konkreten Sinn zuschreiben, weil er darin weder etwas eindeutig Erotisches noch Spielerisches sieht. Da er die Szene nicht einordnen kann, bringt sie ihn umso mehr aus der Fassung. Die Konfrontation mit dem unverständlichen Verhalten ruft bei ihm die Frage hervor, welche Kriterien es überhaupt gibt, um etwas als sinnvoll oder sinnlos zu betrachten. Anhand seiner Ratlosigkeit und Desorientiertheit wird das Problem der Konstruierbarkeit von Zeichen und Bedeutungen deutlich, das den ganzen Roman durchzieht. Auch der Ich-Erzähler wiederholt mehrfach, dass die Kategorie des Sinns ihre ­Gültigkeit verloren hat und keine maßgebende Instanz mehr ist. Das empfindet er ­allerdings im Gegensatz zu Wacław als eine Art Befreiung von verkrusteten Denkstrukturen: Jeglicher Sinn … des Krieges, der Revolution, der Gewalttat, der Zügellosigkeit, des Elends, der Verzweiflung, des Kampfes, der Furie, des Schreis, des Mordes, der Unfreiheit, der Schande, des Verreckens, des Fluchs oder des Segens … jeglicher Sinn, sage ich, war zu schwach, den Kristall dieses Idylls zu durchbrechen, und unberührt blieb jener Anblick, der längst überzeitigt, der nur noch Fassade war … (P 20)

Dem Sinn wird seine übergeordnete Bedeutung als unerschütterliche Denkgrundlage abgesprochen: Er ist „zu schwach“ und „längst überzeitigt“ (przeczasiały). Besonders



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das letzte Adjektiv, ein im Polnischen auffälliger Neologismus, unterstreicht, dass die Sinngebung dem Ich-Erzähler lediglich als veraltete, unzeitgemäße Praxis erscheint. Altbekannte Sinnstrukturen wie die Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, Ursache und Wirkung oder Substanz und Attribut stellt er radikal infrage. Wie kann man sich eine Welt ohne Sinn vorstellen? Wie verhält sich der Mensch, der den Sinn verliert bzw. sich von ihm befreit? Welche Folgen hat es, eine Kategorie zu hinterfragen, die bisher eine eminent wichtige Rolle im bewussten In-der-Welt-Sein des Menschen spielte, die die Wirklichkeit ordnete und verständlich machte? Was passiert, wenn sich das Subjekt der Sinnlosigkeit der Welt aussetzt? Wie kann es, ohne Sinn als Schutzschild, seine Umgebung wahrnehmen? Wie Gombrowicz interessierte sich auch Roland Barthes für diesen Fragenkomplex. In der Abhandlung Das Reich der Zeichen (1970) sucht er in der japanischen Kultur nach der Befreiung vom Sinnzwang des westlichen Denkens. Seine Thesen können die Interpretation von Pornographie weiterbringen, denn seine Auseinandersetzung mit Japan passt insofern zu Gombrowicz’ Ansichten, als auch dieser aufgrund seiner Exilerfahrung außereuropäische Kulturen sehr inspirierend fand. Gombrowicz betrachtete die europäische Zivilisation und deren Anspruch auf Vollkommenheit als beengend, was besonders in seinen Prosawerken Bacacay und Trans-Atlantik deutlich wird. Barthes beschreibt bestimmte Elemente der japanischen Tradition und bemerkt, dass die Zeichen in der Zeichenwelt Japans einerseits eindrucksvoll gestaltet, ritua­ lisiert und strengen Regeln unterworfen, zugleich aber vollkommen leer seien. Diese Leere verdeutlicht er unter anderem am Beispiel des traditionellen Verpackens und Verhüllens von Gegenständen: Auch Dinge, die unbedeutend und nicht besonders kostbar seien, würden in Japan häufig aufwendig und mehrfach verpackt. Das Auspacken dauere dann so lange, dass der Sinn der Tätigkeit – das Entdecken des Objekts – suspendiert werde. In diesem zeitlichen Aufschub zeigt sich für den Semiologen die Verflüchtigung der Bedeutung: Der Sinngehalt der kunstvollen und minutiösen Verpackung löst sich auf, es bleibt nur das inhaltslose Zeichen – Pakete, Koffer oder zu einer Art Tasche umfunktionierte Tücher, die Passanten in Tokio tragen.58 Für Barthes

58 „[J]edermann trägt auf der Straße ein Bündel mit sich, ein leeres Zeichen, das energisch beschützt und eilig transportiert wird.“ Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1981, 65. Eine ähnliche Tendenz zum Sinnaufschub beobachtet er auch in Bunraku, einer traditionellen japanischen Form des Puppentheaters, die „die Quellen des Theaters in ihrer Leere [ausstellt]“, weil sie „von der Bühne die Hysterie, das heißt das Theater schlechthin“ verbanne. Ebd., 85. Auch Kōan als besonderes Genre und geistige Übung im japanischen Zen-Buddhismus ist Barthes zufolge außerhalb des westeuropäischen Sinnverständnisses. Kōan ist die kurze, verblüffende und paradoxe Anekdote oder Sentenz eines Zen-Meisters, auf die sein Schüler reagieren soll. Diesem jedoch wird geraten – so gibt es Barthes wieder –, den Satz des Meisters „nicht zu lösen, als hätte er einen Sinn, auch nicht, seine Absurdität zu erkennen (die auch ein Sinn wäre), sondern ihn zu kauen, bis der Zahn ausfällt.“ Ebd., 102.

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ist hier eine Entleerung der Zeichen und die Aufhebung des Sinns erkennbar, was er auch als „Sinnfreiheit“ oder „Befreiung vom Sinn“ bezeichnet – ein Zustand, der kaum in die europäische Vorstellungskraft übersetzbar sei. In der westlichen Kultur münde die Infragestellung des Sinns in dessen Negation und schlage fast automatisch in Nonsens oder Absurdität um. „Den Sinn angreifen [heißt] bei uns ihn verdecken oder verkehren, niemals aber ihn beiseite stellen.“59 Für das westliche Denken bedeute eine kritische Auseinandersetzung mit dem Sinn, dass man ihn gegen Unsinn austausche, statt ihn – wie in der japanischen Zeichenwelt – in der Schwebe zu halten und aufzuschieben. Diese unterschiedlichen Wege des Umgangs mit dem Sinn bzw. mit dessen Aufhebung, die Barthes etwas vereinfachend östlichen und westlichen Kulturen zuschreibt und für unübertragbar hält, kommen auch in Gombrowicz’ Roman vor. Zunächst entwickelt der Autor besonders das Motiv der Ablehnung von Sinn. So empfindet der IchErzähler während einer Messe, dass die Grundlagen seines Verständnisses von der Wirklichkeit, nämlich Sinn oder Inhalt, zu wanken beginnen und dass an ihre Stelle das Unverständliche – „der kosmische, schwarze Raum“ (P 23) – tritt. Die an existenzialistische Philosophie erinnernde Konfrontation des Protagonisten mit der Bedeutungslosigkeit der Welt und der Leere der Zeichen, die die kirchliche Zeremonie symbolisiert, ist aber nur eine Seite der Beschäftigung mit dem Sinn in Pornographie. Das Gefühl der Sinnlosigkeit determiniert die Handlung nicht weiter, sie verzichtet weder auf sinnvolle Strukturen noch auf eine verständliche Sprache; der Roman verwandelt sich nicht etwa zu einem chaotischen Redefluss oder Nonsenstext im Stil der DadaBewegung. Angesichts der sinnentleerten Welt verharrt der Ich-Erzähler nicht in einer defätistischen Haltung, sondern begibt sich in eine Verführungsekstase. Sie ist mit Barthes als eine Art Befreiung vom Sinn zu interpretieren, denn es lässt sich kaum in sinnvolle Worte fassen, was und warum eine so starke Anziehungskraft auf den IchErzähler ausübt. Die Nacken der Jugendlichen erscheinen als augenfällige und zugleich leere Zeichen, die sich von ihrer anfänglich eindeutigen erotischen Konnotation loslösen. Der Protagonist verbindet sie nicht unmittelbar mit seinem Begehren, sondern betrachtet sie als Bausteine, die zusammenzusetzen sind – wobei seine Absicht aber unklar bleibt und im Laufe der langwierigen und kunstvollen Intrige suspendiert wird. Gombrowicz’ Roman thematisiert also sowohl die Unverständlichkeit, d. h. die eindeutige Negation des Sinns, wie auch die Aufhebung des Sinns, sein ephemeres ­In-der-Schwebe-Halten. Was Roland Barthes in Japan beobachtete, scheint auch ein Merkmal der europäischen Prosa der Moderne zu sein. Das Suspendieren der Bedeutung oder – um einen einschlägigen Begriff von ­Joseph Vogl zu verwenden – das Zaudern vor dem letzten Sinn ist ein Charakteris­ tikum der modernen Prosa,60 auch wenn man den Ursprüngen dieser Vorstellung z. B.

59 Ebd., 85. 60 Bezugsfelder von Vogls Überlegungen sind unter anderem die Werke von Robert Musil, Robert



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in der Romantik begegnen kann, etwa in Novalis’ und Friedrich Schlegels Poetik des Schwebens.61 Auf den unentwegten Sinnaufschub weist bekanntlich Derrida in seiner Kafka-Lektüre hin.62 Der Schwebezustand und die Sinnleere der Zeichen definieren übrigens Jean Baudrillard zufolge die Verführung. Im Verführungsprozess seien die Ablenkungsmanöver besonders wichtig, also die „Faszination der Leere“ und der  „reinen Verführungskraft des Null-Signifikanten“.63 Der Verführer sei jemand, der „es versteht, die Zeichen flottieren zu lassen, da er weiß, dass allein ihr Schwebezustand begünstigend wirkt und zum Schicksal hinführt“.64 Gombrowicz geht jedoch in seiner Auseinandersetzung mit der Kategorie des Sinns noch einen Schritt weiter. Der Sinnaufschub ist in Pornographie eine Zwischenstufe oder ein Mittel, das zum Ziel hat, einen anderen Prozess in Gang zu setzen. Hier möchte ich noch einmal auf Barthes Überlegungen zurückkommen. Als ­Beispiel für das Beiseitestellen des Sinns in der japanischen Kultur nennt er die ­Gedichtform Haiku. In ihrer lapidaren Kürze seien die Haikus offen für den Sinn und gleichzeitig absolut frei von ihm. Europäische Versuche, diese Gedichte zu inter­ pretieren, ihnen eine Bedeutung aufzuzwingen, würden im Widerspruch zu ihrer I­ ntention ­stehen:

Walser und Franz Kafka, in denen er „eine Vorliebe fürs Ausweichen und Vermeiden, eine Vorliebe für Verzweigungen, für Labyrinthe und nicht-lineare Zeit“ beobachtet. Joseph Vogl, Über das Zaudern, Zürich 2007, 108. Das Zaudern hat für ihn ein erkenntnistheoretisches Potenzial: „Das Zaudern und seine Pause werden zum Stützpunkt und zum Operationsfeld des Diskurses selbst; mit dem Zaudern formiert sich eine analytische Methode im Inneren der Literatur.“ Ebd., 60 f. 61 Winfried Menninghaus, „Raum-Chiffren der frühromantischen Philosophie“, in Inka M ­ ülder-Bach u. Gerhard Neumann (Hg.), Räume der Romantik, Würzburg 2007, 15 f. Vgl. auch die umfangreiche Studie über das Schweben von Walter Schulz, der vor allem im letzten Teil ausführlich die Werke u. a. von Fontane, Keller, Raabe, Stifter, Dostoevskij, Kafka, Musil, Joyce und Beckett behandelt. Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens: Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik, Pfullingen 1985, 428–510. 62 Derrida analysiert die Parabel Vor dem Gesetz in Kafkas Roman Der Proceß: „Der Diskurs des Gesetzes, den der Wächter repräsentiert, sagt nicht nein, sondern noch nicht, auf unbestimmte Zeit. Daher die Verwicklung in eine Erzählung, die zugleich vollkommen abgeschlossen und auf brutale, man könnte sagen primitive Weise unterbrochen ist. Das, was verzögert wird, ist nicht diese oder jene Erfahrung, der Zugang zu einem Genuss, zu irgendeinem Gut, und wäre es das höchste, der Besitz von oder das Eindringen in etwas oder jemanden. Was für immer aufgeschoben ist, bis zum Tod, ist der Eintritt in das Gesetz selbst, das nichts anderes ist als eben das, was die Verzögerung diktiert. Das Gesetz untersagt, indem es die férance, die Beziehung, die relatio, die Referenz interferiert und differenziert (en différant, aufschiebt). […] Und wenn dies vom Wesen des Gesetzes herrührt, so weil dieses kein Wesen hat. Es entzieht sich jenem Wesen des Seins, das die Präsenz wäre.“ Jacques Derrida, Préjugés: Vor dem Gesetz, übers. v. Detlef Otto u. Axel Witte, Wien 1992, 68 u. 70. 63 Jean Baudrillard, Von der Verführung, 105. 64 Ebd., 151.

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Gleich ob Dechiffrierung, Formalisierung oder Tautologie, die Wege der Interpretation, die bei uns dazu bestimmt sind, den Sinn zu durchdringen, d. h. in ihn einzubrechen […], die Wege der Interpretation können den Haiku mithin nur verfehlen.65

Die Sinnfreiheit des Haiku gemahnt Barthes „an Verführung, an Einbruch, mit einem Wort, an die höchste Gier, die Gier nach Sinn“, der „so kostbar, so lebenswichtig und begehrenswert ist wie Glück und Geld“.66 Die Befreiung vom Sinn provoziert das Schaffen von neuen Sinnzusammenhängen. Der Wortschatz, mit dem Barthes diesen Vorgang beschreibt, betont nicht den unerschütterlichen Charakter des Sinns, sondern seinen Wunschstatus: Er ist wie Glück oder Geld zu denken, hängt vom Zufall ab, ist austauschbar und kann leicht entfliehen. Die Sinnentstehung ist für Barthes weder eine Gegebenheit, die mit dem Kriterium der Objektivität aufzufassen wäre, noch der krönende Abschluss eines Erkenntnisprozesses, die Entdeckung einer endgültigen Wahrheit; es geht auch nicht um die Konstruktion von Sinn schlechthin. Barthes schildert die Sinnstiftung nicht als Resultat von Frustration oder Irritation, sie ist kein mit negativen Emotionen motivierter Kompensationsversuch, keine Abwehrreaktion auf Unverständlichkeit und vermeintlichen Sinnmangel. Vielmehr ist sie Impuls für eine leidenschaftlichen Tätigkeit, denn das Kreieren von neuen Sinnzusammenhängen verbindet er mit Sinnlichkeit und Lust, mit „Verführung“ und „Gier“, aber auch mit existenzieller Notwendigkeit und, interessanterweise, mit List und Gewalt statt z. B. mit Intellekt (im Zitat das markante Wort „Einbruch“). Das Schaffen neuen Sinns nimmt Barthes als einen subversiven Prozess wahr, der normwidrig ist und gegen die alten Regeln und Strukturen verstoßen muss. Barthes Überlegungen bringen das komplexe Verfahren in Pornographie auf den Punkt. Auch hier löst die Befreiung von Sinn, seine Suspendierung und Aufhebung, ein Bedürfnis bzw. die Lust aus, neuen Sinn zu stiften; die Sinnentleerung verführt dazu, andere Sinnzusammenhänge zu schaffen – auch Gombrowicz assoziiert Sinnkonstruktion mit Verführungskraft. Den Vorgang beschreibt er als äußerst sinnliches, lustvolles und dem Entwerfen eines listigen Plans ähnelndes Unterfangen, von dem sich der Ich-Erzähler im Laufe der Handlung immer mehr fesseln und leiten lässt. Konfrontiert mit der sinnentleerten Wirklichkeit beginnt er, ihr selbst einen neuen Inhalt zu verleihen. Er schafft Sinn, bestimmt Zeichen und füllt sie mit Bedeutungen aus. In seiner Welt kann alles als verborgene Signatur gelten. So werden ein zertretener Regenwurm oder die weißen Zähne des Jungen für ihn zu bedeutungsvollen Zeichen. Die Zuschreibung eines Zeichenwerts erfolgt im Text durch die schon erwähnte Technik der Hyperschärfe. Plötzlich werden einzelne Gegenstände fast filmisch wie in einer Nahaufnahme dargestellt und absorbieren die Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers. Seine Sinngebung richtet sich nicht nach klaren Strukturen; die Welt hat sich für ihn

65 Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, 98. 66 Ebd., 95.



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„in einem überaus wunderlichen Sinne zusammengeballt“ (P 53). Im Original steht das Verb zakłębić, in dessen Wortkern sich das Substantiv der Knäuel (kłębek) befindet, was an etwas Zusammengeknülltes und Unentwirrbares denken lässt.67 Doch die neuen Sinnzusammenhänge lassen sich nicht einfach mit Kategorien wie Beliebigkeit, Willkür, Zufall oder Unverständlichkeit beschreiben. Sie ähneln einem verwickelten Faden oder – um einen Begriff von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu benutzen – einem Rhizom ohne überschaubaren Aufbau und klare Struktur.68 Dennoch lassen sich dem neuen Sinngebungsverfahren bestimmte Eigenschaften bzw. Strategien der Sinnverleihung zuschreiben. Bevor ich diese näher bestimme, möchte ich zunächst darauf eingehen, welches Verständnis von Sinn der Kreativität des Ich-Erzählers zugrunde liegt.

3.2.2 Der Sinn in der Hermetik oder das Syndrom des Geheimen Um die Frage zu beantworten, mit welchem Sinnbegriff Gombrowicz arbeitet, möchte ich zunächst versuchen das Sinnverständnis im Roman ex negativo zu beschreiben. Es ist sicherlich keine metaphysische Auffassung, die von einem absoluten, im V ­ oraus festgelegten und in den Dingen verborgenen Sinn ausgeht, um dessen Entdeckung das Subjekt ringt. Herbert Schnädelbach zufolge greift in der klassischen Metaphysik die „Sinnfrage notwendig auf den letzten Sinn aller Sinnzusammenhänge aus, der dann als ein keiner weiteren Interpretation bedürftiger angestrebt wird.“69 Die Präsupposition eines „letzten Sinns“ – einer endgültigen Größe, eines vorgegeben und unbezweifelbaren Oberbegriffs – wird in Pornographie allerdings dezidiert abgelehnt. Sogar offensichtliche Tatsachen, die für die Handlung wichtig sind, werden hinterfragt. So ist sich der Ich-Erzähler nicht mehr sicher, wo er sich befindet: [W]o waren wir? Was war das? Diese Gegend kannte ich doch, dieses Lüftchen war mir nicht fremd – aber wo waren wir? Dort, schräg gegenüber, das bekannte Gebäude der Ćmielower Bahnstation und ein paar brennende Lampen, aber … wo, auf welchem Planeten waren wir gelandet? (P 13)

67 „W każdym razie świat zakłębił się w jakimś przedziwnym sensie.“ Witold Gombrowicz, Porno­ grafia, 57. 68 Mit diesem Begriff beschreiben Gilles Deleuze und Félix Guattari ein besonderes Prinzip der Ordnung. Sie stellen die Metapher des Rhizoms – der Knollen und Knötchen ohne Zentrum und ohne übersichtliche Struktur – dem Bild des Baumes und der Wurzeln entgegen: „Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms kann und muss mit jedem anderen verbunden werden. Ganz anders dagegen der Baum oder die Wurzel, wo ein Punkt und eine Ordnung festgesetzt werden.“ Sie sprechen von der „rhizomatischen Methode“, die unter anderem auf der „Konnexion und der Heterogenität“ beruht. Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Rhizom, übers. v. Dagmar Berger u. a., Berlin 1977, 11. 69 Herbert Schnädelbach, „Metaphysik und Religion heute“, in ders., Zur Rehabilitierung des „­animal rationale“: Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a. M. 1992, 142.

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Diese Unsicherheit ist umso auffälliger, als Gombrowicz anfangs die Konventionen des realistischen Erzählens übernimmt und genaue Angaben zur zeitlichen und räum­ lichen Verortung liefert: Sommer 1943, die Gegend des Städtchen Ćmielów. Doch dann durchzieht eine Stimmung des Zweifels den Text, alle Gegebenheiten werden infrage gestellt, das Rätseln und Zweifeln des Protagonisten nimmt kein Ende. Auch gegenüber der eigenen empirischen Wahrnehmung ist er skeptisch: „[A]ber schon wusste ich überhaupt nicht mehr, was was ist, was wie ist … ob die Stufen, über die wir zu dem Platz vor der Kirche hinaufschritten, gewöhnliche Stufen waren oder ob sie vielleicht …?“ (P 20). Nichts mehr ist für ihn selbstverständlich und eindeutig – nichts darf „den letzten Sinn“ beanspruchen. Diese Auffassung von Sinn entkommt auch einer hermeneutischen Auslegung. Für die Hermeneutik setzt Sinn das Bestehen einer Gemeinschaft von Verstehenden voraus. In diesem Kontext führt Hans-Georg Gadamer den Begriff des Horizonts ein: Solches Sichversetzen ist weder Einfühlung einer Individualität in eine andere, noch auch Unterwerfung des anderen unter die eigenen Maßstäbe, sondern bedeutet immer die Erhebung zu einer höheren Allgemeinheit, die nicht nur die eigene Partikularität, sondern auch die des anderen überwindet. Der Begriff „Horizont“ bietet sich hier an, weil er der überlegenen Weitsicht Ausdruck gibt, die der Verstehende haben muss. Horizont gewinnen meint immer, dass man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen.70

Aus der hermeneutischen Sicht wäre der Sinn als „die höhere Allgemeinheit“ und „das größere Ganze“ zu begreifen. In Gadamers Formulierungen schwingt der Geist der metaphysischen Tradition mit, vor allem die Vertikalität ihrer Vorstellung (Sinn als „die Erhebung“). In seinem Begriff des Horizonts zeichnet sich eine stabile, im Voraus gegebene und in sich einheitliche Weltsicht ab, die durch die Fusion mit den Weltsichten anderer Sinn ergibt. Das Erfassen von Sinn bedeutet somit, wie Gadamer weiter bemerkt, einen „Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte“.71 Auch diese Definition passt nicht zu Pornographie, denn obwohl der IchErzähler später ein Bündnis bzw. eine Komplizenschaft mit dem Protagonisten Friedrich schließt, bleibt sein Vorhaben, neuen Sinn zu stiften, eine einsame Tätigkeit. Von außen betrachtet ähnelt sie dem kaum verständlichen Monolog eines nahezu Wahnsinnigen. Aus ausgesuchten Zeichen erschließt der Ich-Erzähler eigenartige Bedeutungen, die nur ihm verständlich sind – wie in der Szene, als er die Idee hat, jene perverse Intrige zu inszenieren, um die Jugendlichen zu verkuppeln:

70 Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 1999, 310. 71 Ebd., 311.



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Und plötzlich begriff ich mit Leichtigkeit, ohne Anstrengung: dieser Nacken und jener Nacken. Diese beiden Nacken. Diese Nacken waren … […] Ach! Darum also! – jetzt wusste ich, welches Geheimnis in ihm mich vom ersten Augenblick an hingerissen hatte. (P 26 f.)

Er bringt seine Erkenntnisse nicht in Einklang mit der bestehenden semiotischen Ordnung, passt sie nicht an fertige Muster oder Erwartungen an. Die Sinnverleihung erscheint hier als ein individueller Prozess, der gar nicht erst nach einer Transformation in ein nachvollziehbares Ganzes, nach einer „Erhebung zur Allgemeinheit“ strebt. Man kann in Gombrowicz’ Roman jedoch ein hermetisches Sinnverständnis aufspüren, dessen Spezifik Umberto Eco zutreffend zusammengefasst hat. Da er einige Beispiele zur Veranschaulichung anführt, von denen sich manche auf den Roman ­Pornographie beziehen lassen, sei hier ein etwas längerer Absatz zitiert. Das hermetische Denken besagt: Je zweideutiger und vielwertiger unsere Sprache ist, je mehr Symbole und Metaphern sie verwendet, desto besser eignet sie sich, um eine Einheit zu benennen, in der die Gegensätze zusammenfallen. Wo aber die Koinzidenz der Gegensätze siegt, bricht das Identitätsprinzip zusammen. Tout se tient. Infolgedessen ist die Interpretation unbegrenzt. Das Streben nach einer unerreichbaren endlichen Bedeutung führt dazu, ein niemals endendes Driften oder Abgleiten der Bedeutung zu akzeptieren. Eine Pflanze wird nicht gemäß ihren morphologischen oder funktionalen Merkmalen definiert, sondern nach ihrer – obgleich nur partiellen – Ähnlichkeit mit einem anderen Element des Kosmos. Sie erinnert entfernt an menschliche Körperteile, hat also Bedeutung, weil sie sich auf den Körper bezieht. Aber der Körperteil seinerseits hat seine Bedeutung nur bezogen auf einen Stern, und dieser verweist auf eine Tonleiter, die einer Engelshierarchie entspricht, und so weiter, ad infinitum. Jedes irdische oder himmlische Objekt birgt ein Geheimnis. Sobald ein Geheimnis enthüllt wird, verweist es auf ein weiteres – bis zu einem letzten Geheimnis fortschreitend. Und doch kann es kein letztes Geheimnis geben. Das höchste Arkanum der hermetischen Initiation besteht darin, dass alles geheim ist. Daher muss das Geheimnis der Hermetik leer sein; wer nämlich vorgibt, ein Geheimnis zu kennen, ist gar nicht initiiert, sondern begnügt sich mit einem oberflächlichen Wissen über das kosmische Geheimnis.72

In seinen weiteren Ausführungen weist Eco auf die historischen Quellen dieses semiologischen Systems hin, auf sein Nachleben bzw. seine Wiedergeburt in der Frühen Neuzeit und auf seinen Einfluss auf die Entstehung der modernen Wissenschaft.73 Ecos These, dass die Hermetik nicht als Gegenpol zum wissenschaftlichem Denken zu ­verstehen ist, sondern mit ihm zusammen betrachtet werden sollte, stimmt mit den  wissensarchäologischen Untersuchungen von Gaston Bachelard und Michel

72 Umberto Eco, „Interpretation und Geschichte“, in ders., Zwischen Autor und Text, 38 f. 73 Eco weist darauf hin, dass die Hermetik z. B. in der Alchemie, der jüdischen Kabbalistik oder im Neuplatonismus nachlebte und weite Teile der neuzeitlichen Kultur prägte. Vor allem sei ihr Einfluss auf die Entstehung des wissenschaftlichen Denkens nicht zu unterschätzen, was Eco in dem prägnanten Satz formuliert, dass man „weder die Hermetik von der Wissenschaft noch Paracelsus von Galilei trennen kann.“ Ebd., 41.

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F ­ oucault überein. Eco betont die Verquickungen des Hermetischen und Rationalen, für die sich auch moderne Prosaiker wie Gombrowicz interessierten. In Pornographie finden sich neben Anspielungen auf die hermetische (alchemistische) Rhetorik auch solche auf das hermetische Sinnverständnis. Gombrowicz spielt mit der Kategorie des leeren Geheimnisses und ist beeinflusst von dem, was Eco als „Abgleiten der Bedeutung“ bezeichnet. In Pornographie zeigt er, dass Sinn sich nicht festlegen lässt, sich der Präzisierung entzieht, nie als etwas Endgültiges betrachtet werden kann, ebenso wie die Verleihung einer Bedeutung kein abgeschlossener Prozess ist. Der Ich-Erzähler sucht obsessiv nach neuen Zeichen in der Welt; in einzelnen Gegenständen, Personen oder Ereignissen wittert er Spuren verschlüsselter Botschaften, die er versucht, in eigenwillige Relationen zu bringen. Jedes Ding kann für ihn eine geheime Bedeutung verbergen und sich auf etwas anderes beziehen. Er setzt Bruchteile eines vermeintlich verborgenen Sinns zusammen, um ein Geheimnis zu entschlüsseln und dessen Bestehen gleichzeitig zu hinterfragen. Als Beispiel für diese Denkbewegung kann die Fahrt mit dem Pferdewagen dienen. Der Ich-Erzähler sitzt neben dem Jungen und auf einmal fokussiert er sich auf dessen Zähne. Wieder erscheint ihm etwas in hyperscharfer Genauigkeit: Ich saß neben ihm. Was bedeutete das? Vor allem stach eines ins Auge: die maßlose Bedeutung seiner Zähne, die in ihm spielten, die seine innere Weiße waren, eine reinigende – die Zähne waren nämlich wichtiger als das, was er sagte – es sah so aus, als spreche er für die Zähne und wegen der Zähne […]. (P 55 f.)

Das scheinbar unbedeutende Detail beansprucht die ganze Aufmerksamkeit des IchErzählers, der fest daran glaubt, ein bedeutendes Zeichen für etwas gefunden zu haben. Die erzählerische Großaufnahme ruft nicht nur eine intensive Bildwirkung hervor, sie bildet vor allem den Auftakt zu einer Reihe von ontologischen Fragen: Wer saß denn neben mir? Jemand wie ich? Aber woher denn, es war dies ein essentiell andersartiges und anmutiges Wesen, einem blühenden Reich entstammend, es war voller Gnade, die sich in Schönheit verwandelt. Ein Prinz und ein Gedicht. Warum aber stürzte sich der Prinz auf alte Weiber? Das war die Frage. Und warum machte ihm das Spaß? (P 56)

Danach folgen noch weitere Fragesätze – im ganzen Absatz kommen insgesamt acht vor. Stets fragt der Ich-Erzähler nach dem Jungen, nach den Motiven seines Verhaltens, nach dem Geheimnis seines Wesens und spekuliert darüber. In seinen Gedankengang flicht er auch einzelne Ereignisse ein, die er früher als belanglos angesehen hatte, z. B. eine obszöne Geste des Jungen einer alten Bäuerin gegenüber – darauf beziehen sich die letzten Fragen im Zitat. Auf einmal gewinnen sie eine enorme Bedeutung, als ob sich hier etwas Bezeichnendes andeuten würde. Zum Schluss der Szene stellt der IchErzähler jedoch alle seine Mutmaßungen auf ironische Art und Weise wieder infrage – mit einem Satz in Klammern: „(Mag sein, dass ich mich diesen Spekulationen nur hingab, um den Anschein eines Forschers bei dieser Vergnügung zu wahren)“ (P 56).



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Der Text präsentiert den Mechanismus des hermetischen Denkens, indem er aufzeigt, wie sich alles aufeinander zu beziehen beginnt. Die in den Zeichen lauernden geheimen Bedeutungen scheinen ineinander zu greifen und auf etwas zu verweisen, das sich dem Erfassen entzieht oder angezweifelt wird – ein Teufelskreis, den Eco als „das Syndrom des Geheimen“ bezeichnet.74 Solche unendlichen Ketten von Bezugnahmen kennzeichnen das Verständnis von Sinn im Roman von Gombrowicz. Alle Gegenstände, Figuren oder Geschehnisse sind zu verbindende Teilstücke, die der Ich-Erzähler beharrlich versucht, wie Einzelteile eines Puzzlespiels neu zu ordnen. Für Hermetik spielen allerdings die überkommenen Denkstrukturen keine wichtige Rolle. Das verdeutlicht auch das Beispiel der Pflanze in Umberto Ecos Zitat: Im hermetischen Denken ist sie nicht durch ihre morphologischen oder funktionalen Eigenschaften ­definiert, sondern durch ihre Ähnlichkeit mit anderen Elementen im Universum. Auch in Pornographie ist die Frage nach dem Sinn nicht auf das Einzelding als solches ­bezogen, vielmehr wird es stets im Kontext anderer Dinge betrachtet. Die so ent­ stehenden Relationen beruhen auf dem Prinzip der Ähnlichkeit und nicht auf dem der Identität. Daraus resultiert auch die Intrige des Ich-Erzählers, der den Jungen und das Mädchen gedanklich nicht einzeln erfassen kann. Als Individuen haben sie für ihn keinen Sinn, den bekommen sie erst in der Verbindung miteinander. Die Ähnlichkeit, die sie verbindet und den Grund ausmacht, warum sie nur zu zweit wahrgenommen werden können und unbedingt verkuppelt werden sollten, ist ihre Jugend: „Sie waren für sich – strikt unter sich. Und das umso mehr, als sie so (jung) waren“ (P 29). Der Ich-Erzähler ist sich der Konstruiertheit seiner neuen Sinnzusammenhänge bewusst, glaubt aber gleichzeitig an einen verborgenen Sinn – an die mystische Sphäre, die die Welt einhüllt: Ich wollte mich lieber nicht hinlegen, aus Furcht, ich könnte einschlafen, ich setzte mich an den Tisch, und noch pulsierte mir der Rhythmus des rasenden Laufes der Geschehnisse im Kopf, mit dem ich mir keinen Rat wusste – denn über der materiellen Flut der Tatsachen schwebte eine mystische Sphäre von Akzenten und Bedeutungen wie Sonnenglanz über einem Wasserstrudel. (P 139)

Das Schaffen von hermetischen Verbindungen vermittelt kein Gefühl der Gebor­gen­ heit, der Entschlüsselung des Sinns, sondern verunsichert den Ich-Erzähler. Er fühlt sich von den unendlichen Verbindungsmöglichkeiten der Dinge überfordert, kann aber nicht aufhören, sie in Zusammenhänge zu bringen und gleichzeitig den sich ­daraus ergebenden Sinn zu hinterfragen. Nicht die Sinnfrage scheint im Roman im Vordergrund zu stehen, sondern der performative Akt der Sinngebung, den der IchErzähler im Laufe der Handlung immer wieder vorführt. Die Hermetik ist eine der möglichen Sprachen, mit denen man das Sinnverständnis in Pornographie beschreiben kann. Das allerdings ist nicht mit der hermetischen

74 Ebd., 45.

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Sprache im Text zu verwechseln. Zum einen deformiert der Roman die übliche Sinnauffassung und spielt mit den bekannten semiotischen Mechanismen, um dadurch die bestehenden kulturellen Kategorien und Wahrnehmungsschemata, die syntaktischen, syntagmatischen und pragmatischen Konventionen zu hinterfragen sowie die Leseerwartungen zu unterlaufen. Der Sinn wird gelockert, gilt als etwas Temporäres, Instabiles, Flüchtiges und Kontingentes.75 Zum anderen gibt der Text den Anspruch auf das Verstandenwerden nicht ganz auf und hofft auf Wiedererkennungseffekte bei den Rezipienten. Entsprechend beginnt der Roman, mit einer Apostrophe an sie: „Ich werde euch ein anderes Abenteuer erzählen, wohl eines meiner fatalsten“ (P 9). Gombrowicz geht das Risiko der Unangepasstheit und Unverständlichkeit ein, versucht dabei aber ein Maß zu finden bzw. geschickt zwischen hermetischer Verschlüsselung des Sinns und einer gestörten, aber nachvollziehbaren Sinnschaffung zu oszillieren. Diesen Prozess des Schwankens möchte ich im Weiteren untersuchen und vor allem die Strategien, Kategorien und Prinzipien analysieren, die als Grundlage für die neuen Sinnzusammenhänge der anderen ontologischen Ordnung im Roman dienen.

3.2.3 Sympathie, Atmosphäre und neue Taktilität Um Gombrowicz’ Ontologie genauer zu charakterisieren, nehme ich an dieser Stelle Rekurs auf Michel Foucault und Gernot Böhme, die exemplarisch über alternative Entwürfe zu den traditionellen ontologischen Grundvorstellungen reflektieren. Ihre Konzepte vermitteln einen Apparat von Begriffen, die die Interpretation von Pornographie bereichern können. Die Texte von Foucault und Böhme sind auf den ersten Blick sehr verschieden. Eine Zeitspanne von über 30 Jahren trennt sie voneinander, sie betreffen unterschiedliche Themen und repräsentieren andere Herangehensweisen. Den Schwerpunkt von Foucaults Abhandlung Die Ordnung der Dinge (1966) bilden Wissensgeschichte und Diskursanalyse, während es in Böhmes Essays zur Atmosphäre aus dem Jahr 1995 um die Neubestimmung der Ästhetik geht.76 Doch beide Theoretiker setzen sich auf ähn-

75 Dieselben Bezeichnungen des Sinns kommen in den modernen Kommunikationstheorien im Kontext der Formen vor, die in den Medien gebildet werden. „Während das Medium stabil ist und sich für alle möglichen Kommunikationen zur Verfügung hält, […] sind die Regeln für die im Medium gebildeten Formen, eher instabil und jedenfalls nicht mehr durchgehend konsensfähig.“ Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, 401. Vgl. „[D]ie Form erwirbt den Status einer raumzeitlich situierten Operation: Sie wird zur temporalisierten, instabilen, flüchtigen, kontingenten Konkretisierung eines jener Potentiale zur Formbildung, die bereitzustellen die Aufgabe eines Mediums ausmacht.“ Sybille Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation: Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2001, 158. 76 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974. Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 2013.



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liche Weise mit dem in der Gesellschaft dominierenden, auf streng logischen und kausalen Denkstrukturen sowie auf Vorstellungen von Festigkeit und Substanz basierenden Leitbild der Ontologie auseinander, indem sie an den Rändern der ontologischen Reflexion nach alternativen Vorschlägen suchen.77 Dabei beziehen sie sich explizit auf vormoderne theoretische Modelle bzw. schaffen deren starke Interpretationen, die in der Forschung wegen der mitunter etwas eigensinnigen Dekontextualisierung, Selektion und Anpassung der Primärtexte höchst umstritten sind.78 Ungeachtet dessen liefern sie aber wichtige Interpretationsansätze, die als Sondierungsinstrumentarien bei der Rekonstruktion der neuen Sinnzusammenhänge sowie der ambivalenten Struktur der Verführung in Gombrowicz’ Roman besonders hilfreich sind. In Die Ordnung der Dinge beschreibt Foucault, wie seiner Meinung nach der Prozess der Sinnverleihung bis ins 16. Jahrhundert verlief. Ihm zufolge war das Denken – fr. savoir, im Original manchmal mit épistémè gleichgesetzt – bis dahin vor allem durch die Kategorie der Ähnlichkeit geprägt; sie determinierte und strukturierte die Vorstellungen von der holistisch verstandenen Welt. Dabei meint Foucault nicht nur das Verhältnis des Menschen zur Welt im Sinne der epistemologischen Perspektive, sondern auch seine Auffassung von der Beschaffenheit der Welt, sozusagen die on­ tologische Konsequenz der Wissensordnung. Foucault zufolge ähnelten bestimmte Dinge einander und bildeten auf diese Weise ein geschlossenes System von Entsprechungen und Wiederholungen – etwa wenn die Erde sich im Himmel spiegelt oder die Menschen in den Sternen.79 Foucault beruft sich auf Schriften neuzeitlicher Gelehrter wie Pierre Grégoire (ca. 1540–1597), Ulisse Aldrovandi (1522–1605), Tommaso Campanella (1568–1639), Giambattista della Porta (ca. 1535–1615), Oswald Croll (ca. 1560– 1609) oder Andrea Cesalpino (1519–1603) und unterscheidet vier Arten von Ähn­ lichkeiten, das heißt vier abstrakte Figuren, Verbindungsschemata oder Denkmuster, nach denen man die Ähnlichkeiten konstruierte. Convenientia ist die erste Form der

77 Die Forschungsinteressen beider Theoretiker kann man unter dem Begriff „das Andere der Vernunft“ subsumieren. „Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische. Das Andere der Vernunft, das ist inhaltlich die Natur, der menschliche Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle – oder besser: all dieses, insoweit es sich die Vernunft nicht hat aneignen können.“ Hartmut Böhme u. Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft: Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1985, 13. 78 Unter diesem Aspekt setzt sich zum Beispiel Stephan Otto mit Michel Foucaults Interpretation kritisch auseinander. Seiner Meinung nach hat Foucault „etwas sehr Wesentliches in der Mentalität der Renaissance richtig getroffen, allerdings eher traumwandlerisch als im Duktus einer überzeugenden Analyse und überdies von theoretischen Prämissen her, die einer philosophischen Kritik kaum standhalten können.“ Stephan Otto, Das Wissen des Ähnlichen: Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt a. M. u. a. 1992, 10. Vgl. Gerhard Regn, „Mimesis und Episteme der Ähnlichkeit in der Poetik der italienischen Spätrenaissance“, in Klaus W. Hempfer (Hg.), Renaissance: Diskursstrukturen und Epistemologische Voraussetzungen, Stuttgart 1993, 133–145. 79 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 46.

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­ hnlichkeit, der eine räumliche Nachbarschaft der Dinge zugrunde liegt. Zweitens Ä hebt er aemulatio hervor – ein Verfahren der Reduplizierung der Dinge, unabhängig von der Entfernung. Die dritte Figur ist die Analogie, die ähnliche Strukturen und Sachverhalte in Zusammenhang bringt; und die vierte die Sympathie, auf die ich mich hier konzentrieren möchte. In Foucaults Interpretation besteht ihr Grundprinzip darin, Dinge so zu vermischen, sie in Gedanken so nah aneinander zu bringen, dass sie eine Einheit bilden und identisch werden. Damit aber aus dem Ähnlichen nicht das Gleiche wird, fügt Foucault hinzu, dass die Sympathie immer mit der Antipathie einhergeht, die die Dinge auf Distanz hält und ihre Verschmelzung verhindert. Diese vierte Denkform der Ähnlichkeit bedeutet ein permanentes Wechselspiel zwischen Annähern und Entfernen, Anziehen und Abstoßen oder, wie es Foucault formuliert, „das ständige Ausgleichen zwischen Sympathie und Antipathie“.80 Foucault erläutert auch den Prozess, wie die Sinnzusammenhänge nach dem ­Muster der Ähnlichkeit zustande kommen. Die Formen der Ähnlichkeit wurden als verborgene Eigenschaften verstanden, die sich an der Oberfläche der Dinge durch sichtbare Zeichen andeuteten. Diese Zeichen verwiesen allerdings nicht unmittelbar auf das Bezeichnete. Man habe sie zuvor erkennen müssen, was wiederum nach dem Prinzip der Ähnlichkeit verlaufen sei. Daraus resultierte eine andere Zeichentheorie aus drei Elementen: aus dem Zeichen, dem Bezeichneten und dem, was ermöglichte, das Zeichen zu erkennen.81 Foucault bemerkt, dass dieses komplexe semiologische System mit der Zeit durch die Dichotomie signifiant und signifié ersetzt worden sei. Bis dahin sei die Vorstellung verbreitet gewesen, das Universum sei voller Zeichen, die es zu entziffern gelte, und dass man nur die Ähnlichkeiten finden müsse, um die Welt verstehen und erkennen zu können: „Den Sinn zu suchen, heißt an den Tag zu bringen, was sich ähnelt.“82 Die unendliche Suche nach dem Ähnlichen determinierte das Denken, war die Voraussetzung zum Verständnis der Wirklichkeit und prägte die Sinnauffassung dieser Zeit. Foucault datiert das allmähliche Erlöschen des Denkens in Ähnlichkeiten auf das Ende des 16. Jahrhunderts. Das hat ihm zufolge zum einen mit der Institutiona­ lisierung der Alchemie zu tun, die in dieser Zeit langsam begann, sich als moderne Materialwissenschaft an den Universitäten zu etablieren. Ehe das geschah, bildete die ­alchemistische Lehre – vor allem die mit Magie und Okkultismus nah verwandte Strömung des Paracelsismus, die sich um 1500 entwickelte und gegen das universitäre Wissen ausgerichtet war – den Höhepunkt der Spekulation nach dem Prinzip des Ähnlichen. Deshalb zitiert Foucault häufig Paracelsus, wenn er Beispiele für das Denken in Ähnlichkeiten anführt.83 Zum anderen glaubt Foucault, dass auch die Entstehung

80 Ebd., 55. 81 Ebd., 98. 82 Ebd., 60. 83 Als Beispiele für Foucaults Bezüge auf Paracelsus vgl. ebd., 49 f., 57, 64.



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des modernen Romans zum Abschied von der Suche nach den Ähnlichkeiten in der Welt beigetragen habe – ein ganzes Unterkapitel seiner Studie widmet er der Figur des Don Quijote. Mit dem Werk von Cervantes habe ein Prozess der Entfremdung und ­Desillusionierung des Ähnlichen eingesetzt. Der Roman führe nämlich das Verfolgen von verborgenen Zeichen und Verwandtschaften zwischen den Dingen ad absurdum. Gleichzeitig betont Foucault aber, dass die Literatur das Denken in der Kategorie des Ähnlichen nicht nur ironisch hinterfragt und unterminiert habe, sondern dass in ihr auch das Echo dieser alten, vergessenen Denkweise nachhalle: [Das rätselhafte, monotone, obstinate, primitive Sein der Zeichen] kann von uns durch nichts in unserem Wissen (savoir) oder unserer Überlegung mehr erinnert werden. Nichts, außer vielleicht die Literatur, und diese noch auf eine mehr allusive und diagonale als direkte Weise, kann uns daran erinnern.84

Die Kategorien, die das Denken in Ähnlichkeiten wiedergeben, und der Verweis auf die Literatur, die eine entsprechende Vorstellungswelt oder, genauer gesagt, einen vergleichbaren Modus der Weltwahrnehmung andeutungsweise vermitteln kann, sollen hier für die Überlegungen zu Gombrowicz genutzt werden. Vor allem interessiert mich das Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie, das Foucault erwähnt. Er aktiviert mehrere Bedeutungsebenen dieses Spannungsverhältnisses: Einerseits verortet er es in seiner Einteilung als eine Form des Denkens in Ähnlichkeiten. Die Sympathie gehört – abgesehen von der Rhetorik der Empfindsamkeit oder von den Diskursen der Empathie und Liebe – zu den Schlüsselbegriffen der vormodernen Naturphilosophie und hat ihre Ursprünge in der spätantiken Esoterik. Anderseits ist Sympathie für Foucault auch eine ästhetische Kategorie. Im ersten K ­ apitel der Ordnung der Dinge, der berühmten Ekphrasis des Gemäldes Die Hoffräulein (Las Meninas) von Diego Velázquez, spielt er darauf an. Bei dieser höchst reflektierten Bildbeschreibung handelt es sich letztlich um die sinnliche Wahrnehmung des Kunstwerks, um eine affektive Teilnahme daran und um seine unwiderstehlich anziehende Kraft – kurzum um das, was das altgriechische Wort Aisthesis ausdrückt.85 So weist Foucault bei der Schilderung des Gemäldes etwa auf die unsichtbare Linie hin, die die Augen des Malers mit denen des Betrachters verbindet und der wir „uns nicht e­ nt­ziehen können.“86 Oder es ist auch die Rede von dem gemalten Spiegelbild, das die Funktion hat, den Blick „ins Innere des Bildes […] zu ziehen.“87 Foucaults Verständnis der Sympathie bezieht sich nicht zuletzt auf ihre Doppelsinnigkeit, die sowohl ­ontologische als auch ästhetische Aspekte betrifft und daher sowohl die Beschaffenheit der Welt als auch den sinnlichen Kontakt zur Welt beschreiben kann. Diesen

84 Ebd., 76. 85 „Aisthesis meint die sinnlich-affektive Teilnahme an den Dingen.“ Gernot Böhme, Atmosphäre, 51. 86 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 32. 87 Ebd., 44.

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­ ympthiebegriff möchte ich für die Überlegungen zu Pornographie übernehmen, denn S die Verführung scheint auch hier auf ähnliche Art und Weise zu fungieren. Insbesondere ist für Gombrowicz’ Roman eine Dynamik essentiell, die auch Foucault hervorhebt: Dieser stellt die vormoderne Ordnung der Dinge als ein dynamisches und rela­ tives System dar, in dem die Sympathie eines der ordnenden Prinzipien ist. Sie wird allerdings nicht als konstante Kraft gedacht, sondern als variable Regel, die sich erst in der Wechselbeziehung zur Antipathie konstituiert. Foucault erweitert damit das traditionelle Assoziationsfeld, das man mit epistemologisch-ontologischen Grundfragen verbindet. Die Ordnung der Dinge denkt er mit Spannung, Dynamik und Instabilität zusammen. Seiner Vorstellung zufolge befindet sie sich in einem permanenten Prozess des Entstehens, ist leicht veränderbar, besteht in nebulösen Relationen und hinterfragt dadurch die festen Subjektpositionen. Einige Merkmale von Foucaults Betrachtungen der neuzeitlichen Wissensordnung, vor allem ihre Wechselhaftigkeit und Dynamik, lassen sich in Gombrowicz’ Roman wiederfinden. Der Autor entwirft hier eine andere Ordnung der Dinge, die durch ein eigentümliches und in sich verkettetes System von Korrespondenzen ­gekennzeichnet ist. Der Ich-Erzähler versucht Zusammenhänge zwischen Personen, Gegenständen und Ereignissen zu schaffen, die auf den verborgenen Kräften des ­Anziehens oder Abstoßens beruhen. Sympathie und Antipathie bestimmen seine Weltwahrnehmung, er empfindet die Umgebung als Reizquelle, alles kann ihn entweder unmittelbar ansprechen oder mit Abscheu erfüllen. Die beiden Jugendlichen strahlen für ihn „ein Spiel der Erregungen“, „ein fortwährendes Einander-Reizen“ und „eine unaufhörliche, geschmeidige, weiche, gierige Koketterie“ aus (P 74). Er beschreibt auch andere Romanfiguren anhand anziehender oder abstoßender Wirkungskraft. Der Oberleutnant Siemian hat beispielsweise „nichts Anziehendes“ an sich (P 154). Die Zuschreibung von Sympathie und Antipathie beschränkt sich nicht nur auf Menschen, sondern betrifft auch jedes einzelne Ding und jeden Gedanken. Alles wirkt auf den Ich-Erzähler, als ob es mit einer sympathischen oder antipathischen Energie aufgeladen wäre, so dass er sich die Frage stellt: „[W]arum musste, mit ihm [Friedrich], jeglicher Gedanke immer entweder anziehend oder abstoßend sein, immer leidenschaftlich und voller Spannung?“ (P 57). Nicht immer ist er imstande, verlockende und abscheuerregende Reize klar voneinander zu unterscheiden. Ein anderes Mal berichtet er von einem „ekelhaften“ und zugleich „begeisternden“ Gedanken (P 186). Im Roman sind Sympathie und Antipathie zum einen feste Eigenschaften der Dinge und wirken fast wie elektrische Ladungen; jedes Phänomen besitzt anziehendes oder abstoßendes Potenzial und der Ich-Erzähler spürt diese Vibrationen der Zuneigung oder Abneigung. In dieser Hinsicht scheint er beinahe überspannt und hypersensibel zu sein, denn für ihn ist – wie schon Jan Błoński in seiner Studie zu Gombrowicz kurz und knapp bemerkte – nichts neutral.88 Zum anderen entfalten sich die

88 Jan Błoński, Forma, śmiech i rzeczy ostateczne, 39.



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sympathischen und antipathischen Kräfte erst in Relationen bzw. werden auf diese Weise intensiviert. Das Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie dient als Bindemittel neuer Sinnzusammenhänge und als Muster, nach dem der Ich-Erzähler in Pornographie die Welt neu ordnet. So wird die Handlung beispielsweise von einem Mangel an Sympathie ausgelöst – zwischen den beiden Jugendlichen „[gibt es] keine Verführung“ (P 20). Das bringt den Ich-Erzähler und seine Vorstellung von der Ordnung der Dinge durcheinander, daher versucht er durch die Intrige die fehlende ­Anziehung künstlich herzustellen; das System der Wechselbeziehungen zwischen Sympathie und Antipathie soll im Gleichgewicht bleiben. Indem er die Jugendlichen verkuppelt, schafft er neue Zusammenhänge. Die Ereignisse beginnen sich für ihn harmonisch miteinander zu verzahnen und einen Sinn zu ergeben, so dass sein Komplize Friedrich mit unverhohlener Zufriedenheit feststellt: „Was sich das alles ver­ bindet!“ (P 139). Es handelt sich hier aber nur scheinbar um eine idyllische Harmonie und Stabilität. Die andere Ordnung der Dinge kennzeichnet sich durch Dynamik und ­Unvollständigkeit – sie ist im permanenten Prozess der Entstehung. Der Ich-Erzähler denkt sich immer neue Sinnverbindungen aus, die aber, wie das Gefühl des Hingezogenseins oder des Abgestoßenwerdens sowie das Erahnen von Ähnlichkeiten, undeutlich, flüchtig, diffus und schwer zu begründen sind. Auch die Ähnlichkeit, verstanden als eine nicht exakte Wiederholung, ist ein wiederkehrendes Motiv in Pornographie und kommt auf mehreren Ebenen der Handlung vor. Die ganze Intrige beruht auf Versuchen, das ekstatische Gefühl der Überwältigung durch die Verführungskraft zu wiederholen. Auffällig ist außerdem, dass Hippolyt, Henias Vater und Besitzer des Landguts, die letzten Worte seiner Aussagen stets wiederholt. Doch die Wiederholung stimmt nie ganz mit dem bereits Gesagten überein, beim zweiten Mal verwendet er immer einen anderen Ton oder eine andere Lautstärke, so dass in der Wiederholung eine verfremdende Selbsthinterfragung mitschwingt. ­Darüber hinaus arrangiert Friedrich zur Verkuppelung der beiden Jugendlichen mit Verweis auf seine „Schwäche für die Regiekunst“ kurze, unverständliche Szenen im Park. Das Paar soll unter einem Baum stehen oder auf den Boden fallen – Gesten, die sie mehrmals ausführen müssen. „Man wird das noch einmal wiederholen müssen“, sagt er zu ihnen (P 119). Auf diese Szene weist auch Gilles Deleuze in Logik des Sinns hin, denn in ihr sieht er die Verkörperung der Perversion, die ihm zufolge der gemeinsame Nenner von Pornographie und Literatur ist.89

89 „Was ist denn schließlich ein Pornograph? Einer, der wiederholt und immer wieder dasselbe tut. Und dass der Literat seinem Wesen nach immer dasselbe tut, müsste uns über das Verhältnis der Sprache zum Körper, über die wechselseitige Grenze und Überschreitung, denen jeder im andren begegnet, belehren. In Gombrowicz’ Roman Pornographie sind, wie man sich erinnern wird, die bedeutenden Szenen ebenfalls erstarrte Szenen: Rollen, die der Held (oder die Helden?), Voyeur-Sprecher-Literat, Theatermensch, zwei Jugendlichen aufdrängt; Szenen, die ihre Perversität erst durch die wechselseitige Gleichgültigkeit der Jugendlichen bekommen; Szenen jedoch, die in einer Fallbewegung gipfeln, in einer Niveaudifferenz, die in einer Wiederholung der Sprache und des Blicks wie-

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Die verborgenen Zeichen und Ähnlichkeiten erfordern eine besondere Aufmerksamkeit und Sensibilität seitens des Subjekts, deshalb ist Gombrowicz’ Ich-Erzähler stets auf der Suche nach ihnen. Erst ihre Auslegung ermöglicht ihm, die geheimnisvollen ­Zusammenhänge in der Welt zu erkennen. Eine Bestätigung für die vermeintliche ­Beziehung der beiden Jugendlichen findet er zum Beispiel in belanglosen Gesten, denen er aber Bedeutung zuschreibt. Er interpretiert sie als latente Hinweise auf eine mögliche Anziehungskraft zwischen ihnen. Wenn Henia und Karol gemeinsam einen Regenwurm zertreten, überlegt er sich, welchen „geheimen Inhalt“ sie mit ihren „leicht zertretenden Füßen übermitteln wollten“ (P 69).90 Dann vermutet er, dass ­dieser Wurm für Henias Verlobten stehen könnte. Alles betrachtet er als chiffrierte Botschaften, versucht sie zusammenzulegen und so eine neue Ganzheit, einen Sinn hervorzubringen: Die Situationen in der Welt sind Chiffren. Unbegreiflich bleibt die Konstellation der Menschen und überhaupt der Erscheinungen. Dies hier … war bestürzend vielsagend – aber es war nicht voll zu verstehen, zu entziffern. Jedenfalls hatte sich die Welt in einem überaus wunderlichen Sinne zusammengeballt. (P 53)

Das entspricht dem bekannten, insbesondere in der Hermetik häufig verwendeten Topos, dass die Welt aus verschlüsselten Mitteilungen besteht, die man nie ganz dechiffrieren und verstehen kann. Vor allem scheint mir der Verweis des Ich-Erzählers auf die Zusammenballung der Welt wichtig zu sein. Er stellt sich die Welt als unbegreifliches Amalgam oder verwickeltes Rhizom vor und nimmt – was ich hervorheben möchte – die Umgebung, die Menschen und Erscheinungen, die ihm begegnen, als Konstellationen wahr bzw. ordnet sie zu solchen.91 Sein Vorgehen lässt sich mit dem eines Sterndeuters vergleichen, denn er schafft Zusammenhänge, in die er selbst als deren Schöpfer verwickelt ist. Die neuen Abhängigkeiten basieren wie Gestirnkonstel-

deraufgenommen wird; Szenen von Besessenheit im wahrsten Sinne des Wortes, da die Jugendlichen geistig vom Voyeur-Sprecher besessen sind, von ihm in ihrem Geschick bestimmt und denunziert werden.“ Gilles Deleuze, Logik des Sinns, 351. Zum Verhältnis der Perversion zur Verführung vgl. Jean Baudrillard, Von der Verführung, 165–179. Vor allem die folgende Überlegung: „Die Perversion ist eine erstarrte Herausforderung, die Verführung ist eine lebendige Herausforderung. Die Verführerin ist beweglich und flüchtig, die Perversion ist monoton und unendlich. Die Perversion ist theatralisch und komplizenhaft, die Verführung ist geheim und reversibel.“ Ebd., 178. 90 Verschiedenartige Insekten, ihre Tötung oder Rettung sind ein wiederkehrendes Motiv in Gombrowicz’ Werk, das mit vielen Bedeutungen beladen wird. Vgl. zum Beispiel die wohl bekannteste Szene im Tagebuch, in der Gombrowicz am Strand die auf dem Rücken liegenden Käfer umzudrehen beginnt und über die Sinnlosigkeit des Leidens in der Welt reflektiert. Witold Gombrowicz, Tagebuch, 428 f. 91 Im Original wird an dieser Stelle das mehrdeutige Wort układ verwendet, das eine unbestimmte Anordnung, Zusammenstellung oder ein System, wie z. B. das Planetensystem (układ planetarny) bedeuten kann. Zwar wird also nicht explizit das Fremdwort konstelacja [die Konstellation] genannt, das die lateinische Vokabel für Stern (stella) beinhaltet, die Aussage des Satzes scheint aber dennoch latent auf die Astrologie zu rekurrieren.



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lationen auf nicht näher bestimmten Verführungskräften, Relationen des Anziehens und Abstoßens und richten sich nicht nach Entsprechungen, sondern nach Ähnlichkeiten, um die Unlesbarkeit, Unverständlichkeit und Zufälligkeit der Welt zu zähmen und das scheinbar Inkohärente zusammenzubringen. Das Zitat macht auch den Unterschied zwischen Foucaults Beschreibungen des vormodernen Denkens und der anderen Ordnung der Dinge im Roman deutlich. Diese wird dynamisch und prozessual gedacht, bildet aber kein übersichtliches System. Die neuzeitliche Metapher der Natur als lesbares Buch passt hier nicht.92 Der Ich-Erzähler empfindet die Wirklichkeit als unentwirrbares Knäuel und beobachtet das Versagen und die Unangemessenheit von kausalen, logischen und rationalen Sinnzusammenhängen. Seine Bemühungen, sich dennoch zurechtzufinden, lassen sich einerseits als Versuche eines Verzweifelten interpretieren, der vor der Konfrontation und dem Andrang des Unverständlichen nicht gleich kapitulieren möchte. Andererseits schlägt seine Hoffnungslosigkeit in große Kreativität um. Mit der Suche nach Zeichen, Ähnlichkeiten oder Spannungsverhältnissen zwischen Sympathie und Antipathie sowie durch die Konstruktion von Konstellationen, zu deren Bestandteil er wird, entwickelt er Strategien der Sinngebung. Die unmittelbare, sinnliche Teilnahme an selbstkreierten Sinnzusammenhängen spielt auch in Gernot Böhmes Reflexionen über ontologische Alternativen eine eminente Rolle. In seinen Essays versucht er die klassische Lehre vom Sein zu revidieren. Sein Ziel ist es, die Ästhetik anders zu denken und sie von einigen tradierten Vorstellungen der Ontologie zu befreien. Daher überprüft er unter anderem die Bestimmung des Wesens der Dinge, wozu üblicherweise Kategorien wie Einheit, Verschlossenheit und Autarkie hinzugezogen werden. Stattdessen schlägt er ein anderes Verständnis der Dingwelt vor: Das Ding sei als „ekstatisch Seiendes“93 aufzufassen, das heißt, seine Sinnlichkeit, Materialität und Präsenz müsse berücksichtigt werden. Zur Verdeut­ lichung führt er den Begriff der Atmosphäre ein, der seiner Meinung nach den anderen, ontologisch unbestimmten Status des Dinges beschreiben kann. Die Atmosphäre hinterfrage nämlich Dichotomien wie offen und geschlossen oder objektiv und subjektiv, zudem lasse es sich schwer feststellen, ob diese Gegensätze den Objekten, der Umgebung oder den Subjekten, die sie erfahren, zugeschrieben werden sollten.94 Die Unbestimmtheit und Unmöglichkeit der Verortung der Atmosphäre ist für Böhme mit dem Charakter ihrer Ausstrahlung verbunden, denn sie könne heiter, melancholisch, bedrückend, einladend, verführerisch oder erotisch sein – die Zahl ihrer möglichen Beschreibungen ist unendlich.95 Böhme betrachtet die Atmosphäre als Sammel­ bezeichnung für ein umfangreiches Bedeutungsfeld und umschreibt sie mit Kategorien

92 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 66. 93 Gernot Böhme, Atmosphäre, 243. 94 Ebd., 22. 95 Ebd.

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wie Aura und Ekstase oder mit Ansätzen der Leibphilosophie (Hermann Schmitz) oder der Ästhetik des Erscheinens (Martin Seel). Seine Hauptthese lautet, dass die ontologische Neubestimmung der Dingwelt durch die Atmosphäre ein anderes Verständnis von Ästhetik impliziere. Diese sei dann keine Wissenschaft mehr, die sich lediglich mit Kunstwerken und Kunsttheorie befasse, sondern würde sich auf alle Dinge ausdehnen, die ihrem Wesen nach von Atmosphären bestimmt unter den Schirm der Aisthesis fallen würden und daher nicht mit den Kriterien der klassischen Ontologie erfasst werden könnten. So erweist sich die Ästhetik für Böhme als „eine allgemeine Theorie der Wahrnehmung“, zu der die sinnlich-materielle Beschaffenheit, die Leiblichkeit sowie die affektive Betroffenheit vom Wahrgenommenen gehören.96 Auf den ersten Blick könnte man Böhme Gedanken darauf reduzieren, dass er das Primat der Ästhetik über die Ontologie entdeckt haben will. Zu Unrecht, denn der Autor weist darauf hin, dass Aisthesis und die ekstatische Auffassung der Dinge schon immer die ontologische Reflexion begleitet hätten.97 Diese Tendenz zur Durchdringung beider Bereiche könne man jedoch als eher marginal einstufen – stellvertretend dafür seien Randphänomene wie beispielsweise die Lehre von der Physiognomie.98 Auf der Suche nach Beispielen, die eine Kryptotradition unterhalb der Hauptlinie der euro­ päischen Ontologie ausmachen, erinnert Böhme – ähnlich wie Foucault – an die Denker der Frühen Neuzeit und findet dort seine Inspirationsquelle. Das Dingmodell des Philosophen und Mystikers Jacob Böhme ist für ihn ein überzeugender Gegenentwurf, in dem eine alternative Art der Wahrnehmung imaginiert wird. In seiner Schrift De S­ ignatura Rerum (1622) stellt sich der von Alchemie und jüdischer Kabbala beeinflusste Jacob Böhme die Welt als ein Musikinstrument vor oder, wie es Gernot Böhme interpretiert, als „das große Konzert“.99 Dieser Vorstellung zufolge hängen die einzelnen Dinge der Welt nicht etwa durch Kausalbeziehungen zusammen, sondern durch ein wechselseitiges Tönen und Mitschwingen. Alles funktioniert nach dem Modell der Resonanz – wie das Anschlagen einer Glocke, die dann alle Wesen mitschwingen lässt, was im Originaltext wie folgt zum Ausdruck kommt: [D]ann mit dem Hall oder Spraach zeichnet sich die gestalt in eines andern gestaltniß ein / ein gleicher klang faenget (empfängt) vnd beweget den andern / vnd im hall zeichnet der Geist sein

96 Ebd., 47. 97 Böhme verweist in diesem Kontext auf Aristoteles und dessen Lehre von den Grundsubstanzen. Ebd., 234. 98 Die Physiognomie ist für Böhme – ähnlich wie die Astrologie oder Alchemie – eine der Ausdrucksformen, ekstatisch zu sein. „Die Physiognomie eines Menschen ist nicht ein äußeres Zeichen seiner verborgenen Innerlichkeit, sondern die Artikulation seiner leiblichen Anwesenheit.“ Ebd., 194. 99 Gernot Böhme beruft sich an mehreren Stellen auf die Schriften des Mystikers: Ebd., 234 f. oder 261. Zu Jacob Böhmes Idee vom großen Konzert der Welt vgl. auch den Vorstellungskomplex der WeltMusik in der Alchemie (z. B. die Planeten-Noten auf der himmlischen Tonleiter): Alexander Roob, Alchemie & Mystik, 84 f.



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eigen Gestaltniß (welche er in der Essentz geschoepffet hat / vnd hat sie im Principio zur Form bracht) Ein.100

Das Senden und Empfangen des Klangs ist konstitutiv für die Dinge, denn es verleiht ihnen Gestalt und drückt ihre Essenz aus. Im Vordergrund stehen hier bekannte Motive der Mystik und Hermetik: die Offenbarung des Geistes, das verborgene Wesen, Empfänglichkeit und Weltaufmerksamkeit für die göttliche Wirkung. In dieser anderen Weltvorstellung werden die Zusammenhänge zwischen den Dingen anders gedacht, und zwar als ein permanentes und gegenseitiges Anregen und Erwidern, was ausgezeichnet zum Profil der Sinnesphänomenologie passt, die nach nicht-quantitativen Darstellungsweisen der Wirklichkeit sucht.101 Die Idee vom tönenden Wechselverhältnis hat Gernot Böhmes Überlegungen inspiriert und wird häufig von ihm erwähnt, denn das Mitschwingen kann, ähnlich wie die Kategorie der Atmosphäre, das Raumlose und Ephemere, das Aus-sich-Heraustreten der Dinge und ihre Wirkungskraft verdeutlichen. Eine vergleichbare Vorstellung von einer anderen Ordnung der Dinge scheint auch Gombrowicz in Pornographie zu präsentieren, allerdings imaginiert er die Welt nicht wie Jacob Böhme als ein Konzert, sondern als ein Verführungsspiel. Das Modell der Wechselspannung ist aber beiden Vorstellungen gemeinsam. In Pornographie bilden das gegenseitige Anziehen und Abstoßen zwischen den Dingen das Grundprinzip, nach dem die Romanfiguren die Wirklichkeit organisieren und empfinden. Sinneswahrnehmungen und Empfänglichkeit für sie sind von zentraler Bedeutung. Der IchErzähler nimmt die Gegenstände ekstatisch wahr: Er steht ihnen nah und lässt sie unmittelbar auf sich wirken. Statt eines medialisierten Weltempfindens durch kulturelle Repräsentationen bestimmen also Nähe und Unmittelbarkeit die Wahrnehmung im Roman – ebenso wie sie in Gernot Böhmes Ästhetik der Atmosphären dominieren. An dieser Stelle sei an die Szene im Wagen erinnert, in der die Zähne des Jungen auf einmal die ganze Aufmerksamkeit des Ich-Erzählers beanspruchen. Die hyperscharfe Darstellung ist alles andere als nur rhetorische Figur, sie zeigt die andere Ordnung der Dinge in Pornographie. Die Welt besteht hier nicht mehr nur, sondern sie betrifft die Protagonisten. Dieser Satz ist die Paraphrase einer Bemerkung von Norbert Bolz, der auf diese Weise die Tendenz der Moderne zur „neuen Taktilität“ beschreibt, die den neuzeit­ lichen Primat des Optischen verdrängt.102 Bei Gombrowicz betrifft die ontologische

100 Jacob Böhme, De Signatura Rerum, in Werke, hg. v. Ferdinand van Ingen, Frankfurt a. M. 2009, 515. Vgl. Gernot Böhme, Athmosphäre, 235. 101 Vgl. Kapitel zur Sinnesphänomenologie in Karen Gloy, Grundlagen der Gegenwartsphilosophie: Eine Einführung, Stuttgart 2006, 96–102. 102 Vgl. Norbert Bolz, „Abschied von der Gutenberg-Galaxis. Medienästhetik nach Nietzsche, Benjamin und McLuhan“, in Jochen Hörisch u. Michael Wetzel (Hg.), Armaturen der Sinne: Literarische und technische Medien 1870 bis 1920, München 1990, 145. Seine Beobachtungen lassen sich in gewisser Hinsicht auf Gombrowicz’ Werk übertragen.

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Ordnung die Figuren im doppelten Sinne: Die Wirklichkeit ist ihnen zum einen nicht gleichgültig, zum anderen widerfährt sie ihnen, sie stößt ihnen wörtlich zu – auch in Bezug auf ihre Leiblichkeit. Alles geschieht in der unmittelbaren Nähe des Ich-Erzählers und wirkt auf seinen Körper ein, die genannten Zähne stechen ihm etwa in die Augen.103 Darüber hinaus – und das ist Norbert Bolz zufolge ein weiteres Merkmal der neuen Taktilität der Moderne – charakterisiert der Ich-Erzähler bei Gombrowicz die Phänomene mit haptischen Eigenschaften wie Festigkeit, Härte oder Reibungswiderstand,104 während er etwa bei der Beschreibung einer Landschaft das Versagen des Sehvermögens thematisiert: „[D]er Himmel war undeutlich, die Kuh leistete nicht den nötigen Widerstand“ (P 18). Bolz verbindet die Fokussierung der Moderne auf die Taktilität mit der Entstehung und Verbreitung der Kinematographie Anfang des 20. Jahrhunderts: Die schockhafte Nähe der Aufnahmen oder das operative Eindringen des Kamera-Auges in den Gegenstand führte dazu, dass unbekannte Strukturbeschaffenheiten von bekannten Phänomenen auf einmal sichtbar und beinahe zum Greifen nahe wurden, so dass die Rezipienten ein „vielfältig zerstückeltes Bild“ der Wirklichkeit präsentiert bekamen.105 Dieses filmische Verfahren scheint Gombrowicz teilweise zu übernehmen, um – wieder mit Gernot Böhmes Formulierungen – das Ekstatische an den Dingen und die anziehend-abstoßenden Wechselbeziehungen zwischen ihnen hervorzuheben.

103 Für Bolz hat der Umbruch zur neuen Taktilität, nach dem die Welt „nicht mehr besteht, sondern uns betrifft“ (ebd., 145), drei Agenten: den Traum, das Kind und den Sammler. Die Formulierungen über das Zustoßen der Wirklichkeit zitiert er von Walter Benjamins Einbahnstraße (1928), aus dem Abschnitt über das unordentliche Kind: „Es geht ihm [dem Kind – AH] wie in Träumen: es kennt nichts Bleibendes; alles geschieht ihm, meint es, begegnet ihm, stößt ihm zu.“ Walter Benjamin, „Einbahnstraße“, in Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt a. M. 1991, 115. Bolz macht noch in der Fußnote einen Verweis auf Das Passagen-Werk und die einschlägige Stelle, an der Benjamin sich auf Henri Bergson bezieht und das Zustoßen der Dinge auf die Figur des Sammlers überträgt: „Am Schlusse von Matière et Mémoire entwickelt Bergson, Wahrnehmung sei eine Funktion der Zeit. Würden wir – so darf man sagen – gewissen Dingen gegenüber gelassener, andern gegenüber schneller, nach einem andern Rhythmus, leben, so gäbe es nichts ‚Bestehendes‘ für uns sondern alles geschähe vor unsern Augen, alles stieße uns zu. So aber ergeht es mit den Dingen dem großen Sammler. Sie stoßen ihm zu.“ Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in Gesammelte Schriften, Bd. V.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1991, 272. 104 Norbert Bolz, „Abschied von der Gutenberg-Galaxis“, 146. 105 Ebd., 147. Diesen Ausdruck nimmt Bolz ebenfalls von Walter Benjamin, vom dessen Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Benjamin reflektiert über den Unterschied zwischen dem Maler und dem Kameramann: „Maler und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammenfinden.“ Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erste Fassung)“, in Gesammelte Schriften, Bd. I.2, 459.



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Foucault und Böhme nähern die Bereiche der Ontologie und Ästhetik aneinander an, indem sie alternative Modelle der Wirklichkeitswahrnehmung präsentieren, die auf Aisthesis basieren. Ihre in lockerem Bezug auf die neuzeitliche Vorstellungskraft ausgearbeiteten Kategorien zeigen gewisse Überschneidungen mit Gombrowicz’ literarischer Auseinandersetzung mit dem klassischen Verständnis von Sinn und Sein und können das Bedeutungsfeld der Ontologie der Verführung um bedeutende Aspekte ergänzen. Foucaults Beschreibung des Denkens in Ähnlichkeiten hebt bei der Interpretation von Pornographie die Dynamik von Sympathie und Antipathie hervor. Und Böhmes Begriff der Atmosphäre macht auf die Rolle der Sinneswahrnehmung, auf die ekstatische Beschaffenheit der Dingwelt und ihre affektiven Wirkungskraft aufmerksam, die die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verwischen kann – wie dies auch in dem polnischen Roman geschieht.

3.2.4 Inkommensurabilität und Konstellationen Aus den bisherigen Versuchen, die in Pornographie dargestellte Ordnung der Dinge zu charakterisieren, lässt sich folgende Zwischenbilanz ziehen: Der Roman präsentiert eine bestimmte, der Hermetik nahe Sinnauffassung. Der Ich-Erzähler sucht nicht nach dem Sinngehalt in der Welt – er fragt weder nach dem Wesen noch nach der Essenz der Phänomene, mehr interessieren ihn die dynamischen Beziehungen zwischen ihnen, die er selbst erfindet. Überall wittert er verborgene Zeichen und geheimnisvolle Verbindungen und hinterfragt somit die bestehenden Bedeutungsstrukturen. Der Sinn liegt nicht in den Dingen, ist ihnen nicht immanent, sondern wird ihnen von außen verliehen, ist relativ und variabel. Der Prozess der Sinngebung ist mit Aisthesis, mit sinnlich-affektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen verbunden. Die neuen Sinnzusammenhänge beanspruchen nicht, die letzte Wahrheit oder Identität der Dinge aufzudecken, stattdessen betonen sie die Ähnlichkeiten zwischen den Phänomenen. Dabei spielt die Verführung eine zentrale Rolle, die permanente Wechselbeziehung vom Verführen und Verführt-Werden bestimmt die Handlung und das Verständnis der Protagonisten vom Sein. Daraus resultiert allerdings kein übersichtliches System, denn der ontologischen Ordnung im Roman liegt keine Vorstellung von einem harmo­ nischen Kosmos zugrunde. Die Wirklichkeit hat sich für den Ich-Erzähler zusammen­ geballt, er versteht sie nicht mehr. Es wäre aber eine Vereinfachung, Pornographie ausschließlich im Kontext des ­Absurden oder der „Ironie der Unverständlichkeit“106 zu verorten und in dem Roman nur den Inbegriff des Chaos und der Sinnlosigkeit als Kritik an der Vernunft zu sehen. Gombrowicz scheint Sinn und Unsinn nicht dichotom aufzufassen, vielmehr fokussiert

106 Diese Formulierung entnehme ich Eckhard Schumacher, Die Ironie der Unverständlichkeit: ­Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt a. M. 2000.

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er sich auf die Momente, in denen die beiden Bereiche ineinander greifen, sich durchdringen und ununterscheidbar voneinander sind. Im Roman lassen sich bestimmte Strategien der Sinnverleihung erkennen. Es ist beispielsweise auffällig, dass die Einzelphänomene selten autonom, als separate und kohärente Einheiten erscheinen, sondern meist in Beziehungen zueinander stehen, als ob sie sonst unvollständig wären und sich erst durch die Einbindung in das Netz der anziehenden und abstoßenden Kräfte konstituieren könnten. Einzelne Personen treten oft in Bezug auf andere Elemente auf, der Ich-Erzähler betrachtet die Welt als „Konstellationen der Menschen und überhaupt der Erscheinungen“ (P 53) und nimmt sich selbst als einen gleichrangigen Bestandteil solcher Anordnungen wahr: „Friedrich, ich, Henia, Karol – wie irgendeine sonderbare erotische Kombination, ein unheimliches und sinnliches Quartett“ (P 44). Solche Zusammenstellungen, ein wiederkehrendes Motiv im Roman, beeinflussen nicht nur die Handlung, sondern sind auch maßgeblich für die Sinnzuschreibung, denn sie formen neue Sinnzusammenhänge und haben dadurch besondere Bedeutsamkeit und Prägnanz: Friedrich […] hatte diese beiden [Henia und Karol – AH] zusammen vor sich, eben in dieser und keiner anderen Kombination – und wir vier auf diesem Wagen, der sich von einer Anhöhe zur anderen wälzte, stellten ebenfalls nicht die schlechteste Kombination dar, eine bedeutsame Formel, eine sonderbare Zusammenstellung … und je länger wir schweigend dahinfuhren, desto aufdringlicher wurde die Figur, die wir bildeten. (P 103 f.)

Durch die Verknüpfung von Figuren und Dingen zu Konstellationen versucht der IchErzähler, sich die zusammengeballte, unbegreifliche Wirklichkeit in gewisser Weise zu unterordnen, sie sozusagen wieder in den Griff zu bekommen, die Zufälligkeit und Sinnlosigkeit der Welt zu verdrängen und eine Formel bzw. eine Gesetzmäßigkeit zu schaffen, die unhinterfragbar wäre und an der er teilhätte.107 Im Zentrum seines Interesses stehen erstaunliche Anordnungen, die „schweigend“ und dennoch „aufdringlich“ Sinn ergeben. Um das Besondere an den Konstellationen zu erfassen, die eine alternative Form der Zusammenhänge zwischen den Dingen bilden, ziehe ich einen weiteren Text zur Analyse heran. Das Motiv lässt sich nämlich noch deutlicher in Gombrowicz’ nächs-

107 Eine ähnliche Interpretation von Sinnauffassung im Werk von Gombrowicz hat Jerzy Jarzębski knapp zusammengefasst: „Człowiek nadaje sens rzeczywistości, ale i sam jest przez nią przeniknięty. Zauważmy: podobne sformułowania można odnieść do człowieka Gombrowiczowskiego; nie ma dla niego introspekcji badającej czysty intelekt, czystą świadomość, jego ja istnieje tylko w dialogu z przedmiotem, z innymi ja, istnieje tylko przez ten dialog.“ [Der Mensch verleiht der Wirklichkeit Sinn, aber er ist auch selbst von ihr durchdrungen. Es ist zu bemerken, dass man ähnliche Formulierungen auf den Menschen bei Gombrowicz übertragen kann. Es gibt bei ihm keine Introspektion, die den reinen Intellekt oder das reine Bewusstsein erforscht. Sein Ich existiert nur im Dialog mit dem Objekt, mit anderen Ichs – es existiert ausschließlich durch diesen Dialog. Übers. v. AH]. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, 107.



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tem und zugleich letztem Roman Kosmos bemerken. Er erschien 1965, ein Jahr danach wurde die erste deutsche Übersetzung veröffentlicht, zunächst unter dem Titel Indi­ zien, der auf die Handlung verweist. Für die Neuübersetzung von Olaf Kühl aus dem Jahr 1985 wurde dann der polnische Originaltitel übernommen und beibehalten. Wie im vorigen Roman geht es auch in Kosmos um die Erschaffung einer neuen Ordnung; diesmal gibt es aber keinen Protagonisten wie Friedrich, der das ganze Bedeutungssystem ins Wanken bringt. Wieder heißt der Ich-Erzähler Witold, er ist gleichzeitig die Hauptfigur. Zerstritten mit der Familie verlässt er sein Zuhause, entflieht symbolisch einer traditionellen, patriarchalischen und rationalistischen Ordnung und fährt ins Gebirge. Dort setzt er sich das Ziel, die Welt für sich neu zu ordnen, den Kosmos nach seinen eigenen Gesetzen zu kreieren. Deshalb sucht er überall nach Zeichen und Indizien, die man zu einer sinnvollen Ganzheit verbinden könnte und die einen größeren Zusammenhang ausmachen würden. Jeder Kleinigkeit schreibt er Bedeutung zu, nichts ist für ihn belanglos. In jedem Ding sieht er das Potenzial einer verrätselten ­Mitteilung, wie z. B. in einem kaum sichtbaren Pfeil an der Zimmerdecke, in einem aufgehängten Stäbchen, in einem toten Spatz oder in der nach einem Unfall verzerrten Oberlippe eines Dienstmädchens. Witold denkt sich merkwürdige Verbindungen zwischen all diesen Elementen aus. Dieser Prozess des Verbindens scheint eine Vorführung des Absurden zu sein und das Absurde setzt eine Extension des Subjekts und dessen freies Assoziieren in Gang. Der Ich-Erzählers bringt sein Vorgehen auf die Formel „Je banaler und absurder, desto aufdringlicher und mächtiger!“ (K 120). Die Konstellationen sind seine Antwort auf die  Absurdität und Unfassbarkeit der Wirklichkeit, die er mit einer Anekdote beschreibt: Einmal wollte er einen Zahn ziehen lassen – erfolglos, denn der Zahnarzt konnte den Zahn mit der Zange nicht richtig fassen, dieser rutschte immer wieder ab. Im Anschluss an diese Geschichte konstatiert Witold, dass ihm auf dieselbe Weise die Wirklichkeit entgleite, er fühle sich „machtlos“ ihr gegenüber und habe „keinen Zugang“ zu ihr (K 169). Die Konfrontation mit ihrer Unzugänglichkeit und Unverständlichkeit überwältigt ihn, er empfindet bleierne Müdigkeit. Die Welt ist für ihn ein ­unerträgliches Durcheinander, er spricht von „Chaos“ und „schmutzigem Überfluss“ (K 158), vom „Gestöber von Dingen“ (K 126), vom „Übermaß an Wirklichkeit, ihr[em] Aufquellen bis zur Unerträglichkeit“ (K 70). Diese Beschreibungen erinnern an Texte der Existenzialisten.108 Trotz seiner Machtlosigkeit angesichts der Welt und seines Gefühls der Beklemmung sucht der Ich-Erzähler nach irgendeinem Zusammenhang und strebt hartnäckig danach, „die Idee zu entziffern, den roten Faden zu finden, zu verstehen oder wenigstens herauszufühlen, worauf das ziel[t]“ (K 107). Deshalb beginnt er überall verschlüsselte Informationen zu bemerken, die auf einen Sinn verweisen könnten, wird aber

108 Gombrowicz’ Bezüge auf Existenzialismus wurden in der Sekundärliteratur schon genau erforscht, vgl. Alfred Gall, Performativer Humanismus, 50–70.

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schnell von der Fülle und Unendlichkeit der vermeintlichen Indizien überfordert und fragt sich selbst rhetorisch: Wie viele Sätze lassen sich aus den vierundzwanzig Buchstaben des Alphabets bilden? Wie viele Bedeutungen kann man aus Hunderten von Unkräutern, Erdkummen und anderen Kleinigkeiten ableiten? (K 37)

Sein Vorhaben ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er ist sich dessen bewusst, bringt aber trotzdem die Dinge in Konstellationen zusammen. Er spinnt sein Netz von Verbindungen und schwebt in der „Sphäre der Hieroglyphe“ (K 75) zwischen unzäh­ ligen Zeichen, die er achtsam entziffert und permanent neu deutet. Im Überfluss möglicher Bedeutungen will er eine Ganzheit sehen oder, wie er es formuliert, einen „gewissen Drang nach Sinn“, „irgendeine Neigung zur Harmonie“, „etwas gleichsam vage Anhakendes“ (K 38). Gleichzeitig stellt er aber sein Vorgehen infrage, denn es ist ihm klar, dass nichts Geheimnisvolles hinter den scheinbaren Zeichen steht und dass er selbst die Quelle seines Rätsels ist. Er bezeichnet sich daher als den „Urheber der geheimnisvollen Kombinationen“ (K 56). Mit der Undurchdringlichkeit der Wirklichkeit konfrontiert erfährt er, dass es unmöglich ist, sie zu erfassen, zu verstehen und zu ordnen. Trotzdem ist er aber vom Willen zur Neuordnung und zum konstellativen Verbinden beinahe besessen. Sein Verhalten lässt sich als kritische Geste interpretieren. Witold zeigt nämlich die Relativität der Sinnzuschreibungen, hinterfragt das bestehende Bedeutungssystem sowie die selbst kreierten Sinnzusammenhänge. Solche Kritikfähigkeit – verstanden als Polemik gegen vorgegebene, bedrängende Ordnungen, Instanzen, Werte und ­Autoritäten wie etwa der Sinn oder das Heilige – zeichnet die Gattung Roman seit ihrer Entstehung aus, man denke nur an die Abenteuer von Don Quijote.109 Schon bei

109 Es lohnt sich an dieser Stelle einen kurzen Abschnitt aus dem Werk von Cervantes zu zitieren, nicht nur um ihn zu ehren, auch nicht, um die altbekannte These zu bestätigen, dass die Quellen der Prosa der Moderne schon bei Don Quijote vorzufinden sind, sondern um einen Eindruck zu vermitteln, wie stark schon in diesem Text die Metareflexion über die Relativität der Sinngebung präsent ist. Darüber äußert sich der geistvolle Hidalgo beispielsweise im Gespräch mit Sancho Panza in Kapitel 25 des ersten Buches: „Was für dich also ein Scherbecken ist, das ist für mich der Helm des Mambrin und für jemand anderen ganz etwas anderes. Und welch weise Voraussicht des Zauberers, der mir gewogen ist, dass alle für ein Becken halten, was wirklich und wahrhaftig der Helm des Mambrin ist, denn so wertvoll ist er, dass ein jeder versuchen würde, ihn mir abzujagen, aber da ihn alle für eine Bartschüssel nehmen, macht ihn mir keiner streitig, was man schon daran sieht, dass ihn der Kerl zerschlagen wollte und am Boden liegenließ, denn glaube mir, hätte er ihn erkannt, er hätte ihn niemals zurückgelassen.“ Miguel de Cervantes Saavedra, Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha, hg. und übers. v. Susanne Lange, München 2008, 252. Seine Formulierung „was für dich, ist für mich“ hat ein umstürzlerisches Potenzial und grenzt beinahe an Blasphemie oder Ketzerei. Sie stellt ­nämlich die vorgefundenen Hierarchien, Ordnungen und Sinnzuschreibungen infrage. Oder – weniger abstrakt aufgefasst – sie widerspricht zum Beispiel dem Reliquienkult, was ein ziemlich gefährlicher Gedanke war angesichts der Situation zu Lebzeiten des Autors, der Epoche der Inquisition.



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­Cervantes wird vorgeführt, dass der Sinn verhandelbar und austauschbar ist; in Por­ nographie scheint diese kritische Haltung einer festgelegten Sinngebung gegenüber eine Zuspitzung zu erfahren. Gombrowicz durchleuchtet den Mechanismus der Bedeutungsverleihung aufs Genauste, und das nicht nur, um ihn zu verfremden oder als willkürlich und unsinnig zu entlarven. Er zeigt vor allem, dass dieser Prozess nicht ausschließlich die Domäne der Vernunft ist und dass andere Aspekte wie Sinnlichkeit und nicht zuletzt Verführung ihn stark beeinflussen. All das erfordert eine besondere Darstellungsweise – zum Beispiel mittels der Metapher der Konstellation. Gleich zu Beginn von Kosmos beobachtet der Ich-Erzähler aufmerksam den Sternenhimmel, um kurz danach dasselbe Prinzip der konstellativen Verbindungen auf seine unmittelbare Umgebung zu übertragen und anzuwenden. Der Übergang passiert erstaunlich fließend: Unerhört – die Bestirntheit des mondlosen Himmels – in diesen Ausschwärmungen zeichneten sich Konstellationen ab, manche kannte ich, den Großen Wagen, den Bären, ich fand sie wieder auf, aber andere, mir unbekannte, lauerten auch, wie eingeschrieben in die Platzierungen der Hauptsterne, ich versuchte, Linien auszumachen, die Figuren markierten … und diese Differenzierung, das Skizzieren der Landkarte ermüdete mich plötzlich, ich wandte mich dem Gärtchen zu, doch auch hier ermüdete mich gleich die Vielzahl der Gegenstände, wie etwa der Schornsteine, ein Rohr, die Knickung der Dachrinne, das Mauersims, ein Bäumchen, oder auch schwierigere, die eine Kombination bildeten wie zum Beispiel die Biegung und das Verschwinden eines Pfades, der Rhythmus der Schatten … und unlustig begann ich auch hier Figuren zu suchen, Zusammenstellungen; ich hatte keine Lust, ich war gelangweilt und ungeduldig und launisch, bis ich mir vergegenwärtigte, dass das, was mich an diesen Gegenständen fesselte, oder was weiß ich, anzog, dieses „hinter“, „jenseits“ war – das, dass ein Gegenstand „hinter“ dem anderen war – das Rohr hinter dem Schornstein, die Mauer hinter der Küchenecke […]. Ich wunderte mich mehr, als sich schickte, überhaupt neige ich irgendwie zur Übertreibung, außerdem fügte mir die Konstellation, dieser Große Wagen da, etc., etwas Gehirnliches zu, etwas Quälendes […]. (K 18)

Das Enträtseln der Konstellationen am Himmel wechselt geschmeidig zum Bilden von Zusammenhängen zwischen den Dingen. Darin lässt sich ein bekanntes Motiv erkennen – die Denkfigur, die Michel Foucault als aemulatio bezeichnet hat, die Vorstellung vom Einfluss der Sterne auf die Begebenheiten der Welt. Die Erde wird demzufolge als ein Reflex des Himmels begriffen. Es handelt sich hier aber nicht nur um eine Anspielung auf die Grundannahme der Astrologie und Horoskoperstellung, dass Sternkon­ stellationen auf die Menschen wirken würden. Die direkte Übertragung des konstel­ lativen Prinzips auf die irdischen Zustände hat vor allem Implikationen für das Verständnis von Sein und Sinn. Die Sinnzusammenhänge werden jetzt auf dieselbe Weise gebildet – alles beginnt sich „wie Stern auf Stern“ aufeinander „zu beziehen“ (K 24). Der Ich-Erzähler sucht also auch nach Konstellationen und beginnt eine Unmenge von neuen Verknüpfungen auf seine Umgebung zu projizieren. Mehr noch, in diese Relationen fühlt er sich selbst hineingezogen, sie fesseln ihn und ziehen ihn an – beide Verben tauchen im zitierten Abschnitt auf. Die Wortwahl weist auf eine

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starke emotionale Bindung des Protagonisten an die selbst geschaffenen Konstella­ tionen hin – auf eine gewisse verführerische Kraft, die von ihnen ausstrahlt. Die Verführungskraft strahlt aber nicht nur von den zu konstellativen Verbindungen geordneten Dingen nach außen, sondern sie ist auch das, was sie im Inneren zusammenhält. Der Ich-Erzähler beschreibt diese andere Art von Beziehungen zunächst nur mithilfe von Lokalpräpositionen: „dieses ‚hinter‘, ‚jenseits‘“ der Gegenstände, „ein Gegenstand [war] ‚hinter‘ dem anderen“, „das Rohr hinter dem Schornstein, die Mauer hinter der Küchenecke“ (K 18). Erst am Ende des Romans geht er darauf ein, wie die Konstella­ tionen zustande kommen: [D]ie Klebrigkeit, wie eins mit dem anderen verklebt, Ereignisse, Erscheinungen, sie sind wie diese magnetischen Kugeln, sie suchen einander, und wenn sie sich nahe kommen, paff … verbinden sie sich … meist Hals über Kopf … (K 139 f.)

Das, was die Dinge miteinander verbindet, ist nicht ihre zufällige räumliche Nähe, die man mit spärlichen präpositionalen Ausdrücken bezeichnen kann. Unter den Dingen scheint es eine immanente Verführungskraft zu geben, sie ziehen sich gegenseitig an, haften dann aneinander und werden zu Konstellationen. Das passiert, wie die Interjektion „paff“ signalisiert, wie der Schuss aus einer Pistole: plötzlich, rasch und unerwartet. Das Besondere an den konstellativen Verbindungen ist die magnetische Qualität des Zusammenhangs. Die Hervorhebung der verführerischen, sinnlichen und emo­ tionalen Dimension der Konstellationen kehrt häufig wieder: Und diese Verwandtschaften, diese Assoziationen öffneten sich vor mir wie eine dunkle Höhle, dunkel, doch anziehend, einsaugend, […], und es überlief mich sogar heiß, denn dieses Stäbchen, das sich auf den Spatzen im Gebüsch bezog, war doch sozusagen das erste (ach so blasse und unklare) Zeichen in der objektiven Welt, das meine Phantasien in bezug auf Lenas Mund in seiner „Beziehung“ zu Katasias Mund gewissermaßen bestätigte – eine unscheinbare, phantastische Analogie, aber es ging schließlich um dieses „Sich-Beziehen“ selbst, das gleichsam eine gewisse Anordnung festlegte. (K 39 f.)

Das Verbinden der Dinge bezeichnet der Ich-Erzähler als „dunkel“, „anziehend“ und „einsaugend“ – es besitzt eine unerklärbare Verführungskraft, die ihn nicht loslässt. Er fühlt sich wie gefesselt von den Konstellationen, die er doch selbst generiert. Diese Tätigkeit wirkt sich auf ihn aus und ruft körperliche Reaktionen hervor („es überlief mich heiß“). Beim Schaffen dieser Verknüpfungen sind weder die Zeichen, herabgesetzt mit Adjektiven wie „blass“ und „unklar“, noch der Zustand des Verbundenwerdens selbst als Endergebnis ausschlaggebend, das letztlich als etwas Belangloses und Illusorisches („eine unscheinbare, phantastische Analogie“) erscheint. Vielmehr sind die Konstellationen durativ zu verstehen – als permanenter Prozess des „Sich-Beziehens“, als fortwährende Neuordnung der Elemente. Die Dinge konstellativ zu verbinden, das bedeutet, emotional in das Geschehen involviert zu sein, sich vom Verbinden



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angezogen, gefesselt und verführt zu fühlen. Zugleich basieren die Konstellationen aber auch selbst auf Verführung, denn es handelt sich um das Stiften oder (Re)Aktivieren der schon erwähnten „Klebrigkeit“ (K 139), der magnetischen, sympathischantipathischen Kräfte zwischen Gegenständen, Personen und Ereignissen oder, wie es in Pornographie wörtlich heißt, um ihre Verkuppelung. Die Konstellationen sind ein Versuch, eine Neuordnung der Welt zu schaffen, deren Grundlage das Spannungs­ verhältnis zwischen Verführen und Verführtsein bildet. Die Konstellationen sind also nicht nur ein rhetorisches Stilmittel, sondern auch eine Denkfigur, die ein alternatives Sinnverständnis vermittelt und traditionelle binäre Einteilungen hinterfragt. Sie verwischt die Grenze zwischen dem Agens und den zu verbindenden Elementen: Das konstellative Verbinden ist ein paradoxer, aktiv-passiver Vorgang. Einerseits erfordert es eine Anstrengung des Protagonisten, denn es fügt ihm „etwas Gehirnliches zu, etwas Quälendes“ (K 18). Das Denken in Konstellationen wird als Konzentration des Sinns empfunden, alle Sinnzusammenhänge vollziehen sich im Subjekt, das sie erstellt und benennt – sie müssen sozusagen durch sein Bewusstsein hindurchgehen. Sie sind Ausdruck der Beliebigkeit und erweitern die Einbildungskraft des Ich-Erzählers, der beim Ausdenken der neuen Zusammenhänge seiner Phantasie freien Lauf lässt – „jede Kombination ist möglich“, stellt er fest (K 171). Das Anordnen der Dinge ist für ihn ein Willensakt und bietet seinen Vorstellungen eine Projektionsfläche. Die Konstellationen charakterisiert er als „unwirklich, ausgedacht, aufgezwungen“ (K 172), ihre Logik stellt er mit Attributen wie „sehr meine“, „persönliche“, „besondere“ und „private“ (K 170) als Eigenleistung dar. Andererseits unterstreicht die „Klebrigkeit“ der konstellativen Verbindungen, dass diese – der Meinung des Ich-­ Erzählers nach – die in der Natur verborgenen Anziehungskräfte zwischen den D ­ ingen, ihren immanenten Magnetismus reaktivieren und die im Laufe der Zeit verwischten Verflechtungen wiederherstellen. Daher stehen die Konstellationen für die Restitution einer vergessenen mythisch-magischen Ordnung und befinden sich an der Schnittstelle zwischen einer künstlichen (und kunstvollen) Geste und Vorstellungen vom ­Ursprünglichen und Natürlichen, zwischen Ausdenken und Erkennen. Sie werden gleichermaßen erfunden wie gefunden und beruhen sowohl auf dem Prinzip der ­Innovation als auch auf dem der Reminiszenz. Ein Kommentar des Ich-Erzählers veranschaulicht das Prinzip des konstellativen Verbindens, an dem er sich versucht: Ja … Nur dass die Fäden der Verbindung verschwindend dünn waren … dünn … und hier hing ein Gehängter, eine brutale Leiche! Und ihre hängende Brutalität verband sich rum, pum, pum, pum passend mit dem rum, pum, pum pum Spatzen – Stäbchen – Kater, das war wie a, b, c, d wie eins, zwei, drei, vier! Was für eine Harmonie! Diese Willigkeit der Logik, aber der unterirdischen! Offensichtlichkeit, die in die Augen fiel, aber eine unterirdische! Aber diese in die Augen fallende rum, pum, pum, pum unterirdische Logik löste sich in Belanglosigkeit auf, wie in einem Nebel (dachte ich), sobald man sie in die Zucht der normalen Logik nehmen wollte. (K 171)

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Die Beziehungen scheinen selbst dem Ich-Erzähler fragwürdig zu sein, aber die Offensichtlichkeit und Aufdringlichkeit, mit der sie auftreten, lassen für ihn keinen Zweifel daran, dass sie kein Zufall sind. Die unsichtbaren Linien und verborgenen verführerischen Kräfte, die die Elemente verbinden, kontrastieren mit der augenfälligen Erscheinung der Zusammenhänge. Die Logik der konstellativen Verbindungen basiert auf dem Spannungsverhältnis zwischen der Verborgenheit der Zeichen und ihrer gleichzei­ tigen, fast irritierenden Evidenz, von der die mehrfache Wiederholung des Ausdrucks „in die Augen fallen“ zeugt. Witolds Konstellationen richten sich zwar gegen die üb­ lichen Wahrnehmungsschemata, gegen „die Zucht der normalen Logik“, sie scheinen diese aber paradoxerweise nachzuahmen. Er beschreibt sie mithilfe klassischer Kategorien wie Harmonie, Symmetrie oder Rhythmus, vor allem die rhythmisierenden Interjektionen „rum, pum“ sowie die Bindestriche, die den Eindruck einer Verbindungslinie zwischen den Ereignissen erwecken, machen auf die Verbindungen aufmerksam. Die Tendenz zur Mathematisierung kann man auch in Pornographie wiederfinden: Um die Logik der Intrige zu bekräftigen, tauchen im Text Formel auf wie „W – (K H). Oder (K H) – (S S1)“ (P 139). In beiden Romanen stehen die Konstellationen nicht im radikalen Gegensatz zu den logisch-kausalen Zusammenhängen, sondern sie imitieren bzw. parodieren diese quasi auf der Ebene der Darstellungsweise. Das konstellative Verbinden hat eine bedeutende Funktion für die in Gombrowicz’ Werken vorgeschlagene andere ontologische Ordnung: Die Konstellationen ermög­ lichen dem Ich-Erzähler die Revision der binären Einteilungen in Willkür und Nachahmung, Aktivität und Passivität oder Subjekt und Objekt, denn er schafft sie und ist gleichzeitig in sie involviert, genauso wie die zu verbindenden Phänomene. Mit deren Hilfe versucht er sich angesichts der überwältigenden Wirklichkeit zu positionieren oder, genauer gesagt, sich in ihr aufzulösen: Ich lächelte im Mondschein beim linden Gedanken an die Machtlosigkeit des Verstandes gegenüber der wuchernden, verheerenden, verhüllenden Wirklichkeit … Es gibt keine unmögliche Kombination … Jede Kombination ist möglich … (K 171)

Der Ich-Erzähler kombiniert verschiedene Gegenstände, Ereignisse und Personen ­miteinander und schafft auf diese Weise einen eigenen Kosmos – das ist seine Strategie des Umgangs mit der Wirklichkeit, die er als überfordernd empfindet, was im Zitat die Reihe von Partizipien betont.110 Er nimmt die Welt als eine ungezähmte, zufällige, alles umfassende und dem Magma gleichende Kraft wahr, vor der er sich dank den konstellativen Verbindungen schützen kann. Daher nimmt auch sein Schaffen von Konstellationen kein Ende im doppelten Sinne. Es ist kein System, sondern ein unab-

110 Die Partizipien im Original, die die Wirklichkeit beschreiben, lauten przerastająca [vom Verb przerosnąć – ausufernd wachsen, aber auch überfordern], zatracająca [zatracić się – sich verlieren], spowijająca [spowijać – einhüllen, umfassen]. Witold Gombrowicz, Kosmos, hg. v. Jan Błoński, Kraków 1988, 139 f.



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geschlossener, unendlich ausdehnbarer Prozess, den er stets um neue Elemente, Zeichen und Ereignisse ergänzt. Außerdem hat sein konstellatives Verbinden nicht die feste und endgültige Verknüpfung der Dinge zum Ziel – übrigens ähnlich wie die Dynamik der Verführung das Innehalten der Spannung und permanentes Verschieben der Finalisierung bedeutet –, es verschafft den Phänomenen eher die Möglichkeit einer momenthaften Annäherung. In Gombrowicz’ Romanen tragen die Konstellationen nicht nur zur Auflösung des Subjekts bei. In ihnen drückt sich auch eine ekstatische Auffassung der Dinge aus, die erst dank der Verortung in anderen Kontexten in ihrer Eigentümlichkeit erscheinen und aus ihren üblichen Bedeutungszusammenhängen heraustreten. Die konstellativen Verbindungen richten sich also gegen die Unterschätzung der Dingwelt, gegen ihre Herabstufung als unbelebt und sinnlos, gegen die angebliche „Teilnahmslosigkeit der Gegenstände“ (K 81). Obwohl die Konstellationen etwas Momentanes in sich haben wie das Aufblitzen eines Sternbildes und ihre Fäden „verschwindend dünn“ (K 171) sind, haben sie eine starke Wirkungskraft. Sie erlauben, das scheinbar Unverbindbare und Inkommensurable, das sonst nie zusammenzudenken wäre, für einen Augenblick miteinander zu verbinden, und können dadurch das Fremde, Andere und Unverständliche in die Weltsicht des Subjekts integrieren. Die Fragen, wie sich der Sinn, die Beschaffenheit der Welt und die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Subjekt und Objekt anders denken lassen oder wie man zusammenhanglose, einander fremde Elemente gedanklich verbinden kann, mit denen sich Gombrowicz literarisch auseinandersetzt, waren Gegenstand der philosophischen ­Reflexion im 20. Jahrhundert. Mit dem Thema der Inkommensurabilität beschäftigte sich vor allem die Wissenschaftstheorie besonders intensiv. Mit dem Problem der Unvergleichbarkeit mancher Ansätze, die sich sogar gegenseitig ausschließen können, befassten sich unter anderem die Wissenschaftstheoretiker wie Ludwik Fleck, Paul Feyerabend oder Thomas Kuhn; sie versuchten in ihren Schriften bestimmte Proze­ duren zur Überwindung dieser Aporie auszuarbeiten.111 Das Inkommensurable stand aber auch im Mittelpunkt des Interesses der kritischen Theorie und wurde zu einem Sammelbegriff für das Paradoxe, Andersartige, Fremde, Einzelne, Besondere, Nichtbegriffliche oder Brüchige – kurzum für all das, was die Vernunft nicht denken, wahrnehmen und reflektieren kann. In diesem Zu­ sammenhang kritisierte man das rationalistische Erbe. Beispielhaft dafür sind folgende Sätze aus Dialektik der Aufklärung (1944) von Max Horkheimer und Theodor W.

111 In Bezug auf die Wissenschaftstheorie hat Ludwik Fleck als Erster den Begriff der Inkommensurabilität geprägt. In seiner Abhandlung Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935) bemerkt er, dass „der alte Begriff der Krankheit mit den neuen Begriffen eigentlich inkommensurabel wird und keinen vollständig adäquaten Ersatz erhält.“ Ludwik Fleck, Entstehung und Entwick­ lung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hg. v. Lothar Schäfer, Frankfurt a. M. 2006, 82. Zur Inkommensurabilität vgl. auch Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang: Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1976, 388–391.

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­Adorno: „Was anders wäre, wird gleichgemacht. […] Aufklärung […] schneidet das­ I­ nkommensurable weg.“112 Diesen Theoretikern ging es aber nicht nur um die Kritik an der Verdrängung des Inkommensurablen, sondern auch darum, es zurückzugewinnen. Deshalb knüpften sie zum einen an die Denker an, die mit diesem Begriff ge­ arbeitet hatten. Adorno setzte sich zum Beispiel mit der Philosophie Kierkegaards ­auseinander, der das Konzept des inkommensurablen Selbst entwickelt und das Inkommensurable als konstitutiven Bestandteil der Subjektivität verstanden hatte.113 Zum anderen stellten sie die Idee des konstellativen Denkens als eine andere Art der philosophischen Reflexion der systematischen Analyse entgegen. Diese strebt nämlich die Totalität einer Systematik an, indem sie mit Kategorien operiert, die auf Identität, Ein­deutigkeit und Festlegung abzielen und das eliminieren, was sich nicht messen und vergleichen lässt. Das konstellative Denken hingegen bietet eine alternative Vorstellung von der Ganzheit an, die eine Exklusion des Inkommensurablen vermeidet. Ihm liegt die Metapher der Konstellation zugrunde, die zwar auf den ersten Blick wie eine unbedeutende Katachrese wirkt, der sich aber viele Forscher wie z. B. Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim bedienten.114 Allerdings wurde die Konstellation erst von Benjamin und Adorno als Bezeichnung für eine besondere philosophische Herangehensweise popularisiert. Benjamin benutzt diese Kategorie in seiner Erkenntniskritischen Vorrede zum Ur­ sprung des deutschen Trauerspiels (1928). Sie dient ihm zur Veranschaulichung seiner Überlegungen über eine alternative philosophische Darstellungsform, die der Welt der Phänomene in ihrer Komplexität und Inkohärenz gerecht würde. Seines Erachtens sollte man die Erscheinungen nicht in einer systematisierenden Weise präsentieren, denn das könne nur zu ihrer Verdinglichung, Reduzierung und Stillstellung führen. Das Erfassen der Phänomene erfordere eine Redefinition der Erkenntnis – die sei nicht mehr als eine überlegene Kraft oder Instanz zu verstehen, die die Wirklichkeit in Besitz nehme. Insofern sei eine andere Beschreibungsweise der Phänomene notwendig, die sich von den in der Geschichte der Philosophie tradierten Formen unterscheide: Statt einem Traktat solle sie vielmehr einem Mosaik ähneln, um die Bruchstückhaftigkeit der Phänomene wiederzugeben. Benjamin imaginiert also ein anderes Verhältnis zwischen den Dingen und eine neue Schreibweise über sie. Sie sollen sich wie die Sternbilder zu den Sternen verhalten: „Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfasst werden, sind die

112 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1969, 18 f. 113 Vgl. Asaf Angermann, Beschädigte Ironie: Kierkegaard, Adorno und die negative Dialektik, Berlin u. Boston 2014, 125–167. 114 Andrea Albrecht, „Konstellationen. Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrologischastronomischen Konzepts bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim“, in Scientia Poetica Nr. 14/2010, 104–149.



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Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich.“115 Diese konstellative Auffassung kann die Phänomene angemessener darstellen, denn sie versucht nicht sie zu definieren bzw. ihre Identität oder ihr Wesen festzulegen, sondern sie zeigt die Dinge in Verflechtungen mit anderen Dingen und lässt die „unsinnlichen Ähnlichkeiten“ zwischen ihnen flüchtig aufblitzen.116 Diese Vorstellung greift Adorno in seinem Werk Negative Dialektik (1966) auf und entwickelt daraus die programmatische Form einer kritischen Reflexion: Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte. […] Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, dass er aufspringe etwa wie die Schlösser wohlverwahrter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination.117

Die Metapher der Konstellation steht für eine besondere Denkweise, mit deren Hilfe heterogene und inkommensurable Elemente in einen Zusammenhang gebracht werden können. Die Dinge, die sich sonst weder auf einen gemeinsamen Nenner bringen noch auf eine strukturelle Gesetzmäßigkeit zurückführen lassen, werden mit einem offenen, lückenhaften und lockeren Netz von Assoziationen umwoben. Auf diese Weise können Verbindungen ans Licht kommen, die es früher vielleicht gab und die mit der Zeit vergessen wurden. Im Gegensatz zur begrifflichen Bestimmung versucht die konstellative Vorgehensweise, die Phänomene im Modus des Potenziellen zu erfassen, ohne sie als Objekte zu stigmatisieren oder – mit Adornos starker Formulierung – „auszumerzen“. Sie ermöglicht demnach einen anderen Zugang zur Wirklichkeit, obwohl sie sich als Methode aufgrund ihrer Variabilität und Regellosigkeit nicht eindeutig erschließen lässt.118 Das konstellative Denken und die Auseinandersetzung mit der Inkommensurabilität sind aber nicht nur der philosophischen Reflexion eigen. Sowohl Benjamin als auch Adorno betrachten sie als Herausforderung für die Kunst oder sogar als deren Definition. Vor allem nennen sie in diesem Kontext die Literatur. In einer Rezension

115 Walter Benjamin, „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in Gesammelte Schriften, Bd. I.1, 215. 116 Die „unsinnlichen Ähnlichkeiten“ verbindet Benjamin mit dem mimetischen Vermögen und der Kategorie der Ähnlichkeit. Ihr Archiv bilden etwa die Sprache, der Witz und die Schrift. Vgl. Walter Benjamin, „Lehre vom Ähnlichen (I)“, in Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 207. Vgl. ders., „Über das mimetische Vermögen (II)“, ebd., 213. 117 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, 162–166. 118 Dieser Meinung ist Ryszard Nycz, der darauf hinweist, dass die Idee des konstellativen Denkens bei Adorno wegen ihrer Vagheit und des Evidenzcharakters des Gefühls von Erkenntnis eher ein Analysetypus ist und keine Methode. Ryszard Nycz, Poetyka doświadczenia: Teoria – nowoczesność – lite­ ratura, Warszawa 2012, 69 f.

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des Romans Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin stellt Benjamin fest: „Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Daseins das Inkommensurable auf die Spitze treiben.“119 In der Ästhetischen Theorie Adornos heißt es, dass die „aus zerstreuten Elementen des Seienden“ zusammengestellten Konstellationen „in jedem genuinen Kunstwerk“ erscheinen, ohne dass sie „als unmittelbar Daseiendes vor Augen“ geführt werden.120 Ihr flüchtiges Aufblitzen vergleicht er – in Anspielung auf Paul Valéry – mit dem Phänomen des Feuerwerks.121 Dieses Kunst- und Literaturverständnis scheint der poetologischen Reflexion in Gombrowicz’ Romanen nahe zu liegen, denn das Schaffen von Konstellationen spielt auf mehreren Ebenen eine bedeutende Rolle: als alternatives Modell der Selbst- und Weltwahrnehmung und als ein anderer Modus der Erfahrung der Wirklichkeit.

3.3 Verführung und realistische Prosa (Tolstoj, Leskov, Čechov) Im folgenden Teil möchte ich mich weiteren Merkmalen annähern, die neben den ­Konstellationen und dem Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie die andere Ordnung der Dinge bei Gombrowicz charakterisieren. Diesmal stehen aber nicht seine Texte im Mittelpunkt der Analyse, sondern die Werke der sogenannten klassischen realistischen Prosa des 19. Jahrhunderts, um darüber die Besonderheit und Bedeutsamkeit der Kategorie der Verführung in Pornographie und Kosmos zu erschließen und schärfer zu umreißen. Den Gegenstand der Analyse bilden drei Erzählungen, die als repräsentativ für diese Gattung und Epoche angesehen werden können: Lev Tolstojs Kreutzersonate (1887–1889 verfasst, 1891 erschienen), Nikolaj Leskovs Anlässlich der Kreutzersonate (ca. 1890 verfasst, 1899 erschienen) und Anton Čechovs Rothschilds Geige (1894). Es geht mir aber keineswegs nur um eine Gegenüberstellung von Moderne und Realismus. Vielmehr setze ich eine gewisse Kontinuität voraus und versuche durch aufmerksame Lektüre das Moment des Übergangs aufzuzeigen, in dem die

119 Walter Benjamin, „Krisis des Romans. Zu Döblins Berlin Alexanderplatz“, in Gesammelte Schrif­ ten, Bd. III, hg. v. Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M. 1991, 230 f. 120 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, 127. 121 Das bekannte Zitat lautet: „Prototypisch für die Kunstwerke ist das Phänomen des Feuerwerks, das um seiner Flüchtigkeit willen und als leere Unterhaltung kaum des theoretischen Blicks gewürdigt wurde; einzig Valéry hat Gedankengänge verfolgt, die zumindest in seine Nähe führen. Es ist die apparition katexochen: empirisch Erscheinendes, befreit von der Last der Empirie als einer der Dauer, Himmelszeichen und hergestellt in eins, Menetekel, aufblitzende und vergehende Schrift, die doch nicht ihrer Bedeutung nach sich lesen lässt.“ Ebd., 125. Adorno spielt vermutlich auf Velérys Dialog Die Seele und der Tanz (1923) an, der sich zwischen Phèdre und Sokrates abspielt und in dem das dichterische Kunstwerk mit einer Flamme verglichen wird – beide Phänomene sind die Versinnbildlichung „des Augenblicks selbst“ und lassen sich nicht in den Stillstand bringen. Paul Valéry, „Die Seele und der Tanz“, in ders., Werke: Dialoge und Theater, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, 110 f.



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r­ ealistische Erzählweise endet und Gombrowicz’ Konzept der Verführung einsetzt und dabei über den Moraldiskurs weit hinausgeht. Mein Ziel ist nicht eine Neuinterpretation der russischen Erzählungen, sondern ihre Anbindung an die Romane von Gombrowicz, mit denen sie erstaunlich viele Überschneidungen haben, selbst auf der Handlungsebene. Denn die drei Realisten beschreiben dezidiert, wie die Logik ihrer Figuren zusammenbricht – ein Thema, das sowohl in Pornographie als auch in Kosmos eine zentrale Rolle spielt. Das Kapitel besteht aus vier Teilen: Zunächst untersuche ich in Tolstojs Erzählung die Darstellungsweise der spezifischen Logik des Protagonisten und vergleiche diese mit der bei Gombrowicz. Der zweite Teil ist den Texten von Leskov und Čechov und dem Umschlag der Wahrnehmung ihrer Protagonisten gewidmet. Im dritten Teil lese ich Leskov und Čechov mit Bachtins Theorien und interpretiere sie im Hinblick auf Pornographie. Zum Schluss soll der Begriff des aktuellen Seins von Aristoteles die drei russischen Erzählungen näher beleuchten und einen Konnex zu Gombrowicz’ Konzept der Verführung aufbauen.

3.3.1 V  erführung als mathematische Formel? Gombrowicz’ Pornographie und Tolstojs Kreutzersonate Tolstojs Kreutzersonate lässt sich kurz zusammenfassen: Während einer Zugfahrt erzählt der Protagonist Pozdnyšev einem anderen Passagier, wie er seine Ehefrau der Untreue verdächtigt und mit einem Dolch erstochen hat. Die Gemeinsamkeit mit Por­ nographie besteht in der Zusammenstellung der Figuren, denn in beiden Werken spielt sich vor den Augen der Ich-Erzähler ein vermeintlicher Verführungsakt ab. Bei Gombrowicz wird Witold auf die beiden Jugendlichen aufmerksam und versucht diese miteinander zu verkuppeln; sie dienen ihm als Projektionsfläche bei seiner Suche nach dem ekstatischen Gefühl der Verführung. Einer ähnlichen Konfiguration begegnen wir in der Kreutzersonate: Der Ich-Erzähler Pozdnyšev stellt seiner Frau den Geigenspieler Truchatschewskij vor, schaut ihrem Gespräch zu und projiziert seine Phantasien auf sie. Auf dieselbe Weise wie Witold versetzt er sich in das beobachtete Paar hinein, unterstellt den beiden bestimmte Gedanken und zweifelt kaum an der Richtigkeit seiner Zuschreibungen. In der Kreutzersonate tauchen immer wieder Formulierungen auf wie „anscheinend“, „offensichtlich“, „[ich] las in seiner Seele wie in einem aufgeschlagenen Buch“ oder „[sie] will es zwar verbergen, ich sehe es aber doch und weiß, was es bedeutet“.122 Für Tolstojs Protagonist sind das keine Mutmaßungen, sondern unanfechtbare Feststellungen. Er konstruiert sich seine eigene Logik der Ereignisse und lässt dabei keinen Raum, um sie gegebenenfalls zu revidieren. Dabei ist er sich aber

122 Lev Tolstoj, „Kreutzersonate“, in ders., Sämtliche Erzählungen, Bd. 2, hg. v. Gisela Drohla, Frankfurt a. M. 1961, 764, 765, 766, 771.

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bewusst, dass er derjenige ist, der die ganze Intrige in Gang gesetzt hat: „[W]ohl infolge meiner Eifersucht entstand zwischen ihm und ihr sofort eine Art elektrischer Strom, der beide in gleicher Weise lächeln und blicken ließ.“123 Genauso wie Witold hält er sich selbst für den Schöpfer des Verführungsaktes und den Auslöser der Beziehung zwischen den beiden. Der Grund, warum ich gerade diesen Text von Tolstoj erwähne, ist die besondere Darstellung der Denkweise des Protagonisten. Der Ich-Erzähler schaut sich seine Geschichte aus der Distanz an, reflektierend berichtet er im Nachhinein von der Tat. Mit vielen Details schildert er dem Fremden im Zug die genaue Abfolge der Ereignisse, betont dabei aber oft, dass er sich damals in einem der Verrücktheit nahen Zustand befand: „Das war der vollkommene Wahnsinn!“ oder „So sehr ich mich auch bemühe – ich kann mich nicht auf meinen damaligen Seelenzustand besinnen.“124 Er erwähnt auch, wie er, von Eifersucht besessen, versuchte über die eigene Unzurechnungs­ fähigkeit nachzudenken und sich selbst zur Vernunft zu bringen: „‚Was für ein Unsinn‘, sagte ich zu mir.“125 Gleichzeitig beruft er sich auf Zahlen und erstellt ausgedachte Statistiken. Um den markanten Duktus seines Monologs zu veranschaulichen, möchte ich mehrere Zitate anführen: „Ich quälte mich, wie sich neunundneunzig vom Hundert unserer Knaben quälen“. „So machen es neunundneunzig vom Hundert der ganzen Menschheit“. „Von tausend Männern, die eine Ehe eingehen, findet sich […] kaum einer“. „Wo es unter hundert Männern kaum einen gibt […] und unter fünfzig höchstens einen“. „[Es] gab kaum einen solchen jungen Mann unter zehntausend“. „Neun Zehntel dieser Läden“.126 Mit mathematischer Genauigkeit generalisiert Pozdnyšev das menschliche Verhalten und verortet seine eigene Erfahrung in einem größeren Zusammenhang, so dass seine Aussagen eher einen wissenschaftlich-publizistischen Charakter haben und nicht wie eine persönliche Erzählung oder wie ein reuevolles Geständnis des begangenen Mordes klingen. Pozdnyšev bemüht er sich konsequent, seinen damals unzurechnungsfähigen Zustand, den er selbst für einen Wahnsinnsanfall und Augenblick der Unvernunft hält, mit rationaler Logik zu beschreiben. Zum einen kann man seine Berufung auf Zahlen und Statistiken als verzweifelte Rationalisierungsversuche interpretieren, als Strategien der Verdrängung oder Rechtfertigung, als ob er auf diese Weise seine Geschichte und die skrupellose Tat entindividualisieren wollte. Aus dieser Sicht bestätigt sein Fall nur allgemeingültige Regeln: Pozdnyšev ist einer von vielen und musste sich quasi gezwungenermaßen auf diese Weise verhalten. Andererseits lässt sich sein Erzählverfahren aber als Suche nach ­Repräsentationsmöglichkeiten eines unsagbaren Extremzustands lesen. In seinem

123 Ebd., 765. 124 Ebd., 786 u. 787. 125 Ebd., 779. 126 Ebd., 712, 721, 717, 726, 717, 724.



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­ onolog versucht der Ich-Erzähler seinen an Wahnsinn grenzenden Gedankengang M nachvollziehbar darzustellen: Alles, was ihn zu der Tat bewog, lässt sich auf diese Weise präzise zusammenrechnen. So schildert er die Liebe zu seiner Ehefrau wie eine einfache mathematische oder physikalische Formel – sie ist für ihn, wie er es selbst formuliert, „ein Produkt einerseits der Bemühungen der Mama und der Schneiderinnen, andererseits des Übermaßes an Nahrung, das ich bei einem völlig müßigen Leben zu mir nahm.“127 Vor allem betont er die Rolle des Essens: „[Z]wei Pfund Fleisch, Geflügel und Fisch […] dazu allerlei erhitzende Zuspeisen und Getränke“ mussten sich „in sinnlichen Exzessen [austoben]“.128 Die berechnende, ultra-rationalistische Erzählweise des Protagonisten kulminiert in der Schilderung der Situation, in der die angebliche Dreiecksgeschichte ihren ­Anfang hat und seine Ehefrau den Geiger kennenlernt. Dass es dann zu einer gegen­ seitigen Faszination kommt, ist für Pozdnyšev keine Vermutung, sondern das unumgängliche und zu erwartende Resultat verschiedener Faktoren. Er nimmt alle Umstände als Komponenten wahr, die sich in seinen Augen zum Ehebruch addieren: Die Verführung entsteht unter anderem infolge einer gewissen Disposition seiner Gattin, die er als „anziehendes Weib“ bezeichnet, während der Musiker „dank seiner äußeren Eleganz, der Neuheit seiner Erscheinung und vor allem dank seiner unzweifelhaft großen musikalischen Begabung“ eine besondere Ausstrahlung hat.129 Entscheidend für diese Rechnung wird die Musik – ihren Einfluss findet der Ich-Erzähler höchst verdächtig. In seinem Pragmatismus hält er ausschließlich Musikstücke wie Militärmärsche, Reigentänze oder Messegesänge für respektabel, die einen bestimmten Zweck haben und konkrete Handlungen begleiten; alles andere findet er nutzlos und verderblich. Sich einer zwecklosen ästhetischen Erfahrung zu überlassen und sich in ihr zu verlieren, das beeinträchtigt seiner Meinung nach das nüchterne Denken und muss fatale Folgen haben. Aus diesem Grunde vervollständigt die titelgebende Kreutzersonate von Ludwig van Beethoven, die das Paar gemeinsam spielt, Pozdnyševs mathematische Formel der Verführung. Auch in Pornographie stellt Gombrowicz’ Ich-Erzähler die Verführung als eine Art berechenbare Formel dar. Zusammen mit seinem Komplizen Friedrich sucht er nach optimalen Situationen und raffinierten Intrigen, die den Verführungsakt initiieren sollen. Von der Idee der Verkuppelung besessen, betrachten die beiden die Verführung als ein Produkt oder Ergebnis einer Rechnung. Die Abhängigkeiten und Zusammenhänge zwischen den Protagonisten schildert Friedrich in einem seiner Briefe als ­chemische Formel, die aus den Abkürzungen der Vornamen besteht: „Dieses Messer schafft die Verbindung S (Siemian) – S1 (Skuziak). Woraus ferner folgt: (S S1) – W. Durch A, durch die Ermordung Amelias. Doch wiederum: W – (K H). Oder (K H) – (S S1)“

127 Ebd., 721. 128 Ebd., 720. 129 Ebd., 766 f.

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(P 139). Die Nachahmung logischer Schlussfolgerungen wird auch in einer weiteren Bemerkung sichtbar, die wie ein physikalisches Grundgesetz formuliert ist: „Denn wenn ein Junger einen Älteren töten wird, so wird hier ein Älterer einen Jungen töten“ (P 185). Sowohl Tolstoj als auch Gombrowicz scheinen die Darstellung der Verführung zu parodieren, wenn sie dazu eine angeblich rationalistische Logik und Kausalität heranziehen. Die Eifersuchts- und Verkuppelungsphantasien, die ihre Protagonisten mit einer fast ans Komische grenzenden Konsequenz als Gleichung, Gesetz, Statistik oder Formel schildern, erweisen sich jedoch als unberechenbar. Die angestrebte Nachvollziehbarkeit und Vernünftigkeit brechen zusammen, beide Texte enden mit Wahnsinns­ taten und Morden: Friedrich ersticht Skuziak, Pozdnyšev die eigene Frau. Die Dichotomie Wahnsinn versus Vernunft wird dadurch infrage gestellt. Auf die kulturelle Tradierung dieser Gegenüberstellung macht Michel Foucault in Wahnsinn und Gesell­ schaft (1961) aufmerksam: Gegenüber der Vernunft ist der Wahnsinn von doppelter Art; er ist zugleich auf der anderen Seite und unter ihrem Blick. Auf der anderen Seite heißt: der Wahnsinn ist unmittelbarer Unterschied, reine Negativität, die sich als Nicht-Sein in einer unabweisbaren Evidenz ankündigt; er ist totale Vernunftlosigkeit, die man sofort als solche auf dem Hintergrund der Strukturen des Vernünftigen wahrnimmt. Unter dem Blick der Vernunft heißt: der Wahnsinn ist eigenartige Individualität, deren eigene Charakterzüge, Benehmen, Sprache, Gesten sich jeweils von dem, was man beim Nicht-Irren findet, unterscheiden.130

Tolstoj und Gombrowicz stellen die Obsessionen ihrer Ich-Erzähler nicht als Negation der Vernunft dar. Im Gegenteil, Pozdnyšev und Witold, obwohl besessen von den von ihnen initiierten Verführungsakten anderer, bedienen sich einer rationalistischen Argumentationsweise, ahmen als logisch geltende Denkstrukturen und Erzählmuster nach. Mit Foucault lässt sich sagen, ihre Sprache unterscheidet sich kaum von der der „Nicht-Irren“, was die gängige Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn ins Wanken bringt. Die beiden Ich-Erzähler sprechen zwar logisch und nachvollziehbar vom Zusammenzählen verschiedener Faktoren und vom Schlussfolgern; sie handeln aber gleichzeitig im Affekt und verfallen nach und nach ihren irrsinnigen Projektionen. Pozdnyšev verspinnt sich in seine Assoziationsketten, alles erinnert ihn auf einmal an den Geigenspieler, bei einem Wutausbruch ist er genauso selbstvergessen wie Witold, wenn der konstellative Verbindungen schafft. Allerdings ist bei Gombrowicz dieser Extremzustand kein Sonderfall, sondern fester Bestandteil des Subjekts und der Wirklichkeit, denn die Unverständlichkeit ist der erzählten Welt immanent. Bei Tolstoj hingegen bleiben Selbstvergessenheit und Unberechenbarkeit ein vorübergehender Exzess, den

130 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Ver­ nunft, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1973, 177.



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Pozdnyšev präzise rekonstruieren kann. Damals außer sich, jetzt im Zug wieder bei sich, stellt er in einem der letzten Sätze der Kreutzersonate fest: „Zum ersten Mal dämmerte mir das Verständnis am dritten Tage nach der Tat.“131 Er entwickelt nicht weiter, wie die Welt im Dämmerzustand aussah. Und gerade dieser Punkt scheint im Vergleich zu Gombrowicz’ Roman ausschlaggebend zu sein, denn der beginnt an der Stelle, an der die Erzählung von Tolstoj endet. Pornographie setzt sich mit dem Thema auseinander, wie das Sein imaginiert werden kann, wenn das dämmernde Bewusstsein Dauerzustand ist, wenn man es in die Wirklichkeitsauffassung integriert und darauf eine neue Ordnung der Dinge aufbaut. Die basiert bei Gombrowicz auf der Verführung: Die Verführungsekstase des Ich-Erzählers löst sich von der Zuschreibung auf eine konkrete Situation, befreit sich somit von Fragen der Moral und wird zu einem neuen Denkprinzip, nach dem man alle Phänomene in der Welt, sich selbst inklusive, gleichermaßen verkuppeln kann.

3.3.2 Rationalität und Unberechenbarkeit bei Leskov und Čechov Zur Verdeutlichung des Konzepts der Verführung bei Gombrowicz möchte ich noch zwei weitere Erzählungen heranziehen, die man formal der realistischen Prosa zuordnen kann und die in einer engen Verbindung zu Tolstojs Text stehen. Es handelt sich um Leskovs Anlässlich der Kreutzersonate und um Čechovs Rothschilds Geige. Die beiden Werke, Musterbeispiele für Rasskaz – für die russische Tradition der Erzählung des ausgehenden 19. Jahrhunderts – sind kurz nach der Kreutzersonate erschienen. In beiden Texten lassen sich daher Anspielungen auf Tolstoj finden: Bei Leskov sind die intertextuellen Bezüge schon im Titel auffällig, bei Čechov haben sie eher impliziten Charakter. Sowohl Leskov als auch Čechov jonglieren mit ähnlichen Motiven wie Tolstoj und befassen sich mit demselben Thema: mit dem Verhältnis zwischen der rationalistischen Denkweise ihrer Protagonisten, die im ständigen Kalkulieren und Berechnen ihres Eigennutzes besteht, und der Sphäre des Unberechenbaren, die sich dieser utilitaristischen Einstellung entzieht. Im Mittelpunkt meiner Analyse stehen wieder die Darstellungen der Figuren und Parallelen zu Pornographie. Zunächst aber eine kurze Einführung in die beiden Erzählungen: Rothschilds Geige handelt von dem Sargtischler Jakow, der stets nur nach vermeintlichen Geldverlusten sucht und sich überlegt, was er hätte verdienen können. Sein Nützlichkeitsdenken führt ihn letztendlich in die Sackgasse. Ähnlich wie Pozdnyšev beginnt er nach dem Tod seiner Ehefrau sein kühl kalkulierendes Verhalten kritisch zu reflektieren und die Welt anders wahrzunehmen. Anlässlich der Kreutzersonate fängt wie Tolstojs Erzählung mit einer Beichte an. Den Ich-Erzähler, der ein berühmter Schriftsteller ist, besucht eines Tages eine Frau und bittet ihn um Rat, ob sie ihrem Ehemann ihre Untreue

131 Lev Tolstoj, „Kreutzersonate“, 800.

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gestehen soll. Den betrogenen Ehemann schildert sie als einen herzlosen Rationalisten, auch der Ich-Erzähler hat die Gelegenheit, dessen eigennütziges Verhalten zu beobachten. Einige Zeit nach dem Gespräch mit der Frau hält er sich in demselben Kurort auf, wo diese mit ihrem Gatten und Sohn die Ferien verbringt. Er schaut den tragischen Ereignissen zu: Der Knabe erkrankt plötzlich an Diphtherie und stirbt, doch der Ehemann zeigt sich davon nicht besonders betroffen. Stattdessen steht der Streit mit dem Hotelbesitzer im Zentrum seines Interesses, der eine Kostenerstattung wegen Seuchengefahr verlangt. Die vereinsamte Ehefrau begeht daraufhin Selbstmord. Leskov und Čechov verwenden ähnliche Strategien, wenn sie die Veränderungen der rationalistischen Logik ihrer Protagonisten schildern. So lassen sie Elemente aus anderen Registern in ihre Texte einfließen, die dem realistischen Erzählen eigentlich fremd sind, und eröffnen dadurch neue Denkperspektiven. Diese Vorgehensweise ist auf der Ebene der Zeiterfahrung besonders auffällig. In beiden Texten verändert sich im Laufe der Ereignisse die Zeit- und Raumwahrnehmung der Figuren. Präzise Angaben werden mit symbolischen und mythischen Motiven konfrontiert. Gleich im ersten Satz von Anlässlich der Kreutzersonate erfährt man Genaueres über Handlungszeit und -ort: Die Geschichte beginnt am Tag des Begräbnisses von Fëdor Dostoevskij – am 12. Februar 1881 (gregorianischer Kalender) in Sankt Petersburg. Auf diese Weise erhält das Erzählte den Anschein eines Berichts, wirkt wie etwas Lebensnahes oder – wie es Walter Benjamin in seinem Aufsatz über Leskov formuliert – wie eine Begebenheit, die der Ich-Erzähler selbst erlebt hat und die er als seine eigene Erfahrung weiter vermitteln möchte.132 Im Verlauf der Handlung tauchen aber immer öfter Andeutungen auf, die die Zeit in die Sphäre des Mythischen verschieben. Mehrfach kommt die Wiederholung als rhetorische Figur vor, so dass der Text teilweise Strukturmerkmale eines

132 Benjamins Bemerkung zu Leskovs Anlässlich der Kreutzersonate untermauert seine These, dass eine Erzählung die handwerkliche Form der Mitteilung sei, die der Überlieferung einer Begebenheiten diene: „Sie [die Erzählung] senkt die Sache in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm hervorzuholen. […] Es ist die Neigung der Erzähler, ihre Geschichte mit einer Darstellung der Umstände zu beginnen, unter denen sie selbst das, was nachfolgt, erfahren haben, wenn sie es nicht schlichtweg als selbsterlebt ausgeben. […] [Leskov] denkt an Dostoevskijs Begräbnis, auf das er die Bekanntschaft mit der Heldin seiner Erzählung Anlässlich der Kreutzersonate versetzt.“ Walter Benjamin, „Der Erzähler“, in Gesammelte Schriften, Bd. II.2, 447. In seinem Aufsatz beruft sich Benjamin noch einmal ausdrücklich auf diese Erzählung, wenn er den Erzähler als Gerechten bezeichnet, der für ihn weder Moralist noch Dogmatiker noch Verfechter bestimmter Prinzipien ist, sondern der das Leben und die Menschen kennt und eine Art alte Lebensweisheit besitzt. Als Verdeutlichung dient Benjamin folgendes Zitat aus Leskov: „Ich bin mir bewusst, […] dass meinen Gedankengängen viel mehr praktische Lebensauffassung als abstrakte Philosophie oder hohe Moral zugrunde liegt, aber nichtsdestoweniger bin ich geneigt so zu denken, wie ich es tue“ (ebd., 462). Für Benjamin ist Anläss­ lich der Kreutzersonate ein Musterbeispiel der Erzählkunst, deren Untergang er beschwört, und eine Inspirationsquelle, von der er manche Motive als Denkfiguren übernimmt. Der Erzähler als Ratgeber, als jemand, der „dem Hörer Rat wisse“ (ebd., 442), diese Formulierung Benjamins spielt auf die Bitte um Beratung in der Erzählung an.



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Märchens erhält. Das sei schon der dritte Versuch der Protagonistin, sich den Rat bei einem Schriftsteller zu holen, heißt es, vorher habe sie in dieser Angelegenheit schon zweimal Dostoevskij besucht. Im Gespräch mit dem Ich-Erzähler bittet sie dreimal direkt um Rat.133 Den märchenhaften Charakter hebt zusätzlich die Rolle des Zufalls hervor, der später den Handlungsablauf determiniert, so dass die Geschehnisse immer weiter von einer realistischen Verankerung in der Zeit abdriften. Der Ich-Erzähler trifft die Frau zufällig auf der Straße und im Kurort, er erkennt sie sofort und ist absolut überrascht. Die Zufälligkeit dieser Begegnungen wird durch emphatische Ausdrücke gesteigert wie: „Mein Gott, sie ist’s!“ oder „Mein Gott, sie! Sie war es in der Tat.“134 Dieselbe Strategie lässt sich in Rothschilds Geige bemerken. Auch hier verändert sich das Zeitverständnis allmählich. Die nüchterne und utilitaristische Denkweise des immer über seine möglichen Verluste verärgerten Protagonisten wird von genauen Zeitangaben begleitet. Seine Ehefrau Marfa wird „am sechsten Mai des vergangenen Jahres“ krank.135 Nach ihrem Tod beginnt er eine kritische Bilanz seines bisherigen Lebens zu ziehen und die Welt sowie sich selbst anders zu reflektieren. Diese innere Änderung der Wahrnehmung – die in der Sekundärliteratur mehrfach diskutiert wurde, ob man darin einen Durchblick, eine Erleuchtung oder einen gar nicht so „­triumphierenden“ Ausgang der Geschichte sehen sollte136 – betrifft auch die Auffassung der Zeit und korrespondiert mit der Erfahrung der Natur. Um nachzudenken, geht Jakow an den Fluss. Vor ihm erstreckt sich eine malerische Landschaft. In der Beschreibung kommen eine weit ausladende alte Weide, eine Schwemmwiese, ein Ufer und ein kahler Berg vor, wo früher Birkenwäldchen und „ein uralter mächtiger Kiefernwald“ wuchsen.137 Die Landschaft beginnt in ihm viele Erinnerungen hervorzurufen, sie

133 Die drei Bitten äußert die Protagonistin im Gespräch mit dem Ich-Erzähler: „Was Sie mir raten, werde ich tun.“ „[Ich] wünsche schließlich doch, dass sie mir den Rat geben, den ich brauche.“ „Wenn Sie mir also sagen, dass ich meinem Manne alles offenbaren soll, tue ich es. Oder können Sie mir vielleicht einen anderen Rat geben?“ Nikolaj Leskov, „Anlässlich der Kreutzersonate“, übers. v. Erich Müller, in Gesammelte Werke, Bd. 7: Charaktere und Sonderlinge, hg. v. Johannes von Guenther, München 1927, 127, 129 u. 133. 134 Nikolaj Leskov, „Anlässlich der Kreutzersonate“, 141 u. 142. 135 Anton Čechov, „Rothschilds Geige“, übers. v. Kay Borowsky, in Gesammelte Erzählungen, Bd. 3: Ariadna: Erzählungen 1892–1895, mit einem Nachw. v. Gerhard Bauer, Düsseldorf u. Zürich 2004, 282. 136 Für Thomas Wächter ist die Erleuchtung ein zentrales Thema in Tolstojs später Prosa. Sie kommt in den mystischen Erfahrungen seiner Protagonisten zum Ausdruck und wird von „einem genuin aufklärerischen Impetus“ der Erzählinstanz begleitet. Dem setzt Wächter die Poetik von Čechov und dessen Begriff des Durchblicks entgegen, der „kein Verfahren der Aufklärung“ sei, „sondern ein genuin mythischer Gewinn des Lebens selbst, dargestellt im Zeichen der anbrechenden Moderne“. Thomas Wächter, Die künstlerische Welt in späten Erzählungen Čechovs, Frankfurt a. M. u. a. 1992, 95. Diese Meinung teilt Gerhard Bauer nicht; er sieht in Rothschilds Geige keinen „triumphierenden Ton für den Ausgang (das ‚Hinaus-gehen‘) der Geschichte“. Gerhard Bauer, Lichtstrahl aus Scherben: Čechov, Frankfurt a. M. u. a. 2000, 257. 137 Anton Čechov, „Rothschilds Geige“, 288.

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­ ktiviert den Prozess der Vergegenwärtigung der Vergangenheit, und zwar im wört­ a lichen Sinne: Die Vergangenheit wird nun zur Gegenwart und vermischt sich in seinen Betrachtungen mit der Jetztzeit. Auch verdrängte traumatische Ereignisse wie der Tod seines einzigen Kindes vor vielen Jahren werden ihm jetzt bewusst: Und plötzlich erschienen vor seinem inneren Auge, als wäre es noch lebendig, das Kind mit den blonden Locken und auch die Weide, von der Marfa gesprochen hatte. Ja, das war eben jene Weide grün, still und trauervoll … Wie alt sie geworden war, die Arme!138

Das Vergangene erscheint ihm auf einmal ganz deutlich und nah, als ob es sich hier und jetzt abspielen würde. Dieser Vorgang hat auf ihn eine starke emotionale Wirkung, er wird nachdenklicher und empathischer. Sein Mitleid drückt sich in dem qualvollen Ausruf „die Arme!“ aus, der sich sowohl auf die Weide als auch auf Marfa beziehen kann; auch das Bedauern der Vergänglichkeit und die tiefe Trauer über den Verlust seiner Frau lassen sich hier heraushören. Čechovs Protagonist glaubt – ähnlich wie Pozdnyšev bei Tolstoj oder der Ehemann bei Leskov – in übertriebener Weise an die Berechenbarkeit aller Gegebenheiten der Welt. Im Augenblick seiner Selbsterkenntnis scheint sich die Dialektik der Aufklärung widerzuspiegeln. Die Logik der instrumentalen Vernunft führt ihn zu der Feststellung, dass der Tod im Grunde genommen mehr Nutzen bringt als das Leben. In seine kühl kalkulierende Denkweise werden aber allmählich Elemente geträufelt, die sie zum Umkippen bringen. Sein Utilitarismus wird durch Motive der Natur und Landschaft unterbrochen, mit Emotionen und Gefühlen konfrontiert und dadurch hinterfragt. Wie aber sieht der Prozess des Hinterfragens genau aus? Welche Alternativen zur rationalistischen Logik schlagen die Texte vor und inwieweit sind diese mit dem Konzept der Verführung in Gombrowicz’ Roman vergleichbar?

3.3.3 Verführung jenseits der romantischen und realistischen Komponente Die Veränderungen im Zeitverständnis bei Čechov und Leskov kann man als „Verfahren der Verfremdung der Dinge“139 interpretieren. Dieser Begriff, den Viktor Šklovskij in seinem bekannten Essay Die Kunst als Verfahren (1916) in Anlehnung an einen ­Tagebucheintrag von Tolstoj140 geprägt und als Definition der Kunst im Allgemeinen

138 Ebd., 288. 139 „Und gerade, um das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, […] existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‚Verfremdung‘ der Dinge.“ Viktor Šklovskij, „Die Kunst als Verfahren“, in Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1994, 15. 140 Tolstoj notiert im Tagebuch eine scheinbar unwesentliche Alltagsbeobachtung, nämlich dass er



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verwendet hat, betont den Effekt und die Funktion dieses Vorgehens: Die mythischen und symbolischen Elemente in den Erzählungen haben die Aufgabe, Figuren wie Rezipienten „aus dem Automatismus der Wahrnehmung herauszulösen“.141 Den Verlauf dieses Prozesses können die Begrifflichkeiten schärfer konturieren, die Michail Bachtin in seiner Abhandlung über Zeit und Raum in den Werken von Johann Wolfgang von Goethe entwickelt hat. In den 1930er Jahren verfasste Bachtin eine Studie über den Bildungsroman und dessen Bedeutung für den Realismus; eines der Kapitel widmete er den Zeit- und Raumverhältnissen im Œuvre von Goethe.142 Dort führt er die Distinktion zwischen der romantischen und realistischen Komponente ein und bemerkt, dass beide – miteinander konkurrierend, nie getrennt in reiner Form auftretend – die Zeitauffassung in Goethes Werken bestimmen. Was er unter der romantischen Komponente versteht, demonstriert er an dem folgenden Zitat aus Dichtung und Wahrheit: Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte. Köln war der Ort, wo das Altertum eine solche unzuberechnende Wirkung auf mich ausüben konnte. Die Ruine des Doms (denn ein nichtfertiges Werk ist einem zerstörten gleich) erregte die von Straßburg her gewohnten Gefühle.143

In dieser Beschreibung der Verschmelzung von Zeit findet Bachtin einige Bezeich­ nungen, die er für entscheidende Elemente der romantischen Zeiterfahrung hält: das

sich beim Aufräumen im Zimmer nicht mehr daran erinnern konnte, ob er das Sofa schon sauber gemacht hatte. Der Automatismus der Bewegungen schaltete seine Aufmerksamkeit aus. Daraus zieht Tolstoj eine Schlussfolgerung, die er in einem fast aphoristischen Satz formuliert: „[W]enn das ganze komplizierte Leben bei vielen unbewusst verläuft, dann hat es dieses Leben gleichsam nicht gegeben.“ Zit. n. Viktor Šklovskij, „Die Kunst als Verfahren“, 15. 141 Ebd. 142 Diese Studie wurde noch nicht ins Deutsche übersetzt. Ihre baldige Veröffentlichung ist Teil eines größeren Editionsprojekts (im Rahmen des Seminars für Slavistik an der Universität in Zürich) von Sylvia Sasse, Renate Lachmann und Rainer Grübel, das zum Ziel hat, die bislang in deutscher Sprache unveröffentlichten Schriften von Bachtin herauszugeben. Bisher erschien das Anfang der 1920er Jahre entstandene Frühwerk Zur Philosophie der Handlung (übers. v. Dorothea Trottenberg, Berlin 2011). Das lange Warten auf die deutsche Übersetzung ist auch der komplizierten editorischen Geschichte von Bachtins Texten in russischer Sprache geschuldet. Bachtin arbeitete in den 1930er Jahren an seinen Schriften zum Bildungsroman, reichte sie dann 1938 beim Verlag Sovetskij pisatel’ ein, doch sein Manuskript wurde beim Brand des Verlagsgebäudes während des Krieges vernichtet. Erst 1979 erschien der übrig gebliebene Teil als Èstetika slovesnogo tvorčestva, der in Bachtins Gesamtausgabe um seine Notizen zum Text ergänzt wurde. 143 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit, Hamburger Ausgabe Bd. 10, Hamburg 1948, 31 (Vierzehntes Buch).

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„­Gespenstermäßige“, das „Unerfreuliche“, das „Unzuberechnende“.144 Diese Tendenzen, die er unter dem Begriff der romantischen Komponente subsumiert, sind seines Erachtens charakteristisch für Goethes frühe Schaffensperiode. Sie werden aber stets von einer realistischen Komponente begleitet: von genauen Zeitangaben, präzisen Ortsbestimmungen und chronologischen Handlungsverläufen. Bachtin skizziert eine Entwicklungslinie des goetheschen Zeitempfindens: In dessen Werken tritt die romantische Komponente allmählich zugunsten der realistischen zurück, das heißt, das „dunkle“, „phantasmagorische“ und „unbewusste“ Empfinden von Zeit und Raum wird konsequent verdrängt und letztlich völlig überwunden.145 Wie die Elemente der realistischen Zeitauffassung in den Vordergrund rücken, lässt sich am besten, so Bachtin, in den Werken verfolgen, deren Entstehung sich von der frühen bis in die späte Schaffensphase erstreckt, also vor allem im Faust. In Bachtins Interpretation ist die besondere Wortwahl auffällig. Zum einen begreift er den Prozess der Eliminierung der romantischen Komponente bei Goethe als eine gewisse Fortschrittsbewegung. Er verwendet Kampfmetaphern wie „völliger Sieg“146 oder aus den Naturwissenschaften stammende Ausdrücke wie Evolution und Ent­ wicklung,147 als ob die romantische Komponente, die den Blick auf die Wirklichkeit wie ein Nebelschleier trübt, letztendlich von der realistischen Komponente wie vom „frischen Wind gereinigt“148 überwunden werden müsse. Zum anderen distanziert er sich immer wieder von seiner Gegenüberstellung und stellt sie selbst infrage. Sehr oft kommen kurze Einschübe vor, in denen er betont, dass es sich hier lediglich um eine schematische und vereinfachende Vereinbarung handele oder dass die beiden Formen nur zusammen zu denken seien. Somit ist Bachtins Begriff der Komponente als flexibles Interpretationsinstrument zu verstehen, das – anders als etwa der Begriff Motiv – verschiedene Aspekte wie Zeit- und Raumwahrnehmung, Atmosphäre oder Symbolik bündeln kann. Auf diese Weise sind die Komponenten, die er unterscheidet, nicht streng voneinander getrennt; sie ermöglichen vielmehr, bestimmte Tendenzen im Text zu signalisieren. Wenn man Bachtins Begriffe auf unsere Überlegungen überträgt, so lässt sich ­bemerken, dass Leskov und Čechov mit den Konventionen des romantischen und rea­ listischen Schreibens gut vertraut sind und mit der Verwendung der beiden Komponenten ironisch spielen. Genaue Zeitangaben vermischen sich mit Plötzlichkeit und Zufall – Kategorien, die mit der Frühromantik verbunden sind.149 In Rothschilds Geige

144 Michail Bachtin, Èstetika slovesnogo tvorčestva, hg. v. Sergej Bocharov u. a., Moskau 1979, 217. Der Text ist auch unter http://teatr-lib.ru/Library/Bahtin/esthetic/ (25. Mai 2017) zugänglich. 145 Ebd. 146 Ebd., 216. 147 Ebd., 216 f. 148 Ebd., 217. 149 Karl Heinz Bohrer stellt in seiner Studie über das ästhetische Phänomen der Plötzlichkeit als Ausdruck der Diskontinuität und des Nicht-Identischen fest, dass die Ursprünge des Denkens über



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taucht sogar dasselbe Motiv der Verschmelzung der Zeit wie bei Goethe auf: Während Jakow am Fluss sitzt und über sein Leben reflektiert, dringen die Phantome der Vergangenheit in seine Gegenwart ein. Die Vermischung der Komponenten wird der rationalistischen Logik entgegengesetzt, und zwar nicht nur auf der Ebene des Zeitempfindens der Protagonisten, sondern auch auf der Ebene der Symbolik. Sowohl Tolstoj als auch Leskov und Čechov setzen romantische Symbole wie die Musik ein, die für das Ephemere, Nicht-Exakte, Außer-Wissenschaftliche und damit für all das steht, was sich der Logik des Verstandes und dem begrifflichen Denken widersetzt. In der Kreutzersonate ist es genau dieses Stück von Beethoven, das den Ich-Erzähler aus der Ruhe bringt. Bei Čechov ist die Musik auf der Ebene der Handlung sowie in der Form präsent. Das Geigenspiel nach dem Naturerlebnis symbolisiert die verdrängten Erinnerungen von Jakow, steht für seine innere Verwandlung und für die Versöhnung mit der Welt.150 In der Forschungsliteratur wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Komposition der Erzählung einer Sonate gleicht,151 was sich wiederum als Anspielungen auf Tolstoj interpretieren lässt. Hervorzuheben ist schließlich auch Čechovs musikalische Sprache, im Text sind viele klangvolle Ausdrücke und Assonanzen zu finden.152 Leskov wählt ebenfalls Musik zur Charakterisierung seiner Figuren. In Anlässlich der Kreutzersonate beschreibt die Gattin die nüchterne und sachliche Lebenseinstellung ihres Ehemanns in Bezug auf die Musik:

einen nicht mehr identischen Augenblick in der Frühromantik liegen (Friedrich Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Heinrich von Kleist). Vgl. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit: Zum Augenblick des ästhe­ tischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, 13–28. 150 Mehr über die Symbolik der Musik in Rothschilds Geige vgl. Viktoria Steinberg-Pavlova, Musik in Anton Čechovs Erzählungen, Frankfurt a. M. u. a. 2008, 104 f. Für die Autorin ist die Musik in diesem Werk „ein Mittel zur Vereinigung der Menschen“ (ebd., 105). In dieser Studie findet sich auch ein Absatz über die Bedeutung von Musik in Tolstojs Prosa: ebd., 34 f. 151 Thomas Wächter, Die künstlerische Welt in späten Erzählungen Čechovs, 69–76 (Unterkapitel „Beinah wie eine Sonate“). 152 In der Čechov-Forschung weist man immer wieder auf die klangvolle Zusammenstellung der Wörter skripka [„скрипка“, die Geige] / skripnula [„cкрипнула“, quietschen, knarren] hin. Siehe Wolf Schmid, Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne: Čechov – Babel – Zamjatin, Frankfurt a. M. u. a. 1992, 101 (ganzes Kapitel „Klangwiederholungen in Čechovs Erzählprosa“). Mehr zum Thema Klangwiederholungen in Rothschilds Geige vgl. Thomas Wächter, Die künstlerische Welt in späten Er­ zählungen Čechovs, 106–110. Gerhard Bauer bemerkt, dass in dieser Erzählung Čechovs außer Klangwiederholungen und Wortspielen (Paronomasien) auch die lautmalerische Sensibilität des Autors auffällig sei. Bauer unterstreicht den im russischen Text besonders spitzen und schrillen Klang der Formulierung kakie ubytki! [„какие убытки“, was für Verluste], die Jakow wie ein Mantra wiederholt und in der sich seine „Denkblockade und Fixierung“ auf den Nutzen zeigt. Gerhard Bauer, Lichtstrahl aus Scherben: Čechov, 259. Vgl. auch Gerhard Bauer, „Nachwort. Friede mit einer irren Welt? (Erzählungen 1892–1895)“, in Anton Čechov, Gesammelte Erzählungen, 541.

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Er ist zwar begabt und ordentlich, besitzt jedoch wenig von dem, was man „Herz“ nennt, so dumm diese Bezeichnung auch ist, die an die so genannte „Seele“ der Musik erinnert. Ich finde im Augenblick keinen anderen Ausdruck. Seine Herzensregungen finden alle sehr regelmäßig, bestimmt, korrekt und gleichmäßig statt.153

Sie rekurriert auf das Gegensatzpaar Ratio – Seele, distanziert sie sich jedoch sofort davon, weil es ihr banal vorkommt. Die drei russischen Autoren scheinen die Abneigung gegen diese Opposition zu teilen, denn in ihren Erzählungen beschreiben sie keineswegs einen schlichten Kontrast, sondern sie jonglieren mit den beiden Komponenten, sondieren ihre Strukturen und versuchen sie durcheinander zu bringen.154 Einen ähnlichen spielerischen Umgang präsentiert auch Gombrowicz in Pornographie. Er fügt diesem Spiel mit Dichotomien aber ein neues Element hinzu, das gleichzeitig aus diesem Spiel hinausstößt – das Unverständliche. Es drückt sich etwa in Verführungskraft und Verführbarkeit aus, in der irritierenden Rätselhaftigkeit und dem absurden Verhalten Friedrichs, die sich weder der romantischen noch der realistischen Komponente zuordnen lassen, aber zum Verlust aller konventionellen und gedank­ lichen Stützpunkte führen und die Erfindung neuer Wirklichkeitsmodelle in Gang s­ etzen.

3.3.4 Vom aktuellen ins dynamische Sein Trotz des Wechselspiels zwischen den Komponenten bleibt die Ordnung der Dinge in den drei Erzählungen unverändert. Tolstoj, Leskov und Čechov setzen das Bestehen von etwas Unwiderlegbarem voraus, das man mit Aristoteles Worten als energeia (gr. ενέργεια) oder das aktuelle Sein bezeichnen kann – eine empirisch erfahrbare Existenz, die sich wahrnehmen und beschreiben lässt. Es handelt sich um einen Begriff, den Aristoteles in seiner Metaphysik der dynamis (gr. δύναμις) gegenüberstellt.

153 Nikolaj Leskov, „Anlässlich der Kreutzersonate“, 132. 154 Bachtins romantische und realistische Komponente kann man auch durch andere Bezeichnungen ersetzen. Thomas Wächter benutzt die Begriffe Logik des Mythos und Logik des Realismus: „[Das] Erzählte wie das Erzählen [gehorchen] der Logik des Mythos und der des Realismus. […] Der Realismus des Ganzen wird auch durch die Logik des Mythos nicht aufgelöst, wohl aber so angereichert und vertieft, dass er schließlich seiner Einfachheit als einer absoluten Eindimensionalität beraubt ist.“ Thomas Wächter, Die künstlerische Welt in späten Erzählungen Čechovs, 116. Wächters Verständnis vom Realismus stimmt mit Bachtins realistischer Komponente überein, in seiner Mythos-Definition beruft er sich auf den Aufsatz von Aage A. Hansen-Löve, in dem das Mythische in der Fiktion u. a. mit solchen Phänomenen verbunden wird wie Zyklizität, Unbewusstheit oder „Topographie von imaginativen Zuständen“, die dem physikalisch oder geographisch bestimmbaren Raum nicht entspricht. Aage A. Hansen-Löve, „Mythos als Wiederkehr. Ein Essay“, in Wolf Schmid (Hg.), Mythos in der Sla­ wischen Moderne, Wien 1987, 13.



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Energeia ist etymologisch vom Substantiv „das Werk“ (ergon, gr. έργoν) abgeleitet. In der Scholastik wurde der Begriff ins Lateinische als actualitas übersetzt, das auf das Wort actus – die Handlung verweist. Ins Deutsche führte ihn Meister Eckhart als die Wirklichkeit ein. In den heute zugänglichen Übersetzungen finden sich verschiedenen Varianten. Hier nur einige Beispiele: der Aktus (Eugen Rolfes); die wirkliche Tätigkeit (Hermann Bonitz); Wirklichkeit, Wirksamkeit, Verwirklichung (Thomas Alexander Szlezák); Verwirklichung (Friedrich Bassenge); tätige Wirklichkeit, Verwirklichen des Tätigsein, tätiges Am-Werk-Sein (Hans Günter Zekl). Für meine Überlegungen scheint mir eine ältere Übertragung besonders passend zu sein, die von Julius Rieckher: „Wirklichkeit oder aktuelles Sein“.155 In dieser Formulierung wird nämlich die Dimension der Aktualität – die Wirklichkeit als etwas, was sich aktuell vollzieht – unterstrichen, die bei Tolstoj, Leskov und Čechov von besonderer Bedeutung ist. Das aktuelle Sein bildet in ihren Erzählungen eine feste Basis, auf die die Figuren im Prozess des Erinnerns zurückgreifen können. Trotz der Verfremdung gibt es das Zurück zum Hier und Jetzt – zum Aktuellen und empirisch Erfahrbaren, das im Prozess des Erinnerns bis ins Detail rekonstruierbar ist. Es geht mir hier aber keineswegs um die Frage nach der Widerlegbarkeit oder Unwiderlegbarkeit der Weltreferenz oder darum, inwieweit die Erzählungen realistisch sind. Mit dem aktuellen Sein möchte ich vielmehr das Vertrauen der Protagonisten bei Tolstoj, Leskov und Čechov in die empirische Erfahrung hervorheben. Deshalb sind in diesen Texten die Rekurse auf den augenblicklichen, gegenwärtigen Zeitpunkt so auffällig, die wie eine Art Besinnung auf die erfahrbare Wirklichkeit wirken. In Rothschilds Geige etwa folgt auf das Naturerlebnis von Jakow am Fluss, bei dem es zu einer Verschmelzung der Zeitebenen kommt, eine bedeutende Änderung seiner Wahrnehmung. Er beginnt die Umgebung in der Fülle ihrer Details zu perzipieren. Seine Sinne werden schärfer und empfindlicher, er sieht klarer und hört deutlicher. Scharf umrissen erinnert er sich an „Marfas unglückliches Gesicht“ und an „den verzweifelten Schrei des Juden, als er vom Hund gebissen wurde.“156 Das Sehen und Hören

155 „Wirklichkeit oder aktuelles Sein dagegen (was wir damit nennen, kann ja durch Induktion aus den einzelnen Beispielen erhellen, und man darf nicht überall eine strenge Definition verlangen, sondern kann auch das Ähnliche in verschiedenen Beispielen unter einen Gesichtspunkt bringen) verhält sich zu jenem potenziellen Sein wie der Bauende zu dem, der bauen kann, wie der Machende zum Schlafenden, wie der Sehende zu dem, der den Gesichtssinn zwar hat, aber die Augen schließt, wie das von der Materie Ausgeschiedene zur Materie, wie das Ausgearbeitete zum Unausgearbeiteten. Durch das eine Glied in diesen Paaren möge das aktuelle Sein, durch das andere, das potenzielle ausgedrückt sein.“ Aristoteles, Metaphysik, in Schriften zur theoretischen Philosophie, Bd. 5, übers. v. Julius Rieckher, Stuttgart 1860, 257 (Neuntes Buch, 6. Absatz). Rieckher gab 1860 im Metzler-Verlag die erste vollständige deutsche Ausgabe der Metaphysik heraus. Mehr zu Aristoteles’ Begriff der ener­ geia vgl. Georg Picht, „Der Begriff der Energeia bei Aristoteles“, in ders., Hier und Jetzt: Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima, Bd. 1, Stuttgart 1980, 289–308. 156 Anton Čechov, „Rothschilds Geige“, 292.

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verdrängt das ständige Kalkulieren der Verluste, mit dem er früher beschäftigt war. Er denkt nicht mehr im Konjunktiv, was er hätte verdienen können, sondern konzentriert sich auf das Aktuelle. Seine Fixierung auf das Jetzt passiert direkt nach der Rückkehr nach Hause vom Fluss und wird im Text fein markiert. Um diese Wende zur empirisch erfahrbaren Wirklichkeit in der Erzählung genau zu verfolgen, möchte ich einen längeren Abschnitt in zwei Sprachen zitieren: Не жалко было умирать, но как только дома он увидел скрипку, у него сжалось сердце и стало жалко. Скрипку нельзя взять с собой в могилу, и теперь она останется сиротой и с нею случится то же, что с березняком и с сосновым бором. Всё на этом свете пропадало и будет пропадать! Яков вышел из избы и сел у порога, прижимая к груди скрипку. Думая о пропащей, убыточной жизни, он за играл, сам не зная что, но вышло жалобно и трогательно, и слезы потекли у него по щекам. И чем крепче он думал, тем печальнее пела скрипка. Скрипнула щеколда раз-другой, и в калитке показался Ротшильд. Половину двора прошел он смело, но, увидев Якова, вдруг остановился, весь съежился и, должно быть, от страха стал делать руками такие знаки, как будто хотел показать на пальцах, который теперь час.157 Dass er sterben musste, bedauerte er nicht. Doch kaum fiel zu Hause sein Blick auf die Geige, da zog sich ihm das Herz zusammen, denn um sie tat es ihm leid. Die Geige konnte er nicht mit ins Grab nehmen, verweist würde sie zurückbleiben und das nämliche Schicksal erleiden wie das Birkenwäldchen und der Kiefernwald. Alles auf dieser Welt ging zugrunde und würde weiterhin zugrunde gehen! Jakow trat aus seiner Hütte, setzte sich auf die Schwelle und hob die Geige ans Kinn. Während er über das Leben nachdachte, mit dem es ständig abwärts geht und das Verluste anhäuft, begann er zu spielen, er wusste selbst nicht was, jedenfalls kam etwas Klagendes und Rührendes dabei heraus, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Und je intensiver er nachdachte, desto trauriger sang die Geige. Jetzt hörte man die Klinke des Gartentürchens zweimal quietschen, und Rothschild erschien. Tapfer überwand er die erste Hälfte des Hofs, doch als er Jakow erblickte, blieb er plötzlich stehen, krümmte sich, wohl aus Angst, ganz zusammen und machte mit den Händen Zeichen, als wollte er mit den Fingern die Uhrzeit ansagen.158

Auf die Verfremdung durch die romantische Komponente folgt hier die Vergegenwärtigung der augenblicklichen Lage, das aktuelle Sein. Jakow ist sich bewusst, dass er bald sterben muss und dass seine Geige jetzt („теперь“) verwaist bleibt. Dieses Temporaladverb im russischen Original konzentriert den Blick auf das Aktuelle: Mit scharfen Sinnen nimmt der Protagonist nun jedes Detail wahr. Er hört das schrille Geräusch der Klinke und beobachtet die verkrampfte Bewegung Rothschilds, die wiederum das Augenblickliche betont. Seine Geste interpretiert er als Versuch einer Zeitansage – als ob er mit den Fingern zeigen wollte, wie spät es jetzt ist („который теперь час“). Diese Betonung der Gegenwärtigkeit in der Erzählung, die Verlagerung des Schwerpunkts

157 Anton Čechov, „Skripka Rotshil’da“, in ders., Polnoje sobranije sochinenij i pisem, Bd. 8: Rass­ kazy. Povesti, Moskau 1977, 304–305. 158 Anton Čechov, „Rothschilds Geige“, 291.



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auf die unmittelbare und erfahrbare Umgebung markiert die deutsche Übersetzung mit dem Wort „jetzt“ – anstelle der russischen Assonanz skripka [„скрипка“, die Geige] und skripnula [„cкрипнула“, quietschen, knarren] – und hebt das Moment des Übergangs oder, mit Bachtins Worten, den Chronotopos der Schwelle hervor, der die Wendung des Protagonisten zur empirisch erfahrbaren Wirklichkeit signalisiert.159 Auch in Leskovs Erzählung unterstreicht das Motiv des Jetzt das Bestehen einer empirisch sicheren und unbezweifelbaren Ordnung der Dinge. Die Frau besucht den Ich-Erzähler und erwartet, dass er ihr gleich einen Rat erteilt. Ihr Problem ist unverzüglich hic et nunc zu entscheiden: „Die Wahl muss sofort getroffen werden, noch diese Minute, und ich mache sie von Ihrem Entscheid abhängig.“160 Die Markierung dieses Augenblicks verdeutlicht, dass es für sie trotz aller inneren Verwirrungen ein festes und erfahrbares Hier und Jetzt gibt – ein Refugium in der Aktualität. Am auffälligsten ist die Fokussierung auf das Aktuelle in Tolstojs Kreutzersonate.161 Der Protagonist nimmt im Augenblick des Mordes alle Einzelheiten seiner Umgebung besonders deutlich wahr und kann sie später genau rekonstruieren. Die Intensität dieses Moments ermöglicht es ihm, die Wirklichkeit mit der ganzen Palette ihrer sinnlichen Eindrücke beim vollen Bewusstsein zu erfahren. Die Sinnlichkeit der Wahrnehmung und die Erfahrung des Aktuellen sind auch für Gombrowicz ausschlaggebend. Damit setzt er in Pornographie ein. Allerdings dynamisiert er die Vorstellung vom aktuellen Sein. So nimmt sein Ich-Erzähler beispielsweise in einem bestimmten Augenblick mit hyperscharfer Genauigkeit den Nacken des Jungen wahr. Doch das empirisch Wahrgenommene hat für ihn keine Bedeutung. Es beginnt erst in dem Moment eine Rolle zu spielen, als er es im Spannungsfeld der Verführung, in einem dynamischen Verhältnis mit anderen Elementen verortet und in dieser Konstellation betrachtet: „Das war, als ob ihr Nacken (des Mädchens) sich losrisse und sich mit jenem Nacken (des Jungen) verbände, als sei dieser Nacken durch jenen am Nacken gepackt, und als packte er jenen am Nacken!“ (P 26). Die Dynamik der Zusammenhänge determiniert die Wahrnehmung und das aktuelle Sein im Roman.

159 Mehr zum Thema Chronotopos der Schwelle siehe Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik, übers. v. Michael Dewey, Frankfurt a. M. 1989, 198 f. 160 Nikolaj Leskov, „Anlässlich der Kreutzersonate“, 128. 161 Dazu Georg Witte, „Einmal – Aktualität als literarische Erfahrungsform. Am Beispiel von Lev Tolstojs Kreutzer-Sonate“, in Anke Hennig u. a. (Hg.), Jetzt und dann: Zeiterfahrung in Film, Literatur und Philosophie, München 2010, 185–204. Witte bemerkt, Tolstojs Erzählung sei „eine Ermöglichungsgeschichte der Erfahrung der Aktualität“, denn noch nie habe der Protagonist so prägnant die winzigsten Details seiner Umgebung gesehen, als in der Kulminationsszene des Mordes (ebd., 202). In seinem Aufsatz untersucht er auch allgemein die Funktionen von Aktualitätsdarstellungen bzw. von literarischen Darstellungen des Aktualen. Diesen Begriff führt er ein, um den Unterschied zur kalendarischen Zeitnähe hervorzuheben, die das enge Verständnis des Wortes Aktualität suggeriert. Das Aktuale hebt klassische Gegensatzpaare wie Feststellung und Ahnung oder Befund und Entwurf auf: „Im Aktualen fallen Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn zusammen.“ Ebd., 188.

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Gombrowicz konfrontiert seine Protagonisten nicht mit einer fertigen, vorgegebenen Wirklichkeit, sondern bringt sie dazu, diese selbst nach der Logik ihrer Einbildungsbzw. Verführungskraft zu schaffen und ein Bestandteil davon zu werden.

3.4 Ontologie der Verführung – Vergleich mit Musil Im Folgenden möchte ich verwandte Konzeptionen in anderen Werken untersuchen, die ähnlich wie die Romane von Gombrowicz die Vision alternativer Ordnungen der Dinge thematisieren. Kein anderer Autor scheint sich mit dieser Problematik mehr beschäftigt zu haben als Robert Musil. In seiner Prosa befasst er sich häufig mit der Vorstellung, dass auch andere Zusammenhänge in der Welt möglich sind. Musils intensive Beschäftigung mit diesem Thema ist unter anderem auf seine Ingenieurausbildung zurückzuführen und mit seinem besonderen Interesse an exakten Wissenschaften verbunden. Ich werde in diesem Teil nicht auf Musils literarische Texte eingehen, sondern auf jene Essays und Schriften, in denen er über andere ontologische Ordnungen sowie ­Alternativen zu Kausalität und Logik reflektiert – stets im Hinblick auf die Rolle der Literatur. Obwohl seine essayistischen Erörterungen vor Gombrowicz’ Romanen entstanden sind, liefern sie wichtige Denkbilder, die dabei helfen können, sich der Verführung in Pornographie anzunähern und sie als Sammelbezeichnung für literarische Beschreibungen einer anderen Ontologie zu etablieren. Mithilfe von Musils theore­ tischem Kommentar und Gombrowicz’ Romanen kann man die komplexe Semantik der Verführung noch fester umreißen und das Netz der mit ihr nach dem Prinzip der Familienähnlichkeit verwandten Begriffe um bedeutende Komponenten erweitern. Dieses Vorhaben verlangt vier Schritte: Zunächst gehe ich im Allgemeinen auf die Bedeutung der Analogien und des Analogiedenkens im Werk von Musil ein und stelle den Forschungsstand zu diesem Aspekt vor. Dann folgt die Analyse von drei aus­ gewählten Essays von Musil mit dem Ziel, sein ästhetisches Programm im Hinblick auf die Konstruktion von neuen Zusammenhängen zu beleuchten und es mit Gombrowicz’ Pornographie zu vergleichen. Im dritten Teil beschäftige ich mich mit den Begriffen Liebe und das andere Denken, die in den Essays vorkommen. Hierbei handelt es sich weniger um ihre Systematisierung als um die Hervorhebung einiger Aspekte, die für das Verständnis der Verführung relevant sind. Zum Schluss beleuchte ich einige Eigenschaften der in den Texten von Musil und Gombrowicz beschriebenen anderen Ordnung der Dinge. Es wird zu zeigen sein, dass die Konzepte beider Autoren auf einer ähnlichen Prämisse – auf der Idee von Kräften der Sympathie und der Liebe – beruhen und das Bestehen einer Ontologie der Verführung voraussetzen.



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3.4.1 Analogien im Werk von Musil Im Werk von Robert Musil kann man Vorstellungen von anderen Zusammenhängen und alternativen Ordnungen der Dinge finden, die denen in Pornographie und Kosmos ähneln. So wie die konstellativen Verbindungen ein leitendes Denkmodell in Gombrowicz’ Romanen sind, spielen bei Musil Analogien eine bedeutende Rolle. Sie kommen sowohl in seiner Prosa als auch in seinen theoretischen Arbeiten vor und haben verschiedene Funktionen. Sie tauchen zum Beispiel als Motiv, als rhetorische Figur, als ästhetische oder als erkenntnistheoretische Kategorie auf. Die Nutzung von Analogien in Musils Werk ist sehr komplex und wäre ein Gegenstand für eine weitere ­Studie. Dass das Thema in der Forschungsliteratur aber schon ausführlich bearbeitet wurde, zeigen etwa die in der Musil-Forschung fast kanonischen älteren Studien von Dieter Fuder und Ulrich Schelling oder die neueren Arbeiten von Annette Gies, Jutta Koch und Andrea Pelmter. In diesen Monographien sind für meine Argumentation ­einige Aspekte besonders wichtig, die ich im Folgenden nennen möchte. Zunächst ist auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs Analogie bei Musil hinzuweisen. Dieter Fuder bemerkt, dass sie in Musils Werk gleichzeitig als „Methodenbegriff und Bild“ fungiert.162 Als Methode habe sie einen besonderen Status, denn sie sei nicht der wissenschaftlichen Diskursivität verpflichtet, an die sonst „jede wissenschaftliche Darstellung, will sie nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufgeben, gebunden bleiben muss, selbst noch in der Darstellung von Gegenständen, die nicht diskursiv sind.“163 Obwohl sich die Analogie den wissenschaftlichen Diskursivierungsversuchen entzieht, zeigt sich Musils Analogieverständnis stark von der Wissenschaftstheorie seiner Zeit geprägt. In diesem Kontext untersucht Andrea Pelmter Musils Auseinandersetzung mit Theorien von Ernst Mach.164

162 Dieter Fuder, Analogiedenken und anthropologische Differenz: Zu Form und Funktion der poeti­ schen Logik in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, München 1979, 19. 163 Ebd., 22. 164 Musil beschäftigte sich intensiv mit Machs Ansichten und schrieb seine Dissertation zum Thema Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (neue Ausgabe Reinbek bei Hamburg 1980). Der Vergleich der beiden Autoren war häufig Gegenstand der Forschung. Musils kritische Auseinandersetzung mit den Schriften Ernst Machs untersuchen z. B. Berghahn, Schaffnit, Bohrer oder Pieper. Vgl. Wilfried Berghahn, Robert Musil in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1963, 55; Hans Wolfgang Schaffnit, Mimesis als Problem: Studien zu einem ästhetischen Begriff der Dichtung aus Anlass Robert Musils, Berlin 1971, 551 f.; Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, 202; Hans-Joachim Pieper, Musils Philosophie: Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs, Würzburg 2002. Andrea Pelmter vergleicht Mach und Musil in Bezug auf die Analogiebildung. Indem sich Musil des analogen Denkens bediene, so Pelmter, stehe er nicht in Widerspruch zu Mach, der die Analogie als Leitmotiv der Forschung bezeichnet habe. Die Autorin deutet Musils Affinität zur Analogiebildung als eine Vorgehensweise, die auf die exakte Wissenschaft zurückzuführen ist, und untersucht dabei, wie Musil naturwissenschaftliches Wissen in sein literarisches Werk transferiert und integriert. Pelmter klammert jedoch den Aspekt in Musils Verständnis von Analogie aus, der

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Nicht nur zu Musils Lebzeiten war die Analogie Gegenstand intensiver wissenschaftstheoretischer Überlegungen. Als Erkenntnisinstrument kannte man sie schon in der Antike, auch Michel Foucault hat sie in seiner hier schon besprochenen Systematik als eine der Formen des Denkens in Ähnlichkeiten vorgestellt, die die abendländische Kultur bis zum Ende des 16. Jahrhunderts geprägt hat. Die Herkunft der Analogie aus archaisch-mythischen Denkstrukturen hebt auch Musil hervor. In Der Mann ohne ­Eigenschaften bemerkt er: „Selbst in jeder Analogie steckt ja ein Rest des Zaubers, gleich und nicht gleich zu sein.“165 Die Analogie scheint bei ihm mit dem magischen Denken verbunden zu sein. Ulrich Schelling spricht in Bezug auf Musils Werk sogar mit Novalis’ Worten vom „Zauberstab der Analogie“166 und weist dadurch auf die romantische Inklination Musils Verständnisses von Analogie hin, die man den „Königsweg der romantischen Naturphilosophie“ nennt.167 Auch die besondere Rolle und paradoxe begriffliche Unschärfe der Analogie war Thema der Forschung. Für Jutta Koch zum Beispiel sei die Analogie programmatisch für Musils Gesamtwerk und fungiere dort als „bedeutsames ästhetisches Paradigma“.168 Als Ausdrucksmittel und Aufgabe der Literatur verbinde sie bei ihm das scheinbar Unvergleichbare, finde Ähnliches im Verschiedenen, bilde ein Netz von möglichen Verbindungen und schaffe neue Zusammenhänge zwischen den Phänomenen. Das kann man mit der Funktion der Anziehungskraft in Gombrowicz’ Texten assoziieren. Diese neuen Verknüpfungen bezeichnet Koch als „Epiphaniemomente der Verdichtung“ oder mit einem Neologismus Musils als „Inbeziehungen“.169 Mit Blick auf Pornographie

mich in diesem Zusammenhang besonders interessiert: Musil versteht die Analogie als eine andere Wissensform außerhalb bzw. jenseits der dichotomen Einteilungen in Rationales und Irrationales oder in Wissenschaftlichkeit und Vorwissenschaftlichkeit. Vgl. Andrea Pelmter, „Experimentierfeld des Seinkönnens“ – Dichtung als „Versuchsstätte“: Zur Rolle des Experiments im Werk Robert Musils, Würzburg 2008, 70 f. 165 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 2011, 906. 166 Ulrich Schelling, „Das analogische Denken bei Robert Musil“, in Karl Dinklage, Elisabeth Albertsen, Karl Corino (Hg.), Robert Musil: Studien zu seinem Werk, Reinbek bei Hamburg 1970, 179. Vgl. auch ders., Identität und Wirklichkeit bei Robert Musil, Zürich 1968, 55. Zum Begriff „der Zauberstab der Analogie“ siehe Novalis, Schriften: Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 3: Das philosophi­ sche Werk II, hg. v. Richard Samuel, Hans Mähl, Gerhard Schulz, Stuttgart 1984, 518. Mehr zu Novalis Konzeption vgl. Gisela Dischner, Das Sichtbare haftet am Unsichtbaren: Mystische Spuren in Kunst und Dichtung der Moderne, Berlin 2005, 174–205 (Kapitel „Der Zauberstab der Analogie: Kant, Swedenborg und Novalis“). 167 Jürgen Daiber, „Die Suche nach der Urformel: Zur Verbindung von romantischer Naturforschung und Dichtung“, in Aurora Nr. 60/2000, 85. 168 Jutta Koch, Inbeziehungen: Die Analogie im Frühwerk Robert Musils, Würzburg 2007, 17. 169 Ebd., 9. Den Neologismus „Inbeziehungen“ entnimmt Koch einer Begleitschrift zum Erzählungsband Vereinigungen, in der Musil Folgendes bemerkt: „Wirkliche Dichtung unterscheidet sich von alltäglicher sofort anders: Dichte der Beziehungen (Inbeziehungen). Reinheit der Gestalt (Strenge der Form), Vermeidung alles Überflüssigen (kürzester Weg), Größe der Sprache (an einem Wort lässt sich



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und Kosmos lassen sie sich auch als Konstellationen beschreiben. Annette Gies weist zudem noch darauf hin, dass „der Schlüsselbegriff der Analogie“ von Musil selbst eher undifferenziert behandelt wird.170 Für Musil sei die Analogie, so Koch und Gies, nicht von Begriffen wie Gleichnis, Bild, Metapher und Vergleich zu trennen.171 Im Kontext der Verführung scheinen mir zwei Punkte von besonderer Bedeutung zu sein. Für Musil ist Analogie erstens ein diffuser Begriff für die Bezeichnung einer alternativen Denkweise zur Kausalität und traditionellen Logik. Er macht keine Unterscheidung – wie Jutta Koch bemerkt – „zwischen der Analogie als dem Anderen der Logik und dem sprachlichen Mittel des aus einer Analogie gewonnenen Vergleichs“ oder „zwischen einem Verständnis von analogisch (im Sinne von entsprechend, ähnlich, verhältnisgleich, übereinstimmend) und alogisch“.172 Zweitens versteht Musil unter Analogie nicht nur eine Art des Erkennens, einen kognitiven Prozess. Sie bezeichnet bei ihm nicht nur eine bestimmte Denkweise, sondern gehört auch in den Bereich der Ästhetik und beinhaltet emotionale und sinnliche Dimensionen ebenso wie epistemologische. Daher werden in der Sekundärliteratur in Bezug auf Musils Verständnis von Analogien Formulierungen wie „das Phänomen des Flimmerns“ oder „das legierte Wahrnehmen“ gebraucht, mit deren Hilfe man versucht, die Nähe seiner Analogiebildungen zum Nicht-Diskursiven, Ephemeren und Sinnlichen zu betonen.173 Diese Aussagen möchte ich im Folgenden überprüfen und Musils Texte im Hinblick auf die Frage analysieren, wie dort Analogien oder im weiteren Sinne alternative Zusammenhänge zwischen den Dingen beschrieben werden. Musil wählt nämlich ein Denkmodell, das – genauso wie das Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie bei Gombrowicz – gleichsam vorwissenschaftlicher Provenienz ist, sich nicht klassifizieren lässt, dualistische Einteilungen hinterfragt bzw. in sich vereint. Ähnlich wie der Verführung in Pornographie wird in Musils Werken der Analogie eine holistische Bedeutung zugeschrieben. Sie scheint alle Beziehungen in der Welt zu regeln, was im

oft der Dichter sofort fühlen).“ Robert Musil, „Fallengelassenes Vorwort zu: Nachlass zu Lebzeiten ~ Selbstkritik u-Biogr. [1935]“, in ders., Prosa und Stücke – Kleine Prosa – Aphorismen – Autobiogra­ phisches – Essays und Reden – Kritik, in Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, 971. 170 Annette Gies, Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘: „Der Mann ohne Eigenschaften“ als literarische Erkenntnistheorie, Würzburg 2003, 109. 171 Jutta Koch stellt beispielsweise in ihrer Studie fest, dass Musil Begriffe wie Analogie, Metapher und Vergleich terminologisch voneinander nicht trenne. Jutta Koch, Inbeziehungen, 35. Ähnlich bemerkt auch Annette Gies, Musil benutze im Roman Der Mann ohne Eigenschaften die Termini Gleichnis und Analogie synonym. Annette Gies, Musils Konzeption des ‚Sentimentalen Denkens‘, 110. 172 Jutta Koch, Inbeziehungen, 11 u. 22. 173 Ebd., 106 u. 119–125. Koch zitiert einen Satz aus Der Mann ohne Eigenschaften, in dem Musils Konzeption des Analogiedenkens besonders pointiert ausgedrückt wird. Der Autor bedient sich dort der Metapher des Fächers, um zu veranschaulichen, wie man das Inkommensurable zusammendenken kann: „[M]ehreres zugleich zu denken, so wie sich ein Fächer auf- und zuschiebt, und eines halb neben, halb unter dem anderen ist.“ Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 443.

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Roman Der Mann ohne Eigenschaften pointiert zum Ausdruck kommt: „Unsere ganze Existenz ist nur eine Analogie. Wir bilden uns ein System von Grundsätzen, Vergnügungen usw., das einen Teil des Möglichen deckt.“174 Es handelt sich hier nicht nur um das Denken in Analogien, sondern auch um eine andere Art der Selbst- und Weltwahrnehmung, die mit dem Möglichkeitssinn – mit dem Möglichen, Wahrscheinlichen und Irrealen – verbunden ist. In meiner Analyse werde ich mich auf Musils Essays konzentrieren, in denen er seine Reflexionen über alternative Ordnungen der Dinge theoretisch entfaltet, die Gombrowicz in seinen Romanen auf literarische Weise vorführt. Im Vordergrund meiner Untersuchung stehen die Implikationen von Analogien und Konstellationen als Modi der Erkenntnis sowie die ontologischen Grundannahmen, die sich hinter ihnen verbergen. Musil zielt nämlich in seinen Schriften – sich dabei eines ähnlichen Vokabulars wie Gombrowicz bedienend – auf dieselbe Vorstellung einer allgemeinen Regel hin, die neue Verbindungen in der Welt generieren kann, und versucht aufgrund dessen sein ästhetisches Programm zu formulieren. Dabei beschreiben die ausgewählten Essays Profil eines Programms (1912), Geist und Erfahrung (1921) und Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) keine Entwicklungslinie von Musils Denken. Sie ergänzen sich eher gegenseitig, kreisen um dasselbe Thema, das sie von verschiedenen Seiten beleuchten, und eignen sich dazu, parallel mit Gombrowicz’ Romanen gelesen zu werden.

3.4.2 Möglichkeitsketten und ihre verführerische Kraft In dem Essay Profil eines Programms aus dem Jahr 1912, von dem zwei Fassungen erhalten sind, formuliert Musil poetologische Überlegungen und widmet sich dem Schaffen von Verbindungen zwischen den Dingen, das er als Hauptaufgabe der Literatur ansieht. Das Verbinden betrachtet er auf zwei Ebenen: Zum einen geht es ihm um die Beziehung zwischen dem literarischen Kunstwerk und den Rezipienten, zum anderen um die Konstruktion von Zusammenhängen zwischen Gegenständen, Menschen oder Ereignissen innerhalb des Kunstwerks. Als Ausgangspunkt seiner Reflexion skizziert er den Beginn einer Kurzgeschichte, die an die im vorigen Teil analysierte Kreutzer­ sonate von Tolstoj erinnert und fast ihre Zusammenfassung sein könnte: Ein Mensch weilt mit der Frau zusammen, die er liebt, und erlebt blitzschnell die Vision, dass sie ihn betrügen wird. Nur ein Bruchteil dieser Zeit wird von der Vorstellung des Kausalzu­ sammenhanges eingenommen – kombinierte Bruchstücke einer Möglichkeitskette, wie sie sich überall rasch erfinden lässt – das Erlebnis ist nicht dieses Belanglose, sondern etwas, das sich schwer benennen lässt. Ich versuche zu sagen: Dieser Mann, von dem ich spreche, wird nicht darüber erschrecken, dass seine Geliebte ihm untreu sein könnte, sondern darüber, dass sie

174 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 2, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 2010, 1724.



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dabei dennoch seine Geliebte gewesen sein wird; es ist die Imagination eines seltsamen Gefühlszusammenhanges in ihm. Nicht begreifen und verzeihen, nicht für möglich od. wahrscheinlich halten, sondern es ist das innerliche Verstehen, ein Betroffenwerden, ein Mit- und Einfühlen.175

Dieses Beispiel einer Erzählung, über das Musil im weiteren Teil des Essays theoretisch reflektiert, behandelt die Eifersuchtsphantasien eines Mannes. Über die Gründe für die Themenwahl könnte man spekulieren: Bezugnahmen auf Tolstoj sind denkbar, Musil könnte damit aber auch auf seinen eigenen Erzählungsband Vereinigungen anspielen, der 1911 – also ein Jahr vor dem Essay – erschienen ist und in dem beide Erzählungen von Treuebrüchen der Protagonistinnen handeln.176 Allerdings spielt dieses Motiv im Essay weiterhin keine wichtige Rolle, es exemplifiziert nur eine heftige Gefühlsregung, die das rationale Denken des Protagonisten beeinträchtigt. Der Mann ist von der Vorstellung der Untreue seiner Partnerin wie besessen, was seine Wahrnehmung stark beeinträchtigt. Er verbindet bestimmte Ereignisse, Symptome oder Anzeichen des Ehebruchs zu einer, wie es Musil nennt, Möglichkeitskette, die von außen betrachtet nicht immer nachvollziehbar und logisch erscheint. Aus Details konstruiert er einen Zusammenhang, der seine Unterstellung bestätigt und einer gewissen Eigenlogik folgt. Nicht der vermeintliche Seitensprung ist hier für Musil von Bedeutung, sondern das Kombinieren von Elementen, die Suche nach Beziehungen zwischen den Dingen, das Schaffen von Verbindungen, die „rasch“ und „blitzschnell“ hergestellt werden, als ob sie von selbst erschienen und nicht erfunden worden wären. All das ermögliche, so Musil, das Erahnen von „etwas, das sich schwer benennen lässt“ – von einem imaginierten, alles verbindenden und sich selbst erschließenden Zusammenhang, der in diesem Fall die vage Idee von Untreue ist. Dieses Verbinden von Dingen und Ereignissen zu Möglichkeitsketten ähnelt den Konstellationen in Gombrowicz’ Romanen. Es handelt sich hier nämlich genau wie in Porno­ graphie und Kosmos nicht um einen kognitiven Vorgang, der Kausalzusammenhänge erkennt, sondern um einen komplexen Gefühlszustand, um das emotionale Involviertsein des Subjekts oder, wie es Musil im angeführten Zitat formuliert, um „ein Betroffen­ werden, ein Mit- und Einfühlen.“ Nach dem erzählerischen Einstieg überträgt Musil die Überlegungen auf sein Kunstverständnis: Die Schilderungen der Genese dieser Möglichkeitsketten und der seltsamen Zusammenhänge, die vom Individuum imaginiert werden, sind „das

175 Robert Musil, „Profil eines Programms“, in ders., Prosa und Stücke, 1319 f. 176 Auf der Suche nach möglichen Inspirationsquellen für Musils Themenwahl kann man zu der monumentalen Biographie von Karl Corino greifen. Obwohl der biographische Ansatz nicht dem Anliegen der vorliegenden Arbeit entspricht, möchte ich eine kurze Bemerkung Corinos zitieren: „Die unglaubliche Energie, die Musil an Vollendung der Liebe und an Versuchung der stillen Veronika wendete, zeigt natürlich auch, wie nah ihm das Schicksal der Heldinnen ging, wie schwer ihm der Treuebruch Marthas mit Martin Cohn zu schaffen machte.“ Karl Corino, Robert Musil: Eine Biographie, Reinbek bei Hamburg 2003, 384.

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­ ntscheidende für die künstlerische Darstellung“.177 Als Aufgabe der Kunst versteht E er also das Eindringen in die spezifische Logik des Verbindens, das Mitgestalten von Zusammenhängen sowie das Verfolgen der Komplexität dieses Vorgangs. Den Kernpunkt seines ästhetischen Programms formuliert er wie folgt: [D]as Bindende, das man anstrebt, [liegt] nicht in diesem Schein von zwangsmäßigem Nacheinander. Ich meine, die Wege, die in einem Menschen etwa von Liebe zu Untreue führen, sind auch ästhetisch interesselos (bieten kein volles künstl. Interesse), sofern nicht jeder Schritt auf ihnen außer seiner psychologischen Wahrscheinlichkeit noch den Wert einer Nachfühlbarkeit, einer Lockung, – eben einen Wert hat.178

Um bei Musils’ Beispiel zu bleiben: Eigentlich ist es für den literarischen Wert der Erzählung gleichgültig, was zur Untreue führt und wie sich dieser Vorfall erklären lässt. Wenn man sich auf die möglichen Gründe konzentrieren würde, könnte man eine Unmenge von nachvollziehbaren – oder in Musils Worten von „causalen“ – Erklärungen finden. Der künstlerische Wert besteht aber seiner Meinung nach darin, dass man über die Kausalzusammenhänge, über die Perspektive des „alltäglich vernünftigen Nachdenkens“, hinausgeht.179 Man soll stattdessen versuchen, in die Gedankengänge des Subjekts einzudringen und zu beschreiben, wie und nach welchen Regeln es die Ereignisse im Dämmerzustand verbindet. Damit ist aber nicht nur eine Introspektion gemeint. Den Schwerpunkt legt Musil auf die Darstellungsweise dieser Logik des Verbindens. Sie soll den Rezipienten nachfühlbar und verlockend präsentiert werden. Ich möchte hier die besondere Wortwahl hervorheben. Es ist die Rede von „Nachfühlbarkeit“ und „Lockung“ und nicht etwa von Verständlichkeit oder Nachvollziehbarkeit. Musils Auffassung zufolge hat die Literatur die Aufgabe, Möglichkeitsketten darzustellen: potenzielle und eigenwillige Zusammenhänge zwischen den Dingen, die man im Hinblick auf Gombrowicz auch als Konstellationen bezeichnen kann. Weiter heißt es im Essay, dass es in der Kunst auf das Ausbreiten von „Zusammenhängen mitführerischer Werte“ ankomme.180 Dieser Ausdruck wird sogar wiederholt, was aber genau mit „mitführerisch“ gemeint ist, bleibt unklar. Jedenfalls lässt sich bemerken, dass Musil beim Profilieren seines ästhetischen Programms auf die orphische Motivik rekurriert. Das literarische Kunstwerk soll seine Rezipienten bewegen und anziehen, zum Mitfühlen verführen, in die Eigenlogik des Kunstwerks mitnehmen. Die Verführungskraft als Merkmal der Kunst ist eine alte Vorstellung mit Ursprüngen in der Antike, die Musil weiterentwickelt und nicht nur auf die Wirkungskraft des Künstlers und des Kunstwerks bezieht. In der ersten Version des Essays mit dem Titel R. Profil eines Programms betont er einen weiteren Aspekt:

177 Robert Musil, „Profil eines Programms“, 1320. 178 Ebd., 1320. 179 Ebd. 180 Ebd.



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Aber warum schreibt man denn Kunst? Um Dinge noch einmal zu sagen? Es war einmal berechtigt, aber wir sind keine Rhapsoden. Warum beschäftigt man sich nicht mit dem physikalischen Relativitätsprinzip, mit den logisch-mathematischen Paradoxas Couturat’s, mit …? Weil es Dinge gibt, die sich nicht wissenschaftlich erledigen lassen, die auch nicht mit den Zwitterreizen des Essays zu fangen sind, weil es Schicksal ist, diese Dinge zu lieben, Dichterschicksal.181

An Musils ästhetischem Programm ist für meine Argumentation von besonderer Bedeutung, was er über die Quelle des literarischen Schaffens sagt. Die Literatur entsteht wegen und aus der Liebe zu den Dingen, die sich sonst nicht begreifen lassen und weder in der Alltagssprache noch in den Wissenschaftsdiskursen oder in der Essay­ istik erfasst werden können. Die Aufgabe der Kunst und das Dichterschicksal sind es, die Dinge zu lieben oder – mit Bezug zu den Künstlerkonzeptionen von Gombrowicz und Schulz formuliert – sich vom Gestalten von Konstellationen verführen zu lassen, in die literarische Materie vernarrt zu sein. Für Musil hat das literarische Schreiben ein Doppelgesicht: Zum einen verführt der Schriftsteller seine Rezipienten, lockt sie an, um sie in die Gedankenwelt seines Kunstwerks zu ziehen und ihnen das Nachfühlen bestimmter ästhetischer Erfahrungen zu ermöglichen. Zum anderen fühlt er sich aber auch selbst vom Gegenstand seines Schaffens angezogen, ihm emotional verbunden, in ihn verliebt.182 Allerdings ist seine Liebe kein harmloses und friedliches Gefühl, das eine besänftigende Wirkung hat.183 Am Ende des Essays R. Profil eines Programms notiert er stichwortartig: „Grenzüberschreitenwollende Liebe u. Selbstvernichtung“.184 Obwohl der Kontext fehlt, lässt sich festhalten, dass die Zusammenstellung der Wörter auf das transgressive, dämonische und gefährliche Potenzial der Liebe verweist. Unter diesem Aspekt sind sich die Kunstkonzeptionen von Musil, Gombrowicz und Schulz sehr nahe.

181 Robert Musil, „R. Profil eines Programms [1912]“, in ders., Prosa und Stücke, 1317. 182 Schon Aristoteles wies darauf hin, dass die Dichter „in ihre eigenen Dichtungen über die Maßen verliebt sind und an ihnen hängen, als ob es ihre Kinder wären. […] Der Grund davon ist, dass das Sein allen Wesen begehrens- und liebenswert ist, und dass wir insofern sind, als wir tätig sind, nämlich leben und handeln. Durch seine Tätigkeit ist also der Meister gewissermaßen das Werk, und daher liebt er das Werk darum, weil er das Sein liebt, eine Liebe, die in der Natur begründet ist. Denn was er in Möglichkeit ist, zeigt das Werk in Wirklichkeit.“ Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. v. Eugen Rolfes, Hamburg 1985, 221 (1168 a). 183 Am Rande sei es bemerkt, dass die etwas betuliche, utopische Vorstellung, die das Kunstverständnis mit der Kraft der Liebe verbindet, bis heute verbreitet wird. Der amerikanische Gegenwartsdichter Gary Snyder etwa hat diesen Gedanken in einem Interview in prägnanter Weise formuliert: Auf die im Titel der von John Felstiner veröffentlichen Arbeit Can the poetry save the earth? gestellte Frage antwortete Snyder, dass die Lyrik die Welt retten könne, indem sie den Menschen helfe, die Erde zu lieben. John Felstiner, Can Poetry Save the Earth? A Field Guide to Nature Poems, New Haven u. a. 2009. Interview mit dem Dichter Gary Snyder: Kann Lyrik die Welt retten? Gary Snyder. Ein Portrait, in http://www.deutschlandfunk.de/das-feature-kann-lyrik-die-welt-retten-27-06-14.media.45c52bc6bb9f f4830c2a5779bf5081fb.txt (25. Mai 2017). 184 Robert Musil, „R. Profil eines Programms [1912]“, 1319.

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Musils Postulat der bedrohlichen, destruktiven, doch zugleich transgressiven und kreativen Liebe des Künstlers zu den Dingen ähnelt dem ambivalenten Gefesseltsein des Ich-Erzählers in Pornographie, der sich kaum von der Idee losreißen kann, die beiden Jugendlichen zu verkuppeln. Sein Verhältnis zu ihnen ist zwiespältig: Die Unmöglichkeit der Umsetzung seiner Wünsche ist für ihn zwar qualvoll, die unermüdlichen Versuche, einen Verführungsakt zu initiieren, bringen ihm aber auch perverse Lust. Die zerstörerische und lustvolle Kraft seines Gefühls hat vor allem ein schöpferisches Potenzial und verbirgt eine poetologische Dimension. Verführt vom Zusammenbringen der anderen spinnt der Ich-Erzähler kunstvoll seine raffinierten Intrigen, inszeniert sie geradezu theatralisch, als ob er aus dem Verführungsakt ein Kunstwerk machen wollte, in das er selbst verwickelt ist. Eine ähnliche Ambivalenz zeichnet auch die leidenschaftlich-destruktive Beziehung des Vaters zur Materie in Schulz’ Erzählung Trak­ tat über die Schneiderpuppen aus. In langen Tiraden begreift sich der Vater als neuer Demiurg und Alter Ego des Künstlers, er gesteht seine Liebe zur Materie und macht sich auf diese Weise zum Gespött der anderen.

3.4.3 Liebe und Analogie: Bindemittel und Störung Für Musil ist die Verlockung, die vom literarischen Kunstwerk ausgeht, ein Resultat der in ihm dargestellten Zusammenhänge. Was genau versteht er darunter? Literatur bedeutet für ihn, im Text eine andere Welt mit einer spezifischen Logik zu schaffen, die Dinge in neue Relationen, in Möglichkeitsketten zu bringen. Die Idee vom Verbinden und Trennen der Elemente, um eine neue Ordnung der Dinge einzuführen, ist eine bekannte Denkfigur, die sich schon in mythologischen oder biblischen Texten finden lässt und die seit der Autonomisierung der Kunst in der Moderne häufig auf das künstlerische Schaffen übertragen wird. So verdeutlicht Umberto Eco im Nachwort zu seinem Roman Der Name der Rose den literarischen Anspruch auf eine metaphorische Neuerschaffung der Welt, indem er das Schreiben von Prosa mit dem kosmologischen Vorhaben im Buch Genesis vergleicht.185 In Musils Bemerkungen gibt es also auf den ersten Blick nichts Überraschendes. Jedes literarische Werk kann man als einen Versuch verstehen, eine Neuordnung der Dinge einzuführen. Das tun alle Autorinnen und Autoren in ihren Texten – auch ­Gombrowicz und beispielsweise Tolstoj. Während jedoch in der Kreutzersonate die Gültigkeit der Eigenlogik des Protagonisten bezweifelt wird – er benutzt rationalis­ tische Schemata als Anhaltspunkte, um nicht weiterhin von Eifersucht besessenen zu sein –, steht in Pornographie und Kosmos die Eigenlogik der Ich-Erzähler im Zentrum des Geschehens. Gombrowicz’ Figuren betrachten die bestehende, kausal-logische

185 Umberto Eco, Nachschrift zum „Namen der Rose“, übers. v. Burkhart Kroeber, München 2007, 31–37 (Kapitel „Der Roman als kosmologischer Akt“).



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Ordnung als Anstoß, alternative, auf Verführung basierende Zusammenhänge, Konstellationen und Möglichkeitsketten zu entwickeln, und das macht zum Großteil die Handlung der Romane aus. Für Musil ist das literarische Schaffen neuer Weltordnungen und alternativer Verbindungen zwischen Ereignissen und Dingen ein Ausdruck künstlerischer Kreativität. Allerdings lehnt er es nicht gänzlich ab, für die Konstruktion seiner Möglichkeitsketten auch klassische Denkformen wie Kausalität und Logik zu nutzen. Um dieses Verhältnis zwischen dem Hinausgehen über den von ihm sogenannten „Causalzusammenhang“ und dem gleichzeitigen Bewahren klassischer Kausalordnungen näher zu beleuchten, kehrt er im zuvor besprochenen Essay Profil eines Programms wieder zu dem eifersüchtigen Mann zurück, der seine Frau der Untreue bezichtigt, und imaginiert, wie er die Geschichte weiterführen würde: [U]nd auch ich würde hier causal ausgehen, würde etwa sagen: das Auftreten des Gefühls ist nach dem Stande unserer Seelenkenntnis nicht zufällig, es ist der maskierte Ausdruck schon vorhandener Bedingungen und würde diese nun durch das Weitere eine nach der anderen aufrollen lassen. Und ich leugne gar nicht, dass diese Art der Darstellung Vorzüge hat, die sich anders überhaupt nicht erreichen lassen, aber allen diesen Zwischenbrücken fehlt etwas. (etwas, das sie bei jedem Schritt wieder in meine Liebe zurückbiegt, oder haben sie es, so sind sie auch alle nicht mehr causal allein).186

Im Konjunktiv spekuliert er, dass er zunächst die Erzählung traditionell im Sinne der klassischen realistischen Prosa fortsetzen, die Beweggründe des Protagonisten, seine Gedankengänge, seine inneren Motivationen und äußeren Bedingungen beschreiben würde. Mit anderen Worten: Er würde wie Tolstoj in der Kreutzersonate vorgehen und den Fall so schildern, dass er einen nachvollziehbaren Zusammenhang ergibt und stringente Folgerichtigkeit nachweist. Diese Darstellungsweise lehnt Musil nicht ab, sie ist für ihn aber zu wenig, es fehlt ihm an dem, was er äußerst kryptisch „etwas“ nennt. Die Nachvollziehbarkeit der Geschichte, ihr Kausalzusammenhang ist nur eine erste Stufe oder, wie er es nennt, nur ein „Vorwand“, der einer Ergänzung bedarf.187 Wodurch sie ergänzt werden soll und was dieses Etwas ist, wird nur lapidar formuliert; dabei taucht der Begriff der Liebe auf, der an das Prinzip der Verführung erinnert und der meiner Ansicht nach die Vorstellung einer anderen ontologischen Ordnung der Dinge, einer alternativen Denkweise über die Zusammenhänge und die Beschaffenheit der Welt andeutet. Das von Musil beschworene Etwas könnte man als einen künstlerischen Zusatz zum Kausalzusammenhang verstehen und es mit dem Irrationalen gleichsetzen. Musil vermeidet jedoch diese vereinfachende Zuschreibung: Er betrachtet die beiden

186 Robert Musil, „Profil eines Programms“, 1321. 187 „Der Causalzusammenhang erweist sich auch in der Kunst nur als der Vorwand, Schritt um Schritt diese Zusammenhänge mitführerischer Werte auszubreiten.“ Ebd., 1320.

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Bereiche, das Kausale und das Etwas bzw. die Liebe, nicht dichotom. Zwar führt er in seinen anderen Schriften eine Einteilung ein: in „das Ratioïde“, das für „alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln zusammenfassbare vor allem also die physische Natur“ steht, und „das Nicht-Ratioïde“, das mit Gefühlen und Emotionen verbunden ist.188 Er distanziert sich aber immer wieder von dieser etwas konventionellen Trennung und unterminiert sie. In seinem Essay Geist und Erfahrung (1921) spricht er an vielen Stellen von dem „unheilvollen Missverständnis, welches den Geist in Gegensatz zum Verstand setzt“ oder vom verwirrenden „Geschreibe von Rationalismus und Antirationalismus“.189 Auch von der eigenen Systematik nimmt er Abstand und betrachtet sie kritisch, indem er den „Unterschied ratioïd und nicht-ratioïd“ mit der Nebenbemerkung kommentiert, dass er den „nicht erfunden, sondern nur so übel benannt“ habe.190 Es scheint, als wäre er nicht weiter an dieser provisorischen binären Gliederung interessiert und als ob sie ihm nur dazu diene, auf ein anderes Problem hinzuweisen. Nicht die Trennung der beiden Bereiche steht im Zentrum seines Interesses, sondern die Situationen, in denen sie sich ineinander verschlingen. Um sich dieser etwas undeutlichen Vorstellung sprachlich anzunähern und sie präzise und konkret darzustellen, benutzt er eine räumliche Metaphorik: So wie er in seinen Schriften vom „Boden [des] alltäglich vernünftigen Nachdenkens“191 oder vom „nicht-ratioïden Gebiet“192 spricht, imaginiert er die Verbindung der beiden als eine „Zone zwischen Verstand u. Gefühl“, was an die erwähnte „Zone der Unwissenheit“ von Giorgio Agamben erinnert.193 Die Idee von der Verquickung des Intellektuellen und Emotionalen oder, besser gesagt, das Postulat einer anderen Denkweise, die gleichermaßen Denken und Fühlen miteinander verflicht, ist ein wiederkehrendes Motiv in Musils Werk – sowohl in seinen Essays, als auch in der Prosa. In Der Mann ohne Eigenschaften kann man den viel zitierten Satz finden, in dem diese andere Art des Denkens explizit angesprochen wird: „Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben.“194 Auffällig in dieser Aussage ist die Gleichstellung der Verben „denken“ und „fühlen“ – sie werden als austauschbar betrachtet. Ulrich stellt sich die Möglichkeit einer anderen Denkweise nicht vor, sondern fühlt sie. Durch die geschickte Wortwahl bewegt sich Musil jenseits von Dichotomien und signalisiert die Konzeption

188 Robert Musil, „Skizze der Erkenntnis des Dichters [1918]“, in ders., Prosa und Stücke, 1026 f. 189 Robert Musil, „Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind [März 1921]“, in ders., Prosa und Stücke, 1050. 190 Ebd., 1059. 191 Robert Musil, „Profil eines Programms“, 1320. 192 Ders., „Geist und Erfahrung“, 1049. 193 Ders., „Profil eines Programms“, 1322. Giorgio Agamben, „Das letzte Kapitel der Weltgeschichte“, 189–191. 194 Ders., Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 41.



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eines „anderen Denkens“, wie es in der Forschungsliteratur genannt wird, das ­Dualismen vermeidet und ein „anderes Leben“ bewirken kann. Mit der Erwähnung des umfassenden Begriffs des Lebens, vielleicht eine Anspielung auf die sich seinerzeit intensiv entwickelnde Lebensphilosophie, redefiniert er das Denken und betont ­dessen lebensnahe, sinnliche, emotionale Dimension. Die neue Denkweise liegt der menschlichen Erfahrung und Lebenspraxis nahe. Diesen Gedanken entwickelt Musil in dem Essay Geist und Erfahrung weiter, in dem er hauptsächlich Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes kritisiert. Neben der Auseinandersetzung mit Spengler versucht Musil sich dem anderen Denken anzunähern. Wieder laviert er zwischen dem Gegensatzpaar „ratioïd“ und „nicht-­ ratioïd“; über die neue, von ihm postulierte Denkart schreibt er: Anstelle des starren Begriffs tritt die pulsierende Vorstellung, anstelle von Gleichsetzung treten Analogien, an die der Wahrheit Wahrscheinlichkeit, der wesentliche Aufbau ist nicht mehr systematisch, sondern schöpferisch.195

Obwohl im gesamten Text Dichotomien kritisch betrachtet werden – etwa die Haltung, die der Literatur Mathematik, Logik und Genauigkeit gegenüberstellt, was „ein günstiges Vorurteil“196 sei –, wird das andere Denken ausgerechnet mit Oppositionen ­beschrieben: starr – pulsierend, Begriff – Vorstellung, Gleichsetzung – Analogie, ­systematisch – schöpferisch. Die alternative Denkweise ist jedoch mit Lebendigkeit, Flüchtigkeit und Bewegung verbunden, ganz im Gegensatz zur rationalen Ordnung. Das andere Denken steht zudem auf der Seite der Vorstellungskraft, des Möglich­ keitssinns, des Nicht-Identischen, Ähnlichen und Kreativen. In der Folge dieser eher ­stereotypen Gegenüberstellungen werden aber zwei wichtige Aspekte genannt. Zum einen wird das andere Denken mit dem Denken in Analogien gleichgesetzt und zum anderen wird es mit der Bezeichnung „schöpferisch“ der Domäne der Kunst ­zugewiesen. Die Verortung des anderen Denkens im Bereich des künstlerischen Schaffens ­impliziert für Musil, dass das Bilden von Analogien, Möglichkeitsketten und Inbeziehungen eine poetologische Dimension enthält und zur Aufgabe der Kunst wird – genauso wie bei Gombrowicz das Schaffen der Konstellationen. An einer anderen Stelle drückt Musil das noch expliziter aus: Die Aufgabe [des Dichters] ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.197

195 Ders., „Geist und Erfahrung“, 1050. 196 Ebd., 1043. 197 Ders., „Skizze der Erkenntnis des Dichters [1918]“, in ders., Prosa und Stücke, 1029.

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Durch Versuche der Neuordnung der Dinge und durch das Erschaffen von neuen Zusammenhängen extensiviert der Künstler die Sphäre des Möglichen. Die Kunst hat ein subversives Potenzial, indem sie die Welt neu erfindet und zeigt, dass und wie es anders sein kann. In Geist und Erfahrung führt Musil das Bilden von Analogien an einem Beispiel vor: Er stellt fest, dass es sowohl „zitronengelbe Falter“ als auch „zitronengelbe Chinesen“ gibt.198 Die Absurdität dieser Zusammenstellung dient ihm zur Schilderung des Denkens in Analogien – man kann hier ergänzen: in Möglichkeitsketten und Konstellationen. Die drei Begriffe scheinen mir in diesem Kontext synonym und austauschbar zu sein, denn Musil meint hier Verbindungen zwischen den Phänomenen, die auf dem Nicht-Identischen, Ähnlichen basieren und die mithilfe der Liebe als Bindemittel zusammengebracht werden. Auf diese Weise zielt Musil in seinem Essay auf die Art des Denkens ab, die an die Logik der Protagonisten in Gombrowicz’ Romanen erinnert. Den beiden Schriftstellern geht es um das Verbinden von Dingen, um das Suchen von Ähnlichkeiten und Anziehungskräften zwischen ihnen. Hier beansprucht das Kunstwerk keinen Sinn, sondern verfolgt das, was man als die Idee der Zwecklosigkeit bezeichnen könnte. Um die Sinnlosigkeit dieses Prozesses hervorzuheben, versieht Musil sein bildhaftes Beispiel vom Falter und Chinesen mit einem etwas ironischen Kommentar: „Was mit solchen Mitteln bewiesen werden soll, ist ja eigentlich ganz gleich.“199 Das von Musil beschriebene Zusammenbringen, das Erstellen von Analogien beruht auf sinnlichen Ähnlichkeiten in der Erscheinung der Dinge und entzieht sich den Sinnzuschreibungen. Es ist im Grunde genommen gleichgültig, was man im Rahmen einer Analogie miteinander verbindet – wichtig ist, dass man es versucht und experimentiert. Für Musil hat die Analogie als Denk- und Sprachexperiment sowohl einen ästhetischen als auch einen transgressiven Wert. Es handelt sich um die Erweiterung der Grenzen des Möglichen und darum, neue Erfahrungen zugänglich zu machen.200 Doch nach welchen Prinzipien werden die Analogien gebildet? Stehen ausschließlich künstlerische Kreativität und Intuition hinter ihnen? Vor allem den letzten Begriff

198 Ders., „Geist und Erfahrung“, 1044. 199 Ebd. 200 Der terminologischen Genauigkeit halber sollte man hinzufügen, dass Musil in diesem Kontext eher von neuen Erlebnissen sprechen würde. Dem Begriff der Erfahrung steht er kritisch gegenüber. Sie ist für ihn ein bewusster und reflektierter Vorgang, dem Individuum von außen aufgezwungen, der mit dem Ursprünglichen und mit all dem, was dem menschlichen Leben nahe steht, wenig zu tun hat. Hier lässt sich ein Echo der Philosophie von Wilhelm Dilthey und seiner Differenzierung von Erlebnis und Erfahrung vernehmen. Musil grenzt die Erfahrung von seinen Überlegungen zum anderen Zustand (dazu unten mehr) konsequent ab: „Wer sich mit seinen [des anderen Zustands – AH] Erscheinungen befasst hat, weiß, dass ihm das Wort Erfahrung fremd ist.“ Weiter bemerkt er noch, dass „in diesem Zustand Erfahrung als etwas Wesensfremdes und Feindliches empfunden wird.“ Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films [März 1925]“, in ders., Prosa und Stücke, 1153.



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betrachtet Musil eher skeptisch und verwirft ihn.201 Sind die Möglichkeitsketten und Konstellationen nur eine „sehr üble belletristische Willkürlichkeit“, wie es in dem Zitat von Friedrich Schiller heißt, mit dem der Essay Geist und Erfahrung beginnt?202 Mit diesem Satz setzt sich Musil kritisch auseinander und versucht die Bedeutsamkeit der Analogien hervorzuheben. Seinen Gedankengang setzt er in seinem nächsten Text ­Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) fort – dem letzten, den ich hier nennen möchte. In ihm widmet sich Musil hauptsächlich der Abhandlung Der sichtbare Mensch des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balázs. Nebenbei erwähnt er aber auch das Problem der Analogien. Musils Meinung nach ist der Moment, in dem sie geschaffen werden, ein Ausnahmezustand zwischen dem Wirklichen und Möglichen – oder, wie er es selbst bezeichnet, „jener andere Zustand, jenseits jener Grenze zweier Welten, von der die Rede war.“203 Der Begriff des anderen Zustands ist ein Schlüsselwort, das in der Sekun­ därliteratur oft untersucht wurde.204 Ich beschränke mich hier auf eine Bemerkung, die entscheidend für meine Argumentation ist: Für Musil ist das Verbinden der Phänomene durch Analogien ein Beispiel für den anderen Zustand. Dieser andere Zustand entzieht sich Musil zufolge der sprachlichen Präzisierung, wird aber dennoch in der Kul­turgeschichte immer wieder „mit genauso großer Leidenschaft wie Ungenauigkeit

201 Siehe Musils sarkastische Bemerkung über Intuition: „Eine Frage für sich ist die Intuition. Ich beantrage, alle deutschen Schriftsteller möchten sich durch zwei Jahre dieses Wortes enthalten. Denn heute steht es so damit, dass jeder, der etwas behaupten will, was er weder beweisen kann, noch zuendegedacht hat, sich auf die Intuition beruft.“ Ders., „Geist und Erfahrung“, 1053. 202 Der Essay beginnt mit folgendem Satz: „Schiller in der Abhandlung über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen: ‚Belletristische Willkürlichkeit im Denken ist freylich etwas sehr Übles‘“. Robert Musil, „Geist und Erfahrung“, 1042. Schiller führt den Gedanken noch weiter fort und bemerkt, dass die Willkür im Denken moralisch verwerflich sei, dennoch aber dem Ästhetischen nahe liege: „Belletristische Willkürlichkeit im Denken ist freilich etwas sehr Übles und muss den Verstand verfinstern; aber eben diese Willkürlichkeit, auf Maximen des Willens angewandt, ist etwas Böses und muss unausbleiblich das Herz verderben. Und zu diesem gefahrvollen Extrem neigt die ästhetische Verfeinerung den Menschen, sobald er sich dem Schönheitsgefühle ausschließend anvertraut und den Geschmack zum unumschränkten Gesetzgeber seines Willens macht.“ Friedrich Schiller, „Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“, in Schillers Werke in zwei Bän­ den, Bd. 1, hg. v. Gerhard Stenzel, Salzburg 1951, 461. 203 Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik“, 1153. 204 Hier nur ein paar Beispiele der umfangreichen Sekundärliteratur zu diesem Thema in chronologischer Reihenfolge: Ulrich Karthaus, Der andere Zustand: Zeitstrukturen im Werke Robert Musils, Berlin 1965. Claus Hoheisel, Das Doppelgesicht der Natur: Naturwissenschaftliche Aspekte des „an­ deren Zustands“ in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, Berlin u. a. 2009. Harald Gschwandtner, Ekstatisches Erleben: Neomystische Konstellationen bei Robert Musil, München 2013. Von den vielen kürzeren Aufsätzen sei der Text von Heribert Brosthaus erwähnt, in dem er Musils Begriff des anderen Zustands systematisiert und die Unterscheidung von zwei Formen des anderen Zustands hervorhebt: die motorische und die sensible Ekstase oder auch Kontemplation. Heribert Brosthaus, „Zur Struktur und Entwicklung des ‚anderen Zustands‘ in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften“, in Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Nr. 39/1965, 388–440.

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beschrieben.“205 Musil macht es nicht viel anders. Trotz der beschworenen Unaussprechbarkeit kehrt er häufig zu diesem Thema zurück und versucht den richtigen Ausdruck dafür zu finden – auch im gerade analysierten Essay Ansätze zu neuer Äs­ thetik nähert er sich dem anderen Zustand an: Man hat ihn den Zustand der Liebe genannt, der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des Schauens, der Annäherung an Gott, der Entrückung, der Willenlosigkeit, der Einkehr und vieler andrer Seiten eines Grunderlebnisses, das in Religion, Mystik und Ethik aller historischer Völker ebenso übereinstimmend wiederkehrt, wie es merkwürdig entwicklungslos geblieben ist.206

In der langen Aufzählung steht die Liebe an erster Stelle. Sie wurde auch in den vorigen Essays als Grundlage der alternativen Zusammenhänge zwischen den Dingen in der Welt bezeichnet – als Bindemittel der Analogien, Möglichkeitsketten und Konstellationen. Es ist also nicht die von Schiller genannte „reine belletristische Willkürlichkeit“, welche die Dinge zusammenbringt, sondern der andere Zustand, eine auf die Grenzen der Sprache stoßende menschliche Grunderfahrung, die sich im Wort Liebe ausdrückt und eine Alternative zu den Kausalzusammenhängen bildet. Außerdem scheint Musil den Analogien zwei Funktionen zuzuschreiben. Erstens haben sie für ihn ein subversives Potenzial. Er verschiebt sie in den Bereich der Phantasie und Illusion, also in jene Sphäre, die er als „Störung“ bezeichnet, „bei der Elemente der Wirklichkeit zu einem unwirklichen Ganzen ergänzt werden, das Wirklichkeitswert usurpiert.“207 Analogien sind Störungen – Unterbrechungen der bekannten Denkmuster und Abweichungen von den als Norm geltenden Darstellungsschemata. Zweitens spielen sie für ihn eine verbindende Rolle. Das analoge Denken zeigt neue Möglichkeiten, Zusammenhänge zwischen den Dingen zu stiften, die zwar virtuell sind, gerade aber durch ihre sprachliche Formulierung eine gewisse Präsenz und Materialität erhalten. Die Verknüpfung von Phänomenen mithilfe einer Analogie überschreitet daher die Grenzen zwischen dem Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn. Sie befindet sich jenseits dieser Einteilung, denn sie schafft hypothetische Zusammen­ stellungen, die einen Denkprozess in Gang setzen. Dadurch werden die Dinge zwar nicht wirklich und für immer verbunden, doch das ist wenigstens vorstellbar und sie sind nicht so fern voneinander wie zuvor. Um die Doppelfunktion der Analogie – ihre störende und verbindende Rolle – und ihren Einfluss auf die Literaturauffassung zu verdeutlichen, möchte ich Schriften von Theodor W. Adorno und Paul Celan über das literarische Schaffen hinzuziehen. Auch Adorno und Celan denken nämlich über Literatur und Kunst im Sinne von Musil nach.

205 Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik“, 1144. 206 Ebd. 207 Ebd., 1140.



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Adorno entwickelt seine Vorstellung von der Literatur als Störung unter anderem in Valérys Abweichungen (1960). In diesem Aufsatz widmet er sich Paul Valérys Essayband Windstriche (fr. Rhumbs), der damals gerade in der deutschen Übersetzung erschienen war. Adorno weist auf den markanten Titel hin, den der französische Dichter für seine Überlegungen ausgewählt hat. Das Wort ist ein maritimer Fachausdruck, den Valéry in der Vorrede erklärt: Windstriche – diese Bezeichnung aus der Schiffahrtsterminologie hat einige Leute befremdet, offenbar solche, die von Wörterbüchern keinen Gebrauch machen. Unter Windstrich versteht man eine Richtung, die sich nach dem Winkel bestimmt, in welchem auf der Horizontfläche eine beliebige Gerade zum Meridian steht. […] Wie die Kompassnadel bei wechselnder Fahrtrichtung ziemlich konstant bleibt, so lassen sich die Sprünge, die wechselnden Anwendungen unseres Denkens, die Schwankungen unserer Aufmerksamkeit, die Zwischenfälle bei der Tätigkeit des Geistes, die Ablenkungen unseres Gedächtnisses, die Vielfalt unserer Wünsche, Gefühle und Impulse deuten als Abweichungen von einer irgendwie gleichbleibenden tieferen und wesent­ lichen Richtung des Geistes; der, sich selber gegenwärtig, von jedem seiner Momente unterschieden bleibt. Die Bemerkungen und Urteile, die dieses Buch ausmachen, waren für mich jedesmal solche Abweichungen von einer bestimmten, von meinem Geist bevorzugten Richtung: daher Windstriche.208

Die Metapher der Windstriche, die Abweichung markieren, übernimmt Adorno für seine ästhetische Reflexion. Die Aufgabe der Kunst sieht er darin, dass sie solche abweichenden Momente thematisiert und das, was den gängigen Denkmustern nicht entspricht, zum Ausdruck bringt. Auf diese Weise kann sie die Rezipienten verunsichern und in den „Schock des Unverständlichen“ versetzen.209 Die Abweichung betont das Nicht-Identische210 und Unpassende, die verfremdenden Elemente, die die Kunst Adornos Meinung nach vermitteln soll, um die Verständnisschemata der Menschen zu unterbrechen: Sie [die Kunst – AH] verschmilzt darum nicht bruchlos mit der totalen Rationalität, weil sie dem eigenen Begriff nach Abweichung ist, nur als solche in der rationalen Welt ihr Lebensrecht hat und die Kraft, sich zu behaupten. Wäre sie bloß identisch mit der Rationalität, sie verschwände in dieser und stürbe ab.211

208 Paul Valéry, Windstriche: Aufzeichnungen und Aphorismen, übers. v. Bernhard Böschenstein, Hans Staub, Peter Szondi, Frankfurt a. M. 1995, 7. 209 Theodor W. Adorno, „Engagement“, in ders., Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2012, 412. 210 Zur Relation zwischen Adornos Begriff des „Nicht-Identischen“ und Musils Begriff des „NichtRatioïden“ siehe Emil Walter-Busch, Geschichte der Frankfurter Schule: Kritische Theorie und Politik, München 2010, 153 f. 211 Theodor W. Adorno, „Valérys Abweichungen“, in ders., Noten zur Literatur, 170.

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In dem Essay beschäftigt sich Adorno zwar hauptsächlich mit dem Werk von Valéry, implizit setzt er sich aber noch mit einem anderen Dichter auseinander. Sein Text ist Paul Celan gewidmet und wurde 1960 in der Zeitschrift Die Neue Rundschau veröffentlicht – im selben Jahr, in dem Celan den Georg-Büchner-Preis erhielt und sich in seiner berühmten Rede Der Meridian wie Valéry einer Metapher aus dem Bereich der Navigation bediente, um über das Wesen der Dichtung und Kunst nachzudenken.212 In seinen Überlegungen, was die Poesie ausmacht, stellt er fest, dass jedes Gedicht zwar festgelegt und abgeschlossen ist, seinem Wesen nach aber eine Ergänzung braucht und nach einem Anderen strebt, was er in etwas kryptischer Weise formuliert: Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. Jedes Ding, jeder Mensch ist dem Gedicht, das auf das Andere zuhält, eine Gestalt dieses Anderen.213

Dieser These schreibt Celan ein konkretes Bild zu. Er stellt sich das Gedicht räumlich vor, als einen Ort der Begegnung, denn es hat „etwas Verbindendes, Immaterielles, aber doch Irdisches und Terrestrisches“ in sich, was er den Meridian nennt.214 Diese prägnante Metapher kann für humane Werte und die Anerkennung des Anderen stehen, denn Celans Verständnis von Poesie und vom Menschen orientiert sich an der Kategorie der Begegnung. Für Celan verbindet der Meridian weit voneinander entfernte Punkte und zeichnet symbolisch die Anziehung zwischen dem, was diametral entgegengesetzt zu sein scheint wie Ich und Du, Mensch und Ding, Gedicht und das Andere. Die Offenheit für das Andere garantiert, dass es Platz sowohl für das Du als auch für das Ich und somit auch für die Kunst gibt. Diese Vorstellung ist mit der Dialogphilosophie von Martin Buber und Emmanuel Lévinas verwandt. Im Kontext der Überlegungen zu Musil lässt sich in der Metapher des Meridians aber auch eine Konzeption von Kunst sehen, deren wichtigste Funktion es ist, die Gegensätze auf verschiedenen Ebenen miteinander zu verbinden. Während die Literatur für Celan imstande ist, den metaphorischen Meridian zu finden, heterogene Elemente in Zusammenhänge zu bringen und ihre Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, bedeutet sie für Adorno das Nicht-Identische und Inkommensurable und besteht in verfremdenden

212 Auch Ute Harbusch weist darauf hin, dass Adorno in seinem Essay über Valéry Bezug auf Celan nimmt. Sie stellt fest, dass Celan die Metapher des Meridians schon bereits 1959 in der Korrespondenz mit Nelly Sachs verwendet hat und seine Rede anlässlich des Büchner-Preises deshalb nicht als „eine Reverenz an Adorno“ gelesen werden kann. In diesem Kontext interessiert mich nicht die Entschlüsselung der vermeintlichen gegenseitigen Einflüsse von Celan und Adorno, sondern der inhaltliche Vergleich ihrer Kunstkonzeptionen. Ute Harbusch, Gegenübersetzungen: Paul Celans Übertragungen französischer Symbolisten, Göttingen 2005, 306 f. 213 Paul Celan, „Der Meridian. Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Darmstadt, am 22. Oktober 1960“, in Gesammelte Werke, Bd. 3, hg. v. Beda Allemann u. Stefan Reichert unter Mitwirkung v. Rolf Bücher, Frankfurt a. M. 2000, 197. 214 Ebd.



Ontologie der Verführung – Vergleich mit Musil 

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Unterbrechungen, die die Rezipienten in ihrer Welt- und Selbstwahrnehmung stören sollen. Musils auf der Analogie basierendes Verständnis von Literatur, die gleichzeitig Bindemittel und Störmoment enthält, scheint die Kunstkonzeptionen von Celan und Adorno zusammenzufassen und dadurch gewissermaßen die Philosophie des Dialogs und die der Differenz miteinander zu versöhnen. Seine Überlegungen zum analogen Denken haben aber nicht nur eine poetologische Dimension, sondern sie beziehen sich auch auf ontologische Fragen, die im Weiteren behandelt werden.

3.4.4 Ekstase und Verbindungsfähigkeit In den literarischen Werken von Gombrowicz und in den theoretischen Schriften von Musil wird dasselbe Thema auf ähnliche Weise zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich um die Vorstellung einer anderen Ordnung der Dinge, die eine ästhetische Alternative zur bestehenden Ontologie wäre und Kategorien wie Logik, Kausalität, Wahrscheinlichkeit oder Bewusstsein hinterfragen und ersetzen könnte. Beide Autoren ­versuchen neue Zusammenhänge in der Welt zu imaginieren und sich Prinzipien auszudenken, die andere Verbindungen zwischen den Phänomenen gestalten würden. Unabhängig davon, ob sie über ihre Konzeptionen in Prosawerken oder Essays reflektieren, bedienen sie sich in den Beschreibung der neuen ontologischen Grundlage eines ähnlichen Bilderrepertoires. Ihre Vorstellungen sind erstaunlich verwandt und zielen auf dieselbe Idee einer anderen Ontologie, die ich unter dem Begriff der Ontologie der Verführung zu subsumieren versuche. Ihre Entwürfe einer alternativen Ordnung der Dinge beschreiben sie im Zusammenhang mit der Liebe oder der Verführung, dabei versuchen sie die konventionelle Bedeutung der beiden Wörter zu erweitern. In der Forschung gibt es zwar zahlreiche Versuche, Musils Konzeption der Liebe, wie sie in seinen literarischen Werken deutlich wird, zu systematisieren;215 trotzdem bleibt es schwierig, das Bedeutungsfeld der Liebe in den Essays zu bestimmen. Musil definiert die Liebe dort nur andeutungsweise und das vor allem durch Abgrenzung von ihren gängigen Konnotationen: Sie sei jenseits von Erotik und Mystik zu denken, weder / sowohl als Eros noch / als auch als Agape. Die Liebe scheint sich zu einem Universum zu entwickeln, das alle Zuordnungen unterläuft bzw. die Einteilungen ver­ einigt. Dasselbe Verfahren der Redefinition und der semantischen Verschiebung ins Abstrakte nutzt auch Gombrowicz für sein Konzept der Verführung. Er versucht sie von der Eindeutigkeit, von der Einschließung in Moral- oder Erotikdiskurse loszulösen, und verbindet sie mit der Sphäre des Absoluten oder des säkularisierten Sakralen – sie wird bei ihm zum abstrakten Grundprinzip der Neuordnung der Dinge umgedeutet. Die Ontologie der Verführung basiert bei beiden Autoren nicht nur auf ähnlichen Vorstellungen von den alles verbindenden Kräften der Sympathie oder der Liebe.

215 Siehe in dieser Studie Fußnoten 119–122 in Kapitel 1. „Einführende Überlegungen“.

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Die neue Ordnung der Dinge setzt bei ihnen gleichermaßen mit dem ekstatischen ­Zustand des Subjekts ein. Die Ekstase lockert die Kausalzusammenhänge und löst einen Prozess des Neuordnens aus. Musil wie Gombrowicz befassen sich also mit einem Thema, das im 20. Jahrhundert sowohl in der Literatur als auch in der Philosophie häufig aufgegriffen wurde, und beziehen sich direkt auf diese Denktradition, denn sie verwenden zur Beschreibung des ekstatischen Gefühls die bekannten Motive. Der ­andere Zustand alias Liebe bei Musil oder das Auftreten der Verführungskraft bei G ­ ombrowicz werden als utopische Momente mit starker emotionaler Aufladung sowie Affinität zu mystischen und erotischen Erfahrungen dargestellt. Der Augenblick, in dem die Konstruktion neuer Zusammenhänge beginnt, ist bei beiden Autoren eine kurz andauernde Grenzerfahrung. In Pornographie wird der IchErzähler plötzlich und unerwartet von einer Anziehungskraft ergriffen. Den plötz­ lichen Charakter des anderen Zustands, der auch die Liebe genannt wird, beschreibt Musil wie folgt: Bekanntlich ist dieser Zustand, außer in krankhafter Form, niemals von Dauer; ein hypothetischer Grenzfall, dem man sich annähert, um immer wieder in den Normalzustand zurückzufallen, und eben dies unterscheidet die Kunst von der Mystik, dass sie den Anschluss an das gewöhnliche Verhalten nie ganz verliert, sie erscheint dann als ein unselbständiger Zustand, als eine Brücke, die vom festen Boden sich so wegwölbt, als besäß sie im Imaginären ein Widerlager.216

Die ekstatische Abweichung vom Normalzustand ist vorübergehend und muss wieder ins Normale umschlagen. Auf den Aspekt der Flüchtigkeit weist auch Gombrowicz hin, das Gefühl von unwiderstehlicher Anziehung endet bei seinem Ich-Erzähler ganz schnell: „Und als ich begriffen hatte, dass es nur (ein Junge) war, begann ich, mich gewaltsam aus meiner Ekstase zurückzuziehen“ (P 25). Mit dem Ende der Ekstase beginnt hier aber die Einführung der anderen Ordnung der Dinge. Der Ich-Erzähler konstruiert die Welt aus Konstellationen und aus auf Ähnlichkeiten beruhenden Verbindungen, die er selbst erfindet, um das ekstatische Gefühl der Verführung zu reaktivieren. Die Möglichkeit einer Wiederholung des anderen Zustands ist auch bei Musil nicht ausgeschlossen, das signalisiert die Metapher der Brücke. Der andere Zustand ist momenthaft zu denken, als unermüdliches Streben, als Annäherung und anschließender Rückzug, als permanentes Hin-und-Her-Schwanken dazwischen. Die ekstatischen ­Augenblicke der Liebe und Verführung, in denen bei Musil und Gombrowicz die ­Ontologie der Verführung erscheint, kann man mit Karl-Heinz Bohrer als „Utopien des Ästhetischen“ bezeichnen.217

216 Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik“, 1154. 217 Die Utopien des Ästhetischen charakterisieren für Karl-Heinz Bohrer die Prosa der Moderne, als Beispiele nennt er Musils anderen Zustand, Prousts mémoire involontaire oder Joyces Epiphanie. Vgl. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, 180–218 (Kapitel „Utopie des Augenblicks und Fiktionalität. Die Subjektivierung von Zeit in der modernen Literatur“).



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Die andere Ordnung der Dinge zeichnet sich nicht nur durch ihr plötzliches und kurzes Auftreten aus. Im Zentrum der Konzeptionen von Gombrowicz und Musil steht auch eine starke und intensive Gefühlsregung des verbindenden Subjekts, das in den Prozess des Schaffens von Zusammenhängen selbst miteinbezogen ist. Der Moment emotionaler Erregung weckt Assoziationen mit der Mystik, mit denen beide Autoren auch explizit und ironisch spielen. Musil beschreibt den anderen Zustand als profane Form der Unio mystica, die die Grenzen zwischen Innen und Außen verwischt und eine Vereinigung bzw. „ein geheimnisvoll schwellendes und ebbendes Zusammenfließen unseres Wesens mit dem der Dinge und anderen Menschen“ ermöglicht.218 Diese Art der Mystik sei aber keine Form von Religiosität: Der andere Zustand existiere zwar in gewissen Verformungen auch in der Kirche, Kunst oder Ethik, diese jedoch seien „völlig verworren und korrupt“.219 In Pornographie wird die Überwältigung durch die Verführungskraft mit dem Ausruf „Gott und Wunder!“ (P 25) begrüßt und ähnlich wie bei Musil wie eine mystische Verzückung dargestellt, die sich kaum in Worte fassen lässt. Beide Autoren distanzieren sich jedoch von der Mystik, indem sie den ekstatischen Beginn ihrer anderen Ordnungen der Dinge in die Erotik überführen. Ihr Verständnis von Erotik und Ekstase ist freilich ein besonderes; sie beschreiben einen Exzess, der an einen perversen Ausnahmezustand und eine gewalttätige Anomalie grenzt, an Maßlosigkeit, Unverschämtheit und Verbrechen. Dieser Exzess markiert auch die Befreiung von bestehenden Normen, von der gegebenen Ontologie. In Gombrowicz’ Roman Por­ nographie hat nicht nur der lüsterne Wunsch des Ich-Erzählers, die beiden jungen Leute zu verkuppeln, diese Funktion; auch der Mord, der zum Schluss verübt wird, soll die neue Ordnung begründen und bestätigen – übrigens ähnlich wie die Tötung der Katze in Kosmos. Diesen Aspekt des anderen Zustands führt Musil in seinen literarischen Werken deutlicher als in den Essays aus. Erinnert sei an dieser Stelle an den Fall des Sexualmörders Moosbrugger und an das Motiv des Inzestes bzw. der „hermaphroditischen Ich-Begegnung“ in Der Mann ohne Eigenschaften.220 In der exzessiven Ausuferung der Ekstase kann man, wie Karl-Heinz Bohrer, eine Transzendierung des

218 Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik“, 1144. 219 Ebd., 1145. 220 Bohrer bezeichnet Musils Motiv des Inzestes als hermaphroditische Ich-Begegnung und sieht darin keinen Ausdruck der „spätromantischen Sensation der Dekadenz“, sondern „eine Allegorie der kulturellen Vorzeit, wie sie Benjamin in Bezug auf Goethes Faust-II-Symbolik in Über einige Motive bei Baudelaire zitiert.“ Ähnliche Verbindungen des „erotischen Augenblicks“ und der „kulturanthropologischen Regression“ findet er auch bei Joyce in der Begegnung zwischen Stephen Dedalus und dem Vogelmädchen. Zu Musil bemerkt er, dass das Motiv des Hermaphroditischen den ganzen Roman Der Mann ohne Eigenschaften durchziehe, in der Symbolik beiläufig präsent sei und in den früheren Entwürfen zum Roman explizit behandelt werde. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, 207 f. Vor allem Fußnote 161.

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„herkömmlichen Topos der erotischen Leidenschaft“221 oder einen Ausdruck der ­Ontologie der Verführung sehen. Abschließend noch eine Bemerkung zu den Begriffen Ekstase und Exzess: Der ekstatische Augenblick des Aus-sich-Heraustretens und des Identitätsverlustes wird von Gombrowicz und Musil auf die Spitze getrieben, so dass der extreme Zustand des Subjekts in exzessives Verhalten umschlagen muss. Diese Wende könnte man als einen Schlusspunkt interpretieren – als ein anarchisches Ende, das zum Umsturz und Zusammenbruch der fixen Ordnung der Dinge führt, aber nichts Neues generiert. Gerade das ist jedoch bei beiden Autoren nicht der Fall, denn die Verbindung von Ekstase und Exzess stimuliert bei ihnen die Genese einer neuen ontologischen Grundlage und liefert den entscheidenden Impuls dafür, andere Zusammenhänge zu kreieren. Um diesen Augenblick der Wende vom Exzess zum Neuanfang festzuhalten und näher zu beleuchten, will ich noch einmal zum Begriff der Ekstase zurückkehren, mit dem die Ontologie der Verführung verbunden ist. Der ekstatische Zustand ist ein Topos, mit dem sich Literatur und Philosophie seit jeher beschäftigen. Man definiert ihn etwa als die Erfahrung der Vereinigung, in der das Subjekt mit der Welt zu einer Einheit verschmilzt (z. B. Martin Buber), oder als Moment der Desintegration, Auflösung aller Verbindungen und „Zerschleuderung der Welt“ (Gottfried Benn) oder man versucht diese beiden Positionen in Einklang zu bringen (Hermann Broch).222 Die Ausführungen von Michael Hampe sind ein aktuelles Beispiel aus der Fülle von Defini­ tionen, auf das ich kurz eingehen möchte. In seiner Arbeit Die Lehren der Philosophie (2014) betont Hampe nachdrücklich das Potenzial der Ekstase für das Schaffen von neuen Zusammenhängen, auf das auch Gombrowicz und Musil anspielen. Hampe stellt zunächst tradierte Vorstellungen vom ekstatischen Zustand vor. Er setzt ihn mit dem Verschwinden der Grenze „zwischen einer repräsentierenden Innenwelt und

221 Ebd., 207. Bohrer stellt die Frage, ob Musils anderer Zustand eine reflexive „Emphase des Bewusstseins“ sei oder ob ein „Verlust des reflexiven Moments“ stattfinde (ebd., 205). Ich würde darauf antworten, dass man hier mit einer anderen Form von Reflexivität zu tun hat, der man sich mithilfe der Kategorie der Verführung annähern kann. 222 Die genannten Namen sind selbstverständlich nur wenige Beispiele aus einer großen Zahl von Arbeiten über die Ekstase. In Ekstase und Bekenntnis, der Einleitung zu der 1909 veröffentlichten Anthologie Ekstatische Konfessionen, spricht Martin Buber von der Ekstase als „Einheit von Ich und Welt“, als Rückkehr des Subjekts aus „seiner früheren Vielheit“. Martin Buber, Ekstatische Konfes­ sionen, Jena 1909, XVII–XVIII. Für Gottfried Benn ist die Ekstase hingegen mit dem Zersprengen der Zusammenhänge und der „Zerschleuderung der Welt“ verbunden. Gottfried Benn, „Einleitung“, in ders. (Hg.), Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts, München 1962, 14. Hermann Broch verbindet Bubers „mystischen Anspruch“ und Benns „rauschhaftes Sein“. Vgl. Hubertus Venzlaff, Hermann Broch: Ekstase und Masse. Untersuchungen und Assoziationen zur politischen Mystik des 20. Jahrhunderts, Bonn 1981, 15–17. Mehr zum Thema Ekstase bei Buber und Broch vgl. Ruth Bendels, Erzählen zwischen Hilbert und Einstein: Naturwissenschaft und Literatur in Hermann Brochs „Eine methodologische Novel­ le“ und Robert Musils „Drei Frauen“, Würzburg 2008, 186–201.



Ontologie der Verführung – Vergleich mit Musil 

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einer repräsentierten Außenwelt“ gleich, mit der „Kontinuität der Wahrnehmung“ und der „Einheit von Erfahrungs- und Wirklichkeitsstrom“.223 Weiter hebt Hampe hervor, dass die ekstatischen Zustände schnelle Standpunktwechsel ermöglichen.224 Das trägt zum Verschwinden des substanziellen Charakters der Wirklichkeit und zur Selbstauflösung des Subjekts bei, das sich lediglich durch die Fähigkeit, Verbindungen herzustellen, bestimmen lässt: Dieser ekstatische Zustand ist keiner der Liebe im eigentlichen Sinne, weder der erotischen noch der agapischen oder sympathischen. […] Doch das konkrete Bewusstsein von sich selbst als Fähigkeit des Verbindens ist etwas anderes als Sympathie oder Liebe. Es geht mehr um einen Fokuswechsel der Aufmerksamkeit, eine neue Figur-Hintergrund-Beziehung im Verhältnis von Selbst- und Weltwahrnehmung. […] In den Zuständen der Sympathie und Liebe liegt der Fokus auf dem, mit dem sich die betreffende Subjektivität jeweils verbindet. In der ekstatischen Selbstauflösung tritt dagegen die Tätigkeit des Verbindens selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Standpunkte, Blickwinkel und Behauptungen, die festgehalten werden, mit denen „man“ sich identifiziert, erscheinen dann plötzlich als eine Illusion.225

Hampe unterscheidet zwischen der „Fähigkeit des Verbindens“ und der Liebe bzw. Sympathie – also Begriffen und Motiven, die in Texten von Musil und Gombrowicz ausdrücklich vorkommen und zentral für ihre literarischen Konzeptionen der Ontologie sind. Beide Autoren scheinen auf dieselbe Auffassung wie Hampe zu zielen. Die ekstatische Vorstellung von der Wirklichkeit relativiert Hampes Meinung nach ihre Substantialität, verflüssigt sie und löst die Grenzen zwischen Dualismen auf. Angesichts dieser Ordnung der Dinge, die ich hier Ontologie der Verführung nenne, wird das Subjekt zu „reiner Verbindungsfähigkeit“.226 Die These, dass das Erleben des Selbst zur Fähigkeit wird, Verbindungen herzustellen, führt Hampe am Beispiel der eigenen Biographie vor, indem er die Städte aufzählt, in denen er bisher gelebt hat. Nachdem er eine Kette von Lebensstationen geschildert hat, stellt er fest, dass diese sein Wesen wiedergibt: Wenn er versuche, sich nur auf sich selbst zu beziehen und

223 Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie: Eine Kritik, Berlin 2014, 391. Als Beispiele für Schilderungen von Ekstasen zitiert er unter anderem Ernst Mach und schreibt, dass Machs Philosophie des neutralen Monismus zufolge das Subjekt und die Welt aus denselben Elementen aufgebaut seien, die nur „zu unterschiedlichen Konstellationen“ arrangiert würden. In diesem Zusammenhang kann man hinzufügen, dass Gombrowicz und Musil hingegen gerade die heterogenen und inkommensurablen Elemente in Analogien, Möglichkeitsketten oder Konstellationen miteinander verbinden und dabei nicht die Homogenität ihr Bindemittel ist, sondern die Liebe oder die Kraft der Sympathie und Antipathie. 224 Zur Verdeutlichung seiner Überlegungen zur Selbstauflösung bedient sich Hampe der Metapher des Propellers und bemerkt: „Bei der Oszillation verschwindet es [das Subjekt – AH] als ein bestimmbares Etwas, so wie die Blätter eines Propellers, wenn er sich schnell genug dreht, für unser Sehen verschwinden.“ Ebd., 392 f. 225 Ebd., 393 f. 226 Ebd., 401.

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dabei auf alle Verbindungen zu anderen Wesen zu verzichten, so sei er beim Hinschauen in sich nicht etwas, sondern leer und finde in sich nichts außer der Verbindungsfähigkeit vor. Der Mensch definiert sich durch die Lust am Verbinden, durch das Schaffen von Analogien, Möglichkeitsketten und Konstellationen. Oder – in Anlehnung an Pornographie metaphorisch formuliert – durch das Verkuppeln der Phänomene, durch das Initiieren von Verführungsakten, wobei der Verführer selbst zum Verführten wird. Dieses prekäre Verhältnis von Initiierung und Anteilnahme scheint Hampe mit der neuen Figur-Hintergrund-Beziehung zu meinen.

3.5 W  echselspiel zwischen Partizipation und Separation auf der Erzählebene Mit den bei der Analyse von Musils Essays erarbeiteten Begriffen möchte ich im folgenden Teil wieder zu Gombrowicz’ Roman Pornographie zurückkehren. Bisher hatte sich herausgestellt, dass die Beschaffenheit der Welt in diesem Werk der Logik und Kausalität entkommt. Die Sinnzusammenhänge werden hier von Anziehungskräften zwischen den Dingen determiniert. Die Elemente der Wirklichkeit werden nicht einzeln betrachtet; sie sind nicht autark, sondern stets in Relationen der Zuneigung oder Abneigung zueinander. Dafür wurde der Begriff der Ontologie der Verführung geprägt. Wie sich das Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie auf die Erzählsituation auswirkt, wird im Weiteren zu untersuchen sein. Gombrowicz’ Ich-Erzähler steht in einem besonderen Verhältnis zu den anderen Romanfiguren, vor allem zu Friedrich. Die Beziehung der beiden war schon Gegenstand mehrerer Studien – in letzter Zeit analysiert man sie häufig aus der Perspektive der queer theory.227 In meiner Analyse möchte ich mich jedoch auf die Erzählebene konzentrieren und in fünf Abschnitten versuchen, die sich dort abspielende Dynamik zu erfassen und ihre Bedeutungen zu entschlüsseln. Den Ausgangspunkt bildet ein

227 Dieser Lesart zufolge sind es homoerotische Phantasien, die die Hauptfiguren verbinden und auf der Handlungsebene durch die Intrige ausgetragen werden. Der Ich-Erzähler und Friedrich arbeiten zusammen an einem perversen Plan, was ihre verborgenen Wünsche im übertragenen Sinne erfüllt. Vgl. z. B. German Ritz, „Język pożądania u Witolda Gombrowicza“ [Die Sprache des Begehrens bei Witold Gombrowicz], in Pogranicza Nr. 5/2000, 77–90. Ewa Płonowska Ziarek (Hg.), Gombrowicz’s Grimaces: Modernism, Gender, Nationality, Albany 1998; dort vor allem der dritte Teil mit dem Titel „Gombrowicz’s Provocations: National Forms, Queer Sexualities“ mit folgenden Aufsätzen „The Scar of the Foreigner and the Fold of the Baroque: National Affiliations and Homosexuality in Gombrowicz’s Trans-Atlantyk“ von Ewa Płonowska Ziarek; „Witold Gombrowicz’s Struggle with a Heterosexual Form: From a National to a Performative Self“ von Agnieszka M. Sołtysik und „Witold, Witold, and Witold: Performing Gombrowicz“ von Allen Kuharski. Siehe ebenso die Rezension dieser Publikation von Olaf Kühl, in Zeitschrift für Slawistik Nr. 49.1/2004, 116–120. Verfügbar unter: http:// www.similitudo.de/Fiala-Plonowska-Ziarek-Rezension.htm (25. Mai 2017).



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Essay von Musil, in dem er den ethnologischen Begriff der Partizipation umreißt. Der scheint ein neues Licht auf die Erzählsituation in Gombrowicz’ Roman zu werfen, die ich im zweiten Schritt mit narratologischen Ansätzen, insbesondere mit der Terminologie von Boris Uspenskij, genauer beschreiben werde. Im dritten Teil ziehe ich ein frühes Prosawerk von Gombrowicz heran, die 1926 verfasste Erzählung Der Tänzer des Rechtsanwalts Landt, in der sich der Autor einer ähnlichen Erzählstrategie wie in Por­ nographie bedient. Der vierte Teil ist der Interpretation dieser besonderen Form der Ich-Erzählung gewidmet, die diesmal mit kulturwissenschaftlichen Begriffen wie Empathie oder mimetisches Begehren gedeutet wird. Zum Schluss versuche ich Gombrowicz’ Erzählweise im Kontext seiner Kunst- und Künstlerkonzeption auszulegen, sie zwischen symbolischen Figuren wie Pícaro und Vivisector zu verorten und mithilfe des Begriffs der Außerhalb-Befindlichkeit von Michail Bachtin schärfer zu konturieren.

3.5.1 Partizipation als andere Logik In den Essays versucht Musil seine Auffassung von den Verbindungen zwischen den Dingen, die dem kausalen Denken entkommen und sich daher nur schwer verbalisieren lassen, möglichst präzise auszudrücken. Er führt den Begriff der Liebe ein, der die emotionale Dimension der neuen Logik und die ekstatische Verfasstheit des Subjekts umschreiben soll. In seiner Konzeption fungiert die Liebe als Bindemittel für die neuen Zusammenhänge und erinnert an die Anziehungskräfte, die in Gombrowicz’ Pornogra­ phie die Welt neu ordnen. Musil sucht zudem nach theoretischen Reflexionen, die sein Projekt plausibilisieren können, und greift auf Ethnologie zurück. In dem Essay An­ sätze zu neuer Ästhetik verbindet er Analogien und Möglichkeitsketten – seine bereits besprochenen Alternativen zur Kausalität – mit dem Konzept des Ursprünglichen und beschreibt sie als Denkstrukturen, die der menschlichen Natur eigen, jedoch im Laufe der Evolution verdrängt worden seien und nur noch als atavistische Eigenschaft bei vorschriftlichen Kulturen oder in der Kunst gefunden werden könnten: Ihre letzte Wurzel haben alle diese Mittel in sehr alten Kulturzuständen und insgesamt bedeuten sie eine außerbegriffliche Korrespondenz des Menschen mit der Welt und abnormale Mitbewegung, deren man übrigens in jedem Augenblick inne werden kann, wenn man, vertieft in ein Kunstwerk, plötzlich kontrolliertes Normalbewusstsein einschaltet. Liest man die genialen Beschreibungen, welche Lévy-Bruhl in seinem Buch Les fonctions mentales des sociétés primi­ tives vom Denken der Naturvölker gegeben hat, namentlich die Kennzeichnung jenes besonderen Verhaltens zu den Dingen, das er Partizipation nennt, so wird der Zusammenhang mit dem Kunsterlebnis an vielen Stellen derart fühlbar, dass man glauben kann, in diesem eine spätere Entwicklungsform jener Frühwelt vor sich zu haben.228

228 Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik“, 1141.

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Ähnlich wie seine Zeitgenossen – es sei etwa an Sigmund Freuds Totem und Tabu (1913) erinnert – beruft sich Musil auf ethnologische Arbeiten. Explizit bezieht er sich auf die Theorien von Lucien Lévy-Bruhl (1857–1939) und dessen Gesetz der Partizipation, auf das ich hier eingehen möchte, weil es für Musil entscheidend zu sein scheint.229 Der französische Ethnologe und Philosoph prägte diesen Begriff in seinem 1910 veröffentlichten Hauptwerk, das als Das Denken der Naturvölker ins Deutsche übersetzt wurde. Lévy-Bruhl befasst sich hier mit der Denkweise vorschriftlicher Gesellschaften, die sich ihm zufolge mit den Gesetzen der westlichen Logik nicht erklären lasse. Aus den Analysen dieses Denkens gehe hervor, dass ihm die Gesetzmäßigkeit der Partizipation zugrunde liege: [K]urzum verzichten wir darauf, ihre Geistestätigkeit auf eine niedrigere Stufe der unseren zurückführen zu wollen. Dagegen ist es angezeigt, diese Verbindungen für sich zu betrachten und zu untersuchen, ob sie nicht von einem allgemeinen Gesetz abhängen, einem gemeinsamen Fundament dieser mystischen Zusammenhänge, welche für den Geist der Primitiven so oft zwischen den Wesen und den Gegenständen gegeben sind. Nun gibt es ein Element, das in diesen Zusammenhängen niemals fehlt. Es liegt ihnen allen eine „Partizipation“ (Anteilnahme) zwischen den Wesen und den Gegenständen, die in einer Kollektivvorstellung verknüpft sind, in verschiedenen Formen und Graden zugrunde.230

Es handelt sich um die Idee einer Anteilnahme des Individuums am Sein anderer Personen oder Dinge, wobei „die Gegenstände, Wesen, Erscheinungen auf eine uns unverständliche Weise sie selbst und zugleich etwas anderes als sie selbst sein können.“231 Der Glaube an Partizipation, daran, dass man sich in andere Dinge versetzen könne, macht Lévy-Bruhl zu einem allgemeinen Ordnungsprinzip, das die Denkweise aller vorschriftlichen Kulturen erklären soll. In der Einleitung zur deutschen Buchausgabe veranschaulicht der Übersetzer und Herausgeber Wilhelm Jerusalem die Partizipation mit dem folgendem Bild: Das Kind hat Anteil an seinem Vater, das bedeutet, dass alles, was der Vater tut oder isst, sich auf das Kind auswirken muss und dass eine solche

229 Zum Einfluss ethnologischer Untersuchungen und der Theorien von Lévy-Bruhl auf Musils Werk vgl. das Kapitel „Ethno-Poetologie“ in Ulrich Johannes Beil u. a. (Hg.), Medien, Technik, Wis­ senschaft: Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit, Zürich 2011. Vgl. hier insbesondere die Aufsätze von Brigitte Weingart, „Verbindungen, Vorverbindungen. Zur Poetik der ‚Partizipation‘ (Lévy-Bruhl) bei Musil“, 19–46; von Marcus Hahn, „Zusammenfließende Eichhörnchen. Über Lucien Lévy-Bruhl und die Ethnologie-Rezeption Robert Musils“, 47–72; und von Ueli Boss, „‚Mutterrecht‘ im Mann ohne Eigenschaften“, 73–94. Vgl. auch die komparatistische Studie, die Musils Faszination von ethnologischen Untersuchungen und Primitivismus in der Kunst im Kontext anderer Werke der Prosa der Moderne verortet: Nicola Gess, Primitives Denken: Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literari­ schen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München 2013. 230 Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, übers. v. Paul Friedländer, Wien u. Leipzig 1926 (2. Auflage, die Erstausgabe 1921), 57. 231 Ebd., 58.



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Abhängigkeit von den Betroffenen lebhaft gefühlt wird.232 Lévy-Bruhl belegt seine These mit Ergebnissen aus ethnologischen Feldforschungen, weitere Beispiele und Beschreibungen von der Vorstellungswelt bestimmter Stämme folgen dann in seiner nächsten Abhandlung La mentalité primitive [Die geistige Welt der Primitiven], die 1922 erschien und eine Art Forstsetzung und Erweiterung seiner theoretischen Ausfüh­ rungen ist. Lévy-Bruhls Schriften sind von einem außerordentlich kolonialistischen Blick durchdrungen, der die ganze Welt pauschal und verallgemeinernd in wir und les s­ auvages unterteilt. Er baut seine Theorie auf dieser radikalen Opposition auf; sein Verständnis von Kultur ist ausgesprochen eng und homogen, was man ihm oft vor­ geworfen hat.233 Die Unterscheidung zwischen der europäischen Logik und den Vorstellungen außereuropäischer eroberter Gesellschaften stellt er als eine unüberwindbare Grenze dar. In der bereits erwähnten Einleitung weist Wilhelm Jerusalem darauf hin, dass Lévy-Bruhl stets das Mysteriöse und Unverständliche am Denkmodus der anderen Kulturen hervorhebe: Es ist die Rede vom „geheimnisvollen Teilhaben der heterogensten Dinge aneinander“, von „mystischen“ Kräften und Partizipationen, die „für unser Denken ganz unzusammenhängende Vorgänge“ seien.234 Lévy-Bruhl betont zwar, dass die Denkstrukturen der Naturvölker aus der Sicht der Europäer kaum

232 Wilhelm Jerusalem, „Vorbemerkungen des Herausgebers“, in Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, XI. Jerusalem war Philosoph und Professor an der Universität Wien, daher vielleicht auch die besonders breite Rezeption der Abhandlung unter Wiener Intellektuellen und Musils Interesse daran. 233 Gegen die Ansichten von Lévy-Bruhl polemisierte u. a. sein Schüler Claude Lévi-Strauss, der in einer Abhandlung aus dem Jahr 1962 ebenfalls die Denkweise naturnah lebender Völker untersuchte und dafür den Begriff des wilden Denkens (fr. pensée sauvage) prägte. Seine Hauptthese war, dass es grundsätzlich keine Antinomie zwischen der logischen und prälogischen Mentalität gebe. Das wilde Denken basiere auf mythisch-magischen Vorstellungen von einem alles umfassenden Zusammenhang zwischen den Dingen. Diese holistische Weltanschauung entstehe im Prozess phantasievoller Kombination, durch die Technik des Bastelns oder der bricolage von Elementen des Erlebten und Wahrgenommenen, die mithilfe der Phantasie zu einer neuen, unhinterfragbaren Ganzheit zusammengefügt würden. Zwischen diesem und dem modernen westeuropäischen Verständnis bestehe aber kein wesentlicher Unterschied, denn beide Denkweisen würden demselben Prinzip folgend die Welt nach einem universellen Verfahren ordnen. Sich von Lévy-Bruhls Theorie abgrenzend schreibt er über die Gleichwertigkeit der beiden Arten der Logik: „Das wilde Denken ist in demselben Sinne und auf dieselbe Weise logisch, wie es unser Denken ist, aber nur dann, wenn es sich auf die Erkenntnis einer Welt richtet, der es zugleich physische und semantische Eigenschaften zuerkennt. Ist dieses Missverständnis auch beseitigt, so bleibt immerhin die Tatsache bestehen, dass dieses Denken, anders als Lévy-Bruhl glaubt, mit den Mitteln der Vernunft und nicht der Affektivität arbeitet; mit Hilfe von Unterscheidungen und Gegensätzen, nicht durch Verschmelzung und Partizipation. Obwohl der Ausdruck damals noch nicht gebräuchlich war, zeigen zahlreiche Texte von Durkheim und Mauss, dass sie das sogenannte primitive Denken als ein quantifiziertes Denken begriffen hatten.“ Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, übers. v. Hans Naumann, Frankruft am Main 1973, 308. 234 Wilhelm Jerusalem, „Vorbemerkungen des Herausgebers“, XI.

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­ achvollziehbar seien, aber er scheint seine Untersuchungen gleichzeitig unbewusst n zu konterkarieren und die Dualität der Denkmodi etwas aufzuweichen. „Die Geistesbeschaffenheit der niedrigen Gesellschaften“ sei „zweifellos nicht so unzugänglich“,235 denn sie basiere nicht auf „willkürlichen Widersprüchen“ und man könne sie weder „antilogisch“ noch „alogisch“ oder „absurd“ nennen.236 Mit solchen Aussagen versucht Lévy-Bruhl die außereuropäischen Denkweisen so zu präparieren, das sie sich beherrschen, erobern und kolonialisieren lassen. Ein etwas anderer Ton findet sich aber in seiner zweiten Studie, der bereits genannten Weiterführung seiner Theorien. Schon in den methodologischen Bemerkungen heißt es, dass er „in die Denkformen und Handlungsprinzipien der Menschen eindringen [möchte], die wir sehr wenig angemessen primitiv nennen und die uns gleichzeitig so fern und so nah sind.“237 Das Verb „eindringen“ verweist auf einen gewaltsamen Akt, die signalisierte Dialektik der Nähe und Ferne zeigt aber, dass der Gegenstand seiner Abhandlung seine Metho­ dologie beeinflusst – dass auch er eine Art von Partizipation, das Hineindenken in die Vorstellungswelt der Naturvölker anstrebt. Diese Tendenz zur Teilhabe am Gegenstand der Beschreibung deutet sich in diesem Text von Lévy-Bruhl nur an; erst später etablierte sie sich in der ethnologischen Feldforschung als Methode der teilnehmenden Beobachtung.238 Man kann sie aber auch als Schreibverfahren und Thema metapoetologischer Reflexion in der Prosa der Moderne wiederfinden. Musil erwähnt das Gesetz der Partizipation ausdrücklich; er sieht darin eine Art Verbalisierung seiner Überlegungen zur Kunst und zu den alternativen Zusammenhängen in der Welt. Diese hatte er zunächst intuitiv mit dem Begriff der Liebe bezeichnet, weil sie auf einer emotionalen Involviertheit des Subjekts basieren. In Denken der Naturvölker setzt sich Lévy-Bruhl mit ähnlichen Phänomenen auseinander. Unter ­Partizipation versteht er das Schaffen von Verbindungen, die dadurch zustande ­kommen, dass man sich in ein Ding versetzt, hineindenkt und mit ihm mitfühlt – sich sozusagen von ihm verführen lässt. Diesen Prozess überträgt Musil auf sein ästhe­

235 Lucien Lévy-Bruhl, Das Denken der Naturvölker, 52. 236 Ebd., 59. 237 Lucien Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, übers. v. Margarethe Hamburger, München 1927, 3. 238 Über die teilnehmende Beobachtung als Methode schreibt Bronisław Malinowski in der Einführung zu Argonauts of the Western Pacific (1922), der Ethnograf solle nicht nur beobachten, sondern auch „manchmal Kamera, Notizbuch und Bleistift zur Seite zu legen und sich selbst am Geschehen beteiligen.“ Bronisław Malinowski, Argonauten des westlichen Pazifik: Ein Bericht über Unternehmun­ gen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von Melanesisch-Neuguinea, übers. v. Heinrich Ludwig Herdt, Frankfurt a. M. 1979, 45. Diese Methode entwickelt Clifford Geertz in seinem bekannten Essay Thick Description: Toward an Interpretive Theory of Culture (1973) weiter. Das teilnehmende Beobachten hängt bei ihm mit dem Prozess der Interpretation zusammen. Vgl. Clifford Geertz, Dichte Be­ schreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. v. Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann, Frankfurt a. M. 1987, 7–43.

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tisches Programm. Die Rolle der Kunst sei es, einen solchen Denkmodus zu thematisieren und bei den Rezipienten in Gang zu setzen. Das Gesetz der Partizipation dürfe sich jedoch nicht nur auf die ästhetische Erfahrung beschränken: „Im Kern steckt aber darin ein anderes Verhalten zur Welt.“239 Partizipation bedeutet für ihn demnach eine grundsätzlich andere Art der Wahrnehmung, eine neue Sicht auf die Wirklichkeit, eine alternative Denkweise und Ordnung der Dinge, weshalb ich Partizipation hier als ­Synonym für die Ontologie der Verführung betrachte. Musils Verweis auf Partizipation ist bei Gombrowicz gewissermaßen literarisch umgesetzt. Die alternativen Zusammenhänge und Konstellationen, die der Ich-Erzähler in Pornographie schafft, assoziiert er allerdings nicht mit dem Naturzustand des Menschen. Ebenso wenig präsentiert er Kausalität und Logik als Resultat der Kultur oder Attribut der Zivilisation, das der anderen Ordnung der Dinge als dem ursprünglichen menschlichen Denkmodell entgegengesetzt werden könnte. Die angedeutete Dichotomie erscheint bei Gombrowicz eher als ein komplexes und prekäres Spannungsverhältnis. In seinem Roman kommen Motive vor, in denen Kultur und Natur eng miteinander verquickt sind. Die Neuordnung der Welt beginnt etwa mit dem Versuch, mithilfe künstlicher und künstlerischer Methoden eine quasi natürliche Anziehungskraft zwischen den beiden Jugendlichen herzustellen und die Natur so zu überlisten, dass „diese … na … die Natur … keinen Streich mehr spielen“ wird (P 185). Die Partizipation ist also keine Rückkehr zum Ursprünglichen und Intakten, sondern sie manifestiert sich im Verhältnis der Protagonisten zueinander. Das soll im Folgenden näher beleuchtet werden, weil hier ein neuer Aspekt der Ontologie der Verführung zum Ausdruck kommt.

3.5.2 Erzählstandpunkt in Pornographie Die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler Witold und dem Protagonisten Friedrich, die den vermeintlichen Verführungsakt gemeinsam konspirativ zu initiieren versuchen, kann mit dem von Lévy-Bruhl beschriebenen Prinzip der Partizipation untersucht werden. Pornographie ist konsequent aus der Perspektive des Ich-Erzählers ­geschrieben. Schon der erste Satz des Romans lautet: „Ich werde euch ein anderes Abenteuer erzählen, wohl eines meiner fatalsten“ (P 9). In dieser direkten Hinwendung an die Leserschaft deutet sich die Anspielung auf den Stil der gawęda (vom poln. Verb gawędzić – plaudern, sich gemütlich unterhalten) an – einer Erzählform, die in der Forschung als „eine spezifisch polnische Erscheinung“240 gilt. Sie ahmt mündliche

239 Robert Musil, „Ansätze zu neuer Ästhetik“, 1141. 240 Alfred Gall, „Die ‚gawęda‘ als literarisches Medium der Gedächtnispolitik: Die Pamiątki Soplicy von Henryk Rzewuski“, in Alfred Gall u. a. (Hg.), Romantik und Geschichte: Polnisches Paradigma, eu­ ropäischer Kontext, deutsch-polnische Perspektive, Wiesbaden 2007, 108 f. Gall hebt die Besonderheit

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Überlieferung nach, ist meist im Plauderton gehalten und hat ihre Ursprünge im ­Barock, in der sarmatischen Kultur des Landadels (poln. szlachta).241 Man kann den ersten Satz von Pornographie unter narratologischem Aspekt betrachten und der ­Einteilung von Franz Karl Stanzel folgend als klassisches Beispiel einer Ich-Erzähl­ situation bezeichnen, das in derselben Gruppe wie etwa Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull zu verorten wäre, denn es handelt sich hier auch um eine Retrospektive mit Zentralstellung des Ich-Erzählers.242 Mit Gerard Genette könnte man ergänzen, dass es eine rückblickende Narration des autodiegetischen Erzählers mit interner Fokalisierung ist: Der Ich-Erzähler ist zugleich Protagonist auf der Ebene der Handlung und erzählt im Nachhinein alle Geschehnisse aus seinem Blickwinkel.243 Im weiteren Verlauf des Romans scheint die Erzählsituation freilich nicht mehr so eindeutig zu sein. Um die Komplikationen in der Ich-Erzählung zu erläutern und präzise zu benennen, möchte ich mich der Begriffe bedienen, die Boris Uspenskij in seiner Poetik der Komposition (1970) einführt. Dort entwickelt er eine intermediale Theorie und ­Typologie des Standpunkts in den darstellenden Künsten, der für ihn „das zentrale

der Erzählgattung gawęda hervor, merkt aber gleichzeitig an, dass ihr der russische Erzählstil skaz (eine ebenso unübersetzbare Gattungsbezeichnung, vom russ. Verb „сказать“ – sagen) ähnelt, der auch die mündliche Kommunikation simuliert. Über die Ähnlichkeiten zwischen gawęda und skaz vgl. Fryderyk Listwan, „Poetyka skazu a polska gawęda“, in Ruch literacki Nr. 5/1991, 489–498. Eine Unterscheidung zwischen gawęda und skaz am Beispiel von Gombrowicz’ Trans-Atlantik unternimmt George Z. Gasyna: Auf Bachtin rekurrierend bemerkt er, dass skaz häufig mit einem naiven, ungebildeten Erzähler verbunden wird. Im Gegensatz dazu lassen sich in gawęda viele Fremdwörter (vor allem Latinismen), intertextuelle Anspielungen oder Zitate finden, die davon zeugen, dass der Erzähler gebildet ist und zu einer höheren Schicht des Landadels gehört („a cultivated speaker belonging to Polish squirearchy“). Gasyna zufolge parodiert Gombrowicz diesen Stil in seinen Romanen. George Z. Gasyna, Polish, Hybrid, and Otherwise: Exilic Discourse in Joseph Conrad and Witold Gombrowicz, New York 2011, 156 f. Vor allem das Kapitel „Toward Heterotopia. The case of Trans-Atlantyk“, 144–178. 241 Die Anspielung auf gawęda mit der Apostrophe im ersten Satz in Pornographie ist mit der deutlichen Parodie dieses Stils in Trans-Atlantik nicht zu vergleichen: Der Roman von 1953 über die Abenteuer eines Ich-Erzählers im Exil in Buenos Aires spielt ironisch mit der Erzählform der polnischen barocken Prosa des 17. Jahrhunderts und parodiert den Ton der Literatur des Sarmatismus oder, wie es Klara Lutsky bezeichnet, von „baroque noblemans’ oral tale“. Vgl. Klara Lutsky, „Living on the Margins and Loving it: Gombrowicz and Exile“, in Agnieszka Gutthy (Hg.), Literature in Exile of East and Central Europe, New York u. a. 2009, 73–88, hier 76. 242 Franz Karl Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen 2001, 15. 243 In Bezug auf den ganzen Roman kann man sogar von einem Wechselspiel zwischen der internen und externen Fokalisierung sprechen, denn der Ich-Erzähler versucht die Gedanken des Protagonisten Friedrich zu erraten. Genette differenziert die interne Fokalisierung weiter und unterscheidet zwischen dem festen Typ (unveränderbare Erzählperspektive), dem variablen (Wechsel von fokalisierenden Erzählern, wie in Madame Bovary von Gustave Flaubert) und dem multiplen (wie in Briefromanen, wo dasselbe von mehreren point of views aus betrachtet wird). Die letzte Form scheint am meisten der Erzählsituation in Pornographie zu entsprechen, denn in die Ich-Erzählung werden Friedrichs Briefe eingewoben. Gerard Genette, Die Erzählung, München 1998, 134 f.



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Problem bei der Komposition des Kunstwerks“ ist.244 Unter Standpunkt – heute würde man vielleicht eher von point of view oder Perspektive sprechen – versteht er im Allgemeinen die Position, von der aus im Kunstwerk ein Wirklichkeitsfragment repräsentiert wird. Die Breite dieser Definition versucht der Autor einzuengen, indem er den Standpunkt auf bestimmten Ebenen betrachtet: auf der Ebene der Ideologie, der Phraseologie, der Zeit-Raum-Charakteristik und der Psychologie. Das Bezugsfeld seiner Bemerkungen sind vor allem literarische Werke, aber er schafft auch Verbindungen zu anderen Künsten wie Malerei, Theater oder Film. Auf den ersten Blick wird deutlich, dass in Gombrowicz’ Roman der Ich-Erzähler Witold den Standpunkt bestimmt. Er ist Protagonist und Erzähler zugleich, aus seiner Perspektive erfährt man von den Geschehnissen oder mit Uspenskijs Worten: Der „psychologische Standpunkt“ stützt sich auf sein „ganz bestimmtes individuelles Bewusstsein (eine Wahrnehmung)“.245 In der Poetik der Komposition wird diese Erzählsituation weiter ausdifferenziert: Im Hinblick auf das Beschreibungsobjekt kann die Erzählinstanz einen Außen- oder einen Innen-Standpunkt einnehmen. Im Falle des Außen-Standpunkts berichtet ein abseits stehender Beobachter von den Vorfällen, vom InnenStandpunkt aus werden dagegen Prozesse beschrieben, „die einer Betrachtung aus der Ferne prinzipiell verschlossen sind.“246 Gombrowicz’ Ich-Erzähler kann als Teilnehmer der Handlung theoretisch nur den Außen-Standpunkt vertreten, denn seine Beschreibungen stellen die anderen Figuren als von außen beobachtete Objekte dar. Das trifft aber nur teilweise zu, denn Witolds Schilderungen tendieren auch in Richtung Innen-Standpunkt. In Pornographie kommen nämlich Formulierungen vor, die Uspenskij als formale Merkmale dieser Erzählperspektive bezeichnet und die sich unmittelbar auf die innere Verfassung der anderen beziehen wie Verben des Denkens (verba sentiendi) oder Modalwörter und -partikeln, wenn zum Beispiel von Friedrich die Rede ist, „der vielleicht meinte, behilflich sein zu können, da er gut deutsch konnte“ (P 51). Es wäre aber übertrieben, diese Tendenz als einen Standpunktwechsel zu bezeichnen, denn das erzählende Ich bleibt konsequent Witold. Aus dieser Sonderform der Ich-Erzählung ergibt sich freilich eine Variante der Erzählweise, eine besondere Dynamik der Annäherung des Ich-Erzählers an die Figuren, die hier genauer bestimmt werden muss. Solch eine Annäherung an die Figuren ist im Grunde nichts Außergewöhnliches, sondern eigentlich eine anthropologische Invariante. Auch Uspenskij bemerkt, dass sie für die gesprochene Sprache charakteristisch ist: Der Sprecher nimmt unwill­kürlich den Standpunkt dessen ein, von dem er erzählt.247 Eine Verschiebung der ­Position

244 Boris Uspenskij, Poetik der Komposition: Struktur des künstlerischen Texts und Typologie der Kompositionsform, hg. v. Karl Eimermacher, übers. v. Georg Mayer, Frankfurt a. M. 1975, 7. 245 Ebd., 95. 246 Ebd., 97. 247 Ebd., 44.

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analysiert Uspenskij unter anderem im Bereich der Lexik – bzw. auf phraseologischer Ebene – und führt zur Veranschaulichung ein einprägsames Beispiel an: Wenn man als Erwachsener mit einem kleinen Kind spricht, benutzt man gewöhnlich viele Diminutive. Zuständig für die Übernahme der kindlichen Perspektive ist nach ihm „die ­Nuance der Sympathie und der Zugehörigkeit“,248 die er als unbewusste Eigenschaft menschlichen Handelns interpretiert. Ähnliche Veränderungen untersucht er auch in literarischen Texten. In seiner Typologie der Erzählstandpunkte berücksichtigt er auch, dass der Erzähler „die Vorfälle entweder aus seiner eigenen Sicht darstellen oder aber sich mit einer bestimmten Figur, aus deren Sicht die Darstellung erfolgen soll, verbinden und mit ihr verschmelzen [kann]. Wesentlich bleibt, dass der Autor hier im  gleichen Maße am Geschehen Anteil nehmen kann wie jeder beliebige seiner Helden.“249 Beide Erzählweisen scheinen in Gombrowicz’ Roman zusammenzufließen, wobei besonders auffällig ist, dass der Ich-Erzähler permanent versucht sich in andere Figuren hineinzuversetzen. Zur Beschreibung dieser Erzählsituation verwendet Uspenskij Formulierungen wie „sich einleben“, „sich völlig in die Lage versetzen“ oder den Vergleich mit einem Schauspieler, der die Rollen anderer spielt. 250 Sie können meiner Meinung nach nur teilweise die Besonderheit der Erzähldynamik bei Gombrowicz bezeichnen, in der es um Hineindenken und Mitfühlen geht oder, anders gesagt, um Streben nach Partizipation. Vor allem Friedrich ist von den Versuchen des Ich-Erzählers betroffen, der nicht aufgibt, sich dem Standpunkt seines Freundes anzunähern. Friedrich ist schweigsam und wenn er das Wort ergreift, sind das keine langen Monologe, sondern lediglich kurze Sätze in Dialogen, die meistens andere Figuren beginnen. Seine Aussagen werden vom Ich-Erzähler mit Skepsis kommentiert und hinterfragt – er vermutet, dass Friedrich etwas anderes hätte meinen können: [Friedrich] schloss mit Glückwünschen. Er sagte etwas in der Art: „Meine Herrschaften, Sie haben Glück verdient, also werden Sie glücklich sein.“ Was bedeutete: „Ich rede um zu reden.“ (P 88)

Direkte Rede ist also keine zuverlässige Quelle seiner Gedanken; auch wenn Friedrichs Äußerungen in Form von indirekter und erlebter Rede wiedergegeben werden, bringt der Ich-Erzähler deutlich zum Ausdruck, dass er den Inhalt des Gehörten anzweifelt. Er ist davon überzeugt, dass Friedrich etwas anderes im Sinn hat, als er sagt. Deshalb sucht er in seinen Worten nach verborgenen Bedeutungen und Mitteilungen, die im Hintergrund des Gesagten mitschwingen:

248 Ebd., 49. 249 Ebd., 104. Die Terminologie von Uspenskij wirkt an manchen Stellen etwas problematisch. Das, was er mit Autor meint, würde man heute als Erzähler oder Erzählinstanz bezeichnen. 250 Ebd., 106.



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Auf einmal klang sein Befragen dringlich, und ich verstand: aus meiner Antwort wollte er schließen, ob es mir gelungen war, mich mit Karol zu verständigen; er war dahintergekommen, dass ich ihn hatte sondieren müssen; jetzt wollte er wissen, ob man noch einen Funken Hoffnung haben könne, dass die Jungenarme Karols einmal die Verlobte Wacławs umfassen würden! Und zugleich gab er mir heimlich zu verstehen, dass nichts von dem, was er wusste, was er heraus­ bekommen hatte, zu solchen Illusionen berechtigte. (P 65)

Das Gespräch zwischen den beiden ähnelt einem Ratespiel, das aus dem Entschlüsseln von Andeutungen und geheimen Mitteilungen besteht. Es handelt sich hier aber nicht nur um eine kritische Haltung gegenüber der Sprache: Der Zweifel an der Sprache als Medium der Kommunikation geht mit dem Bedürfnis des Ich-Erzählers einher, die ­Gedanken des anderen Protagonisten zu durchschauen und an seiner Weltsicht teilzuhaben. Die einzigen Stellen, an denen der Innen-Standpunkt von Friedrich unmittelbar zum Ausdruck kommt, sind die kurzen Briefe, die er an den Ich-Erzähler schreibt und die im Roman kursiv gesetzt sind. Es sind konspirative Instruktionen für weitere Schritte, die zur Verkuppelung der beiden Jugendlichen führen sollen. Man könnte meinen, dass es in diesen Briefen zu einem bedeutenden Perspektivenwechsel komme und dass eine neue Stimme, eine andere Sichtweise die Einseitigkeit des Erzählten aufsprenge. In Friedrichs Zeilen findet der Ich-Erzähler aber nur eine Bestätigung und Wiederholung seiner Vermutungen: „Ich brachte den Brief nach oben auf mein Zimmer, dort erst las ich ihn. Es war demütigend, dass mir sein Inhalt so klar war – als hätte ich ihn mir selber geschrieben“ (P 125). Er erkennt sich in Friedrichs schriftlichen Äußerungen wieder, als ob sie die Verbalisierung seiner eigenen Gedanken wären. Mehr noch, auch Friedrich wünscht sich gegenseitige Partizipation bei der Realisierung der Idee: Ich will in dem Meinigen nicht ganz allein sein, nicht Einzelgänger, nicht solo sein. […] Zu zweit gibt es keine Verrücktheit! […] Wenn ich von der Erde aus einen Ausflug auf irgendeinen anderen Planeten machen würde, oder auch nur auf den Mond, würde ich auch lieber mit jemandem zusammen sein – auf alle Fälle, damit meine Menschlichkeit etwas hätte, worin sie sich betrachten könnte. (P 121 f.)

Zum einen sucht er einen Komplizen, zum anderen betrachtet er es als existenzielle Notwendigkeit, die eigenen Gedanken und Gefühle mit einem Anderen zu teilen und damit an dessen Innen-Standpunkt teilzuhaben, um sich so vor Isolation und Wahnsinn zu schützen. Bestätigt durch Friedrichs Briefe stellt der Ich-Erzähler nicht nur Hypothesen über die Gedanken seines Komplizen auf. Zwar äußert er oftmals Vermutungen: „Mir schien, und ich hatte den Verdacht, dass Friedrich […]“ (P 22). Viel häufiger äußert er jedoch seine Annahmen über Friedrich als unbezweifelbare Wahrheiten, so z. B. im folgenden Satz: „[D]ie Augen Friedrichs, auf das Messer starrend, erlaubten keinen Zweifel, dass er daran dachte“ (P 136). Er verzichtet auf distanzierende Formulierungen und auf Modalwörter, die Uspenskij Verfremdungswörter nennt und die „eine

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­ eschreibung von innen in eine solche von außen“ transformieren können.251 Eine B solche Transformation findet hier nicht statt, als ob der Ich-Erzähler die Verweise auf seinen Außen-Standpunkt vertuschen wolle. Seine Mutmaßungen werden zu Feststellungen mit Gewissheit: „Ich weiß, dass er weiß – er weiß, dass ich weiß, dass er weiß – dies war es, was mir im Kopf herumschwirrte“ (P 39). Obwohl er hier eigentlich nur etwas vermuten kann, ist er von Friedrichs innerer Verfassung so fest überzeugt und versetzt sich dermaßen in ihn hinein, dass es zu einer Verwischung oder Vereinigung der Perspektiven beider Hauptfiguren kommt: Ich wusste, woran er dachte, der Wahnsinnige! Der Wahnsinnige! Er dachte an sie – er dachte, dass sie den Regenwurm „für ihn“ zertreten hatten. […] So musste Friedrich in diesem Augenblick denken. Doch es kann sein, dass ich ihm meine eigenen Gedanken unterstellte. Aber wer weiß – vielleicht unterstellte er mir in diesem Augenblick ebenso seine Gedanken … und dachte von mir nicht anders als ich von ihm … Also war es möglich, dass jeder von uns seinen Gedanken züchtete und ihn im anderen unterbrachte. Das amüsierte mich, ich musste lachen – und ich dachte, dass vielleicht auch er lachen musste … […] Wenn das so wäre … nun, dann ginge ja daraus hervor, dass er, Friedrich („dass er, Witold“ – dachte Friedrich) … nun, dass wir beide … für sie nicht zu alt sind […]. Das war es, was Friedrich dachte! […] Was für ein System von Spiegeln – er schaute sich in mir an, ich mich in ihm – und so, indem wir auf fremde Rechnung Träume spannen, kamen wir auf Gedanken, die keiner von uns gewagt hätte, zu seinen eigenen zu zählen. (P 69 f.)

Zunächst distanziert sich der Ich-Erzähler von Friedrich, erklärt ihn für verrückt, dann aber bemerkt er, dass sie einander ähneln und sich gegenseitig ergänzen. Indem er synchrone Gedanken unterstellt, versucht er mit Friedrichs Standpunkt zu verschmelzen. Das Verhältnis zwischen ihnen wird unheimlich: Der eine findet seine Widerspiegelung im Anderen und umgekehrt. Darüber hinaus behauptet der Ich-Erzähler, dass er nicht nur am Denkprozess des Anderen, sondern auch an seinen Gefühlen, Erlebnissen und sinnlichen Empfindungen teilhat. Er hält sich und ihn für austauschbare Subjekte und ist sich schließlich nicht sicher, wer das Subjekt des Empfindens ist: „So empfand ich dies. Empfand dies ich so, oder Friedrich?“ (P 115). Diese intensive Identifikation des Ich-Erzählers mit dem Anderen ist in Porno­ graphie die literarische Strategie, mit dem Fremden im Allgemeinen umzugehen, das heißt, die Art und Weise, wie die Begegnung mit dem Anderen, die Annäherung an ihn dargestellt wird, ohne ihn auf ein Objekt zu reduzieren oder seiner Rätselhaftigkeit und Undurchschaubarkeit zu berauben. Friedrich bleibt das unlösbare Rätsel, das störende Element des Unverständlichen, Unberechenbaren und Unbekannten – um ihn herum tut sich „eine Gegend des Unbestimmten, dieser sonderbaren Andersartigkeit“ auf (P 83). Auf den ersten Blick wirkt sein Verhalten eher unauffällig: Er verfügt über Sozialkompetenz, verhält sich dem gesellschaftlichen Code gemäß, hat einen Bekanntenkreis, ist gewandt und denkt pragmatisch, betreibt während des Krieges Schwarz-

251 Boris Uspenskij, Poetik der Komposition, 100.



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handel und bringt „vier Hasenfelle und eine Sohle“ mit, um Geschäfte zu machen (P 9).252 Trotzdem nimmt der Ich-Erzähler sein Benehmen als etwas Besonderes wahr, wobei er nicht präzisiert, was so irritierend daran ist – im Text heißt es nur lakonisch, Friedrich „benahm sich eigentlich nur, er benahm sich ununterbrochen“ (P 10) oder „[er] war nur ein Körper mehr unter Körpern, nichts weiter … aber dennoch war er … und er war irgendwie abgesondert, unerbittlich … […] er war in diesem Gedränge, er war …“ (P 12). Gerade die Unmöglichkeit der Präzisierung bringt den Ich-Erzähler dazu, ständig in Friedrichs Gedankengänge hineinschlüpfen und seine Perspektive einnehmen zu wollen. Das ist kein ungewöhnliches Verfahren in der Literatur; es gibt eine ganze Reihe von verschlüsselt dargestellten Figuren wie etwa Platon Karatajew in Lev Tolstojs Krieg und Frieden oder Starez Sossima in Fëdor Dostoevskijs Die Brüder Karamasow. Diese Figuren werden aber – wie Uspenskij anmerkt – von einem AußenStandpunkt erfasst: „Sooft sich Verben der inneren Zustandsschilderung auf [Karatajew oder Sossima] beziehen oder eine Motivierung ihrer Handlungen erfolgt, werden spezielle Verfremdungswörter in die Darstellung eingeschoben.“253 Im Gegensatz zu den russischen Autoren verzichtet Gombrowicz auf solche Distanzierungen. Uspenskij führt seine Überlegung weiter fort und stellt fest, dass der rätselhafte Protagonist, wie Karatajew oder Sossima, „in erster Linie als Beschreibungsobjekt von Bedeutung“ ist – „als eine Art Rätsel“, das jeweils Pierre bei Tolstoj bzw. Aljoscha bei Dostoevskij zu lösen haben.254 Wenn sich hingegen in Pornographie der Ich-Erzähler in Friedrich hineinversetzt, bedeutet dies nicht, dass dessen Geheimnis aufgedeckt würde, es geht vielmehr darum, sich auf seine Rätselhaftigkeit einzulassen, sich ihr anzunähern, ohne sie als Objekt in Besitz zu nehmen oder von außen als etwas Erfassbares zum

252 Auch Michał P. Markowski weist in seiner schon erwähnten Studie darauf hin, dass Friedrich ein Janusgesicht hat: Einerseits bleibt er hermetisch, geheimnisvoll und unzugänglich, andererseits besitzt er soziale Kompetenzen und Sinn für Geschäfte. Seine Wendigkeit interpretiert Markowski als eine Variation des Hermes-Motivs, das oben schon in Bezug auf intertextuelle Anspielungen auf Thomas Mann besprochen wurde: Friedrich vermittelt zwischen Personen und Dingen, verhält sich wie „ein quasi Hermes der Okkupationszeit“ (okupacyjny niby-Hermes). Michał P. Markowski, Czarny nurt, 65. 253 Boris Uspenskij, Poetik der Komposition, 107. 254 Ebd., 107 f. Uspenskij bemerkt, dass die innere Verfassung auch von Dostoevskijs Protagonisten Iwan Karamazow von einem Außen-Standpunkt aus skizziert wird. Den Wendepunkt dieser Darstellung bildet erst eine Binnenerzählung – das Kapitel über den Großinquisitor, in dem Iwan selbst unmittelbar zu Wort kommt. Abgesehen von dieser vereinzelten Innendarstellung sind Iwans Gedanken und Gefühle Gegenstand von Spekulationen. Diesbezüglich bemerkt die Erzählinstanz: „Wir wollen aber nicht den ganzen Fluss seiner Gedanken wiedergeben, auch ist es noch nicht an der Zeit, in diese Seele einzudringen: diese Seele ist noch nicht an der Reihe“ (Fëdor Dostoevskij, Die Brüder Karamasow, zit. n. Uspenskij, 108 f.). In diesem Satz wird der Unterschied zum Erzählverfahren in Pornographie deutlich: Das Eindringen in die Innenperspektive des Protagonisten („sich versetzen“ in der Übersetzung von Swetlana Geier, Zürich 2003, 444; oder „sich befassen“ – übers. v. Hans Ruoff u. a., München 1958, 371) wird mit einer Unterordnung des Protagonisten assoziiert. Die Partizipation hingegen strebt nicht danach, den Standpunkt des Protagonisten endgültig zu erklären, ihn sozu­ sagen in Besitz zu nehmen. Sie ist vielmehr ein Verhältnis der Gleichrangigkeit.

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Stillstand zu bringen. Das Partizipieren der Erzählinstanz am Denken und Fühlen Friedrichs, die Annäherung an seinen Innen-Standpunkt sind narrative Techniken, um mit dem Anderen zu verschmelzen und eins zu werden. Gombrowicz’ Ich-Erzähler strebt aber nicht nach bedingungsloser Übernahme oder Wiederholung des Standpunkts des Anderen. Das Spiegelverhältnis zwischen ihm und Friedrich ist nicht nur eine Variation des Doppelgängertums, die etwa mit der Beziehung der Geschwister Ulrich und Agathe in Der Mann ohne Eigenschaften vergleichbar wäre. Trotzdem wird in der Sekundärliteratur zu Pornographie das Verhältnis zwischen den Protagonisten häufig auf das Motiv des Doppelgängers reduziert, das in fast allen Romanen von Gombrowicz auftaucht. Jan Błoński, der Herausgeber der polnischen Ausgabe von Gombrowicz’ Werken, bezeichnet Friedrich als ein dämonisches Alter Ego, hinter dem sich der Ich-Erzähler verstecke.255 Maria Janion hebt den Dämonismus noch stärker hervor, sieht darin Anspielungen auf die Schwarze Romantik und vergleicht Gombrowicz’ Prosa mit der Tradition der romantischen Doppelgänger von E. T. A. Hoffmann über Edgar Allan Poe bis zu Robert Stevenson.256 Artur Sandauer bemerkt, dass das Motiv des Doppelgängers in den Romanen von Gombrowicz immer dann vorkommt, sobald ein heikles Problem angesprochen wird.257 Der ­Doppelgänger scheint ihm die Verantwortung für den Ich-Erzähler zu

255 Jan Błoński, „O Gombrowiczu“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 215. 256 Vgl. Maria Janion, „‚Ciemna‘ młodość Gombrowicza“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 491–529. Dies., „Sobowtóry i dwoistość Gombrowicza“, in Dialog Nr. 2/1975, 128–135. Oder der umfangreichste Text „Forma gotycka Gombrowicza“, in dies., Gorączka romantyczna, Warszawa 1975, 167–243. Gegen diese Lesart polemisiert Jerzy Jarzębski. Er stimmt Janion zu, wo es um die romantische Herkunft des Motivs geht, betont aber, dass Gombrowicz das traditionelle Verständnis stark modifiziert. In der Romantik habe der Doppelgänger, so Jarzębski, das Janusgesicht der menschlichen Natur und verkörpere das verborgene Böse und den inneren Feind. Deshalb würden auch die Doppelgängergeschichten aus dem 19. Jahrhundert mit einer Moral enden, das Böse werde erkannt und als solches verurteilt, was im Fall von Pornographie aber nicht zutreffe. Vgl. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, 313 f. 257 Der bekannte Text von Sandauer aus dem Jahr 1965 ist im Grunde genommen ein Verriss von Pornographie. Sandauer kritisiert die Absurdität der Handlung und die Konstruktion des Romans, vor allem aber das Motiv des Doppelgängers, der anstelle des Erzählers Tabus brechen soll. In einer Fußnote weist er auf die bereits erwähnte Analogie zum Tagebuch hin. Auch in Gombrowicz’ Tagebucheinträgen, die er während der Entstehungszeit von Pornographie schrieb, kommt eine quasi doppelgängerische Figur vor: Gombrowicz schreibt über sich selbst in der dritten Person, um sich gleichzeitig „loben und demaskieren“ zu können. Artur Sandauer, „Gombrowicz – człowiek i pisarz“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 124. Auf den Aufsatz von Sandauer haben die nächsten Generationen von Gombrowicz-Forschenden immer wieder Bezug genommen. Jerzy Jarzębski polemisiert beispielsweise gegen die Gleichsetzung des Ich-Erzählers im Roman mit Gombrowicz selbst: Sandauer behaupte, dass Gombrowicz, um eine peinliche Wahrheit über sich selbst auszusprechen, den anderen Protagonisten einführe, damit das Odium der Perversion auf diesen falle. An dieser Lesart, die – wie Jarzębski zugespitzt formuliert – den Roman als literarisch verpackte Bekenntnisse des Autors interpretiert, übt er in seiner Abhandlung starke Kritik. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, 305.



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übernehmen, um in seinem Namen – zeitweilig auch stellvertretend als „der momentane Doppel­gänger“258 – die tabuisierten Themen zur Sprache zu bringen. So präsentiere Mjentus in Ferdydurke die unklare, aber mit homoerotischen Untertönen ver­ sehene Idee von der Verbrüderung mit einem Bauernbengel; in Trans-Atlantik zeige Gonzalo deutlich päderastische Neigungen und in Pornographie sei es Friedrich, der Perversion, Pornographie, Voyeurismus und Homoerotik in den Text einführe. Meines Erachtens hat das Doppelgänger-Motiv bei Gombrowicz aber noch mehr Funktionen. Am Anfang des Romans Ferdydurke erscheint dem Ich-Erzähler sein Doppelgänger. Er kommt ihm ähnlich und doch fremd vor: „Das Ganze war das Meinige – beziehungsweise das war ich – oder war das Ganze vielmehr ein Fremdes – und es war eben doch auch ich“ (F 20). Die Szene kulminiert darin, dass der Ich-Erzähler dem Gespenst mit voller Wucht ins Gesicht schlägt. Der Doppelgänger verweist hier auf die Zersplitterung des Subjekts, auf seine Spaltung, Selbstentfremdung und Inkongruenz. Die Konstruiertheit der binären Kategorien wie Innen und Außen wird durch das Doppelgängermotiv ebenso deutlich wie die mögliche Transgression der Dualismen und kulturell festgelegten Grenzen. Im Gegensatz dazu ist Friedrich in Pornographie kein Phantom, den man mit Witold verwechseln könnte. Ihr Verhältnis hat zwar doppelgängerische Züge, die es erlauben, Friedrich als Widerspiegelung der Gedanken des Ich-Erzählers zu interpretieren – als dessen Unbewusstes, als das verdrängte Element seiner Psyche. Die Ähnlichkeiten zwischen ihnen entstehen aber erst im Prozess der Projektionen des Ich-Erzählers. Die sind für mich ausschlaggebend, denn nicht das Motiv des Doppelgängers steht hier im Vordergrund, sondern eine Dynamik auf der Erzählebene, die von dem Wunsch ausgelöst wird, am Innen-Standpunkt des anderen Protagonisten zu partizipieren. Diese Dynamik, sich anderen Figuren anzunähern und an ihrem Standpunkt Anteil zu nehmen, möchte ich Dynamik der Partizipation nennen. Sie erweist sich im Roman als ein wichtiger Modus der Ontologie der Verführung, weil sie – ähnlich wie das Schaffen von Analogien und Konstellationen – die Ergriffenheit des Subjekts und seine Verschmelzung mit dem Objekt markiert und auf diese Weise die tradierte Subjekt-Objekt-Unterscheidung hinterfragt. Die Dynamik der Partizipation erzeugt einen narrativen Rahmen, in dem das Denken, das auf der Ontologie der Verführung beruht, mitteilbar wird. Auf diese Weise verständigen sich Witold und Friedrich über die Intrige; ihren Sinn können sie nicht verbalisieren, weil er sich den Kategorien des rationalen Denkens entzieht. Der Ich-Erzähler überlegt, wie er das Thema im Gespräch mit Friedrich zur Sprache bringen könnte: „Und fragen? Wie fragen? Wie dies in Worte fassen?“ (P 37). Auch Friedrich kann in seinen Briefen den Sinn seines Vorhabens nicht ausdrücken: „Ich habe keine Zeit zu einer klaren Präzisierung“ (P 122). Trotzdem sind sich die beiden über das Vorhaben einig und handeln gemeinsam. Indem sie den

258 Artur Sandauer, „Wprowadzenie Gombrowicza (1959)“, in ders., Pisma zebrane, Bd. 4, Warszawa 1985, 385.

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­ erführungsakt der Jugendlichen initiieren, versuchen sie das unbestimmte, der EksV tase ähnelnde und unaussprechliche Gefühl der Verführungskraft zu wiederholen und das Prinzip des konstellativen Verbindens einzuführen. Wie die Kommunikation zwischen den Protagonisten durch die Dynamik der ­Partizipation zustande kommt, kann man mithilfe von Jan Söffners Abhandlung ­Partizipation: Metapher, Mimesis, Musik – und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen erklären, die eine auf dem Paradigma der Partizipation basierende Theorie und Phänomenologie des Literarischen präsentiert. Söffner geht davon aus, dass die Literatur nicht auf ihren sprachlichen Sinn reduziert werden könne, denn sie reiche darüber hinaus, habe an der Körperlichkeit ihrer Rezipienten teil und lasse diese wiederum an der Körperlichkeit, Textualität und Materialität des Werkes teilhaben.259 Diese These versucht Söffner mit den philologischen Methoden der Literaturwissenschaft zu verbinden, deshalb skizziert er ein Gesamtkonzept der Philologie, das er als „enaktive Philologie“ bezeichnet.260 Den Begriff der Partizipation veranschaulicht Söffner am Beispiel von Bollywood-Filmen, in denen die langen Tanzszenen der Protagonisten zur Handlung gehören. Der Tanz sei dort, so Söffner, eine Dynamik jenseits der Unterscheidung von buchstäblicher und übertragener Bedeutung. Aus dem Tanz entstehe vielmehr ein „gemeinsam geteiltes Gefühl, ein geteilter Raum des gegenstandlosen Sinns“, der „nicht subjektiv […], dennoch aber auch nicht objektiv nachvollziehbar“ sein könne und der die Figuren zum Mitmachen anreize.261 Meiner Meinung nach kann

259 Söffners Konzeption geht in die Richtung der Ergriffenheitsästhetik – literarische Texte können die Rezipienten emotional involvieren und bei ihnen körperliche Reaktionen auslösen. Die umgekehrte Variante dieses Spannungsverhältnisses, also das aktive Teilhaben der Rezipienten an der Materialität, der Literatur verdeutlicht er an einem interessanten Beispiel. Er analysiert eine Filmaufnahme in der erweiterten Version von Francis Ford Coppolas Apokalypse Now (1979) mit Marlon Brando, der als Colonel Kurtz das Gedicht von T. S. Eliot The Hollow Men vorliest, dabei mehrmals den Text unabsichtlich ändert und lange Pausen macht. Söffner interpretiert das folgendermaßen: Brando nehme sich die Freiheit zur Partizipation am Text – auch dann, wenn sie ihn erst einmal zu Fehlern verleite – und versuche die Stimmung seines Körpers mit der des Gedichts zu teilen. Diesen Vorgang nennt er das Neubewohnen des Textes, und zwar im doppelten Sinne des englischen Verbs to inhabit – als Bewohnung (der Text als Extension des Leibes) und als Gewöhnung (Vertrautheit des Umgangs mit dem Text). Jan Söffner, Partizipation: Metapher, Mimesis, Musik – und die Kunst, Texte bewohnbar zu machen, Paderborn 2014, 96 f. 260 Söffners Konzept der Philologie des Bewohnens und Bewohnbarmachens der Texte basiert auf dem Enaktivismus – einem Ansatz, „der die vier E zugrunde legt: Er beschreibt die Phänomene immer auch als körperliche (embodied) situierte (embedded) Handlungen (enactions) und deren Erweiterungen (extensions).“ Ebd., 98. 261 Ebd., 33. Die Assoziation mit dem Tanz trifft auch für Gombrowicz zu. In seinen Werken bedient er sich nämlich mehrfach der Metapher und des Motivs des Tanzes. So gibt es z. B. einen Veitstanz des Protagonisten in der Erzählung Der Tänzer des Rechtsanwalts Landt (die unten genauer besprochen wird); in Ferdydurke tanzt der Ich-Erzähler einen von der Form befreienden Tanz („Ich tanzte – und das Gehüpf ohne Partner im Leeren, in der Stille, schwoll so mit Tollheit an, dass mir angst wurde. […] Aber weiter, weiter, jetzt das Zimmer der Oberschülerin, jetzt dort volltanzen und verderben!“,



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dieses Bild mit der Situation in Gombrowicz’ Roman zusammengedacht werden. Auch in Pornographie ähnelt die Dynamik der Partizipation auf der Erzählebene einem gemeinsamen Gefühl oder einem Raum, der sich zwischen dem Ich-Erzähler und Friedrich erstreckt und in dem beide gleichermaßen beteiligt handeln. Für dieses auf Partizipation basierende Verhältnis ist es nicht mehr wichtig, von wessen Standpunkt aus es erzählt wird. Im Vordergrund steht die Verführung. Sie ist der unter den Partizipierenden kursierende und emotional vermittelbare Sinn, der sich einer Verbalisierung und Überführung in rationale Zusammenhänge widersetzt. Von außen gesehen wirkt er unverständlich und insofern gegenstandslos, als er sich häufig auf ephemere, unfassbare und ekstatische Phänomene bezieht. Mit anderen Worten: Die Partizipation wird zum Übertragungsweg der Idee der Verführung.

3.5.3 Selbstauflösung des Erzählers in Der Tänzer des Rechtsanwalts Landt Um das Verfahren der Partizipation in Pornographie zu verdeutlichen und einige Aspekte noch stärker zu akzentuieren, greife ich auf einen weiteren Text von Gombrowicz zurück, auf seine Erzählung Der Tänzer des Rechtsanwalts Landt – 1926 geschrieben, 1933 mit sechs anderen Erzählungen in Gombrowicz’ erster Buchveröffentlichung Pamiętnik z okresu dojrzewania [Memoiren aus der Epoche des Reifens] publiziert und 1957 in dem erweiterten Erzählungsband Bacacay neu herausgegeben.262 Hier wird auf ähnliche Art und Weise das Verhältnis zwischen den Figuren dargestellt. Das kurze,

F 178); die letzte Szene in Trans-Atlantik beschreibt einen kuriosen, alles durcheinander bringenden Tanz aller Figuren – es ist eine Parodie der Polonaise, die in der Romantik (Mickiewicz’ Pan Tade­ usz) mit polnischen Nationalmythen verbunden wurde (Trans-Atlantik, übers. v. Rolf Fieguth, Frankfurt a. M. 2004, 150). Auch in Tagebuch erwähnt Gombrowicz den Tanz – ein bekanntes Zitat lautet: „Hegel? Hegel hat nicht viel mit uns gemein, denn wir sind Tanz“ (Tagebuch, 160). Ausgehend von dieser Stelle weist Alfred Gall auf Echos der Philosophie Nietzsches in der Metaphorik des Tanzes bei Gombrowicz hin, vgl. Alfred Gall, ‚… denn wir sind Tanz‘: Die Applikation von Nietzsches ArtistenIndividualismus in Gombrowiczs Tagebuch“, in Andreas Lawaty u. Marek Zybura (Hg.), Gombrowicz in Europa, 194–209. Gombrowicz’ Metapher des Tanzes überträgt sich sogar auf die Forschung über ihn. Jerzy Jarzębski z. B. benutzt sie mehrfach in seiner Studie, indem er vom Tanz des Erzählers mit der Leserschaft spricht, vgl. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, 32 u. 134. Ebenso scheint der Titel des Sammelbandes Tango Gombrowicz nicht zufällig zu sein, der Erinnerungen von Gombrowicz’ Bekannten an den langjährigen Aufenthalt des Autors in Argentinien enthält, vgl. Tango Gombro­ wicz, hg. und übers. v. Rajmund Kalicki, Kraków 1984. Darüber hinaus wurden Gombrowicz’ Werke auch für das Tanztheater und Ballett adaptiert, z. B. die Aufführung Kilka błyskotliwych spostrzeżeń (a la Gombrowicz) [Ein paar brillante Bemerkungen (a la Gombrowicz)] in der Regie von Leszek Bzdyl (Teatr Dada von Bzdülöw) in Teatr Wybrzeże (Gdańsk 2004). Oder das Ballett Pupa [Popo] nach Motiven von Ferdydurke in der Regie von Stanisław Syrewicz und Anna Hop in Teatr Wielki Opera Narodowa (Warszawa 2015). 262 Der klangvolle Titel des Erzählungsbandes verweist – wie Rolf Fieguth in seiner editorischen Notiz erklärt – auf den Namen einer Straße in Buenos Aires, in der Gombrowicz gewohnt hat (B 262).

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nur wenige Seiten lange Erstlingswerk von Gombrowicz enthält bereits eine Konfiguration von Ereignissen, die er später in Pornographie weiterentwickelt. Die Geschichte handelt von einem Ich-Erzähler, der Epileptiker ist und unter Veitstanz leidet, daher das Wort Tänzer im Titel.263 Er erzählt von seiner merkwürdigen Beziehung zu dem im Titel genannten Rechtsanwalt Landt, den er zufällig unter nicht besonders angenehmen Umständen kennenlernt. Als er versucht, an der Theaterkasse die Schlange zu umgehen, packt ihn der Rechtsanwalt am Kragen und stellt ihn ans Ende der Reihe. Der Ich-Erzähler ist von der Entschiedenheit, Kraft und Gewaltsamkeit dieser ein­ fachen Geste begeistert. Vor allem imponiert ihm aber die Kälte des Anwalts, die er besonders hervorhebt: „als mich jemand von hinten kalt – ja, kalt – am Kragen packte“ (B 7). Auch in Pornographie ist Witold von der Kälte fasziniert, die Friedrich ausstrahlt. Eine weitere Gemeinsamkeit von Rechtsanwalt Landt und Friedrich ist ihre Unerreichbarkeit. Seit jenem Abend, an dem der Ich-Erzähler den Rechtsanwalt getroffen hat, unternimmt er die skurrilsten Versuche, um Kontakt mit dem Objekt seiner heimlichen Verehrung aufzunehmen, aber „es schien eine Unmöglichkeit, irgendeine Annäherung an ihn zu erreichen“ (B 9). Landt ignoriert den Ich-Erzähler zunächst, doch der bleibt hartnäckig. Heute würde man es vielleicht als Stalking bezeichnen, denn der Ich-Erzähler beobachtet den Rechtsanwalt ständig und läuft ihm auf der Straße hinterher. Außerdem versucht er sich massiv in das Objekt seiner Verehrung hineinzudenken und sich dem Innen-Standpunkt des Anwalts anzunähern. Der Personenkult, den der Tänzer um den Rechtsanwalt inszeniert, wird zu einer obsessiven Beziehung – einer Mischung aus voyeuristisch-masochistischer Lust und absoluter Huldigung. Der Bewunderte wird für den Ich-Erzähler zum Maß aller Dinge; er errichtet ein ganzes System von Abhängigkeiten und Zusammenhängen in Bezug auf den Anwalt und bindet sich selbst in dieses System ein. „Ich beschloss: biegt er nach links ein, so kaufst du dir dieses Buch Abenteuer von London, von dem du seit langem träumst – und biegt er nach rechts ab, so wirst du es niemals haben“ (B 9). Das Abhängigkeitsverhältnis kulminiert darin, dass der Tänzer danach strebt, eine Widerspiegelung des Rechtsanwalts zu werden. Er besucht nicht nur dieselben Orte wie Landt, sondern wiederholt auch exakt alle seine Bewegungen, so dass sich die Perspektiven der beiden Protagonisten beinahe verwischen. Besonders auffällig wird das in einer Szene in einem Restaurant. Der Ich-Erzähler läuft dort dem Rechtsanwalt hinterher und setzt sich an den Nachbartisch:

263 Wörtlich übersetzt heißt die Nervenkrankheit des Protagonisten „Valentinstanz“ (taniec św. Wa­ lentego): „[P]oza jednym jedynym tańcem – św. Walentego – nie znałem tańców ani kobiet.“ Witold Gombrowicz, Bakakaj, hg. v. Jan Błoński, Kraków 1987, 9. Auf Deutsch: „[A]ußer einem einzigen Tanz – dem Veitstanz – kannte ich weder Tänze noch Frauen“ (B 12). Das Wort bezieht sich also nicht auf St. Vitus, sondern auf St. Valentin, den Schutzheiligen der Verliebten und Epileptiker, was noch zusätzlich die Zwiespältigkeit der Beziehung des Kranken zum Rechtsanwalt hervorhebt, die zwischen Liebe und Wahnsinn oszilliert.



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Er bedachte mich nicht mit dem Schatten einer Beachtung, er charmierte und beobachtete an­­dere Damen. Er sprach bedächtig, mit Geschmack, während er die Speisekarte durchsah: „Hors d’oevres … Kaviar … Mayonnaise … Poularde … Ananas zum Dessert – Mokka, Pommard, Chablis, Cognac und Liköre.“ Ich bestellte. „Kaviar … Mayonnaise … Poularde … Ananas zum Dessert – Mokka, Pommard, Chablis, Cognac und Liköre.“ Es dauerte lange. Der Rechtsanwalt aß viel, besonders von der Poularde – ich musste mich zwingen – wahrhaftig, ich dachte, ich würde es nicht mehr schaffen, und schaute mit Schrecken hin, ob er sich nochmals nachlegte. Er langte fortwährend nach und aß mit Genuss, in großen Bissen, aß ohne Erbarmen, trank Wein dazu, bis es für mich am Ende zu einer wahren Tortur wurde. Ich dachte, ich würde niemals Löffel Mayonnaise hinunterschlucken können, es sei denn – es sei denn, wir würden einmal wieder zusammen in ein Restaurant gehen, und dann wäre es etwas anderes, dann das wusste ich sicher, dann würde ich es durchstehen. Er trank auch eine Menge Wein, so dass mir langsam schwindelig wurde. Ein Spiegel gab seine Gestalt wieder. (B 10 f.)

Der Tänzer wiederholt alle Gesten des Rechtsanwalts – fast wie ein Spiegel, der zum Schluss tatsächlich erwähnt wird.264 Dieses Verhalten ist jedoch mehr als eine parodistische Nachahmung oder Mimikry. Es kommt nämlich zu einer seltsamen Wiederholung oder Verwechslung der Standpunkte, was man mit Lévy-Bruhl Partizipation nennen könnte. Der Ich-Erzähler kopiert nicht nur die Bewegungen des Rechtsanwalts, sondern er hat Anteil an ihm. Innerhalb eines Satzes vollzieht sich ein glatter Übergang zwischen den beiden Subjekten: Landt nimmt viel Essen und alkoholische Getränke zu sich, in der Folge überkommt den Tänzer Schwindel. Die Abfolge dieser Begebenheiten widerspricht dem Kausalprinzip und liegt dem Gesetz der Partizipation viel näher. Die große Empathie, mit der er sich der Ich-Erzähler in den anderen Protagonisten hineinversetzt, führt dazu, dass er sich mit ihm fast organisch verbindet. Das Verhältnis der beiden Figuren ist aber kein einseitiges Machtverhältnis. Es geht nicht nur darum, dass sich der Ich-Erzähler dem Rechtsanwalt mit grenzloser Hingabe unterwirft und ihn nachahmt. Die Macht steht nicht nur auf der Seite des ­Bewunderten, obwohl dies zunächst so scheint und die Figurenkonstellation auf ­starkem Kontrast beruht. Der Tänzer ist ein kranker, schwacher, einsamer Mensch und der Rechtsanwalt zieht ihn besonders an, weil er alles besitzt, woran es ihm mangelt: physische Kraft, Lebendigkeit, Attraktivität, Appetit, Geselligkeit sowie Attribute der Macht und Männlichkeit wie Geld, Prestige und Privilegien.265 Die Unterwerfung des Ich-Erzählers hat eine masochistische Tendenz: Er stellt sich wehrlos zur Verfügung, als Landt ihn mit einem Spazierstock verprügeln will. Umgekehrt hat die Verehrung aber auch gewaltsame Züge, denn sie grenzt an den Wunsch, den Rechtsanwalt zu

264 Im Original ist der Spiegel sogar mit einem Ausrufezeichen versehen: „Lustro odbijało jego postać!“ Witold Gombrowicz, Bakakaj, 8. 265 Vgl. Jerzy Franczak, Poszukiwanie realności, 200. Der Erzählung Der Tänzer des Rechtsanwalts Landt ist das Kapitel „Podwójne wyobcowanie“ [Die doppelte Entfremdung] gewidmet, 191–202.

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z­erstören, zu verfolgen und dessen Leben zu kontrollieren. Ich möchte mich allerdings nicht darauf konzentrieren, ob Gombrowicz hier, wie Jerzy Franczak glaubt, den ­Abgrund des Unbewussten und die unberechenbare Dynamik zwischenmenschlicher Interaktionen darstellen möchte.266 Mich interessiert vielmehr, wie sich das Gewaltsame im Verhalten des Ich-Erzählers ausdrückt. Daher ist vor allem sein eindringliches Hineindenken und -fühlen in den Anwalt zu analysieren, das nicht nur im Wieder­ holen von dessen Bewegungen besteht. Der Ich-Erzähler ist mit dem Lesen der Gedanken und Gefühle des Rechtsanwalts beschäftigt – alle seine Handlungen richten sich nach der Frage: „Was empfindet er da?“ (B 13). Er möchte sich der inneren Verfasstheit des von ihm Verehrten annähern, deshalb bemüht er sich, dessen Bedürfnisse und Absichten vorab zu erraten und zu erfüllen. Im Voraus begleicht er Landts Rechnungen in einer Konditorei und in einer Bedürfnisanstalt. Die Fähigkeit des Tänzers zur Antizipation betrifft auch die ero­ tischen Wünsche Landts. Als er bemerkt, dass dem die Ehefrau eines Doktors zu ­gefallen scheint, versucht er die beiden um jeden Preis miteinander zu verkuppeln. Die nichts ahnende Frau wird in seine kunstvolle Intrige verwickelt. Zunächst probiert er es mit Telepathie: „Ich versuchte es mit Magnetismus: du musst, du musst – wiederholte ich ein ums andere Mal, ins Fenster schauend – heute noch, heut abend noch, wenn der Gatte nicht zu Hause ist“ (B 16). Dann schickt er ihr anonyme Briefe mit Befehlen, in denen – ähnlich wie in Pornographie – der Glaube an die magische Beschwörungskraft der Schrift zur Geltung kommt. Sein Plan, die Doktorsgattin zu hypnotisieren, besteht in „einer dauernden, konsequenten Pression mit Hilfe von tausenderlei kleinen Tatsachen, mystischen Hinweisen, die, ohne ins Bewusstsein zu dringen, einen unterbewussten Zustand von Notwendigkeit erzeugen würden“ (B 17). Die Frau wird in ein Netz merkwürdiger Geschehnisse verstrickt, im Modegeschäft wird sie zum Beispiel aus Versehen als Frau Rechtsanwalt angesprochen oder sie bekommt einen Zettel mit einem Goethe-Vers zugeschickt, der eine versteckte Anspielung enthält: „Kennst du das Landt, wo die Zitronen blühen“ (B 17). Auffällig ist nicht nur die Kuriosität der Intrige, sondern auch die Haltung, die der Ich-Erzähler dabei einnimmt:

266 Franczak sieht in Gombrowicz’ Erzählung eine Reinterpretation der Psychoanalyse, denn das Unbewusste werde dort nicht nur mit der Sphäre der Triebe gleichgesetzt, sondern auch durch gesellschaftliche und kulturelle Elemente ergänzt: „Chęć ‚zniszczenia‘ mecenasa wynika tyleż z wrodzonej agresji, co z dynamiki relacji międzyludzkich, przy czym jedno i drugie – zarówno mroczna sfera popędów, jak i nieobliczalne uniwersum interakcji – to żywioły, które przeczą powszechnie przyjętym formom racjonalności.“ [Der Wunsch nach der ‚Zerstörung‘ des Rechtsanwalts resultiert nicht so sehr aus angeborener Aggression, sondern aus der Dynamik der interpersonalen Beziehungen, wobei das eine wie das andere – sowohl die dunkle Sphäre der Triebe als auch das unberechenbare Universum der Interaktionen – die Elemente sind, die den allgemein geltenden Formen der Rationalität widersprechen. Übers. v. AH]. Ebd., 200.



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Eine Beleidigung des Rechtsanwalts in diesem Punkte wäre etwas, was ich nicht ertragen könnte, auch wenn er es sich nicht zu Herzen nehmen würde. Das wäre für mich eine endgültige Missachtung, eine Kränkung und Schande. (B 18)

Es kommt wieder zur Verschmelzung der Perspektiven bzw. der Standpunkte. Die Dynamik der Partizipation führt dazu, dass der Tänzer glaubt, er würde es als persönliche Herzensniederlage empfinden, wenn der Rechtsanwalts von der begehrten Frau abgelehnt würde. Das, was dem Rechtsanwalt widerfährt, überträgt er auf sich selbst. Das Gefühl des Versagens braucht der Ich-Erzähler aber nicht zu erleiden, denn letzten Endes stellt sich heraus, dass seine Intrigen nicht umsonst waren: Im Park trifft er das Paar zufällig beim heimlichen Rendezvous. Als er die beiden angestrengt belauscht, bekommt der Voyeur vor Erregung einen epileptischen Anfall und mit diesem Veitstanz ist die Erzählung fast schon zu Ende. Der Tänzer erwacht im Krankenhaus, fühlt sich sehr schwach, gibt aber selbst dann seine Obsession nicht auf: „Ich kann plötzlich auf der Straße sterben, an einem Zaun, und dann – soll man ein Kärtchen schreiben – mein Leichnam möge an den Rechtsanwalt Landt geschickt werden“ (B 19). In Der Tänzer des Rechtsanwalts Landt wie in Pornographie versuchen die Ich-Erzähler sich in andere Figuren hineinzudenken, an ihren Gedanken und Gefühlen zu partizipieren, sich ihren Innen-Standpunkten zu nähern und mit ihnen beinahe zu verschmelzen. Sowohl für den Tänzer als auch für Witold ist das Initiieren des Verführungsaktes ein Bestandteil des manischen Wunsches nach dem Sichhineinversetzen in den Anderen. Beide sind von der Verkuppelung wie besessen und denken sich kunstvolle Intrigen aus, um die Verführung in Gang zu setzen. Häufig sind sie mit der Schrift verbunden – mit dem Motiv der Briefe. Der Rechtsanwalt erscheint allerdings als Objekt, während Friedrich an den Plänen mitwirkt. In der Erzählung wird stärker als im Roman der Aspekt der Wiederholung unterstrichen. Indem er das Verhalten des Rechtsanwalts wiederholt, will der Tänzer künstlich eine Ähnlichkeiten mit ihm ­erzeugen, was die Atmosphäre des Unheimlichen im Text steigert.267 Durch die Nachahmung will er sich in einen rauschhaften, ekstatischen Zustand versetzen, in dem er sich selbst, über die eigene Subjektivität hinausgehend, im Rechtsanwalt bzw. in der Partizipation an dessen Leben auflösen kann. Mit dem Verfahren der Selbstauflösung durch Wiederholung ist der Tänzer vertraut: Die Erzählung fängt im Theater an, vor dem er Schlange stehen muss, um sich „zum vierunddreißigsten Male schon“ die

267 Die Abhängigkeit „je ähnlicher, desto unheimlicher“ wurde in der Forschung im Kontext der Robotertechnik empirisch nachgewiesen – man bezeichnet sie als das Phänomen des „unheimlichen Tals“ (uncanny valley). Dieser Begriff bezieht sich auf die paradoxen Reaktionen der Zuschauer auf künstliche Menschenfiguren wie Roboter oder Avatare. Je mehr sie den Menschen ähneln, desto weniger werden sie akzeptiert und desto intensiver werden sie als Ungeheuer empfunden. Vgl. Masahiro Mori, „The Uncanny Valley“, ins Englische übers. v. Karl F. MacDorman u. Takashi Minato, in Energy Nr. 7/1970, 33–35. Verfügbar unter: http://www.androidscience.com/theuncannyvalley/proceedings2005/uncannyvalley.html (25. Mai 2017).

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O ­ perette Die Csárdásfürstin anzuschauen (B 7).268 Ziel der wiederholten Rezeption des Stücks ist die Lust am Verlust der Identität. Die emotionale Teilnahme an dem Kunstwerk und die Selbstauflösung in ihm werden zu einem Ritual des Rausches, das Praktiken vorschriftlicher Kulturen ähnelt. Vielleicht wird deshalb (notabene ganz im Geiste Lévy-Bruhls) unerwartet ein Naturvolk erwähnt – man beschimpft den Tänzer als jemanden aus dem „Volk von Zulukaffern“ (B 7). Erst die Begegnung mit dem Rechtsanwalt unterbricht seine Gewohnheit: „[D]iesmal ging ich nicht wie sonst mit ganzer Seele in der Vorstellung auf“ (B 8). In diesem Satz kommt im Original das Verb utonąć vor, das „versinken“, „ertrinken“, „verschlungen werden“, „sich auflösen“ oder „sich verlieren“ bedeuten kann.269 Diese Worte bringen die Situation der Ich-Erzähler in beiden Werken auf den Punkt. Die Dynamik der Partizipation besteht im Aufgehen des Subjekts im Anderen, in seinem Standpunkt, seiner Weltsicht, im Universum seiner Gedanken, Gefühle und Empfindungen. Während aber das partizipatorische Verhalten in der Erzählung zum Zusammenbruch des Tänzers führt, entwickelt der Ich-Erzähler im Roman einen Mechanismus, der ihn vor dem absoluten Selbstverlust schützt und der im Weiteren näher beleuchtet werden soll.

3.5.4 Separation, Empathie und mimetisches Begehren In dem Roman Pornographie scheint der Ich-Erzähler in seinen Versuchen, sich in den Anderen hineinzuversetzen, einen Halt zu finden, der ihn vor Selbstverlust schützt. Er verfällt nicht dem Wahn, restlos in Friedrichs Gedankengang hineinzuschlüpfen, sondern balanciert an der Grenze zwischen der Selbstauflösung in der Perspektive des Anderen und der Distanzierung von ihr. Weder geht er in der Identifikation mit ihm auf noch nimmt er entschieden Abstand von ihm. Wie sich diese Dynamik der Partizipation und Separation im Text äußert, möchte ich anhand von zwei Beispielen beleuchten. Nach dem Tod von Amelia (der Mutter von Henias Verlobtem), die durch einen unglücklichen Zufall von einem unbekannten Jungen mit einem Messer erstochen wird, kommt Friedrich auf die absurde Idee, dass er diesen Jungen jetzt töten müsse, damit die neue Ordnung der Dinge harmonisch weiterbestehe. Seine Absicht formuliert er in einem Brief fast wie einen Gesetzestext: „Denn wenn ein Junger einen Älteren töten wird, so wird hier ein Älterer einen Jungen töten“ (P 185). Der Ich-Erzähler reagiert darauf wie folgt:

268 Im Original beginnt die Erzählung mit dem zweigliedrigen Ordnungszahlwort in auffälliger Apposition: „trzydziesty już i czwarty raz …“, statt „trzydziesty czwarty“. Die Partikel „już i“ [schon und] trennt ungewöhnlich die Wörter und hebt sie dadurch hervor. Witold Gombrowicz, Bakakaj, 5. 269 „[A]le tym razem nie utonąłem, jak zwykle, całą duszą w przedstawieniu.“ Ebd., 6.



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Und, als sei das zu wenig, dieser kranke Gedanke, der nach Krankenhaus roch, degeneriert und verwildert, ein ekelhafter Gedanke eines Intellektuellen – strömte plötzlich wie ein blühender Strauch einen betäubenden Duft aus, ja, er war begeisternd! Das versetzte mich in Begeisterung! […] Ich musste tief aufatmen in dieser Frische, badete plötzlich in einem wundervoll bitteren Element, einem zerreißend verführerischen. Wieder wurde alles, alles, alles jung und sinnlich, sogar wir! Und dennoch … nein, ich konnte nicht darauf eingehen! Hier hatte er entschieden das Maß überschritten! Das war einfach unzulässig – unmöglich – das Abschlachten dieses Jungen in der Speisekammer – nein, nein, nein … (P 186)

Trotz anfänglicher Zweifel ist Witold bald völlig von Friedrichs Idee fasziniert. Friedrichs Absicht ist für ihn nicht nur nachvollziehbar und akzeptabel, sondern findet seine euphorische Zustimmung. Infolge seiner Partizipation an Friedrichs Gedankengang und der Identifikation mit ihm spricht er sogar im Plural von „wir“. Kurz darauf folgt aber eine radikale Distanzierung: Witold besinnt sich auf sein Ich, spricht von sich in der ersten Person Singular und stellt fest, dass er auf diese Idee nicht eingehen könne. Die Dynamik der Partizipation wird durch die Dynamik der Separation ausgeglichen. Als zweites Beispiel kann das Verhältnis des Ich-Erzählers zu den Briefen dienen, die er von Friedrich bekommt. Er glaubt, darin alle Absichten und Wünsche Friedrichs zu erkennen bzw. projiziert seine Vorstellung davon in diese Briefe. Daher sind sie auch nichts Befremdliches für ihn: Dieser Brief … Dieser Brief, der noch mehr als der vorige der Brief eines Verrückten war – aber ich verstand ihn so ausgezeichnet, diesen Wahnsinn. Er war so leserlich für mich! (P 134).

Witold versucht sich in Friedrich hineinzuversetzen und identifiziert sich mit ihm, bis ihm dessen Worte wie die eigenen vorkommen. Das wird aber von einer gegenläufigen Tendenz ergänzt. An einer anderen Stelle grenzt sich der Ich-Erzähler von der Korrespondenz ab, weil sie ihn aus der Fassung bringt und innerlich verunsichert: Eine Landschaft, die ich schon ausgezeichnet kannte, von der ich wusste, dass ich sie hier antreffen werde – aber der Brief stieß mich aus den Landschaften hinaus, oh, der Brief stieß mich hinaus, und ich meditierte, was machen, was machen? (P 123)

Es handelt sich hier nicht nur um Friedrichs subversive Kraft, die das Bestehende hinterfragt. Seine schriftlichen Mitteilungen entfremden ihn dem Ich-Erzähler, der sich in den Briefen nun doch nicht gänzlich auflösen oder sie sich zu eigen machen kann. Auf diese Weise kristallisieren sich die Briefe als eine Instanz der Nicht-Ähnlichkeit zwischen den beiden Protagonisten heraus. Erst das Schreiben ermöglicht eine klare Trennung der beiden Erzählstandpunkte, schafft Distanz zwischen ihnen, so dass es zu keiner vollkommenen Verschmelzung ihrer Perspektiven kommt. Die spezifische Dynamik der gleichzeitigen Annäherung und Distanzierung kann man als eine Variation des oben besprochenen Wechselspiels zwischen Sympathie und Antipathie bezeichnen. Mit dieser von Michel Foucault entliehenen Formulierung

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habe ich bisher die Art und Weise beschrieben, wie der Ich-Erzähler in Pornographie die Verbindungen zwischen den Dingen schafft. Die Doppelbewegung des ewigen Hin und Her durchzieht den Roman aber auf mehreren Ebenen und spiegelt sich auch in der Erzählweise wider. Das permanente Oszillieren zwischen Nähe und Ferne, Partizipation und Separation, Anziehung und Abstoßung oder Begeisterung und Ekel ist ein wichtiges Element der Ontologie der Verführung und der Inbegriff der Verführung überhaupt, die man als einen „Schwebezustand“, als Prozess ewiger Suspendierung verstehen kann.270 Ich möchte nun auf den Einfluss dieser Dialektik der Annäherung und Distanzierung oder Dialektik der Verführung auf die Erzählsituation eingehen.271 Gombrowicz’ Erzählstrategie wirkt zunächst paradox. Die Perspektivführung im Roman strebt einerseits nach der Partizipation, in der die subjektiven Projektionen des Ich-Erzählers mit den Innen-Standpunkten der Figuren verschmelzen. Andererseits zielt sie zugleich auf eine Differenzbildung zwischen ihnen ab. Das erzählerische Verfahren ähnelt der aus der Kommunikationstheorie bekannten Struktur von double bind (Gregory Bateson), also der Bindung des Subjekts an zwei widersprüchliche Botschaften.272 Dieses Konzept kann, wenn man vom kommunikationstheoretischen und sozialpsychologi-

270 Jean Baudrillard definiert Verführung als einen „in der Schwebe gehaltenen Zauber“, der durch Angst vor Entzauberung bedroht ist. Jean Baudrillard, Von der Verführung, 154. 271 Auch Jan Błoński weist auf das dialektisch-dynamische Verfahren im Werk von Gombrowicz hin. Er spricht von einer Dialektik der Ablehnung und Aneignung (dialektyka odrzucenia i przyswo­ jenia), die er am Beispiel von Gombrowicz’ Essay über Dante demonstriert – der Essay erschien in seinem Tagebuch, 936–950. Błoński zufolge wird bei Gombrowicz alles, was von außen kommt, als aufgezwungene Form empfunden, weil es das Individuum einschränkt. Auf die Geste der Ablehnung folge aber immer die Aneignung des zuvor Abgelehnten. Dieser Mechanismus, der sich auf mehreren Ebenen abspiele und die Erzählweise betreffe, spiele eine eminent wichtige Rolle in Gombrowicz’ Werk: „Zrozumieć dialektykę odrzucenia i przyswojenia to – moim zdaniem – zrozumieć Gombrowicza naprawdę.“ [Die Dialektik der Ablehnung und Aneignung zu verstehen, bedeutet – meines Erachtens – Gombrowicz wirklich zu verstehen. Übers. v. AH]. Jan Błoński, O Gombrowiczu, 218–221, hier 221. Jerzy Jarzębski beobachtet eine ähnliche Dynamik in Gombrowicz’ Prosa und bemerkt, dass sich seine Erzähler zunächst mit dem beschriebenen Gegenstand identifizieren und sich dann dieser Identifikation etwa durch einen autoironischen Kommentar entziehen und diese hinterfragen. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, 118. 272 Die Doppelbindungstheorie (double bind theory) zeichnet sich durch besondere Anschlussfähigkeit an verschiedene Disziplinen aus, auch an die Philosophie. Jeffrey A. Bell sieht in double bind eine Alternative zur Entweder-oder-Logik, eine verwandte Denkfigur kann man ihm zufolge schon bei Friedrich Nietzsche oder in den Schriften von Gilles Deleuze und Félix Guattari finden: „This concept, as developed by Gregory Bateson, was to have a profound influence on Deleuze and Guattari’s work. More importantly, however, this theme can already be seen in the work of Nietzsche, for in Nietzsche one finds a critique which does not depend upon the logic of either/or, but instead resists this logic. And in resisting this logic this critique affirms the both/and which eludes the logic of either/or, and hence eludes the double bind which presupposes it.“ Jeffrey A. Bell, „Philosophizing the DoubleBind: Deleuze Reads Nietzsche“, in Philosophy Today Nr. 4/1995, 372. Verfügbar unter: http://www2. southeastern.edu/Academics/Faculty/jbell/doublebind.pdf (25. Mai 2017).



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schen Kontext abstrahiert, die Rolle des Ich-Erzählers in Pornographie erklären. Er scheint zwei gegensätzlichen Imperativen zu folgen: Nähere dich dem Anderen an und distanziere dich von ihm. Im Weiteren versuche ich dieses Spannungsverhältnis auszuloten und mithilfe verschiedener kulturwissenschaftlicher Ansätze zu untersuchen, welche Funktionen diese Erzählstrategie hat. Die Dialektik der Verführung fungiert im Roman vor allem als ein Mechanismus, der für das Subjekt konstituierend ist und gleichzeitig seine Beziehungen reguliert. Das Verhältnis zwischen dem Ich-Erzähler und Friedrich besteht nicht nur in einer ­Reziprozität in dem Sinne, dass sich die beiden gegenseitig brauchen, um sich selbst im Spiegel des Anderen zu formieren. Das würde nämlich eine klare Trennung zwischen den beiden Figuren voraussetzen. Tatsächlich ist die Beziehung der beiden viel dynamischer: Die Grenze zwischen dem Ich-Erzähler und Friedrich wirkt fließend und wird von der Dynamik der Partizipation und Separation bestimmt. Wie man sich diese Bewegung vorstellen kann und wie sich aus dieser Verschwommenheit das Selbst ­konstituiert, kann das Konzept der Empathie beschreiben, das mit der Dialektik der Verführung verwandt ist. Den Begriff der Empathie könnte man auf den ersten Blick mit der Dynamik der Partizipation gleichsetzen – man ist empathisch, wenn man mit dem Anderen mitfühlt und versucht in seine Haut zu schlüpfen und seine Perspektive einzunehmen. Fritz Breithaupt stellt in seiner Studie Kulturen der Empathie (2009) die These auf, dass die Separation oder mit seinen Worten „die Empathie-Blockade“ ein wichtiger Bestandteil, ja sogar die Voraussetzung des empathischen Verhaltens sei: Empathie, das Verstehen der anderen, kommt nur zustande, weil unsere emotionale Aufmerksamkeit anderen gegenüber gestaut, blockiert und gefiltert wird. Ohne eine derartige (Teil)­Blockade würden wir in einer Welt fortwährenden Perspektivenverlusts leben, in der wir unwill­kürlich die Perspektiven aller anderen Menschen und darüber hinaus auch der Tiere, der Fabelwesen und Dinge einnehmen müssten. Erst das Filtern des emphatischen Rausches, das Kanalisieren und Blockieren erlaubt uns die Illusion einer Innensicht der anderen.273

Breithaupts Verständnis von Empathie verdeutlicht, wie man die Bewegungen der ­Annäherung und Distanzierung zusammendenken kann. Seiner Meinung nach kommt die Empathie nicht nur aufgrund der Ähnlichkeiten zwischen dem Ich und dem ­Anderen zustande, sondern sie bedarf auch der Herausbildung von Unterschieden zwischen ihnen: „Die Herausforderung der Empathie besteht mithin in der Produktion der Nicht-Ähnlichkeit.“274 Das entspricht der Erzählsituation in Pornographie. Das ­empathische Sichhineinversetzen des Ich-Erzählers in Friedrich führt nicht zu einem dauerhaften ekstatischen Selbstverlust oder zu einer absoluten Verschmelzung ihrer Standpunkte, denn die Approximation wird von der gegensätzlichen Bewegung der Distanznahme des Ich-Erzählers unterbrochen.

273 Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, Frankfurt a. M. 2009, 12. 274 Ebd., 64.

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Ein Gedanke Breithaupts lässt sich jedoch nicht auf Gombrowicz’ Werk anwenden. In Anlehnung an Lessings Schriften bezeichnet Breithaupt die Instanz des Ichs als mögliche Empathie-Blockade.275 Für ihn ist die Empathie also ein emanzipatorisches Verfahren, das die Autonomie des Subjekts untermauert. Gombrowicz hingegen suggeriert in Pornographie kein derartiges Subjektverständnis: Der Ich-Erzähler wird vielmehr als schwaches Individuum dargestellt, das in den Sog der Partizipation gerät und erst durch äußere Impulse wie die Briefe dazu befähigt wird, Abstand zu nehmen. Auch wenn sie keine emanzipatorischen Folgen hat, ist die Dialektik der Verführung doch konstitutiv für das Subjekt: Der Ich-Erzähler erkennt durch die zwischen Annäherung und Distanz oszillierende Beziehung zu Friedrich seine eigenen Wünsche und stärkt auf diese Weise sein Selbstbewusstsein. Er wird sich seines Ziels – der Verkuppelung der beiden Jugendlichen – bewusster, begreift, was er anstrebt und begehrt, und beginnt die Intrige einzufädeln, die dann eine existenzielle Bedeutung für ihn ­bekommt – ja sogar konstitutiv für seine Identität wird. In dieser Hinsicht erinnert die Dialektik der Verführung an das Modell des mimetischen Begehrens nach René Girard.276 Ihm zufolge begehrt das Ich ein Objekt nur dann, wenn es unterstellt, dass auch ein Anderer es zu erlangen versucht: „Ein Eitler begehrt ein Objekt dann, wenn er davon überzeugt ist, dass dieses Objekt bereits von einem Dritten, der ein gewisses Ansehen genießt, begehrt wird.“277 Das Begehren entsteht demnach infolge des Kopierens.278 Das Ich ahmt den Anderen nach, konkurriert

275 Breithaupt geht von Lessings Hamburger Dramaturgie aus und stellt dabei fest, dass schon in diesem Text das Ich als Antagonist der durch Mitleid vereinten Gemeinschaft verstanden wird. Das Ich und die Egozentrik können dazu führen, dass das Individuum die Gemeinsamkeit vergisst und nicht mehr imstande ist, Ähnlichkeiten mit den anderen herzustellen. Diesen Befund überträgt Breithaupt auf seine Überlegungen zu weiteren literarischen Texten, um zu fragen, wie diese die aktive Produktion von Ähnlichkeiten steuern und auf welche Weise sie den Einsatz des Ichs als Schutz vor zu viel Empathie vorprogrammieren können. Ebd., 54–64. 276 Mehr zum Thema Gombrowicz und Girard vgl. Maciej Chrzanowski, „Pragnienie a kultura. Perspektywy wykorzystania koncepcji antropologicznych René Girarda i Witolda Gombrowicza“, in Mêlée Nr. 2–3/2008, 162–171. Oder Anna Fiałkiewicz-Saignes, „Witold Gombrowicz et René Girard“, in Małgorzata Smorąg-Goldberg (Hg.), Gombrowicz, une gueule de classique?, Paris 2008, 129–140. 277 René Girard, Figuren des Begehrens: Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, übers. v. Elisabeth Mainberger-Ruh, Münster u. a. 2012, 16. Auch Breithaupt entwickelt in der schon erwähnten Studie das Modell der narrativen Empathie, das ebenso drei Individuen involviert: Der Beobachter schaut einem Konflikt oder einer Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Instanzen zu und muss sich für eine der beteiligten Parteien entscheiden. Breithaupt nimmt Bezug auf Girard und bemerkt, dass dessen Theorie des mimetischen Begehrens thematisch und strukturell mit seiner Theorie übereinstimmt. Fritz Breithaupt, Kulturen der Empathie, 109. 278 Dem Thema des Begehrens bei Gombrowicz widmet sich Olaf Kühl in seiner Dissertation Stilistik einer Verdrängung, in der er vor allem den Roman Kosmos unter lexikalischen und semantischen Aspekten analysiert. Kühl spricht von der spezifischen „Rede der Begierde“ bei Gombrowicz: „Sobald das erotische Objekt […] ins Sichtfeld tritt, ändert sich der Stil signifikant. Ich nenne diesen Stil Rede der Begierde in Anspielung auf den Ausdruck Sprache des Wunsches, mit dem Paul Ricœur auf Freuds



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mit ihm und wird ihm zugleich immer ähnlicher – Girard spricht sogar vom monströsen Doppelgänger und von der „schwankenden Differenz“ zwischen den Rivalen.279 Auch hier wird also auf die double bind-Struktur, auf die Doppelbewegung zwischen dem Ich und dem Anderen hingewiesen, die auf gleichzeitigem Nachahmen und Rivalisieren, auf Affirmation und Ablehnung oder, noch weiter gedacht, auf Annäherung und Distanzierung beruht. Im Kontext der Erzählsituation in Pornographie erklärt Girards These die Un­ entbehrlichkeit des Anderen für den Prozess der Herausbildung und Entfaltung des Selbst. Gombrowicz und Girard verbindet die Vorstellung von der Unmöglichkeit einer kohärenten Identität, die immer mangelhaft bleiben muss: An die Stelle des Identischen in der Konstruktion des Ichs tritt das Nachgeahmte und Wiederholte. Friedrich übernimmt die Rolle eines ebenso zwiespältigen wie notwendigen Ergänzungselements bei der Selbsterkenntnis des Ich-Erzählers. Doch der Aspekt des Antagonismus, den Girard in der Konzeption des mimetischen Begehrens hervorhebt, ist in Pornogra­ phie nicht besonders stark ausgeprägt. Das Verhältnis zwischen Friedrich und dem Ich-Erzähler ist nicht durch Konflikte bestimmt, sondern durch die Kooperation bei der Durchführung der Intrige.

3.5.5 D  ialektik der Verführung oder über die andere Art der künstlerischen Distanzierung Die Dialektik der Verführung lässt sich auch auf die Haltung des Ich-Erzählers zu seinem Erzählstoff im Allgemeinen übertragen. Um diese metapoetologische Überlegung in Pornographie zu rekonstruieren, sollte man sich zunächst vergegenwärtigen, welche Erzählpositionen grundsätzlich im Roman als Gattung vorkommen können. Eine Möglichkeit ist die distanzlose Einstellung zur erzählten Welt. Sie wird von der Figur des Pícaro im Schelmenroman verkörpert. Michał Głowiński weist in seinem Aufsatz auf die intertextuellen Bezüge in den Werken von Gombrowicz hin und bemerkt, dass in Pornographie – und noch stärker in Ferdydurke und Trans-Atlantik – die Erzählweise des pikaresken Romans parodiert wird.280 Gombrowicz’ Rekurse auf den Plauderton der Gattung gawęda erinnern Głowiński in ihrer Naivität und Geschwätzigkeit an das Geschichtenerzählen des Pícaro, der die Geschehnisse nicht analysiere, weil sie für ihn kein Gegenstand intellektueller Überlegungen seien. Das, was auf ihn zukomme, könne er nicht problematisieren, sondern er lasse sich davon treiben – als

These Bezug nimmt, dass jeder Traum eine Wunscherfüllung beinhalte.“ Olaf Kühl, Stilistik einer Ver­ drängung, 225. 279 René Girard, Das Heilige und die Gewalt, 242. 280 Michał Głowiński, „Parodia konstruktywna (O Pornografii Gombrowicza)“, in Zdzisław Łapiński (Hg.), Gombrowicz i krytycy, 372.

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Erzähler sei er deshalb naiv, unreif und von Abenteuern fasziniert, denen er sich b ­ esinnungslos hingebe.281 Głowiński untersucht bei Gombrowicz die Parodie dieser Erzählvariante. Wenn man die Distanzlosigkeit des Pícaro und sein Ausgeliefertsein an das Schicksal als eine Extremvariante des Erzählens verstehen will, ist deren Kehrseite die ­Erzählweise des romantischen Ironikers bzw. ihre moderne Version. Diese radikale Haltung lässt sich unter anderem bei Charles Baudelaire finden, dessen Reserviertheit Jean-Paul Sartre als pervers und voyeuristisch interpretiert: Der leidenschaftliche Mensch vergisst sich im Rausch der Sinne. Baudelaire ­verliert sich nie. Der eigentliche Geschlechtsakt widert ihn an, weil er natürlich und brutal ist und eine Verbindung mit dem anderen herstellt. […] Aber es gibt auch ­Vergnügungen auf Distanz: sehen, betasten, den Geruch der Frau einatmen. Zweifellos waren es Genüsse dieser Art, die er sich verschaffte. Er war Voyeur und Fetischist. […] Der Voyeur liefert sich nicht aus: ein obszönes, geheimes Erschaudern überläuft ihn, während er, selbst vollkommen bekleidet, die Nacktheit betrachtet, ohne sie ­anzurühren. Er tut Böses und weiß es. Er besitzt den Partner aus der Ferne und gibt sich nicht hin.282

Diese Perspektive Baudelaires führt auch Jerzy Jarzębski an, um zu veranschau­lichen, dass Gombrowicz die moderne ironische Distanziertheit wesentlich modi­fiziert. Dessen Erzähler würden nicht nur Abstand von der Wirklichkeit anstreben, sondern wollten auch in das Geschehen eindringen und einen Abdruck ihrer Existenz in der Welt hinterlassen.283 Als eine Art Polemik gegen die Baudelaire zugeschriebene Verweige-

281 Głowiński beruft sich auf den berühmten Aufsatz von Claudio Guillén. Vgl. Claudio Guillén, „Toward a Definition of the Picaresque“, in ders., Literature as System: Essays Toward the Theory of Lite­ rary History, New Jersey 2015, 71–106 (1. Ausgabe 1971). In der neuesten Forschungsliteratur zur Figur des Pícaro wird die Ambivalenz und Beweglichkeit seiner Erzählperspektive betont. Hanno Ehrlicher zum Beispiel meint, dass man Pícaro nicht mit dem Paulus-Saulus-Schema einer einfachen Wandlung definieren könne. Er sei vielmehr eine „potenzierte bewegliche Figur, da er nicht nur von einem semantischen Feld ins andere übertritt, sondern auch die strukturelle Umkehrbarkeit dieses Übertritts deutlich werden lässt.“ Sein Übertritt zum Guten bleibe offen, die Fortsetzung seiner Geschichte werde angekündigt und verschoben, so dass „der Pícaro nicht zum Stillstand und auch das Sujet nicht zum Abschluss“ komme. Für Ehrlicher zeichnet sich der pikareske Roman durch ein Subjektverständnis aus, das in seiner Unabgeschlossenheit dem Ich-Erzähler in Gombrowicz’ Romanen ähnelt: „Die Position der barocken Pikareske changiert so im Spannungsfeld zwischen der Behauptung einmaliger geistig-moralischer Konversion und der karnevalesken Logik des permanenten Rollenwechsels. Sie hält sich in between.“ Hanno Ehrlicher, Zwischen Karneval und Konversion: Pilger und Pícaros in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Paderborn u. München 2010, 20. 282 Jean-Paul Sartre, Baudelaire: Ein Essay, Hamburg 1953, 63. 283 „Gombrowicz nie godzi się nigdy na zatratę Ego; jego ideałem jest odciśnięcie własnego ja w żywej, ruchliwej tkance otaczającego świata“. [Gombrowicz ist niemals mit dem Verlust des Ego einverstanden; sein Ideal ist es, einen Abdruck vom eigenen Ich im lebendigen, beweglichen Gewebe der umgebenden Welt zu hinterlassen. Übers. v. AH]. Jerzy Jarzębski, Gra w Gombrowicza, 310.



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rung von rauschhafter Sinnlichkeit und Selbstauflösung lassen sich in Pornographie die Beschreibungen der Verführungsekstase deuten. Auch Robert Musil bedient sich der Vorstellung von einem distanzierten Beobachter. Inspiriert von Friedrich Nietzsche bezeichnet er sich in seinen frühen Tagebucheinträgen selbst als „monsieur le vivisecteur“, der die Wirklichkeit wie ein Forscher eine Mücke in einem Bergkristall betrachte. Erst in dieser Perspektive würden die Dinge in ihm „ein ästhetisches Wohlbehagen“ wachrufen und „ein Gefühl der Sympathie“ anklingen lassen.284 Sein künstlerisches Credo lautet: Mein Leben: ---- Die Abenteuer und Irrfahrten eines seelischen Vivisectors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts! […] Bei mir ist die Wonne mit mir selbst allein zu sein, ganz allein. Die Gelegenheit [,] in der nicht uninteressanten Geschichte m. l. v. [monsieur le vivisecteur – AH] blättern zu können, ohne obligo mich hier zu entrüsten dort zu freuen, mein eigener Historiker sein zu können, oder der Gelehrte zu sein, der seinen eigenen Organismus unter das Mikroskop setzt und sich freut, sobald er etwas neues findet. Was ausnahmsweise einmal keine Pose bedeutet! Man leistet sich selbst Gesellschaft.285

Zu Musils Distanziertheit gehören auch Einsamkeit, Isolation und emotionale Abgestumpftheit. Das künstlerische Schaffen assoziiert er mit einer Allegorie der Wissenschaft – dem Mikroskop. In Gombrowicz’ Erzählstrategie ist die Dialektik der Verführung zwischen den beiden extremen Positionen anzusiedeln, die von Pícaro und dem Vivisector symbolisiert werden. Gombrowicz modifiziert bzw. parodiert die beiden Modelle und verbindet sie zu einer neuen Einheit, einer anderen Auffassung des Erzählers bzw. des Künstlers und seiner Einstellung zur Welt, die weder pikareske Weltoffenheit noch distanzierte Ironie ist. Um diese Erzählhaltung nicht weiter ex negativo zu definieren, habe ich nach weiteren Ansätzen gesucht, die über diesen Gegensatz hinausdenken und auf eine andere Art künstlerischer Distanznahme zielen. Hier scheint Michail Bachtins Begriff der Außerhalb-Befindlichkeit hilfreich zu sein. Neben Dialogizität, Polyphonie, Karnevalisierung oder Chronotopos gehört sie zu den wichtigsten von ihm geprägten Begriffen, die international in Kulturwissenschaften genutzt werden. Außerhalb-Befindlichkeit ist eine wörtliche Übersetzung des russischen „вненаходимость“ (vnenachodimost’), das aus dem Präfix „вне-“ (außerhalb) und dem substantivierten Verb „находиться“ (sich befinden, dastehen, sich aufhalten) besteht. In der Sekundärliteratur findet man aber auch die Übertragung „Exotopie“; so hat Tzvetan Todorov den Begriff in seinem Bachtin-Buch ins Französische übertragen. Todorov hat sich, neben Julia Kristeva, Anfang der 1980er Jahre besonders dafür engagiert, das Werk des russischen Theoretikers in der westlichen intellektuellen

284 Robert Musil, Tagebücher, hg. v. Adolf Frisé, Reinbek bei Hamburg 1976, 1. 285 Ebd., 2 f.

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Szene bekannt zu machen, deshalb sind seine Übersetzungen in der Bachtin-Rezeption weit verbreitet.286 Die Bedeutung des Begriffs Außerhalb-Befindlichkeit lässt sich aufgrund des breiten Spektrums seiner Anwendung bei Bachtin selbst nur schwer eingrenzen. Er bezeichnet einen Mechanismus oder eine Dynamik, die sich auf verschiedenen Ebenen abspielt und sowohl produktions- auch die wirkungsästhetische Aspekte betrifft. Außerhalb-Befindlichkeit bezieht sich auf Spannungsverhältnisse: zwischen dem Künstler und der Wirklichkeit sowie zwischen dem Künstler und seiner Kunst, zwischen dem Rezipienten und dem Kunstwerk und zwischen dem Ich und dem Anderen im Allgemeinen; der Begriff kann aber auch Relationen innerhalb des Kunstwerks beschreiben, etwa zwischen der Erzählinstanz und den Figuren.287

286 Sein Handbuch ist eine der ersten umfangreichen Monographien, die das Gesamtwerk des russischen Denkers in Westeuropa präsentierten. Tzvetan Todorov, Mikhaïl Bakhtine: Bakhtine, le prin­ cipe dialogique. Suivi de écrits du cercle de Bakhtine, Paris 1981. Bei der Beschreibung des Begriffs vnenachodimost’ von Bachtin liefert Todorov viele einleuchtende Formulierungen wie „der Prozess der Empathie und Abstraktion“ oder „die Reintegration mit dem eigenen Standpunkt“: „Bakhtine gardera de ce schème l’idée de la sortie de soi: en littérature, par example, le romancer crée un personnage matériellement distinct de lui-même; mais plutôt que de postuler deux variantes de cette acticité (empathie et abstraction), Bakhtine affirme la nécessité de distinguer deux stades dans tout acte créateur: d’abord celui de l’empathie, ou de l’identification (le romancier se met à la place de son personnage), ensuite celui d’un mouvement inverse, par lequel le romancier réintègre sa propre position. A ce second aspect de l’activité créatrice, Bakhtine réserve une denomination qui est, en russe, un néologisme: vnenakhodimost’, littéralement ‚le fait de se trouver au-dehors‘, et que je traduirai, littéralement encore, mais à l’aide d’une racine grecque, par exotopie.“ Ebd., 153. 287 Zur Kontextualisierung dieses Begriffs in philosophischen Texten lässt sich feststellen, dass Bachtin unter dem Einfluss russischer Denker seiner Zeit wie zum Beispiel des Philosophen und Theologen Nikolaj Losskij (1870–1965) stand. Vgl. Vladimir Babič, „Losskij i Bachtin. Opyt sravnenija“, in Dialog. Karna­ val. Chronotop Nr. 4/1994, 34–36. Bachtin war aber auch von der deutschen Philosophie und Ästhetik des auslaufenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts inspiriert. Er kannte die Einfühlungstheorie, die Ideen der Neukantianer sowie die Schriften von Wilhelm Windelband (1848–1915), Johannes Volkelt (1848–1930) oder Jonas Cohn (1869–1947), dessen Begriff der Transgredienz in der Abhandlung Allgemei­ ne Aesthetik (1901) ihn besonders prägte. Alle bereits genannten deutschen Philosophen wurden damals in Russland breit rezipiert und besprochen, z. B. in einem bekannten Kompendium von Ivan Lapšin Pro­ blema „čužogo ja“ v novejšej filosofii, Sankt Petersburg 1910. Verfügbar unter: http://books.e-heritage. ru/book/10072752 (25. Mai 2017). Mehr zum Thema des (neo)kantischen Echos in Bachtins Konzepten in Bernhard F. Scholz, „Bakhtin’s Concept of Chronotope: The Kantian Connection“, in David Shepherd (Hg.), The Contexts of Bakhtin: Philosophy, Authorship, Aesthetics, Amsterdam 1998, 141–172. Oder Ulrich Schmid, „Der philosophische Kontext von Bachtins Frühwerk“, in Michail Bachtin, Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit, hg. v. Rainer Grübel u. a., übers. v. Hans-Günter Hilber u. a., Frankfurt a. M. 2008, 7–32 (über Neokantianismus, 17–20). Auch die Gedanken von Hermann Cohen, vor allem sein Konzept der ästhetischen Liebe, auf das sich Bachtin in seinen Texten beruft, spielen eine wichtige Rolle bei der Profilierung des Begriffs der Außerhalb-Befindlichkeit. Bachtin bezieht sich in der bereits erwähnten Studie Autor und Held mehrfach auf Hermann Cohen (1842–1918) und seine Abhandlung Ästhetik des reinen Gefühls aus dem Jahr 1912. Zum Einfluss des Hauptvertreters der Marburger Schule auf Bachtins Ästhetik vgl. die ausführliche Anmerkung des Übersetzers ebd., 283 f.



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Die Bedeutung, die Bachtin diesem Begriff zuschreibt, hat viele Ähnlichkeiten mit der anhand von Gombrowicz’ Pornographie ausgearbeiteten Dialektik der Verführung. Als Außerhalb-Befindlichkeit bezeichnet Bachtin nämlich auch ein besonderes Wechselspiel zwischen Partizipation und Separation, das er in seiner Abhandlung Die Ästhetik des Wortes mit seiner Künstlerkonzeption verbindet: Die ästhetisch bedeutsame Form ist Ausdruck einer wesentlichen Beziehung zur Welt des Erkennens und Handelns, diese Beziehung ist jedoch nicht gnoseologischer und ethischer Art: der Künstler mischt sich nicht in das Ereignis als unmittelbar Beteiligter ein – er erwiese sich dann als Erkennender und ethisch Handelnder –, sondern er nimmt eine wesentliche Position außerhalb des Ereignisses ein, als Betrachter, dessen Interessen nicht berührt werden, der jedoch den wertmäßigen Sinn des Geschehenden versteht; er erlebt es nicht, sondern er erlebt es mit: denn, ohne in bestimmtem Maße mitzubewerten, ist es unmöglich, ein Ereignis als Ereignis wahrzunehmen. Diese Außerhalb-Befindlichkeit (nicht aber Indifferenz) gestattet es der künstlerischen Aktivität, das Ereignis von außen zu vereinigen, zu formen und zu vollenden.288

Bachtin entwirft ein scheinbar paradoxes Bild der künstlerischen Haltung, das zwischen den extremen, vorher besprochenen Positionen von Pícaro und Vivisector oszilliert. Die Außerhalb-Befindlichkeit bedeutet weder Isolation noch Abgestumpftheit. Im Gegenteil, sie setzt ein gewisses Engagement, eine Bereitschaft zum Mit­ erleben und zum Partizipieren voraus. In seiner anderen Abhandlung Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit bezeichnet Bachtin die Außerhalb-Befindlichkeit auch als „liebevolle Entfernung“ oder „ein teilnehmendes Verstehen […] durch einen realkognitiven und auch ethisch unbeteiligten Beobachter“.289 In der Auswahl dieser Adjektive zeichnet sich paradoxerweise eine emotionale und empathische Dimension der distan­zie­renden Geste ab. So führt Bachtin seine Künstlerauffassung auf eine Art der künst­­­lerischen Distanzierung von der Welt zurück, in der – wie in Gombrowicz’ Roman – Partizipation und Separation untrennbar miteinander verbunden sind. Die Außer­­halb-Befindlichkeit ist also eine Doppelbewegung von gleichzeitiger Annäherung und Entfernung – in Pornographie wird sie literarisch dargestellt. Die Vielfalt der Kontexte, in denen Bachtin seinen Begriff verwendet, ermöglicht neue Interpretationen von Gombrowicz’ Werk. Der russische Theoretiker verfolgt die analysierte Dynamik auf mehreren Ebenen und betrachtet sie sowohl aus der Mikroals auch aus der Makroperspektive. Zunächst bezeichnet er mit Außerhalb-Befindlichkeit die Relation zwischen dem Autor – den man heute eher Erzählinstanz nennen würde – und den Figuren.290 Weiter bezieht er seinen Neologismus auf die Kunst im

288 Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese, Frankfurt a. M. 1979, 118. 289 Ders., Autor und Held, 69. 290 „Der Autor steht in einer spannungsvollen Außerhalb-Befindlichkeit gegenüber allen Momenten des Helden, einer Außerhalb-Befindlichkeit in Bezug auf Raum, Zeit, Wert und Sinn, die es ermöglicht, den ganzen Helden, der in einer aufgegebenen Welt der Erkenntnis und im offenen Ereignis

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Allgemeinen. Die ästhetische Tätigkeit besteht ihm zufolge aus zwei Stufen: Auf das Sicheinleben in das Kunstwerk folgt die Phase, in der man zu sich selbst zurückkommt.291 Darüber hinaus bezieht sich der Begriff auf etwas wie eine anthropologische Gesetzlichkeit und meint damit das Verhältnis des Ichs zum anderen Menschen. Die Außerhalb-Befindlichkeit hat eine „moralische“ Dimension und ermöglicht „die wertmäßige Bestätigung und Akzeptanz des inneren Seins des Anderen“.292 Ferner ist sie für ihn auch eine Bezeichnung für eine „interkulturelle Dynamik“, die Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen beschreibt. In einem kurzen Artikel für die Zeitschrift Nowy Mir stellt Bachtin fest, dass die Außerhalb-Befindlichkeit das „kreative Verstehen“ anderer Kultur unterstützen könne, weil diese Position nicht auf eine Verschmelzung oder Vermischung der Kulturen, sondern auf den Dialog zwischen ihnen ziele.293 Schließlich ist die Außerhalb-Befindlichkeit Bachtin zufolge für die Geisteswissenschaften bedeutsam, insbesondere für die Literaturwissenschaft. In Notizen aus den Jahren 1970 und 1971 sowie in seinem letzten, unvollendeten, 1975 postum ver­ öffentlichten Artikel über die Methodologie der Literaturwissenschaft bemerkt er, dass seine Disziplin stets das Nicht-Identische, die unvollkommene Annäherung an ihren Forschungsgegenstand anstrebe – im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die das Objekt ihrer Untersuchungen in Besitz nehmen und die Relation zwischen fremd und eigen gänzlich aufheben wollten.294 Mit all diesen Bedeutungsfeldern, die Bachtin dem Begriff der Außerhalb-Befindlichkeit zuschreibt, kann man die Dialektik der Verführung in Pornographie lesen. Gombrowicz führt dort auf literarischer Ebene Nähe und Distanz zusammen. Die Spannung zwischen Partizipation und Separation – verstanden als Selbstvergessenheit des Ichs, als mimetisches Vermögen und Nachahmung des Anderen sowie als darauf folgende Distanzierung – hat in seiner Prosa auch ein erkenntnistheoretisches Potenzial und bestimmt grundsätzlich das Verhältnis des Subjekts zum Fremden. Wie wichtig dieses Wechselspiel von Sichhineinversetzen und Distanznahme für sein Gesamtwerk ist, zeigt der Film des argentinischen Regisseur Alberto Fischerman aus dem Jahr 1986. Gombrowicz, o la seducción [Gombrowicz, oder die Verführung] ist ein Paradokument über den polnischen Schriftsteller, in dem seine alten Freunde aus Buenos Aires auftreten. Statt über ihn zu sprechen, schlüpfen sie in seine Haut und spielen Szenen, in denen Gombrowicz gewissermaßen die Hauptrolle erhält. Sie ahmen seine Gesten nach, wiederholen seine Worte und bemühen sich dadurch um eine Annäherung an ihn als Menschen. Gleichzeitig distanzieren sie sich aber von ihm,

eines ethischen Aktes aus seinem Inneren heraus zerstreut und zerrissen ist, zum Ganzen zu fügen, ihn und sein Leben durch jene Momente zu einem Ganzen zu vervollständigen, die ihm selbst in seinem Inneren unzugänglich sind.“ Ebd., 68. 291 Ebd., 79 f. 292 Ebd., 190. 293 Ders., Èstetika slovesnogo tvorčestva, 328–335. 294 Ebd., 336–373.



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indem sie die Künstlichkeit ihres Vorgehens herausstellen. Der Film übernimmt also die Darstellungsweise von Pornographie und wendet sie auf das Erzählen über Gombrowicz selbst an.

4 Schlussbemerkungen Die Verführung nimmt in den Werken von Musil, Schulz und Gombrowicz unterschiedliche Manifestationsformen an. Als heuristische Kategorie und ästhetischer Grund­ begriff verstanden eignet sie sich vorzüglich für die Analyse der epistemologischen, anthropologischen und ontologischen Dimensionen der literarischen Texte dieser und anderer Autoren der Moderne. Die drei genannten Aspekte schaffen in dieser Zusammenführung eine neue theoretische Qualität und skizzieren Grundrisse einer Philosophie der Verführung, die die Theorie der Prosa der Moderne erweitern kann. Sowohl Musil als auch Schulz und Gombrowicz thematisieren in ihren Texten die Verführung und verfolgen damit ähnliche Absichten. Eine der Qualitäten, die sie dieser Kategorie zuschreiben, ist die Reziprozität: Sie stellen die Verführung als einen wechselseitigen Prozess dar und hinterfragen auf diese Weise konventionelle binäre Einteilungen wie etwa die in Subjekt und Objekt oder in Aktivität und Passivität. Ein weiteres Merkmal, das aus dieser Verwischung der Grenzen zwischen Dichotomien ­resultiert, ist die Tatsache, dass die Subjekte in ihren Werken stets in die eigenen ­Strategien verwickelt sind; sie verführen andere und werden zugleich selbst verführt. Darüber hinaus bezieht sich das verführerische Spiel nicht ausschließlich auf interpersonale Beziehungen. Die Verführung hat auch viel mit der Umgebung und ihrer Atmosphäre zu tun und bezeichnet das Verhältnis des Individuums zur Außenwelt, von der es hingerissen, ergriffen oder angezogen sein kann. Auffällig ist auch, dass die Verführungskraft mit der Hermetik zusammenhängt: Alle drei Schriftsteller beziehen sich auf hermetische Sprache, naturmagisches Denken, frühmoderne Vorstellungen von attrahierenden und repulsiven Kräften, um die Durchquerung alter und neuer Wissenspraktiken zu zeigen. Wichtig für die Vorstellungswelt der analysierten Prosa ist eine Auffassung vom Menschen, der sich nicht von der Wirklichkeit abgrenzt, sondern mit ihr verschmilzt – sich von ihr verführen lässt. Die Protagonisten empfinden die Welt als unverständlich und versuchen dem Unbegreiflichen einen Sinn zu verleihen, indem sie etwa alternative Experimente, die dem traditionellen Wissenschaftsverständnis nicht entsprechen, durchführen oder neue Zusammenhänge zwischen inkommensurablen Dingen schaffen und diese zu Möglichkeitsketten, Analogien oder Konstellationen ordnen. Von diesen anderen, selbst ausgedachten Formen von Sinn werden sie dann emotional so affiziert und eben verführt, dass sie schließlich in ihnen aufgehen. Die Verführung ist somit als eine jener Techniken des Selbstverlustes zu bezeichnen, nach deren Trägern und Medien Peter Fenves in Arresting Language sucht: Other techniques operate on the „subject“ and make „oneself“ into configurations of inconsistency. Surrealism is an inventory of such techniques, and so, too, are epic theater, In Search of

https://doi.org/10.1515/9783110572049-004

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 Schlussbemerkungen

Lost Time, psychoanalysis, photography, film, and urban architecture – to say nothing of drugs, graphology, and even certain forms of violence.1

Die Erwähnung in dieser Reihenfolge des Werkes von Marcel Proust, das als repräsentativ für die Prosa der Moderne gelten kann, ist nicht zufällig und betont, wie intensiv sich die Literatur dieser Zeit mit dem Thema der Selbstvergessenheit des Individuums auseinandersetzte. Die Verführung ist also eine Metapher bzw. ein Anlass für die Darstellung der Einswerdung des Subjekts mit den von ihm selbst geschaffenen Konstellationen. Selbstverlust und Selbstvergessenheit sind ein wichtiges Thema in der Literatur dieser Zeit – auch auf der Metaebene. Das Sichverlieren betrifft in der modernen Prosa nicht nur die literarischen Figuren, sondern auch die Rezipienten, die von den Texten gefesselt werden und sich lustvoll in ihnen verlieren sollen. Verführung kann man demnach als poetologisches Prinzip und literarische Strategie der Prosa der Moderne verstehen, worauf Roland Barthes in seiner Abhandlung Lust am Text (1973) eingeht: Von daher kann man vielleicht die Werke der Moderne einschätzen: ihr Wert ergäbe sich aus ihrer Duplizität. Darunter ist zu verstehen, dass sie immer zwei Seiten haben. Die subversive Seite mag privilegiert erscheinen, weil es die Seite der Gewalt ist; aber nicht die Gewalt imponiert der Lust; die Zerstörung interessiert sie nicht; was sie will, ist ein Ort des Sichverlierens, der Riss, der Bruch, die Deflation, das fading, das das Subjekt mitten in der Wollust ergreift. Die Kultur kehrt also als die andere Seite wieder: in beliebiger Form.2

Barthes wiederholt teilweise den bekannten Erzählrahmen über die Werke der Moderne. Die moderne Prosa zeichnet sich für ihn zum einen durch Gewalt aus, mit der hier die radikale Abkehr von den bisherigen narrativen Schemata gemeint ist. Zum anderen betont er ihr weiteres Merkmal. Sie ist ihm zufolge ein „Ort des Sichverlierens“, in dem das lesende Subjekt Wollust empfindet. Diese einleuchtende Überlegung aus dem Bereich der Wirkungsästhetik veranschaulicht die Idee, die sich hinter den Texten von Musil, Schulz und Gombrowicz verbirgt. In ihnen wird verführerisch über die Verführung geschrieben. Es geht aber nicht nur um die Lust der Rezipienten an der Lektüre, sondern auch um die Einstellung der Erzählinstanz zum Thema, zum Gegenstand der Beschreibung – eine Einstellung, die wissenschaftskritische Konsequenzen hat. Das moderne Modell der Relation zwischen dem Subjekt und der Umwelt beruht auf einem prekären Verhältnis. Die Dialektik der Verführung oder, anders formuliert, die Dynamik der Partizipation und Separation zeigt sich auf der Handlungsebene der Werke als Annäherung der Erzählinstanz an das Objekt, als Verschmelzung mit ihm, als Selbstverlust und Versuch, wieder zu sich selbst zu kommen. Diese Dynamik schildert Gombrowicz

1 Peter Fenves, Arresting Language, 225 f. 2 Roland Barthes, Die Lust am Text, übers. v. Traugott König, Frankfurt a. M. 1996, 14.

Schlussbemerkungen 

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mit wenigen Worten in Pornographie. Der Ich-Erzähler bezeichnet seine Haltung zur Wirklichkeit als einen Versuch der Distanzierung, der allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Er spricht davon, dass er sich bei der Beobachtung einer Situation bemühe, „den Anschein des Forschers bei dieser Vergnügung“ (P 56) oder „in der Trunkenheit die Miene des Forschers“ (P 54) zu bewahren. Doch alle Objektivierungs- und Distanzierungsversuche sind Täuschung und Attitüde, er ist mit dem ­Beobachteten verzahnt, unterliegt dessen Verführungskraft, so dass er sich wie in Rausch oder Ekstase selbst vergisst. Nicht über etwas sprechen, sondern sich davon verführen lassen und ein Teil davon werden – in diesem Satz ist das Erzählprinzip von Musil, Schulz und Gombrowicz pointiert ausgedrückt. In ihren Werken polemisieren sie gegen die objektivis­ tischen Erkenntniskonzeptionen verschiedener philosophischer Provenienz: gegen den positivistischen Objektivismus, gegen den metaphysischen Erkenntnisbegriff und gegen die phänomenologische Reduktion. Dass das Subjekt eine unantastbare Position gegenüber dem Objekt einnehmen könne, halten sie für Fiktion und Utopie – oder, wie man heute sagen würde, für einen überholten Diskurs. Deshalb entwerfen sie in ihren Werken alternative Relationen zwischen den Figuren und der beschriebenen Wirklichkeit, die es ihres Erachtens nur in der Sprache gibt. Ihre literarischen Texte haben ein epistemologisches und ontologisches Potenzial, bei dem es nicht darauf ankommt, das Objekt, das Phänomen oder das Andere zu verstehen, sein Geheimnis aufzudecken und es zum Stillstand zu bringen. Vielmehr besteht das Verhältnis des Menschen zur Welt darin, dass er ihre Unverständlichkeit wiederholt, sich ihr empathisch annähert, an ihr partizipiert, sich in sie hineinversetzt und ihr dadurch Sinn verleiht. Auf diese Weise verschwinden die Hierarchien in den Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt, Erhabenem und Banalem, Hohem und Niedrigem zugunsten eines verführerischen Spiels, in dem sich die Wege der Erkenntnis und der Wahrnehmung mit denen der Verführung überschneiden. Ausgehend von der Prosa der Moderne wäre es lohnenswert zu untersuchen, wie dieser literarisch imaginierte Typus der anderen Relation in den Geisteswissenschaften zum Ausdruck kommt. Es handelt sich um eine aus der Literatur abgeleitete Auffassung von Theorie, die man als Herausforderung für die Wirklichkeit, als Partizi­ pieren, Handeln und Eingreifen in die Welt und in symbolische Universen sowie als performative Antwort auf sie begreifen kann. Damit ist eine besondere, nicht epistemologische, sondern praktische und handelnde Haltung gemeint, der das Eintauchen in den Forschungsgegenstand, das mimetische Vermögen des Subjekts und seine Lust am Selbstverlust zugrunde liegen. Das zu performierende Objekt wird nachgeahmt, wiederholt und dadurch transformiert – genauso wie das schaffende Ich. Die Rever­ sibilität dieser Relation bringt meines Erachtens der Begriff der Verführung auf den Punkt. Der erkenntnistheoretische Rahmen, den man den Werken von Musil, Schulz und Gombrowicz entnehmen kann, verweist auf methodologische Reflexion ver­schie­ dener geisteswissenschaftlicher Disziplinen des 20. Jahrhunderts und ist kompatibel mit analytischen Strategien wie mit der konstellativen Analyse von Theodor W. A ­ dorno,

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 Schlussbemerkungen

Jacques Derridas Herangehensweise an Phänomene wie Stil und Ton, Aby Warburgs Methode des Mnemosyne-Atlasses oder dem Konzept der dichten Beschreibung von Clifford Geertz. Dieses Buch beginnt mit drei Mottozitaten und wird auch mit drei Mottozitaten enden. Zum Schluss möchte ich noch einmal die Besonderheit des in der Studie beschriebenen anderen Verhältnisses der Figuren in der Prosa der Moderne zur Wirklichkeit anhand ein paar bildhafter Zitate verdeutlichen, die bestimmte literarische Vorstellungen in pointierter Weise markieren. Die Protagonisten bei Musil, Schulz und Gombrowicz sind mit der Unfassbarkeit der Welt konfrontiert, aber ihre Reaktion darauf ist kein „Ich verstehe die Welt nicht mehr!“3 Dieses geflügelte Wort stammt aus Friedrich Hebbels Tragödie Maria Magdalena, dem letzten deutschen Trauerspiel aus dem Jahr 1843. Die Hauptfigur Meister Anton spricht diesen Satz aus, nachdem seine Tochter aus Furcht vor Schande Selbstmord begangen hat. Er drückt damit Konfusion, Ratlosigkeit und Verblüffung gegenüber der Wirklichkeit aus, die auf einmal fremd geworden ist. Der bürgerliche Sittenkodex hat sich als Scheinwelt erwiesen, die Vorstellung von einer unbezweifelbaren Ordnung ist zusammengebrochen, die vorher vertraute Welt erscheint unverständlich. In der Prosa der Moderne handelt es sich jedoch um eine andere Art von Unverständlichkeit des Seins und der Welt, die – nach der Logik der Verführungskraft – nicht konfus macht, sondern fasziniert. Statt befremdlich wirkt sie rätselhaft und verführerisch. Diese andere Haltung der Unverständlichkeit gegenüber bringt Ulrich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften auf den Punkt: Ist denn die Wahrheit, die ich kennenlerne, meine Wahrheit? Die Ziele, die Stimmen, die Wirklichkeit, all dieses Verführerische, das lockt und leitet, dem man folgt und worein man sich stürzt: – ist es denn die wirkliche Wirklichkeit, oder zeigt sich von der noch nicht mehr als ein Hauch, der ungreifbar auf der dargebotenen Wirklichkeit ruht?!4

Von der abstrusen Wirklichkeit strahlt eine verlockende Anziehungskraft aus. Das Individuum lässt sich von ihr leiten, möchte sich vertrauensvoll und unreflektiert in sie hineinstürzen. Eine Affirmation, die aber nichts mit der etwas infantilen, verharmlosenden Einstellung zur Welt zu tun hat, wie sie sich z. B. in dem folgenden Zitat ausdrückt, einem Satz aus Jean Pauls Roman Der Komet oder Nikolaus Marggraf (1820– 1822): „Und ich liebe nun die ganze Welt, als wär’ ich ein Kind.“5 Dieser romantische Zugang zur Wirklichkeit läuft auf eine Ästhetisierung des Unbegreiflichen hinaus. In der Prosa der Moderne hingegen sind die Relationen komplexer. Das Individuum gibt sich der Wirklichkeit hin, lässt sich von ihr verführen, behält aber zugleich seine

3 Friedrich Hebbel, Maria Magdalena, Stuttgart 2002, 95 (dritter Akt, Szene 11). 4 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, 66. 5 Jean Paul, Der Komet, 1003.

Schlussbemerkungen 

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eigene Anziehungskraft und spielt ein verführerisches Spiel mit der Umgebung. Die Philosophie der Verführung in der Prosa der Moderne ist ein Versuch, in litera­ rischer Form über einen anderen Modus der Erkenntnis und des In-der-Welt-Seins nachzudenken.

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Personen-Index Adamowsky, Natascha 103 Adorno, Theodor W. 9, 172 f., 254–256, 286–289, 329 Agamben, Giorgio 39, 42 f., 122, 129, 282 Agnon, Samuel Joseph 175 f., 191 Albertsen, Elisabeth 274 Albrecht, Andrea 254 Aldrovandi, Ulisse 235 Alighieri, Dante 157, 316 Allemann, Beda 288 Althusser, Louis 59 Alt, Peter-André 163 Andreae, Johann Valentin 120 Angermann, Asaf 254 Appel, Sabine 213 Arich-Gerz, Bruno 104 Aristoteles 166, 242, 257, 268 f., 279 Arndt, Hans Werner 64 Arnold, Fritz 30 Arp, Hans 118 f. Assmann, Aleida 68 f. Auerbach, Erich 13 f. Augsburger, Janis 23 Aumüller, Uli 17 Austin, John Langshaw 12, 161 Azoulay, Ariella 192 Babel, Isaak 23, 267 Babič, Vladimir 322 Bachelard, Gaston 84, 89–91, 93–96, 106 f., 118, 122–124, 126, 130–132, 141, 231 Bachmann, Ingeborg 35, 38, 195 Bachtin, Michail 76, 257, 265 f., 268, 271, 295, 300, 321–324 Baden, Jutta 203 Bahr, Hermann 45 Balázs, Béla 285 Bal, Mieke 19, 102 Barck, Karlheinz 170 Barthes, Roland 6, 28, 122–124, 126, 131–133, 225–228, 328 Bassenge, Friedrich 269 Bataille, George 35, 196, 219 f. Bateson, Gregory 316

https://doi.org/10.1515/9783110572049-006

Baudelaire, Charles 17, 35, 291, 320 Baudrillard, Jean 1, 5, 6, 8, 26, 56, 186, 227, 240, 316 Bauer, Felice 83 Bauer, Gerhard 263, 267 Baumann, Dieter 98 Beckett, Samuel 33, 227 Beck, Ulrich 193 Behler, Ernst 186 Beil, Ulrich Johannes 296 Bell, Jeffrey A. 316 Bellmer, Hans 103 Bellour, Raymond 211 Belyj, Andrej 157 Benčić, Živa 111 Bendels, Ruth 292 Benjamin, Hilde 66 Benjamin, Lauren 95 Benjamin, Walter 14, 22, 65 f., 92, 102, 116, 119, 151, 153, 155, 172, 174, 191 f., 196, 220–222, 243 f., 254–256, 262, 291, 296 Benn, Gottfried 292, 296 Berger, Dagmar 229 Bergfleth, Gerd 35, 220 Berghahn, Wilfried 273 Berghaus, Margot 4, 213 Bergson, Henri 69, 244 Bernini, Cornelia 4 Bernini, Gian Lorenzo 102 Berressem, Hanjo 204, 211 Beßlich, Barbara 198 Beyer, Jr., Thomas R. 157 Beyer, Susanne 124 Białoszewski, Miron 33 Bielas, Katarzyna 212 Bieniek, Beata A. 23 Biller, Maxim 17, 43, 173–192 Bindemann, Rolf 298 Binswanger, Ludwig 38 Bischoff, Michael 7, 90, 225 Blake, William 157 Blanchot, Maurice 171 Blavatsky, Helena 118, 120 Blecher, M. 16, 45, 50–53

352 

 Personen-Index

Bloch, Ernst 191, 196, 218 Błoński, Jan 22, 29, 31, 137, 202, 209, 238, 252, 306, 310, 316 Bloom, Harold 16, 214 Blumenberg, Hans 19, 44 f., 191 Blum, Klara 22 Bocharov, Sergej 266 Bocheński, Tomasz 33 Boehm, Rudolf 64 Böhme, Gernot 223, 234 f., 237, 241–245 Böhme, Hartmut 41, 103, 152 f., 235 Böhme, Jacob 118, 242 f. Bohn, Ralf 6 Bohrer, Karl-Heinz 39, 266 f., 273, 290–292 Bolecki, Włodzimierz 22 f., 29 f., 74, 109, 174 Bolz, Norbert 243 f. Bondy, François 34 f. Bonitz, Hermann 269 Borchardt, Danuta 211 Borges, Jorge Luis 204 Born, Frank 145 Borowsky, Kay 263 Böschenstein, Bernhard 287 Boss, Ueli 296 Bourdieu, Pierre 7 f. Bourgois, Christian 34 Boyers, Robert 36 Bramble, John 119 Brando, Marlon 308 Brandt, Willy 34 Braun, Georg 112 Brecht, Bertolt 14 Bredekamp, Horst 95 Breithaupt, Fritz 317 f. Brentano, Clemens von 2 f., 103 Breza, Tadeusz 187 Broch, Hermann 16, 42, 45, 49 f., 52 f., 70–72, 78, 148, 153–155, 158, 160 f., 163, 183 f., 197–199, 292 Brocke, Michael 191 Brosthaus, Heribert 285 Brunner, Otto 196 Buber, Martin 14, 22, 288, 292 Bücher, Rolf 288 Büchner, Georg 3, 33, 288 Bukowski, Evelyn 3 Bursztyka, Przemysław 104 Buschendorf, Christa 68 Butler, Judith 161

Butor, Michel 107 Bzdyl, Leszek 309 Caillois, Roger 32 Campanella, Tommaso 235 Camus, Albert 199 Canetti, Elias 46, 83 Carey, John 113 Cataluccio, Francesco M. 212 Čechov, Anton 17, 256 f., 261–264, 266–270 Celan, Paul 72, 286, 288 f. Cesalpino, Andrea 235 Chagall, Marc 111 Chmurzyński, Wojciech 106 Chrzanowski, Maciej 318 Chwin, Stefan 22, 95, 106, 110 Clarín 3 Cohen, Hermann 322 Cohn, Jonas 322 Comenius, Johann Amos 120 Conrad, Joseph 300 Coppola, Francis Ford 308 Corino, Karl 274, 277 Couturat, Louis 279 Croll, Oswald 235 Daiber, Jürgen 274 Daume, Doreen 21, 24, 40, 86, 98, 127– 129, 155 de Andrade, Mário 17, 45, 79–81 De Bevoise, Malcolm B. 60 de Bruyn, Dieter 22, 25, 81, 134 de Certeau, Michel 6 de Cervantes Saavedra, Miguel 115, 237, 248 f. Dedecius, Karl 30 Dee, John 120 Degler, Janusz 159 de Laclos, Pierre Choderlos 1, 3 Deleuze, Gilles 32, 36, 69, 83, 113, 204, 211–214, 229, 239 f., 316 della Porta, Giambattista 235 de Man, Paul 5, 11–13, 161–163, 245 Demić, Mirko 174 de Montaigne, Michel 215 de Roux, Dominique 34 Derrida, Jacques 10 f., 61, 108, 168 f., 211, 227, 245, 330 de Sade, Marquis 35 Descartes, René 46

Personen-Index 

Descombes, Vincent 160 f. de Villiers de L’Isle-Adam, Auguste 103 Dewey, Michael 271 Dieckmann, Bernhard 36 Dietschy, Beat 218 Dilthey, Wilhelm 284 Dinesen, Isak 3 Dinklage, Karl 274 Dischner, Gisela 274 Döblin, Alfred 256 Donne, John 113 Dostoevskij, Fëdor 208, 227, 262 f., 305 Dresler-Brumme, Charlotte 38 Drohla, Gisela 257 Droste-Hülshoff, Annette von 65 Duchamp, Marcel 103 Dulaimi, Karin 23 Durkheim, Émile 297 Dutli, Ralph 157 Dutsch, Mikolaj 21 Dybel, Paweł 23 Eco, Umberto 19, 124, 147, 202, 231–233, 280 Ehrlicher, Hanno 320 Eichendorff, Joseph von 102 Eimermacher, Karl 301 Einstein, Albert 292 Eliade, Mircea 96, 105, 118, 120 f. Eliot, T.S. 19, 308 Elon, Amos 184 Engelmann, Peter 168 Engels, Friedrich 48 Ernst, Max 103 Eusterschulte, Anne V, 215 Ewald, François 211 Fabbri, Paolo 6, 202 Fabian, Bernhard 223 Fechner-Smarsly, Thomas 102 Felfe, Robert 103 Felka, Rike 32 Felman, Shoshana 5, 12, 161 f. Felstiner, John 279 Fenves, Peter 154 f., 222, 327, 328 Ferry, Luc 59 Feuchtwanger, Lion 174 Feyerabend, Paul 253 Fiala-Fürst, Ingeborg 66 Fiałkiewicz-Saignes, Anna 318

 353

Ficowski, Jerzy 21, 85, 95, 133, 157 Fieguth, Rolf 30, 34, 159, 195, 208, 309 Fischerman, Alberto 324 Fiut, Aleksander 30 Flaker, Aleksandar 111 Flaubert, Gustave 152, 300 Fleck, Ludwik 253 Fludd, Robert 120 Fontane, Theodor 3, 227 Foucault, Michel 48, 58 f., 170, 194, 223, 232–238, 241 f., 245, 249, 260, 274, 315 Fowler, Harold N. 167 Franczak, Jerzy 24, 202, 214, 311 f. Frank, Waldo 198 Freud, Sigmund 8, 47 f., 58, 93, 143, 144 f., 296, 318 Friedländer, Paul 296 Frisé, Adolf 33, 40, 70, 75, 274–276, 321 Fuder, Dieter 6, 273 Fuhrmann, Manfred 166 Gadamer, Hans-Georg 230 Galileo Galilei 231 Gall, Alfred 34, 202, 247, 299, 309 Garbal, Łukasz 29 f. Gasyna, George Z. 300 Gebauer, Gunter 69 Geertz, Clifford 298, 330 Geier, Swetlana 305 Genet, Jean 33 Genette, Gerard 300 Georgii, Ludwig 167 Gess, Nicola 296 Giedroyc, Jerzy 29 Gies, Annette 39, 273, 275 Gillespie, Gerald 213 Girard, René 220, 318 f. Giuliani, Regule 63 Głowacka, Dorota 23 Głowiński, Michał 31, 220, 319 f. Gloy, Karen 243 Goddard, Michael 220 Goethe, Johann Wolfgang von 37, 68, 103, 115, 123, 131, 205, 265–267, 291, 312 Goldstein, Brigitte 67 Gombrowicz, Rita 30 Gombrowicz, Witold 1, 4, 8, 13, 16, 20, 28–36, 38–40, 43, 79, 123, 135–139, 141, 145, 193–196, 199, 201–204, 207–213, 215,

354 

 Personen-Index

217–223, 225–235, 237–240, 243–247, 249, 252 f., 256 f., 259–261, 264, 268, 271–280, 283 f., 289–295, 299–302, 305–314, 316, 318–321, 323–325, 327–330 Gondek, Hans-Dieter 8, 168 Gondowicz, Jan 103 Gorhan, Gunter 8, 143 Gorris, Lothar 124 Goślicki-Baur, Elisabeth 23 Green, Julien 35 Grégoire, Pierre 235 Greisch, Jean 53 Griese, Friedrich 95, 159 Grossman, David 173 Grübel, Rainer 265, 322 f. Gschwandtner, Harald 37, 285 Guattari, Félix 69, 83, 211, 212, 229, 316 Guenther, Johannes von 263 Gugulski, Grzegorz 208 Guillén, Claudio 320 Gunia, Jürgen 153 Gutenberg, Johannes 243 f. Gutjahr, Marco 171 Gut, Taja 157 Gutthy, Agnieszka 300 Hahn, Josef 21, 86, 98, 128 f., 155 Hahn, Marcus 296 Halpern, Romana 25 Hamacher, Werner 10, 12, 162 Hamann, Johann Georg 101 f., 153, 245 Hamburger, Käte 115 Hamburger, Margarethe 298 Hamm, Peter 35, 210 Hampe, Michael 39, 292–294 Hansen-Löve, Aage A. 218, 268 Harbusch, Ute 288 Harth, Dietrich 69 Hartmann, Bernhard 32 Hartwig, Ina 39 Haustedt, Birgit 2, 3 Haven, Cynthia L. 4 Haverkamp, Anselm 19 Hebbel, Friedrich 330 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 36, 48, 52 f., 108, 309 Heidegger, Martin 10, 146, 151, 196 Heine, Heinrich 14 Heintz, Susanne 168

Helbig-Mischewski, Brigitta 23 Hempfer, Klaus W. 235 Hennig, Anke 271 Henschen, Hans-Horst 28 Heraklit 67 Herdt, Heinrich Ludwig 298 Hermes, Roger 83, 191 Hesse, Hermann 174 Hiepko, Andreas 43 Hilber, Hans-Günter 322 Hilbert, David 292 Hildebrandt, Kurt 167 Hinz, Michael 38 Hobby, Blake 214 Hock, Jonas 171 Hock, Udo 8, 143 Hoffmann, E.T.A. 2, 3, 67, 103, 306 Hogenberg, Frans 112 Hogrebe, Wolfram 18 Hoheisel, Claus 285 Hölderlin, Friedrich 154 Holl, Hans Günter 19 Holzberg, Niklas 77 Homer 47, 176 Hop, Anna 309 Hörisch, Jochen 243 Horkheimer, Max 253 f. Hudzik, Agnieszka 72 Hultberg, Peer 138 Humboldt, Alexander von 90 f. Humes, David 48 Hüsch, Sebastian 38 f. Husserl, Edmund 44, 69, 83, 158, 221 f. Huxley, Aldous 93 Illmer, Susanne 3 Ingarden, Roman 158–161 Ingold, Felix Philipp 223 Iser, Wolfgang 172 Jameson, Fredric 12 Janion, Maria 32, 79, 306 Jankowicz, Grzegorz 30 Januszkiewicz, Michał 193 Janz, Rolf-Peter 215 Jarry, Alfred 35, 208 Jarzębski, Jerzy 20, 22, 25–28, 30–32, 36, 73, 106, 109, 113, 174, 181, 193, 199, 202, 246, 306, 309, 316, 320

Personen-Index 

Jawór, Agnieszka 165 f. Jay, Martin 119 Jean Paul 2 f., 114–116, 186, 188, 330 Jeleński, Konstanty 34, 220 Jens, Walter 213 Jerusalem, Wilhelm 296 f. Jørgensen, Sven-Aage 102 Joyce, James 48, 208, 227, 290 f. Jung, Carl Gustav 96–98, 118, 138 Juraschek, Anna 23 Juszczyk, Andrzej 36 Kafka, Franz 14, 16, 28, 43, 59, 83, 123, 135, 139, 141 f., 145, 170, 175, 184, 187, 191 f., 198 f., 208, 211 f., 227 Kajzar, Helmut 33 Kalicki, Rajmund 309 Kalin, Arkadiusz 95, 103 f. Kanabrodzki, Mateusz 33 Kandelaki, Maka 157 Kant, Immanuel 7, 43, 46, 145–147, 203, 235, 274 Karthaus, Ulrich 285 Kasack, Wolfgang 158 Kato, Ariko 134 Keller, Gottfried 227 Kemp, Friedhelm 66 Kepler, Johannes 118 Kerényi, Karl 213 Kermode, Frank 19 Kierkegaard, Søren 2–4, 26, 38, 56 f., 150, 254 Kiš, Danilo 23 Kitowska-Łysiak, Małgorzata 22, 79, 134 Kleiner, Barbara 124 Kleist, Heinrich von 3, 42 f., 103, 267 Klibansky, Raymond 68 Klopstock, Friedrich Gottlieb 133 Klossowski, Pierre 36 Koch-Grünberg, Theodor 80 Koch, Jutta 273–275 Koch, Manfred 65 Kolmar, Gertrud 16, 45, 64–67 König, Traugott 328 Kopij, Marta 202 Köppen, Ulrich 59, 194, 234, 260 Körner, Christian Gottfried 205 Koschel, Christine 195 Koselleck, Reinhart 196 Kosta, Peter 23 Kowal, Grzegorz 202

 355

Kozicka, Dorota 25 Krämer, Sybille 212, 234 Krewani, Nikolaus 9 Kristeva, Julia 61, 69, 321 Kroeber, Burkhart 212, 280 Krumme, Peter 12, 162 Kuharski, Allen 294 Kühl, Olaf 13, 30, 33 f., 40, 98, 209, 247, 294, 318 f. Kuhn, Thomas 253 Kundera, Milan 16 f. Kunicki, Wojciech 202 Kunstmann, Heinrich 34, 208 Küpper, Heinz 150 Lacan, Jacques 59, 69, 160, 211, 217 Lachmann, Renate 23, 76, 95, 102 f., 265 Laclou, Ernesto 59 Lahme-Gronostaj, Hildegard 39 Langemeyer, Peter 208 Lange, Susanne 248 Łapiński, Zdzisław 29–32, 35 f., 209, 220, 306, 319 Laplanche, Jean 8 f., 123, 143–147 Lapšin, Ivan 322 Lasker-Schüler, Else 64 Lawaty, Andreas 34, 204, 208, 309 Lawrence, D.H. 48 Le Bot, Marc 6 Lefort, Claude 63 Leibniz, Gottfried Wilhelm 113, 155 Lepenies, Wolf 91, 174, 184 Leskov, Nikolaj 17, 256, 257, 261–264, 266–269, 271 Leśmian, Bolesław 22 Lessing, Gotthold Ephraim 3, 318 Leupold, Gabriele 76 Lévinas, Emmanuel 9, 33, 288 Lévi-Strauss, Claude 160 f., 167 f., 297 Lévy-Bruhl, Lucien 295–299, 311, 314 Lichtblau, Klaus 164 Liessmann, Konrad 3 Lipsyte, Sam 211 Listwan, Fryderyk 300 Loewenthal, Erich 167 London, Jack 310 Lönker, Fred 39, 45 Lorenz-Lindemann, Karin 66 Losskij, Nikolaj 322 Luchesi, Brigitte 298

356 

 Personen-Index

Luhmann, Niklas 6, 122 f., 130–133, 234 Lukács, Georg 14 Luria, Isaak 22, 68, 101 Luther, Martin 95 Lutostański, Bartosz 33 Lutsky, Klara 300 Lutz, Cosima 114 Lützeler, Paul Michael 42, 71, 154, 184, 198 Lyotard, Jean-François 48 MacDorman, Karl F. 313 Mach, Ernst 38, 41, 273, 293 Mae, Michiko 38 Mähl, Hans 274 Mainberger-Ruh, Elisabeth 220, 318 Major, René 6 Malabou, Catherine 194 Malamoud, Charles 6 Malinowski, Bronisław 79, 298 Mandel'štam, Nadežda 4 Mandel'štam, Osip 4, 157 Mannheim, Karl 254 Mann, Heinrich 4, 213 Mann, Katja 174 Mann, Thomas 3 f., 25, 38, 174–177, 182–187, 190, 192, 196, 198, 204–210, 212 f., 215, 300, 305 Marcuse, Herbert 74 Margański, Janusz 29 Marin, Louis 6 Markowski, Michał P. 22–24, 32 f., 78, 108, 113, 203 f., 211, 217, 305 Marquard, Odo 223 Márquez, Gabriel García 81 Marszałek, Magdalena 32 Martens, Francis 144 Marx, Agnieszka 34 Marx, Karl 47 f. Marx-MacDonald, Sherry 19 Masanek, Nicole 61, 152 Massenbach, Sigrid von 32 Mauss, Marcel 121, 160, 297 Mayer, Georg 301 McLuhan, Marshall 243 Meisel, Gerhard 38, 153 Meister Eckhart 219, 269 Memmert, Günter 19 Meniok, Wiera 25, 81, 103 Menninghaus, Winfried 61, 102, 227

Merleau-Ponty, Maurice 63 f. Meßner, Michaela 5 Meyer-Clason, Curt 80 Meyrink, Gustav 103 Michalik, Joanna 104 Mickiewicz, Adam 21, 116, 309 Mieszkowski, Sylvia 3 Millati, Piotr 31, 208 Miller, Norbert 114, 186 Miłosz, Czesław 4, 30, 35, 205 Minato, Takashi 313 Mirabile, Andrea 5, 12 Mitterer, Josef V Moebius, Stephan 121 Moldenhauer, Eva 121 Mörike, Eduard 3 Mori, Masahiro 313 Mülder-Bach, Inka 227 Müller, Erich 263 Müller, Marika 186 Müller, Robert 296 Musil, Robert 16, 20, 32 f., 37–45, 48, 52–55, 57–64, 66 f., 69 f., 72, 74 f., 78, 148–153, 155, 158, 160 f., 163, 176, 193, 195, 198, 226 f., 272–299, 321, 327–330 Muth, Karl 205 Nadeau, Maurice 34 Napierski, Stefan 22, 78 Naumann, Hans 297 Neef, Sonja 102 Neumann, Gerhard 68, 227 Newton, Isaac 112, 120, 161 Niemczyńska, Małgorzata I. 25 Nietzsche, Friedrich 1, 10 f., 38, 46–48, 60, 74, 123, 194, 202 f., 208, 215, 243, 273, 309, 316, 321 Nosbers, Hedwig 34 Novalis 38, 113, 227, 274 Nycz, Ryszard 255 Olejniczak, Józef 220 Oschatz, Paul-Michael 114 Ott, Michaela 6 Otto, Detlef 227 Otto, Rudolf 170 Otto, Stephan 235 Otto, Walter Friedrich 170 Ovid 77, 99 Ozick, Cynthia 174

Personen-Index 

Panas, Władysław 22, 101, 127, 155 Panofsky, Erwin 68 Paracelsus 118, 120, 231, 236 Pascal, Blaise 176, 215 Pasley, Malcolm 139, 170 Pasternak, Boris 4 Pawłowski, Janusz 35 f. Pekar, Thomas 38 Pelet, Emma von 105 Pelmter, Andrea 273 f. Perez, Jizchok Leib 189 Perniola, Mario 6, 202 Perutz, Leo 16, 117 f. Pessoa, Fernando 35 Pfordten, Dietmar von der 18 Philip, Franklin 60 Picht, Georg 269 Pieper, Hans-Joachim 38, 273 Pieszak, Eryk 33 Pietrek, Daniel 34 Pirandello, Luigi 176 Platon 120, 123, 167 f., 305 Płonowska Ziarek, Ewa 294 Poe, Edgar Allan 35, 306 Polheim, Karl Konrad 213 Pott, Hans-Georg 152 Prokopczyk, Czesław 23 Proust, Marcel 12, 48, 163, 208, 290, 328 Pynchon, Thomas 104 Pythagoras 120 Pytlik, Priska 119 Quinkenstein, Lothar 22 Raabe, Wilhelm 227 Rabelais, François 76, 80, 115 Raimondi, Francesca 122 Raulff, Ulrich 6, 161 Reder, Wolfgang 133 Reese, Sabine 323 Regn, Gerhard 235 Reichert, Stefan 288 Renaut, Alain 59 f. Rexroth, Tillman 244 Riccarelli, Ugo 173 Richardson, Samuel 3 Rickert, Heinrich 254 Ricœur, Paul 39, 53–55, 58, 193, 318 Rieckher, Julius 269

 357

Riedel, Manfred 193 Rien, Mark W. 4 Rilke, Rainer Maria 12, 62, 163 Rimbaud, Arthur 17, 130 Ritter, Henning 121, 160 Ritzerfeld, Helene 3 Ritz, German 34, 294 Roerich, Nicholas 118 Roesner, Martina 219 Rolfes, Eugen 269, 279 Ronell, Avital 32 f. Roob, Alexander 104, 106, 242 Rösch, Erich 77, 100 Rosiek, Stanisław 21 f., 24 f., 109, 174 Rosół, Piotr Seweryn 33 Rothenberg, Jürgen 213 Röttger, Brigitte 69 f. Roudiez, Leon S. 61 Rousseau, Jean-Jacques 7, 12, 163 Ruf, Simon 87, 212 Ruoff, Hans 305 Russer, Achim 7 Ruthner, Clemens 39 Rzehak, Wolfgang 38 Rzewuski, Henryk 299 Sacher-Masoch, Leopold von 133 f. Sachs, Nelly 64, 175, 288 Samuel, Richard 274 Sanavio, Piero 212 Sandauer, Artur 25, 35, 76, 209, 306 f. Sansot, Pierre 6, 202 Sartre, Jean-Paul 320 Sasse, Sylvia 265 Sauvant, Jean-Daniel 8 Savigny, Eike von 18 Saxl, Fritz 68 Schäfer, Lothar 253 Schaffnit, Hans Wolfgang 273 Scheffel, Helmut 107 Scheler, Max 33, 38 Schelling, Ulrich 273 f. Schiller, Friedrich 67, 205, 285 f. Schlegel, Friedrich 27, 38, 113, 186, 227, 245, 267 Schleiermacher, Friedrich 167, 267 Schmid, Carlo 117 Schmidgall, Renate 36, 40, 195 Schmidt, Alfred 74

358 

 Personen-Index

Schmidt-Biggemann, Wilhelm 223 Schmid, Ulrich 322 Schmid, Wolf 267 f. Schmitz-Emans, Monika 152 Schmitz, Hermann 242 Schnädelbach, Herbert 229 Schneider, Wolfgang 205 Schneide, Ulrich Johannes 113 Schnitzler, Arthur 3, 118 Scholem, Gershom 22, 68, 95, 101 Scholten, Helga 196 Scholz, Bernhard F. 322 Schönherr-Mann, Hans-Martin 193 Schopenhauer, Arthur 7, 202 f., 208, 213 Schröter, Klaus 205 Schulte, Joachim 48, 102 Schulte, Jörg 23 Schulz, Bruno 16, 20–28, 31, 33, 39–41, 43, 45, 70, 72–89, 91–96, 98–123, 125–129, 132–135, 137–139, 141, 145, 148, 155–158, 160 f., 163, 166, 168 f., 172–193, 202, 211, 279 f., 327–330 Schulz, Gerhard 274 Schulz, Walter 227 Schumacher, Eckhard 245 Schütze, Marianne 3 Schwaderer, Richard 10 Schweikert, Uwe 114 Schweppenhäuser, Hermann 92, 119, 151, 191 Schwibs, Bernd 7, 83 Schwitters, Kurt 159 Seel, Martin 4, 172, 242 Seitter, Walter 170 Sennett, Richard 7 Shafi, Monika 65 Shallcross, Bożena 22 Shepherd, David 322 Sieradzki, Ignacy 138 Siewierski, Henryk 81 Simmel, Georg 69, 164, 202 Šklovskij, Viktor 264 f. Sloterdijk, Peter 49, 51, 193 Smerilli, Filippo 148 Smorąg-Goldberg, Małgorzata 318 Snyder, Gary 279 Söffner, Jan 308 Sokół, Lech 159 Sokolov, Saša 157 f.

Sokrates 46, 167–169, 256 Sołtysik, Agnieszka M. 294 Sommer, Manfred 45 Sontag, Susan 4 Sophokles 154 Spengler, Oswald 196, 198, 283 Sprecher, Thomas 4 Stach, Reiner 142 Stala, Krzysztof 23, 108 f. Stalin 4 Stanzel, Franz Karl 300 Staub, Hans 287 Steinberg-Pavlova, Viktoria 267 Steiner, George 118 f. Steiner, Rudolf 157 Steinhoff, Lutz 23 Stendhal 3, 133, 173 Stenzel, Gerhard 285 Sterne, Laurence 115 Stevenson, Robert 306 Stifter, Adalbert 227 Stössinger, Felix 184 Strauß, Max 176 Stravinsky, Igor 118 Strelka, Joseph P. 213 Striedter, Jurij 264 Strindberg, August 118 Strutz, Josef 37 Surette, Leon 119 Surynt, Izabela 34 Süskind, Patrick 183 Swedenborg, Emanuel 274 Syrewicz, Stanisław 309 Szelińska, Józefina 27 f., 175 Szlezák, Thomas Alexander 269 Szondi, Peter V, 287 Taine, Hippolyte 79 Taylor, Charles 39, 48 Thöming, Jürgen C. 37 Tieck, Ludwig 3 Tiedemann-Bartels, Hella 256 Tiedemann, Rolf 92, 119, 151, 191, 244, 254, 287 Tiel, Walter 30, 33, 36, 40, 195, 197, 208 Tischner, Łukasz 30 Tizian 134 Todorov, Tzvetan 321 f. Tolstoj, Lev 17, 176, 256–258, 260 f., 263–265, 267–269, 271, 276 f., 280 f., 305

Personen-Index 

Triendl-Zadoff, Mirjam 83 Trobitius, Jörg 118 Trottenberg, Dorothea 265 Tryphonopoulos, Demetres P. 119 Tuszyńska, Agata 28 Tuwim, Julian 159 f. Underhill, Karen 22 Urbanowski, Maciej 25 Uspenskij, Boris 295, 300–305 Valéry, Paul 117, 172, 256, 287 f. van Beethoven, Ludwig 259, 267 van Gennep, Arnold 215 f. Van Heuckelom, Kris 22, 25, 81, 134 van Ingen, Ferdinand 243 Vattimo, Gianni 15, 193 f. Velázquez, Diego 237 Venzlaff, Hubertus 292 Vergil 153–155, 198 f. Vierhaus, Rudolf 223 Voelkel, Benjamin 21, 86 Vogel, Deborah 27 Vogl, Joseph 83, 204, 214, 226 f. Volkelt, Johannes 322 Völlnagel, Jörg 104 Voullié, Ronald 194 Vuillet, Hélène 213 Wächter, Thomas 263, 267 f. Waldenfels, Bernhard 63, 83 Wallmoden, Thedel von 65 Walser, Robert 35, 227 Walter, Bruno 174 Walter-Busch, Emil 287 Wanning, Frank 3 Warburg, Aby 95, 121 f., 330 Weber, Alfred 254 Weber, Max 254 Wedekind, Frank 4, 213 Weiler, Thomas 32 Weingart, Brigitte 296

 359

Welles, Orson 43 Welsch, Wolfgang 193 Wennerberg, Hjalmar 18 Wenzel, Horst 68 Wetzel, Michael 11, 243 Whitinger, Raleigh 39 Whitman, Walt 60 Wichner, Ernest 51, 117 Wiemer, Thomas 9 Wiene, Robert 49 Wiesner, Herbert 117 Wilson, Leigh 119 Windelband, Wilhelm 322 Wirth, Andrzej 159 Wiśniowska, Marta 30 Witkiewicz, Stanisław Ignacy (Witkacy) 16, 22, 33, 73, 79, 113, 159, 186 f., 197, 202 Witte, Axel 227 Witte, Bernd 14 Witte, Georg V, 69, 271 Wittgenstein, Ludwig 17 f., 31, 150 f. Wojda, Dorota 79, 81 Woltmann, Johanna 65 Wortmann, Anke 3 Wroblewsky, Vincent von 199 Wulf, Christoph 69 Wunberg, Gotthart 45 Wyka, Kazimierz 22, 78 Wyka, Marta 25 Wysling, Hans 4, 213 Yeats, William Butler 60 Zamjatin, Evgenij 267 Zawadzki, Andrzej 193 Zekl, Hans Günter 269 Žižek, Slavoj 59, 123, 145–147 Zlocisti, Theodor 189 Zudeick, Peter 218 Zybura, Marek 34, 204, 208

Sach-Index Abweichung 108, 110 f., 189, 286 f., 290 Aisthesis 170, 237, 242, 245 Alchemie (alchemistisch) 43, 84, 94–99, 103–108, 111, 113 f., 116–118, 120–126, 128–134, 137–143, 145, 147, 168, 172, 193, 199, 221, 231 f., 236, 242 Allge­meine Verführungstheorie 8, 143 f. Ambivalenz (ambivalent) 18, 81, 137, 142, 165–168, 173, 196, 200, 204 f., 207–210, 212, 214, 235, 280, 320 Analogie 18, 27, 37, 138, 184, 209, 236, 250, 272–276, 280, 283–286, 289, 293–295, 306 f., 327 anderer Zustand 8, 49, 284–286, 290–292 Antipathie 18, 194, 223, 236–239, 241, 245, 251, 256, 275, 293 f., 315 Atmosphäre 18, 52, 58, 69 f., 72, 88, 110, 112, 174 f., 177, 181, 183, 186, 197, 223, 234, 237, 241–243, 245, 266, 313, 327 Attraktivität (Attraktion, Attraktor, attrahieren) 1 f., 8, 13, 18, 138, 140, 216 f., 220, 311, 327 Aura 87, 97, 125, 186, 196, 220, 242 Außerhalb-Befindlichkeit 295, 321–324 Barock 16, 111–113, 180, 300, 320 begehren (Begierde, begehrenswert, mimetisches Begehren) 6, 9, 18, 24, 55 f., 58, 132, 151, 162, 178, 183, 210 f., 216 f., 226, 228, 235, 279, 294 f., 313 f., 318 f. brausen 153–155, 158, 161 Chronotopos 271, 321 Dämmerzustand 39, 43 f., 46, 49, 52 f., 57, 59 f., 62, 70, 72, 155, 261, 278 „das ganz Andere“ 170 f. „das reine Wort“ 153 f., 158 demaskieren (Demaskierung) 92, 185–190, 210, 306 Denken in Ähnlichkeiten 236 f. Desillusionierung (Desillusion) 109, 187–189, 237

https://doi.org/10.1515/9783110572049-007

Dialektik 11, 18, 94, 113, 130, 193, 19, 253–255, 264, 298, 316–319, 321, 323 f., 328 Distanz (distanzieren, Distanzierung) 8–11, 36, 51, 57, 61, 63, 67, 79, 83, 92, 127, 130, 136, 201, 206 f., 210, 212, 221 f., 236, 244, 258, 266, 268, 282, 291, 303–305, 314–321, 323 f., 329 Don Juan 4, 161 f., 207, 213 Don Quijote 4, 8, 115, 213, 237, 248 Doppelgänger (doppelgängerisch) 125, 177, 183–185, 187–190, 209, 306 f., 319 Dummheit (dumm) 32 f., 157 f., 268 Einbildungskraft 5, 22, 43, 108, 143, 146 f., 156, 172, 182, 251 Eingedenken 174, 191 f. Ekel (ekeln, ekelhaft) 18, 60 f., 238, 315 f. Ekstase (ekstatisch) 16–18, 51, 82, 86, 98, 102, 126 f., 157, 179, 181, 183, 188 f., 194, 196, 206 f., 210, 212, 216, 218–222, 226, 239, 241–245, 253, 257, 261, 285, 289–293, 295, 308 f., 313, 317, 321, 329 Empathie (empathisch) 237, 264, 295, 311, 314, 317 f., 322 f., 329 energeia 268 f. Enge 45, 67, 69–72, 78, 177 entstalten (Entstaltung) 181, 187, 190 Epistemologie (epistemologisch, epistemo­ logische / erkenntnistheoretische Metapher) 15, 39, 41, 84, 92, 123, 135, 139, 143, 146 f., 193, 199, 235, 238, 275, 327, 329 Erkenntnis (Erkenntnisfähigkeit, Erkenntnisprozess, Erkenntnistheorie) 8, 15, 37, 39, 41–43, 50, 55, 73, 85, 88–92, 116, 120, 123, 127, 130, 132, 135 f., 138, 143, 146 f., 160 f., 199, 206, 222, 228, 231, 253–255, 275 f., 282 f., 297, 323, 329, 331 Erotik (erotisch) 3 f., 18, 24, 26, 35 f., 39, 55, 88, 133, 162, 175, 181, 213, 218–220, 224, 226, 241, 246, 289–294, 307, 312, 318 Ethnologie (ethnologisch) 17, 79 f., 82, 121, 215, 295–298 Existenzialismus (existenzialistisch) 199, 226, 247

362 

 Sach-Index

Exotik (exotisch) 45, 67, 76, 78 f., 81–84, 110, 180 Exzess (exzessiv) 110, 185, 259 f., 291 f. Falte 112 f. Familienähnlichkeit 17 f., 32, 272 Faust 4, 95, 103 f., 213, 266, 291 Ferne 10 f., 18, 82, 105, 113, 220, 298, 301, 316, 320 flottierende Signifikanten (flottieren) 160 f., 163, 227 Gaukler (gaukeln, Gaukelei) 86, 185, 188 f., 206 Geheimnis (geheimnisvoll) 1, 5, 18, 42, 44, 67, 88, 93, 97 f., 102, 107, 114, 122 f., 125–129, 132, 134, 136, 138, 140, 152, 154, 159, 168, 174, 181, 202, 219–221, 231 f., 240, 245, 248, 291, 297, 305, 329 German seduction 174, 180, 184 Gewalt (gewaltsam, gewalttätig) 8, 14, 35, 77, 130, 133, 136, 139, 142, 149, 152 f., 184 f., 191, 201, 216, 220, 224, 228, 265, 290 f., 298, 310–312, 319, 328 Götzenbuch (Xięga bałwochwalcza) 21, 85, 133 f., 182 Grenzerfahrung 67, 196, 215, 290 grotesk 23, 76, 102 f., 177, 185 heraklitische Metapher 157 Hermes (Merkur) 4, 25, 138, 212 f., 305 Hermetik (hermetisch) 18, 44, 69, 95, 97, 104, 118, 120–123, 129 f., 138, 147, 195, 211–213, 217, 222 f., 229, 231–234, 240, 243, 245, 305, 327 Heterotopie 170, 300 Homunculus 99, 103 f., 114, 125, 164, 166, 169, 171, 173 Hyperschärfe (hyperscharf) 218, 221, 228, 232, 243, 271 Identitätskrise (Identitätsverlust) 39, 43, 45 f., 51, 53–55, 67, 131, 292 Inkommensurabilität (inkommensurabel) 223, 245, 253–256, 275, 288, 293, 327 innere Erfahrung 196, 219 f., 222 Intertextualität (intertextuell) 31 f., 74, 95 f., 102, 104, 114, 122, 133, 138, 174 f., 180, 202, 204, 261, 300, 305, 319

Ironie (ironisch) 5 f., 17 f., 23–25, 28, 39, 56 f., 65, 80, 84, 86 f., 92, 96 f., 111, 113, 115, 117, 121, 132, 145, 171, 181, 184, 186–188, 203, 206 f., 209, 218, 232, 237, 245, 254, 266, 284, 291, 300, 316, 320 f. Kabbala (kabbalistisch) 22, 68, 87, 95, 101 f., 120, 127, 134, 155, 194, 231, 242 Kälte („Prinzip der Kälte“) 4, 205–208, 210, 310 Karneval (karnevalesk, karnevalistisch) 76, 105, 186, 320 f., 322 kleine Verrückung 174, 190 f. Konstellation (konstellativ) 18, 99, 118, 145, 172, 240 f. 245–256, 260, 271, 273, 275–279, 281, 283–286, 290, 293 f., 299, 307 f., 327–329 Krise 23, 39, 49, 51 f., 54 f., 61, 72, 196–199, 215 Liebe 3, 6 f., 9, 28, 38 f., 43 f., 58, 60 f., 65, 107, 122–126, 130–134, 138 f., 143, 145, 148, 153, 173, 184, 194, 213, 237, 259, 272, 277–282, 284, 286, 289 f., 293, 295, 298, 310, 322 Lust 7, 18, 24, 53, 88, 107, 157, 199, 216 f., 221, 228, 249, 280, 294, 310, 314, 328 f. Macht 3, 5, 7, 10, 24, 36, 39, 49, 56, 77, 95, 122, 137, 142, 168 f., 171, 197, 201, 212, 247, 252, 311 Magie (Sprachmagie) 18, 43, 86, 92, 95, 102 f., 117 f., 121, 160, 188 f., 236 magischer Realismus 80 f. majaczenie 155 f., 158, 161 Maske (Maskerade, Panmaskarade) 23, 32, 87, 114, 185 Messias (messianisch, messianischer Minimalismus) 103, 165, 174 f., 183, 190–192 Metamorphose 3, 23, 76–78, 80 f., 99 f., 157, 178, 213 Metaphysik (metaphysisch) 15, 55, 86, 100, 146, 193, 211 f., 219, 227, 229 f., 268 f., 329 mimetisches Vermögen 119, 255, 324, 329 Möglichkeitskette 276–278, 280 f., 283–286, 293–295, 327 murmeln 153, 155, 158, 161 Mystik (mystisch) 22, 42, 67 f., 87, 95, 101, 104, 106 f., 118, 120, 123, 127, 131, 134, 151 f., 155, 189, 194, 218–221, 233, 242 f., 263, 274, 285 f., 289–292, 296 f., 312

Sach-Index 

Nähe 9, 11, 18, 54, 63, 99, 113, 128, 133, 157, 182, 207, 243 f., 250, 256, 275, 298, 316, 324 neue Taktilität 223, 234, 243 f. Oberfläche 10, 18, 149, 187, 236 Ontologie (ontologisch, schwache Ontologie) 15, 39, 68, 108, 193–196, 198–200, 202, 204, 214, 216–218, 222 f., 232, 234 f., 237 f., 241–243, 245, 252, 272, 276, 281, 289–294, 299, 307, 316, 327, 329 Orpheus (orphisch) 2, 99 f., 278 Partizipation 18, 78, 294–299, 302 f., 305, 307–309, 311, 313–218, 323 f., 328 Passivitätskompetenz 18, 45, 49, 51, 70, 193 Performativität (performativ) 18, 26, 34, 43, 141–143, 148, 158, 161, 202, 233, 247, 294, 329 Perversion (pervers) 7, 18, 35 f., 65, 132, 136, 175, 194, 199, 207 f., 210 f., 217 f., 220 f., 230, 239 f., 280, 291, 294, 306 f., 320 Pícaro (pikaresk) 295, 319–321, 323 Pygmalion 99, 103 Rätsel (rätselhaft, „rätselhafte Botschaften“) 1, 9 f., 72, 93, 97, 124, 129, 143–146, 174, 178, 196, 200–204, 207 f., 221, 230, 237, 248, 268, 304 f., 330 rauschen 148, 154, 157 Referenzialität (Referenz) 2, 11, 43, 74, 114, 153, 161–163, 227 Repräsentation 153 f., 158, 163, 243, 258 Rhetorik (rhetorisch, Rhetorizität) 5, 12, 18 f., 27, 43, 46, 60, 68, 72, 87, 94 f., 97, 99, 104 f., 107 f., 111, 120, 122–124, 126, 129–134, 137–141, 143, 148, 151, 162, 164, 178, 180, 193 f., 202, 210, 219, 232, 237, 243, 248, 251, 262, 273 Rhizom 112, 229, 240 Romantik (romantisch) 2–4, 17, 22, 27, 32, 46, 57, 59, 67 f., 94, 100, 102 f., 113 f., 116 f., 119 f., 151, 178, 186, 208, 227, 264–268, 270, 274, 291, 299, 306, 309, 320, 330 Sadomasochismus (sadomasochistisch) 133, 175, 178, 192

 363

Schein 5, 18, 66, 145, 182, 184, 278 Schtetl 112, 176, 183 schweigen 42, 88, 125, 149, 150–152, 167, 171, 183, 202, 246, Schwindel 48, 162, 215, 311 Selbstauflösung 45, 54, 69, 75, 139, 218, 293, 309, 313 f. 321 Selbstbezogenheit (selbstbezogen, Selbstreferenzialität, autoreferenziell) 12, 43, 55–57, 59, 130 f., 135, 141, 147, 158, 162 Separation 18, 294, 314–317, 323 f., 328 Sexualität (sexuell) 35 f., 39, 78, 143–145, 208 Sinnaufschub 224 f., 227 Spiel 1, 3, 8, 10, 18, 31 f., 49, 69, 84, 87, 129, 131, 175, 180, 183, 186, 199 f., 203, 238, 268, 327, 331 Sprachkritik (sprachkritisch) 2, 43, 148 f. Störung 46, 280, 286 f. Surrealismus (surrealistisch) 17, 111, 118, 177, 327 Suspendierung (suspendieren) 11 f., 49, 53, 143, 147, 162, 223, 225 f., 228, 316 Sympathie 18, 194, 222 f., 234, 236–239, 241, 245, 251, 256, 272, 275, 289, 293 f., 302, 315, 321 Tanz 43, 256, 308–310 Tonio Kröger 205–210 Übersetzungshilfe 144 unaussprechbar (unaussprechlich) 43, 51, 66, 75, 124, 127 f., 131, 148, 150, 154, 217 f., 221, 286, 308 Unbegrifflichkeit 19, 193 Unbewusstsein (unbewusst) 5 f., 9, 42, 48, 53, 129, 143–145, 150 f., 211, 265 f., 268, 298, 302, 307, 312 unheimlich (das Unheimliche) 18, 52, 77, 176 f., 215–217, 246, 304, 313 unverständlich (Unverständlichkeit) 9, 18, 32 f., 41, 46, 123, 139, 143, 145 f., 152–154, 158, 169, 199, 201, 203 f., 214, 217, 224, 226, 228 f., 234, 239, 241, 245, 247, 253, 260, 268, 287, 296 f., 304, 309, 327, 329 f. Utopie (utopisch, konkrete Utopie, Utopie des Ästhetischen) 38, 119, 158, 163, 173, 191, 196, 198, 218, 279, 290, 329

364 

 Sach-Index

vera ikon 152 f., 158, 163 Verbindungsfähigkeit 289, 293 f. Verflüssigung (verflüssigen) 45, 60 f., 63 f., 67–70, 72–76, 78 f., 81 f., 107 f., 293 Verfremdung (verfremden) 27, 109, 121, 129, 203 f., 218, 221, 239, 249, 264, 269 f., 287 f., 303, 305, 311 Verführung (Verführungskraft, verführerisch, Verführer, Verführerin) passim verstummen 66, 80, 148 f., 153, 171 Vivisector 295, 321, 323

Wahnsinn 66, 76–78, 179, 183 f., 201, 230, 258–260, 296, 303 f., 310, 315 Wegführen 18, 169 Werther 123, 131, 133 Wiederholung 27, 105, 187, 190, 203 f., 213 f., 235, 239, 252, 262, 267, 290, 303, 306, 311, 313 wuchern 157, 180, 183, 252, 102, 105, 109, 110, 112 Zerfall (zerfallen) 23, 25, 46, 61, 69, 101, 110, 196–200, 203 f., 214 f., 217, 222 Zone der Unwissenheit 42 f., 129, 282

Summary Philosophy of seduction in modernist prose. A comparative study on Polish and German literature Statement of the problem That modernist prose represents a turning point in the history of world literature has almost become a commonplace in literary historiography. For example, in his treatise Mimesis (1946), Erich Auerbach emphasized the tremendous pace of the changes taking place at the beginning of the 20th century with which the writers were confronted. The new circumstances challenged the artists to process, explain and interpret them; however the available narrative patterns of classical realist prose from the 19th century seemed unsuitable for the task. Conveying the scattered nature of the subject and its heterogenic as well as dissociative perception of the world required, according to Auer­ bach, to the rejection of former narrative schemes and the search for new means and forms of expression. Georg Lukács stressed also the revolutionary character of modernist art and used – following Bertolt Brecht – the term “radical new” (das radikal Neue) to describe it. A similar depiction was employed by Bernd Witte: referring to Walter Benjamin, he labelled modernist prose as “radical writing” (radikales Schreiben) and positioned it as a counterpoint to the realistic novel genre. The aim of my research is to steer away from the idea of a radical breach and talk about modernist prose in a different manner. This traditional overall project, the “grand narrative” of literary history, can be easily relativized and brings very little explanatory value to text analyses, that is why I consider adding another interpretive framework not only possible but necessary, and why I attempt to explore the complexity of modernist prose and examine its uniqueness using the category of seduction. Instead of perpetuating the “radical change” narratives as a sign of modernism – and therefore also of modernist prose – I strive to show with incisive comparative micro-­literary research that there are many patterns of experience, many manners of observing, as well as many facets in which the changes find their expression. Around the central concept of seduction, I aim to unfold a broad spectrum of aesthetical, linguistic, epistemological, psychological, phenomenological, and poetological aspects in modernist narrative. Why seduction? Above all, it becomes evident that modernist prose writers decidedly use this category in their literary works and theoretical deliberations to express their concept of art, the subject, or reality. Moreover, in aesthetics, seduction is a firmly established category, especially since its new definition in the romantic period (Kierkegaard). In the 1970s the rediscovery of seduction was celebrated in various ­disciplines: sociology (Barthes, Luhmann, Bourdieu, Baudrillard), ­psychoanalysis

https://doi.org/10.1515/9783110572049-008

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(Laplanche), post-structural theory (Derrida) as well as in literary studies (Felman, de Man). In this context, the use of seduction as a tool to describe modernist prose, especially as delineated in Paul de Man, was fundamental for my reflections. Fredric Jameson points out the frequent appearance of the words “temptation” and “seduction” in the works of de Man and formulates the following thesis: “[The] deconstruction of the seductiveness of poetic language is at one with the deconstruction of modernism itself.” In my interpretation of modernist epic I will combine both aspects: the manifestation of forms of seduction in modernist prose and the implementation of seduction as a category. The goal is not only to deepen the reflection upon the relationship between the prose in question and seduction as an artistic strategy, as an existential mode of literary subject and literary work as well as its appearance and effects, but also to broaden it by new approaches from literary theory aspects.

Research topic My understanding is that “modernist prose” is much wider rather than being simply a terminus technicus for a well-defined name of a literary period. I have chosen three authors from Polish and German speaking literature representative of modernist prose: Robert Musil, Bruno Schulz, and Witold Gombrowicz. In my field of interest, I focus on the collection of two short stories, Vereinigungen (Unions) by Musil, published in 1911; the short story Kometa (The Comet) written by Schulz in the 1930s; and the novel Pornografia (Pornography) by Gombrowicz, which incidentally in the first translation into German had the title: Verführung (Seduction). With this selection, I intend to delineate the wide and manifold spectrum of modernism. Comparative studies of the aforesaid works, though confrontation with other text examples, constitute the main pivot in my study. I refer to the entire oeuvre of the three authors and use the works of their contemporaries for my analysis, for instance, texts by M. Blecher, Hermann Broch, Franz Kafka, Gertrud Kolmar, Leo Perutz or Stanisław Ignacy Witkiewicz alias Witkacy. That this is a corpus of writers connected with the topography of Central Europe – a cultural area mainly influenced by the Habsburg Monarchy – is no coincidence. In one of his many essays, Milan Kundera stated that the history of modernist novel is closely linked to this particular region. The special focus on Polish and German speaking literature however is not meant to detract attention from representatives of non-European modernisms, such as for example the Brazilian novelist Mário de Andrade. Furthermore, literary works from other time periods written by Leo Tolstoy, Nikolai Leskov, Anton Chekhov or – an insight into the present times – Maxim Biller are being brought in for the sake of comparison. In addition to it, I continuously look for references to texts from areas such as philosophy, aesthetics, theory of science, history of art, and ethnology which might cast some new light upon the prose under analysis. All these literary and theoretical connections allow me to examine the interpretative and heuristic power of the category of seduction. I trace the theoretical developments before and after the time the

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chosen works were written in order to create a broad conceptual framework for understanding the texts.

What is seduction? Research methodology My research is not about establishing an explicit definition of seduction – such an approach would seem doctrinaire and reductive. Rather than doing so, for the sake of broadening my perspectives on the topic, I wish to take as many nuances of the category into account as possible so I can apply them in the interpretation process. Seduction – and this is the hypothesis to confirm – is a helpful tool for the investigation of modernist prose, a binding point combining different literary strategies and tendencies that brings hidden meanings and connections to the surface. I have presupposed seduction as a heuristic, that is, a methodically flexible interpretation tool. As far as the research method is concerned, seduction as such can be described by using the concept of family resemblance by Ludwig Wittgenstein. With this in mind I am going to perceive seduction as a cluster or a network of related terms or phenomena. This includes amongst others ecstasy, suspended animation, and passive competence of the subject; the charged relationship between sympathy and antipathy as well as between lust and disgust; the dialectics of closeness and distance; the dynamics of participation and separation or attraction and repulsion; ambiguity, perversion, eroticism, analogies and constellations, illusion and appearance, secrecy, marginality and the meaning of Latin word seducere (to lead away, to lead astray); rhetoricity and performativity of the language; hermeticism and the magic of language; atmosphere and irony. All these terms and corresponding phenomena overlap in certain cases; therefore, I attempt to subsume them under the category of seduction. The second theoretical alignment of my application of the category of seduction hints at Hans Blumenberg’s metaphorical-rhetorical thinking and his theory of non-conceptuality (Theorie der Unbegrifflichkeit). I wish to construe seduction in a similar way: as an unfinished category adapting itself to the given analysed literary texts. The application or rather mapping of its semantic fields is effectively carried out in the course of the study.

Research questions and the composition of the book Reading the texts sub specie seductionis, aiming at an exemplary description of some basic characteristics of modernist prose, I dedicate myself first and foremost to two main problem areas. The first one concerns the epistemology and anthropology found or constituted in the literary works. Therefore, one is supposed to ask how the modernist subject or rather image of the human being and its relationship to the world are presented in a literary mode and what kind of understanding of knowledge and language results from it. In this context, seduction is perceived as an epistemological metaphor and a constructive element of the constitution of the topic in question. I focus on

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the part seduction plays in the construction of the protagonists, their consciousness as well as cognitive facilities, and attempt to sound out the relationship between the seduction-based understanding of the subject and the categories connected with it, such as identity and reason. The second aspect refers to the qualities of the world or rather of the reality described and postulated in modernist prose. Here the term “weak ontology” by Gianni Vattimo comes in handy, which suggests in advance that it is not metaphysics – in a strict sense – that can be found here. The literary subject conceives the reality portrayed in the works as unstable, strongly emotional and organoleptically active. Instead, the subject feels seduced by it, and that means enraptured, attracted but also repelled. That is why I am discussing the following questions: What attributes belong to the being described in the prose? According to what principles and laws are the relationships among beings in the world organized? How are the coherences between things and humans imagined and perceived? What kind of understanding of sense is concealed beneath this ontology? Both of the outlined problem fields can overlap and complement each other mutually. The category of seduction in its role as a heuristic device for analysing modernist prose is applied on the both levels, always to be seen as interlaced with one another. The study is composed of two main parts including analyses of texts thematically corresponding with the two abovementioned problem fields.

Results and perspectives In the works of Musil, Schulz and Gombrowicz seduction assumes special forms of a literary strategy or a mode of the subject’s self-perception or its perception of the world, and supports the analysis of the epistemological, anthropological and ontological dimensions of literary texts. One might say, therefore, that a new theoretical quality belonging to the outlines of a philosophy of seduction is being created there, a philosophy just reconstructed in this study, and which can be considered as a theoretical framework for interpreting and understanding modernist prose in general. The authors seize in their texts the seduction theme at various levels. One of the qualities attributed by them to this category is reciprocity. They present seduction as a reciprocal process and bring thereby conventional classifications such as the one into subject and object or activity and passivity into question. A further characteristic which results from this dissolution of dichotomy is the fact of the subjects in their works being always entangled in their own strategies. They seduce others and at the same time become seduced by them in return. The seductive game does not limit itself strictly to the relationships between humans. Seduction has also a lot to do with the given environment and its atmosphere – the so-called organoleptic activities. Moreover, the correlation between seduction and the hermeticism is strikingly conspicuous: the writers refer to hermetic language, nature-focused magical thinking and early modern beliefs of attracting and repulsive forces to show the transitions of old and new knowledge practices as interpretations of the human existence.

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The result presents itself in the prose under analysis as the perception of the subject or rather human, who does not isolate itself from reality but merges with it – allows itself to be seduced by it. In this relation all is about the unsolvable dialectics of proximity and distance, or, in other words, interplay between participation and separation, a rapprochement to the object and the fusion with it; it is about self-loss of the subject and its attempts to find way back to oneself again afterwards. Not speaking about something but letting oneself being seduced by it until becoming a part of it – this sentence reveals the storytelling principle in the texts written by Musil, Schulz, and Gombrowicz. In their works, they polemicize on the meta level against the objectivist methods of knowledge of various philosophic provenances: against positivistic objectivism, against a metaphysical concept of knowledge or a phenomenological reduction. They see no possibility for a subject taking an untouchable position versus an object. Such a distance is seen by them as fiction or utopia – or, as one would say today – discourse. That is why in their works they design for their characters alternative approaches towards reality, which according to their beliefs exists only in language. The literary descriptions seem to have epistemological and ontological potentials: it does not matter to understand the object/the phenomenon/the other, to reveal its secret and to bring it to a standstill. The relationship of a human to the world is rather about him/her repeating and performing its incomprehensibility, empathically approaching it, participating in it, putting himself/herself in its place and thereby giving it a meaning. That way the hierarchies in the relationships between subject and object, between the sublime and the ordinary, grandness and baseness disappear in favour of a seductive game in which the ways of knowing and perceiving intersect with those of attracting and repelling, of bringing closer and drifting away … But modernist prose is just the start, since it would be worthwhile investigating how this imagined type of such a different relationship is being expressed in the humanities. It is a concept of theory derived from literature, theory which one can understand as a challenge to reality, as participation, taking action and intervening in the world inseparably connected with it or more precisely speaking constituting its symbolic universes as well as a performative answer to it / to them. This means a special, somewhere between theory and practice located, acting attitude, underlying the immersion both of the writer and researcher into the world or topic of research, the mimetic ability of the subject and its desire for self-loss. The acting object, the object that is to be performed and not intellectually grasped or simply understood, gets copied, repeated and thus transformed – just like the constituting self. In my opinion, the reversibility of this relationship encapsulates the concept of seduction. The epistemological and ontological frames that can be extracted from the works of Musil, Schulz and Gombrowicz refer to a methodological reflexion of diverse humanistic disciplines of the 20th century and is compatible with analytic strategies such as the concept of constellations of Theodor W. Adorno, the approach to phenomena like style and tone of Jacques Derrida, Aby Warburg’s method of the Mnemosyne Atlas, or the thick description of Clifford Geertz.