Sehnsucht Familie in der Postmoderne: Eltern und Kinder in Therapie heute 9783666403286, 9783525403280, 9783647403281

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Sehnsucht Familie in der Postmoderne: Eltern und Kinder in Therapie heute
 9783666403286, 9783525403280, 9783647403281

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© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Jürgen Hardt / Fritz Mattejat / Matthias Ochs / Marion Schwarz / Thomas Merz / Ulrich Müller (Hrsg.)

Sehnsucht Familie in der Postmoderne 

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Mit 2 Abbildungen und 16 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40328-0 ISBN 978-3-647-40328-1 (E-Book)

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Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen Hardt Sehnsucht Familie in der Postmoderne – Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Norbert F. Schneider Elternschaft in der Moderne – Soziologische Betrachtungen und ihre politischen Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Reinhard Sieder Der Familienmythos und die romantische Liebe in der condition postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Jochen Schweitzer System Familie im Gesundheitswesen – Entwicklungslinien und Zukunftsszenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Forum »Die Familie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit« Ulrich Müller Einführung in das Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Giselind Berg Die Technisierung der Zeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Inhalt

Margarete Berger Zur Entwicklung von Eltern und ihren sogenannten Retortenkindern im familiären Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Forum »Kinder psychisch kranker Eltern« Renate Frank Einführung in das Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Fritz Mattejat Kinder psychisch kranker Eltern – Vom Risiko zur Resilienz 153 Albert Lenz Psychoedukation für Kinder psychisch kranker Eltern . . . . 167 Christiane Hornstein und Patricia Trautmann-Villalba Mutter-Kind-Interaktionstherapie bei postpartalen psychischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

Forum »Multikulturalität und Familie« Uta Cramer-Düncher Einführung in das Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Haci-Halil Uslucan Familiale Lebenswelten von Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Forum »Kinder in familiengerichtlichen Verfahren« Marion Schwarz Einführung in das Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Marion Schwarz Kindeswohl und Kindeswille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Inhalt

Marion Schwarz Aufgaben des Familiengerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Alfred Krieger Kinder im Begleiteten Umgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Forum »Familien in Psychotherapie – Strategien und Konzepte aus vier Blickwinkeln« Thomas Merz Einführung in das Forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Hans-Jürgen Wirth Grundkonzepte der psychoanalytischen Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Josef Könning Familientherapie in der Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . 289 Margot Rädecke Der systemische Blickwinkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Gisela Borgmann-Schäfer Der humanistische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Gerlinde Unverzagt Die Familie – ein Fest?! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

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© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Vorwort der Herausgeber

Bei einem Blick auf die Themen der bisherigen von der Psychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP Hessen) veranstalteten Hessischen Psychotherapeutentage (HPT) fällt auf, dass es hierbei inhaltlich regelmäßig um eine Kontextualisierung der psychotherapeutischen Tätigkeit und deren Gegenstandbereiche ging: So beschäftigte sich der 2. HPT mit der Frage der gesellschaftlichen Relevanz von Psychotherapie, im 3. HPT wurde Psychotherapie in gesundheitspolitische Zusammenhänge gestellt und der 4. HPT verortete Psychotherapie innerhalb des thematischen Gefüges von »Arbeit«. Diese Richtung der inhaltlichen Schwerpunktsetzungen kommt nicht von ungefähr, sondern ist natürlich Programm – nämlich Programm der hessischen Psychotherapeutenkammer, wie es etwa im »Geisenheimer Manifest«, den 2005 aufgestellten Grundsätzen der Kammerarbeit, formuliert wurde. Dort heißt es: »Die Delegiertenversammlung (der LPPKJP Hessen) betont die Notwendigkeit, sich insbesondere auch mit gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Fragestellungen aus der Sicht psychotherapeutischer Tätigkeit und Erfahrung auseinanderzusetzen und zu diesen Stellung zu beziehen. Dabei geht es darum, auf gesellschaftliche Entwicklungen aufmerksam zu machen, die die psychische Entwicklung behindern, psychisches Leid mit hervorbringen und psychische Krankheit befördern. [...] Diese Stellungnahmen gründen zuvorderst auf den Erfahrungen mit der Bandbreite, Tiefe und Komplexität von psychischer Entwicklung und psychischem Leid.«

Das Motto des in diesem Band dokumentierten fünften Hessischen Psychotherapeutentags »Sehnsucht Familie in der Postmoderne«, der am 18. und 19. September 2009 in der Fachhochschule Frankfurt a. M. stattfand, schließt gleich in zweifacher © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Vorwort der Herausgeber

Hinsicht an dieses Programm und die thematisch-inhaltliche Tradition der bisherigen Hessischen Psychotherapeutentage an: Zum einen wird auf makroskopischer Ebene durch den Aspekt der Postmoderne die gesellschafts- und kulturwissenschaftliche Sichtweise betont, zum anderen wird ein hochrelevanter mikrosoziologischer Kontext von Psychotherapie-Patienten, nämlich die Familie, ins Blickfeld gerückt. Diese umfassende Perspektive auf psychotherapeutische Tätigkeit konkretisiert sich in den vielfältigen Beiträgen des Tagungsbands. Die inhaltliche Diversität der Beiträge umfasst familiensoziologische (Prof. Norbert Schneider), familienkulturgeschichtliche (Prof. Reinhard Sieder) sowie familientherapeutische (Prof. Jochen Schweitzer) Dimensionen; aber auch brandaktuelle und für die Psychotherapie hochrelevante Themen werden behandelt, wie »Die Familie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit«, »Kinder psychisch kranker Eltern«, »Multikulturalität und Familie«, »Kinder in familiengerichtlichen Verfahren« sowie verschiedene psychotherapeutische Ansätze zur Arbeit mit Familien. Um der Gefahr der Beliebigkeit angesichts dieses Themenpluralismus zu begegnen – eine typische Gefahr postmoderner Diskurse übrigens, worauf Jürgen Hardt, Präsident der LPPKJP Hessen, in seinem einleitenden kulturwissenschaftlichen Beitrag hinweist – haben wir den thematischen Schwerpunkten jeweils kurze Einführungen vorangestellt. Auf der anderen Seite hätte eine allzu starke inhaltlich-thematische Reduktion und Engführung die Gefahr beinhaltet, dass der Komplexität, die sich immer dort entfaltet, wo Zusammenhänge, Wechselwirkungen und Kontexte im Fokus des Diskurses stehen (wie auch beim Motto dieses Tagungsbands), nicht mehr angemessen genug Rechnung getragen werden kann. Dieser durch die postmoderne Situation aufgeworfene Komplexität in der therapeutischen Arbeit mit Familien angemessenen begegnen zu können – was bedeutet, weder zu früh Komplexität zu reduzieren noch sich durch selbige aufgrund der damit möglicherweise einhergehenden Überforderung im hilfreichen Handeln einschränken zu lassen –, dazu möchte dieser Band einen Beitrag leisten. Matthias Ochs für die Herausgeber © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Jürgen Hardt

»Sehnsucht Familie in der Postmoderne« – Einführung in die Thematik

Warum »Postmoderne«? Der Titel »Sehnsucht Familie in der Postmoderne« klingt seltsam und etwas angestaubt, er verlangt auf jeden Fall einige Erklärung. Die Postmoderne gilt als längst überwunden und es wird behauptet, sie habe sich zudem als überflüssige Problematik längst erledigt, sie sei ausgestanden und die Moderne – was immer darunter zu verstehen ist – könne so weiter machen wie bisher. Unbeirrt könne die Modernisierung der Gesellschaft und Kultur ihren erfolgreichen Weg fortsetzen, wird behauptet, und sie solle sich dabei nicht allzu intensiv um die Missverständnisse kümmern, die den schnellen notwendigen Lauf des Fortschritts bremsen. Nach einer solchen Ansicht scheint »Sehnsucht Familie in der Postmoderne« ein Anachronismus, vielleicht eine typisch postmoderne Effekthascherei, die außer gelangweiltem Amüsement keine weiter Aufmerksamkeit verdient. Man stelle sich einen Herrn mittleren Alters vor: Lässig mit erlesenem Geschmack schwarz gekleidet, blass mit kahl geschorenem Schädel, gerade aus der siebten gescheiterten Beziehung, die einvernehmlich zu Ende gegangen ist, genesen, wie er sich auf die Schenkel klatscht und sich über den Titel mokiert. Mit spitzem Ton und herablassend sagt er: »Was soll das noch mit ›Sehnsucht Familie in der Postmoderne‹, damit lockt man keinen Hund mehr vom Ofen. ›Postmoderne‹ ist doch mindestens seit einer Generation kalter Kaffee. Und ›Familie‹ ist ein alter Hut, den sich niemand mehr aufsetzen mag. Und das dann noch mit einer romantischen ›Sehnsuchtssoße‹ überzogen; so ein Kitsch!« © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Jürgen Hardt

Mit der Überheblichkeit von gewissen Intellektuellen setzt er hinzu: »Ich wusste es doch, die Psychos sind die letzten Hinterweltler, ewig Gestrige, knapp hinter dem Mond.« Eine Einführung muss sich einer solchen Kritik stellen und sie als ungerechtfertigt erweisen, will sie doch auf die nachfolgenden Ausführungen gespannt machen. Dazu ist es notwendig, die psychotherapeutische und zugleich kulturelle Relevanz des Themas der Postmoderne herausstellen, trotz der intellektuellen Einwände, die erhoben werden könnten. Tatsächlich redet heute kaum noch jemand von der Postmoderne; sie scheint vorbei gegangen wie eine Modeerscheinung. Einige der Protagonisten der Postmoderne haben kräftig dazu beigetragen, dass man das mit ihr aufgeworfene Anliegen nicht anhaltend ernst nehmen musste. Schon Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde in Zweifel gezogen, ob es so etwas wie die Postmoderne je gegeben hat. So schreibt zum Beispiel Richard Münch (Münch, 1986, S. 11 ff.): »Von einer Ablösung der Moderne durch die Postmoderne zu sprechen, wie das auf fast allen Gebieten – von der Wirtschaft, über die Wissenschaft bis zu Kunst und noch weit mehr Bereichen – geschieht, ist allerdings völlig unangemessen.« Er betont, dass die »voreilige Verabschiedung der Moderne« eine »unangebrachte Verengung des Begriffs der Moderne« zugrunde legt. Immer habe die Moderne Traditionen in Frage gestellt und zurückgewiesen. Was sei also das Besondere an der Postmoderne, fragt er, die doch Probleme stelle, die dem modernen Projekt inne wohnen. Münch verdächtigt aber die Autoren der Postmoderne einer Opposition gegen die Moderne, was auch sonst in diesem Zusammenhang häufiger formuliert worden ist. Er meint nämlich: »die Entwicklung der Moderne war stets begleitet von einer Opposition, die eine Rückkehr zum Althergebrachten, ein Anhalten des gesellschaftlichen Wandels gepredigt und damit gewiss auch einen nicht unwichtigen Gegenpol gegen eine außer Kontrolle geratene Entwicklungsdynamik gebildet hat.« Er führt dann fort: »in Bezug auf die moderne Kultur kann dies aber immer nur eine oppositionelle Haltung sein. Sie zum herrschen© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

»Sehnsucht Familie in der Postmoderne« – Einführung in die Thematik

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den Prinzip der ›Postmoderne‹ zu erheben, hieße, zum Stillstand der Tradition zurückzukehren.« Solche und ähnliche kritischen Einwendungen sind natürlich auch später häufig erhoben worden. Wenn man trotzdem an dem Titel der Postmoderne festhalten will, muss man diesen Titel legitimieren. Die Postmoderne, so wurde argumentiert, sei so etwas wie ein Selbstmissverständnis des stetigen Modernisierungsprozesses. Selbstbewusst wurde von den Vertretern der Moderne behauptet, die ganze Verunsicherung sei ein Spuk gewesen, der sich bei nüchterner Betrachtung in Nichts auflöse, ganz im Gegenteil, die moderne Vernunft sei gestärkt aus dieser nicht ernst zu nehmenden Verunsicherung hervor gegangen. Aber es gibt auch andere Autoren, die darauf bestehen, dass die postmoderne Problematik in ihrem großen Ernst überhaupt noch nicht erkannt und anerkannt ist (so zum Beispiel Welsch, 1995). Wir folgen Welsch, der in der Postmoderne ein ernstes Problem sieht, dem sich die moderne Vernunft stellen muss und dem sie sich nicht entziehen kann, indem sie behauptet, dass es nicht existiere oder ein Missverständnis sei.

Zur Relevanz der Postmoderne für Psychotherapeuten Im psychotherapeutischen Feld spielt die postmoderne Problematik in zweifacher Weise eine große Rolle. Zuerst in Bezug auf die psychotherapierelevante Wissenschaftlichkeit: die intellektuelle Postmoderne. Die wissenschaftliche Entwicklung scheint unbeirrt, der modernen Logik folgend, auf eine Einheitswissenschaft zuzulaufen (obwohl viele den Gewinn des modernen Projekts gerade in der Diversifikation und der Verselbstständigung von relativ autonomen Teilaspekten sehen). In dieser Entwicklung wird das Eigenleben des Seelischen einem psychophysischen Reduktionismus geopfert. Dass bei dieser Verwissenschaftlichung aber wesentliche Handlungsbereiche der Psychotherapie (die Praxeologie einer Erlebniswissenschaft) aus der Wissenschaft herausfallen, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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bekümmert die professionellen Psychotherapiewissenschaftler wenig. Hier stellt sich die postmoderne Frage, wie unterschiedliche, von ihrer Logik und ihrem Ansatz kaum zu vereinbarende, oft gegensätzliche wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen vernünftig zusammengebracht werden können. Es ist die Aufgabe der transversalen Vernunft, die Wolfgang Welsch eindrücklich als die Hauptherausforderung und Aufgabe der Postmoderne formuliert hat, die sich für den Wissenschaftsbetrieb der Psychotherapie in besonderer und dringlicher Weise stellt. Ein zweiter Bereich, der die Psychotherapie betrifft, ist die kulturelle Postmoderne. Nach dem Scheitern der letzten, pervertierten, dennoch in moderner Tradition sich verstehenden kulturellen Vereinheitlichungsprojekten des Totalitarismus ist eine Entwertung von kulturellen Ordnungsmustern zu beobachten, die zwar Freiheit der Wahl, aber zugleich auch Orientierungslosigkeit mit sich brachten. Das sind die ernsten Fragen der Postmoderne, wie eine Organisation des Lebens angesichts der vielfältigen, oft gegensätzlichen, gleichwohl berechtigten Lebensformen möglich ist. Das ist eine große Herausforderung an die Lebensgestaltung der Menschen, der sie oft ohne Hilfe nicht gewachsen sind. Die ernsten Probleme der Postmoderne sind also nicht gelöst, eher muss anerkannt werden, dass die postmoderne Kritik Fragen aufgeworfen hat, die längst nicht mehr nur intellektuelle Fragen sind, sie sind zu Lebensproblemen geworden. Das, was zuerst nur Aufregung in intellektuellen Kreisen verursachte, ist im alltäglichen Leben angekommen und stellt die Menschen vor neue Probleme und verlangt neue Lösungen. Hier sind besonders Psychotherapeuten gefragt, weil es ihre Aufgabe ist, hilfreich zu sein, mit dem Leben zurechtzukommen und es bedarf neuer Antworten auf neue Fragen in einer Zeit der Unübersichtlichkeit von Lebensentwürfen. In unserem Zusammenhang ist mit Postmoderne keine Zeitepoche zu verstehen, sondern die Problematik einer Situation der »Unübersichtlichkeit« (Habermas, 1985), die durch den Verlust an Tradition und Utopie zustande kommt. In einer solchen Situation gibt es kaum noch oder nicht mehr zu vereinbarende Anforderungen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

»Sehnsucht Familie in der Postmoderne« – Einführung in die Thematik

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und unterschiedliche Lösungswege. Insofern ist Postmoderne sowohl ein ernsthaftes intellektuelles als auch kulturelles Problem. Unter Postmoderne ist hier nicht eine Zeit der fröhlichen Beliebigkeit zu verstehen, was vielfach mit Postmoderne verbunden wird. Postmoderne in unserem Sinne folgt dem Verständnis eines ihrer philosophischen Väter, Jean-Francois Lyotard (Lyotard, 1979), der alles andere als beliebig war. Lyotard wollte mit großem Ernst und großer Strenge die »Ehre des Denkens«, in Zeiten ihrer Gefährdung durch Zersplitterung retten. Diesem Ziel galt seine intellektuelle Anstrengung. Diese Bemühung bedarf einer ständigen Anstrengung, sie zielt darauf, widerstreitenden Positionen (Lyotard, 1987), die nicht miteinander zu vereinbaren, aber berechtigt sind, gerecht zu werden, ohne der einen oder der anderen Gewalt anzutun und sie zu unterdrücken oder gar zu eliminieren. Dazu ist es notwendig, die Unvereinbarkeit zu respektieren und nicht Vereinheitlichung zu erzwingen, was der modernen Logik eher entspricht. Postmoderne bedeutet, dass es viele Wege und viele Ziele gibt und keine Instanz, die über den richtigen Weg entscheiden darf. Die Traditionen mit ihren Erzählungen vom richtigen Leben haben als Wegweiserin ausgedient und auch die Vernunft darf nur die jeweiligen Berechtigungen prüfen, muss auf fairen Ausgleich achten und ist nicht mehr Richterin auf höherem Thron. Nach Lyotard haben die großen Erzählungen über das Weltgeschehen und das Leben ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Unter den großen Erzählungen verstand er Auffassungen von Geschichte, große Projekte oder Ideologien, in denen Menschen sich verstehen und orientieren können. Die Unglaubwürdigkeit der großen Erzählungen betrifft die Religionen, die Heilsgeschichten angeboten haben, aber auch den säkularen Glauben an den unendlichen Fortschritt. Das Gleiche wie für die Religionen gilt also auch für deren Gegenbewegung, der Erzählung vom unendlichen Fortschritt der Moderne und der Aufklärung, die, so versprach man sich von ihnen, zu immer mehr Vernunft, zu Frieden aus Einsicht, zu Gleichheit zwischen den Menschen und Wohlstand für Alle führen sollten. Auch diese Erzählungen haben offensichtlich © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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versagt, stellen viele Autoren unter dem Eindruck der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges fest, sie haben ihre Versprechungen nicht einlösen können. Diese Erzählungen haben die Welt und die Geschichte erklären wollen und sie haben ins Grauen geführt. Aber sie hatten Bindungskraft in der Gesellschaft und sie machten Lösungsangebote für und gaben Orientierung in Lebensfragen. Alle diese Erzählungen sind gescheitert, sie haben sich als unglaubwürdig erwiesen. Ziellosigkeit in Lebensfragen ist die Folge. Dass das nicht nur für die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert gilt, hat Kafka in seiner kleinen Geschichte vom »neuen Advokaten« ironisch dargestellt. Die Geschichte ist deutlich als eine Schilderung von Kafkas eigener Situation zu erkennen. Der neue Advokat Bucephalus sucht im Wust der unterschiedlichen Gesetze, den alten Büchern und Traditionen eine Orientierung im Leben. Er vergräbt sich, »liest und wendet die Blätter«. Wenn man ihn allerdings die Treppe zum Justizgebäude hinaufsteigen sieht, fällt auf, wie er »hoch die Schenkel hebend, mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt von Stufe zu Stufe stieg«, was dem mit Pferderennen Erfahrenen verrät, dass der junge Advokat früher das Streitross Alexanders des Großen gewesen ist. Kafka beschreibt, dass der Advokat deswegen zur Juristerei gekommen sei, weil es »bei der heutigen Gesellschaftsordnung« keinen »großen Alexander« mehr gibt, der die Richtung angeben kann, der zu folgen ist, wenn man auf dem richtigen Weg sein will. Am Ende stellt er fest: »Schon damals waren Indiens Tore unerreichbar. Heute sind die Tore ganz anderswohin und weiter und höher vertragen; niemand zeigt die Richtung; viele halten Schwerter, aber nur, um mit ihnen zu fuchteln, und der Blick, der ihnen folgen will, verwirrt sich« (Kafka, 1916/17). Diese Geschichte ist lange vor der sogenannten Postmoderne geschrieben und man könnte daraus folgern, weil es offensichtlich dem Leiden an einer differenzierten und unübersichtlichen modernen Vielfalt entstammt, es handele sich um eine moderne und nicht eine postmoderne Parabel. Das ist aber eher nur eine Frage der zeitlichen Definition, die relativ beliebig ist. Tatsäch© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

»Sehnsucht Familie in der Postmoderne« – Einführung in die Thematik

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lich meint Kafka mit seiner Geschichte, dass die moderne Entwicklung mit ihrer Aufhebung traditioneller Bindungen, zu der die Verrechtlichung der Welt in ihrer Weise noch beiträgt, zu einer Unübersichtlichkeit geführt hat, die im Leben schwer zu bewältigen ist. Unordentlichkeit, die es immer wieder in der Kulturgeschichte gab, ist endgültig in unser Leben eingezogen. Alte Ziele und Orientierungen sind entwertet. Damit werden neue Fragen nach Orientierung aufgeworfen, weil jedes Leben ein Ziel braucht. Alles scheint beliebig geworden zu sein und alles scheint möglich. So zieht Anarchie in das Leben ein, was man fröhlich als Befreiung oder ängstlich als Bedrohung erleben kann; je nach dem eigenen Belieben, aber nicht mehr in Bezug auf allgemein verbindliche und gültige Normen.

Die »Erzählung« von der »natürlichen Familie« Für den psychotherapeutischen Bereich hatte die Erzählung von der natürlichen Familie eine Orientierungs- und Bindungsfunktion (so zum Beispiel deutlich in der Diagnostik und Prognostik). Sie hat psychotherapeutisches Handeln und das Verstehen von Lebensläufen geleitet. Aber der Bezug auf die natürliche Familie hat längst ihre Glaubwürdigkeit verloren. Psychotherapeuten können in dieser normativen Erzählung – als sei es selbstverständlich, dass Leben in »natürlichen Familien« organisiert sein muss – keine Orientierung mehr finden. Das ist nicht zufällig so entstanden, sondern der moderne Fortschritt hat schrittweise zur Labilisierung unseres Konstrukts von der Familie geführt. Konkret heißt das: In unserer Kultur galt bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Familie aus Vater, Mutter und Kind als die natürliche Einheit der Gesellschaft. Sie war der Rest von der früheren, über mehrere Generationen reichenden Großfamilie, zu denen Groß- und Urgroßeltern sowie Enkel, Tanten und Onkels usw. zählten. Familie galt unhinterfragt als die Keimzelle der Gesellschaft, in der Leben entstand, verlief und organisiert wurde. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Durch interkulturelle, ethnologische Vergleiche wurde schon vor langem unabweisbar, dass unser Verständnis der »natürlichen Familie« ein kulturelles Konstrukt ist, das als eine Ausprägung neben vielen anderen möglichen Formen steht. Das interessierte aber zuerst nur Wissenschaftler. Die entscheidenden Impulse zur Veränderung des traditionellen Familienkonzeptes gingen von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen und dem wissenschaftlichem Fortschritt aus. So spielt die erst seit vierzig Jahren sichere Empfängnisverhütung eine wesentliche Rolle in diesem Prozess, sie hat mit bewirkt, dass das Geschlechterverhältnis und die Rollenverteilung in der Familie sich gewandelt haben. Auch die zunehmende Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Orientierungen hat einen Einfluss auf den Platz der Familie in der Gesellschaft. Einen besonderen Einfluss, mit dem Psychotherapeuten sich beschäftigen müssen, üben die Erfolge der Reproduktionsmedizin auf das »natürliche« Familienkonzept aus. Die kurzen Ausführungen zeigen, wie der Fortschritt der Moderne zu einer unübersichtlichen Situation in der Organisation von Lebensfragen geführt hat, in der neue Möglichkeiten entstanden sind und die Orientierung erschwert ist. Das wird die postmoderne Problematik genannt, dass Kriterien fehlen und neue Kriterien gebraucht werden, um mit den neuen und vielfältigen Möglichkeiten, die die Moderne beschert hat, umgehen zu können. Die alte Erzählung von der natürlichen Familie kann keine Antworten mehr auf die Fragen geben, die sich heute aufdrängen. Wir müssen uns der Frage stellen, was »Familie« leisten kann, worin ihr Wert besteht und – vielleicht noch wichtiger – wo sie mit Erwartungen und Bedeutung überfrachtet wird, was sie überlastet und zum Scheitern bringt. Wenn wir kritisch zu fragen beginnen, was es mit der »Familie« auf sich hat, dann stellen wir fest, dass das, was uns als die natürliche Familie erschienen ist, ein kulturelles/gesellschaftliches Konstrukt war, das nur deswegen eine Selbstverständlichkeit beanspruchen konnte, weil es als »natürlich« ausgegeben wurde und als Norm galt. Vor etwa einem halben Jahrhundert noch ist © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

»Sehnsucht Familie in der Postmoderne« – Einführung in die Thematik

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Kindheit und Jugendzeit ganz unter dem Diktat des nationalsozialistischen Familienmythos verlaufen. Das war eine Mischung aus traditionell religiösen und völkischen Konzepten. Dieser Thematik müssen sich Psychotherapeuten stellen, weil hier transgenerationelle Nachwirkungen zu erwarten und zu beobachten sind, die Normen vorgeben, die nicht zu erfüllen sind oder deren Verfehlen schuldhaft erlebt wird; mehr oder weniger vordergründig, mehr oder weniger deutlich oder bewusst. Wenn wir heute eine Sehnsucht nach der natürlichen Familie konstatieren, müssen wir uns fragen, inwieweit es sich hier um die transgenerationale Nachwirkung eines christlich-heiligen Familienbildes oder nationalsozialistischen Familienmythos handelt. Das würde dann einer unbewussten Bindung an eine nicht mehr zeitgemäße Lebensform entsprechen, die zudem einen infantilen Wunsch nach Übersicht befriedigt. Dann müssten wir die realen Anforderungen betonen und darauf bestehen, dass das Leben komplizierter geworden ist und keine einfachen Lösungen mehr gegeben sind. Viele Formen gibt es und hat es immer gegeben; was sich als natürlich ausgibt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als kulturelles oder ideologisches Produkt, das infantilen Wünschen Genüge tut. Die Familie kann als natürliches Gebilde auch keine Geltung mehr beanspruchen. Scheinbar sind unendlich viele Formen des Zusammenlebens möglich, die nicht nur als Abweichung oder Verfehlen der natürlichen Norm angesehen werden können. Mit einem verbreiteten Wort der Postmoderne kann auch in Familiendingen gesagt werden: »Anything goes«. Damit meint man das Motto, den Kampfruf der Postmoderne. Nach dem Ende der großen Erzählung »natürliche« Familie geht alles, ist alles erlaubt; weil alles möglich ist und es keine Instanz mehr gibt, die über richtig und falsch entscheiden darf. Aber auch die Frage muss gestellt werden, ob wirklich alles geht, was erlaubt ist. Beim Übertrag des angeblich postmodernen Mottos auf Lebensfragen ist Vorsicht geboten und es ist nötig, sich genauer damit zu befassen, was mit »Anything goes« eigentlich gemeint war. Wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest, dass »Anything goes« zuerst nicht völlige Beliebigkeit, sondern nur Aufhe© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Jürgen Hardt

bung von ungerechtfertigtem Zwang bedeutete. Und dass mehr erlaubt ist, als wir je gedacht haben oder uns zu denken trauten.

Eine »Fallvignette«: Paul Feyerabend Weil Psychotherapeuten es gewohnt sind, in Lebensgeschichten zu denken, zur Illustration eine kleine Fallvignette. Dieser Fall kann verwendet werden, weil er nicht aus einem klinischen Kontext stammt, sondern nur auf publiziertem Material beruht. Wegen der fast an Schamlosigkeit grenzenden Offenheit des Autors könnte man allerdings meinen, es stamme ungefiltert aus einer Behandlungsbeziehung. Eigentlich war »Anything goes« eine intellektuelle Provokation in einem tragischen Kontext. Es ist ein Zitat aus einer Arbeit des Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend (Feyerabend, 1983, »Wider den Methodenzwang«, S. 32). Erst die Umstände dieser Publikation und Feyerabends Lebensgeschichte machen deutlich, was es mit diesem Ausspruch auf sich hat (Hardt, 2004). Paul Feyerabend wurde in Wien geboren. Sein Mutter war schwer depressiv, in seiner flapsigen Art schrieb Feierabend später, dass er sie als kleines Kind öfter davon abgehalten habe, aus dem Fenster zu springen; das habe sie erst dann erfolgreich tun können, als er nicht mehr auf sie aufpassen konnte. Mit seinem Vater wie mit allen Autoritäten hatte er zeit seines Lebens große Probleme. Er war ein hochbegabtes Kind, das die Schule ohne Mühe absolvierte. Als junger Mann trat er freiwillig in die deutsche Wehrmacht ein und wurde aus Leichtsinn schwer verwundet, weil er einmal, wie er schrieb, den Helden spielen wollte. Er bekam einen Schuss in den Unterleib, der zu einer Gehstörung führte, die er elegant überspielte – er soll ein begnadeter und charmanter Tänzer gewesen sein. Durch die Schussverletzung wurde er aber auch impotent, was ihn nicht daran hinderte, viele Liebschaften zu haben und mehrfach zu heiraten. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

»Sehnsucht Familie in der Postmoderne« – Einführung in die Thematik

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Nach dem Krieg wurde er wider Willen Wissenschaftsphilosoph im Kreis von Karl Popper. Wider Willen, weil er eigentlich zu Ludwig Wittgenstein wollte, der aber plötzlich verstorben war. Als Wissenschaftler beschäftigte er sich mit der Geschichte wissenschaftlicher Theorien. Das Ergebnis seiner Nachforschung war, dass der Fortschritt der Wissenschaft nicht logisch sei und keiner erkennbaren Regel folge, statt dessen: Anything goes. Es gibt nach seinen Befunden in der Geschichte bei genauem Hinsehen keine große Erzählung vom wissenschaftlichen Fortschritt, keine Logik der Erkenntnis. Seine Folgerung, die im Gegensatz zu dem Wiener Kreis und zu Popper stand: Die Wissenschaftsgeschichte hat keine Regel und die Erkenntnis folgt keiner Logik. »Anything goes« ist nach Feyerabend der »erschreckte Ausruf« von jemandem, der Ordnung zu finden sucht, aber seine Befunde anerkennt und sie nicht wegredet. Zusammen mit seinem Freund Imre Lakatos plante Feyerabend, ein Buch über die Ergebnisse seiner Forschung zu schreiben. Lakatos sollte den Gegenpart übernehmen und die Vernunft in der Geschichte vertreten. Imre Lakatos starb aber vor der Fertigstellung des Buches und so blieb das Wort »Anything goes«, das als Provokation und Auftakt für Lakatos gedacht war, ohne Gegenrede. Anschließend wurde »Anything goes« zu Feyerabends Motto erklärt. Tatsächlich hat sich aber Paul Feyerabend mehrfach dagegen verwahrt und daran gelitten, dass er als Theoretiker des »Anything goes«, das heißt einer postmodernen Beliebigkeit, bezeichnet wurde. Wegen seiner antiautoritären und unsteten Art nahm man ihm das aber nicht ab. Er galt als Clown der Wissenschaftsphilosophen, er bezeichnete sich selbst als ein Dadaist der Philosophie. Zeitlebens hatte dieser scheinbar fröhliche Chaot mit schweren Depressionen und heftigen Suizidimpulsen zu kämpfen, die es ihm fast unmöglich machten, seinen vielfältigen Aufgaben nachzugehen. Er hatte zur gleichen Zeit Lehrverpflichtungen in Auckland, Neuseeland, Berkeley, USA und in Kassel. Also war er scheinbar selbst ein leuchtendes Beispiel dafür, dass alles möglich sei: also doch »Anything goes« als Lebensprinzip. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Jürgen Hardt

Mit fast sechzig Jahren lernte Paul Feyerabend seine vierte Frau kennen, die ein Kind mit ihm haben wollte, was er zuerst weit von sich wies. Er heiratete sie mit fünfundsechzig und begann »wie sie zu fühlen« und wollte trotz innerem Zwiespalt ein Kind mit ihr bekommen. Mehrere Jahre versuchten die beiden, ihre Sehnsucht nach einem Kind, nach einer richtigen Familie zu stillen. Sie nahmen dazu die Hilfe von medizinischen Experten in Anspruch, es gelang nicht. Schließlich wurde bei Paul Feyerabend ein inoperabler Gehirntumor, das heißt eine Krebsgeschwulst am Ort seines wilden und freien Denkens, festgestellt. Die Versuche, ein Kind zu zeugen, wurden trotz fortschreitender Krankheit von dem Paar fortgesetzt. Paul Feyerabend konnte die Sehnsucht nach einer Familie nicht stillen. Er starb kinderlos. Er konnte den Wunsch seiner Frau nach einer richtigen Familie, der zu seinem eigenen geworden war oder in dem seine alte verborgene Sehnsucht wieder auflebte, nicht mehr erfüllen. Man kann daraus schließen, dass doch nicht alles geht. Dass Lebensgeschichten ihre eigene Logik entwickeln, der sie nicht entrinnen können. Im Falle Feyerabends hatte die scheinbar fröhliche Beliebigkeit und Leichtfüßigkeit eine fast tragischtraurige Schattenseite. Seine Leichtigkeit war wohl eher ein verzweifelter Versuch, vom depressiven Boden seiner Geschichte loszukommen. Das ist eine postmoderne Familiengeschichte. Sie sollte uns psychotherapeutisch beschäftigen, wobei sie mehr Fragen aufwirft als wir je beantworten können: es geht um die scheinbare Beliebigkeit der Wahl und den Zwang von Lebenstatsachen.

Fragen, die sich Psychotherapeuten stellen müssen … Diese Lebensgeschichte stellt Fragen, denen sich Psychotherapeuten stellen müssen: – Welchen Ort hat Familie in unserer kulturellen Situation, in der scheinbar alles möglich ist? – Ist Familie nur eine voraufklärerische Fantasie? © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

»Sehnsucht Familie in der Postmoderne« – Einführung in die Thematik

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– Ist die »natürliche Familie« nur der lange Schatten des Nationalsozialismus, aus dem wir endlich heraustreten sollten? – Welchen Wert hat die »natürliche Familie« und wie ist sie zu verteidigen, nur traditionalistisch und als Gegenbewegung zum modernen Fortschritt? – Ist die unverkennbare Sehnsucht nach einer einfachen überschaubaren Ordnung des Lebens nur ein anachronistischer kindlicher Traum, aus dem wir endlich aufwachen müssen? – Gibt es überhaupt noch so etwas wie einen natürlichen Lebensverlauf und eine natürliche Ordnung des Lebens und der Familie oder ist alles beliebig machbar? Ohne kulturelle Reflektion werden Psychotherapeuten diese Fragen, die sich alltäglich in der psychotherapeutischen Arbeit stellen und Stellungnahme erfordern, niemals mehr beantworten können.

Literatur Feyerabend, P. (1983). Wider den Methodenzwang. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Feyerabend, P. (1995). Zeitverschwendung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Habermas, J. (1985). Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hardt, J. (2004). Does Anything Go? – Gedanken zum Werk und der Krankengeschichte von Paul Feyerabend. In A. Schüler-Schneider (Hrsg.), Identität und Krankheit. Frankfurt: Eigenverlag. Kafka, F. (1983). Der neue Advokat. In F. Kafka, Erzählungen. Gesammelte Werke – TB Ausgabe. Frankfurt a. M.: Fischer. Lyotard, J.-F. (1979). La condition postmoderne. Paris: Minuit. Lyotard, J.-F. (1987). Der Widerstreit. München: W. Fink. Münch, R. (1986). Die Kultur der Moderne, Band 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Welsch, W. (1995). Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Norbert F. Schneider

Elternschaft in der Moderne – Soziologische Betrachtungen und ihre politischen Implikationen

Zusammenfassung Deutschland hat seit Jahrzehnten eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit. Die Ursachen dieser Entwicklung sind vielschichtig. Verbreitet wird zur Erklärung auf ungünstige materielle Verhältnisse und auf unzureichende infrastrukturelle Gegebenheiten verwiesen. Dagegen wird in diesem Beitrag argumentiert, dass nicht nur strukturelle, sondern vor allem kulturelle Faktoren bedeutsam sind. Im Zuge des Wandels der Elternrollen und der sozialen Neukonstruktion von Kindheit wird Elternschaft in Deutschland, und hier besonders in den alten Bundesländern, zunehmend als Elternpflicht empfunden und mehr als anderswo als Belastung und als schwer zu bewältigende Aufgabe erlebt. Im Sinne einer kritischen Bestandsaufnahme der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zitiert der Aufsatz zahlreiche sozialwissenschaftliche empirische Befunde, die die These der Überforderung der Eltern durch ihre Erziehungsaufgaben stützen. Der Beitrag schließt mit dem Versuch, einige politische Implikationen zu skizzieren, die sich aus der dargestellten Befundlage ableiten lassen.

Zur gegenwärtigen Situation von Eltern und Elternschaft Das Wohl des Kindes genießt seit längerer Zeit eine hohe gesellschaftliche Bedeutung. Die Sicherung und Förderung des Kindeswohls ist in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des Familienrechts und der Familienpolitik in Deutschland gerückt. Die hohe Relevanz des Kindeswohls verlangt nach einer fundierten Antwort auf die Frage, wie sich das Wohlergehen eines Kindes und seine gedeihliche Entwicklung am besten sichern und fördern lassen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Norbert F. Schneider

Auf diese Frage gibt es viele Antworten, ich möchte Ihnen in diesem Beitrag meine geben, die aus zwei Teilen besteht: Erstens, die Wahrung des Kindeswohls ist nicht allein Aufgabe der Eltern. Auch Staat und Gesellschaft tragen eine Mitverantwortung. Zur Wahrung des Kindeswohls bedarf es gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, die den Kindern möglichst gute Entwicklungschancen bieten. Dazu gehören qualitativ hochwertige Bildungs- und Erziehungsinstitutionen in ausreichender Zahl für Kinder ab dem zweiten Lebensjahr und ein kindgerechtes sozialökologisches Umfeld. Entscheidend sind daneben – und das ist der zweite Teil der Antwort – gute materielle und soziale Lebensbedingungen der Eltern. Zahlreiche empirische Studien, etwa die OECD-Studie »Babies and Bosses« aus dem Jahr 2004, geben Hinweise darauf, dass das Wohl des Kindes erheblich durch die Zufriedenheit der Eltern mit ihrer eigenen Lebenssituation beeinflusst ist. Daher erscheint es sinnvoll, den Blick auf die Eltern zu richten und sich stärker für ihre Lebensumstände zu interessieren. Dieses Ziel steht im Mittelpunkt meiner Betrachtungen. Mit dem Thema »Familie und Elternschaft in der Moderne« will ich auf die gegenwärtigen Lebensbedingungen von Eltern und auf den Alltag der Eltern-Kind-Beziehungen aus soziologischer Perspektive fokussieren. Im Blickpunkt steht vornehmlich die Situation der Eltern, auch der potenziellen Eltern, und nicht die der Kinder. Die zentrale These, die diesem Beitrag zugrunde liegt, lautet: Elternschaft ist in den letzten Jahrzehnten voraussetzungsvoller geworden und hat sich zu einer zunehmend schwieriger zu bewältigenden Gestaltungsaufgabe entwickelt. Warum das so ist und welche Faktoren dazu beigetragen haben, will ich im Weiteren darlegen. 1. Waren Kinder vor vierzig Jahren noch selbstverständlicher Bestandteil des Lebens von Frauen und Männern, hat sich Elternschaft heute für viele zur Option entwickelt, die in Konkurrenz zu anderen Handlungsalternativen steht, etwa Beruf, Konsum, persönliche Unabhängigkeit. 2. Deutschland hat seit etwa vier Jahrzehnten eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit. Kinderlosigkeit (21 % der um © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Elternschaft in der Moderne

1965 geborenen Frauen bleiben kinderlos) (Statistisches Bundesamt, 2009a: Pressemitteilung Nr. 283) und Einkindfamilien haben sich in dieser Zeit statistisch zu einer Art Normalität entwickelt, die für größer werdende Gruppen zunehmend Modellcharakter erhält. Der fortschreitende Aufschub der Familiengründung in immer höhere Lebensalter, derzeit sind Mütter bei der ersten Geburt im Durchschnitt 29,4 Jahre alt, führt dazu, dass immer mehr Menschen immer länger ohne Kinder leben. Ein Blick auf die Familiensituation der 25- bis unter 45-Jährigen in Deutschland zeigt, dass 44 % ohne Kinder leben und 31 % ohne Partner. Nur jeder zweite lebt in einer Familiensituation mit Partner und Kindern. Tabelle 1: Wie leben die Deutschen? Lebensformen der 25- bis unter 45-Jährigen Partnerschaft

Elternschaft

%

ohne Partner

ohne Kind

25

mit Kind mit Partner

6

ohne Kind

19

mit Kind

50

Σ

100

Quelle: Mikrozensus 2007, eigene Berechnungen

3. Gleichzeitig wird Elternschaft gerade in Westdeutschland zunehmend pädagogisiert und professionalisiert. Eltern sehen sich gegenwärtig mit erhöhten Erwartungen und neuen Normen konfrontiert. Beispiele sind verantwortete Elternschaft, kindgerechte Erziehung und die forcierte Förderung des kindlichen Wohlergehens. 4. Elternschaft bedeutet heute, möglichst viel Zeit mit den Kindern zu verbringen. Aber Zeit allein ist nicht ausreichend. Gelingende Elternschaft bedeutet vielmehr, ganz für die Kinder da zu sein und die Zeit mit den Kindern im Sinne von Quali© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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tätszeit1 intensiv zu nutzen, um so ihre Entwicklung möglichst optimal zu fördern und ihnen bestmögliche Entfaltungschancen zu geben. Die angesprochenen Entwicklungen führen dazu, dass sich Elternschaft immer mehr zur Elternpflicht entwickelt. Parallel dazu ist eine weitere Entwicklung zu beobachten: Kinder werden zunehmend romantisiert und verklärt: als schwach, schutzbedürftig und unschuldig. Ob diese moderne soziale Konstruktion von Kindern und Kindheit tatsächlich angemessen ist, darf aus meiner Sicht bezweifelt werden (s. a. Lenzen, 1985). 5. Während die Anforderungen an Eltern steigen, wachsen gleichzeitig auch die Anforderungen des Berufslebens an die Beschäftigten. Vor allem zunehmende Erwartungen der Wirtschaft an die Mobilität und Flexibilität der Beschäftigten erschweren die Übernahme oder Ausgestaltung von Elternrollen. Im Rahmen einer größeren europäischen Studie haben wir festgestellt (Schneider u. Meil, 2008), dass annähernd 50 % der Menschen im erwerbsfähigen Alter berufliche Mobilitätserfahrungen während ihres Berufslebens machen oder gemacht haben. 6. Aber nicht nur die Anforderungen an Mütter und Väter sowie an Erwerbstätige steigen. Auch die Erwartungen an gute Partner und Partnerinnen, an Gatten und Gattinnen sind enorm gestiegen. In einer Situation, in der die allgemeine Lebenszufriedenheit vornehmlich durch die Zufriedenheit mit der Partnerschaft moderiert wird, bedeutet dies eine durchaus erhebliche zusätzliche Herausforderung. Der moderne Mensch ist in der gegenwärtigen Situation herausgefordert durch wachsende Probleme bei der Vereinbarkeit von Partner-, Eltern- und Berufsrolle.

1 »Qualitätszeit« bedeutet »verlässliche und selbstbestimmte Zeitoptionen, die Familien für gemeinsame Aktivitäten nutzen« und die »bewusst als Familienzeit wahrgenommen werden«. »Reine Haushaltstätigkeiten oder Hobbys, bei denen andere Familienmitglieder auch anwesend sind«, seien dagegen keine »Qualitätszeit«, die sich durch »bewusste Interaktion« auszeichne (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2009, S. 6).

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7. Auf einen letzten Punkt will ich am Ende meiner Listung aufmerksam machen, der mir durchaus wichtig erscheint, aber hier nicht weiter ausgeführt werden kann: Eine rasch wachsende Zahl an jüngeren Erwachsenen, genauer gesagt an potenziellen Eltern, hat nur noch wenige oder keine Alltagserfahrungen im Umgang mit kleinen Kindern. Ihnen fehlt schlichtweg die natürliche Sicherheit, wie Beziehungen mit Kindern zu gestalten sind. Auch dadurch wird Elternschaft komplizierter und es wird schwieriger, sich dafür zu entscheiden. Die genannten Entwicklungen lassen sich zu einer zweiten These zusammenfassen: Wachsende Anforderungen an die Elternrolle bei weithin fehlenden Alltagserfahrungen im Umgang mit Kindern führen zur Überforderung und verstärken das Gefühl, etwas falsch zu machen bzw. die wahrgenommenen Erziehungsstandards nicht erfüllen zu können. Zudem befinden sich Eltern heute im Fadenkreuz zweier Generalverdächtigungen (Merkle u. Wippermann, 2008): 1. das Kind werde überfordert und 2. man tue noch nicht genug für das eigene Kind. Viele Eltern sind in dieser Situation verunsichert und fühlen sich im Erziehungsalltag gestresst. Für die Richtigkeit dieser These spricht eine Reihe empirischer Ergebnisse. Dazu zwei Beispiele: Die Befunde zahlreicher psychologischer Studien verweisen relativ einhellig darauf, dass sich etwa 35 % der Eltern mit ihren Erziehungsaufgaben überfordert fühlen (mündliche Auskunft von Prof. Kurt Hahlweg, 2008) und 68 %, nach den Befunden der Braunschweiger Kindergartenstudie, »verunsichert« seien (Kuschel et al., 2004). Bemerkenswert ist auch, dass deutsche Eltern ihre Kinder im interkulturellen Vergleich signifikant häufiger als Belastung erleben (Quaiser-Pohl, 2001, S. 301). Die Belastungen resultieren unter anderem aus den wahrgenommenen Problemen bei der Vereinbarung von Familie und Beruf und aus einer besonderen Verunsicherung bei der Kindererziehung, die im Zusammenhang mit einer hohen Leistungsorientierung der Eltern und einem zu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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großen Pflichtbewusstsein, in der Erziehung alles richtig zu machen, entsteht. Neben dem Wandel ist auch eine erstaunliche Konstanz der Elternschaft feststellbar. Elternschaft entfaltet nach wie vor völlig unterschiedliche Folgen für Mütter und Väter. Soziologen sprechen hier von differenzieller Elternschaft (Rost u. Schneider, 1995). Was ist damit gemeint? Die Rolle der Mutter ist in Deutschland erstaunlich traditionell. Ausgehend von der Überzeugung, dass es für die gedeihliche Entwicklung des Kindes am besten sei, wenn es von seiner Mutter betreut wird, wird erwartet, dass sich Mütter möglichst umfassend um ihre Kinder kümmern. Die Ideologie der »Guten Mutter« wurde in den USA von Heather Dillaway, Elizabeth Paré (2008) und Sharon Hays (1996) wie folgt beschrieben: – Mütter sind primär für die Kinderbetreuung verantwortlich; diese Verantwortlichkeit endet nicht. Die Hauptverantwortlichkeit resultiert aus der Unterstellung, dass Mütter, und nur diese, eine äußerst enge Bindung zu ihrem Kind haben und daher ganz intuitiv auf die Bedürfnisse des Kindes reagieren können. – Erwerbstätige Mütter können keine guten Mütter sein: Von Müttern wird erwartet, dass sie zu jeder Zeit für das Kind verfügbar und stets in der Lage sind, altersgerechte Stimulierungen anzubieten und in kindgerechte Interaktionen zu treten. Gleichzeitig wird erwartet, dass sie sorgfältig und interessiert die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes begleiten. – Kinder sind von den in der Erwachsenenwelt üblichen Bewertungen fernzuhalten, sie gelten als heilig, unschuldig, verletzlich und schwach. Externe Kinderbetreuung in Anspruch zu nehmen bedeutet, den natürlichen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Diese Ideologie der »Guten Mutter« besitzt in den gesellschaftlichen Leitvorstellungen und im Selbstbild vieler Frauen in den alten, nicht jedoch in den neuen, Bundesländern nach wie vor eine hohe Verbindlichkeit. Das belegen die ISSP-Daten aus dem Jahr 2002 (vgl. Tabelle 2). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Tabelle 2: Einstellungen zu Geschlechterrollen in ausgewählten europäischen Ländern (Antworten auf Basis einer fünfstelligen Ratingskala – »1« = volle Zustimmung bis »5« = völlige Ablehnung) Deutsch- Deutschland West land Ost

Schweden Spanien

Polen

Ein Vorschulkind leidet, wenn seine Mutter berufstätig ist.

2,7

3,4

3,5

2,8

2,7

Die Aufgabe des Mannes ist es, Geld zu verdienen, die der Frau, sich um Haushalt und Kinder zu kümmern.

3,6

3,9

4,2

3,6

2,7

N

903

416

1059

2437

1221

Quelle: International Social Survey Program, 2002; eigene Berechnungen

Aber nicht nur die Einstellungen und Leitbilder sind erstaunlich konservativ, auch das Verhalten ist traditionell, wie folgende Daten belegen: – Nach der Geburt eines Kindes sinkt die durchschnittliche Erwerbsarbeitszeit von Müttern signifikant, während die der Väter steigt (Klenner, 2009). – Die Höhe des Anteils, den verheiratete Frauen im fünften bis zehnten Ehejahr durchschnittlich zum Familieneinkommen beitragen, beläuft sich in Deutschland derzeit auf 18 %, der Anteil der Männer dagegen auf 72 %. Die restlichen 10 % entfallen auf Sozialtransfers (Trappe u. Sörensen, 2007). – 52 % der Paare mit einem Kind unter sechs Jahren praktizieren in Deutschland, nach einer OECD-Statistik aus 2001, die klassische Aufgabenteilung: Der Mann arbeitet Vollzeit, die Frau ist Hausfrau. – Bei einer Studie der Heiratskohorte 1988 gaben 44 % der Paare im ersten Ehejahr an, die Hausarbeit partnerschaftlich zu teilen,

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14 Ehejahre später waren es nur mehr 14 %, während bei 60 % die Frau den größten Teil der Hausarbeit erledigte (Schulz u. Blossfeld, 2006). Während also die Mutterrolle weiterhin relativ klar gefasst ist, besteht gleichzeitig ein eher diffuses Vaterbild. Einerseits wird von den Vätern erwartet, im Sinne der Gleichstellung aktiver an der Erziehung zu partizipieren; andererseits bietet ihnen der Erwerbsalltag nicht die dazu notwendige Flexibilität. Der Wandel vom Ernährer zum Erzieher ist eine Idee, die in der Praxis noch kaum angekommen ist und der sogenannte »Neue Vater« lässt sich empirisch nicht entdecken. Vielmehr ist festzustellen, dass sich Frauen nach der Geburt eines Kindes aus dem Arbeitsmarkt zurückziehen, während gleichzeitig die Arbeitszeit der Männer ansteigt. Der Anstieg der Inanspruchnahme der sogenannten Vätermonate, immerhin nahm im Jahr 2008 etwa jeder siebte Vater (14 %) Elternzeit, kann hier als Einstieg in einen allmählichen Wandel gedeutet werden. Anlass für eine bereits erfolgte Trendwende geben die bisherigen Zahlen jedoch nicht. Die »leise Revolution«, von der die ehemalige Familienministerin von der Leyen gern sprach, lässt sich mit diesen Daten jedenfalls noch nicht belegen. Denn die meisten Väter legen nur eine kurze Babypause ein: Nahezu drei Viertel der erwerbstätigen Männer beantragten den Angaben des Statistischen Bundesamts (2009b) zufolge nur die zusätzlichen zwei Vätermonate. Lediglich jeder zehnte Vater nahm sich ein ganzes Jahr Zeit für seinen Nachwuchs. Von den berufstätigen Müttern blieben hingegen 85 % zwölf Monate zu Hause.

Wie kann das Kindeswohl gefördert werden? Die sozialwissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren hauptsächlich die Situation der Kinder in den Blick genommen und dies gilt noch stärker für die gesellschaftspolitische Diskussion. Dort sind Kinder heute, so bilanziert Michael Honig (1992), als »Projekt Zukunft« mythologisiert. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Im Mittelpunkt der sozialen Konstruktion von Elternrechten und Elternpflichten steht heute die bestmögliche Gewährleistung des Kindeswohls. Diese Position wird etwa von Fthenakis und Minsel (2001, S. 18) auf den Punkt gebracht, wenn sie schreiben: »die Sicherung des subjektiven und objektiven kindlichen Wohlbefindens und die Gewährleistung des Kindeswohls [...] ist untrennbarer Bestandteil von Erziehungsqualität« – und damit zentrale Aufgabe der Eltern. Reflektieren wir diesen Standpunkt einmal kritisch. Wichtige Impulse für diese Sicht von Elternschaft sind von der »Child Savers« Bewegung ausgegangen, die sich vor etwa dreißig Jahren in den USA mit dem Ziel etablierte, jedem Kind eine Kindheit zu garantieren. Seitdem ist eine mächtige Bewegung mit zahlreichen positiv zu bewertenden Folgen entstanden. Aber es gibt auch Stimmen, die auf problematische Auswirkungen dieser Bewegung hinweisen. Kritiker wie etwa Viviana Zelizer (1985) sprechen von Protektionismus und der »Sakralisierung der Kinder« oder, wie Dieter Lenzen (1985), sogar von einer »allfälligen Vergöttlichung der Kinder«. Damit ich nicht missverstanden werde: Die Anerkennung des Kindes als Subjekt in der Rechtsordnung ist eine der bedeutenden rechtlichen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts. Aber: Sind wir nicht dabei, allmählich über das Ziel hinauszuschießen? Im Zuge der gesellschaftlichen Individualisierung hat sich der Stellenwert von Selbstverwirklichung für die Menschen erhöht und die Partnerbeziehung ist als zentrale Grundlage für die Lebenszufriedenheit mehr und mehr in den Mittelpunkt gerückt. Beides wird durch den gestiegenen Stellenwert des Kindeswohls konterkariert – mit der Folge, dass weniger Kinder geboren werden. Dieser Zusammenhang wird unterdessen auch von konservativen amerikanischen Sozialwissenschaftlern gesehen, was durchaus als möglicher Beginn einer Trendwende gelten kann. So kritisiert beispielsweise David Popenoe (1996, S. 7 f.) die einseitige Fokussierung auf das Kindeswohl im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Paar wie folgt: »Der Fokus auf die elterlichen Rollen hat zu einer ungesunden Missachtung der Bedürfnisse der partnerschaftlichen Beziehung geführt. [...] Die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Ideologie der neu entstehenden Lebensformen beinhaltet, dass die Erwachsenen auch für sich selbst leben müssen und nicht nur für ihre Kinder.« Eine ähnliche Position war vor einiger Zeit auch in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel »Plädoyer für eine gemäßigte Kinderfeindlichkeit« zu finden. Der Autor, Allan Guggenbühl, ein Schweizer Jugendpsychologe, schrieb, dass Kinder nicht die schwachen, verletzlichen und schutzbedürftigen Wesen sind, zu denen wir sie heute romantisieren. Stattdessen sind sie, was sie immer waren: anarchisch, chaotisch, provokant (Guggenbühl, 2001). Um Kinder ertragen und schätzen zu können, müssen wir sie akzeptieren, wie sie sind, aber wir müssen uns auch abgrenzen, Widerstand aufbauen und uns zur Wehr setzen. Ein weiteres Wort, das in diesem Zusammenhang modern wurde, ist »kindgerecht«. Wer kindgerecht sagt, ist sofort auf der sicheren Seite. Was aber heißt eigentlich kindgerecht? Kindgerecht steht heute im Gegensatz zu Pflicht, Leistung und Anpassung. Viele verstehen darunter, Kinder in einen Schonraum zu stecken und sie von den Problemen der Erwachsenenwelt abzuschirmen. Zweifel an der Richtigkeit dieser Position sind angebracht. Kindgerecht ist, was Kindern hilft, erfolgreich erwachsen zu werden. Dazu gehört auch, dass Kinder die Mechanismen der globalen Konkurrenz- und Leistungssituation lernen müssen – möglichst früh, möglichst schonend und möglichst gut (SZ vom 28.02.2002). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint eine kritische Reflexion des eingeschlagenen Kurses sinnvoll. Eine weitere Stärkung des Kindeswohls zu Lasten der Eltern scheint aus meiner Sicht jedenfalls eher kontraproduktiv zu sein. Neben der Hypostasierung des Kindeswohls wird der gesellschaftliche Diskurs durch einen Mythos geprägt, der tief fundiert und trotz zahlreicher entgegenstehender empirischer Befunde sehr beständig ist. Kinder aus Scheidungsfamilien, Kinder, die bei nur einem Elternteil aufwachsen, und Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften haben, so ist immer wieder zu hören und zu lesen, schlechtere Entfaltungschancen und erhöhte Entwick© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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lungsrisiken als Kinder in sogenannten »Normalfamilien«. Wie ist diese Erklärung anhand sozialwissenschaftlicher und psychologischer Erkenntnisse zu beurteilen? Die vorliegenden Befunde sind eindeutig: Es gibt keine gesicherten Hinweise darauf, dass die traditionelle Familie die bestmögliche Gewähr für eine glückliche und liebevolle Erziehung bietet. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine gesunde psychosoziale Entwicklung mit einem breiten Spektrum familialer Lebensformen vereinbar ist (vgl. Graham et al., 1999). Auch kann als gesichert gelten, dass von außerfamilialer Kinderbetreuung nicht grundsätzlich schädliche Einflüsse auf die kindliche Entwicklung ausgehen. Wenn diese Betreuung qualitativ hochwertig ist und auf stabilen Arrangements beruht, beeinträchtigt sie nicht die Bindungsqualität zu den Eltern und führt vielfach, zum Beispiel hinsichtlich Selbständigkeit, sogar zu günstigeren Entwicklungsverläufen als bei rein familiengestützter Erziehung (vgl. Fegert, 2000). Bemerkenswert ist die breite Vielfalt in Europa an Begründungen und Zwecksetzungen für familienexterne Kinderbetreuung. Bei aller Vielfalt lassen sich aber zwei politische Muster zum Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung erkennen: Die eine Idee basiert auf der Überzeugung, dass Kinder diese Betreuung brauchen; die andere geht davon aus, dass öffentliche Kinderbetreuung zur Vereinbarung von Erwerbsarbeit und Elternschaft erforderlich ist (Scheiwe u. Willekens, 2009, S. 4). In Deutschland dreht sich die Debatte ganz klar um das zweite Motiv. Im Vordergrund des Diskurses steht, bei öffentlicher Kinderbetreuung handele es sich um Einrichtungen zur Aufbewahrung der Kinder, zur Entlastung der Eltern oder zur Förderung mütterlicher Erwerbstätigkeit. Das ist in gewisser Weise fatal. Würde der Ausbau familienexterner Kinderbetreuung unter dem Aspekt »Sicherstellung eines angemessenen Sozialisationsgeschehens«, wie dies etwa in Frankreich oder Dänemark der Fall ist, betrieben werden, etwa zur Kompensation sozialer Benachteiligung oder auch unter dem Motiv der Frühförderung mit Bildungsauftrag, dann würde man sich wesentlich leichter tun, für einen Ausbau zu argumentieren. Die Diskussion im Zusammenhang mit der Einführung der Elternzeit zeigt, wie kon© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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servativ und traditionell die Auffassungen vor allem in Westdeutschland sind. Ich erinnere hier nur an die Verspottung als »Wickelvolontariat« durch den Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Peter Ramsauer. Begründet durch die verschiedenen gesellschaftlichen Konnotationen bestehen in Europa teilweise sehr erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die Hauptformen der Kinderbetreuung. Einige Daten möchte ich Ihnen kurz präsentieren: In Spanien und Westdeutschland werden 84 % bzw. 74 % der Kinder unter zwölf Jahren hauptsächlich von Eltern, Großeltern oder anderen Familienmitgliedern betreut. Dagegen sind es in Ostdeutschland nur 52 % und in Dänemark sogar nur 31 % (vgl. Tabelle 3). Dort werden 45 % hauptsächlich in öffentlichen Institutionen betreut. In Westdeutschland ist dies nur bei 14 % der Fall. Tabelle 3: Form der Hauptbetreuung von Kindern unter 12 Jahren, ausgewählte Länder 2004 (Anteile in %) Deutschland West

Deutschland Ost

Dänemark

Spanien

Großeltern

27,7

15,6

12,2

25,6

Familienmitglieder

11,8

10,9

5,7

12,3

3,0

3,9

5,1

5,1

13,7

35,6

44,7

6,2

7,1

8,4

11,3

2,0

34,5

25,6

13,0

46,5

2,2

0,0

7,9

2,4

100

100

100

100

Betreuung im Haushalt Betreuung in Institutionen Kind allein zuhause Eltern Sonstige Insgesamt

Quelle: Bahle, 2009, S. 38; eigene Zusammenstellung

Doch zurück zu meinem vorherigen Thema: Wie beeinflusst die Familiensituation die Erziehungsleistung? Zahlreiche Studien © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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(vgl. Amato u. Booth, 1997) zeigen, dass die Lebensform (z. B. alleinerziehend vs. Elternfamilie) und der Erwerbsstatus der Mütter keinen direkten Einfluss auf die Entwicklung der Kinder haben. Neue Studienergebnisse (Rupp, 2009) bestätigen auch, dass Kinder, die bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren aufwachsen, keine Benachteiligungen erleiden. Ausschlaggebend für den Verlauf der kindlichen Entwicklung scheinen vor allem fünf Faktoren zu sein: – die sozioökonomische Situation des Elternhauses, – die Qualität der Beziehung zwischen den Eltern, – die Persönlichkeitsmerkmale der Eltern (hier insbesondere Konfliktbewältigungsstrategien), – das Erziehungsklima und – die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung, wobei hier zwei Dimensionen entscheidend sind: Akzeptanz vs. Zurückweisung sowie Kontrolle vs. Autonomie. Bei beiden Dimensionen ist von einem umgekehrt U-förmigen Zusammenhang auszugehen, das heißt, extreme Ausprägungen führen jeweils zu suboptimalen Ergebnissen bei der kindlichen Entwicklung. Zwischen Lebensform und Erziehungsleistung bestehen jedoch indirekte Zusammenhänge. Beispielsweise ist die Wahrscheinlichkeit, dass Alleinerziehende in einer ungünstigen ökonomischen Situation leben und die Qualität der Beziehung zwischen den Eltern, also den Ex-Partnern, schlecht ist, höher als bei Elternfamilien. Damit sind zwei Hochrisikofaktoren zwischen den Lebensformen differenziell verteilt. Umgekehrt heißt das aber, dass Kinder, die bei Alleinerziehenden in guten materiellen Verhältnissen aufwachsen, keine schlechteren Startbedingungen haben.

Konturen einer nachhaltigen Familienpolitik Welche politischen Implikationen haben die vorgetragenen Überlegungen? Wie kann den Eltern in der gegenwärtigen Situ© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ation geholfen werden? Ich versuche diese komplexe Thematik in Form von vier Postulaten zusammenzufassen. Das erste Postulat lautet: Eine Familienpolitik ohne klare gesellschaftspolitische Zielbestimmung entfaltet wenig Wirkung. Das Verhältnis von Familie und Gesellschaft wurde im Fünften Familienbericht der Bundesregierung von der Sachverständigenkommission als »strukturelle Rücksichtslosigkeit« der Gesellschaft gegenüber der Familie dargestellt. Damit werden drei Problembereiche angesprochen. Zum Ausdruck gebracht wird, dass – Leistungen der Familie gesellschaftlich zu wenig anerkannt werden, – wirtschaftliche Interessen gegenüber familialen Belangen dominieren, – die Verantwortlichkeit für die Familienarbeit nach wie vor einseitig zu Lasten der Frauen verteilt ist. Eine Familienpolitik der Zukunft muss an allen drei Punkten ansetzen. Dazu ist es erforderlich, dass sich Familienpolitik vom marginalen Politikbereich, der damalige Bundeskanzler Schröder sprach noch 1998 von »Gedöns«, zur Politik entwickelt, mit der gesellschaftspolitische Ziele verfolgt werden. Klar ist aus meiner Sicht, dass eine zersplitterte, unkoordinierte und teilweise widersprüch-liche Familienpolitik, die noch dazu hauptsächlich auf finanzielle Unterstützung setzt, nur wenig Wirkung entfalten kann. Deutschland investiert im Vergleich zu seinen Nachbarn viel Geld in Familienpolitik. Nach einer Studie des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel gibt es derzeit fast 100 Fördermaßnahmen, die sich auf ein Gesamtvolumen von 240 Milliarden Euro im Jahr 2005 summierten, das sind 10,7 % des Bruttoinlandsprodukts (Rosenschon, 2006). Im europäischen Vergleich gehört Deutschland zu den Ländern mit den höchsten direkten und indirekten Transferleistungen. Was haben wir damit erreicht? Deutschland hat seit Jahrzehnten eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit. Frauen und zunehmend auch Männer erleben die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als besonders schwierig und Elternschaft wird in Deutschland häufig als Belastung erlebt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Prinzipiell sind vier mögliche Zielsetzungen familienpolitischen Handelns unterscheidbar: – eine (weitere) Förderung der Wahlfreiheit der Lebensführung, – eine explizite pronatalistische Orientierung, – eine auf die Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern, Eltern und potenziellen Eltern ausgerichtete Politik, – eine (weitere) Stärkung der Familien bei der Erfüllung ihrer Aufgaben. Das zweite Postulat lautet: Eine moderne Familienpolitik kommt ohne die Abkehr vom privilegierten Schutz der Institution Ehe nicht aus. Anstelle der Privilegierung der Ehe, die die Wahlfreiheit der Lebensführung beeinträchtigt, kann eine strikte Individualorientierung der staatlichen Absicherung und Förderung wie in Schweden, unabhängig vom Familienstand, ein ernstzunehmendes Alternativmodell darstellen. Eine nachhaltige Familienpolitik, das ist das dritte Postulat, kann ohne aktive Gleichstellungspolitik der Geschlechter nicht erfolgreich sein. Familienpolitik sollte sich nicht wie bisher hauptsächlich auf materielle Transferleistungen konzentrieren, sondern auf Infrastruktur- und Gleichstellungspolitik. So kostet die Erhöhung des Kindergelds um zehn Euro jährlich rund 2,2 Milliarden Euro, Geld, das man besser hätte investieren können. Im Rahmen einer Gleichstellungspolitik ginge es um den Abbau differenzieller Elternschaft und um den Rückbau des traditionellen Familienernährermodells in der Steuer- und der Sozialversicherung. Die kostenfreie Mitversicherung von Ehefrauen und die steuerliche Förderung von Ehen, auch von kinderlosen, mit traditioneller Aufgabenteilung hat zwei Implikationen: Sie fördert die klassische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und sie führt zu einer erheblichen Umverteilung von unten nach oben. In Deutschland wird nicht hinreichend zur Kenntnis genommen, dass ein großer Teil insbesondere der gut ausgebildeten jungen Frauen nicht länger vor der Alternative stehen will, Familienarbeit mit Beruf zu vereinbaren, während ihre Partner © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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wie eh und je in ihrer Rolle als Haupternährer verbleiben und sich bestenfalls optional auch in der Familienarbeit engagieren können. Nur wenn es gelingt, die Opportunitätskosten von Elternschaft für Frauen zu reduzieren, wird Elternschaft für sie wieder attraktiver. Konkret heißt das: Es geht nicht mehr darum, die Frauen über Sondermaßnahmen stärker in das Erwerbssystem zu integrieren, sondern die Männer stärker in die Familienarbeit. Vier Gründe verhindern derzeit eine stärkere Integration der Väter in die Familienarbeit: – die Frauen und ihre Vorstellungen von der Mutterrolle, – die Männer und ihre Haltung zur Ernährerrolle (Kinderwunsch), – die Arbeitgeber mit ihren Erwartungen an den erwerbstätigen Mann, – die Kollegen mit ihren Vorurteilen und Diskriminierungen. Kommen wir zum letzten Postulat: Ohne konzertierte Anstrengungen und ohne die Einbeziehung der Wirtschaft können nur schwerlich Erfolge erzielt werden. Nicht die Politik allein und schon gar nicht die Bundespolitik allein kann es richten. Ohne die Einbeziehung der Wirtschaft und ohne die Beteiligung der Kommunen und Regionen sind Erfolge nur schwerlich erreichbar. Investitionen in die Familienfreundlichkeit einer Region sind aktive Standortpolitik, die Regionen besonders auch für gut ausgebildete junge Familien attraktiv und damit zukunftssicher machen. Dazu ist es erforderlich, lokale Akteure aus Wirtschaft, Politik, Verbänden und privaten Initiativen zusammenzubringen und im Interesse der Familien die Infrastruktur zu verbessern. Ähnliches gilt für die Investitionen der Unternehmen in ihre Familienfreundlichkeit. Hierbei handelt es sich nicht um Sozialleistungen für Frauen, sondern um aktive Investitionstätigkeit, da zukünftig immer mehr qualifiziertes Personal den Arbeitgeber nach den gebotenen Möglichkeiten zur Vereinbarkeit wählen wird. Was Eltern dagegen nicht benötigen, ist die zunehmende öffentliche Kontrolle des Privatraums Familie. Aufgabe des Staates ist es, Eltern bei der Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben zu un© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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terstützen, nicht sie zu kontrollieren. Entscheidende Ansatzpunkte der Unterstützung bestehen in der Stärkung der Erziehungskompetenz, die zum Beispiel durch verbesserte Angebote zur Elternbildung erhöht werden kann, sowie in der Stärkung der Wahlfreiheit, die in Westdeutschland durch die mangelhafte Betreuungsinfrastruktur erheblich eingeschränkt ist. Investitionen in eine Erhöhung des Kindergeldes oder in das Betreuungsgeld sind hier aus meiner Sicht wenig hilfreich. Sie helfen weder den Kindern noch den Eltern und sie führen zu einer Aufrechterhaltung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, die wir uns in Deutschland, wenn wir die demografische Entwicklung umkehren wollen, nicht länger leisten können.

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Der Familienmythos und die romantische Liebe in der condition postmoderne2

Zusammenfassung Begriffe der sozialwissenschaftlichen Familienforschung sind mythisch aufgeladen, am stärksten der Begriff »Kernfamilie«. In letzter Zeit wird die räumliche und soziale Verdinglichung von Familie jedoch merklich zurückgenommen: »Familienleben«, so wird zunehmend anerkannt, ist kein Zustand, sondern ein Prozess, der von den Beteiligten permanent Adaption und Lernen erfordert. Zwei konträre Strategien zur Überwindung des Patriarchats west-christlicher Prägung wurden in den letzten Jahrzehnten entworfen und praktiziert: die Verabschiedung der Männer aus dem Familienleben und ihre Abwertung als Väter zum einen, und die Integration der Männer in das Familienleben als egalitäre Partner ihrer Frauen und als »Miterzieher« oder »neue Väter« ihrer Kinder zum anderen. In dieser Spannung steigt der Verhandlungs- und Gestaltungsdruck, dem sich Männer und Frauen ausgesetzt sehen. Auch das alte, bürgerlich adaptierte Konzept der romantischen Liebe steht auf dem Prüfstand.

Vorbemerkung Mythen und wissenschaftliche Begriffe sind voneinander nicht so weit entfernt, wie wir gern glauben. Auch Begriffe der sozialwissenschaftlichen Familienforschung sind mythisch aufgeladen, am stärksten von allen vielleicht der Begriff Kernfamilie. Mit Lacan lässt sich sagen: Das Reale ist vom Imaginären durchdrungen, sobald es bezeichnet wird. Freilich hängt alles davon ab, wer mit welchen Interessen über Familie spricht. Die west2 Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten am 19. September 2009 auf dem 5. Hessischen Psychotherapeutentag »Sehnsucht Familie in der Postmoderne«, Frankfurt am Main.

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christlichen Kirchen, die Politik und die Humanwissenschaften konstruieren die Kernfamilie als Anfang und Pflegestation allen Lebens und als den Ort des privaten Glücks. Für jene, die eine Zeit ihres Lebens als Mutter, Vater und Kind über Jahre oder Jahrzehnte zusammenleben, verbindet sich damit noch mehr: die Hoffnung auf ein totales Zuhause, in dem jede Entfremdung aufgehoben ist. Die Triade von Vater, Mutter und (leiblichem) Kind umhüllt die mythische Aura einer Zusammengehörigkeit von Natur. Sie entsteht aus der kulturellen Deutung der biologisch-sozialen Filiation in Metaphern wie der vom »eigenen Fleisch und Blut«. Obwohl leicht zu belegen ist, dass Ehe und Elternschaft synchron – in den verschiedenen sozialen Klassen – und diachron – in den verschiedenen historischen Epochen – höchst vielfältig entworfen, gestaltet und erfahren werden, zeichnet sie der Familien-Mythos dennoch als zeit- und ortlos. Er suggeriert, die Herrschaft des Mannes über die Frau und die Herrschaft der Eltern über die Kinder seien unveränderlich, ewig, heilig. Wer dies nicht respektiere, versündige sich. Wo der Mythos als Element der Doxa, der unbefragten Seinsgewissheit, verteidigt wird, entsteht aus der Doxa Orthodoxie, in den Religionen wie in den Wissenschaften, und auch in den psychotherapeutischen Theorien. Genau in diesem Moment wird der Mythos aggressiv, verbirgt, leugnet und verhüllt, was ihn (und die Interessen seiner Prediger) gefährden könnte. Der west-christlich geprägte Familienmythos erzählt nur von legitimer Gewalt und guter Macht des Familienvaters. Mutter und Kind seien sicher geborgen unter dem Schutz und der Herrschaft eines leistungsstarken, verlässlichen und wehrhaften Familienvaters. Das ist die »westliche« (etwas genauer: die westeuropäisch-nordamerikanisch-australische) Variante des Mythos vom Patriarchat. Die ost- und südosteuropäische Variante sowie einige asiatische und afrikanische Mythen stellen weniger auf Leistung und Kraft denn auf die Ehre des (männlichen) Ältesten ab, der alle lebenden Angehörigen der Sippe mit ihren verstorbenen Vorfahren, ihren »Ahnen«, verbindet. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Die moderne kapitalistische Produktionsweise lässt sich vom gegenwärtigen Standpunkt in drei historische Phasen unterteilen3: – Erstens die liberale industrie-kapitalistische Produktionsweise (in England schon ab dem späten 18. Jahrhundert, in Kontinentaleuropa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, beendet durch die dirigistischen Kriegswirtschaften des Ersten Weltkriegs). – Zweitens die fordistisch-kapitalistische Produktionsweise ab den 1910er Jahren in den USA, ab den 1950ern in Westeuropa und peripher auch in Südamerika. Sie wird von staatskapitalistischen (NS-Deutschland u. a.) und staatssozialistischen Regimen (DDR, Sowjetunion, China u. a.) nicht vollends außer Kraft gesetzt, sondern auf niedrigeren Konsumniveaus und mit staatlichen Formen der Güterverteilung und der Transferleistungen modifiziert. – Seit den 1980er Jahren setzt sich eine neoliberale Produktionsweise durch. Sie wird durch Umwälzungen auf den Weltmärkten für Erdöl und andere Rohstoffe eingeleitet und durch den Zusammenbruch der »realsozialistischen« Volkswirtschaften in den späten 1980er Jahren beschleunigt. Jede dieser bisherigen Phasen des modernen (industriellen bzw. postindustriellen) Kapitalismus brachte eine für sie typische, hegemoniale Arbeitsmoral, Ethik und Ästhetik, spezifische politische Regime (diverse Diktaturen und Demokratien), technologisch-wissenschaftliche Revolutionen und auch spezifische Regime der privaten Reproduktion hervor. Deren kritische Achsen sind das Mann-Frau-Verhältnis zum einen und das Eltern-Kinder-Verhältnis zum anderen, bei letzterem vor allem die Frage, wie viele Kinder mit welcher »pädagogischen Qualität« großgezogen werden. Im Westen können ab den 1970er Jahren immer mehr Frauen auch außerhalb der Ehe und unabhängig von Ehemännern leben und arbeiten. Die Arbeits- und Leistungspotenziale der 3 Ich folge hierin Christine Resch und Heinz Steinert (2009).

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Frauen sollen nicht nur für die private Reproduktion der Arbeitskräfte, sondern auch für die Produktion von Waren und Dienstleistungen weitgehend (jedoch konjunkturellen Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt angepasst) ausgeschöpft werden. Damit geraten der west-christliche Familienmythos und das westliche Patriarchats schon seit den 1920er Jahren, verstärkt aber seit den 1970er Jahren unter Druck. Zum alten Familienmythos treten heterogene, ja gegensätzliche Erzählungen hinzu und machen »Familie« in neuer Weise zum strittigen Objekt von Politik: Zunächst in den 1920er Jahren und dann wieder in den 1970er Jahren die sozialdemokratische Erzählung von der Notwendigkeit, das Familienleben für die männlichen Arbeiter und Angestellten durch sozialpolitische Reformen in Stadt und Staat erträglich und nützlich zu machen; in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren die radikal-feministische Erzählung von der Überflüssigkeit der Männer als Väter und zugleich die ihr widersprechende Behauptung, dass dringend »neue Väter« erforderlich seien. Die Reformerzählungen provozieren reaktionäre Gegenerzählungen: in den 1930er und 1940er Jahren die nationalsozialistische und diverse faschistische Erzählungen von der ethnisch-rassisch reinen Familie und ihren (fremdrassigen und asozialen) Feinden; zuletzt richten sich erneut faschistische und nationalistische Bewegungen gegen Zuwanderer und Exilanten, ethnische Minderheiten (wie die Roma in Ungarn und der Slowakei, rumänische Einwanderer in Italien und marokkanische Landarbeiter in Spanien), aber auch gegen Lesben und Schwule in den Metropolen Russlands, Polens und des Baltikums – je niedriger das relative Konsumniveau, scheint es, umso schärfer. Was sie pflegen, beschützen oder wiederherstellen wollen, ist nach wie vor die kinderreiche »deutsche«, »ungarische«, »italienische«, »spanische« etc. Familie und deren patriarchale Ordnung. Die von Demografen produzierten Datenreihen zeigen nur einige messbare Effekte der qualitativen Veränderungen im Familienleben der ersten Jahrzehnte des neoliberalen Kapitalismus. Die Zahl der Mutter-Kind-Familien hat sich von 1970 bis heute in etwa verdoppelt und macht bereits etwa ein Viertel aller © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Familienhaushalte (Haushalte mit Kindern) aus.4 Geschätzte 8 bis 10 Prozent aller Kinder leben eine Zeit lang mit einem nicht leiblich verwandten Erwachsenen zusammen, der in der Regel wohl einige elterliche Aufgaben übernimmt, vor allem aber den leiblichen Elternteil der Kinder, mit dem er zusammenlebt, in dessen Elternarbeit berät und unterstützt (»monitoring«). Von »Stieffamilien« will angesichts dieser neuen Normalität fast niemand mehr reden. Der Begriff erinnert an frühkapitalistische Zeiten des Hungers und der Benachteiligung von nichtleiblichen Kindern in häuslichen Ökonomien des Mangels. Überdies entstehen durch die Trennung des Paares ganz andere psychosoziale und soziologische Familienverhältnisse als durch den Tod eines Elternteils. »Patchwork-Familie« lautet der immer öfter bevorzugte Term (Sieder, 2008). Homosexuelle Paare sind in westlichen Großstädten weitgehend akzeptiert. Gar nicht selten betreuen sie mit ihnen lebende Kinder aus vorherigen heterosexuellen Beziehungen. Lesbische Paare haben Kinder aus inseminierten Schwangerschaften und teilen soziale und leibliche Elternschaft (Herrmann-Green u. Herrmann-Green, 2008). Eher journalistische Berichte schlagen für schwullesbische Paare, die mit Kindern zusammenleben, den Term »Regenbogenfamilie« vor. Mir liegen derzeit nur Daten aus der Schweiz vor: Dort leben Kinder bei rund einem Drittel der lesbischen und bei einem Fünftel der schwulen Paare (Bühler, 2000; Mesquita, 2009). Ab den 1970er Jahren nimmt die Notwendigkeit ab, mit jenem Menschen, den man liebt, oder mit dem man ein Kind oder mehrere Kinder hat, permanent im gemeinsamen Haushalt zu leben. Ein Kind zuverlässig zu umsorgen und aufzuziehen bedarf nicht mehr unbedingt der häuslichen Gemeinschaft seiner leiblichen Eltern. Feministisch inspirierten Frauen erschien in den 1990er Jahren die Familie ohne mitlebenden Vater, die Mutter-Kind-Familie, eine Möglichkeit, sich aus der Herrschaft des Mannes zu befreien. »Kein Herr im Haus« war nicht nur eine 4 1971: 17 %, 2000: 25 %, 2010 voraussichtlich 30 % aller Haushalte (s. Schipfer, 2001, S. 16, Tabelle 15).

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Zustandsbeschreibung, sondern auch ein feministisches Postulat (Heiliger, 1993; Simsa, 1994). Die Möglichkeit, als gleichgeschlechtliche Partner ein Kind aufzuziehen, lässt auch die Binarität der Geschlechter im Eltern-Subsystem nicht mehr zwingend erscheinen. In Regenbogen- wie in Patchwork-Familien wird bei einem der beiden Partner die psycho-soziale von der biologischen Elternschaft entkoppelt: praktisch und allmählich auch normativ. Die Liberalisierung des Ehe- und Familienrechts und des Scheidungsrechts ab den 1970er Jahren, des Kindschaftsrechts um 2000 und die nun schon mehrjährige Diskussion über geeignete Rechtsformen für schwullesbische Paare tragen diesen Veränderungen meist nur verspätet und nicht ohne erhebliche Widersprüche Rechnung (Mottl, 1997; Pelikan, 2002; Neuwirth, 2009). Angesichts der breiten Anerkennung alternativer Familienund Lebensformen und der schwindenden Legitimität des westlichen Patriarchats geraten auch jene Frauen und Männer, die in ersten Kernfamilien leben, unter Druck, ihr Zusammenleben zu innovieren. Der prominenteste Leitbegriff dafür kommt aus der Ökonomie: Partnerschaft. Er wird auf heterosexuelle wie auf gleichgeschlechtliche Paare angewandt. Allerdings überdeckt und euphemisiert er schon dort, wo er herkommt, ein antagonistisches und konfliktreiches Verhältnis: Objektiv Abhängige und jederzeit zu Entlassende werden als »Mitarbeiter« adressiert, um sie höher zu motivieren. Auch auf das Ehe- und Familienleben übertragen, bleibt der Begriff vage und euphemistisch und der Streit, ob er oder sie hinreichend partnerschaftlich sind, kann stets geführt, die Partnerschaft darob aufgekündigt werden. Die Auseinandersetzung um die faire Teilung der Arbeit im Haushalt wurde zu der Kampfzone im privaten Regime der Reproduktion. Sie ist keine Marotte einer relativ privilegierten Mittelklasse, sondern inzwischen in allen sozialkulturellen Milieus angekommen. Und überall hinken die Praktiken des Ehe- und Familienlebens hinter den jungen Normen der »Partnerschaftlichkeit«, der »Gleichberechtigung« und der »Selbstverwirklichung« von Frauen und Männern her. Die Ursache ist relativ leicht auszumachen: Männer und Frauen befinden sich © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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zur selben Zeit in verschiedenen Epochen ihrer Emanzipation als Subjekte: Während das männliche Subjekt schon im frühen liberalen Kapitalismus für die Erwerbsarbeit freigesetzt wurde und nach Bildungs- und Ausbildungsgängen höhere Mehrwerte erzeugt, ist das weibliche Subjekt erst im Lauf des späten 19. und des 20. Jahrhunderts für qualifizierte Berufe ausgebildet und zugelassen worden. Viele Generationen von erwerbstätigen Männern waren aber bereits von Hausfrauen reproduziert worden und hatten sich in ihrem Kollektivgedächtnis daran gewöhnt. Im Übergang von der fordistischen zur neoliberalen Produktionsweise sind Mann und Frau daher in gegensätzlicher und oft wenig kompromissfähiger Weise an den ihnen nun abverlangten Reformen ihres Zusammenlebens (»Partnerschaft«, »faire Arbeitsteilung im Haushalt und in der Kindererziehung« etc.) interessiert. Ihr insofern historischer Interessenskonflikt ist eine Ursache für die zunehmende Häufigkeit der Trennungen und Scheidungen. Hinzu kommt: Die in den Paar-Konflikten drängenden Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste sitzen tiefer im psychosomatischen System der Personen als deren kommunikative, logische, administrative oder technische Fertigkeiten, die offenbar rascher adaptiert werden können. Andererseits übernehmen viele Männer Aufgaben im Familienleben, die noch vor ein oder zwei Generationen durchwegs als mütterlich bzw. weiblich angesehen wurden, vor allem in der Elternarbeit, deutlich weniger in der Hausarbeit. Die in den 1990er Jahren intensivierte Diskussion um Rolle, Funktion und Wirkung der Männer als Väter zeigt: Weder der autoritäre Patriarch des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, noch der Konsum-Patriarch der 1950er und 1960er Jahre, sondern der im Familienalltag präsente »Partner« und »Miterzieher« der Frau ist im neoliberalen Regime der Reproduktion gefragt (Jurcyk u. Lange, 2009; Schneider, 1989; Hawkins u. Dollahite, 1997; Matzner, 1998, 2004; Walter, 2002). Nur verhältnismäßig kleine Minoritäten verzichten von vornherein auf dieses Modell, unterbieten es (wollen eine hierarchische, patriarchale Paarbeziehung leben) oder gehen noch darüber hinaus: Letzteres firmiert wenig originell als »neue Vaterschaft«, was in etwa meint, dass engagierte © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Väter der Berufsrolle eine Zeit lang keinen Vorrang mehr vor der Vaterrolle, und dem Erwerbsleben keinen Vorrang mehr vor dem Familienleben einräumen. Es ist klar, dass das private Regime der Reproduktion aber dann zwangsläufig vorsehen muss, dass die Frau als Verdienerin an die Stelle des Mannes tritt. Männer, die den Rollenmodellen des präsenten Ehe- oder Lebenspartners und Miterziehers oder gar des engagierten Vaters tatsächlich entsprechen wollen, gehören vorwiegend der seit den 1960er und 1970er Jahren noch breiter gewordenen, vor allem durch ihr Bildungs- und Konsumniveau definierten »Mittelschicht« an, sind Facharbeiter, Angestellte, Lehrerinnen und Lehrer und Gemeinde-, Landes- und Staatsbeamte mit mittlerer und akademischer Bildung und relativ hoher Arbeitsplatzsicherheit. Sie beteiligen sich am Schwangerschaftsturnen ihrer Frauen und lernen wehenfördernd zu hecheln. Sie transportieren ihre Kinder zwischen Schule, Geburtstagsfest und Soccertraining hin und her und verstauen jeden Samstag den Großeinkauf im Fonds ihres Mittelklasse-Wagens. In Mathematik, Physik und Sport sind sie die Hilfslehrer der Nation. Das von ihnen erreichte Konsumniveau kann für die nächste Generation am ehesten durch erfolgreiche Erziehung gesichert werden. Das Rollenmodell des engagierten (»neuen«) Vaters hingegen, der über die Assistenz der Mutter (als »Miterzieher« neben der »Haupterzieherin«) hinausgelangt und Vaterarbeit eine Zeit lang beinahe professionell und nach den von ihm erlernten beruflichen Mustern – planvoll, wissend, reflektierend – betreibt, scheint bislang nur für Minoritäten attraktiv. In den letzten Jahrzehnten des neoliberalen Kapitalismus wurden also zwei gänzlich konträre Strategien zur Überwindung des Patriarchats west-christlicher Prägung entworfen und auch praktiziert: die Verabschiedung der Männer aus dem Familienleben und ihre Abwertung als Väter zum einen, und die Integration der Männer in das Familienleben als egalitäre Partner ihrer Frauen und als »Miterzieher« oder »engagierte Väter« ihrer Kinder zum anderen. Diese Strategien können einander aber auch im Wege stehen, etwa wenn das elterliche Engagement von Männern nach der Trennung des Paares mit Argu© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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menten aus dem feministisch inspirierten Geschlechterkampf delegitimiert wird. Schon diese Polarität der möglich gewordenen, immer ideologisch imprägnierten »Lösungen« weist darauf hin, dass der Verhandlungs- und Gestaltungsdruck, dem sich Männer und Frauen in ihrer Elternschaft und in ihrem Familienleben ausgesetzt sehen, enorm zugenommen hat. Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist notorisch. Bereits getroffene Vereinbarungen stehen auch im Regime der privaten Reproduktion immer auf dem Spiel. Die Kündbarkeit der intimen Beziehungen wird tendenziell der Kündbarkeit der Arbeitsbeziehungen angeglichen. Die Anforderungen, die Mann und Frau als Eltern jeweils an sich selber und aneinander stellen, waren wohl noch nie derart hoch. Manche sehen darin eine Ursache für eine wachsende Furcht vor der Elternschaft und die sich häufende Kinderlosigkeit. Nicht zuletzt kulminiert der erhöhte Anspruch von Frauen und Männern an die Qualität ihrer intimen Beziehungen in einer enormen Luxurierung: Die Beziehung soll nicht nur alltagspragmatisch funktionieren und ein halbwegs gutes Leben sichern. Auch wenn sich die Liebe des Paares mit der Zeit beinahe wie von selbst in eine weniger aufgeregte Gefährtenliebe verwandelt, sollen Elemente der romantischen Liebe erhalten bleiben, so vor allem eine erregende Sexualität. Das ist kein geringer Anspruch an das Paar, zumal sich die Dauer seines (möglichen) Zusammenlebens durch die steigende Lebenserwartung erheblich in die Länge zieht. Das vor etwa zweihundert Jahren erstmals literarisch ausformulierte Konzept der romantischen Liebe scheint vor allem als Gefühlsfundament der Ehe in eine veritable Krise geraten zu sein.

Romantische Liebe im Kapitalismus Schon die »leidenschaftliche« und die »galante Liebe« des westeuropäischen Adels im 17. Jahrhundert, vor allem aber die »romantische Liebe« der westlichen Bürger ab dem späten 18. Jahrhundert gerieten in Spannung zu jener Zweckrationalität, die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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die kapitalistischen Gesellschaften seither immer stärker durchdringt. Zweckrationalität meint, dass an die Stelle von Affekten, Gewohnheiten und unbefragten Traditionen reflektierte, ausdrücklich verhandelte und legitimierte Zwecke treten. Ab dem 18. Jahrhundert erfasste diese Zweckrationalität nicht nur die sozialen Beziehungen – allen voran die Arbeitsverhältnisse –, sondern auch das innere Erleben, Fühlen und Denken der Frauen und Männer. Sie mussten lernen, ihre Affekte immer besser zu beherrschen und sich körperlich zu disziplinieren. Der gesamte Prozess der Scholarisierung seit dem 18. Jahrhundert stand nicht primär im Dienst der Vermittlung von nützlichem Wissen, sondern der sozialen Disziplinierung, der Integration in diverse politische Regime (eine Voraussetzung für die soziale Konstruierung des Staates und der Nation) und der Zurichtung und Hygienisierung der Körper. So wurden die konkurrierenden Unternehmer füreinander berechenbar und die Arbeiter (»die Proleten«) verloren ihren Nimbus der Wildheit und der Gefährlichkeit – was die zunehmend komplexen und rechenhaften Wirtschaftsverhältnisse im Kapitalismus erst möglich machte. Dass auch Arbeiterinnen und Arbeiter und kleine Angestellte der Industrie, des Gewerbes und des Handels im Lauf des 20. Jahrhunderts zu Wohnverhältnissen und einem Familienleben nach (klein)bürgerlichen Standards kamen, wurde durch sozialdemokratische Kommunal- und Sozialpolitik erreicht. Diese organisierte über die Investition öffentlicher Steuern in den kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsbau, in städtische Fürsorge-, Schul- und Gesundheitssysteme (exemplarisch in Städten wie Frankfurt am Main oder Wien) die Integration der Arbeiter und Angestellten in die kapitalistische Produktionsweise. Genauer: Die sozialdemokratische Politik war Voraussetzung für die Weiterentwicklung des Kapitalismus zur fordistischen, die Masse der Arbeiter und Angestellten in Konsum, Kulturindustrie und Demokratie einbeziehenden Produktionsweise (Pirhofer u. Sieder, 1982). Ein anderer Effekt war die sogenannte Entzauberung der Welt: ihre Durchdringung mit Wissen, zuletzt auch die neoliberale Kommodifizierung des Wissens und die Heraufkunft eines © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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»akademischen Kapitalismus«, der die Labors und Institute der Universitäten in Trainings-Camps der kapitalistischen (Welt-) Wirtschaft verwandeln möchte. (Daher auch ihre weiter um sich greifende Anglophonie, ihre Verbetrieblichung und der neoliberale Betriebswirtschafts-Jargon.) Auch die zunehmende Verbreitung fragmentarischen psychologischen, soziologischen, ökonomischen oder technischen Wissens im Alltagsleben ist ein Aspekt dieser Entzauberung der Welt. Heute glaubt jeder, der auf sich hält, zu wissen, was eine psychische Depression, der Ödipuskomplex, ein Hybridmotor oder ein Hedgefond ist. Freilich, auch in einer derart rationalisierten, verwissenschaftlichten und verbetrieblichten Welt werden Mythen erzählt – und insofern ist der Weber’sche Begriff der Entzauberung irreführend. Selbst der zweckrationale moderne Kapitalismus kommt ohne neue Märchen nicht aus. Der Glaube an die romantische Liebe des heterosexuellen Paares ist eines davon. Manchen Theoretikern scheint dieser Glaube an die Liebe eine »moderne Nachreligion« zu sein (Beck-Gernsheim u. Beck, 1990). Allerdings ist die Weber’sche These von der Säkularisierung der Welt durch den Aufstieg von Religionen zu Staatsreligionen, durch neue Konjunkturen der Fundamentalismen und Neo-Spiritualismen längst widerlegt (Faschingeder, 2010). Zutreffender scheint mir die Formulierung: Der Glaube an die romantische Liebe füllt in ähnlicher Weise eine Sinnlücke wie zahlreiche religiöse, fundamentalistische und spirituelle Bewegungen. Mit ihrer Erfindung um 1800 wurde die romantische Liebe zu einem kulturellen Kernbestand der westlichen Moderne und ihres frühkapitalistischen Wirtschaftssystems. Ihre kulturelle Gestalt blieb in den folgenden zwei Jahrhunderten keineswegs gleich. Sie modifizierte sich mit der Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweisen – mit den Veränderungen der Arbeitsmoral, der politischen Regime sowie der bestimmenden Technologien der Produktion, des Verkehrs und der Kommunikation. Hinzu kommen synchrone kulturelle Differenzen zwischen Ständen, sozialen Klassen und lokalen Milieus. Der höfische Adel hatte deutlich andere Ideale, Symbole und Praktiken der Liebe als die Bürger und Kleinbürger in den Städten; und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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die unterschieden sich in ihrem Liebeskonzept wieder erheblich von den Proleten in der Stadt und von der Bevölkerung auf dem Land (Sieder, 2008, S. 23 ff.; Sieder, 2004, S. 95 ff.). Vorstellungen und Praktiken der Liebe hängen überdies eng mit dem Aufstieg des bürgerlichen Subjekts und dessen Dezentrierung im Lauf der europäisch-nordamerikanischen Moderne zusammen. Es ist hier nicht der Platz, die historische Herausbildung des bürgerlichen und des nachbürgerlichen Subjekts vorzutragen. Nur einige wenige kritische Augenblicke dieser Geschichte will ich erwähnen. Im Übergang zwischen den kulturellen Bewegungen der Aufklärung und der Romantik im 18. Jahrhundert wird der einzelne Mensch, vornehmlich aber der einzelne Mann, dazu aufgerufen, sich sorgsam zu verwalten, sich selbst und seine Kinder zu fleißiger Arbeit zu erziehen, seine Begierden zu zähmen und seine Sehnsüchte und Ängste zu bewältigen. Hier entsteht – mit dem modernen westlichen Staat und als dessen »Individuum« – das selbstverantwortliche Subjekt, das im Diskurs und seinen Exempeln meistens das Körpergeschlecht des Mannes trägt. Seine weibliche Antipodin wird komplementär an ihm und seinen männlichen Attributen ausgerichtet und erscheint folglich defizitär: Die Frau ist nicht im Geschäft, nicht in der Wissenschaft, nicht im kirchlichen oder weltlichen Amt und auch nicht unter Waffen. In dieser Lage bedarf sie der Belehrung und des Schutzes durch den Mann. Subjektivierungsgeneratoren sind die Formen der Beichte und der Kontemplation in den christlichen Kirchen, das Schreiben von Briefen, Tagebüchern und Memoiren, die Lektüre schöner Literatur und Poesie, das Theater als moralische Anstalt und – eine neu entworfene Praxis der Liebe des Mannes zur Frau und zwischen den Ehegatten. Die romantische Liebe bleibt in ihren ersten literarischen Entwürfen – man lese Goethes »Die Leiden des jungen Werther« (1776) oder Friedrich Schlegels »Lucinde« (1799) – in das patriarchale bürgerliche Arbeits- und Lebenskonzept eingebunden. Es entsteht eine neue Sprache für Introspektion und Innerlichkeit, die es Mann und Frau allererst möglich macht, auf je geschlechtsspezifische Art Gefühle der Liebe in sich zu entdecken und romantisch zu for© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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mulieren. Mit Niklas Luhmann können wir von einer Codierung der Liebe, mit Roland Barthes von einem LiebesDiskurs sprechen (Luhmann, 1983; Barthes, 1984; Wagner, 2007). In ihrer ersten heroischen, literarisch vorgeführten Form ist romantische Liebe unkalkulierbares Schicksal. Die Liebenden fühlen sich berechtigt, sich im Namen der Liebe gegen die gesellschaftliche Ordnung und ihre Klassenschranken aufzulehnen. Die frühe romantische Liebe ist also gewissermaßen eine »anarchische« Kraft unter patriarchalen bürgerlichen Bedingungen. Sie unterscheidet sich vom spielerischen Charakter und von der Delikatesse der galanten Liebe des höfischen Adels im 17. Jahrhundert, die die Gefahren der Leidenschaft noch spielerisch zu zähmen weiß – freilich nicht ohne zahlreiche Opfer, vor allem auf Seite der Frauen (Steigerwald, 2001). In ihren frühen literarischen Fassungen rebelliert romantische Liebe gegen die Logik des Geschäfts im Handelskapitalismus wie in der merkantilen Politik und Bürokratie. Hier werden im Namen der Liebe Gedichte gemacht, Duelle ausgefochten, Selbstmorde begangen und bürgerliche Existenzen ruiniert. So wundert es nicht, dass der romantische Liebescode der Literaten alsbald adaptiert werden muss. Die exaltierte Erstfassung der romantischen Liebe wird durch das wirkliche Leben beschwichtigt. Was unter patriarchalen und kapitalistischen Zwängen verdampft, ist die anarchische Leidenschaft. Stattdessen wird – im Interesse des bürgerlichen Hauses, Unternehmens und Besitzes – dem Mann Ruhe und Entspannung und der Frau beglückende Beziehungsarbeit in der Ehe, in der Mutterschaft und im häuslichen Leben versprochen. Romantische Liebe erhält eine kultur- und zivilisationsgeschichtliche Schlüsselfunktion: Sie soll jene Affekte und Hoffnungen binden, die in der kapitalistischen Welt der rationalen Geschäfte, der Verwaltung, der Wissenschaften oder des Militärs fehl am Platz sind. Es entstehen zweigeteilte Lebenswelten: Im zunehmend als privat gestalteten häuslichen Leben soll sich die Sehnsucht nach Liebe zwischen Mann und Frau und zwischen Eltern und Kindern erfüllen. In den semiöffentlichen und öffentlichen Bereichen der Politik, des Krieges, der Geschäfte und der Erwerbsarbeit hingegen gilt das Gesetz der Kon© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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kurrenz und des Profits. Das intimisierte, private Ehe- und Familienleben soll nähren, regenerieren, Kraft spenden und Leben zeugen, Einsamkeit und Entfremdung aufheben, und jene körperlichen und seelischen Wunden heilen, die die agonale Welt der Geschäfte, des Krieges und der Politik den Männern geschlagen hat. Kurz: Romantische Liebe und kapitalistische Rationalität bringen einander hervor. Das ist der Modus der romantischen Liebe im früh- und im hochindustriellen (»liberalen«) Kapitalismus. Zwischen den eingangs unterschiedenen Entwicklungsstufen der kapitalistischen Produktionsweise und den Modi der romantischen Liebe wie auch der Ehe und der Elternschaft bestehen – so meine These, die ich nun etwas entfalten will – teils kausale Wirkungszusammenhänge, teils strukturelle Affinitäten. Im liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts gestaltet sich das Konzept der ehelichen Liebe und der »bürgerlichen Familie« metaphorisch im goldenen Gefängnis der Bürgerhäuser. Weite Teile der Bevölkerung bleiben aus legalen Formen des Ehe- und Familienlebens ausgeschlossen, was zu vielen außerehelich geborenen Kindern und hoher Frauen- und Kindersterblichkeit führt (In Lateinamerika bleibt dies bis heute das den Halbkontinent charakterisierende reproduktive Regime; Sieder, 2010). Die besitzenden Bürger finanzieren und beherrschen ihre Frauen. Romantische Liebe als radikales Konzept der Literaten versagt vor der Macht bürgerlicher Besitzsicherung. Die Frauen sind oft erheblich jünger als ihre Ehemänner. Wollen sie aus der bürgerlichen Ehe und dem sexuellen Regime der Männer ausbrechen, werden sie verstoßen oder finden den Tod wie Henrik Ibsens »Nora« (norw.: Ein Puppenheim, 1879) oder Theodor Fontanes »Effi Briest« (1894/95). Der fordistische Modus des Familienlebens und der romantischen Liebe folgt – in ersten Ansätzen in den »wilden Zwanziger Jahren« – dem moralischen Anspruch auf ein gutes Leben für (fast) alle, auch für Arbeiter und Angestellte, die als Konsumenten der Massenwaren neues volkswirtschaftliches Gewicht erlangen. Dies führt zur Selbst-Ästhetisierung männlicher und weiblicher Subjekte als konsumkräftige und konsumierbare An© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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gebote auf dem Markt der (hetero- und homosexuellen) Beziehungen. Die Ehe wird trennbar, sobald ihre (materiellen, sozialen, sexuellen) Konsumwerte nicht mehr stimmen. Experimente mit »freier Liebe«, »Kommunen«, ein androgyner Frauentypus (»garçonne«) und eine libidinöse, das sexuelle und erotische Vergnügen legitimierende Moral richten sich gegen das lustfeindliche Regime bürgerlicher Patriarchen und klerikaler Instanzen. Die Reformen des Familien-, Ehe- und Kindschaftsrechts (zuerst in den skandinavischen Ländern) sollen die »Partnerschaft« der Ehegatten und die »Miterziehung« der Kinder durch die Väter durchsetzen, aber auch Geburtenkontrolle legitimieren (Mesner, 2010). Der neoliberale Modus von Liebe und Familienleben ab den 1980er Jahren – im ironischen Ton der Postmoderne vorgetragen und kommentiert – bringt die gewissermaßen realistische Verkürzung der romantischen Liebe auf die Affäre eines Lebensabschnitts, verbunden mit dem arbeitsmoralischen Auftrag, sich körperlich, psychisch und sexuell bis ins höhere Alter fit zu halten und »vernutzte« Beziehungen möglichst rasch und mehrfach durch »frische« zu ersetzen. Dementsprechend werden Scheidungen weiter erleichtert. Zum bereits etablierten fordistischen Moment des Konsums treten erhöhte Effizienz im verschärften Wettbewerb und die Moral unbegrenzten Gewinnstrebens hinzu. Der dauerhaft nicht in Arbeit stehende Teil der Bevölkerung wird in die »neue Armut« ausgegrenzt und auf mäßigem Konsumniveau (Hartz IV, Notstandshilfe, Grundsicherung etc.) verwaltet. Schon im fordistischen, vollends aber im neoliberalen Modus wird selbst eine unerfüllbare Hoffnung rentabel gemacht: Die romantische Liebe wird immer öfter und variantenreicher konsumiert (Illouz, 2003) und verschafft der Kulturindustrie, dem Tourismus, der Gastronomie und anderen Dienstleistern (darunter auch einer stark gewachsenen Zahl von Psychotherapeutinnen und -therapeuten) einen erheblichen Teil ihrer Gewinne. Sozialpsychologen und Soziologen beschreiben den Umbau des bürgerlichen Subjekts. Zuerst formuliert David Riesman den Übergang vom ehedem »innegeleiteten« bürgerlichen zum »au© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ßengeleiteten« post-bürgerlichen Subjekt (Riesman, 1950/1958). George H. Mead, Erik H. Erikson, Ervin Goffman, Peter L. Berger, Kenneth Gergen und andere diagnostizieren und formulieren den Übergang vom zentrierten Selbst zum dezentrierten Beziehungs-Selbst: Es spürt und entwirft sich jeweils im Spiegel einer Mehrzahl von signifikanten und ausgewählten Anderen, tauscht den Lebensberuf und die Betriebstreue gegen »Jobs« ein, die nach dem Prinzip der Einkommenssteigerung gewechselt werden, ist stets bedacht, möglichst jugendlich, sportlich, gesund, modisch und erfolgreich zu erscheinen und bespricht seine intimen Beziehungen in den ironischen Tönen der Postmoderne. Die private wie die berufliche Lebensführung wird zunehmend experimentell, riskant und in gewisser Weise rücksichtslos. Die Teil-Selbste starten sehr oft euphorisch mit einer neuen Liebesbeziehung in einen neuen Lebensabschnitt, in dem sich die Personen sozial, materiell und ästhetisch neu erfinden: Sie wechseln nicht nur den Wohnort oder die Wohnung, sondern auch den Wohn- und Lebensstil. Selbst die vergleichsweise beständige Elternschaft verliert ihre Aura der Natürlichkeit und wird schwierig, instabil und gestaltungsbedürftig. Das dezentrierte und fragmentierte Beziehungs-Selbst des Neoliberalismus ist – was sollte es auch anderes tun – immer wieder zu einer neuen Selbst-Verpflichtung bereit. Wem unter diesen Bedingungen eine glückliche Polyphrenie gelingt, der schafft auch mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Serie von romantischen Lieben. Ist die condition postmoderne, wie es Lyotard (1979/1994) in seinem epochemachenden Bericht an den Universitätsrat der Regierung von Québec nannte, nicht nur eine neue Kondition des Wissens und der Bildung, sondern auch der romantischen Liebe?

Romantische Liebe in der condition postmoderne Seit etwa drei Jahrzehnten werden die alltäglichen Redeweisen über die Liebe zunehmend durch Skepsis und Ironie geprägt. Die Ironie ist die Trope der Postmoderne, sagen Geschichtsphiloso© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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phen (Ankersmit, 1993). Aber war sie nicht schon die Trope der Romantiker? Wurden diese vielleicht nur allzu wörtlich genommen? (Etwa von jenen Tausenden Männern, die sich wie Werther kleideten, oder von jenen Hunderten, die sich wie Werther wegen einer unglücklichen Liebe zu Tode brachten?) Heute schwingt in einem Moment des affektiven Überschwangs oder des sexuellen Begehrens, in dem ein Mann einer Frau »ewige Liebe« schwört, die Ironie mit, dass dies – wie alle Frauen längst wissen – ein unmögliches Versprechen ist. Umberto Eco schrieb dazu in der Nachschrift zu seinem Roman »Im Namen der Rose«: »Die postmoderne Haltung erscheint mir wie die eines Mannes, der eine kluge und sehr belesene Frau liebt und daher weiß, dass er ihr nicht sagen kann ›Ich liebe dich inniglich‹, weil er weiß, dass sie weiß (und dass sie weiß, dass er weiß), dass genau diese Worte schon, sagen wir, von Liala geschrieben worden sind. Es gibt jedoch eine Lösung. Er kann ihr sagen: ›Wie jetzt Liala sagen würde: Ich liebe dich inniglich‹« (Eco, 1986, S. 78 ff.). Durch die ironische Brechung dessen, was einmal natürlich und schicksalhaft schien, gewinnt die Verkehrssprache der Liebenden eine Meta-Ebene hinzu. Auf ihr kann besprochen werden, worauf man hofft und es in seiner Erfüllbarkeit doch bezweifelt. Die Gleichzeitigkeit der Hoffnung und des Zweifels wird zum Markenzeichen der postmodernen Kondition. Den hier nur noch möglichen Liebes-Code bezeichne ich als den Code der »skeptisch-romantischen Liebe« (Sieder, 2008, S. 23 ff; Sieder, 2004, S. 167 ff.). Er wirkt paradox: Aus dem erhöhten Wissen um ihre Brüchigkeit feiern Frauen und Männer den Beginn einer Bindung aus Liebe und inszenieren ihre Hochzeiten als üppige Feste. Doch statt wie frühere Generationen die Verliebtheit mit der Zeit in weniger aufgeregte Formen des Zusammenlebens zu transformieren, wählen viele die erheblich leichter gewordene Trennung und suchen nach einer nächsten romantischen Liebe. So resultiert aus Ironie und Skepsis zumindest in Fragen der Liebe am Ende doch nur die Wiederholung desselben; allerdings bei erhöhtem Konsum. Dem Einzelnen ist aufgetragen, aus den diskursiven Angeboten seinen eigenen Entwurf einer Liebesbeziehung nach seinen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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persönlichen Möglichkeiten und Neigungen zu kompilieren und im Lauf seines Lebens auch mehrfach zu verändern. Als eine mittelbare Folge davon muss er seine multiplen Beziehungs-Selbste in einer narrativen Anstrengung recht und schlecht zu seiner Autobiografie zusammenstellen. Der Auftrag, dabei ganz der Gleiche zu bleiben, wird ihm erlassen. Er soll vielmehr derselbe in steter Veränderung sein – nicht zuletzt auch im Wechsel seiner intimen Beziehungen. Lebensgeschichtliche Interviews zeigen uns denn auch eine reiche Empirie von wiederholten Neuentwürfen biografisch jeweils passender Liebesbeziehungs-Konzepte. Diese werden variiert, weil sich herausstellt, dass die ersehnte »totale Geborgenheit«, also das erhoffte Ende der Suche und aller Selbst-Veränderung, nicht zu finden ist. In einer Analogie zu Architektur, Philosophie und Literatur (Welsch, 1991) kann dieses rückbezügliche Puzzle-Spiel mit ungleich alten Elementen aus der Geschichte der Lieben (Plural) auch eine postmoderne Codierung der Liebe genannt werden. Teilen die Partner die postmoderne, ironische Haltung, werden sie leichter ins Bett gelangen als zu Zeiten, in denen die romantische Liebe noch pathetisch und von tödlichem Ernst war. Die Ironie ist also offenbar mehr als ein Stil oder eine Mode der Konversation, sie ist auch beziehungs- und trennungsfunktional. Sie beschleunigt den Umsatz in den Betten – allerdings mit der Gefahr, dass Übersättigung eintritt, wovon Sexualforscher schon zu berichten wissen (Sigusch, 2005). Dem Ende einer romantischen Liebe folgt bald der Anfang einer neuen. Und nicht selten löst der Anfang einer neuen Liebe das Ende der alten aus. Immer mehr Menschen erleben Liebe in Serie. Irgendwann werden sie sich wohl zur Ruhe setzen, bis dahin aber leben sie sukzessiv polygam. Trotz aller Wiederholung haben sie keine Schwierigkeiten, die Schmetterlinge im Bauch immer wieder zum Fliegen zu bringen. Das Imaginäre ist, wie sich zeigt, eine hoch produktive Kraft. Der Anspruch und die Hoffnung auf eine nächste Liebe werden beinahe schon ein ganzes Leben lang aufrechterhalten. Das stellt sogar die Verwaltung von Pensionistenheimen vor neue Herausforderungen. Frauen und Männer lernen, mit dem wiederholten Verlust von © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Liebe umzugehen, ohne die Liebe selbst – wie gezeigt, ein kulturelles Konzept, aber notorisch verkannt als Natur – zu sehr abzuwerten oder gar endgültig zu verwerfen. Die viablere Alternative ist, statt der Liebe den Partner abzuwerten, ja ihn manchmal sogar zu dämonisieren. Die Entliebung läuft häufig wie die Verliebung mit umgekehrten Vorzeichen: Auf die Idealisierung des Partners folgt dessen bodenlose Entidealisierung (Eiguer u. Ruffiot, 1991). In seinen Wirkungen ist ein solches Vorgehen ambivalent: Einerseits befreit es aus unglücklichen Beziehungen. Andererseits erhöht es den Anspruch an die Qualität der Liebesbeziehung so sehr, dass ihn kaum jemand erfüllen kann. Es erzeugt sozusagen einen Überschuss an Kritik und mindert Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz. Das aber sind Anforderungen an die Ich-Identität im fordistischen und im neoliberalen Kapitalismus (Krappmann, 2005, S. 133 ff.). Aus dem solcherart beinahe programmierten Scheitern einer Liebe nährt sich die Hoffnung, der ideale Liebespartner sei irgendwo anders zu finden – dort, wo man selber gerade nicht ist. Erstmals seit mehr als zweihundert Jahren könnte es sich nicht nur um eine weitere Adaption des romantischen LiebesCodes handeln. Die normative Bindung der romantischen Liebe an das heterosexuelle Paar, an das verheiratete Paar und an das dauerhaft unter einem Dach zusammenlebende Paar löst sich zusehends auf. Einerseits glauben viele Frauen und Männer nicht mehr so recht an die Liebe und sind zunehmend skeptisch, dass man auf ihr lebenswichtige und ökonomisch folgenreiche Entscheidungen gründen soll. Sie sprechen skeptisch und ironisch über die Liebe, weil sie der hegemonialen Zweckrationalität in ihren kaufmännischen, technokratischen und wissenschaftlichen Spielarten widerspricht. Andererseits aber werden Lebenspartnerschaften und Ehen massenhaft im Namen einer neuen Liebe getrennt und gerichtlich geschieden. Viele Frauen und Männer hoffen, dass sie die Trennung von ihren »Altlasten« befreien wird. Ihre Illusion hat Funktion. Sie macht sie dazu bereit, die mit der Trennung verbundenen Kosten hinzunehmen und zu bezahlen. Was ihnen als ihre ganz private Angelegenheit erscheint, als Korrektur ihres Lebensweges und als Ticket für ein © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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neues Glück, hält sie – von kurzen Phasen der Konfusion abgesehen – arbeitsfähig und leistungsmotiviert. Ein neuer Job und eine neue Liebe haben eines gemeinsam: Sie mobilisieren neue Energie für eine erneute Selbstverpflichtung und Bindung. So führt die Rebellion gegen das Etablierte, die mit jeder neuen Liebe für kurze Zeit verbunden ist, letztlich zur Re-Integration des Subjekts in die neoliberale Leistungsgesellschaft. Die Sprecher ihrer Interdiskurse (Therapeuten, Coaches, Pädagogen, Ökonomen, Wirtschaftsberater u. v. a.) können darauf verzichten, alte Werte wie Beziehungstreue und Ortsverbundenheit zu verlangen. Mobil, lern-, wandlungs- und anpassungsfähig sollen wir sein: im Beruf, in der Politik, und eben auch in den intimen Beziehungen. Nach und nach hat die Liebe ihren romantischen Ruf verloren, das Natürlichste von der Welt zu sein. Sie erhob sich aus dem »großen knarrenden Doppelbett« (Ingmar Bergman, Szenen einer Ehe, 1975), wo es ihr ohnehin nie allzu gut ging. Mehr und mehr wurde sie vom Schicksal zum Spiel. Freilich: ein ernst genommenes Spiel. Es gibt ja bekanntlich nichts Ernsteres als das Spiel. Das rief die Ideen der Strategie und des »lebenslangen Lernens«, auch Beratung und Coaching, und somit Heere von Therapeutinnen und Therapeuten auf den Plan: Therapy Culture (Furedi, 2004; Illouz, 2009). Neue Anforderungen an Frauen und Männer werden hier formuliert. Im Lauf ihres Lebens sollen sie die Fähigkeit erwerben, dauernd zu lieben, ohne die Geliebte respektive den Geliebten ganz und allein besitzen oder gar aus Liebe einsperren zu wollen, ohne ihn ändern zu wollen, und auch ohne sich selbst für ihn zu verändern. Paartherapeuten bieten an, bei der Herstellung dieser Fähigkeit zu einer »reifen Liebe« zu helfen. Anders als bei der romantischen Liebe alten Typs, die einen trifft wie der Blitz, aber auch wieder verloren geht, meinen sie, es sei durchaus möglich, durch Arbeit an sich selbst zu einer Façon der Liebe zu gelangen, auf die man sich verlassen kann (Clement, 2004; Schnarch, 2007). Das ist eine viel (zu viel?) versprechende Antwort auf die Krise des spätromantischen Liebesideals. Andere rufen zu mehr Bescheidenheit und Vernunft, mitunter sogar zu einer Rückkehr zur © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Treue auf (Willi u. Limacher, 2005; Retzer, 2004, 2009). Vermittelnde Stimmen fordern mehr Beständigkeit in der Ehe, aber auch die Bereitschaft zum romantischen Seitensprung; er sei wichtig, um die Ehe auszuhalten. Neu daran ist nur, dass auch die Frau, nun ebenso kaufkräftige und erwerbstätige Konsumentin wie der Mann, zum Seitensprung animiert wird. – Mir scheint, als wäre die angedeutete Vielfalt der psychotherapeutischen Angebote ein Reflex auf die offener gewordene Codierung von Liebe und das Fehlen einer transmontanen Moral. Schon im fordistischen und noch mehr im neoliberalen Kapitalismus ist die Verhandlungsmoral typisch. Ironisch, wie es der postmodernen Kondition des Wissens entspricht, darf man vielleicht auch sagen: Verschiedene, ja gegensätzliche psychotherapeutische Konzepte beleben das Geschäft – das der Psychotherapeuten ebenso wie das der gesamten Kulturindustrie. Manche meinen, mehr Wissen und Reflexion, wachsende Skepsis und Ironie oder auch mehr psychotherapeutische Hilfe würden dazu beitragen, ein ernsthafteres Spiel der Liebe durchzusetzen und dem Hass, soweit er aus der Kränkung durch entzogene Liebe entsteht, seine mitunter lebensgefährliche Schärfe zu nehmen. Ich stimme dem in dieser Allgemeinheit zu. Doch sollte man »ernsthaft« nicht mit vorbehaltlos »offen« und »ehrlich« verwechseln. Empirische Studien zeigen, dass einiges intransparent bleiben muss, um eine intime Beziehung nicht zu gefährden. »Ehrlichkeit« hat hier wohl weiterhin Grenzen. Allerdings ändert sich die Funktion des Heimlichen geradezu fundamental: Die patriarchale Ehe im liberalen Kapitalismus musste seltene sexuelle Affären der Frauen und Männer oder eine homosexuelle Neigung verbergen, um den Anschein der Gutbürgerlichkeit zu wahren. Die liberalisierten Paarbeziehungen der Gegenwart hingegen benötigen eine andere Art von Diskretion. Der Partner/die Partnerin darf mit den eigenen Bedenken, was die Zukunft der intimen Beziehung, die ungestillten Sehnsüchte und die gelegentlichen Selbstversuche in anderen Betten betrifft, nicht all zu sehr belastet werden. Das gilt für die heterosexuellen Paare ebenso wie für die homosexuellen. Würde man dem Partner alle Zweifel, alle Skepsis und alle Ent© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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täuschungen mitteilen, käme ihm wohl der Mut zur intimen Beziehung abhanden. Nur eine risikobereite Minderheit legt ihre sexuellen Affären vor ihren Lebenspartnern völlig offen – und manche veröffentlichen ihre Geständnisse auch, womit ihre Intimität zur Ware wird. Die Nachfrage scheint gesichert. Viele fadisieren sich im eigenen Ehebett und gieren – sozusagen im Modus ersatzweisen Konsums – nach den Affären der Anderen. Bildungsexpansion, Wirtschaftswachstum und zunehmende Kaufkraft haben erweiterte Spielmöglichkeiten in den intimen Beziehungen geschaffen, doch nur für jene, die in Arbeit stehen, einigermaßen gut verdienen oder Vermögen geerbt, seltener erworben haben. Mit den Gruppen der Langzeit-Arbeitslosen, der jeher Mittellosen und der Geschiedenen ohne eigenes Einkommen und Pensionsanspruch (darunter viele Frauen) konfiguriert sich eine »neue« Armut, in der »alte« Zwänge zur Solidarität aus Not wieder auferstehen. Hier ist die Paarbeziehung oft – wie in früheren Generationen – eine Agentur zum Überleben. Die letzten Wellen der Arbeitsmigration seit den 1970er Jahren haben die kulturelle Pluralität der westlichen Städte und Industriegebiete enorm gesteigert. Mit den wachsenden Distanzen der Arbeitswanderung wächst die kulturelle Fremdheit der Migrantinnen und Migranten. Dies verunsichert nicht nur die angestammte Bevölkerung in den westlichen Städten, sie ist auch für die Zuwanderer selbst voller Schwierigkeiten. Dass die zweite oder dritte Generation von Zuwanderern aus Ostanatolien oder aus dem Kosovo – auch was Liebe, Ehe und Familie betrifft – gleichsam zwischen die Kulturen geraten ist, zeigen Filme wie jene des in der Türkei geborenen, bundesdeutschen Filmregisseurs und Drehbuchautors Fatih Akin (»Gegen die Wand«, 2004, u. a.). Die Schwierigkeiten interkultureller Liebe unter den Bedingungen des Kapitalismus thematisierte auch schon Rainer Werner Fassbinders Meisterwerk »Angst essen Seele auf« (1974/1975, s. Elsaesser, 2001). Die Verständigungsschwierigkeiten der Migrantinnen und Migranten und deren Konfrontation mit den fremden Gastgebern, die nicht immer freundlich sind, müssen die kulturelle Façon der intimen Beziehungen der Mig© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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rantinnen und Migranten irritieren. Konzepte der westlichen romantischen Liebe in ihren jüngeren und jüngsten Versionen kollidieren mit nichtwestlichen Formen der arrangierten Ehe, der Zwangsehe, der Polygamie, der Unterdrückung von Frauen durch Genitalverstümmelung, Hausarrest und Gewalt. Als allegorischer Ausdruck und ökonomische Folge eines multinationalen, mondialisierten Kapitalismus werden die Fremden in der Stadt – die in Großstädten wie Paris, Berlin, Frankfurt am Main oder Wien ganze Stadtviertel bevölkern – zu emblematischen Kollektiv-Subjekten einer nichtwestlichen, nichtmodernen Kultur mitten im Westen. Der Vollkörperschleier, der Gesichtsschleier, sogar das Kopftuch der fremden Muslima scheinen dies sinnfällig – und nach dem Realismusprinzip, das den Alltagsdiskurs bestimmt – auch zweifelsfrei zu beweisen. Andererseits benötigen die Eingesessenen »ihre« Fremden, um sich selbst und einander zu versichern, angesichts aller eigenen Unsicherheiten zumindest in Fragen der Liebe, der Ehe und der Lebensweise auf der »modernen« Seite zu sein. Sie lesen die fremden Gestalten und die Gesichter und Körper der Frauen, die sie kaum sehen, um ihre eigene, fragil gewordene kulturelle Identität zu stabilisieren. Für die Mehrzahl jener, die ihre eigene Unversehrtheit und die Autonomie ihres Partners bzw. ihrer Partnerin sorgsam bewahren wollen, nimmt mit den gewachsenen Spielräumen auch die Unvorhersehbarkeit der künftigen Spielzüge zu. Weil sie nicht wissen können, was werden wird, müssen sie die Eventualität einer Trennung schon im Augenblick der Liebe antizipieren. Damit, so scheint es, wächst ihre Angst, sich zu verlieben und als Liebende verletzt zu werden. Jean-Paul Sartre hat die Angst vor der Freiheit des (geliebten) Anderen beschrieben. Er habe die Freiheit und die Macht, mich zutiefst zu kränken, sei es, indem er auch einen Anderen, eine Andere liebt, sei es, indem er mich nicht nur verlässt, sondern erniedrigt, als hätte er mich nie geliebt. Das ist die Kränkung unseres Wunsches, ausgerechnet in der Liebe autonom und souverän zu sein. Voller Wut und Empörung nannte es Sartre »einen unüberwindbaren Skandal« (Sartre, 1993, Bd. 3). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Eine Folge der teils bewussten, teils unbewussten Angst, vom geliebten Menschen psychisch oder körperlich eingesperrt, verlassen, verletzt, oder gar getötet zu werden, ist nicht zuletzt auch die Tendenz, intime Beziehungen schwächer zu institutionalisieren. Man heiratet gar nicht oder erst dann, wenn man eine längere Wegstrecke als Paar hinter sich gebracht und einander bewiesen hat, dass die Gefahren wenigstens nicht evident sind. Manche behalten vorsichtshalber die eigene Wohnung und investieren nicht in einen gemeinsamen Wohnsitz. Andere scheuen davor zurück, Kinder zu haben, denn wie sich herumgesprochen hat, bindet die Elternschaft das Paar auch nach der Trennung noch einige Jahre aneinander. Sehr viele Frauen und Männer oszillieren zwischen dem Wunsch nach einer festen und sicheren Bindung, jenem totalen Zuhause, das alle Entfremdung aufheben soll, dem Versprechen des Mythos, und ihrem diskursiv erzeugten Verlangen nach Freiheit und Autonomie. Ob sie ihre Glückschancen nützen oder versäumen, gilt zunehmend weniger als ihr Schicksal denn als ihre persönliche Leistung und ihr Versagen. Wie in der Arbeit sind sie auch in der Liebe neoliberale Leistungsmenschen oder eben Looser. Dieses im Alltagsdiskurs seit einiger Zeit so verdächtig häufig gebrauchte englische Wort scheint mehr zu konnotieren als das deutsche »Verlierer« oder ältere Vokabel für Marginalisierte (wie »Obdachlose«, »Streuner« oder schlicht »Arme«). Es meint auch jene, die das Spiel nicht nur verloren haben, sondern den nun geforderten, nötigen Kampfes- und Siegeswillen nie hatten. Aber auch die Tüchtigen und Erfolgreichen befinden sich – alles in allem – in einem Zustand erträglichen Unglücks. Sie haben so viel wie niemals zuvor: Häuser, Apartments, Autos, Liebesaffären, sexuelle Abenteuer. Warum aber sind sie so getrieben, so rastlos, so aggressiv und stets in Sorge, etwas zu versäumen? Der Skandal ist nicht mehr das Sexuelle, das schon im fordistischen Kapitalismus zur Ware geworden und inzwischen selbst in Hardcore-Varianten von der Peripherie ins Zentrum der Gesellschaft und in jeden Heimcomputer, in die Heimkinos und die Mobiltelefone eingezogen ist. Der Skandal ist die ungestillte Sehnsucht nach einer Intimität, die auch dem effizientes© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ten Leistungsmenschen im Neoliberalismus versagt bleibt und sich eher zwischen seinen Worten verbirgt, als sich mit ihnen herstellen lässt.

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System Familie im Gesundheitswesen – Entwicklungslinien und Zukunftsszenarien

Zusammenfassung Der folgende Text bietet zunächst einen skizzenhaften historischen Abriss der Familientherapie. Dann wird auf Set- und Setting-Aspekte der Familientherapie eingegangen und hierbei für eine adaptive Indikation zur Familientherapie plädiert. Anhand von fünf Beispielen wird illustriert, wie Familientherapie in medizinische Kontexte integriert werden kann. Abschließend werden Möglichkeiten genannt, wie ein systemisch-familientherapeutischer Ansatz zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens beitragen kann.

Einführung Zunächst erwartet den Leser eine (sehr) kurze Geschichte der Familientherapie und dann jenes, was ich für die interessantesten aktuellen Entwicklungen innerhalb der Familientherapie halte. In dem mittleren Teil biete ich einige Überleg-ungen an, wann es sinnvoll sein kann und wann nicht, die Familie in die Psychotherapie einzubeziehen – in diesem Zusammenhang möchten ich für eine adaptive anstatt selektive Indikation plädieren. Des Weiteren werden besondere Aspekte des Settings »Familientherapie« dargestellt, die auch für Einzeltherapeuten interessant sein könnten. Ich schildere im fünften Teil an Beispielen, wie wir in Heidelberg im Uniklinikum versucht haben, Familientherapie in die klinische Medizin zu integrieren, um dann im sechsten Teil anhand einiger Beispiele aufzuzeigen, wie Familientherapie Brücke bauen kann zwischen getrennten Sektoren des Versorgungssystems. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Eine (sehr) kurze Geschichte der Familientherapie Der Beginn in Palo Alto und im Wedding Wo begann die Familientherapie? Manche meinen, im Mental Research Institute in Palo Alto, als Gregory Bateson und Kollegen bei schizophrenen Veteranen des Zweiten Weltkrieges, des Korea-Krieges und die »Double-bind«-Hypothese der Schizophrenie entwickelten (Bateson, Jackson, Haley u. Weakland, 1956). Andere sagen, es begann im Berliner Wedding, als Horst Eberhard Richter in den 1950ern dort in einer Beratungsstelle begann, mit Familien zu arbeiten (z. B. Richter, 1962). Möglicherweise haben noch ältere familientherapeutische Ansätze bereits in den 1920er Jahren im Kontext der Sozialarbeit existiert.

Von der Psychoanalyse zur Mehrgenerationentherapie Die frühe Psychoanalyse hat die Familientherapie sehr geprägt, bis diese in den 1960er und 1970er Jahren eine distinkte, von der psychoanalytischen Praxis unterscheidbare Mehrgenerationentherapie ausbildete. Eckhard Sperling und Kollegen in Göttingen haben drei Generationen zum Teil in dieselben Familientherapie-Gespräche eingeladen (Überblick hierzu z. B. Massing, Reich u. Sperling, 2006). Im Folgenden taucht immer wieder das Wort »Phase« auf. Das Wort »Phase« ist mein Versuch, postmodernes Denken in die Geschichtsschreibung der Familientherapie aufzunehmen. Ich gehe davon aus, dass immer in bestimmten historischen Phasen ein Aspekt neu hervortritt, der sich anfangs aggressiv gegen die vorherigen abgrenzt und eine eigene Methodik hervorbringt, die dann, wenn es keine Ausschließungsversuche in der Professional Community gibt, Teil eines breiter werdenden Methodenkorpus wird. (Einen Überblick zu Entwicklungen der Familientherapie ist z. B. zu finden bei von Schlippe, 1984; von Schlippe u. Schweitzer, 1996.)

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Die interventionistische Phase: wachstumsorientiert, strategisch, strukturell, Mailänder Ansatz In den USA in den 1960er und 1970er Jahren, in Deutschland und Europa etwas später, lässt sich eine »interventionistische« Phase beschreiben, die sich stark auf die allgemeine Systemtheorie bezieht (z. B. Bertalanffy, 1953). Das ist die Zeit, in der auch in der Politik die Planungseuphorie grassiert. Es herrscht die Idee: Wenn man es gut macht, ist im sozialen Bereich alles machbar. Es ist eine Phase der intensiven, direktiven Interventionen ins Familiensystem, die etwa durch Therapeuten wie Jay Haley (z. B. 1969), Salvador Minuchin (z. B. 1974) oder die Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli (z. B. 1975) bekannt geworden sind. Ob man den wachstumsorientierten Ansatz im Sinne von Virgina Satir (z. B. 1983) dazu zählt, darüber kann man sich streiten (Kriz, 1985, beispielsweise tut dies in seinem Überblickswerk »Grundkonzepte der Psychotherapie«). Es gibt aus der humanistischen Richtung einige emotionsfokussierte, sehr emotionalintensive Ansätze (z. B. Kempler, 1981; Gammer, 2007; Johnson, 2004; Diamond u. Stern, 2003).

Die behaviorale Phase: trainings- und edukationsorientiert Die behaviorale Phase beginnt mit dem operationalen Konditionieren, wo zunächst einmal im Elterntraining operante Verstärkungsmodelle zur Unterstützung des elterlichen Verhaltens gegenüber Kindern mit in die Familienbehandlung einbezogen wurden. Man findet auch etwas später in der kognitiven Wende der Verhaltenstherapie etwa Ansätze von Albert Ellis oder von Aaron Beck, die ebenfalls zum Teil in familientherapeutische Ansätze hineingefunden haben (Beispiele für behaviorale Elterntrainings und Familientherapie: Alexander u. Parsons, 1982; Mattejat, 2002; Kazdin, 2005). Eine große Wende kam um 1980 mit den Erkenntnistheorien des radikalen Konstruktivismus und den Selbstorganisationstheorien (vgl. hierzu von Schlippe u. Schweitzer, 1996; Schweitzer u. Ochs, 2003). Sie brachten die Idee, dass soziale Systeme © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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nur sehr begrenzt von außen steuerbar und veränderbar sind, dass man Anregungen geben kann, Irritationen, aber dass es sehr eigenen Operationen überlassen bleibt, was daraus wird. Dies führt zu einer weniger intervenierenden, »gelasseneren« Praxis, die aber stärker noch als zuvor auf die Sprache des Therapeuten achtet. Der bekannte Ausspruch von Steve de Shazer, dass das Sprechen über Probleme weitere Probleme erzeugt und das Sprechen über Lösungen eher Lösungen erzeugt, veranschaulicht auf sehr simple Weise diese eigentlich komplexeren Theorien (»Problem talk creates problems, solution talk creates solutions!«; vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 1996, S. 35). Anders ausgedrückt: Wir sind als Therapeuten verantwortlich für die Art, wie wir mit Familien sprechen, und welche Szenarien wir mit ihnen als möglich entwickeln.

Die narrative Phase: erzählungsorientiert, dialogisch Um 1990 kommt es zur narrativen Wende in die Familientherapie. Eine Einflusslinie führt etwa über den französischen Philosophen Michel Foucault zu dem australischen Familientherapeuten Michael White (z. B. White u. Epston, 1990). White entwickelte eine Art Dekonstruktion quälender Erzählungen, die zunächst in der Kindertherapie bekannt wurden. Der narrative Ansatz dominiert heutzutage die angloamerikanische Familientherapie.

Späte Stürme: Die Auseinandersetzungen um Hellingers Aufstellungsarbeit Als »späte Stürme« fegen die Kontroversen über die Aufstellungsarbeit von Bert Hellinger ab 1993 durch die Familientherapie, drohten diese auch zu sprengen. Die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit Hellinger? (vgl. z. B. die Kontroverse um den sogenannten »Offenen Brief von Arist von Schlippe an Bert Hellinger«, in dem der Briefschreiber sich deutlich von Hellinger distanziert: http://www.thiesstahl.de/pdf/vSchlippeHellinger. pdf) erinnert an Kaiser Karl V. in dem Film »Luther«, als Karl © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Luther auf dem Wormser Konzil 1521 fragt: »Wie hältst du es denn mit der katholischen Kirche?« Ich glaube aber, dass diese Phase vorbei ist und dass inzwischen eine sehr rationale Auseinandersetzung über den therapeutisch nützlichen Kern in der Aufstellungsarbeit begonnen hat, nicht nur in der systemischen Therapie.

Aktuelle Entwicklungen in der Familientherapie »Family based Interventions«: Warum für viele Amerikaner »behavioral« und »systemisch« keinen Unterschied macht In der amerikanischen Literatur, auch in der Medizin, ist oft von »Family based Interventions« die Rede. Die in Deutschland geläufigen Schulunterscheidungen spielen eine geringe Rolle. Für viele amerikanischen Familientherapeuten liegen »behavior« und »systemic« eng beieinander: »Systemic« ist die Orientierung und »behavior« bedeutet, dass man relativ eng an der Verhaltensebene arbeitet.

Aufsuchende und multisystemische Arbeit: AFT, MST, BSFT, MDFT und Co Für den Haupttrend in den letzten Jahren halte ich die Entwicklung aufsuchender und multisystemischer Arbeitsformen: – AFT ist die Aufsuchende Familientherapie, also Familientherapie auf Hausbesuch-Basis (z. B. Conen, 2002). – MST ist die Multisystemische Therapie, wie sie eine Arbeitsgruppe um Chuck Borduin und Scott Henggeler in den USA entwickelt hat, vor allem bei jugendlichen Delinquenten (z. B. Henggeler et al., 2002). – BSFT ist die »Brief Strategic Family Therapy«, wie sie Jose Szapocznik und Kollegen in Miami bei drogengefährdeten Jugendlichen entwickelt haben (z. B. Szapocznik u. Kurtines, 1989). – MDFT ist die »Multi Dimensional Family Therapy« im Sinne von Howard Liddle (z. B. 2005). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Warum diese Kürzel? Es gibt einen ganz interessanten Trend bei den Amerikanern, Aspekte struktureller und strategischer Familientherapie (Minuchin und Haley) mit einigen bewährten Praktiken aus der verhaltenstherapeutischen Familientherapie zu kombinieren. Das Ganze wird zu einem Kompaktprogramm mit ungeheuer intensiven Interventionen zusammengefasst und eingehend evaluiert – und dann auch in gewisser Hinsicht als »Trademark-Therapie« vermarktet. Am Beispiel von MST kann ich das beschreiben: Eine Familie durchläuft solch ein MST-Programm für sechs Monate. Dieses bekommt sie nur dann verschrieben, wenn schon ziemlich viel im Argen ist, also Delinquenz, Drogenabhängigkeit, mehrere Probleme in einer Familie zusammenkommen. Diese Familie hat in der Woche ein, zwei oder drei Mal Kontakt mit ihrem Familientherapeuten. Der Familientherapeut ist mit anderen in einem Team sieben Tage die Woche, 24 Stunden im Zweifelsfall ansprechbar. Diese Gruppe von Familientherapeuten hat mindestens ein Mal die Woche eine intensive Supervision, der Supervisor ist auch für die Familientherapeuten über Telefon, vielleicht nicht nachts, aber doch sehr häufig, erreichbar. Das Ganze wird etwa über sechs Monate gemacht und wird – da es universitär angebunden ist – einer relativ intensiven Begleitforschung unterzogen. Die amerikanischen Ansätze, die ich erwähnt habe, folgten alle ungefähr diesem Muster: Nimm aus der Familientherapie, häufig mit einem Schuss Verhaltenstherapie, das, was sich bei dieser Störungsgruppe für deren Dynamik bewährt hat, mache ein intensives Paket daraus, beforsche es und mache daraus einen Markennamen, ein teilmanualisiertes fertiges Programm, das du dann in die Welt exportieren kannst. MST ist zum Beispiel in skandinavischen Ländern gerade ein »Exportschlager«.

Familientherapie und Selbsthilfegruppe kombiniert: Die Multifamilientherapie Nicht ganz so manualisiert, aber auch hochinteressant ist die Multifamilientherapie (MFT, z. B. Asen u. Scholz, 2009), eine Kombination aus Familientherapie und Selbsthilfegruppe von © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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meist vier bis acht Familien. MFT wurde sehr erfolgreich bei juveniler Magersucht eingesetzt, wo sich mehrere Familien für eine bestimmte Zahl von Sitzungen gemeinsam zum Essen treffen. Sie können sich vorstellen, dass ein Family-Lunch, also ein gemeinsames Mittagessen, ganz anders aussieht, wenn da eine Familie mit ihrer magersüchtigen Tochter zusammensitzt oder wenn da fünf Familien mit fünf magersüchtigen Töchtern zusammensitzen. Sie ahnen, was man da alles beobachten kann, wo man sich was abgucken kann, wo man getröstet sein kann zu sagen, bei den anderen ist es ja noch viel schlimmer; wo man dann auch hinterher mal fragen kann: Wie macht ihr denn das eigentlich? Diese Möglichkeiten nehmen natürlich exponentiell zu.

Gefühl und Bindung in der Familientherapie »Attachmentbased« bzw. »Mentalization-based Family Therapy« Auch Ansätze, die sich mit Bindung und dem Austausch von Gefühlen beschreiben, werden derzeit auch in ähnlichen Programmen entwickelt, in den USA etwa in der »Attachment-based Family Therapy« von Guy Diamond, in London in Zusammenarbeit des Analytikers Peter Fonagy und des Familientherapeuten Eia Asen in der »Mentalization-based Family Therapy« (z. B. Asen, 2010).

Evidenzbasierung: Nachgewiesene Wirksamkeiten Durch die Entwicklung der Evidenzbasierung in der Medizin ist der Druck größer geworden, empirisch, idealerweise in randomisiert-kontrollierten Studien nachzuweisen, dass der Ansatz wirksam ist. Wir haben (Sydow et al., 2007) für die systemische Therapie eine umfangreiche Expertise vorgelegt. An der Herausforderung dieser Evidenzbasierung reiben sich momentan viele Therapien, so auch die Familientherapie.

Indikationsgrenzen der Familientherapie Als Indikationsgrenzen der Familientherapie lassen sich folgende Aspekte beschreiben: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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– Familienmitglieder lehnen Teilnahme ab oder leben zu weit entfernt (»Familientherapie ohne Familie«). – Das offene Familiengespräch könnte hinterher physisch gefährlich werden (Gewalt in Familien). – Der Patient genießt in seiner Familie hohe Autonomie und kann Einzeltherapieergebnisse selbständig umsetzen (Einzelcoaching reicht). – Die Problemthemen des Patienten liegen außerhalb der familiären Lösungswelt (berufliches Coaching, Peergruppenprobleme).

Wann überhaupt die Familie einbeziehen? Adaptive statt selektiver Indikationskriterien Wann kann es sich für Therapeuten lohnen, die Familie einzubeziehen? Wir vertreten die Idee, dass die Indikation zur Psychotherapie nicht einem selektiven Modell folgen sollte: Ist das ein Kandidat für eine Psychoanalyse oder ist das einer für eine Verhaltenstherapie oder für eine systemische Therapie? Wir bevorzugen ein adaptives Modell: Wann ist mit wem welche Vorgehensweise auch in welchem Teil des Prozesses optimal? Aus dieser Idee heraus ist die Frage nie, ob Familientherapie ja oder nein, sondern wenn ja, dann wo und in welcher Dosis. Ich zähle im Folgenden fünf Situationen auf, wo ich diese Möglichkeit auch für Kollegen attraktiv finde, die überwiegend einzeltherapeutisch arbeiten. In meiner Zeit in der analytisch-orientierten Psychosomatik in Heidelberg – ich war zuvor schon Familientherapeut – habe ich mit großem Interesse mit den Kollegen diskutiert, wie man Familiengespräche in einen analytischen Ansatz, in ein stationäres Therapiekonzept gut integrieren kann.

Abhängig gebundene Indexpatienten Sie treten ins Wartezimmer und sagen: »Frau Meyer, bitte« – und da stehen zwei Frau Meyers auf, die eine ist 19, die andere scheint um die 40 oder 50 Jahre alt zu sein. Sie ahnen schon, dass es nicht allein um den gut individuierten Klienten gehen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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wird, der seine Probleme schildern will, sondern um zwei Menschen, die zumindest in dieser Situation den gleichen Leidensdruck haben. Kommen Patienten in Begleitung, ist dies ein Indikator dafür, dass nicht nur ein einzelner Mensch etwas als sein Problem definiert, sondern dass ein ganzer Clan oder zumindest eine Mutter mit daranhängt.

Familiäre Co- und Multimorbidität: Viele kränkeln gleichzeitig Ich glaube, die zweite gute Indikation ist, wenn viele in der Familie gleichzeitig in einer gemeinsamen Krisensituation kränkeln. Ich erinnere mich an meine Zeit in einer »Child Guidance Clinic« in Cambridge, Massachusetts (USA) 1979/1980: Ich behandelte das älteste Kind, meine Kollegin neben mir das zweite Geschwisterkind, die ältere Kollegin das dritte. Der Psychiater sah die Mutter und der Sozialarbeiter sah den Vater. Und manchmal stellten wir überrascht bei den Fallkonferenzen fest: »Ach, bei dir ist auch noch einer aus dieser Familie?« Ich glaube, dies ist kein solitäres Beispiel. Wenn Sie einmal schauen, bei wie vielen Ihrer Klienten sich wie viele Familienmitglieder derzeit noch andernorts in Therapie oder Beratung befinden, und wie gut Sie selbst über die Therapien der anderen und wiederum über die Auswirkungen »Ihrer« Therapie auf die Therapieprozesse der anderen Familienmitglieder informiert werden oder sind – dann lässt sich eventuell viel Unerwartetes und Ungewusstes entdecken. Dann kann zum Beispiel ein gemeinsames Familiengespräch oder in Ausnahmen eine FamilienbehandlerKonferenz helfen, diese Prozesse zu reflektieren und bewusst zu gestalten.

Familien, die sich als »Opfer« der Krankheit oder der Einzeltherapie eines ihrer Mitglieder beschreiben Familientherapie kann angezeigt werden bei Familien, die sich als Opfer der Krankheit Ihres Patienten beschreiben: Unser Sohn ist schizophren, was machen wir damit? Sie können aber © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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auch angezeigt sein bei Familien, die sich als Opfer der Einzeltherapie eines Mitgliedes beschreiben.

Exklusionsgefahr: Wenn Hospitalisierung und Ausgrenzung vermieden werden sollen Immer dann, wenn Sie in der Sorge sind, dass eine Hospitalisierung oder eine andere Form der Ausgrenzung eines Familienmitgliedes bedeutsam sein kann, kann ein Familiengespräch ein gutes Setting sein.

Wenn Familienmitglieder als hilfreiche »Co-Therapeuten« dienen können Ein Kollege von mir, der zugleich eine verhaltenstherapeutische und eine systemische Ausbildung hat, hat mir vor einiger Zeit erzählt, dass er die Flugängste einer Mutter, die beruflich fliegen musste, relativ erfolgreich unter anderem dadurch behandelt hat, dass er mit ihrem Kind Fliegen gespielt hat und die Mutter zusah. Das heißt, dass er mit dem Kleinen den Anflug in Frankfurt und alles, was man so in einer Desensibilisierung macht, übte, während die Mutter zuschaute. Die Mutter war begeistert und es brauchte keine Interventionen mit der Mutter hinterher, damit sie das selbst machen konnte. Das passiert also symbolisch im Zuschauen der Mutter in dieser Kindertherapie.

Wie verlaufen Familientherapien? Oft erweist sich als ideal, wenn das Erstgespräch als Familiengespräch durchgefüht werden kann; möglich ist die wechselnde Teilnehmerschaft – je nach Thema und Sitzung. Bei Kindern als Indexpatienten sind Kombinationen von Familiensitzungen, Spieltherapie, Elterncoaching und Paarberatung eine Option. Bei jugendlichen Indexpatienten hat sich bewährt, anfangs Familiengespräche, später »Individuationsgespräche« durchzuführen sowie längerfristig Peers hinzuziehen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Familientherapien verlaufen ganz anders als Einzeltherapien. Sie erfordern von allen Beteiligten sehr viel Aufwand. Familientherapiegespräche beginnen oft auf der Hinfahrt, wenn mehrere Familienmitglieder im Auto anreisen und sich fragen: »Was sollen wir denn da heute eigentlich besprechen?« Familientherapien sind statistisch seltener: Es ist viel unwahrscheinlicher, dass sich zwei, drei oder vier Menschen darauf verständigen, als dass einer sich allein zu einer Therapie entschließt. Deshalb finden nur ganz selten mehr als 20 Gespräche statt. Der Durchschnitt aller empirisch beobachtbaren Familientherapien wird bei vier bis fünf Gesprächen liegen, sie werden aber eher 90 Minuten dauern als 45. Gleichwohl lässt sich in diesem Setting etwas machen, was wir »lange Kurzzeittherapie« nennen. Auch Änderungsprozesse in der Familientherapie brauchen Zeit. Ein Zeitraum von ein bis zwei Jahren, aber möglicherweise in diesen 20 oder weniger Sitzungen, ist durchhaus häufig. Auch das sollte man nicht dogmatisieren. Ich denke, dass es höherfrequente Familientherapien geben kann und dass sie sinnvoll sind, sie sind aber bisher – fast unabhängig vom theoretischen Ansatz – eher selten und unwahrscheinlich. Familientherapien sind oft kurzfristig anstrengender, können aber manche »Schleifen« und »Durststrecken« verkürzen. Aus der Therapeutenperspektive erlebe ich ein Familientherapiegespräch meist als anstrengender als ein Einzeltherapiegespräch – meine Kolleginnen und Kollegen auch. Wir können nur schwer acht Familientherapiegespräche am Tag absolvieren, schon vier sind eine sehr hohe Dosis. Familientherapiegespräche können aber, insbesondere in stagnierenden Behandlungen, die Dauer von Einzeltherapien und besonders von Durststrecken in Einzeltherapien verkürzen. Es folgen ein paar Gedanken, wie Familientherapie im Gesundheitswesen, in den Medizinbetrieb gut integriert werden kann. Ärzte, also nichtpsychotherapeutische Ärzte, sind immer schneller als Psychotherapeuten. Sie brauchen keine 45 Minuten, sondern meist nur 10 oder 15 Minuten (wenn überhaupt), von großen Operationen abgesehen. Medizin ist ein »schnelleres« Geschäft und Psychotherapeuten müssen sich, wenn sie © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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keine Fremdkörper bleiben wollen, an diesen Rhythmus anpassen. Ich schildere vier Beispiele aus der Arbeit des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Heidelberg zwischen 1995 und 2009: 1. Meine Kollegin Professor Heike Stammer hat in der Frauenklinik Paar-Workshops nach Brustkrebs-Diagnoseeröffnung durchgeführt, einen Samstag lang, für die Patientin und deren Mann unter der Frage: Wie können sich auch die Männer auf die Erkrankung der Frau einstellen? Themen gingen von Fragen der Sexualität bis zu Fragen der Rollenübernahme (»Was kann der Mann in dieser Zeit an Zusatzaufgaben übernehmen, solange die Frau ausfällt?«). Ein Follow-up-Workshop wurde etwa drei Monate später durchgeführt – mit sehr guten Ergebnissen (Stammer, 2006). 2. Ungewollt kinderlosen Paaren, die sich In-vitro- und anderen Fertilisationstechniken unterziehen, wurden und werden von Tewes Wischmann Paarberatungen angeboten. Wer sich der modernen Reproduktionsmedizin unterzieht, hat pro Zyklus eine Erfolgschance von 15 % und damit eine Misserfolgschance von 85 %, erlebt also statistisch häufiger vor allem Misserfolge in einem sehr existenziellen Bereich. Viele Paare im Altersspektrum besonders zwischen 35 und 45 versuchen mit großer Energie, diesen Traum eines eigenen Kindes doch noch zu realisieren. Tewes Wischmann hat gute Erfahrungen mit einer Zwei-Sitzungs-Paarberatung als Standardangebot gemacht, denen dann bei Wunsch-Indikation eine längere Paartherapie von 10 Sitzungen folgen kann. Er hat die Erfahrung gemacht, dass damit aber die meisten dieser krisenhaften Entwicklungen ganz gut bewältigt werden können (Stammer, Verres u. Wischmann, 2004). 3. Die Lebend-Organspende zwischen Familienmitgliedern nimmt an Bedeutung zu. Ich habe acht Jahre lang mit Nephrologen, Urologen, Chirurgen und Psychosomatikern, Spender-Empfänger-Paaren gemeinsame, etwa 45-minütige Beratungsgespräche angeboten, um die Entscheidung noch mal auf ihre Beziehungsimplikationen zu prüfen. Das war ver© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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pflichtend: Wer ein Organ spenden/empfangen wollte, musste zu uns zum Gespräch kommen. Hinterher gab es die Möglichkeit einer Beratung im Krisenfall, die etwa von 5 % der Menschen, die wir vorher gesehen haben, auch angenommen wurde (Schweitzer, Seidel-Wiesel u. Verres, 2004). 4. Mit Matthias Ochs habe ich 1999 bis 2001 Familien mit Kindern, die an Migräne oder Spannungskopfschmerzen litten, in einem Setting von drei Sitzungen, sehr stark lösungsorientiert und mit vielen kurzzeittherapeutischen Ideen, beraten (Ochs et al., 2005; Ochs u. Schweitzer, 2005; Ochs u. Schweitzer, 2006).

Familientherapie im Gesundheitswesen – Erfahrungen aus dem SYMPA-Projekt Das SYMPA-Projekt: Systemisch-familienorientierte Akutpsychiatrie Auf eine Erfahrung möchte ich vertieft eingehen, auf das sogenannte SYMPA-Projekt. SYMPA (Akronym für: Systemtherapeutische Methoden in der Psychiatrischer Akutversorgung) ist ein Projekt, das aus der Idee heraus entstand, dass wir in erwachsenenpsychiatrischen Krankenhäusern – und zwar dezidiert nicht an Universitätskliniken, sondern in Krankenhäusern der Regelversorgung, und nicht in Kinder- und Jugendpsychiatrien, wo das schon häufig läuft – ausprobieren wollten, was ein familienorientierter, systemorientierter Ansatz in der Akut-Psychiatrie leisten kann. Wir haben dies über einen Zeitraum von inzwischen sieben Jahren in drei Krankenhäusern erprobt (Wunstorf, Paderborn, Gummersbach). Dort ist dieser Ansatz inzwischen gut etabliert. Wir konnten zudem nachweisen, dass sich durch diesen Berufsgruppen übergreifenden systemisch-familientherapeutischen Behandlungsansatz das Teamklima verbessert und sich die Mitarbeiterbelastung reduziert (Zwack u. Schweitzer, 2007a, 2007b). Wir konnten noch nicht nachweisen, dass sich die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Symptombelastung in einem durchschnittlich 28-tägigen stationären Aufenthalt durch SYMPA reduziert. Dies hängt aller Wahrscheinlichkeit damit zusammen, dass dieser Zeitraum für einen systemischen Ansatz zu kurz ist, der meines Erachtens eher einen niederfrequenten, aber mittellangen Therapieansatz darstellt.

Fallsupervision auf psychiatrischen Stationen in Anwesenheit des Patienten und seiner Angehörigen Ich will Ihnen kurz drei Praktiken schildern, die wir dort entwickelt haben und die ich als Supervisor auf psychiatrischen Stationen anrege und inzwischen auch zur Praxis gemacht habe. Wir haben angefangen, in Fall-Supervisionen nicht nur über die Patienten zu sprechen, sondern sie einzuladen – und zwar in zwei Modellen. 1. Das ursprüngliche Modell ist, sie als Zuhörer einzuladen: Das Team tauscht sich etwa darüber aus, was jetzt mit Herrn Meyer in den letzten zwei Wochen gewesen ist. Herr Meyer sitzt dabei und hört zu. Wenn er sehr aufgeregt ist, sitzen eine Krankenschwester oder ein Pfleger neben ihm und halten sozusagen die Hand. Der Patient kann dann sagen: »Ist ja unmöglich …« oder »Ja, ja, Sie haben Recht« – und das Team diskutiert. Natürlich weiß das Team, dass Herr Meyer dabeisitzt; deshalb wird es keine entmutigenden Äußerungen tätigen wie etwa: »Das ist ein abgebauter Schizophrener, da ist therapeutisch nichts mehr zu machen«, sondern sie werden anders, respektvoll darüber sprechen. Es wird auch nicht gesagt werden: »Der hat mich so bis aufs Blut geärgert letzte Woche, als er dann immer wieder ankam«. Das Sprechen über den Patienten wird sich also verändern, wenn dieser anwesend ist – was die sozusagen negative Nebenwirkung impliziert, dass der kathartische Effekt von Fall-Supervisionen entfällt (weshalb man das auch nicht immer machen sollte…). 2. Wir haben ein weiteres Setting entwickelt, wo das Team um mich als Supervisor und den Patienten herumsitzt, während ich diesen interviewe – im Wesentlichen stelle ich Fra© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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gen wie: »Wie geht es Ihnen mit dem Behandlungsteam? Was machen die mit Ihnen? Wie läuft das? Was hat sich denn bewährt? Was hat sich nicht bewährt? Was würden Sie sich wünschen, was hier mehr oder weniger gemacht werden sollte?« Und ich glaube – um einen traditionellen Begriff zu gebrauchen –, dass das ein sehr Compliance förderndes Vorgehen ist. Complianceförderung heißt nämlich vielleicht auch, dass die Mitarbeiter ihr Vorgehen noch einmal in Frage stellen.

Entlassbrief und Diagnose als Verhandlungsthema Noch nicht so häufig praktiziert ist das Vorgehen, dass Patienten vor der Entlassung ihren Entlassbrief ausgehändigt bekommen und darüber sprechen können, ob sie mit allem einverstanden sind oder ob sie meinen, dass darin irgendetwas anders beschrieben sei, als sie es selbst sehen – insbesondere auch die Diagnose. Aus einer systemischen Sicht sind Diagnosen einerseits Beschreibungen einer Realität, also eines psychopathologischen Zustandes; sie sind aber andererseits auch Konstruktionen einer sozialen Realität, die dann ihr Eigenleben entfalten (vgl. hierzu Schweitzer u. Ochs, 2003). Die Diagnose Schizophrenie ist etwa sehr hilfreich, wenn Sie für eine stationäre Behandlung eine Verlängerung um weitere zwei Wochen beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen begründen wollen. Sie ist unter Umständen nicht so hilfreich, um die Aufnahme in den örtlichen Tennisclub zu erreichen. Diagnosen haben also je nach Kontext ganz unterschiedliche soziale Wirkungen und wir haben in diesem Projekt versucht, die psychopathologische Korrektheit und die lebenspraktische Nützlichkeit der Diagnosen gedanklich voneinander zu unterscheiden und mit dem Patienten zu diskutieren: Was möchten die Patienten selbst? Welche Beschreibungen über das, was sie haben, soll wem mitgeteilt werden? Das ändert nichts daran, dass man Diagnosen unter Kollegen bespricht, sie dem Medizinischen Dienst und den Krankenkassen mitteilt – aber wem sonst? Wem nicht? Welche Diagnose wollen die Patienten in ihrer Familie, an ihrem Arbeitsplatz in Umlauf bringen? © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Patienten und Angehörige als »Konzeptberater« ihrer Behandler Ich begleite häufig Teamentwicklungsprozesse auf psychiatrischen Stationen, bei denen es um die Frage der Weiterentwicklung des therapeutischen Konzeptes geht. Wenn Teams in diesem Zusammenhang äußern: »Wir arbeiten nach diesem oder jenem therapeutischen Konzept«, dann frage ich gern: »Merken denn das auch Ihre Patienten?« Ein Team äußerte einmal: »Das wissen wir eigentlich auch nicht so genau.« Da haben wir mehrfach Patienten zu einem Interview in die Teamentwicklungsmaßnahme eingeladen, meistens eine Gruppe, die ich dann fragte: »Erzählen Sie uns bitte, wie die Mitarbeiter hier mit Ihnen arbeiten. Wie kommt das bei Ihnen an? Was würden Sie den Mitarbeitern empfehlen, wie die künftig mit Ihnen arbeiten sollten?« Man kann Patienten auf diese Weise als »Supervisoren« eines stationären Teams nutzen.

Familientherapie im Gesundheitswesen – Wie ist sie verankert? Wo ist Familientherapie im Gesundheitswesen derzeit verankert? Nach meiner Wahrnehmung sehr häufig in der Kinderund Jugendpsychiatrie, punktuell und in schwer vorhersagbarer Art und Weise auch in Akut- und Rehakliniken der verschiedenen Fächer, sehr wenig an Universitätskliniken, was für die Forschung klare Nachteile enthält und die Notwendigkeit verstärkter Forschungsanstrengungen nahelegt. Wahrscheinlich hat die relative schwache Institutionalisierung der Familientherapie im Gesundheitswesen einen außerordentlichen Boom der systemischen Familientherapie in der Jugendhilfe gefördert: Aufsuchende Familientherapie wird über die Jugendhilfe nach KJHG gefördert und nicht über das SGB. In der Jugendhilfe ist systemische Familientherapie sehr verbreitet, in der Erziehungsberatungsstelle sicherlich am ehesten. Es gibt bekanntlich verschiedene Arten, Familientherapie zu praktizieren – systemische © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Therapie ist eine davon, wahrscheinlich derzeit auch bei weitem die häufigste. Systemische Therapie ist mit dem Beschluss des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie zur Approbationsausbildung zugelassen, aber bislang noch nicht als Kassenleistung.

Familientherapie als Brücke zwischen Gesundheitswesen und Sozialwesen Familientherapie kann meines Erachtens als eine Brücke dienen, um Sektoren miteinander zu verbinden, die heute noch unverbunden nebeneinander stehen. Im Folgenden hierzu drei Beispiele. 1. Der »Marlboro Family Service« in London macht momentan unter den deutschen Familientherapeuten Furore. Dies ist ein großes Haus: Da gibt es einen Dienst für Erwachsenenpsychotherapie, einen Dienst für Kinderpsychotherapie, eine Schule, eine Tagesklinik, die vom Gerichtswesen bezahlt wird. Gemeinsames therapeutisches Mittel ist die Multifamilientherapie. Am bekanntesten geworden ist die Familienschule, die so funktioniert, dass Kinder, die als nicht mehr beschulbar erklärt worden sind, dort vier Tage in der Woche in eine Schule gehen, in die sie mindestens ein Elternteil begleiten muss. Es geht dabei um Fragen wie: Wie mache ich Hausaufgaben mit meinem Kind? Haue ich ihm eine runter, wenn ich einen Rechtschreibfehler gesehen habe? Was interessant ist, dass hier das Schulsystem und das KinderpsychotherapieSystem in einem Haus eine gemeinsame Institution betreiben, die dann auch noch die Herkunftsschulen und vor allem die Eltern, mindestens ein Elternteil, in die Mitverantwortung nimmt. Das geht in England schnell, weil das alles innerhalb des »National Health Service« läuft, das kommt alles aus der Staatskasse, es ist insofern leichter als mit dem deutschen Finanzierungssystem. 2. In der Stuttgarter Gemeindepsychiatrie arbeiten inzwischen die sehr familienorientierte Sozialpsychiatrie der evange© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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lischen Gesellschaft und eine Rehabilitationsklinik trägerübergreifend zusammen. 3. Auf der Schwäbischen Alb hat sich ein Netzwerk zur Behandlung von Anorexie-Patienten gegründet, das mit einer sehr familienorientierten Perspektive gemeinsame Leitlinien entwickelt und gemeinsame Fallkonferenzen praktiziert, egal, ob die Patientin gerade in der ambulanten Einzeltherapie ist, ob sie zum Wiegen zum Hausarzt geht oder ob sie vorübergehend stationär eingewiesen wurde.

Zukunftshoffnungen: Was ich mir als Familientherapeut wünsche Ich ende mit kurzen Zukunftshoffnungen: – Ich wünsche mir einen niedrigschwelligen Zugang zu familienorientierten Dienstleistungen für alle Menschen in diesem Lande. Wir haben einen solchen partiell etwa in der Jugendhilfe oder in der Erziehungsberatung. Ich wünsche mir das aber auch im Gesundheitswesen. – Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, Einzeltherapien noch mehr als heute in ihren familiären Kontexten in ihren Nebenwirkungen zu reflektieren und gut abzustimmen. Hilfreich hierfür ist, wenn unabhängig von dem Grundverfahren die familientherapeutische Grundkompetenz aller Psychotherapeuten in der Aus- wie in der Weiterbildung gefördert wird. – Ich wünsche mir naturgemäß, dass systemische Therapie demnächst als Kassenverfahren zugelassen wird. – Und zum Schluss würde ich mir wünschen, und das ist mit dem familientherapeutischen Einsatz eng verbunden, dass die Grenzen zwischen den Versorgungsbereichen künftig durchlässiger werden.

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Forum »Die Familie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit«

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Ulrich Müller

Einführung in das Forum

Wenn dieser Tagungsband den Titel trägt »Sehnsucht Familie in der Postmoderne«, so lässt die Formulierung des Themas deutlich werden, dass sich das Bild von der Familie in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert hat. Diese Veränderungen gehen nicht zuletzt auch auf technische Entwicklungen zurück, die zu Einstellungsveränderungen der Menschen sich selbst und ihrer Umgebung gegenüber, das heißt zu einer veränderten Selbst- und Fremdwahrnehmung, geführt haben. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass der Zugang zu uns selbst und zu unserer Umgebung immer auch geprägt ist von den Mitteln und Möglichkeiten, mit denen wir unsere Lebenswelt erkennen und auch begreifen, d.h. wie wir Zugang zur Lebenswelt bekommen oder auf welchem Wege die Welt Eingang bei uns findet. Das technisch Mögliche ist dabei durchaus auch zu denken als das vom Menschen Gewünschte, auch wenn es ethische Fragen neu zu denken aufgibt. Es ist aber auch zu überlegen, inwiefern die biotechnische Entwicklung Fragen an die Grenzen des menschlichen Begehrens selbst aufwirft. Als Psychotherapeuten erfahren wir in unserer Praxis, wie massiv technische und naturwissenschaftliche Innovationen die Beziehungen der Individuen zu sich selbst und zueinander verändern, auch wenn wir oft Konfliktstrukturen darin wiederfinden, die sich im Grunde immer wieder wiederholen. Die Bilder aber verändern sich und damit verändert sich auch unser Erleben. Der medizintechnische Fortschritt in der Fortpflanzungstechnologie schafft neue Möglichkeiten für kinderlose Paare, Nachkommen zu bekommen, die bisher nicht denkbar schienen. Die biotechnischen Entwicklungen produzieren gleichzeitig © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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dazu auch Phantasmen und schüren Erwartungen, die zu komplexen Veränderungen für die zwischenmenschlichen Beziehungen, hier insbesondere für die Dynamik der gegründeten Familie (»Familienplanung«), führen können. Als Kindertherapeut habe ich es wiederholt mit Kindern zu tun, die aufgrund technischer Möglichkeiten auf die Welt gekommen sind und die mit familiendynamischen Konflikten belastet sind, die in ihrer Struktur nicht neu sind, bei deren Bearbeitung jedoch eine Dimension hinzutritt, die für viele Beteiligte überraschend ist: Das technisch Mögliche bereitet den Boden für phantastische Idealisierung. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt schafft Imaginationsräume, die fatale Verkennungen und dramatische Konflikte nach sich ziehen können, da sie unbewusst auch das latente Phantasma einer kontrollierbaren Zukunft nähren. Phantasien und Idealisierungen der eigenen Nachkommen prägten zwar schon immer die Beziehungen der Generationen zueinander und führten zu Konflikten aufgrund unerfüllter Erwartungen und Ansprüche zwischen Eltern und Kindern, doch neue biotechnische Entwicklungen nähren nicht nur hartnäckige derartige Konfliktmuster; es scheint vielmehr, als sei die Entwicklung der Biotechnologie selbst Ausdruck einer Phantasmagorie, wonach insbesondere die Planung der eigenen Nachkommenschaft über die eigene Vergänglichkeit hinaus bewerkstelligen lasse. Die Bürde für nachkommende Generationen scheint dadurch eher zu wachsen. Vielen Paaren ist es inzwischen möglich, durch die Unterstützung unterschiedlicher wissenschaftlich-technischer Hilfsmittel Kinder zu bekommen. Einige dieser Möglichkeiten werden vermehrt genutzt, doch einige Möglichkeiten (z. B. Leihmutterschaft) sind durch das Gesetz verboten, werden jedoch auch hier illegal genutzt. Wie andernorts auch werfen die neuen medizintechnischen Innovationen ethische Fragen auf, die sich als ungelöste Konflikte in der psychotherapeutischen Praxis wieder finden. Walter Benjamin variierend hat sich die künstlerische Schöpfungsphantasie mit dem technischen Fortschritt verknüpft und erzeugt Phantasien von der Schaffung von einer »eigenen Fami© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Einführung in das Forum

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lie«, die potenziell mit dem Zeugungsvorgang schon planbar sei. Die Zeugung selbst wird zu einem technischen Vorgang. Zeugung ist ein technisch planbarer Akt und die Schwangerschaft ein weitgehend kontrollierbarer Prozess geworden, der permanent von seinen Teilnehmern Entscheidungen erfordert. Das wird zu einer nachhaltigen Veränderung des Familienbildes führen. Die impliziten Fragen nach den Umständen einer »Zeugung ohne sexuelles Begehren« wird öffentlich kaum diskutiert, hat jedoch sicher weitreichende Konsequenzen für die Beziehungen innerhalb der Familie selbst. Für die Psychotherapie wird es zunehmend bedeutsamer werden, sich angesichts der fortschreitenden biotechnischen Möglichkeiten der Fortpflanzung mit den psychischen Anteilen und den Folgen dieser Optionen der menschlichen Fortpflanzung zu befassen. Nicht zuletzt auch deswegen, da alles, was möglich sein kann, auch einer Entscheidung für oder gegen diese Möglichkeit bedarf. Ich freue mich, dass wir für die beiden Beiträge zu dieser Thematik zwei so kompetente Wissenschaftlerinnen gefunden haben, die zu diesen Fragen eigene Forschungen aus verschiedenen Blickwinkeln betrieben haben.

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Giselind Berg

Die Technisierung der Zeugung

Zusammenfassung Mit der Einführung der In-vitro-Fertilisation (IVF) in die Sterilitätsbehandlung, um so die Kinderlosigkeit unfruchtbarer Frauen zu überwinden, setzte sich in der Reproduktionsmedizin eine außerordentliche Expansion in Gang. Die kontinuierliche Fortentwicklung der Methode auf allen vier Behandlungsstufen, die ständige Indikationserweiterung – auch um nichtmedizinische Indikationen – die in einigen Ländern praktizierte Verbindung mit der Klonforschung sowie eine weltweit steigende Inanspruchnahme sind Beispiele dieses dynamischen Prozesses. Während dank medialer Präsenz die Chancen der extrakorporalen Befruchtung sehr bekannt sind, gilt das für die Ergebnisse wie die Risiken der Behandlung für Frauen und Kinder nicht in gleicher Weise. Als kontrovers gelten in Deutschland nach wie vor die Verwendung fremder Eizellen (Eizellspende) und die Präimplantationsdiagnostik. Ging es zunächst darum, ein Kind zu bekommen, rückt zunehmend das künftige Kind mit seinen Eigenschaften in den Blick. Sei es, um Paaren mit hohem genetischem Risiko die Möglichkeit auf ein Kind zu eröffnen, das frei von dieser Krankheit ist; sei es, um ein Kind zu zeugen, welches das von den Eltern gewünschte Geschlecht hat oder als Organspender für ein schwerkrankes Geschwister fungieren kann. Angesichts der internationalen Entwicklungen in diesem Feld – stets mit dem damit erfüllbaren Kinderwunsch begründet – ist eine breite Diskussion um die sozialen Folgen der Reproduktionsmedizin wünschenswert.

Vorbemerkungen Mit der Geburt des ersten Kindes, das außerhalb des weiblichen Körpers gezeugt wurde, haben sich die Vorstellungen über die Entstehung des Menschen verändert. Damals kaum vorstellbare Entwicklungen sind längst soziale Realität geworden. Die Ein© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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führung der In-vitro-Fertilisation in die Sterilitätsbehandlung hat eine medizintechnische Entwicklung ausgelöst, deren Praxis und Perspektiven heute weit über die seinerzeit formulierten Ziele hinausreichen. Die IVF – so erklärten 1978 Robert Edwards und Patrick Steptoe, die »wissenschaftlichen Väter« von Louise Brown – ist ein Verfahren, das eingeführt wird, um das Leid unfruchtbarer Frauen zu lindern und Frauen mit fehlenden oder nicht durchlässigen Eileitern zu einem leiblichen Kind zu verhelfen. Der Beginn der IVF wird gewöhnlich auf 1978 datiert; die Arbeit begann sehr viel früher, spätestens 1969, als Edwards, ein junger Embryologe und Tierarzt, es geschafft hatte, die erste menschliche Eizelle in vitro zu befruchten (Ochs u. Schweitzer, 2005). Die Reproduktionsmedizin war wegen der ihr zu Grunde liegenden ethischen Fragen von Beginn an auch Gegenstand gesellschaftlicher Kontroversen, inzwischen ist sie Teil der medizinischen Normalität. Ein Kennzeichen ist die enorme Dynamik, die sich auf unterschiedlichen Ebenen beobachten lässt. Das gilt für: – die Zunahme von IVF-Zentren, der Nutzerinnen sowie der Behandlungen; – die Fortentwicklung der Methode, wie zum Beispiel die Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), die Kryokonservierung oder der Einsatz fremder Keimzellen, die Leihmutterschaft; – die Erweiterung der Indikationen, zum Beispiel die Behandlung männlicher Unfruchtbarkeit, die Hinzunahme nichtmedizinischer Indikationen wie den Kinderwunsch lediger oder lesbischer Frauen sowie die sozial motivierte Geschlechtswahl des Kindes (sog. »social sexing«), die Verbindung von IVF und Gentechnik; – die Position einer Schnittstelle zwischen medizinischer Versorgung und Forschung (Eizellen als Ressource für die embryonale Stammzellforschung oder »therapeutisches Klonen«).

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Die Kinderlosigkeit Das Thema hat verschiedene Namen: Kinderlosigkeit, Unfruchtbarkeit oder Sterilität. Nicht zuletzt durch die Entwicklung und Verbreitung der Reproduktionsmedizin hat das Thema Kinderlosigkeit in den letzten Jahren eine erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, nachdem sie vorher lange ein eher verschwiegenes Thema war. Meldungen über einen dramatischen Rückgang der Geburten in den Industrieländern oder die Bevölkerungs- und Rentenentwicklung tun ein Übriges. Betrachtet man die Situation in Deutschland, lässt sich eine Zunahme der Unfruchtbarkeit aufgrund der amtlichen Statistik nicht belegen. Denn sie erfasst lediglich in der aktuellen Ehe geborene Kinder, ist also angesichts der wachsenden Zahl von Scheidungen und nichtehelichen Geburten wenig aussagefähig. Feststellbar ist allerdings die zunehmende Zahl von Frauen ohne Kinder, sie wird jedoch auf Grund methodischer Probleme häufig überschätzt. Als kinderlos gelten Frauen, die zum Befragungszeitpunkt (noch) keine Kinder haben, aber noch welche bekommen können, oder deren Kinder nicht im Haushalt leben bzw. über 18 Jahre alt sind. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hat unlängst für Frauen des Jahrgangs 1955, also Frauen, deren fertile Phase abgeschlossen ist, einen Anteil von 22 % Kinderlosen ermittelt (Höhn, Ette u. Ruckdeschel, 2006). Hierbei ist jedoch zwischen unfreiwilliger und freiwilliger Kinderlosigkeit zu unterscheiden – und vor allem letztere nimmt seit Jahren zu (Dobritz u. Schwarz, 1996). In medizinischen Darstellungen wird das Thema als Sterilität bezeichnet und bedeutet, dass es bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr innerhalb von zwölf Monaten – nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) innerhalb von zwei Jahren – nicht zu einer Schwangerschaft gekommen ist. Folgt man den Aussagen einer europäischen Studie, kommen Phasen verringerter Fruchtbarkeit häufiger vor, Unfruchtbarkeit kann ein vorübergehendes Problem sein. Etwa ein Drittel der befragten Frauen hat die Erfahrung gemacht, dass sie innerhalb eines Jahres nicht schwanger wurden, aber – bis auf ein Fünftel – danach © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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noch Kinder bekommen haben (Helfferich u. Küppers-Chinnow, 1996). Die medizinische Literatur gibt die Zahl unfruchtbarer Paare üblicherweise mit 10–15 % an. Epidemiologische Studien kommen allerdings zu dem Ergebnis, dass der Anteil der freiwillig Kinderlosen in Deutschland bei circa 10 %, die unfreiwillige Kinderlosigkeit bei 3 % liegt, im Osten Deutschlands höher als im Westen (Stöbel-Richter u. Brähler, 2006). Die Angaben zur Zahl der Betroffenen sind nicht selten interessengeleitet, so nennt die Pharmaindustrie 2,5 Millionen unfreiwillig kinderlose Paare, andere Autoren gehen von einer Million Paaren aus (Wischmann, 2006), pro Jahr nehmen etwa 200.000 Paare reproduktionsmedizinische Hilfe in Anspruch (Diedrich, 2008). Kinderlosigkeit ist ein mehrdimensionales Thema, mit vielen Facetten, die zu berücksichtigen sind: medizinische, psychologische, rechtliche, soziale wie finanzielle. Unfreiwillige Kinderlosigkeit kann verschiedene Gründe haben, außer medizinischen Ursachen kommt den jeweiligen Lebensbedingungen eine nicht unerhebliche Rolle zu. Immer mehr Frauen schieben die Geburt ihres ersten Kindes in ein höheres Lebensalter auf, in eine Phase, in der die natürliche Fruchtbarkeit nachlässt. Auf diese Weise kann die zunächst gewollte Kinderlosigkeit in eine ungewollte, in Sterilität, übergehen. Außerdem können weitere Faktoren eine Rolle spielen, wie etwa die hohen Mobilitätsanforderungen durch den Beruf oder die Frage einer Partnerschaft. Für Frauen mit Kinderwunsch stellt sich nicht nur die Frage, ob sie einen Partner haben, sondern ob er auch ein Kind möchte. In einer repräsentativen Befragung gaben 23 % der Männer an, sich kein Kind zu wünschen, während 15 % der Frauen ohne ein Kind leben wollen (Höhn, Ette u. Ruckdeschel, 2006). Die Reproduktionsmedizin gilt – trotz der Komplexität der Kinderlosigkeit – nicht zuletzt durch ihre öffentliche bzw. mediale Präsenz als Hauptadressatin für eine Problemlösung und erscheint als Anwalt der Kinderwunschpaare. Im Hinblick auf die bevölkerungspolitische Debatte stellt sie einen Beitrag, wenn nicht sogar die Lösung für die sinkende Geburtenrate in Aussicht. Sie fordert – in Kooperation mit Pharmafirmen und Patientengruppen – einen uneingeschränkten Zugang zur Behand© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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lung auch für Frauen ohne medizinische Indikation, wie allein stehende oder lesbische Frauen. Der IVF-Prozess besteht aus vier Schritten: – der Stimulation, bei der die Eierstöcke der Frau durch Hormongaben angeregt werden, mehrere Eizellen zu produzieren (Superovulation). Zuvor wird häufig zunächst die körpereigene Hormonproduktion unterdrückt (Down Regulation), um sie danach kontrolliert zur Reifung von Eibläschen anzuregen. Das Heranwachsen dieser Follikel wird mit Hilfe von Ultraschall überwacht. – der Punktion, also der Eizellentnahme, die vorgenommen wird, wenn sich im Ultraschall sprungreife Follikel zeigen. – der Fertilisation, bei der die Eizellen mit dem aufbereiteten Sperma in einer Petrischale zur Befruchtung zusammengebracht werden. Ist die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle noch nicht ganz abgeschlossen, können die befruchteten Eizellen als sogenannte Vorkerne (Pronuclei) eingefroren werden, da das Embryonenschutzgesetz (ESchG) nicht erlaubt, mehr als drei Embryonen zu erzeugen und zu transferieren. – der Embryotransfer von maximal drei Embryonen. Wegen des Mehrlingsrisikos empfiehlt die Bundesärztekammer, bei Frauen von unter 35 Jahren nur zwei Embryonen zu transferieren (Bundesärztekammer, 1998).

Die internationale Entwicklung der Reproduktionsmedizin Mittlerweile wird geschätzt, dass weltweit inzwischen mehr als drei Millionen Kinder in Folge einer IVF zur Welt gekommen sind (de Mouzon, 2006) und mehr als 40 Millionen Paare versucht haben, auf diese Weise Eltern zu werden (Schultz u. Williams, 2002). Die Anzahl der Behandlungen ist in allen Industrieländern angestiegen, ohne dass eine wesentliche Zunahme der Unfruchtbarkeit feststellbar wäre. Dies lässt sich zumindest für die USA sagen, wo die entsprechenden Daten regelmäßig erho© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ben werden und eine wesentliche Zunahme der Sterilität nicht festgestellt werden konnte. In den letzten Jahren wird eher ein Rückgang der Unfruchtbarkeit verzeichnet (Stephen u. Chandra, 2006). Das Europäische Register (2005) weist für 30 Länder 923 IVF-Arbeitsgruppen aus; sie berichten über 418.111 Behandlungszyklen, dabei sind neben IVF und ICSI auch Eizellspende und Präimplantationsdiagnostik eingeschlossen (Nyboe Andersen et al., 2009). In den USA, dem Land, wo weltweit die meisten Verfahren der assistierten Reproduktion (ART) durchgeführt werden (De Mouzon et al., 2009), ist die Anzahl der Geburten zwischen 1998 und 2003 um 67 % gestiegen (Dickey, 2007), 2006 wurden 138.198 Behandlungszyklen dokumentiert, die zu 41.343 Lebendgeburten führten (Sundaram et al., 2009). Die Reproduktionsmedizin stellt dort mittlerweile einen erheblichen Wirtschaftsfaktor dar, dem industrielle Dimensionen zugeschrieben werden. Für Deutschland liegen dazu keine vergleichbaren Angaben vor.

Die Entwicklung in Deutschland Die IVF wurde zu Beginn der 1980er Jahre in beiden Teilen Deutschlands eingeführt. In der DDR war die Behandlung auf sechs universitäre Zentren konzentriert, während 1986 in der (alten) Bundesrepublik 36 IVF-Arbeitsgruppen tätig waren. Die Dynamik der IVF und ihrer Modifikationen zeigt sich in einer enormen Erweiterung sowohl der Angebote wie ihrer Adressaten. Um die Wirksamkeit der Methode zu steigern, wurden von Anbeginn auf allen Stufen der IVF-Behandlung Veränderungen vorgenommen. Bereits Ende der achtziger Jahre zeichnete sich eine deutliche Erweiterung des Anwendungsgebietes ab (Barbian u. Berg, 1997). Man versuchte in den häufigen Fällen, wo es bei der IVF nicht zu einer Befruchtung kam, mit Hilfe von Enzymen oder Laser, den Spermien mechanisch den Weg in die Eizelle zu bahnen. Diese zunächst wenig erfolgreichen Bemühungen führten zu Beginn der neunziger Jahre zur Einführung der sogenannten Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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(ICSI), einer Methode, bei der aus dem Ejakulat eine einzelne Samenzelle mit Hilfe einer Mikropipette entnommen und direkt in das Innere der Eizelle (Zytoplasma) injiziert wird (Palermo, Joris, Devroey u. van Steirteghem, 1992). Nachdem 1992 eine belgische Arbeitsgruppe über die Geburt eines so erzeugten Kindes berichtet hatte, wurde diese Technik in kürzester Zeit weitgehend ohne vorherige Prüfung im Tierversuch in die Praxis übernommen. Die Tests an Primaten fanden erst zehn Jahre später statt. In Fällen schwerer männlicher Unfruchtbarkeit, zum Beispiel wenn Spermien im Ejakulat vollkommen fehlen, können im Rahmen der ICSI ebenfalls Spermien verwendet werden, die aus Hoden oder Nebenhoden entnommen wurden, auch Spermienvorstufen werden eingesetzt. Aus den USA wird über die Verwendung von posthum entnommenen Spermien – und daraus entstandenen Kindern – berichtet (Belker, Swanson, Cook, Carillo u. Joffe, 2001). In Deutschland hat sich ICSI ebenfalls als erfolgreiches, wenn auch invasives Verfahren schnell durchgesetzt. Als Indikation galt männliche Unfruchtbarkeit und, wie in den Richtlinien zur künstlichen Befruchtung (1998) ausgeführt, wenn aufgrund »anderer Gegebenheiten die Herbeiführung einer Schwangerschaft höchst unwahrscheinlich ist« (Bundesärztekammer, 1998). In der Praxis waren dies meist ein bis zwei gescheiterte IVF-Versuche. Erstmalig 1994 dokumentiert, lag vier Jahre später nach Angaben des Deutschen IVFRegisters die Zahl der Mikroinjektionen bereits um ein Drittel über der Zahl der IVF-Behandlungen (D.I.R., 2000). Die Reproduktionsmedizin verzeichnet ein erhebliches Wachstum, allein zwischen 1997–2003 ist die Zahl der Zentren von 70 auf 116 angestiegen, die Behandlungen haben sich mit 105.000 Zyklen in diesem Zeitraum verdreifacht. Durch die Halbierung der Kassenleistung in Folge des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes kam es in 2004 zu einem drastischen Absinken der Behandlungen auf knapp 60.000 Zyklen, was dennoch fast einer Verdopplung innerhalb von sieben Jahren entspricht. Drei Jahre später wurden in 118 IVF-Zentren bei über 42.000 Frauen weit mehr als 64.000 Behandlungszyklen durchgeführt (D.I.R., 2008). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Ergebnisse der Behandlung Betrachtet man die Ergebnisse der Behandlung, kam es in 2007 durchschnittlich in circa 27 %, also bei etwas mehr als jeder vierten Frau, der Eizellen für eine IVF oder ICSI entnommen wurden, zu einer Schwangerschaft (D.I.R., 2008). Es ist zu berücksichtigen, dass die Schwangerschaftsrate altersabhängig ist, bei jüngeren Frauen liegt sie höher. Doch nicht alle Schwangerschaften führen zur Geburt eines Kindes. Etwa 23 % der Schwangerschaften geht durch Aborte oder Eileiterschwangerschaften verloren. Während aus medizinischer Sicht bereits das Erreichen einer Schwangerschaft den Erfolg markiert, liegt das Ziel der Behandlung für die Paare in der Geburt eines Kindes. Als Orientierungsgröße gilt die sogenannte »Baby-take-homeRate«, sie gibt an, wie viele Behandlungen prozentual zur Geburt (mindestens) eines Kindes führen. Für das Jahr 2007 dokumentiert das IVF-Register insgesamt 9539 Geburten, daraus ergibt sich eine Baby-take-home-Rate von circa 18 % für IVF und ICSI, rechnerisch führt also etwa jeder fünfte Versuch zur Geburt eines Kindes. Fand in 2004 jede zehnte Behandlung ohne eine medizinische Indikation bei Mann oder Frau statt, hat sich inzwischen dieser Anteil noch leicht erhöht (D.I.R., 2004; D.I.R., 2008).

Die Risiken für Frauen und Kinder Während die Chancen der extrakorporalen Befruchtung in der Öffentlichkeit sehr bekannt sind, gilt das für die Risiken keineswegs. Unabhängig von der Mehrlingsthematik wird seit der Einführung der IVF und insbesondere der ICSI gefragt, inwieweit damit möglicherweise Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder verbunden sein könnten. Für Frauen ist – neben der enormen psychischen Belastung durch die Behandlung – vor allem die medikamentöse Stimulation zu nennen, mit deren Hilfe die Eierstöcke angeregt werden sollen, mehr als einen Follikel reifen zu lassen. Die hohen Hor© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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mongaben können zu einer Überstimulation der Eierstöcke führen, dem Überstimulationssyndrom, das in seiner milden Form zu Kopfschmerzen, Übelkeit, Bauchschmerzen, Schwellungen der Eierstöcke, in seiner seltenen, lebensbedrohlichen Form (0,5–6 %, Delvigne u. Rozenberg, 2002) zu Flüssigkeitsansammlungen im Bauchraum (Aszites), Nierenversagen oder zum Tode führen kann (Pearson, 2006). Beim Überstimulationssyndrom handelt es sich um eine iatrogene Komplikation einer nicht lebensbedrohlichen Krankheit (Budev, Arroliga u. Falcone, 2005). Auch die zukünftige Fruchtbarkeit der Frau kann beeinträchtigt werden, wenn in Folge eines schweren Überstimulationssyndroms ein operativer Eingriff notwendig wird. Bei der Entnahme der Eibläschen besteht neben dem Narkoserisiko die Gefahr einer Gefäßverletzung. Ein weiteres Thema sind mögliche Langzeitfolgen der Medikamente für die Gesundheit der Frau; die Entstehung hormonabhängiger Karzinome wird trotz zahlreicher Studien nach wie vor kontrovers diskutiert. Nach derzeitigem Kenntnisstand soll für Frauen, die mit ovulationsauslösenden Medikamenten behandelt wurden, kein erhöhtes Risiko für Ovarial- oder Endometriumkarzinom bzw. Brustkrebs bestehen. Die Aussagen der diversen Studien sind widersprüchlich, während einerseits bei Frauen, die mit Clomifen behandelt wurden, ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs (Lerner-Geva, Keinan-Boker, Blumstein u. Olmar, 2006; Jensen, Sharif, Olsen u. Kjaer, 2008) festgestellt wurde, können dies andere Analysen nicht bestätigen (Venn, Watson, Bruinsma, Giles u. Healy, 1999; Klip, Burger u. van Leeuwen, 2002). Ähnliches gilt für Eierstock- oder Gebärmutterkrebs, sowie weitere, nicht gynäkologische Krebsformen, zum Beispiel der Schilddrüse (Brinton 2007; Cetin, Cozzi u. Antonazzo 2008). Diese Themen sind in der Gesellschaft bislang kaum präsent. Erst seit der Diskussion um die Eizellspende für die Klonforschung hat in den USA die Thematik öffentliche Aufmerksamkeit gefunden (Pearsons, 2006). Schwangerschaften nach assistierter Zeugung gehen öfter mit Komplikationen einher. Dies gilt in besonderer Weise für Mehrlingsschwangerschaften, die zu den Charakteristika der extra© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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korporalen Befruchtung gehören und immer ein Risiko für Mutter und Kind darstellen. Es besteht zum Beispiel eine höhere Wahrscheinlichkeit für Schwangerschaftsdiabetes, Bluthochdruck, Bauchhöhlenschwangerschaften, Aborte oder Frühgeburten. Als Risikoschwangerschaften führen sie häufiger zu Kaiserschnittentbindungen. Für die Kinder besteht das Risiko erhöhter perinataler Mortalität sowie zu früh – bei Zwillingen zu 50 %, bei Drillingen fast zu 100 % – und untergewichtig zur Welt zu kommen. Hinzu kommt die höhere Morbidität frühgeborener Kinder. Etwa 30 % der Drillinge sind mit leichten bis schweren Handicaps belastet, lediglich 70 % der Drillingskinder können nach teilweise wochenlanger Intensivbetreuung den Eltern gesund übergeben werden (Diedrich et al., 2008). Der Anteil der Mehrlingsgeburten lag nach IVF und ICSI bei circa 22 % (D.I.R., 2008) im Vergleich zu 1,2 % bei spontan entstandenen Kindern (Hepp, 1998). In den USA ist es zwischen 1980 und 1991 zu einem 400-fachen Anstieg der Drillingsgeburten bei Frauen in den Dreißigern und einem 1000 %-igen Anstieg bei Frauen, die älter als 40 Jahre sind, gekommen (Braude, 2002). Die Empfehlung der Amerikanischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (1998), zur Verringerung der Mehrlingsgeburten weniger Embryonen zu transferieren, führte zu einer Senkung der Mehrlingsrate auf circa 30 %, allerdings nicht im gewünschten Umfang (Dickey, 2007). Die Eltern der Mehrlinge sehen sich nach der Geburt mit verschiedenen Anforderungen konfrontiert, vor allem im Hinblick auf die Betreuung der Kinder. Gleichzeitig wird über depressive Störungen der Mütter und Belastungen der Paarbeziehung berichtet. Für die Kinder werden unter anderem neben der erhöhten Fehlbildungsrate auch Entwicklungsverzögerungen sowie Probleme mit der Identitätsentwicklung genannt (Bindt, 2001). Neben diesen Risiken kommen bei der Anwendung von ICSI eine Reihe spezifischer Risiken hinzu. Die Hauptbedenken beziehen sich auf die Tatsache, dass bei der ICSI beinahe alle natürlichen Selektionsmechanismen, die bei einer natürlichen Be© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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fruchtung zum Tragen kommen, ausgeschlossen werden. Hinzu kommen weitere Vorbehalte, zum Beispiel, dass durch die mechanische Handhabung eine Verletzung der Chromosomenstruktur ausgelöst werden kann (Schultz und Williams 2002). Die Einführung der ICSI eröffnete auch jenen Männern die Chance auf ein eigenes Kind, die bis dahin von der Fortpflanzung ausgeschlossen waren. Wie sich gezeigt hat, liegen bei einigen von ihnen genetische Veränderungen vor, die mit der Unfruchtbarkeit verknüpft sind. Männer mit beidseitig unterentwickelten oder fehlenden Samenleitern sind häufig Träger einer Genmutation für Mukoviszidose, einer schweren Stoffwechselerkrankung (Chandley u. Hargreave, 1996). Es wird daher mit Sorge betrachtet, ob durch eine ICSI die Weitergabe erblicher Defekte auf die nachfolgende Generation begünstigt wird.

Die Kinder Seit Beginn der Anwendung von IVF und ICSI steht die Frage möglicher Fehlbildungen bei den Neugeborenen im Vordergrund. Über Ausmaß und Ursachen gibt es trotz diverser Studien nach wie vor kontroverse Auffassungen. Eine große prospektive Studie hatte eine Fehlbildungsrate von 8,7 % nach ICSI und von 6,1 % in der Kontrollgruppe ermittelt (Katalinic, Rösch u. Ludwig, 2004). Bei einer Auswertung der amerikanischen »National Birth Defect Prevention Study« ergab sich ein Zusammenhang von Verfahren der assistierten Reproduktion mit verschiedenen Fehlbildungen, zum Beispiel des Herz-Kreislaufsystems, des Gastrointestinaltraktes, von Nieren und Harnwegen etc. – und zwar nach IVF und ICSI (Reefhuis et al., 2008). In der Diskussion sind außerdem neurologische Störungen, vor allem zerebrale Lähmungen sowie für Entwicklungsstörungen (Strömberg, 2002). Auch nach der Metaanalyse, die unlängst für den Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen erstellt wurde, bleibt die Situation widersprüchlich: Beim Vergleich von ICSI mit IVFKindern zeigte sich kein erhöhter Anteil an großen Fehlbildun© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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gen, jedoch im Vergleich mit natürlich gezeugten Kindern. Um angesichts der Varianz in den Publikationen präzisere Aussagen über das Fehlbildungsrisiko bei künstlicher Befruchtung zu ermöglichen, sollten große prospektive Kohortenstudien durchgeführt werden, die sich nicht nur auf lebendgeborene Kinder beziehen, sondern auch die Missbildungen bei Totgeborenen und induzierten Aborten einbeziehen (Bertelsmann, de Cavalho Gomes, Mund, Bauer u. Matthias, 2008). Der Prozess der Aktivierung und Deaktivierung elterlicher Gene bei Entwicklung und Verschmelzung der Keimzellen wird als Imprinting bezeichnet. Kommt es dabei zu Abweichungen, kann dies zu seltenen Erkrankungen führen, die möglicherweise auf Imprinting-Fehlern beruhen. Einige der bisher bekannten Imprinting-Syndrome, die Fehlbildungen und unterschiedliche Behinderungen auslösen können, sind im Zusammenhang mit der extrakorporalen Befruchtung beobachtet worden (Amor u. Halliday, 2008). Bei Verfahren mit unbekannten Konsequenzen, wie zum Beispiel ICSI, wird gefordert, nicht nur die Effizienz der Methode hinsichtlich Schwangerschaftsrate und Geburten zu betrachten, sondern in künftigen Studien auch langfristige Kriterien wie die Gesundheit des Kindes bzw. des künftigen Erwachsenen mehr zu berücksichtigen (Braude, 2002). Nach den veränderten »Richtlinien zur künstlichen Befruchtung« sollen IVF und ICSI alternativ angewendet werden. Neben der Aufklärung über spezielle Risiken der Methode und mögliche Fehlbildungen des Kindes ist das Paar über seinen Anspruch auf eine Humangenetische Beratung zu informieren (Richtlinien, 2007).

Die Entscheidung für eine IVF-Behandlung Wie jede andere Behandlung auch setzt die Aufnahme einer ICSI den »informed consent« des Paares voraus, das heißt, der Arzt erläutert vor ihrem Beginn die Methode, ihre Erfolgsaussichten und Risiken, und das Paar – unterstützt durch schriftli© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ches Material – bekundet per Unterschrift, über alles aufgeklärt worden zu sein. Betrachtet man die diversen Informationsmaterialien der Zentren, sind dort die Belastungen der Behandlung keineswegs immer angemessen repräsentiert. Darüber hinaus zeigt sich, dass in der Darstellung der Ärzte und der Wahrnehmung der Paare die Schwerpunkte unterschiedlich liegen. Das betrifft besonders die Erfolgsaussichten der Behandlung sowie ihre Risiken. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei um komplexe genetische Themen handeln kann. Befragt man die Paare nach den Risiken der Behandlung, sind ihnen vor allem die IVF-Risiken – Überstimulation und Mehrlingsschwangerschaften – präsent, die spezifischen Probleme von ICSI wie das Fehlbildungsrisiko oder die Weitergabe einer Krankheit an das Kind kommen nach ihrer Erinnerung in den Beratungsgesprächen weniger vor. Aber auch in den wenigen Fällen, wo die komplizierte Thematik den Paaren gegenwärtig und nachvollziehbar ist, spielt sie im Hinblick auf die Entscheidungsfindung kaum eine Rolle. Vielmehr stehen dann ihr Vertrauen in die behandelnden Ärzte oder die Hoffnung auf ein eigenes Kind im Vordergrund. Die Ärzte wiederum sehen – nach den Regeln des »informed consent« – die Entscheidung für eine ICSI-Behandlung ausschließlich in der Verantwortung des Paares (Fuchs, Berg, Barbian u. Werth, 2002).

Die Präimplantationsdiagnostik Ging es bei der extrakorporalen Befruchtung zunächst darum, die Erfolgschancen für ein Kind zu verbessern, rückt nun zunehmend das künftige Kind mit seinen Eigenschaften in den Blick. Mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) soll Paaren mit einem hohen Risiko einer genetischen Erkrankung die Möglichkeit eröffnet werden, ein biologisch eigenes Kind zu bekommen, das frei von dieser Krankheit ist. Überdies soll Frauen die Belastungen der Pränataldiagnostik und möglicherweise eines späten Schwangerschaftsabbruches erspart werden. Die PID stellt eine Verbindung von zwei Schlüsseltechnologien dar: der IVF und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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der Gendiagnostik. Die Idee der PID wurde zuerst von Robert Edwards bereits in den 1960er Jahren publiziert, der damals noch mit Tieren arbeitete und die Nutzung verwandter Technologien für den Humangebrauch voraussagte. Er hatte bereits 1973 als Ziel beschrieben, dass es darum geht, die Qualität des menschlichen Lebens zu verbessern, indem die Ursachen verschiedener Formen von Anomalien identifiziert und dann unterbunden werden. Er betrachtet die PID als das wichtigste Arbeitsfeld im Rahmen der In-vitro-Fertilisation. Der erste klinische Versuch wurde 1989 beschrieben (Handyside et al., 1998), zwei Jahre später berichtete diese Arbeitsgruppe von der Geburt eines gesunden Mädchens. Es gibt für die PID zwei Methoden: Embryobiopsie und Polkörperdiagnostik. Bei der Embryobiopsie werden – im Rahmen einer ICSI – ein bis zwei Zellen eines Embryos abgetrennt und auf genetische Veränderungen untersucht. Je nach Befund werden die Embryonen in die Gebärmutter der Frau übertragen oder verworfen. Bei der Polkörperbiopsie werden der erste und zweite Polkörper der Eizelle, die bei der Zellteilung entstehen, einer genetischen Analyse unterzogen. Sie erlaubt jedoch nur Rückschlüsse auf das mütterliche Genom, Abweichungen, die vom Spermium herrühren, oder Fehler, die bei der frühen Reifeteilung des Embryos entstehen können, werden nicht erfasst. Sie ist in Deutschland erlaubt, anders als die Embryobiopsie, die außerdem in Österreich und Irland verboten ist (Beyleveld u. Pattinson, 2000). In Deutschland gilt die PID nach dem Embryonenschutzgesetz als nicht erlaubt, allerdings gibt es inzwischen abweichende Interpretationen des Gesetzes. Im Frühjahr 2000 hatte die Bundesärztekammer (BÄK) einen Entwurf zur Anwendung der PID veröffentlicht, wonach die PID nur bei Paaren mit einem hohen Risiko für eine bekannte, genetisch bedingte schwere Erkrankung eingesetzt werden sollte. Dabei blieb offen, auf welche Krankheiten dies zutrifft. Explizit ausgeschlossen sollte der Einsatz der PID sein, wenn es um eine Geschlechtsbestimmung für das künftige Kind, die Erfolgschancen älterer Paare im Rahmen der IVF oder eugenische Ziele geht. Neben der öffentlichen Diskussion gab es eine leb© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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hafte Debatte innerhalb der Deutschen Ärzteschaft; der Deutsche Ärztetag beschloss 2001, den Antrag nicht weiter zu verfolgen. Betrachtet man die internationale Entwicklung der PID, reichte ihre Anwendung bereits 2000 über die von der BÄK postulierten, strengen Indikationen hinaus. Standen zunächst geschlechtsgebundene Krankheiten (z. B. Muskeldystrophie, Hämophilie, also Krankheiten, die an das männliche Geschlecht gebunden sind, aber von der Frau übertragen werden) und monogenetische Krankheiten (z. B. Cystische Fibrose, Sichelzellenanämie) im Vordergrund, sind mittlerweile Indikationen hinzugekommen. Wurde bisher auf Genstrukturen getestet, die auf jeden Fall zum Ausbruch der Krankheit führen, werden mittlerweile Tests auf genetische Dispositionen vorgenommen, das heißt auf Krankheiten, die im Lauf des späteren Lebens auftreten können, seien es bestimmte Krebsformen von Brust oder Eierstöcken oder Alzheimer (Towner u. Springer Loewy, 2002). Seit einiger Zeit wird die PID nicht nur eingesetzt, um eine schwere Erbkrankheit des zukünftigen Kindes zu verhindern, vielmehr wird bei der sogenannten HLA-Typisierung (Humanes Leukozyten-Antigen) ein Embryo nach immunologischen Merkmalen ausgewählt, um einem älteren Geschwisterkind das Leben zu retten (Verlinsky et al., 2001). Diverse Beispiele führen uns vor Augen, dass Befürchtungen, Kinder würden nicht nur um ihrer selbst willen, sondern zu konkreten Zwecken, zum Beispiel als Organspender, gezeugt, längst Realität geworden sind. Sie haben als »saviour siblings« in die Literatur Eingang gefunden. Die Wechselwirkung von reproduktionsmedizinischen Methoden und sich wandelnden Vorstellungen vom (»optimierten«) Kind kommt in einem Bericht der UNESCO (2003) zum Ausdruck: »Während die IVF auf ein Kind, die PID auf ein gesundes Kind zielt, geht es bei PID/HLA um ein gesundes und nützliches Kind« (zit. nach Soini et al., 2006, S. 590). Vorstellungen mancher Ethiker über künftige Wahlfreiheiten von Kinderwunschpaaren reichen noch weiter. Angehende Eltern sollten ihr Kind künftig mit den Aussichten auf das »beste Leben« wählen können – auch wenn dadurch soziale Ungleich© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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heiten entstehen sollten (Savulescu u. Dahl, 2002). Inzwischen wird die PID auch zur Geschlechtswahl aus nichtmedizinischen Gründen eingesetzt und als »social sexing« oder »family balancing« (Pennings, 1996) apostrophiert. Während in Deutschland das Embryonenschutzgesetz eine Geschlechtsselektion nur bei geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten (z. B. Bluterkrankheit) erlaubt, bieten einige europäische Zentren inzwischen »social sexing« an. Einige amerikanische IVF-Zentren offerieren die PID zur Chromosomentestung als Bonus für ihre Patientinnen. Die hauptsächliche Anwendung der PID liegt gegenwärtig jedoch auf der Testung auf Chromosomenabweichungen. Diese mit dem Alter zunehmenden Veränderungen werden für Aborte und erfolglose IVF-Versuche verantwortlich gemacht. Mit Hilfe dieses sogenannten Aneuploidie-Screenings sollen die Behandlungschancen für die IVF steigen. Diese Annahme ist allerdings zwischen amerikanischen und europäischen Reproduktionsmedizinern heftig umstritten, nach einer aktuellen Untersuchung wird dadurch zumindest für Frauen zwischen 35–40 Jahren die Chance auf eine Schwangerschaft signifikant vermindert (Mastenbroek et al., 2007; Cohen u. Grifo, 2007). Die aktuelle Statistik der »European Society for Human Reproduction and Embryology« – ein Bericht aus 57 Zentren weltweit – weist aus, dass etwa zwei Drittel der PID-Behandlungszyklen nicht zur Überprüfung genetischer Erkrankungen, sondern zur Untersuchung auf Chromosomenveränderungen eingesetzt werden, das Aneuploidie-Screening also vor allem der Effektivierung der IVF dient (Goosens et al., 2009). Aus den USA, wo die PID am häufigsten angewandt wird, gibt es zahlreiche Einzelpublikationen, aber keine systematische Erhebung, so lassen sich kaum exakte Angaben über die weltweite Nutzung der PID machen. Als weitere Indikation für die PID wird seit kurzem die Gewinnung embryonaler Stammzellen für die Forschung in Aussicht gestellt (Strelchenko et al., 2004). Betrachtet man die Anwendungsfelder der PID, ist darüber hinaus die zentrale Funktion zu berücksichtigen, die die PID im Hinblick auf die biotechnologische Forschung innehat. Neben © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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der Embryonen- und Stammzellforschung eröffnet sie weiter reichende Perspektiven. Bis vor kurzem galt das Klonen von Menschen als Tabu. Mittlerweile wird der Kinderwunsch auch als Begründung für das sogenannte reproduktive Klonen angeführt, das wegen der Risiken der Methode eigentlich als nicht erlaubt gilt. Die Amerikanische Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (ASRM) schließt reproduktives Klonen in ihren Richtlinien nicht grundsätzlich aus, wenn damit – im Falle männlicher Infertilität – einem Paar der Wunsch, biologisch an der Entstehung eines Menschen zu partizipieren, erfüllt werden könnte. Dies haben Zavos und Ilmensee (2006) offensichtlich bis zum Stadium einer erfolglosen Implantation versucht. Was man immer von solchen Meldungen halten mag, eine Wirkung ist bereits jetzt erkennbar: die Gewöhnung an ein Thema, das bis vor kurzem noch als kaum vorstellbar galt.

Die Eizellspende Nach einer Meldung des »Diario de Cádiz« vom 15.07.2009 ist »die älteste Erstgebärende der Welt« – sie hatte mit 67 Jahren Zwillinge bekommen – an Krebs gestorben. Ihre beiden Söhne sind jetzt 2,5 Jahre und Vollwaisen. Jenseits dieses spektakulären Falles – es gibt weitere – kommen außerhalb Deutschlands mittlerweile fremde Eizellen im Rahmen der IVF in erheblichem Maße zum Einsatz. Wurde die Eizellspende ursprünglich bei Störungen der Ovarialfunktion (frühzeitige Menopause, Bestrahlung nach Krebs) oder nach Sterilisationen eingesetzt, sind inzwischen der Kinderwunsch postmenopausaler Frauen sowie fehlgeschlagene IVF-Versuche hinzugekommen. Als eine weitere Indikation werden humane Eizellen für die embryonale Stammzellforschung und Klonforschung (»therapeutisches Klonen«) eingesetzt. Seit 2007 hat es zum Beispiel die englische Regulierungsbehörde »Human Fertilisation and Embryology Authority« (HFEA) erlaubt, dass Engländerinnen ihre Eizellen für die Forschung zur Verfügung stellen können, vorausgesetzt, sie sind über die Risiken aufgeklärt und tun es freiwillig und ohne © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Druck. Mitunter können sie damit die Kosten für ihre IVF-Behandlung reduzieren. Das Problem der Eizellspende besteht darin, dass Frauen, die Eizellen spenden, gesundheitlichen Risiken ausgesetzt werden, ohne dass eine lebensbedrohliche Situation vorliegt. Besonders altruistische Spenderinnen, die selbst keine IVF durchführen, nehmen Risiken ohne eigenen therapeutischen Vorteil in Kauf. Obwohl die Eizellspende im Prinzip unentgeltlich erfolgen soll, um einer Kommerzialisierung des weiblichen Körpers vorzubeugen, hat sich – wie in den USA – ein offener und in Europa ein grauer Markt entwickelt. Die Spenderinnen erhalten, als Aufwandsentschädigung deklariert, sehr unterschiedliche Summen. Frauen aus osteuropäischen (Rumänien, GUS-Staaten, Baltikum), wie lateinamerikanischen oder afrikanischen Ländern erhalten eine bescheidene Kompensation. Anders ist die Situation für amerikanische Hochschulabsolventinnen, denen unter Umständen mehrere Tausend Dollar angeboten werden. Erst seit für die Forschung Eizellen von »jungen und gesunden Frauen« gefordert werden, ist eine öffentliche Debatte darüber in Gang gekommen, wie die damit verbundenen Risiken für die Frauen einzuschätzen sind. Was ist also angemessen: eine Aufwandsentschädigung für ihre Unkosten oder eine Kompensation für Zeit, Unannehmlichkeiten und Beschwerden? Angesichts der umfangreichen Literatur zur Eizellspende nehmen sich Zahl und Samplegröße der Studien zur Entwicklung der daraus hervorgegangenen Kinder bescheiden aus. Es wird ihnen eine normale körperliche und emotionale Entwicklung bescheinigt. Bei der Untersuchung von (17) Zwölfjährigen – der ältesten bisher untersuchten Altersgruppe – zeigte sich kein Entwicklungsunterschied zu einer Vergleichsgruppe von IVF-Kindern (Murray, MacCallum u. Golombok, 2006). Angesichts dieser Datenlage stellt ein namhafter amerikanischer Reproduktionsmediziner fest, dass trotz einer 20-jährigen Praxis mit mehr als 100.000 Behandlungszyklen bisher noch keine aussagefähigen Studien zu den Langzeiteffekten der Eizellspende auf Spenderinnen wie Empfängerinnen, die Kinder und die Familien vorliegen (Sauer u. Kavic, 2006, S. 153). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Außer in Deutschland ist die Eizellspende in Österreich, der Schweiz, Norwegen und Italien verboten. Frauen aus diesen und allen sonstigen Ländern reisen derzeit zu diesem Zweck in die Tschechische Republik, ins Baltikum, nach Zypern oder Spanien. Die steigende Nachfrage und der Mangel an Spenderinnen in industrialisierten Ländern haben zu einem internationalen Eizellhandel und dem sogenannten Reproduktionstourismus geführt, als Teil des globalen Gesundheitsmarktes. Dieses Phänomen wird hier ausschließlich als Folge der Rechtslage diskutiert, allerdings gibt es diesen Tourismus in Ländern mit strengen wie mit liberalen Regelungen, wie Frankreich oder den USA. Schließlich bleiben die ökonomischen Unterschiede zwischen wohlhabenden und weniger wohlhabenden Ländern bestehen, denn in armen Ländern steht die begehrte Ressource zu günstigeren Preisen zur Verfügung. Im Kontext der Eizellspende zeigen sich mehrere Probleme, neben den gesundheitlichen Risiken und der Kommerzialisierung stellt sich außerdem die Frage, ob darüber hinaus die Ausbeutung armer Frauen verstärkt wird (Berg, 2008).

Soziale Folgen der Reproduktionsmedizin Seit den Anfängen der Reproduktionsmedizin lassen sich verschiedene Bestrebungen beobachten, Fortpflanzungsprozesse mechanisch zu steuern. Die permanente Fortentwicklung der Techniken in diesem Feld illustriert auch gleichzeitig eine kontinuierliche Grenzverschiebung. Die ehedem formulierten »allerletzten Grenzen« wie Keimbahnmanipulation oder Klonen sind in den Bereich des Möglichen gerückt bzw. werden bereits aktiv propagiert. Welche Methoden auch immer präsentiert werden, der Hinweis auf den damit erfüllbaren Kinderwunsch fehlt nur selten; mitunter soll die neue Technik eine Option eröffnen, eine vorangegangene Methode zu ersetzen. Nach dieser Logik könnte auf dem Weg zum eigenen Kind beispielsweise die Präimplantationsdiagnostik für Paare, die sich mit der Pränataldiagnostik schwer tun, einen Ausweg bieten. Bestehen dagegen wiederum © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ethische Vorbehalte, oder der Mann kann keine Spermien bilden, könnte dann das Klonen Abhilfe schaffen. Wenn die derzeit gegen das Klonen noch angeführten Sicherheitsbedenken einmal ausgeräumt wären – so wird Edwards zitiert –, sollte der Wunsch nach einem Kind alle anderen Bedenken in den Hintergrund treten lassen (The Telegraph, 09.06.2002). Während auf der einen Seite die genetische Ausstattung des Menschen immer mehr Bedeutung gewinnt, wird auf der anderen Seite die Abstammung neu zusammengesetzt. In verschiedenen Ländern können wir genetische, biologische und soziale Neukonstruktionen von Familien- und Herkunftsbeziehungen beobachten, für deren präzise Beschreibung uns noch die Begriffe fehlen, Entwicklungen, die hier bisher das Embryonenschutzgesetz weitgehend verhindert hat. Die Veränderungen der Elternschaft haben viele Ausprägungen. Die Fähigkeit von Frauen, ein Kind zu gebären, ist von ihrer biologischen Grenze gelöst worden; derzeit gelten, nach meiner Kenntnis, 70 Jahre als höchstes Alter, um ein Kind zu bekommen (angeblich eine Inderin). Bisherige anthropologische Gewissheiten zur Generationenfolge und Geschwisterbeziehungen sind aufgehoben. Die Genealogie ist schwer zu (er)klären, wenn etwa eine junge Frau ihren (genetischen) Bruder austrägt oder eine andere Frau ihr Enkelkind zur Welt bringt. Was dies für die Entwicklung der Kinder bedeutet, wissen wir nicht. Aus der Adoptionsforschung ist bekannt, dass es für die Identitätsentwicklung eines Kindes wichtig ist, seine Herkunft zu kennen. Die Frage »Woher komme ich?« lässt sich für diese Kinder nicht mehr ohne Weiteres beantworten. Vor einiger Zeit wurde über eine 62-jährige Französin, Janine Salomé, berichtet, die mit ihrem kinderlosen Bruder in Südfrankreich lebt und – in der Hoffnung auf einen Erben – das Kind ihres Bruders zur Welt gebracht hat. Eine gespendete Eizelle, mit dem Sperma ihres Bruders befruchtet und ihr implantiert, machte es in Amerika mit viel Geld möglich. Was bedeutet Mutterschaft in diesem Fall? Aus genetischer Perspektive ist sie – als Schwester des Vaters – die Tante des Kindes und die Leihmutter. Aus biologischer bzw. sozialer Sicht ist sie die Mutter, weil sie das Kind – © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ihre Nichte – zur Welt gebracht hat. Die neuen Eltern, Bruder und Schwester, sollen für die Entstehung dieses Jungen und eines weiteren Kindes – ein Mädchen, das von einer unbekannten Amerikanerin geboren wurde, die auch als Eizellspenderin des zweiten Kindes fungierte – jeweils circa 75.000 US-Dollar bezahlt haben. Dieser Fall weist auf die Problematik der Kommerzialisierung mit ihrem Hauptproblem hin, dass Kinder zu einem Produkt werden könnten, das zu erwerben ist. Gerade berichtete die New York Times über einen anderen Fall einer »third party family«, wo die Wunscheltern – die sich aus dem Katalog Eizelle, Samenzelle und Leihmutter ausgewählt hatten – die so entstandenen Zwillinge wieder an die Leihmutter abgeben mussten, nachdem diese von einer psychiatrischen Behandlung der neuen Eltern erfahren hatte (New York Times, 13.12.2009). In der Medizin ist in den letzten Jahren Selbstbestimmung als »Patientenautonomie« zum zentralen ethischen Paradigma geworden, mit dem auch Reproduktionsmediziner in Deutschland die Einführung weiterer Angebote wie Präimplantationsdiagnostik oder Eizellspende begründen. Im Rahmen der IVF verläuft die Zeugung – ein Vorgang, der idealiter von Intimität und Nähe bestimmt ist – zunehmend nach technischen Vorgaben. Sie hat dabei ambivalenten Charakter, als sie einerseits die Chance auf ein Kind eröffnet aber gleichzeitig den Bedingungen technischer Prozesse wie Dynamisierung und Rationalisierung unterliegt. Technische Entwicklungen wie die PID nähren die Hoffnung für das künftige Kind, Krankheiten ausschließen und positive Eigenschaften befördern zu können. In der internationalen Literatur wird seit einiger Zeit die Vorstellung vertreten, mit Hilfe der PID längerfristig den eigenen Nachwuchs genetisch aufzubessern (»enhancement«) und so die Kinder künftig etwa mit einer Resistenz gegen Aids ausstatten zu können (Stock u. Campbell, 2000). Als weitere Beispiele für diese Tendenz werden nicht nur Wünsche von Eltern im Hinblick auf eine »positive Ausstattung« ihrer Kinder wie Langlebigkeit, Intelligenz oder Musikalität, sondern auch nach einem Kind mit gleicher Behinderung wie sie selbst geäußert (»pro-disability selection«; Henn, 2000). Dass taube Eltern © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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diesen Wunsch nach einem »Kind wie sie selbst« umgesetzt haben, hat inzwischen eine ethische Debatte ausgelöst (Murphy, 2009). Folgt man solchen Vorstellungen, wäre es vorstellbar, dass künftig Kinder nicht mehr voraussetzungslos akzeptiert werden, sondern bestimmte Konditionen erfüllen sollen. Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich das Verhältnis von Paaren zu ihrem künftigen Kind ändert bzw. schon geändert hat und was dies für künftige Kinder bedeutet. Oder allgemeiner gefragt: Wie steht es in diesem Zusammenhang mit dem Kindeswohl?

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Margarete Berger

Zur Entwicklung von Eltern und ihren sogenannten Retortenkindern im familiären Kontext

Zusammenfassung Einleitend werden die Sehnsuchtsinhalte, die im Tagungsbandthema anklingen, kritisch unter die Lupe genommen, insbesondere zur Komplexität des Kinderwunsches. Ein »Faust«-Zitat eröffnet Überlegungen zu verschiedenen Dimensionen der technologischen Zeugung. Anschließend wird die Zusammenfassung einer vor jetzt zehn Jahren abgeschlossenen prospektiven Studie zur frühkindlichen Entwicklung von Eltern und Kindern nach durch IVF erfülltem Kinderwunsch dargestellt: Daten zum Design, zu den Probanden und zur Behandlung, biographische Besonderheiten auch im Kontrollgruppenvergleich, Stichworte zur postnatalen Entwicklung der IVF-Kinder einschließlich Bemerkung zum Verlauf innerhalb des Beobachtungszeitraumes. Die Studie ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anzahl der als prognostisch riskant subsumierten Verläufe (qualitative Einschätzung der Paar-/Elternbeziehung, der Eltern-Kind-Beziehung und der Verarbeitung von Sterilitätsdiagnose wie Behandlung im Verlauf) im Kontrollgruppenvergleich mit je einem Drittel übereinstimmte. Der Entwicklungsprozess zur Elternschaft sowohl nach spontaner wie nach technologischer Zeugung wird als letztlich relevantester Umstand für die frühe Kindesentwicklung betrachtet.

Sehnsucht Familie? »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide«, heißt es im »Wilhelm Meister« (Goethe 1796/1982, S. 240). Weniger romantisch bewegt möchte ich mit dem Zitat daran erinnern, dass sich aus psychodynamischer Perspektive hinter dem sehnsüchtigen Begehren regressive Verschmelzungswünsche mit dem Objekt verbergen können, schwer aufgebbare Imaginationen und Fiktionen, die sich dem inneren Reifungsprozess zur Elternschaft eines Paares – und damit einer auch im psychischen Sinn frucht© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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baren Familiengründung – entgegenstellen können. Außerdem: Der dyadische und narzisstische Inhalt der Sehnsucht muss nicht, aber kann sich insbesondere bei Frauen exklusiv auf ein Kind richten – oft unter Ausschluss des Dritten. Dergestalt müssen nicht aber können Familien zustande kommen, ob durch spontane oder artifizielle Zeugung, mit denkbar schlechten Voraussetzungen für Kind wie Mutter und Vater, so letzterer physisch und psychisch präsent ist (Berger, 1990). Sehnsüchte erfüllen sich selten. Oder anders gesagt: Zwischen der Sehnsucht und ihrer Erfüllung steht die psychische Bearbeitung der phantasmatischen Sehnsuchtinhalte. Seit mehr als drei Jahrzehnten verfügt die Reproduktionsmedizin über technologische Möglichkeiten, die Sehnsucht nach einem Kind zu erfüllen, wenn eine spontane Zeugung nicht möglich ist. Ich will nicht pauschal behaupten, dass diese technologischen Möglichkeiten, zu einem Kind zu kommen, notwendig die unbearbeitete, bypassartige Konkretisierung von Phantasmen einschließt. Aber das Risiko einer mangelnden psychischen Bearbeitung von Sehnsuchtsinhalten ist zweifellos gegeben. Zumal das Behandlungsprozedere, erst einmal in Gang gekommen, die Möglichkeit zu trauern, das heißt auch, Phantasien der inneren Bearbeitung zugänglich zu machen, weitgehend ausschließt. So wie später dann auch das zwar ersehnte, aber die mit ihm verbundenen mehr weniger unbewussten Sehnsuchtinhalte doch nicht oder nur bedingt erfüllende reale Kind, Trauer verunmöglichen kann. Die Komplexität des Kinderwunsches ist vertraut. Es überrascht deshalb auch nicht die empirisch belegte Tatsache, dass postulierte, manchmal geradezu beschworene Erwünschtheit eines Kindes keineswegs mehr einfühlsame Zuwendung zum Kind garantiert im Vergleich zu weniger erwünschten Schwangerschaften. Das heißt, Erwünschtheit/Sehnsucht allein ist keine Gewähr für die innerhalb einer Paarbeziehung entwickelte und weiter entwickelbare innere Bereitschaft zu einer erwachsenen, elterlichen Identität und den Raum innerhalb der Paargemeinschaft für den Dritten (Kittler, 1993). Freud konstatierte 1914: »Der heikelste Punkt des narzisstischen Systems, die von der Realität hartbedrängte Unsterblich© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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keit des Ichs, hat ihre Zuflucht zum Kind genommen« (Freud, 1914, S. 158). Eine Prise elterlicher Narzissmus in der Beziehung zum Kind scheint mir ziemlich unverzichtbar und auch nicht unbedingt schädlich – soweit das Kind gleichwohl als ein primär eigenständiges Wesen geliebt und respektiert werden kann. Offensichtlich ist aber auch, dass es bei einem Kinderwunsch, der die primäre Eigenständigkeit des Kindes übergeht, nicht allein um narzisstische Zuflucht geht. Es kann bei der Zuflucht zum Kind um ein unreflektiert ersehntes Objekt gehen, das Ungetrenntheit gewährleisten soll, einen inneren Mangel stillen, eine Leere füllen; ein Objekt auch der unbewussten Wiedergutmachung, der Inbesitznahme usw. (Berger, 1990). Und insoweit das Kind der Vater des Mannes oder der Frau ist, beinhaltet der Kinderwunsch immer auch eine biographische wie transgenerationale Perspektive. Für den Wunsch nach einem Kind und nach den damit verbundenen nicht immer bewussten Inhalten wie auch für den Wunsch nach Elternschaft und Familie ist deshalb entscheidend, was für ein Kind der oder die Wünschenden selbst einmal waren und über welches Einfühlungsvermögen er oder sie für dieses ehemalige Kind im eigenen Inneren verfügen – und folglich dann auch für das eigene reale Kind. Das eigene Kind wiederum wird im Kleinkindalter, anlässlich einer neuen Schwangerschaft seiner Mutter, sich in infantile Kinderwunschphantasien vertiefen, die zumindest in seinen unbewussten erwachsenen Kinderwunsch mit eingehen werden. Aus alle dem ergibt sich, dass dem Kinderwunsch letztendlich ein von bewussten und unbewussten Motiven und Phantasien bestimmter Entwicklungsprozess zugrunde liegt, der eher nicht durch psychologische Intervention mit ungewollt kinderlosen Probanden, die sich in der Kinderwunschsprechstunde des Reproduktionsmediziners einfinden, angemessen verstanden werden oder in dieser Situation tiefer reflektiert werden kann. Dann, wenn die Erfüllung einer Sehnsucht so greifbar gegeben zu sein scheint. Reproduktionsmediziner behaupten auf Kongressen gern, jede Frau zur Mutter machen zu können. Sie stellen sich aber eher selten die Frage, ob das Leid kinderloser Frauen oder Paare mittels Schwangerschaft wirklich behoben ist © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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und welche Funktion dem ersehnten lebendigen Kind dann zukommt. So gesehen ist das gesetzlich obligatorisch vorgegebene psychologische Beratungsangebot in Kinderwunschzentren aber doch eher eine Art Feigenblatt. Denn Reflektion verträgt sich schlecht mit einem zeitgleich offerierten Behandlungsangebot, das die Sterilitätsstörung aufzuheben und, je nach Alter der Frau, für mindestens 20 % der Behandelten die berechtigte Hoffnung auf ein leibliches Kind verspricht. Nicht entfernt ist das Beratungsangebot in der Kinderwunschsprechstunde zu vergleichen mit der Adoptionsberatung. Hierbei geht es um die schwierige und folgenschwere Beurteilung von oft nicht weniger sehnsüchtigen Adoptionswilligen, Eltern für ein elternloses Kind werden zu können. Dazu die Anmerkung zu einer Studie, auf die ich noch zu sprechen komme, vorweg: Die 46 ungewollt kinderlosen Paare einer prospektiven Untersuchung zur Entwicklung von Eltern und Kindern nach durch reproduktionsmedizinische Behandlung erfülltem Kinderwunsch haben ausnahmslos das obligat zu offerierende psychologische Beratungsangebot der Kinderwunschsprechstunde abgelehnt – wie übrigens auch die Adoption eines Kindes. Man kann das als Abwehr und Widerstand gegen das Denken vor dem Handeln verstehen, aber auch als Ausdruck für eine längst getroffene Entscheidung des Paares, die mit Eröffnung der Behandlungsperspektive nicht mehr infrage gestellt werden will und kann.

»Wie sonst das Zeugen Mode war, erklären wir für eitel Possen« Dieses lässt Goethe den Wagner im Faust II sagen (S. 210) – anlässlich der Zeugung des Homunculus in einem Glas. Fast so, als habe der Dichter vor mehr als 200 Jahren die Quasi-Aufhebung der Urszene – die assistierte Zeugung ohne Sexualität – durch die technologischen Möglichkeiten Ende des 20. Jahrhunderts poetisch vorweggenommen. In Bayern werden die betreffenden Kinder übrigens »Glaslkinder« genannt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Am Risiko der technologischen Konkretisierbarkeit des Kinderwunsches mit zum Teil schwer übersehbaren physischen wie psychischen Konsequenzen vor allem für die Frau und das »Reproduktionsprodukt«, das Kind, besteht kein Zweifel. Gegebenenfalls wird dieses Kind, Objekt einer unreflektierten individuellen Konfliktlösung und des Machbarkeitswettstreits innerhalb der Reproduktionsmedizin, in eine vom Verfall bedrohte symbolische Ordnung seiner Umwelt bzw. in eine verwirrende Vielfalt elterlicher Identitäten hineingeboren (vgl. heterologe IVF, Leihmutterschaft, Befruchtung mittels Eispende usw.) – einerseits. Andrerseits ist die homologe IVF die einzige Möglichkeit für ungewollt kinderlose Paare, Eltern eines gemeinsamen leiblichen Kindes werden zu können. Die mediale Aufmerksamkeit war und ist schon immer bevorzugt auf die absurdesten Auswüchse dieser Behandlungsmethode gerichtet, währenddessen ihre große Bedeutung für Paare, die durchaus über die inneren Voraussetzungen zur Elternschaft verfügen, leicht übersehen wird. Die Doppelgesichtigkeit dieser Technologie ist offensichtlich. Es gilt, wie immer im Umgang mit wissenschaftlichen Fortschritten im Lauf der Geschichte, die schlichte Wahrheit, dass es auf die Menschen ankommt, die sie nutzen. Dieses übrigens auch ein Resümee unserer Studie. Pauschalierende Vorurteile und unreflektierte Gegenübertragungsreaktionen gegenüber Eltern und Kindern nach reproduktionsmedizinischer Behandlung trüben die empathische Wahrnehmung. Zu den Vorstellungsanlässen in unseren Praxen, beispielsweise von Müttern mit ihren Babys nach assistierter Zeugung, stellt sich – nicht nur nach meiner eigenen psychotherapeutischen Erfahrung – immer wieder heraus, dass es sich hierbei überwiegend um diejenigen Schwierigkeiten und Gefährdungen im Entwicklungsprozess zur Elternschaft und der Eltern-KindBeziehung handelt, die uns bei Familien mit spontan gezeugten Kindern vertraut sind. Dazu möchte ich die Quintessenz der erwähnten prospektiven Studie schon an dieser Stelle hervorheben: Im Vergleich der qualitativen Entwicklung von Paarbeziehung, Eltern-Kind-Beziehung wie auch Kindesentwicklung haben sich in den ersten Jahren postnatal keine prognostisch re© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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levanten Unterschiede zwischen den Familien mit Kindern nach homologer IVF/ICSI und den Familien nach spontaner Schwangerschaft ergeben. Oder anders gesagt: Riskante Entwicklungsverläufe fanden sich zu je einem Drittel sowohl in der IVF- wie in der Kontrollgruppe. Dieses statistisch nicht repräsentative Ergebnis hebt Einwendungen gegen die Behandlungsmethode nicht auf, unterstreicht im Detail eher noch einmal ihre Komplexität und Janusköpfigkeit. Die Technologie reduziert den Zeugungsakt auf seine rein biologischen Grundlagen und begünstigt dergestalt ein zeitweises Auseinanderdriften, eine Spaltung von Phantasie und Wirklichkeit. Ich werde auf diese Spaltung im Zusammenhang mit der poetischen Darstellung einer spontanen Zeugung noch einmal zurückkommen. Der assistierte Zeugungsakt ist zweifellos ein potenziell traumatischer Eingriff in die psychosomatische Balance der Frau und des Mannes, der einhergeht mit Erschütterung des Intimitäts- und Schamgefühls, mit Demütigungsgefühlen, auch mit körperlichem Risiko der Frau. Außerdem handelt es sich um eine die Verleugnung der technologischen Bedingungen herausfordernden Erfahrung. Mit anderen Worten: Es kommt bei der gemeinsamen Bewältigung dieser medizintechnologischen Prozeduren in die persönliche Integrität auf die – auch sexuelle – Beziehungssicherheit, Belastbarkeit und vor allem auf die gemeinsame Bearbeitungsmöglichkeit der stattgehabten Erfahrung des jeweiligen Paares an. Nach meinem Eindruck wird im vorurteilbehafteten Argumentationskontext zur assistierten Zeugung der spontane Zeugungsakt manchmal in ein etwas idealisiertes, bzw. mystifizierendes Licht gerückt. Auch so, als ob die Phantasien eines zufällig oder unzufällig spontan zeugenden Paares unzweifelhaft aufeinander und auf ein erwünschtes, gemeinsames Kind gerichtet seien, obwohl das nicht immer zutrifft. Um zu veranschaulichen, wie die sexuelle körperliche Vereinigung und die Phantasien eines Paares auch im spontanen Zeugungsakt auseinanderdriften bzw. einer Spaltung unterliegen können, erlaube ich mir, noch einmal Goethe zu zitieren. Goethe, der ein erstaunliches psychoanalytisches Wissen vorweggenommen hat, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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waren Kinderwunsch und Kindesmord und sogar artifizielle Zeugung immer wieder poetisches Thema. 1808 erscheint der Roman »Die Wahlverwandtschaften«, in dem eine Art Wechselbalg, das Kind Otto, geboren und schließlich versehentlich ertränkt wird (Goethe, 1808/1982). Gezeugt wird dieses Kind von dem innerlich längst getrennten Ehepaar Eduard und Charlotte. Während ihrer körperlichen Vereinigung sind die beiden – wie in einem Als-ob, einer Art imaginierten Objektersetzung – mit erotischen Phantasien über ihre insgeheimen neuen Liebesobjekte, Ottilie und der Hauptmann, zu denen keine sexuelle Beziehung besteht, beschäftigt. Das Kind, das Charlotte dann zur Welt bringt, wird als sonderbar empfunden, weil es mit den Augen der von Eduard umschwärmten Ottilie und mit den Gesichtszügen des von Charlotte verehrten Hauptmanns ausgestattet zu sein scheint. Zur sexuellen Vereinigung des Ehepaares Charlotte und Eduard schreibt Goethe: »In der Lampendämmerung behauptete […] die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche […]. Und doch lässt sich die Gegenwart ihr ungeheures Recht nicht rauben […]« (S. 321). Es ist diese Gegenwart, die nicht rückgängig gemacht, korrigiert, verleugnet werden kann, das heißt die Notwendigkeit der Anerkennung des realen Kindes, die es nach jeder Art von Kindeszeugung zu bewältigen gilt. Die im Roman vorherrschende phantasierte Substitutionslogik – Ersetzung Charlottes durch Ottilie, Ersetzung Eduards durch den Hauptmann und schließlich Ersetzung des Kindes Otto durch die auf ihn gerichteten Projektionen seiner Umwelt – kosten diesem Kind sein ihm eigenes Leben. Sie nehmen ihm sein Recht auf Gegenwart. Ich bringe mit dem poetischen Beispiel meine Skepsis gegenüber der Argumentation zum Ausdruck, dass der technologische Zeugungsakt eine im Vergleich zur spontanen Zeugung nicht vorhandene Spaltung von Biologie und Phantasie erzwinge. Goethe illustriert, dass eine Spaltung zwischen »Einbildungskraft und dem Wirklichen«, wie er sie nennt, und wie sie in der Reproduktionstechnologie zur Methode gemacht ist, durchaus auch bei spontaner Zeugung gegeben sein kann – und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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um des realen Kindes willen dringend der psychischen Aufarbeitung bedarf. Sie kann allerdings auch aus Mangel vorhandener psychischer Ressourcen bzw. unverarbeiteter traumatischer Erfahrungen scheitern. Der unwillentliche Zeugungsakt im Roman unterstreicht übrigens auch die eingeschränkte Fähigkeit der Protagonisten, im Bezug auf ein bestimmtes Handeln »nein« sagen zu können. Diese eingeschränkte oder fehlende Fähigkeit hat zur Folge, dass ein innerer Mangel bzw. eine Wunschphantasie durch eine Handlung mit irreversiblem Ergebnis ersetzt wird. Eine solche Dynamik dürfte manchen Kindeszeugungen – ob spontan oder technologisch assistiert – zugrunde liegen und unterstreicht die Schwierigkeit mancher Paare, Eltern eines Kindes und nicht eines Wechselbalges oder Lückenbüßers ohne Recht auf eigene Gegenwart werden zu können.

Eine prospektive Studie zur Entwicklung von Eltern und Kindern nach durch IVF/ICSI erfülltem Kinderwunsch Im Rahmen eines überregionalen, vom damaligen Bundesministerium für Bildung, Forschung Wissenschaft und Technologie finanzierten Verbundprojekts zur Psychosomatik von Sterilitätsstörungen haben wir in Hamburg (Psychosomatische Abteilung der Universitätskinderklinik) und in Kooperation mit der Abteilung für Reproduktionsmedizin am Universitätsklinikum Rudolf Virchow in Berlin eine zwischen 1993 bis 2000 laufende prospektive Studie zur Entwicklung von Eltern und Kindern nach IVF/ICSI durchgeführt (Berger, Bindt u. Ohlsen, 1997a; Berger, Bindt u. Ohlsen, 1997b; Bindt u. Berger, 2001). Es handelte sich seinerzeit um die erste und meines Wissens bisher einzige deutschsprachige prospektive Studie zum Thema, die neben quantitativen psychosozialen Daten auch qualitative Aspekte im Verlauf zu erfassen suchte – vom letzten Trimenon der Schwangerschaft bis ins Kleinkindalter der Kinder. Es lagen seinerzeit international methodisch nur schwer vergleichbare © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Querschnittuntersuchungen vor, vor allem zur somatischen Kindesentwicklung – teils auch unter Ausklammerung der Frühgeburten wie der Mehrlinge. Die Studienfinanzierung wurde im Jahr 2000 beendet. Nicht zuletzt, weil die Ergebnisse, mit Ausnahme einer alarmierend hohen Mehrlingsrate von 30 % (bezogen auf die Anzahl der Schwangerschaften) keine klinisch unmittelbar gebotene Fortsetzung nahe legte. Demzufolge sind viele Fragen, die auch für Psychotherapeuten relevant wären, offen. Es würde hier zu weit führen, das detaillierte, verbundgleiche Untersuchungsdesign zu erläutern. Ich beschränke mich auf eine diesbezüglich verkürzte Zusammenfassung. Unser wichtigstes qualitatives methodisches Instrument waren die ab letztem Trimenon der Schwangerschaft in Abständen von zunächst drei dann sechs Monaten durchgeführten semistrukturierten (Leitfaden), psychoanalytisch orientierten und von einer externen Analytikerin kontinuierlich supervidierten Interviews mit den Eltern im häuslichen Milieu und im Beisein der Kinder; einschließlich einer elternseits beschränkt gestatteten psychischen wie testpsychologischen Befunderhebung bei den Babys und jungen Kleinkindern (pädiatrische Befunde waren verfügbar). Die Interviews, die von jeweils konstanten, psychotherapeutisch ausgebildeten Bezugspersonen durchgeführt wurden, sind selbstverständlich nicht mit psychotherapeutischen Sitzungen vergleichbar. Anhand der Tonbandaufnahmen wurde ein kategoriales Rating zur prognostischen Einschätzung der emotionalen Qualität von Paar-/Elternbeziehung, Eltern-Kind-Beziehung und der Verarbeitung von Sterilität und Behandlung entwickelt. Gemäß den supervidierten summarischen Einschätzungen haben wir nach jedem Interview eine Gruppenzuordnung in prognostisch sogenannte »günstige«, »krisenhafte« und »riskante« Verläufe vorgenommen. Es wurde versucht, szenische und averbale Mitteilungen zu den Paar-/Eltern- und zu den Eltern-Kind-Interaktionen möglichst genau zu erfassen und in die jeweilige Beurteilung einzubeziehen, zumal wir von unseren Studienteilnehmern trotz wiederholter Interviewkontakte sicher auch gefilterte Angaben erhalten haben. Analog untersucht wurden die gleichfalls freiwilligen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Probanden der Kontrollgruppe, das heißt der Paare nach spontaner Schwangerschaft, rekrutiert im Universitätsklinikum Berlin. Wir haben darüber hinaus verlaufsbegleitend verschiedene, verbundgleiche Instrumente zur Erfassung von Eltern-Kind-Interaktionen, von persönlichkeits- und beziehungsrelevanten Gegebenheiten, Checklisten zur Erfassung kindlicher Auffälligkeiten und zur Erfassung väterlicher Aktivitäten im Verlauf verwendet.

Zu den Probanden und zur Behandlung Die 46 ungewollt kinderlosen Ehepaare (IVF-Gruppe) der Hamburger Arbeitsgruppe haben wir nach und nach aus reproduktionsmedizinischen Zentren zusammengestellt, ohne Einfluss auf mögliche Selektionskriterien seitens der behandelnden Ärzte. Die IVF-Probanden stammten wie die der Berliner Kontrollgruppe aus gut situierten sozialen Mittelschichtverhältnissen mit beruflicher Ausbildung beider Partner (mehr als die Hälfte Hochschulabschluss), ausgesprochen normorientiert, mit betonter Wertschätzung einer bürgerlichen Lebensweise – und, wenn man so will – mit ausdrücklicher »Sehnsucht« nach Etablierung einer Familie mit Kind. Die von uns sogenannten IVF-Frauen waren Mittdreißigerinnen, die Dauer der Partnerschaft betrug durchschnittlich zehn Jahre, die Dauer des unerfüllten Kinderwunsches durchschnittlich fast sechs Jahre, die Dauer der Behandlung durchschnittlich gut drei Jahre. Die Frauen der Kontrollgruppe waren drei Jahre jünger, die Dauer ihrer Paarbeziehung signifikant kürzer, ebenso die Dauer ihres spontan erfüllten Kinderwunsches. Der bewusste Wunsch nach einem Kind – in der IVF-Gruppe vereinzelt sogar ausdrücklich nach Zwillingen – ging bei den IVF-Paaren wie den Paaren der Kontrollgruppe signifikant häufiger von den Frauen aus und zwar überwiegend im Sinne einer partnerschaftlichen und auf Familienleben gerichteten Orientierung. Eine primär eher verleugnete, im Verlauf dann aber offensichtli© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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che Divergenz zum Kinderwunsch erwies sich in beiden Gruppen als ein erheblich belastender Faktor für die Prognose der familiären Entwicklung, insbesondere bei Mehrlingen und/oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Kinder. Nur in der IVF-Gruppe haben 14 % der Paare ihren Kinderwunsch als »einziges gemeinsames Bedürfnis« angegeben; ein – neben anderen Hinweisen – bereits pränatal gegebenes Indiz für eine prognostisch problematische Paarbeziehung, in der die Entwicklung des Kindes mehr oder weniger durch einen emotionalen Mangel und teils massive Trennungsschwierigkeiten gefährdet war. »Selbstbezogene«, das weibliche Identitätsgefühl vermeintlich komplettierende Kinderwunschmotive wurden mehrheitlich von den Frauen der Kontrollgruppe formuliert und nicht, wie in der Literatur postuliert, von den IVF-Frauen. Für die IVF-Paare wie diejenigen der Kontrollgruppe hatte das leibliche Kind absolute Präferenz. Eine Adoption wurde nicht erwogen. Mit einer Ausnahme wurde bei allen IVF-Paaren unserer Studie eine somatisch bedingte Sterilitätsstörung diagnostiziert; in mehr als der Hälfte der Fälle bei Frau und Mann. Mochte auch die somatische Unfruchtbarkeit durch die erfolgreiche Behandlung als behoben gelten, erwiesen sich viele im Beobachtungszeitraum als krisenhaft oder riskant eingeschätzten Entwicklungsverläufe der Paar- und Eltern-Kind-Beziehung als in psychischer Hinsicht »unfruchtbar«. So präsentierten sich diese IVF-Paare beispielsweise in den Interviewkontakten als nahezu normopathisch unlebendig, emotional überkontrolliert und dem Baby wie dem aufwachsenden Kleinkind einerseits überbesorgt und trennungsängstlich, andererseits eher kümmerlich einfühlungsfähig zugewandt. Ähnlich wirkte die Beziehungsqualität der Paarbeziehung. Im Rahmen der Verlaufsbeobachtung variierten diese Eindrücke in ihrer Intensität. Dennoch zeichneten sich die Probanden der IVF-Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe mehrheitlich dadurch aus, dass eine ausgeprägtere Neigung zur Konfliktvermeidung und zur Harmonisierung zu konstatieren war. Inwieweit es sich hierbei um lange wirksame Übergangsphänomene im Kontext der spezifischen Behandlungsbelastungen handelte oder um Persön© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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lichkeitsmerkmale, die für die Entscheidung zur reproduktionsmedizinischen Behandlung prädestinieren, muss offen bleiben. Auch andere Studien bestätigen den Eindruck, dass zur größten Auffälligkeit der IVF-Paare die normorientierte Unauffälligkeit gehört. Bei den IVF-Paaren hat die technologische Machbarkeit des leiblichen Kindes sicher dazu beigetragen, den Schmerz, unfruchtbar zu sein, zu vermindern bzw. scheinbar aufzuheben. Dementsprechend bestand durchgehend und trotz der physischen und psychischen Belastungen durch die Behandlung und postnatal insbesondere bei den Mehrlingseltern mit teils schwerer Beeinträchtigung der Kinder eine unhinterfragte Akzeptanz der Behandlungsmethode. Sie gründete sich nicht auf das technologische Potential der IVF, biologische und traditionelle Familienbande gegebenenfalls aufzuheben, sondern im Gegenteil darauf, sie zu befestigen. Dieser Akzeptanz der Behandlungsmethode und dem Gefühl, sich der eigenen Fruchtbarkeit als bestätigt zu erleben, dürfte auch wesentlich zuzurechnen sein, dass die IVF-Frauen trotz erhöhter Frequenz von Vorsorgeuntersuchungen und teilweise interkurrenter stationärer Aufenthalte ihre Schwangerschaft (selbst bei Mehrlingsschwangerschaft) als zufriedenstellender erlebt haben und weniger Beschwerden angaben als die Frauen der Kontrollgruppe. Im Vergleich zur Kontrollgruppe fiel bei den IVF-Schwangeren ein überwiegend auf medizinische Sachverhalte eingeschränktes Denken, Phantasieren und Erleben – auch bezogen auf das Ungeborene – auf. In der Literatur wird dies als medikalisiertes Denken, im Dienst der Angstabwehr, beschrieben. Die vorwiegend auf medizinischen Sachverhalten beruhende Identifikation mit dem Fötus wie die erst in den letzten Schwangerschaftsmonaten nachlassenden, unterschiedlich intensiven Verlustängste der Mütter haben, zusammen mit der beschriebenen affektiven »Unauffälligkeit« der IVF-Paare, den Prozess des Übergangs zur Elternschaft und zum realen Kind zumindest im ersten Lebensjahr der Kinder erschwert (Soulé, 1990). Die IVF-Mütter bzw. -Eltern haben allerdings die direkte Frage, ob und inwieweit die Beziehung zu ihrem Kind infolge © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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der assistierten Zeugung beeinflusst sein könnte, wiederholt nahezu einhellig verneint.

Biographische Besonderheiten im Gruppenvergleich Mehrheitlich haben die Frauen der IVF-Gruppe im Vergleich zu den Frauen der Kontrollgruppe eine problematische, belastende, von unerledigten Konflikten gezeichnete Beziehung zur eigenen Mutter beschrieben und eine damit verbundene eher geringe äußerliche und innerliche Distanz zur Herkunftsfamilie. Soweit diese Konstellationen in Einzelfällen unreflektiert in das Erleben der dann eigenen IVF-Mutterschaft eingingen, handelte es sich im Beobachtungszeitraum um prognostisch ausgesprochen riskante Verläufe, und zwar bezogen auf die Qualität der Paar-/Elternbeziehung wie die Eltern-Kind-Beziehung. Im Bestreben, eine bessere Mutter zu sein als die eigene Mutter, kam es infolge grenzenloser, vermeintlich liebevoller Aufopferung (Überstimulation und Einschränkung des kindlichen Raumes) für das Kind letztlich zu einer Wiederholung emotionaler Kindesvernachlässigung mit unzugestehbarer Enttäuschung am Kind als dem erhofften Objekt der Wiedergutmachung eines unverarbeiteten inneren Mangels. Demgegenüber schilderten die Frauen der Kontrollgruppe ihr Kindheitserleben signifikant häufiger als insgesamt positiv. Sie haben sich mehrheitlich eher als autonome »Vatertöchter« beschrieben. Soweit eine derartige Vater-Tochter-Konstellation auch auf Seiten der IVF-Frauen gegeben war, und zwar mit der Hypothek einer unverarbeiteten ödipalen Fixierung, war im Einzelfall eine offensichtliche und für die Paarbeziehung wie beispielsweise auch für die Schwangerschaftsfrequenz folgenschwere Übertragung auf den behandelnden Arzt gegeben, die ihm selbst nicht ersichtlich gewesen zu sein scheint. Vergleichbar deutliche biographisch wie psychodynamisch relevante Besonderheiten sowohl in der IVF- wie in der Kontrollgruppe gab es nicht auf Seiten der Männer bzw. der künftigen Väter. Die IVF-Männer haben pränatal mehrheitlich ein © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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besonderes väterliches Engagement antipiziert, dessen Realisierung dann aber innerhalb des Beobachtungszeitraumes dasjenige der Kontrollgruppenväter nicht übertroffen hat. Das in Einzelfällen mehr als dürftige väterliche Engagement hatte überwiegend mit einer durch das reale Kind deutlicher zutage kommenden Divergenz zum Kinderwunsch der Partnerin zu tun. Bezogen auf traumatische Kindheitserfahrungen und/oder psychische Erkrankungen der Probanden bestand keine quantitative Differenz zwischen den Probanden der IVF- und der Kontrollgruppe. Die schwerwiegenden Konsequenzen, die unverarbeitete traumatische Erfahrungen seitens der Eltern- oder Großelternpersonen generell für die Eltern-Kind-Beziehung der nachfolgenden Generation haben können, brauche ich hier nicht zu erläutern. Zum Kontext der Reproduktionsmedizin gehört nach meinem Eindruck die Gefahr, dass KinderwunschPatientinnen besonders leicht verführbar sind, ihre traumatischen Erfahrungen unbewusst zu wiederholen bzw. auszuagieren, gegebenenfalls im unreflektierten Bündnis mit dem behandelnden Arzt und zum Nachteil der Beziehung zum Kind. Die Mechanik der IVF-Behandlung kommt der Vermeidung von Trauer und der Begünstigung von Wiederholungen entgegen. Überspitzt ausgedrückt: Symbolisierungslücken werden mit Schwangerschaften/Kindern gefüllt.

Zu den Kindern Ich bin bisher ausführlich auf den Kontext der sogenannten Retortenkinder eingegangen, der Bemerkung Winnicotts aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts folgend, dass es so etwas wie ein Baby nicht gibt, sondern nur ein Baby/Kleinkind in seinem Umweltkontext, zu dem primär die Mutter bzw. die Eltern gehören (Winnicott, 1965/1974, S. 50). IVF-Kinder gelten infolge erhöhter Frühgeburtlichkeit auch bei den Einlingen, einem niedrigen Geburtsgewicht der Einlinge, einer iatrogen erhöhten Mehrlingsrate als Risikokinder. Außerdem sind die Kinder – © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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nicht notwendig, aber potenziell – mit einer psychischen Hypothek belastet: beeinträchtigte elterliche Verarbeitung von Sterilitätsdiagnose und Behandlungsprozedur, Substitut-Funktion des Kindes usw. Dennoch, und angesichts der benannten Entwicklungsrisiken nahezu überraschend: Die Mehrzahl der IVF-Kinder unserer Studie hat sich in den ersten postnatalen Jahren in somatischer wie psychischer Hinsicht regulär entwickelt. Sie wurden von ihren Eltern angemessen umsorgt, geliebt, in ihren Autonomieansätzen respektiert und postnatal nicht als Objekte einer technologischen Manipulation wahrgenommen.

Zu den somatischen Befunden der Kinder In Anbetracht einer Mehrlingsrate von 30 % (zehn Zwillingspaare und vier Drillinge) bezogen auf die Anzahl der Schwangerschaften belief sich die Gesamtzahl der IVF-Kinder unserer Studie bei 46 Elternpaaren auf insgesamt 64 Kinder (27 Mädchen, 37 Jungen). Es war die erschreckend hohe Mehrlingsrate, die die Reproduktionsmediziner an unserer Studie interessiert und alarmiert hat. Acht Mehrlingskinder, das heißt 25 % der IVF-Mehrlinge, waren auch noch drei Jahre postnatal in ihren kognitiven Leistungen im Vergleich zur Altersnorm und im Vergleich zu den drei Zwillingspaaren der Kontrollgruppe eingeschränkt. Auch IVF-Mehrlingseltern ohne vergleichbare physische Beeinträchtigungen ihrer Kinder haben sich postnatal eingestehen müssen, dass sie die mit der durchaus erwünschten Mehrlingsschwangerschaft verbundenen Risiken und Belastungen pränatal unterschätzt haben (Bindt, 2000). Die hohe Mehrlingsrate nach IVF ist insofern iatrogen, als es zum Zeitpunkt unserer Studie noch ganz der Entscheidung des Behandlers überlassen war, wie viele Embryonen in die Gebärmutter transfundiert wurden, um die »Baby-take-home-Rate« zu verbessern. Andererseits plädieren ungewollt kinderlose Paare oft ausdrücklich für die Implantation von mehr als zwei Embryonen: nicht nur in der Hoffnung auf einen sichereren Be© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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handlungserfolg, sondern auch, um sich die Fortsetzung der Behandlungsprozedur bei Wunsch nach mehr als einem Kind zu ersparen. Es liegt auf der Hand, dass ein zufrieden stellender Verlauf der Paar-/Eltern- und der Eltern-Kind-Beziehung bei somatisch und kognitiv beeinträchtigten Babys gefährdet sein kann, vor allem aber bei sich postnatal deutlich abzeichnender Divergenz eines ohnehin nicht auf ein reales Kind gerichteten Kinderwunsches. Dem Elternpaar von Mehrlingsbabys stehen kaum kindfreie Bereiche zur Verfügung, chronische Erschöpfung herrscht vor. Auch für kooperierende, einander liebevoll wertschätzende Paare sind die ersten Jahre eine Art Feuerprobe ihrer Beziehung. Vier IVF-Elternpaare unter den 32 Mehrlingsfamilien haben sich im dritten Lebensjahr ihrer Kinder getrennt, hingegen nur zwei IVF-Elternpaare unter den 32 Einlingsfamilien. Die Scheidungsrate von Mehrlingsfamilien ist auch in der Normalbevölkerung um das Dreifache erhöht. Im Unterschied zu Literaturangaben war die Frühgeburtenrate bei den IVF-Einlingen in unserer Studie – auch im Vergleich zur Kontrollgruppe – nicht erhöht. Der Anteil der Kinder mit angeborenen Gesundheitsstörungen (Herzfehler, Trisomie, Analstenose) lag noch im Normbereich (6 %). Phantasien oder Schuldgefühle assoziiert mit der assistierten Zeugung haben die betreffenden Eltern abgewiesen. Mehrheitlich war in diesen Familien ein prognostisch riskanter Verlauf zu konstatieren.

Zur psychischen Entwicklung der Kinder Trotz der im Einzelnen riskanten Verläufe hat sich die Mehrzahl der IVF-Kinder, mit Ausnahme der genannten Drillinge, im Beobachtungszeitraum auch in psychischer Hinsicht regulär entwickelt. Dies wurde wie eingangs erwähnt anhand der BayleySkalen, der »Columbia Mental Maturity Scale«, der Checkliste zu psychopathologischen Symptomen und weiteren Instrumenten objektiviert. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Zur Entwicklung von Eltern und ihren sogenannten Retortenkindern

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Im Vergleich zu den Eltern der Kontrollgruppe haben die Eltern der IVF-Kinder innerhalb der ersten zwei Lebensjahre ihrer Kinder zum Teil signifikant häufiger Auffälligkeiten bei ihren Babys und den jungen Kleinkindern konstatiert. Die betreffenden elterlichen Angaben stimmten allerdings nicht immer mit unseren Beobachtungen überein. Bekanntlich bewerten oder bagatellisieren und/oder dissimulieren Eltern je nach Ausmaß ihrer Besorgtheit oder Beziehungsindifferenz kindliches Verhalten diskrepant, insbesondere bei erstgeborenen Kindern und deutlicher noch bei Kindern nach Risikoschwangerschaften. Aus psychotherapeutischer Sicht ist für die Kindesentwicklung letztlich der Leidensdruck der Eltern, unabhängig von der Intensität der Symptomatik, relevant, ebenso wie der Einfluss, den die elterlichen Wahrnehmungen und deren projektive Verzerrung auf die Interaktion mit dem Baby und Kleinkind haben. Bei den seitens der IVF-Eltern angegebenen Regulationsstörungen, vor allem Schlafstörungen, auch über das erste Lebensjahr hinaus, mit teilweise erhöhter Trennungsängstlichkeit bis in das vierte Lebensjahr der Kinder handelte es sich mehrheitlich nicht um eine permanente Symptomatik. Sie betraf auffälligerweise mehrheitlich die IVF-Einlinge und kaum die IVF-Mehrlinge, die dem doppelten oder dreifachen Pflege- und Fürsorgeaufwand entsprechend auch strukturierter betreut wurden. Als prognostisch riskant, insbesondere für die Eltern-Kind-Beziehung wie auch für die Kindesentwicklung, haben wir Verläufe eingeschätzt, wenn Eltern eine permanente Symptomatik ihrer Kinder anhaltend dissimuliert haben – auch in der Kontrollgruppe. Ich kann qualitative Verlaufsbesonderheiten im Beobachtungszeitraum zwischen der IVF- und der Kontrollgruppe, die auch für eine gegebenenfalls notwendige frühzeitige psychotherapeutische Intervention wichtig erscheinen, abschließend nur anmerken. Im ersten Jahr postnatal haben wir bei den IVF-Familien mehrheitlich konfliktvermeidende Harmonisierungstendenzen innerhalb der Paar-/Elternbeziehung konstatiert und zwar insbesondere bei Mehrlingseltern mit zum Teil massiv beeinträchtigten Babys, aber auch bei Einlingsmüttern mit gesun© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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den Babys, die teils überschießend und zugleich uneingefühlt betreut wurden. Demgegenüber zeichneten sich zeitgleich in der Kontrollgruppe eher Konflikte innerhalb der Paarbeziehung im Sinne einer postnatalen Paarkrise beim Übergang zur Elternschaft ab. Außerdem gab es in der Kontrollgruppe vergleichsweise gehäuft Klagen der Mütter und Väter über die Kompliziertheit ihres Babys. Wir vermuten aufgrund dieser Unterschiede zwischen IVF- und Kontrollgruppe im ersten postnatalen Jahr, dass der Prozess des Übergangs zur Elternschaft innerhalb der IVF-Familien, das heißt auch der Prozess des Übergangs von der Patientenrolle in die Elternrolle und letztendlich der Prozess der mütterlichen Anpassung an das reale Kind, eher verzögert abläuft. Er pendelt sich aber im zweiten Lebensjahr des Kindes und bei wachsendem elterlichen Kompetenzgefühl allmählich ein. Es scheint begreiflich, dass dieser durchaus krisenhafte Übergang auch zeitaufwändiger ist und negative Schlussfolgerungen zum Verlauf voreilig sein können.

»Sehnsucht Familie« – erfüllt? Unsere Studie ist zu dem bereits erwähnten Ergebnis gekommen, dass beim Abschluss der Verlaufsbeobachtung die Anzahl der unter prognostisch »riskant« subsumierten Verläufe in der IVFund der Kontrollgruppe mit etwa je einem Drittel übereinstimmte. Als prognostisch krisenhaft eingeschätzte Verläufe haben wir nicht diesen riskanten zugeordnet, weil wir Krisen in den Beziehungen bei vorhandenen psychischen Ressourcen als Signal für Veränderungs- und Reflexions- bzw. Konfliktbereitschaft angesichts aktueller Belastungen und angesichts vorhandener psychischer Ressourcen verstanden haben. Je zwei Drittel der IVF-Gruppe wie der Kontrollgruppe haben demnach bis zum Abschluss der Untersuchung – bezogen auf die beschriebenen Kriterien – einen prognostisch günstigen Verlauf genommen. Das Ergebnis ist statistisch nicht repräsentativ, hebt aber, auch wenn es jetzt neun Jahre zurückliegt und wir nur in Einzelfällen über weitere katamnestische Daten verfügen, hervor, dass es – © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Zur Entwicklung von Eltern und ihren sogenannten Retortenkindern

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bei aller Unterschiedlichkeit der Wege zum erfüllten Kinderwunsch – letztlich auf die beziehungs- und persönlichkeitsrelevanten Kompetenzen der Kinderwunschpaare anzukommen scheint, ihren Kindern angemessene, reflexions- und entwicklungsfähige Eltern sein zu können. Oder anders gesagt: Die zweifellos gegebenen besonderen Belastungen der IVF- Methode scheinen überwindbar, wenn das Kinderwunschpaar über eine zuverlässige, stützende Paar-/Elternallianz mit Bewahrung kindfreier Bereiche innerhalb der Paarbeziehung verfügt, über eine erwachsene Beziehung zur Herkunftsfamilie, über einen freien, innerlich bearbeiteten Zugang zu den eigenen Kindheitserfahrungen und über eine stabile Übereinkunft des Wunsches nach einem gemeinsamem Kind als dem eigenständigen Dritten in der Paargemeinschaft. Kritisch zum Studienergebnis bleibt anzumerken, dass sich die IVF-Probanden freiwillig an der Studie beteiligt haben (nur drei Dropouts im gesamten Verlauf), die Behandlungsmethode relativ bedenkenlos akzeptierten. Es waren insgesamt günstige Voraussetzungen für den Behandlungserfolg gegeben, Letzteres bezogen auf das Alter der Paare, einem relativ kurzen Behandlungszeitraum mit durchschnittlich weniger als drei IVFVersuchen. Darüber hinaus gewährleisteten die psychosozialen Lebensumstände dieser IVF-Eltern ihren Kindern gute Entwicklungsvoraussetzungen.

Literatur Berger, M. (1990). Zur Tendenz der Konkretisierung des Anna-selbdrittPhantasmas bei »späten« Müttern und im Bereich der Reproduktionstechnologie. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 36 (4), 332–342. Berger, M., Bindt, C., Ohlsen, K. (1997a). Elternschaft und kindliche Entwicklung nach durch IVF-erfülltem Kinderwunsch. Schlussbericht (I) für das Bundesministerium für Bildung, Forschung, Wissenschaft und Technologie. Berger, M., Bindt, C., Ohlsen, K. (1997b). Psychosomatische Aspekte zur Elternschaft und kindlichen Entwicklung nach reproduktionsmedizinischer Behandlung. In E. Brähler, S. Goldschmidt (Hrsg.), Psychosoziale

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Aspekte von Fruchtbarkeitsstörungen (S. 29–65). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Berger, M. (1998). Bemerkungen zur Adoption. Reproduktionsmedizin, 3 (4), 194–205. Bindt, C. (2000). Das Wunschkind als Sorgenkind? Mehrlingsentwicklung nach assistierter Reproduktion. Reproduktionsmedizin, 16 (1), 1–10. Bindt, C., Berger, M. (2001). Auswirkungen und Belastungen von Diagnose und medizinischer Behandlung bei unerfülltem Kinderwunsch: Elternschaft und Kindesentwicklung nach IVF/ICSI im Säuglings- und Kleinkindalter. Schlussbericht (II) für das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Freud, S. (1914/1969). Zur Einführung des Narzissmus. GW Bd. X (S. 38– 170). Frankfurt a. M.: S. Fischer. Goethe, J. W. von (1796/1982). Wilhelm Meisters Lehrjahre (S. 9–610). Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 7. Romane und Novellen II. München: dtv. Goethe, J. W. von (1808/1982). Die Wahlverwandtschaften (S. 242–490). Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 6. Romane und Novellen I. München: dtv. Goethe, J. W. von (1832/1982). Faust. Der Tragödie zweiter Teil (S. 146–364). Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 3. Dramatische Dichtungen. München: dtv. Kittler, E. (1993). ... Elternsein. Kinderanalyse, 1 (3), 303–327. Sies, C. (1988). Dehumanisierungsprozesse in der oedipalen Situation. Psyche, 62 (4), 873–892. Soulé, M. (1990). Das Kind im Kopf – das imaginäre Kind. Sein strukturierender Wert im Austausch zwischen Mutter und Kind. In J. Storck (Hrsg.), Neue Wege im Verständnis der allerfrühesten Entwicklung des Kindes (S. 20–80). Stuttgart: frommann-holzboog. Winnicott, D. W. (1965/1974). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. München: Kindler.

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Forum »Kinder psychisch kranker Eltern«

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Renate Frank

Einführung in das Forum

Die folgenden drei Beiträge sprechen einen Themenkreis an, der sich mit der schwierigen Situation von Kindern mit psychisch kranken Eltern beschäftigte. Die große Resonanz, die dieses Thema auf dem Psychotherapeutentag fand, zeigte bereits, dass es sich um einen sehr wichtigen und noch zu wenig beleuchteten Problemkreis handelt, zu dem Aufschluss gebende Informationen interessiert gesucht werden. Die folgenden drei Experten informieren mit jeweils unterschiedlichem Blick darüber, welche belastenden und benachteiligenden Auswirkungen psychische Erkrankungen der engsten Bezugspersonen auf die betroffenen Kinder haben und ergänzen sich damit auf vorbildliche Weise. Primäres Anliegen aller drei Beiträge ist es, nicht lediglich auf die Missstände und Risiken aufmerksam zu machen, die vielen von uns noch immer nicht hinreichend bewusst sind, sondern es geht vielmehr vor allem darum, die Stigmatisierung und Tabuisierung zu beenden und hilfreiche Anregungen zu geben, wie die betroffenen Familien durch geeignete Kommunikation und psychotherapeutische Hilfe gefördert werden können. Es wird vermittelt, dass viele schwerwiegende psychosoziale Entwicklungsbeeinträchtigungen der Kinder bei gezielter Prävention und psychotherapeutischer Unterstützung großenteils vermeidbar sind! Der erste Autor, Professor Dr. Fritz Mattejat, ist Psychotherapeut und leitender Psychologe der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie am Fachbereich Humanmedizin der Universität Marburg; er ist zugleich auch Ausbildungsleiter des Institutes für Verhaltenstherapie und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Verhaltensmedizin (IVV) an der Universität Marburg. Sein Hauptforschungsgebiet ist Familiendiagnostik und Familientherapie. Zahlreiche praxisrelevante Publikationen haben ihn allseits bekannt gemacht. Mit den Risikofaktoren, die in einem Umfeld mit psychisch kranken Eltern existieren, befasst er sich seit vielen Jahren und hat damit sehr zu einem besseren Verständnis der Betroffenen beigetragen. Speziell zum Thema informiert das Buch »Nicht von schlechten Eltern«, das er zusammen mit Beate Lisofsky im Jahr 2008 herausgegeben hat. Anschaulich wird hier vermittelt, dass nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in der Öffentlichkeit inzwischen ein Bewusstseinswandel eingetreten ist und sich der Schutz des Kindeswohls zunehmend verbessert. Bei den Betroffenen lässt die Sorge vor Stigmatisierung langsam nach, und sie sind rascher für die wachsende professionelle Unterstützung durch die Gesundheitsbehörde, die Jugendhilfe, die Jugend- und die Erwachsenenpsychiatrie und für gezielte psychotherapeutische Hilfen sowie Selbsthilfeangebote zugänglich. Noch immer ist das Wissen um die Möglichkeiten, wie die Belastungen und Benachteiligungen für die Betroffenen reduziert werden können, aber nicht überall in hinreichendem Ausmaß präsent. In seinem sehr anschaulichen Beitrag »Kinder psychisch kranker Eltern – Vom Risiko zur Resilienz« geht es Professor Mattejat deshalb zunächst einmal darum, dem Leser anhand von gesicherten epidemiologischen Forschungsergebnissen vor Augen zu führen, wie erschreckend hoch der Anteil der psychisch kranken Eltern bei psychotherapeutisch behandelten psychisch kranken Kindern ist. Doch die mit der psychischen Erkrankung der Eltern verbundenen Belastungen und Vernachlässigungen sind nicht naturgegeben schädigend, sondern beeinflussbar. Als besonders ermutigend erweisen sich dabei vor allem auch solche Befunde, die auf die Entwicklung von Resilienz hinweisen. Sich anbahnende ungünstige Entwicklungen lassen sich durch präventive Maßnahmen für die erkrankten Eltern (u. a. Angehörigengruppen) und praktische Hilfen für die betroffenen Kinder (u. a. kindbezogene Informationen, Aktivierung von Angehörigen und Nachbarn) sowie Entwicklungs© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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frühförderung deutlich absenken. In der Diskussion des Beitrags auf dem Psychotherapeutentag konzentrierte sich das Interesse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forums demgemäß vor allem auf die verschiedenen Institutionen und Projekte, die eine derartige praktische Hilfe anbieten. Von Interesse waren darüber hinaus auch alle Maßnahmen und Multiplikationsmöglichkeiten, die dazu verhelfen können, die Sprachlosigkeit, das Verschweigen, Verheimlichen und Tabuisieren der im Problemfeld beteiligten Erwachsenen zu mindern und eine Stigmatisierung zu verhindern helfen. Begrüßt wurde zudem die zunehmende Vernetzung der unterschiedlichen Systeme (z. B. ärztliche Versorgung für Erwachsene, für Kinder, Jugendhilfe, sozialpädagogische Familienhilfe, Selbsthilfegruppen). Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass notwendige und effektive Behandlungen vielfach nicht wahrgenommen werden. Der zweite Beitrag von Professor Dr. Albert Lenz vom Fachbereich Sozialwesen der Katholischen Hochschule NordrheinWestfalen Paderborn thematisiert »Psychoedukation für Kinder psychisch kranker Eltern« und präzisiert damit ein Hilfsangebot, bei dem die betroffenen Kinder im dialogischen Prozess ermuntert werden, Fragen zu stellen, die sie beschäftigen. Kernpunkt ist dabei, geeignete Rahmenbedingungen herzustellen, die aus der Kommunikationsfalle herausführen können. Mit seinen Forschungsschwerpunkten im Bereich der Sozialpsychiatrie, der Jugendhilfe, der Empowerment-Bewegung und der Qualitätssicherung psychosozialer Projekte und einem aktuellen, zusammen mit Eva Brockmann durchgeführten Projekt über Prävention bei Kindern als Angehörige psychisch Kranker vermittelt er die eindeutige Botschaft, dass bei den betroffenen Kindern kindgemäß vermitteltes Wissen über die Krankheit wichtig ist und die Resilienz erhöht. Durch sein Präventionsprogramm, das er vorstellt, veranschaulicht er sehr konkret und einfühlsam, wie die Zusammenarbeit mit den Kindern unterschiedlicher Altersstufen praktisch abläuft. In der Diskussion wurde angesprochen, dass die gute Einfühlung und Einstellung auf die kognitiven und emotionalen Voraussetzungen bei den betroffenen Kindern als entscheidender © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Wirkfaktor angesehen werden. Die kindgemäße, aber dennoch präzise Vermittlung von Wissen über psychische Erkrankungen war ein weiterer Diskussionspunkt, der in einen kurzen gemeinsamen Erfahrungsaustausch einmündete, wie den heftigen ambivalenten Gefühlen von Jugendlichen angemessen begegnet werden kann. Mit Interesse wurden zudem die aktuellen Publikationen des Referenten aufgenommen (»Kinder psychisch kranker Eltern« und »Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern«). Der dritte Beitrag stammt federführend von Frau Dr. med. Christiane Hornstein, Ärztin für Psychiatrie und Leiterin der Mutter-Kind-Behandlung am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden (Wiesloch). Ihr Schwerpunkt ist die Beschäftigung mit Kindeswohlgefährdung. Sie befasst sich mit Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch und Miterleben von häuslicher Gewalt von Kindern. Zum andern beschäftigt sie sich mit postpartalen psychischen Erkrankungen von Müttern und darauf zielt auch das Thema ihres Beitrags: Es geht dabei um einen ganz speziellen, videogestützten Ansatz der »Mutter-Kind-Interaktionstherapie bei postpartalen psychischen Störungen«. Im Forum auf dem Psychotherapeutentag machte sie anhand von Videobeispielen sehr anschaulich deutlich, dass bei der Entwicklung von psychischen Störungen der sozial-interaktionale Transmissionsweg wichtig ist. Sie veranschaulichte, wie passiv oder intrusiv sich psychisch kranke Mütter verhalten, wie sachlich und unemotional sie die Interaktion mit ihrem Kind gestalten oder wie feindselig sie interagieren. Dabei vermittelte sie sehr eindrucksvoll die mangelnde Feinfühligkeit und fehlende Kontingenz der psychisch in unterschiedlicher Weise erkrankten Mütter und die entstehenden Auswirkungen aufgrund der fehlenden Resonanz. Konkrete Hilfen durch eine ressourcen- und lösungsorientierte Videotherapie im Rahmen ihres stationären Angebotes für die erkrankten Mütter und ihre Babys werden im Beitrag aufgezeigt und in ihrer Wirkweise in Bezug auf den Aufbau mütterlicher Kompetenzen verdeutlicht. In der Diskussion wurde der positive psychotherapeutische Zugang mit Interesse aufgegriffen und großer Wertschätzung © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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gewürdigt, dass es der Referentin mit ihrem videogestützten Mikroanalyse-Ansatz und ihrer ressourcen- und lösungsorientierten Arbeitsweise überzeugend gelingt, bereits nach kurzer Zeit bei den betroffenen Mütter mehr Sensibilität für die kindlichen Signale zu wecken und die Mutter-Kind-Beziehung zu stabilisieren. Für Kolleginnen und Kollegen, die an dem Forum nicht teilnehmen konnten, bietet die im Handel zu erwerbende CD von Frau Dr. Hornstein und Claudia Klier »Auf einmal ist da ein Kind …« einen guten Einblick in die Problematik und deren psychotherapeutische Bearbeitung. Insgesamt kann festgehalten werden, dass mit dem sehr gut besuchten Forum »Kinder psychisch kranker Eltern« auf dem Psychotherapeutentag ein Themenkreis angesprochen wurde, der für die Belastungen, Beeinträchtigungen und Vernachlässigungen der betroffenen Kinder gut zu sensibilisieren vermochte und auch bei bereits vorhandenen Erfahrungen im Umgang mit dieser Problematik noch ergänzende Hilfen und Lösungsmöglichkeiten aufzeigen konnte. Dasselbe gilt für die folgende Dokumentation des Forums in Form der drei Beiträge.

Literatur Hornstein, C., Klier, C. (2005). Auf einmal ist da ein Kind … DVD-Video mit 2 Filmen. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag. Lenz, A. (2005). Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe. Lenz, A. (2008). Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe. Lenz, A. (2010). Ressourcen fördern (mit CD-ROM). Göttingen: Hogrefe. Mattejat, F., Lisofski, B. (Hrsg.) (2008). Nicht von schlechten Eltern (Neuausgabe). Bonn: Psychiatrie-Verlag. www.Mutter-Kind-Behandlung.de

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Fritz Mattejat

Kinder psychisch kranker Eltern – Vom Risiko zur Resilienz

Zusammenfassung Kinder psychisch kranker Eltern leben unter einem erhöhten Risiko, selbst eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Diese Risikoerhöhung ist aber nicht unabänderlich, sondern es kann viel getan werden, damit Kinder psychisch Kranker in ihren Entwicklungschancen nicht benachteiligt sind. Im Artikel werden zunächst die Risikofaktoren erläutert, die bei Kindern psychisch kranker Eltern gehäuft auftreten. Dies wird ergänzt durch eine Darstellung der Schutzfaktoren, durch die eine gesunde Entwicklung gefördert werden kann. Aus den Risiko- und Schutzfaktoren werden die Zielsetzungen für die Prävention abgeleitet und es wird auf beispielhafte präventive Modellprojekte in Deutschland hingewiesen; diese Modellprojekte sollten in die reguläre Gesundheitsversorgung übernommen werden. Hieraus ergeben sich Forderungen bezüglich der Veränderung des Gesundheitssystems in Deutschland.

Vorbemerkungen Was bedeutet es für ein Kind, wenn seine Mutter oder sein Vater unter einer psychischen Erkrankung leidet? Die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen uns, dass Kinder mit psychisch erkrankten Eltern häufig mit besonderen Belastungen und Beeinträchtigungen konfrontiert sind und dass bei diesen Kindern das Risiko, selbst eine psychische Störung zu entwickeln, massiv erhöht ist. In kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Inanspruchnahmepopulationen liegt der Anteil der Familien mit einem psychisch kranken Elternteil bei etwa 50 %.

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Tabelle 1: Häufigkeit von psychiatrisch relevanten Erkrankungen bei den Eltern von Patienten in einer vollständigen stationären Inanspruchnahmepopulation der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der PhilippsUniversität Marburg 1998–2002 Erkrankung

Vater (N=978) n %

Mutter (N=1035) n %

Eltern (N=1083) (Vater oder Mutter) n %

Oligophrenien

7 0,7 %

10 1,0 %

15 1,4 %

Anfallsleiden

3 0,3 %

10 1,0 %

13 1,2

Schizophrenien

11 1,1 %

21 2,0 %

31 2,9 %

Affektive Störungen (Depression/Manie)

46 4,7 %

92 8,9 %

129 11,9 %

Neurotische und somatoforme Störung

43 4,4 %

109 10,5 %

141 13,0 %

Hyperkinetisches Syndrom

11 1,1 %

10 1,0 %

18 1,7 %

Legasthenie

9 0,9 %

15 1,4 %

23 2,1 %

Suizidale Handlungen

18 1,8 %

23 2,2 %

39 3,6 %

Alkoholismus, Drogenmissbrauch

186 19,0 %

72 7,0 %

224 20,7 %

Kriminalität

39 4,0 %

7 0,7 %

43 4,0 %

Sonstige psychiatrisch relevante Störungen

36 3,7 %

37 3,6 %

69 6,4 %

Summe: Irgendeine psychiatrisch relevante Störung

332 33,9 %

334 32,3 %

523 48,3 %

Quelle: Mattejat u. Remschmidt, 2008

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Kinder psychisch kranker Eltern – Vom Risiko zur Resilienz

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Hieraus ergibt sich die Frage, ob das erhöhte Erkrankungsrisiko bei Kindern dieser Gruppe quasi naturgesetzhaft und unabänderlich vorgegeben ist oder ob es möglich ist, durch präventive Maßnahmen die Risiken für Kinder psychisch kranker Eltern zu reduzieren und damit auch psychischen Störungen bei Kindern vorzubeugen.

Risikofaktoren Für die meisten psychischen Erkrankungen gilt: Die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte psychische Erkrankung zu entwickeln, ist erhöht, wenn ein leiblicher Elternteil oder andere Verwandte diese Erkrankung aufweisen. Sehr klar können diese Zusammenhänge am Beispiel der Schizophrenie aufgezeigt werden: Während das lebenslange Erkrankungsrisiko für Schizophrenie in der Allgemeinbevölkerung etwa bei 1 % liegt, ist es um mehr als das Zehnfache erhöht, wenn ein Elternteil unter einer schizophrenen Erkrankung leidet; wenn beide Eltern eine Schizophrenie haben, liegt das Erkrankungsrisiko für die leiblichen Kinder bei etwa 40 % Prozent (Propping, 1989). Ähnliche Zahlenverhältnisse wurden von Gottesman (1991) ermittelt und in neueren Arbeiten bestätigt (vgl. auch Owen u. O’ Donovan, 2005). Bei anderen elterlichen psychischen Störungen ist – ähnlich wie bei der Schizophrenie – ebenfalls das psychiatrische Erkrankungsrisiko für die Kinder deutlich erhöht. Metaanalysen konnten zum Beispiel aufzeigen, dass etwa 61 % der Kinder von Eltern mit einer schweren (»major«) Depression im Verlaufe der Kindheit/Jugend eine psychische Störung entwickeln; die Wahrscheinlichkeit für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter ist gegenüber der Normalbevölkerung um das Vierfache erhöht (Beardslee, 2003, S. 120). Die beschriebene Risikoerhöhung ist zumindest zum Teil durch genetische Einflüsse zu erklären: Eine Reihe von psychischen Erkrankungen ist überwiegend genetisch bedingt. Hierzu zählen insbesondere pervasive Entwicklungsstörungen, Schizophrenien und die bipolaren affektiven Störungen. Aber auch bei der Aufmerksamkeits-Defizit- und Hyperaktivitätsstörung © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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spielt der genetische Faktor eine erhebliche Rolle. Viele andere psychische Störungen sind etwa zur Hälfte durch die genetische Transmission erklärbar. Neben der genetischen Belastung ist zu berücksichtigen, dass das elterliche Verhalten im Umgang mit dem Kind krankheitsbedingte Einschränkungen aufweisen kann. Dies wurde bisher am besten bei Müttern mit depressiven Störungen untersucht; je nach Altersstufe stehen dabei andere Einschränkungen im Vordergrund (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Elterliche Aufgaben in verschiedenen Entwicklungsperioden Entwicklungsperiode

Entwicklungsaufgaben des Kindes

Elterliche Aufgaben und mögliche Störquellen bzw. Einschränkungen

Frühe Kindheit (0–3) PRIMÄRE BINDUNG

Aufbau der primären Bindung, Einüben von elementaren Regulationen (Schlafen, Erregungsniveau, Essen, Ausscheidung, Motorik)

Verfügbarkeit und Reaktivität: Trennungserlebnisse, Wechsel der Bezugspersonen, gestörte Eltern-KindInteraktion (elterliche Reaktivität/ Feinfühligkeit).

Kindergarten- und/ Grundschulzeit SOZIALISATION

Einübung sozialer Regeln, Entwicklung individueller Durchsetzungsfähigkeit und einer Leistungshaltung, Erwerb von Kulturtechniken (Schule, andere Kinder)

Unterstützung und Anleitung: Probleme im elterlichen Erziehungsverhalten: Defizite in der Beaufsichtigung, im Setzen von Grenzen oder in der positiven Zuwendung, inkonsequentes Verhalten, Unterforderung oder Überforderung

Jugendalter IDENTITÄT/ AUTONOMIE

Identitätsfindung, Anpassung an sexuelle Reifung, Ablösung vom Elternhaus (Selbständigkeit und Partnerschaft)

Respekt und Partnerschaft: unangemessenes elterliches Modellverhalten (eingeschränkte Vorbildfunktion), autonomie-hemmende Faktoren (symbiotisches Verhalten; überzogene negative Reaktionen)

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Außer den krankheitsspezifischen Einschränkungen in der Eltern-Kind-Interaktion ist schließlich noch zu berücksichtigen, dass fast alle wichtigen psychosozialen Belastungen, die das Erkrankungsrisiko für psychische Störungen bei Kindern erhöhen, in Familien mit einem psychisch kranken Elternteil überrepräsentiert sind. Das heißt, das Merkmal »psychische Erkrankung eines Elternteils« korreliert positiv mit vielen anderen psychosozialen Belastungsfaktoren; es stellt somit ein »Kernmerkmal« dar, durch das das Entwicklungsumfeld eines Kindes entscheidend beeinträchtigt werden kann. So kann zum Beispiel die psychische Erkrankung eines Elternteils zu finanziellen und beruflichen Nachteilen führen, die eheliche Beziehung der Eltern kann durch die psychische Störung beeinträchtigt sein und förderliche Faktoren – wie beispielsweise eine mögliche soziale Unterstützung der Familie – können durch die psychische Störung in den Hintergrund gedrängt werden. Kinder von psychisch kranken Eltern erleben deshalb im statistischen Durchschnitt häufiger als andere Kinder Risikofaktoren wie zum Beispiel: – sozioökonomische und soziokulturelle Einschränkungen wie Armut, unzureichende Wohnverhältnisse, soziale Randständigkeit, oder kulturelle Diskriminierung der Familie; – niedriger Ausbildungsstand bzw. Berufsstatus der Eltern und Arbeitslosigkeit; – soziale Isolation einzelner Familienmitglieder oder der ganzen Familie; – der Verlust von wichtigen Bezugspersonen durch Scheidung; – intensive Konflikte in der Familie, häufiger Streit zwischen den Eltern oder anderen Familienmitgliedern. Viele Studien haben dabei aufgezeigt, dass einzelne Risikofaktoren häufig gut bewältigt werden können; wenn sich die Risikofaktoren aber häufen, übersteigt dies die Kompensations- und Bewältigungsmöglichkeiten der Kinder und ihrer Familien. In einer repräsentativen Studie des Robert-Koch-Instituts (Wille et al., 2008) wurde dieser Zusammenhang sehr schön aufge© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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zeigt: Je mehr Risikofaktoren in einer Familie vorhanden sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder emotionale bzw. Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychische Störungen entwickeln. Wenn keine der erfassten psychosozialen Risikofaktoren vorkommen, liegt die Wahrscheinlichkeit für eine psychische Störung unter 5 %; bei sechs oder mehr Risikofaktoren liegt dieses Risiko bei 50 %. Wenn man die wichtigsten Risikofaktoren mit den stärksten Auswirkungen auf die Kinder betrachtet (Tabelle 3), ist zu erkennen, dass mehrere Faktoren, die als Indikator für die psychischen Probleme der Eltern (psychiatrische Symptome, psychologische Lebensqualität; subjektive Stressbelastung) verstanden werden können, einen deutlichen Einfluss darauf haben, ob die Kinder psychische Störungen entwickeln: Die psychische Gesundheit der Kinder hängt somit ganz eng mit der psychischen Gesundheit der Eltern zusammen.

Quelle: Wille et al., 2008

Abbildung 1: Zusammenhang zwischen psychosozialen Risikofaktoren und psychischen Auffälligkeiten bei Kinder und Jugendlichen

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Kinder psychisch kranker Eltern – Vom Risiko zur Resilienz

Tabelle 3: Bedeutsame psychosoziale Risikofaktoren im Hinblick auf psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen Risikofaktor

Häufigkeit

Auswirkung: Odds Ratio

bedeutsame Konflikte in der Familie

5,9 %

4,9

bedeutsame subjektive elterliche Stressbelastung (z. B. Haushalt, Alleinerz., Arbeitsstress, finanz. Belastungen)

9,9 %

4,7

geringe psychologische Lebensqualität (psychisches Wohlbefinden) der Eltern

10,0 %

4,2

psychiatrische Symptome bei den Eltern

10,1 %

4,0

geringe körperliche Lebensqualität (z. B. Schmerzen) der Eltern

10,0 %

2,9

Quelle: nach Wille et al., 2008

Schutzfaktoren In der selben Untersuchung des Robert-Koch-Instituts wurden auch Schutzfaktoren untersucht und es konnte gezeigt werden, dass sich Risikofaktoren nicht notwendigerweise negativ auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirken müssen: Je mehr Schutzfaktoren vorhanden sind, umso eher können Belastungen aufgefangen oder »abgefedert« werden. Dabei zeigt sich auch bei den Schutzfaktoren eine kumulative Wirkung (Wille et al., 2008). Bei der Frage, welche Belastungsfaktoren und welche protektiven Faktoren für Kinder von psychisch kranken Eltern von besonderer Bedeutung sind, können uns Studien Auskunft geben, in denen die Kinder von psychisch Kranken Eltern ausführlich befragt wurden (direkte Befragung von Kindern und Jugendlichen; retrospektive Befragung von »ehemaligen« Kindern, die jetzt erwachsen sind). Die wichtigsten Probleme, die von © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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den Kindern psychisch kranker Eltern benannt werden, sind (vgl. auch Schone u. Wagenblass 2002; Mattejat u. Lisofsky, 2008): – Desorientierung: Die Kinder sind geängstigt und verwirrt, weil sie die Probleme der Eltern nicht einordnen und nicht verstehen können. – Schuldgefühle: Die Kinder glauben, dass sie an den psychischen Problemen der Eltern schuld sind: »Mama ist krank/ durcheinander/traurig, weil ich böse war/weil ich mich nicht genug um sie gekümmert habe.« – Tabuisierung (Kommunikationsverbot): Die Kinder haben den (meist begründeten) Eindruck, dass sie über ihre Familienprobleme mit niemandem sprechen dürfen. Sie haben die Befürchtung, dass sie ihre Eltern verraten (dass sie etwas Böses tun), wenn sie sich an Personen außerhalb der Familie wenden. – Isolierung: Die Kinder wissen nicht, an wen sie sich mit ihren Problemen wenden können, und haben niemanden, mit dem sie darüber sprechen können. Das heißt, sie sind allein gelassen. Tabelle 4: Die wichtigsten Schutzfaktoren für die psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen Personale Schutzfaktoren • Temperamentsmerkmal: »einfaches Temperament« bzw. »resilienter Temperamentstypus« • weibliches Geschlecht (im Kindesalter) • positive Wahrnehmung der eigenen Person • positive Lebenseinstellung und Religiosität • Intelligenz, kognitive Fähigkeiten, schulische Leistung • internale Kontrollüberzeugung und Selbstwirksamkeitserwartung • Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbstregulation • Verfügbarkeit von aktiven Bewältigungsstrategien • realistische Selbsteinschätzung und Zielorientierung • besondere Begabungen und Kreativität • soziale Kompetenz

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Familiäre Schutzfaktoren • strukturelle Familienmerkmale: Stabilität in der Familienzusammensetzung; hinreichendes Einkommen/sozioökonomischer Status; klar geregelte Tagesstruktur (Regeln und Rituale) • Merkmale der Eltern-Kind-Beziehung: sichere Bindung und positive Beziehung zu mindestens einem Elternteil • autoritative Erziehung mit positiven Erziehungsmethoden • positives Familienklima und familiäre Kohäsion • positive Geschwisterbeziehung • elterliche Merkmale: – Bildungsorientierung und Bildungsniveau, – Qualität der elterlichen Beziehung, – psychische Stabilität der Eltern. Soziale Schutzfaktoren • soziale Unterstützung, insbesondere wahrgenommene soziale Unterstützung: inner- und außerfamiliär; informell und institutionell; emotional, instrumentell, informationell • Erwachsene als Rollenmodelle und gute Beziehung zu einem Erwachsenen außerhalb der Familie • Kontakte zu Gleichaltrigen (Freundschaftsbeziehungen, Akzeptanz und Anerkennung durch Gleichaltrige) • Qualität der Bildungseinrichtung (u. a. Verbundenheit mit der Schule; positive Beziehung zur Lehrerin/zum Lehrer) Quelle: nach Bengel et al., 2009

Durch die Kinderinterviews können wir nicht nur die Belastungen besser verstehen, sondern sie geben uns auch Hinweise auf präventiv sinnvolle Interventionen. Zu den häufigsten Antworten der betroffenen (ehemaligen) Kinder auf die Frage »Was hilft dir oder was hätte dir geholfen?« zählen: – Gesprächsangebot und Gesprächsmöglichkeit, – mit der Möglichkeit, die eigenen Erfahrungen ohne Angst und ohne Schuldgefühle offen anzusprechen, – Anerkennung der Realität, – Aufklärung über die Situation, – Kontakte zu anderen außerhalb der Familie, – und viele (unterschiedliche) konkrete Hilfen. – Später eventuell: Therapiemöglichkeit. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Kinder und Jugendliche wünschen sich Informationen (vgl. Lenz, 2005), zum Beispiel – wie sie sich dem erkrankten Elternteil gegenüber verhalten sollen, – wie sie Mutter oder Vater unterstützen können, – über »Wesen« und Ursachen der psychischen Erkrankung, – über die Gefahr einer Verschlimmerung, – über Heilungsmöglichkeiten, – über Medikamente, – über Erbeinflüsse (insbesondere Jugendliche). Folgende Unterstützungsangebote werden von Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 18 gewünscht (vgl. Lenz, 2005): – Information und Aufklärung, – Austausch und Kommunikationsmöglichkeit, – Einbeziehung in die Behandlung (insbesondere Jugendliche), – Aufklärung der Öffentlichkeit über psychische Erkrankungen.

Prävention Die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse und klinischen Erfahrungen vermitteln ein relativ klares Bild darüber, welche präventiven Maßnahmen nützlich und wirksam sind: – Grundlage aller Prävention ist eine qualifizierte und effektive Behandlung der elterlichen Erkrankung. In einer neueren Untersuchung konnten Weissman et al. (2006b) sehr überzeugend aufzeigen, dass die psychischen Auffälligkeiten der Kinder sich deutlich reduzieren, wenn die elterliche Erkrankung (es handelte sich dabei um affektive Störungen) erfolgreich behandelt werden konnte. – Der zweite unabdingbare Bestandteil der Prävention für Kinder psychisch kranker Eltern und ihre Familie sind psychoedukative Interventionen, so wie sie etwa im Programm von Beardslee enthalten sind (Information, Anwendung der Information auf den individuellen Fall, Ermutigung zur offenen Kommunikation über die Erkrankung in der Familie). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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– Die dritte Komponente der Prävention bilden spezielle Hilfen, die an die jeweilige Situation der Familie angepasst sein sollten und nach genauer Indikationsstellung erfolgen sollten. Hierzu zählen psychiatrische und psychotherapeutische Hilfestellungen ebenso wie sozialpädagogische Hilfen (z. B. sozialpädagogische Familienhilfe) oder spezielle Angebote (wie z. B. Gruppen für Kinder psychisch kranker Eltern). Tabelle 5: Ziele der Elternarbeit 1. Die Eltern sollen angeregt werden, auf den eigenen psychischen Gesundheitszustand zu achten, um Überforderungen zu vermeiden. (»Sie können Ihrem Kind am besten helfen, wenn Sie auch auf sich selbst achten!«) 2. Die Eltern sollen ermutigt werden, notwendige ärztliche, sozialpädagogische und therapeutische Hilfen in Anspruch zu nehmen. 3. Die Eltern sollen lernen, die Probleme der Kinder realistisch einzuordnen. (»Viele Probleme Ihres Kindes sind ganz normal, sie haben nichts mit Ihrer Erkrankung zu tun«) 4. Die Eltern sollen ermutigt werden, persönliche Fragen mit Vertrauenspersonen zu besprechen und informelle soziale Unterstützung zu aktivieren. (»Jeder braucht Menschen, mit denen er persönliche Fragen vertraulich besprechen kann.«) 5. Die Eltern sollen ermutigt werden, Kontakte der Kinder zu anderen Bezugspersonen zuzulassen. (»Auch Ihr Kind braucht noch andere Menschen.«) 6. Die Eltern sollen darin unterstützt werden, ihre Erkrankung und die Situation der Familie den Kindern zu erklären, um das Verständnis der Kinder zu fördern. (»Je besser Ihr Kind die Situation versteht, umso besser kann es damit zurechtkommen.«)

In den letzten Jahren sind in Deutschland erfreulicherweise eine ganze Reihe von Initiativen entstanden, die präventive Angebote für Kinder psychisch kranker Eltern anbieten; genauere Auskünfte über die vorhandenen Präventionsansätze hierzu findet man in den Büchern von Mattejat und Lisofsky (2005), Lenz (2007), Wiegand-Grefe (2010a und 2010b); informativ sind auch die Internetseiten der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder psychisch kranker Eltern (www.bag-kipe.de) und des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker (http://www.kipsy.net). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Forderungen Eine sehr große Zahl von Kindern in Deutschland wächst bei Eltern mit einer psychischen Erkrankung auf; die Entwicklungsbedingungen vieler dieser Kinder sind gravierend beeinträchtigt. Da wir über keine genauen statistischen Zahlen verfügen, haben wir aufgrund der allgemeinen epidemiologischen Zahlen eine sehr konservativ gehaltene Häufigkeitsabschätzung versucht. Danach kommen wir für die Bundesrepublik Deutschland auf folgende Schätzzahlen: In der Bundesrepublik wachsen mindestens zwei Millionen Kinder bei einem Elternteil mit irgendeiner bedeutsamen psychischen Störung auf. Etwa 50.000 bis 100.000 Kinder leben bei einem Elternteil mit einer Schizophrenie; mindestens 500.000 Kinder wachsen bei einem Elternteil mit einer Depression auf. Andere Schätzungen kommen auf deutlich höhere Zahlen, so wird zum Beispiel die Anzahl der Kinder, die in Deutschland allein bei Eltern mit Alkoholabhängigkeit aufwachsen, auf zwei Millionen geschätzt; weitere 40.000 bis 50.000 Kinder wachsen nach diesen Schätzungen bei drogenabhängigen Eltern auf (Zobel, 2005). Hieraus ergeben sich folgende Forderungen: 1. Es ist in erster Linie eine ethische Forderung, diese Kinder und ihre Familien nicht allein zu lassen, sondern ihnen präventive Hilfen anzubieten, um Belastungen und eventuelle Benachteiligungen dieser Kinder auszugleichen. 2. In Anbetracht der Tatsache, dass psychische Störungen und insbesondere Depressionen zu den wichtigsten Ursachen gesundheitlicher Beeinträchtigungen zählen und erhebliche Kosten verursachen, ist auch aus gesundheitspolitischer Perspektive eine schnelle Verbesserung der Präventionsmöglichkeiten zu fordern. Die gesundheitspolitische Bedeutung depressiver Störungen und die sich hieraus herleitende Notwendigkeit zu präventiven Ansätzen wird schon aus wenigen Hinweisen ersichtlich (nach Pössel, Schneider u. Seemann, 2006): – Bereits im Jahr 1990 stand die unipolare Depression an vierter Stelle aller Ursachen gesundheitlicher Beeinträchtigung und vorzeitiger Mortalität. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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– Bis zum Jahr 2020 wird die Depression bei den Ursachen gesundheitlicher Beeinträchtigung und vorzeitiger Mortalität auf den zweiten Platz aufrücken (nur übertroffen von Herz-Kreislauferkrankungen. – In Deutschland verursachen Depressionen Kosten von etwa 17 Milliarden Euro pro Jahr. – Bei vier Millionen behandlungsbedürftigen Betroffenen sind diese etwa 4250 Euro pro Jahr. 3. Schließlich verfügen wir heute schon über Präventionsansätze, deren Wirksamkeit empirisch überprüft wurde. Obwohl die Forschungslage zur Prävention bei Kindern psychisch kranker Eltern noch viele Fragen offen lässt, sind die bisherigen Ergebnisse doch sehr ermutigend, speziell im Hinblick auf selektive Präventionskonzepte. Die Entwicklung und der Ausbau von Präventionsansätzen ist somit nicht nur ethisch und gesundheitspolitisch zu fordern, sondern durchaus auch erfolgversprechend. 4. Da Präventionsangebote für Kinder psychisch kranker Eltern in Deutschland weder im Rahmen des Gesundheitsversorgungssystems noch im Rahmen der Jugend- oder Sozialhilfe regelhaft finanziert werden, haben alle hier exemplarisch angeführten Präventionsinitiativen mit erheblichen Finanzierungsproblemen zu kämpfen; sie leben bis heute primär vom persönlichen Engagement der in ihnen tätigen Personen. Eine Reihe von ähnlichen erfolgversprechenden Projekten musste aus Finanzierungsgründen eingestellt werden; es ist deshalb dringend erforderlich, dass möglichst bald zum Beispiel im Rahmen eines Präventionsgesetzes klare gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die eine Finanzierung von Präventionsangeboten dieser Art ermöglichen.

Literatur Beardslee, W. R., Gladstone, T. R. G., Wright, E. J., Cooper, A.B. (2003). A family-based approach to the prevention of depressive symtoms in children at risk: Evidence of parental and child change. Pediatrics, 112, 119–131.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Bengel, J., Meinders-Lücking, F., Rottmann, N. (2009). Schutzfaktoren bei Kindern und Jugendlichen – Stand der Forschung zu psychosozialen Schutzfaktoren für Gesundheit. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Gottesman, II. (1991). Schizophrenia Genesis: The Origins of Madness. New York: W. H. Freeman and Company. Lenz, A. (2007). Interventionen bei Kindern psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe. Lenz, A. (2005). Kinder psychisch kranker Eltern. Göttingen: Hogrefe. Mattejat, F., Lisofsky, B. (Hrsg.) (2005). Nicht von schlechten Eltern. Kinder psychisch Kranker (5. Aufl.). Bonn: Psychiatrie-Verlag. Mattejat, F., Remschmidt, H. (2008). Kinder psychisch kranker Eltern. Deutsches Ärzteblatt, 105 (23), 413–418. Owen, M. J., O’Donovan, M. C. (2005). Genetics of schizophrenia. Psychiatry; 4 (10), 14–17. Pössel, P., Schneider, S., Seemann, S. (2006). Effekte und Kosten universaler Prävention von Internalisierungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. Verhaltenstherapie, 16, 201–210. Propping, P. (1989). Psychiatrische Genetik. Befunde und Konzepte. Berlin: Springer. Schone, R., Wagenblass, S. (2002). Wenn Eltern psychisch krank sind … Kindliche Lebenswelten und institutionelle Handlungsmuster. Münster: Votum. Weissman, M. M., Pilowsky, D. J., Wickramaratne, P.J. et al. (2006b). Remissions in maternal Depression and child psychopathology. Journal of the American Medical Association. JAMA, 295 (2), 1389–398. Wiegand-Grefe, S., Halverscheid, S., Plaß-Christl, A. (2010a). Kinder und Familien mit psychisch kranken Eltern. Grundlagen – Prävention – Manual. Hogrefe: Göttingen. Wiegand-Grefe, S., Mattejat, F., Lenz, A. (Hrsg.) (2010b). Kinder mit psychisch kranken Eltern. Klinik und Forschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Wille, N., Bettge, S., Ravens-Sieberer, U. and the BELLA study group (2008). Risk and protective factors for children’s and adolescents’ mental health: results of the BELLA study. Eur Child Adolesc Psychiatry (Suppl. 1), 17, 133–147. Zobel, M. (2005). Misshandlung und Vernachlässigung durch süchtige Eltern. In Deegener, G., Körner, W. (Hrsg.), Kindesmisshandlung und Vernachlässigung (S. 155–70). Göttingen: Hogrefe.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Psychoedukation für Kinder psychisch kranker Eltern

Zusammenfassung Alters- und entwicklungsgemäße Krankheitsinformationen bilden nach den Ergebnissen der Resilienzforschung einen wichtigen Schutzfaktor für die Kinder, der sie widerstandsfähiger gegenüber den Belastungen macht. Zu beachten ist hier, welche Informationen die Kinder brauchen und emotional verarbeiten können, damit es nicht zu einer Informationsüberflutung und damit verbundenen Unsicherheiten und Ängsten kommt. Für die Kinder ist von Bedeutung, wie sie sich im Alltag gegenüber dem erkrankten Elternteil verhalten sollen, inwiefern sich das Familienleben verändern wird, ob sie an der Entstehung der Krankheit schuld sind und, insbesondere bei älteren Kindern und Jugendlichen, ob diese Krankheit vererbt werden kann und ob sie selbst vielleicht einmal erkranken werden. In dem Beitrag werden zum einen entwicklungspsychologische Voraussetzungen für Psychoedukation behandelt und zum anderen Anregungen für die Durchführung der Psychoedukation in der Praxis gegeben.

Vorbemerkungen Informationsvermittlung und Krankheitsaufklärung der Patienten und der Angehörigen spielt mittlerweile in den modernen psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungsprogrammen zunehmend eine wichtigere Rolle. In der Psychiatrie und Psychotherapie spricht man im Zusammenhang mit Aufklärung und Vermittlung von Wissensinhalten von Psychoedukation. Die Vorsilbe »Psycho-« verweist darauf, dass es sich dabei um keine rein sachlich-informative Vermittlung handelt, sondern bei deren Gestaltung psychologische Prinzipien, vor allem auf der kognitiven und emotionalen Ebene, berücksichtigt werden (Angenendt u. Stieglitz, 2000). Psychoedukation basiert © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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auf der Annahme, dass die Patienten und die Angehörigen durch sachgerechte und kompetente Informationen in die Lage versetzt werden können, aktiv an der Bewältigung der Probleme und an der Gesundung mitzuwirken, indem sie gewissermaßen zu »Experten für die Erkrankung« werden. Informationen sollen kein Selbstzweck sein. Sie sollen vielmehr die Betroffenen befähigen, die Situation besser zu verstehen und besser einschätzen zu können und sie bei der Bewältigung von Belastungen, die mit der Erkrankung verbunden sind, unterstützen. »Jede Information ist nur so gut, wie sie positive Konsequenzen für den Betroffenen und vor allem für die Zukunft hat. Nichts ist verhängnisvoller als Informationen, die eine Zukunft verbauen, indem sie eine negative Sicht entwerfen, dass eine lebenswerte Zukunft nicht mehr offen steht« (Knuf, 2000, S. 50). Die große Bedeutung von Informationen liegt somit in der Vermittlung von Hoffnung, Mut und positiven Zukunftserwartungen. Informationen eröffnen Möglichkeiten, Handlungsspielräume zu erweitern, Perspektiven und Wege zu beleuchten und zu erarbeiten, sowie die Gefühle der Beeinflussbarkeit, der Kontrolle und Selbstwirksamkeit zu entdecken bzw. für sich (wieder) verfügbar zu machen. Informationsvermittlung und Aufklärung fördern also die Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung der Betroffenen. In der Förderung solcher Empowermentprozesse (Lenz, 2002) dürfte in erster Linie die protektive Funktion von Information, Aufklärung und Wissen liegen. Menschen werden dadurch ermutigt, ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu entdecken und ernst zu nehmen. Anschaulich lässt sich dieser Prozess mit dem Begriff »Menschenstärken« beschreiben. »Die Perspektive des Menschenstärken nimmt an, dass Menschen in ihrem Handeln immer dann, wenn ihre positiven Kapazitäten unterstützt werden, auf ihre Stärken zurückgreifen« (Weik, 1992, S. 23). Dieses Modell, das auf dem Glauben an die inneren Fähigkeiten für Wachstum und Wohlbefinden basiert, setzt ein sensibles Gespür für die Ressourcen, aber auch für die spezifischen Wünsche und Bedürfnisse der Menschen voraus. Psychoedukation darf sich daher nicht auf die reine Vermittlung von Wissensinhalten beschränken. Die Wünsche und Bedürfnisse © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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von Kindern, die in einer Familie mit einem psychisch kranken Elternteil leben, bestehen wesentlich darin, die Erkrankung der Mutter oder des Vaters sowohl kognitiv als auch emotional zu verstehen.

Entwicklungspsychologische Voraussetzungen für Psychoedukation Kognitive Voraussetzungen Wer über Informationsvermittlung und Aufklärung bei den Kindern nachdenkt, muss sich zunächst mit der Frage auseinandersetzen, welche kognitiven Fähigkeiten sie besitzen, um die Informationen zu verstehen (Lenz, 2001). Die Darbietung von Informationen ist sinn- und zwecklos, wenn die Inhalte nicht verstanden werden. Es geht also im Weiteren um die grundlegende Frage, ob die Kinder über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, um die an sie herangetragenen Informationen entsprechend zu verstehen und zu verarbeiten. Das Verstehen der Kinder ist abhängig von ihrem kognitiven Entwicklungsstand auf der jeweiligen Altersstufe. Niemand hat zum Wissen darüber, wie Kinder denken, wie sie schlussfolgern, wie sie Probleme lösen und wie sich diese kognitiven Prozesse auf qualitativ verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung verändern, mehr beigetragen als der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget. Es geht ihm dabei um die Frage, wie wichtige geistige Fähigkeiten des Lernens und Denkens entstehen und es dem Menschen ermöglichen, sich das allgemeine Wissen über die Welt anzueignen. Piaget betrachtet die kognitive Entwicklung als Produkt eines ständigen Wechselspiels von Assimilation und Akkommodation. »Die Assimilation ist konservativ und möchte die Umwelt dem Organismus so unterordnen, wie sie ist, während die Akkommodation Quelle von Veränderungen ist und den Organismus den sukzessiven Zwängen der Umwelt beugt« (Piaget, 1975, S. 339). Durch diese antagonistischen, aber aufeinander abgestimmten Anpassungs© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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prozesse löst sich das Kind immer mehr von der unmittelbaren Wahrnehmung und orientiert sich zunehmend am Denken und an Regeln, also an immer komplexer werdenden kognitiven Operationen. Die kognitiven Fähigkeiten des Kindes verändern sich also nicht rein quantitativ, sondern es erschließen sich ganz neue Denkqualitäten. Piaget postulierte eine universelle Stadientheorie der kognitiven Entwicklung vom Säuglingsalter bis in die Adoleszenz. Dabei ging er davon aus, dass der Aufbau der Erkenntnis in der Ontogenese des Menschen in einer invarianten hierarchischen Sequenz erfolgt, bei der kein Stadium übersprungen werden kann. Ein Kind verfügt nach den Erkenntnissen von Piaget erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres über eine innere symbolische Repräsentation eines Gegenstandes, die unabhängig von seiner Wahrnehmung oder Handlung ist. Es fängt damit an, durch mentale Operationen zu Problemlösungen zu kommen. Sechs- bis siebenjährige Kinder erkennen schließlich Invarianzen in ihrer sozialen Umwelt, das heißt, sie nehmen Dinge wahr, deren Identität gleich bleibt, obwohl sich die Anschauung ändert. Zugleich sind sie in der Lage, die Aufmerksamkeit auf mehr als einen einzigen Gegenstand oder ein einzelnes Merkmal zu richten und sich etwa eine Szene auch aus der Sicht eines anderen vorzustellen. Aber dennoch bleibt ihr Denken in dieser Stufe präoperational und noch stark an ihre konkreten Anschauungen gebunden. Während der Stufe der konkreten Operationen, die etwa um das siebte Lebensjahr beginnt, erwerben die Kinder allmählich die Fähigkeiten zur Ausführung geistiger Operationen. Das heißt, sie können Informationen kognitiv transformieren und die Reihenfolge der kognitiven Verarbeitungsschritte sogar umkehren. Sie stützen sich nun mehr auf Begriffe als auf das, was ihre Wahrnehmung sie sehen oder fühlen lässt. Obwohl sie fähig werden, Logik und schlussfolgerndes Denken zum Lösen von Problemen einzusetzen, verwenden sie bei der Konstruktion und Begründung ihrer Schlüsse immer noch Symbole für Gegenstände und Ereignisse und keine Abstraktionen. Erst ab dem elften Lebensjahr entwickeln Kinder nach Piaget eine Denkqualität, die durch formale Operationen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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geprägt ist. Die meisten Kinder verfügen also erst ab der frühen Adoleszenz über die Fähigkeit zum Umgang mit Abstraktionen und zum Erwerb einer Informationsverarbeitungsstrategie, die nicht durch die gestellten Fragen eingeschränkt wird. Sie strukturieren die Aufgabe selbständig, bilden eigene Kategorien, formulieren und überprüfen Hypothesen unter Heranziehung von Kategorien und Relationen. Das formal-operatorische Denken geht also in spezifischer Weise über vorgefundene oder vorgegebene Informationen hinaus. In dieser Altersstufe urteilen und folgern Kinder nicht nur auf der Basis der aktuell gegebenen Informationen, sondern beziehen mögliche weitere Informationen ein, die sie zu gewinnen suchen (Montada, 1995). Bereits Bühler (1967) weist aber darauf hin, dass Kinder schon im Vorschulalter unter bestimmten Bedingungen zu schlussfolgerndem Denken fähig seien. Je nach ihrem erworbenen Erfahrungsschatz und dem Abstraktionsniveau der vorgegebenen Aufgaben können Kinder demnach schon früh Zusammenhänge erschließen oder Konsequenzen ableiten. Im Laufe der Entwicklung nehmen die Unterscheidungsfähigkeit, wie auch die Aufnahme- und Verarbeitungsmöglichkeiten zu. Kinder können Vergleiche anstellen, sehen Unterschiede zwischen ihren Bedürfnissen und dem Verhalten anderer und entwickeln allmählich die Fähigkeit, sich auch nicht direkt gegenwärtige Personen und Dinge vorzustellen. Sie lernen erste kausale Verknüpfungen und wägen oft schon intuitiv ab, ob sich beispielsweise ihre Anstrengungen, etwas zu tun, auch lohnen (Donaldson, 1982; Goswami, 1992). Spätestens mit dem Schulalter können sie sich in die Rolle anderer hineinversetzen, deren Bedürfnisse und Argumente verstehen und sich kritisch damit befassen. So sind auch kleine Kinder in der Lage, beispielsweise Zusammenhänge zwischen dem Verhalten ihres erkrankten Elternteils und ihren Reaktionen herzustellen bzw. den psychischen Zustand mit bestimmten Belastungsfaktoren in Verbindung zu bringen. Mit steigendem Alter können Kinder mehr Reize verarbeiten, zum Teil parallel oder auch in schneller Abfolge. Der verkraftbare Komplexitätsgrad in der Informationsverarbeitung hängt aber auch von der Möglichkeit ab, an gesichertes Wissen an© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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knüpfen zu können. Neue Informationen können schnell aufgenommen, mit dem vorhandenen Wissen abgeglichen und dann mit neuen Inhalten ergänzt werden, wenn diese einigermaßen nahtlos in die kognitiven Strukturen eingefügt werden können. Völlig neue oder auch den bisherigen Erfahrungen widersprechende Informationen können dagegen nur in Maßen aufgenommen und verarbeitet werden. Ausgangspunkt bei der Informationsvermittlung sollte daher immer das vorhandene Wissen der Kinder und ihre Vorstellungen über die Erkrankungen sein, so fragmentarisch und diffus dies im Einzelfall auch sein mag. Es ist also wichtig, sich zunächst einen Eindruck davon zu verschaffen, über welche inneren Bilder, Erklärungsmuster und Annahmen über die Entstehung der Erkrankung des Elternteils sie verfügen sowie welche Verknüpfungen und Zusammenhänge sie bislang hergestellt haben. Die Aussagen in den Interviews weisen darauf hin, dass bereits jüngere Kinder in aller Regel genaue Beobachter sind. Sensibel nehmen sie Veränderungen bei ihren Müttern oder Vätern wahr und schätzen ein, ob sie ein Anzeichen für eine Verschlechterung ihres Zustandes darstellen oder nicht, und richten ihr Verhalten entsprechend darauf aus. Neben den identifizierten Frühwarnzeichen bieten ihre verschiedenen Annahmen über die Entstehung der Erkrankung Anknüpfungspunkte für die Aufklärung und Informationsvermittlung. Bei jüngeren Kindern ist es darüber hinaus sinnvoll, sich zusätzlich auch bei den Bezugspersonen über den vorhandenen Wissensstand zu informieren (Lenz, 2008). Um an das gesicherte Wissen der Kinder anknüpfen zu können, gilt es, die innere Welt der Kinder zu begreifen und die kognitiven Strukturen ihrer Beiträge zu erfassen, was ein »zeitaufwändiges« Einfühlungsvermögen sowie Verständnis und Offenheit für die kindlichen Botschaften erfordert. Eine Brücke zu den Gedanken und der Vorstellungswelt der Kinder stellen die Art und die Inhalte ihrer Fragen dar. Fragen geben zum einen Hinweise auf ihre Denkstruktur wie auch auf ihre Aufnahme- und Verarbeitungsmöglichkeiten und zum anderen kommen in den Fragen ihre Anliegen und Informationsbedürf© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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nisse zum Ausdruck. So zeigte sich in den Interviews, dass die Kinder wie auch die Jugendlichen konkrete Informationswünsche haben. In deren Mittelpunkt stehen immer wieder die Suche nach Antworten auf die Fragen, wie sie sich dem erkrankten Elternteil gegenüber am besten verhalten sollen, wie sie auf seine Reaktionsweisen und verbalen Äußerungen reagieren sollen und wie sie ihn unterstützen können. Angemessene Informationsvermittlung und Aufklärung ist also nicht einseitig, sondern muss als ein wechselseitiger, partnerschaftlicher Prozess verstanden werden, in dem die Kinder immer wieder ermutigt werden, auf Mitteilungen zu reagieren und Fragen zu stellen. Die Ermutigung und Anregung Fragen zu stellen, setzt einen förderlichen Rapport zwischen dem professionellen Helfer und dem Kind bzw. Jugendlichen voraus. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Kommunikation mit Kindern ist die kontinuierliche Vergewisserung, ob sie in der konkreten Situation entsprechend aufmerksam und aufnahmebereit sind, welche Inhalte sie mehr oder weniger genau verarbeiten können und welcher Kommunikationskanal gerade von ihnen bevorzugt wird (Lenz, 2010). Grundsätzlich gilt, dass jüngere Kinder vermehrt nichtsprachliche Signale auffassen, unabhängig von ihrem Sprachvermögen. Bei der verbalen Vermittlung sind das Sprachniveau und insbesondere das Sprachmilieu des Kindes zu berücksichtigen, ohne dass es imitiert werden muss. Vielmehr ist bei der Darbietung der Informationen genau darauf zu achten, über welchen Wortschatz ein Kind verfügt und ob es die gebrauchten Begriffe versteht bzw. ob diese eine ähnliche Bedeutung haben wie für uns. Es erweist sich in diesem Zusammenhang als sinnvoll, die Eltern bzw. einen Elternteil als Dolmetscher einzubeziehen. Bei längeren Ausführungen sollte bei kleineren Kindern zudem die geringere Aufmerksamkeitsspanne und die geringere Speicherkapazität beachtet werden. Es ist deshalb notwendig, kontinuierliche Rückkoppelungsprozesse in der Kommunikation mit dem Kind dazwischen zu schalten. Rückkoppelungsstrukturen bilden einen wesentlichen Bestandteil kybernetischer Systeme und kennzeichnen vor allem lebende Systeme, deren © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Überleben sie in einer sich verändernden Umwelt sichern. Sie bieten einerseits die Möglichkeit, von außen kommende Störungen auszugleichen und bestimmte Werte im Sinne von Stabilität und Homöostase konstant zu halten. Andererseits sind sie aber auch Voraussetzung dafür, dass ein System sich selbst entsprechend den veränderten Umweltbedingungen verändert und sich ihnen anpasst (Penn, 1985). Indem Kinder nicht nur ermutigt werden, Fragen zu stellen und auf Mitteilungen zu reagieren, sondern auch gezielt gebeten werden, die erhaltenen Informationen und Erläuterungen in eigenen Worten wiederzugeben, vermittelt das Rückkopplungsprinzip auch einen konkreten Einblick in die Qualität der kognitiven Aufnahme, Verarbeitung und des Verstehens der Informationen: »Ich möchte ganz sichergehen, dass du verstanden hast ... Kannst du mir darum noch einmal in deinen Worten sagen, was ich dir gerade darüber erzählt habe?« Durch die Rückmeldung wird sichtbar, ob und inwieweit die Kinder die erhaltenen Informationen und Erklärungen in ihren inneren Bezugsrahmen und Gedankengängen aufgenommen haben. Gelingt es den Kindern, die Informationen in ihre Denkstrukturen einzupassen, sie zu assimilieren, spricht man von einer negativen Rückkoppelung. Gelingt es nicht mehr, weil die Diskrepanz zwischen Kognition und der vermittelten Inhalte zu groß wird, entsteht ein Ungleichgewicht, das schließlich das System zwingt, sich zu ändern. Man spricht dann von einer positiven Rückkoppelung (Penn, 1985). Bei der Rückmeldung ist natürlich sowohl auf die verbale Inhaltsebene als auf die nonverbalen Signale auf der Beziehungsebene zu achten. Werden die Informationen oder zumindest Teile davon eindeutig und in eigenen Wortfärbungen wiedergegeben oder lediglich echohaft nachgesprochen? Wie reagiert das Kind in Mimik und Gestik auf diese Frage, wirkt es etwa sehr angespannt, rutscht es auf dem Stuhl unruhig hin und her oder spricht es sehr stockend? Treten Diskrepanzen zwischen zwei oder mehreren Kommunikationskanälen auf? Die Hinweise auf den verschiedenen Ebenen ermöglichen vor dem Hintergrund der Persönlichkeit, des Entwicklungsstandes des Kindes und der familiären Konstellationen eine tragfähige Einschätzung, ob und inwieweit es in der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Lage ist, die Informationen zu verstehen und welche weiteren Schritte notwendig sind. Ein Schweigen deutet nicht selten auf eine Überforderung des Kindes hin und erfordert die Einführung anderer Erklärungsmuster und eine erneute Ermutigung, Fragen zu stellen.

Emotionale Voraussetzungen Der Begriff Informationsvermittlung legt zunächst nahe, dass es sich hier um ein kognitives Geschehen, um einen Prozess des Verstehens handelt, in dem die Wahrnehmungsinhalte in die Denkschemata »einverleibt« werden bzw. die Denkschemata sich an die Wahrnehmungsinhalte anpassen im Sinne des ständigen Wechselspiels von Assimilation und Akkommodation. Gleichwohl gibt es weder bei Erwachsenen noch bei Kindern keinen kognitiven Prozess ohne emotionale Beteiligung. Ciompi (1982, 1997) hat in seinem Konzept der Affektlogik versucht, Fühlen und Denken im psychischen Erleben nicht getrennt, sondern in ihrem ständigen engen und untrennbaren Zusammenwirken zu verstehen. Er verbindet dabei grundlegende Erkenntnisse Piagets (1975) über die Differenzierung kognitiver Strukturen mit psychoanalytischen sowie system- und kommunikationstheoretischen Konzepten. Die Psyche besteht nach Ciompi aus einem hierarchisierten Gefüge von affektlogischen Bezugssystemen, das heißt von internalisierten Denk-, Fühlund Verhaltensschemata mit jeweils kognitiven und affektiven Anteilen. Sie stellen einen gleichzeitigen Niederschlag der lebensgeschichtlich nacheinander gemachten Erfahrungen dar. Die Differenzierung dieser affektlogischen Bezugssysteme entsteht durch die Aufnahme von Informationen. Dadurch ergibt sich eine Veränderung der Struktur dieser Schemata, die zu immer größerer Komplexität führt. Denken und Fühlen stellen dabei zwei sehr eng zusammenwirkende, aber doch polar verschiedenartige Erfassungsweisen der Wirklichkeit dar. Das Gefühl ist in der rechten Hirnhemisphäre lokalisiert, es erfasst in erster Linie Ganzheiten und Muster, entsteht und vergeht langsam und sein Instrument sowie sein »Sitz« ist der Körper. Das © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Denken erfasst hingegen vor allem Teile und Relationen und ist weitgehend an die Aktivitäten der linken Hirnhemisphäre gebunden. Nach Auffassung Ciompis ist die Wirklichkeit von einem Individuum dann adäquat und harmonisch erfasst, wenn beide Erfassungsmodi in die gleiche Richtung weisen. Aus ihrer Diskrepanz in der Wahrnehmung ergeben sich dagegen spannungsreiche Disharmonien, die zu einer Verwirrung der internalisierten affektlogischen Bezugssysteme und des darauf gegründeten Verhaltens führen können. Bereits der Rahmen, in dem die Informationsvermittlung stattfindet, beeinflusst das emotionale Befinden des Kindes (Lenz, 2005). Das Aufsuchen eines Therapeuten oder Arztes stellt gerade für kleinere Kinder eine außergewöhnliche Situation dar. Die Begegnung mit einem fremden Menschen in einer ungewohnten Umgebung und ein verändertes Verhalten der anwesenden Eltern können die Kinder ebenso verunsichern wie ermutigen, in ihrer Kommunikationsfähigkeit öffnen oder hemmen. Manche Kinder reagieren ängstlich und zurückhaltend, andere wiederum neugierig und offen. Wenn es gelingt zu den Kindern einen guten Rapport herzustellen, sie als eigenständige Persönlichkeiten zu achten und ihre jeweiligen Bedürfnisse in dieser Begegnung zu respektieren, wird eine förderliche Atmosphäre als Grundlage für einen angemessenen Informationsprozess geschaffen. Besonders gilt es, die nonverbalen, oft auch bewussten und spontanen Botschaften zu beachten. Sie vermitteln einen unmittelbaren Eindruck, wie Kinder die Atmosphäre in dem Gespräch erleben und an welchen Stellen die Kommunikation flüssig oder blockierend ist. Da das menschliche Denken sich ständig in komplexen Wechselwirkungen zwischen Emotionen und Erkenntnissen organisiert, wird verständlich, dass jede Information Gefühle auslöst, eventuell Ängste, Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bzw. Verunsicherung und Ratlosigkeit oder auch Freude, Erleichterung und Hoffnung. Das gilt vor allem dann, wenn über ein Lebensereignis wie eine Erkrankung informiert wird und erst recht, wenn es sich um ein so bedrohlich wirkendes und angstauslösendes, weil aus dem vertrauten Definitionsrah© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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men fallendes Ereignis wie eine psychische Erkrankung handelt. Es geht hier um Informationen über Geschehnisse, die nicht nur den erkrankten Elternteil, sondern die gesamte Familie aus dem Gleichgewicht gebracht haben und nicht zuletzt die Kinder in ihrem Erleben erschüttern und tief greifende Auswirkungen auf ihr Verhalten haben können, wie die Interviews anschaulich aufzeigen. In der Informationsvermittlung muss diese emotionale Seite der zunächst sachlich wirkenden Inhalte berücksichtigt werden. Dies kann etwa geschehen durch Nachfragen: »Wie geht es dir, wenn wir hier über die Krankheit deiner Mutter (deines Vaters) reden?« Manchmal ist es auch möglich, das Kind konkret zu fragen, ob es weitere Informationen wünscht oder ob es ein für sich wichtiges anderes Thema besprechen möchte (Lenz, 2008). Oftmals verbergen sich hinter den scheinbar eindeutigen Sachfragen der Kinder nicht nur Wünsche nach »kognitiven« Informationen, also nach Fakten und Erklärungen von Zuständen oder Zusammenhängen, sondern zugleich auch ein »emotionales« Anliegen, das als solches wahrzunehmen und direkt anzusprechen ihnen schwer fällt. Mit der Frage »Woher kommt die Krankheit der Mutter (des Vaters)?« möchten die Kinder nicht etwa eine konkrete Erläuterung neuester Modellvorstellungen aus der Schizophrenieforschung als Antwort. Ihre Frage zielt vielmehr auf einen anderen, wahrscheinlich sogar zentraleren Inhalt, nämlich auf ihre große Verunsicherung, Schuldgefühle und ihre Ängste ab. Sie lautet vielleicht insgeheim: »Bin ich schuld, dass Mama wieder in die Klinik muss? Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich der Mama zu wenig geholfen? Habe ich mich zu wenig um sie gekümmert?« Den Kindern fällt es schwer, ihre persönlichen Probleme, Befürchtungen und Gefühle als solche wahrzunehmen und anzusprechen. Oftmals trauen sie sich auch nicht, sie anzusprechen, weil sie vielleicht die Erfahrung gemacht haben, dass ihr Gegenüber wenig Zeit hat und für ein längeres Gespräch über dieses Thema nicht offen ist. Es ist Aufgabe der professionellen Helfer, zum einen offen und sensibel zu sein für das dahinter liegende emotionale Anliegen der Kinder und zum anderen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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einen entsprechenden zeitlichen Raum und Ort für die Information und Aufklärung zu bieten. Es gilt bei der Informationsvermittlung darüber hinaus auch zu berücksichtigen, dass nur so viele Informationen aufgenommen, wie emotional verarbeitet werden können. Damit wird auch die häufige Erfahrung verständlich, dass Kinder wie auch Jugendliche oder Erwachsene nach einer ausführlichen Aufklärung oftmals nicht über mehr Wissen verfügen als zuvor. Sie verschließen sich, weil bestimmte Inhalte bedrohlich wirken, Ängste und Hoffnungslosigkeit auslösen oder auch eigene Anteile an der Erkrankung des Elternteils nahe legen. Der Arzt oder Therapeut sollte deshalb genau beobachten, wie viele und welche Informationen der Betroffene aufnehmen und in sein kognitiv-emotionales System integrieren kann (Lenz, 2010).

Psychoedukation für Kinder in der Praxis Die Kinder erhalten oftmals keine oder nur unzureichende Informationen über die Erkrankung ihrer Mutter oder ihres Vaters. Ihre Fragen werden insbesondere vom gesunden Elternteil ausweichend beantwortet. Sie sind deshalb überwiegend auf eigene Überlegungen und Schlussfolgerungen angewiesen. Studien zeigen, dass Kinder meist nur über ein diffuses Wissen über die psychische Krankheit ihrer Eltern verfügen, das ihnen kein oder allenfalls wenig Verständnis für den Zustand ihrer Mutter oder ihres Vaters vermittelt und ihnen kaum ermöglicht, ihre individuellen Erklärungsmodelle zu überprüfen und andere, weniger belastende subjektive Theorien über die Ursachen von Problemen zu finden (Lenz, 2005). Den Wissensdefiziten steht ein großes Informationsbedürfnis der Kinder gegenüber, das aber in ihrem Umfeld nicht in einem ausreichenden Ausmaß befriedigt wird. Die innerfamiliären Tabuisierungen und Schweigegebote lassen häufig nur vage Umdeutungen und vorsichtige Umschreibungen des Krankheitszustandes zu. Dahinter steckt meist die Angst des gesunden Elternteils oder anderer relevanter © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Bezugspersonen, dass die Kinder den erkrankten Elternteil verachten oder sich von ihnen vielleicht sogar zurückziehen könnten, wenn sie mehr über die psychische Erkrankung erfahren würden. Folge dieser Tabuisierungen ist, dass die Kinder auf eigene Vermutungen und Annahmen über die Krankheit angewiesen sind und mit ihren sie belastenden – oftmals sogar quälenden Fragen – allein bleiben. Aus Rücksicht gegenüber den Eltern und aufgrund eigener Unsicherheiten, Ängste und Schuldgefühle trauen sie sich oftmals nicht, ihren Wunsch nach mehr und genaueren Informationen zu äußern. Wie in den Studien deutlich wurde, kann die Mehrzahl der Kinder allerdings ihre Informationsbedürfnisse in Bezug auf die Krankheit der Eltern konkret benennen (vgl. ausführlich Lenz, 2005, 2008): Umgang im familiären Alltag – Wie soll ich mich Mutter/Vater gegenüber verhalten? Muss ich mich jetzt anders verhalten? – Wie soll ich auf Verhaltensweisen oder Worte von Mutter/ Vater reagieren? – Wie kann ich Mutter/Vater in gesunden Phasen und akuten Krankheitsphasen unterstützen? Mögliche Veränderungen im Familienleben – Wird sich mein Leben ändern und wenn ja, wie? – Wer wird für mich sorgen? – Was mache ich, wenn es zu Hause Schwierigkeiten gibt? Krankheitsursachen und Verlauf der Krankheit – Was ist los mit Mutter/Vater? – Warum ist Mutter/Vater krank geworden? – Woher kommt die Krankheit der Mutter/des Vaters? – Ist Mutter/Vater meinetwegen krank? – Bin ich schuld, dass Mama wieder in die Klinik muss? Habe ich etwas falsch gemacht? Habe ich der Mama zu wenig geholfen? Habe ich mich zu wenig um sie gekümmert? – Wird es schlimmer werden? © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Unterschiede zwischen psychischer Krankheit und körperlicher Krankheit und Behandlungsverlauf – Was heißt psychisch krank? – Was heißt Therapie? Was ist ein Psychiater (Psychotherapeut)? – Gibt es Medikamente für Mutter/Vater? – Kann Mutter/Vater wieder gesund werden? Erbeinflüsse – Werde ich auch krank? – Werden noch andere aus meiner Familie krank? Ausgangspunkt in der Psychoedukation sollte das persönliche Erleben der Betroffenen, das heißt ihre Informationsbedürfnisse und Fragen, sein, die individuell sehr unterschiedlich sein können und sich vor allem im Verlauf der Krankheit und der Behandlung verändern werden (Beardslee et al., 1993; Lenz, 2010). So dürften beispielsweise die Informationsbedürfnisse in der akuten Krankheitsphase, die mit einer Klinikeinweisung einhergehen, anders gelagert sein als nach dem Klinikaufenthalt, wenn sich der Gesundheitszustand des erkranken Elternteils wieder stabilisiert hat. Ein Kind, das die Erkrankung zum ersten Mal erlebt, hat andere Fragen als die Kinder, die bereits mehrmalige Krankheitsphasen erlebt haben. Auch das Geschlecht und das Alter der Kinder sowie die familiäre Situation werden die Art und Form der Wünsche nach Information beeinflussen. So zeigt sich beispielsweise immer wieder, dass Mädchen für familiäre Konflikte sensitiver sind und deshalb diese belastender und anforderungsreicher als Jungen empfinden. Darüber hinaus erfolgt bei Mädchen das Selbstwertempfinden mehr über soziale Beziehungen als bei Jungen. Angst vor Ablehnung und Suche nach Zuwendung spielen hierbei eine wichtige Rolle. Wirksame und hilfreiche Psychoedukation ist also keine »Schulung« und »Unterrichtung« mit dem Ziel der Weitergabe von Wissensinhalten, sondern ein dialogischer Prozess, in dem die Kinder immer wieder ermutigt werden, Fragen zu stellen, ihre Informationsbedürfnisse zum Ausdruck zu bringen und auf die Mitteilungen zu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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reagieren. Die Ermutigung und Anregung, Fragen zu stellen, setzt einen förderlichen Rapport zwischen dem professionellen Helfer und dem Kind voraus. Für den Aufbau und die Aufrechterhaltung eines förderlichen Rapports stehen eine Vielzahl spezieller Handlungsperspektiven und Methoden zur Verfügung. Rogers (1981) richtet in seinen Überlegungen den Blick gezielt auf die beziehungsfördernden Einstellungen und Haltungen der professionellen Helfer. Er charakterisiert die »gewisse Art von Beziehung« durch die Aspekte Echtheit und Kongruenz, bedingungsfreie Akzeptanz und Wertschätzung sowie sensibles und präzises einfühlendes Verstehen. Diese Aspekte sind eng mit der Person verknüpft und stellen letztlich zentrale Merkmale einer menschlichen Grundhaltung dar. Ziel der klientenzentrierten Vorgehensweise ist es, diese Haltung in der Beziehung zur hilfesuchenden Person zu realisieren und dadurch ein »psychologisches Klima« zu schaffen, in dem die Patienten bzw. Klienten die Erfahrung machen, dass ihnen jemand gegenüber sitzt, der sie wirklich versteht und sie darüber hinaus einlädt, sich mit den widergespiegelten Gefühlen vertieft auseinanderzusetzen. Für Grindler und Bandler (1981) lässt sich eine förderliche Interaktion durch eine Angleichung an die verbale und nonverbale Sprache der Patienten oder Klienten herstellen, um so zu einer symmetrischen Kommunikation zu kommen. Zu diesem Pacing gehört die Ankoppelung an ihre Sprechtempi, an die das Sprechen begleitende Mimik und Gestik oder auch die Übernahme der dominanten Repräsentationssysteme, die auf auditive, visuelle, koenästhetische oder olfaktorische Erfahrungen ausgerichtet sein können, denen wiederum bestimmte sprachliche Repräsentationsformen entsprechen. Grindler und Bandler (1981) gehen davon aus, dass jeder Mensch bestimmte Modalitäten bzw. Ebenen sinnlicher Wahrnehmung bevorzugt, die seine Erfahrungen noch vor deren sprachlicher Fixierung prägen. Die verwendete Sprache bleibt somit der jeweils erfahrungsprägenden sinnlichen Modalität verhaftet. Ein visueller Mensch wird sich vorzugsweise ein »Bild machen«, »etwas sehen«, »sich etwas klarmachen«, ein auditiver Mensch eher Wörter wie »laut«, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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»hören« verwenden, eine koenästhetisch orientierte Person häufiger von »Druck«, »Anspannung« und »Gefühl« sprechen, während ein olfaktorisch orientierter Mensch eher etwas »riecht« und die Situation als »brenzlig« einschätzt. Eine Kommunikation wird in dem Maße gelingen oder misslingen, wie sich die Beteiligten auf ihre erfahrungsprägenden sinnlichen Modalitäten einzustellen vermögen. Dies gilt vor allem für die Kommunikation zwischen professionellen Helfern und Patienten bzw. Klienten. Den zweiten Eckpfeiler für die Herstellung eines förderlichen Rapports bildet eine mit den Patienten bzw. Klienten gemeinsame Sprache. Das verbale Pacing besteht darin, sich auf die Sprachcodes des Gegenübers einzulassen, das heißt seine bevorzugten Ausdrücke, Bilder, Metaphern und Satzkonstruktionen zu benutzen, zwar unter Berücksichtigung jener kognitiven und emotionalen Vorgänge, die sie repräsentieren (Anderson u. Goolishian, 1992). Insbesondere ist ein sensibles Hinhören auf »Schlüsselwörter« gefordert. Meist reicht ein einfaches Wiederholen mit fragender Intonation, um die Betroffenen einerseits zu einer vertieften Selbstexploration der relevanten Erfahrungen und Einstellungen anzuregen und um andererseits bei ihm das Gefühl zu verstärken, dass man ihn tatsächlich versteht. Neben gemeinsamen Sprachcodes halten Anderson und Goolishian (1992) die Übernahme des Bezugsrahmens des Gegenübers als unabdingbar, um zu einer förderlichen Interaktion zu kommen. Den Bezugsrahmen der Patienten bzw. Klienten in den Mittelpunkt zu stellen, heißt nach ihren Wahrnehmungen und Zielen zu fragen, ihre Problemdefinitionen zu akzeptieren und ihre Einschätzungen nützlicher innerer und äußerer Ressourcen zu respektieren. Zur Erforschung des Bezugsrahmens erweist sich die Haltung des »Nicht-Wissens« als hilfreich (Anderson u. Goolishian, 1992). »Die Position des Nicht-Wissens zieht eine allgemeine Haltung oder einen Standpunkt nach sich, in welchem die Handlungen der Therapeutin oder des Therapeuten eine reichhaltige, aufrichtige Neugier vermitteln. Das heißt, die Handlungen und die Haltungen des Therapeuten drücken eher das Bedürfnis aus, mehr über das zu erfahren, was © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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gesagt wurde, als vorgefasste Meinungen und Erwartungen über den Klienten, das Problem oder das, was geändert werden sollte, zu übermitteln. Die Therapeutin oder der Therapeut positioniert sich also in einer Weise, die es ihr oder ihm erlaubt, durch die Klientin oder den Klienten informiert zu werden« (Anderson u. Goolishian, 1992, S. 29). Für Schweitzer und Weber (2000) kommen durch die Haltung des Nicht-Wissens und der damit einhergehenden Neugier Achtung, Respekt und Wertschätzung zum Ausdruck. Zugleich wird dadurch die Möglichkeit eröffnet, die Betroffenen mit ihren grundlegenden Bedürfnissen und Ressourcen, also mit ihren Stärken und Potenzialen, wahrzunehmen.

Setting für die Psychoedukation Betrachtet man die Ergebnisse der Studien (vgl. beispielsweise Lenz, 2005), so wird deutlich, dass die Angebote zur Informationsvermittlung und Aufklärung zeitnah zur Erkrankung oder Klinikeinweisung des betroffenen Elternteils bereitgestellt werden sollten, weil die Kinder in dieser Phase besonders massive Belastungen erleben, die traumatisierende Dimensionen erreichen und zugleich kaum Ansprechpartner aus ihrem sozialen Netzwerk zur Verfügung stehen. Dieses Unterstützungsangebot sollte zu einem festen Bestandteil im Behandlungskonzept werden, über das die Betroffenen bei der Aufnahme informiert werden. Da Informationsvermittlung keine einmalige Aktion darstellt, da sich im Verlauf der Krankheit und der Behandlung für die Kinder immer neue Fragen ergeben können, müssen entsprechende Räume und Gelegenheiten dafür geschaffen werden. Als Rahmen für die Informationsvermittlung an die Kinder wird häufig die Gruppe empfohlen (vgl. Leidner, 1997; Gundelfinger, 1997; Dierks, 2001). Der Gruppe wird ein besonderer Platz eingeräumt, denn hier bieten sich für die Kinder nach Ansicht dieser Autoren in einem geschützten sozialen Kontext Möglichkeiten zum Erfahrungsaustausch und zur relativierenden Einordnung eigener Probleme und damit zu einer emotio© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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nalen Entlastung. Durch das Gespräch mit anderen Betroffenen könnten die Kinder sehr schnell Ähnlichkeiten zu ihrer Lebenssituation herstellen und dadurch erkennen, dass sie kein Einzelschicksal erleiden. Gerade diese Wahrnehmung, dass andere Kinder ebenfalls unter der familiären Situation leiden – Yalom (1989) spricht in diesem Zusammenhang von der »Universalität des Leidens« – erzeuge eine Atmosphäre, in der Kinder aufnahmebereiter sind für Informationen und zugleich ermutigt werden, Fragen zu stellen. Die praktischen Erfahrungen in den Präventionsgruppen zeigen allerdings, dass Kinder und Jugendliche große Hemmungen haben, über ihre spezifischen belastenden Erfahrungen und Gefühle im familiären Zusammenleben mit einem kranken Elternteil vor anderen überhaupt zu sprechen. Die Erfahrungen zeigen, dass Kinder oftmals eine richtiggehende Abneigung haben, über die belastenden familiären Themen in der Gruppe zu sprechen (vgl. Gundelfinger, 1997; Lenz, 2008). Sie suchen zwar intensiv nach mehr Kontakten zu Gleichaltrigen, die ihnen Gefühle der Solidarität und der Zugehörigkeit vermitteln, ihnen Möglichkeiten zur Ablenkung und Unterstützung im Alltag, sowie vor allem auch Zugang zu sozialen Aktivitäten eröffnen. Ihre individuellen psychischen Bedürfnisse und Belastungen möchten die Kinder aber nicht in einem Gruppensetting ausbreiten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder und Jugendlichen in der Gruppe eine gute Gelegenheit sehen, soziale Kontakte insbesondere zu Gleichaltrigen mit ähnlichen Problemerfahrungen aufzubauen und gegenseitige Hilfe zu initiieren. Über ihre komplexe emotionale und psychosoziale Realität, die sich daraus für sie ergibt, möchten sie aber lieber im Einzel- oder Familiensetting sprechen. Studien zeigen, dass auch die gesunden Elternteile das individuelle Beratungsgespräch bzw. das Familiengespräch bei solchen Fragen vorziehen, weil sie sich davon am ehesten einen »greifbaren« Nutzen versprechen oder Vorbehalte im Hinblick darauf haben, in einer Gruppensituation über persönliche Dinge zu sprechen (vgl. Jungbauer et al., 2002). Der Vorteil des Einzelsettings besteht darin, dass Kinder und Jugendliche zum einen die Möglichkeit haben, offen über ihre © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Ängste und Sorgen um den erkrankten Elternteil, ihre Befürchtungen selber zu erkranken, ihre Hilflosigkeit, ihre Scham- und Schuldgefühle, ihren Ärger und ihre Wut zu sprechen. Zum anderen ermöglicht es der Einzelkontakt, die Wünsche nach Informationen ohne große Rücksichtnahme und Schuldgefühle gegenüber der erkrankten Mutter/des erkrankten Vaters zum Ausdruck bringen zu können, also Fragen zu den Themen zu stellen, die sie im Moment bewegen. Gerade bei Jugendlichen wirkt ein solches Setting mit Sicherheit autonomiefördernd und identitätsstärkend (Lenz, 2005). Indem den Kindern und Jugendlichen ausreichend Platz eingeräumt wird, offen über die Krankheit des Elternteils, über Ursachenannahmen, über Aufgaben in der Familie, über Regeln und Umgangsform, über Kontakte mit Gleichaltrigen und ähnliches zu sprechen, gewinnt der Professionelle zugleich einen differenzierten Einblick in das bestehende Wissen und in die vorherrschende Sichtweise über die Krankheit. Dies kann wichtige Anknüpfungspunkte für eine weitergehende Informationsvermittlung liefern. Das Einzelsetting setzt natürlich das Einverständnis beider Elternteile voraus. Als hilfreich erweist es sich, zunächst bei ihnen Einsicht in die Relevanz einer alters- und entwicklungsgemäßen Aufklärung ihrer Kinder zu erzeugen. Sie sollten in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung von Informiertheit über die Erkrankung und Behandlung als wichtigen protektiven Faktor hingewiesen werden, der den Kindern das Umgehen mit der schwierigen familiären Situation erleichtern kann (Lenz, 2008). Zum anderen gilt es darauf aufmerksam zu machen, dass es den Kinder und Jugendlichen oftmals in Abwesenheit der Eltern leichter fällt, ihre Fragen und Anliegen offen und unbefangener einzubringen. Die Einzelkontakte sollten aber ergänzt werden durch gemeinsame Gespräche mit Eltern und Kindern (Lenz, 2010). Das Familiensetting verhindert die Entwicklung von Misstrauen und Ängsten auf Seiten der Eltern und fördert die Transparenz und Offenheit. Gerade bei schwer erkrankten Patienten könnte durch alleinige Einzelgespräche leicht der Eindruck entstehen, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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die Kinder würden negativ beeinflusst und gegen die Eltern aufgebracht oder über das Familienleben oder ihr Verhalten ausgehorcht, was etwa bestehende paranoide Vorstellungen und Schuldgefühle verstärken kann. Familiengespräche können zugleich die Betroffenen ermutigen, mit dem Thema offener und aktiver umzugehen und die gegenseitige Schonhaltung zu überwinden. Die Eltern können dadurch lernen, ihre Befindlichkeiten und Gefühle mutiger auszudrücken und ehrliche Antworten zu geben und die Kinder können lernen, sich Fragen stellen zu trauen und ihre Wünsche und Bedürfnisse auch dem kranken Elternteil gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Wenn man darüber hinaus berücksichtigt, dass vor allem die jüngeren Kinder am liebsten von ihren Eltern über verschiedene Aspekte der Krankheit, deren Verlauf und Behandlung informiert werden wollen (Lenz, 2005), kann das Familiensetting nicht zuletzt den Eltern auch ein wichtiges Lernfeld bieten. Sie erleben zum einen genauer, was Kinder wissen wollen, welche Anliegen und Informationsbedürfnisse sie haben und zum anderen erhalten sie durch das Verhalten und die Haltung des professionellen Helfers Anregungen, wie sie eine Atmosphäre des Sich-fragen-Trauens schaffen und wie sie auf die Anliegen ihrer Kinder reagieren könnten.

Materialien für die Psychoedukation im Kindesalter Anschauliche und ansprechende Materialien helfen in der Aufklärungsarbeit mit Kindern, die Aufmerksamkeit auf die gegebenen Informationen zu richten und zu erhalten. Insbesondere bei längeren Informationsvermittlungen kommt es auf eine möglichst abwechslungsreiche Gestaltung an, um die Aufmerksamkeit immer wieder zurückzugewinnen bzw. aufrechtzuerhalten und zugleich die Aufnahmekapazität von Kindern nicht zu überfordern. Es liegen mittlerweile einige ansprechend gestaltete Materialien zum Thema »Kinder psychisch kranker Eltern« vor, die gut in der psychoedukativen Arbeit mit Kindern eingesetzt werden können. Es handelt sich dabei zum einen um drei © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ursprünglich in Holland entwickelte Broschüren, die von Fritz Mattejat (1997) den deutschen Verhältnissen angepasst wurden und mittlerweile in einer überarbeiteten Neuauflage über die Familien-Selbsthilfe Psychiatrie (BApK e. V.) erhältlich sind. Die Broschüre »Jetzt bin ich dran« wendet sich an 8- bis 12-jährige Kinder und die Broschüre »It’s my turn« an 12- bis 18-jährige Kinder und Jugendliche. Beide Informationshefte enthalten Erläuterungen von Fachbegriffen sowie Erklärungen häufiger Krankheiten und des Unterschiedes zwischen »psychotisch« und »neurotisch«. Darüber hinaus werden wichtige Fragen diskutiert, die oft von betroffenen Kindern gestellt werden. Die Broschüren zielen darauf ab, den Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, dass sie für ihre schwierige familiäre Situation nicht verantwortlich sind, dass sie nicht die einzigen sind, die mit solchen Problemen konfrontiert sind, und dass es hilfreich ist, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. In dem Informationsheft für Jugendliche wird darüber hinaus auf mögliche Ursachen von psychischen Erkrankungen, sowie auf deren Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten und der Gefahr der eigenen Erkrankung eingegangen. Einen breiten Raum nehmen Anregungen zu eigenen Freizeitaktivitäten und Kontakte zu Peers sowie die Möglichkeiten der Inanspruchnahme professioneller Hilfe ein. Die Broschüre »Nicht von schlechten Eltern« richtet sich an die Eltern. Sie werden darin informiert, wie unterschiedlich Kinder auf eine psychische Erkrankung reagieren können und was Kinder in dieser Situation brauchen. Praktische Tipps und ein Überblick über Hilfe- bzw. Unterstützungsmöglichkeiten stellen die weiteren Inhalte dar. Trepte (2008) hat Info-Karten für Bezugspersonen von Kindern psychisch kranker Eltern entwickelt, auf denen zu häufig gestellten Fragen der Kinder verschiedene Antworten gegeben werden. Die Antworten sollen verschiedene Erklärungsmuster anbieten und Eltern oder andere Bezugspersonen besser befähigen, mit ihren Kindern über die Aspekte der belastenden Lebenssituation ins Gespräch zu kommen. Inhaltlich beschäftigen sich die Info-Karten mit dem Beziehungsaspekt, die Sorge um die psychisch kranken Eltern und die persönliche Betroffenheit: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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– Psychisch kranke Eltern als Ansprechpartner in einer belastenden Lebenssituation, die Gefahr einer eigenen psychischen Erkrankung. – Heilbarkeit psychischer Krankheiten sowie die Notwendigkeit, sich anders zu verhalten als in unbelasteten Familien. – Zentrale Fachbegriffe wie Psychiater, Therapie und psychische Erkrankung werden erklärt. – Weiterhin geht es um die Bewältigung der belastenden Situation, insbesondere um die Selbstverständlichkeit der Inanspruchnahme von Hilfen von außen: Was ist in einer häuslichen Krisensituation zu tun? – Schließlich geht es um die Überwindung der sozialen Isolierung: Bedeutet die psychische Erkrankung einen Sonderstatus der Familie oder ein nicht seltenes Schicksal, das möglicherweise mit anderen Altersgenossen geteilt wird? Mit dem Buch »Sonnige Traurigtage« (Homeier, 2006) liegt ein sehr ansprechend illustriertes und unterhaltsames Fachbuch für Kinder und deren Bezugspersonen vor. Der fachlich fundierte Text gibt im ersten und zweiten Teil in einer anschaulichen und verständlichen Form Antworten auf typische Fragen der betroffenen Kinder, wie beispielsweise – Zu Hause ist etwas merkwürdig. Sind Mama und Papa krank? – Wer findet heraus, was mit Mama oder Papa los ist? – Mit wem kann ich reden? – Was tun, wenn ich niemanden zum Reden habe? – Wer kann was für mich tun, wenn Mama oder Papa einen Traurigtag haben? – Notfallplan. – Was tun, wenn andere Kinder blödes Zeug über mich reden? Der dritte Teil des Buches »Ratgeber für Eltern und Bezugspersonen« gibt konkrete Hilfestellungen und Empfehlungen im Umgang mit den Kindern. Es werden dabei zentrale Problembereiche bzw. Themen aufgegriffen und behandelt wie beispielsweise: – Viele Kinder fragen sich: Was ist los mit Mama oder Papa? Doch die Antwort bleibt oft aus. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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– Viele Kinder fragen sich, ob auch sie eine psychische Erkrankung entwickeln können. – Viele Kinder von psychisch kranken Eltern finden keinen Anschluss an Gleichaltrige. – Oft sind Kinder der Meinung, dass ihr Verhalten Einfluss auf die elterliche Erkrankung habe und übernehmen Verantwortung für Geschwister und Eltern. Belletristische Bücher stellen eine weitere Möglichkeit dar, Kinder anzuregen, sich emotional mit dem Thema psychische Erkrankung eines Elternteils zu beschäftigen. Gerade literarische Erzählungen sind in der Lage, jenseits von sachlichen Informationen und fachlich-konkretem Wissen den kindlichen Leser emotional in ein dramatisches Geschehen hineinzuziehen, »in eine durch das Auftreten eines unerwarteten Ereignisse ausgelöste Spannung, die einer entsprechenden Lösung bedarf (Boueke et al., 1995, S. 15). Als Leser fühlt das Kind mit den Figuren in der Geschichte mit, identifiziert sich mit einigen und distanziert sich von anderen, sucht nach Gemeinsamkeiten und nach Trennendem. Durch diese Auseinandersetzung und dem Mitfühlen ergeben sich neue Einsichten in die eigene Situation, eröffnen sich neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten. Mittlerweile sind einige Bücher verfügbar, die Kindern psychisch kranker Eltern empfohlen werden können, wenn sie sich über die Psychoedukation hinaus literarisch mit der Thematik beschäftigen wollen: – Boie, K. (2005). Mit Kindern redet ja keiner. Frankfurt a. M.: Fischer. – Erikson, E. L. (2004). Beste Freunde, kapiert! Hamburg: Dressler. – Minne, B. (2004). Eichhörnchenzeit oder der Zoo in Mamas Kopf. Düsseldorf: Sauerländer. – Rees, G. (2004). Erde an Pluto oder als Mum abhob. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag. – Wilson, J. (2002). Tattoo Mum. Düsseldorf: Sauerländer Verlag. – Mosch, E. von (2008). Mamas Monster. Was ist nur mit Mama los? Bonn: Balance buch + medien verlag. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Für Jugendliche können auch Materialen eingesetzt werden, die ursprünglich für Erwachsene entwickelt wurden. Mittlerweile liegen für verschiedene psychiatrische und psychosomatische Krankheiten sogenannte Ratgeber und Selbsthilfemanuale vor, die von fachkompetenten Autoren verfasst wurden und für Laien verständliche Informationen zu allen störungs- und therapierelevanten Themen, sowie zu den Auswirkungen auf das tägliche Leben. Neben der sachliche Aufklärung und Informationsvermittlung werden Fragen der emotionalen Unterstützung und Entlastung behandelt. Beispiele: – BApK/Familienselbsthilfe (2007). Mit psychisch Kranken leben. Rat und Hilfe für Angehörige. Bonn: Psychiatrie Verlag. – Bäuml, J. (2005). Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige. Berlin u. Heidelberg: Springer. – Beitler, H. (2006). Zusammen wachsen. Psychose, Partnerschaft und Familie. Bonn: Psychiatrie Verlag. – Wolfersdorf, M. (2008). Depression. Die Krankheit bewältigen. Bonn: Psychiatrie Verlag. – Mason, P. T., Kreger, R. (2008). Schluss mit dem Eiertanz. Für Angehörige von Menschen mit Borderline. Bonn: Psychiatrie Verlag. – Rahn, E. (2007). Borderline. Verstehen und bewältigen. Bonn: Psychiatrie Verlag.

Literatur Anderson, H., Goolishian, H. S. (1992). Der Klient ist Experte: Ein therapeutischer Ansatz des Nicht-Wissens. Zeitschrift für systemische Therapie, 3, 176–186. Angenendt, J., Stieglitz, R.-D. (2000). Psychoedukation, Patientenratgeber und Selbsthilfemanuale. In M. Berger (Hrsg.), Psychiatrie und Psychotherapie (S. 239–255). München: Urban & Fischer. Beardslee, W. R., Salt, P. (1993). Comparison of preventive interventions for families with parental affective disorders. Journal of the American Academy for Child an Adolescent Psychiatry, 32, 254–263.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Psychoedukation für Kinder psychisch kranker Eltern

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Albert Lenz

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Christiane Hornstein und Patricia Trautmann-Villalba

Mutter-Kind-Interaktionstherapie bei postpartalen psychischen Störungen

Zusammenfassung Psychische Erkrankungen in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Wochenbett sind häufig, werden aber oft nicht erkannt und nicht ausreichend behandelt. Schwere postpartale Erkrankungen beeinträchtigen die Fähigkeit der Mutter zur Versorgung des Kindes und zur angemessenen Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung. Die hieraus resultierende Störung der Mutter-Kind-Beziehung erschwert die Genesung der Mutter und kann darüber hinaus die affektive und kognitive Entwicklung des Kindes nachhaltig beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund wurde ein interaktionszentriertes Therapieprogramm entwickelt, das aus vier Modulen besteht: 1) Verhaltenstherapeutische Müttergruppe, 2) Videogestützte Einzelpsychotherapie der Mutter-Kind-Beziehung, 3) Unterstützung der Mutter-Kind-Beziehung im Alltag und 4) Arbeit mit Vätern und Angehörigen. Das Therapieprogramm ist für Mütter mit Kindern bis zum Alter von 24 Monaten geeignet, da sich die entwicklungspsychologischen Aspekte des Programms auf den Zeitraum der sogenannten »frühen Kindheit« beziehen. Die videomikroanalytischen Techniken zur Behandlung der Mutter-Kind-Beziehung bei schwer psychisch erkrankten Frauen und deren Vorteile werden ebenso vorgestellt und Differentialindikationen aufgezeigt. Abschließend werden die Ergebnisse einer Studie zur Qualitätssicherung des Therapieprogramms im Prä-Post-Vergleich präsentiert.

Vorbemerkungen Postpartale Störungen unterscheiden sich im Krankheitsverlauf nicht von psychischen Erkrankungen, die zu einem anderen Zeitpunkt auftreten. Jedoch prägen die Anforderungen der Mutterschaft und die Beziehung zu dem Neugeborenen das Erscheinungsbild und finden sich in den Symptomen der jeweiligen Erkrankungen wieder (Brockington, 2004; Murray, Cooper, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Christiane Hornstein und Patricia Trautmann-Villalba

Wilson u. Romaniuk, 2003). Postpartale Störungen beeinträchtigen die Fähigkeit einer Mutter zur Versorgung ihres Kindes und erschweren den Aufbau einer adäquaten Mutter-Kind-Beziehung (Murray et al., 2003). Die Beziehungsstörung wirkt sich negativ auf das Befinden der Mutter aus und erschwert deren Genesung. Für die Kinder bedeutet die psychische Erkrankung der Mutter einen negativen Umweltfaktor, der die kindliche Entwicklung nachhaltig beeinflussen kann (Field, 1998; Grace, Evindar u. Stewart, 2003; Laucht, Esser u. Schmidt, 2002; Murray u. Cooper, 1997; Yoshida, Marks, Craggs, Smith u. Kumar, 1999). Bereits im Säuglingsalter wurden vor allem bei Kindern postpartal depressiver Mütter Störungen der Affektregulation beobachtet. Die Kinder waren irritierbar, schrien häufig, ließen sich nicht beruhigen, oder sie verhielten sich ruhig, zurückgezogen und reagierten kaum auf Ansprache oder interaktive Spiele. Mit einem Jahr waren die Kinder depressiver Mütter im Vergleich zu Kindern gesunder Mütter zurückgezogener und weniger aufmerksam. Sie zeigten häufiger eine unsicher-ängstliche oder unsicher-ambivalente Bindungsentwicklung, emotionale und kognitive Entwicklungsdefizite sowie Verhaltensauffälligkeiten, die bei den Söhnen depressiver Mütter deutlicher ausgeprägt waren als bei den Töchtern. Die Defizite waren bis ins Schulalter nachweisbar (Murray, Fiori-Cowley, Hooper u. Cooper, 1996). Langfristige Effekte wie internalisierende oder externalisierende Verhaltensauffälligkeiten waren sogar bis zur Adoleszenz zu verfolgen (Laucht et al., 2002). Das Risiko dafür, dass die Kinder Verhaltensauffälligkeiten entwickeln, stieg mit der Schwere und Chronizität der depressiven Symptomatik. Auch bei Kindern postpartal psychotischer Mütter und bei solchen mit Persönlichkeitsstörungen wurden Verhaltensauffälligkeiten bereits in der frühen Kindheit beschrieben (Riordan, Appleby u. Faragher, 1999; Hobson, Patrick, Hobson, Crandell, Bronfman u. Lyons-Ruth, 2009). Der Zusammenhang zwischen einer postpartalen psychischen Erkrankung der Mutter und den kindlichen Entwicklungsdefiziten ist nicht nur durch biologische und genetische Faktoren zu erklären. Vielmehr ist die frühe Mutter-Kind-Bezie© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Mutter-Kind-Interaktionstherapie

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hung der soziale interaktionale Transmissionsweg, über den die Entwicklungsbeeinträchtigungen vermittelt werden. In der Postpartalzeit können selbst leichte depressive Störungen die Entwicklung von intuitiven Elternkompetenzen und Feinfühligkeit behindern (Papoušek, Schieche u. Wurmser, 2004; Field, 1998). Depressive Mütter übersehen die Signale ihres Kindes oder interpretieren sie falsch und können dann nicht prompt und adäquat reagieren. So bemerkt eine depressive Mutter zum Beispiel nicht, dass der Säugling sie aufmerksam anschaut und auf ihre Berührung mit einem Lächeln reagiert, stattdessen interpretiert sie seine Blickabwendung – eine physiologische Erholungsreaktion des Säuglings – als ein Zeichen dafür, dass ihr Kind sie nicht möge, sie langweilig für ihr Baby sei und sie ihm nichts bieten könne. Ihr Gesichtsausdruck erstarrt und sie rückt von ihrem Baby ab. In systematischen Verhaltensbeobachtungen finden sich typische Verhaltensmuster depressiver Mütter im Umgang mit den Säuglingen, wie verminderter Blickkontakt, flache Mimik, monotone Stimmung. Die Mütter sprechen kaum mit ihrem Kind, stimulieren es nicht durch Berührungen und vermeiden interaktives Spielen. Ihr Verhalten ist von mangelnder Kontingenz und fehlendem affektiven Austausch gekennzeichnet. Ebenso wurde zudringliches überstimulierendes Verhalten bzw. ein Wechsel von Unter- und Überstimulation beobachtet oder ärgerlich-aggressive Tendenzen im verbalen und mimischen Ausdruck oder bei der Berührung des Kindes (Papoušek, 2002; Gunning, Conroy, Valoriani, Figueiredo, Kammerer, Muzik, Glatigny-Dallay u. Murray, 2004). Aber auch die emotionale Beziehung einer Mutter zu ihrem Säugling ist bei postpartal psychisch kranken Frauen häufig gestört. Diese postpartale mütterliche Bindungsstörung wurde von Brockington und Mitarbeitern (2001) sowie von Kumar (1997) konzeptualisiert. Das Störungskonzept beinhaltet einen plötzlichen Beginn, Entfremdung vom Kind, Ablehnung des Kindes, Indifferenz dem Kind gegenüber, Ärger, Feindseligkeit, Wut und Hass auf das Kind und schließlich den Impuls, dem Kind schaden zu wollen. Die Bindungsstörung ist nicht generalisiert, das heißt, sie ist immer nur auf ein spezifisches Kind bezogen. Sie ist © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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den Autoren zufolge häufig mit depressiven Störungen assoziiert. Der Mangel an positiven Gefühlen dem Kind gegenüber wird von den betroffenen Frauen als höchst quälend und beschämend wahrgenommen und mündet nicht selten in Suizidalität der Mutter. In seltenen Fällen kann es zu Impulsen kommen, das Kind zu töten. Im Gegensatz zu den depressiven Frauen haben postpartal psychotische Mütter positive Gefühle ihrem Kind gegenüber und erleben sich als gut gebunden, solange nicht produktiv psychotische Symptome im Vordergrund stehen. Während sich die depressiven Mütter als insuffizient und inkompetent erleben, ist das Selbstbild psychotischer Mütter hinsichtlich der mütterlichen Selbstwirksamkeit idealisiert.

Stationäre Mutter-Kind-Behandlung Die hier aufgezeigten Zusammenhänge zwischen der postpartalen mütterlichen Erkrankung, den Defiziten in der Mutter-KindBeziehung und dem Risiko für kindliche Auffälligkeiten haben therapeutische Implikationen. Die Behandlung postpartaler Erkrankung kann demnach nicht nur symptomspezifisch und auf die Remission der Erkrankung ausgerichtet sein, sondern muss auch auf die Mutter-Kind-Beziehung fokussieren zur Prävention kindlicher Entwicklungsstörungen. Aus diesem Grunde wurde in der Wieslocher Arbeitsgruppe ein Therapieprogramm für die stationäre Mutter-Kind-Behandlung entwickelt, in dem Mutterschaftsthemen mit solchen Themen verbunden werden, die die Mutter-Kind-Beziehung und Bindung fördern: das interaktionale Therapieprogramm für Mütter mit postpartalen psychischen Störungen (Wortmann-Fleischer, Downing u. Hornstein, 2006, S. 197). Das Behandlungsprogramm hat folgende Behandlungsziele: – Verbesserung der mütterlichen Symptomatik/Rezidivprophylaxe, – Akzeptanz der Mutterrolle, – Förderung mütterlicher Kompetenzen, – Stabilisierung der Mutter-Kind-Beziehung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Indikation zur Aufnahme ist die psychische Erkrankung der Mutter (ICD-10: F2x, F3x, F4x, F6x). Weiterhin sollte für eine stationäre Mutter-Kind-Behandlung eine subjektive oder objektive Beeinträchtigung mütterlicher Kompetenzen in der frühen Mutterschaft vorliegen. Die Mütter erleben sich entweder selbst als insuffizient in der Beziehung zu ihrem Kind oder haben negative Kognitionen, die sich gegen das Kind richten und zur Ablehnung des Kindes bis hin zur Feindseligkeit führen können. Ebenso werden beobachtete Kriterien herangezogen, wie Defizite in der Versorgung des Kindes oder in der Interaktion mit ihm. Das Therapieprogramm ist für Mütter mit Kindern bis zum Alter von 24 Monaten geeignet, da sich die entwicklungspsychologischen Aspekte des Programms auf den Zeitraum der sogenannten »frühen Kindheit« beziehen.

Die vier Therapiemodule Modul 1: Verhaltenstherapeutische Müttergruppe (10 Sitzungen à 2 x 60 Min./Woche) In einem halboffenen Setting werden folgende Themen bearbeitet: Rollenbilder, Wahrnehmung positiver Gefühle, Stressfaktoren und -bewältigungsstrategien, Krisenmanagement, Wecken der Neugierde an der Beobachtung des Kindes, die Bedeutung der beschreibenden Sprache, Echogeben auf kindliche Signale, Beruhigungstechniken und »Führen und Folgen« (Führen: Mutter gibt das Ziel vor, z. B. Wickeln; Folgen: Kind gibt das Ziel vor, z. B. Spielen). Die ersten fünf Themenbereiche befassen sich mit der spezifischen Situation einer Frau in der frühen Mutterschaft. Die Grundlage der entwicklungspsychologischen Themen sind Konzepte der Feinfühligkeit, der intuitiven elterlichen Kompetenzen und der Affekt- und Lautspiegelung zur Unterstützung der Aufmerksamkeitsentwicklung, der Affektregulation und des natürlichen Explorationsbedürfnisses des Kindes (WortmannFleischer, Downing u. Hornstein, 2006). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Modul 2: Videogestützte Einzelpsychotherapie der Mutter-Kind-Beziehung (50 Min./Woche) In der videomikroanalytischen Therapie (VMT) wird mit Videografien signifikanter Momente der Mutter-Kind-Interaktion in Alltagssituationen gearbeitet. Diese Therapie sucht nach den individuellen Ressourcen einer Mutter in der Interaktion mit ihrem Kind und nutzt diese zum Aufbau mütterlicher Kompetenzen. Sie ist für die Behandlung schwer erkrankter Mütter gut geeignet, da durch das Medium Bild ein unmittelbarer emotionaler Zugang gelingt. Durch die Visualisierung können zum Beispiel kognitive Störungen und Wahrnehmungsbeeinträchtigungen ausgeglichen werden.

Modul 3: Unterstützung der Mutter-Kind-Beziehung im Alltag Die mit den oben genannten entwicklungspsychologischen Konzepten vertrauten Erzieherinnen sowie das Pflegeteam unterstützen die Mutter bei der alltäglichen Versorgung des Kindes, indem sie positive mütterliche Verhaltensweisen bestätigen, auf kindliche Signale aufmerksam machen und der Mutter helfen, diese adäquat zu interpretieren und darauf zu reagieren, zum Beispiel beim Üben von Beruhigungstechniken. Das Team fungiert als Modell für die Mutter. Ein Mal wöchentlich findet eine angeleitete Babymassage-Sitzung statt, die die mütterliche Sensitivität und hierüber die emotionale Beziehung zum Kind über den Körperkontakt fördert.

Modul 4: Arbeit mit Vätern und Angehörigen Väter und Angehörige sind wichtige Bezugspersonen, die dem Kind kompensatorische Beziehungserfahrungen vermitteln können. In mindestens einem Paargespräch bei Aufnahme und Entlassung sowie in einer psychoedukativen Gruppe werden entwicklungspsychologische Inhalte analog zur Müttergruppe besprochen. Weitere Themen sind die Vermittlung eines Krank© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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heitsmodells, die emotionale Entlastung der Väter sowie die Förderung eines sozialen Netzes für die Zeit nach der Entlassung.

Videogestützte Einzelpsychotherapie der Mutter-Kind-Beziehung Bei depressiven Müttern liegt ein Schwerpunkt der Therapie auf der Korrektur und Umstrukturierung negativer Kognitionen sowie Emotionen im Zusammenhang mit der Mutterschaftskonstellation (Stern, 1998). Diese prägen die Interaktion mit dem Kind und erschweren den emotionalen Beziehungsaufbau erheblich. Meist ermöglicht die visuelle Evidenz eines Bildes depressiven Müttern einen unmittelbaren emotionalen Zugang zu ihren eigenen Ressourcen, worin der Therapeut sie bestärken kann. Typische depressive Kognitionen finden sich in Äußerungen wie den folgenden: »Ich bin eine schlechte Mutter. Ich versage völlig. Andere können mein Kind besser verstehen und versorgen als ich. Ich bin schuld, wenn mein Kind später Schwierigkeiten in seinem Leben haben wird. Es wäre besser, wenn mein Kind eine andere Mutter bekäme. Das Baby schaut mich nicht an, es hat kein Interesse an mir. Es liebt mich nicht.« Auf dem Standbild der Videoaufnahme kann eine depressive Mutter oft zum ersten Mal wahrnehmen, dass ihr Baby sie intensiv anschaut. Oder sie realisiert durch die Mikroanalyse einer positiven Sequenz des »Turntaking«, dass sie in der wechselseitigen Interaktion mit dem Baby kompetent und feinfühlig auf seine kommunikativen Bedürfnisse eingeht. Dadurch kann es zu einer emotional tiefgreifenden Korrektur der generalisierten negativen Kognitionen und zu einer Abnahme von Insuffizienzgefühlen kommen. Typischerweise erkennen depressive Patientinnen die negativen Aspekte in der Interaktion selbst und neigen dazu, diese überzubewerten. Der Therapeut hat die unverzichtbare supportive Funktion, die Mutter zu entlasten, indem er zum Beispiel Defizite im mimischen oder sprachlichen Ausdruck in den Zusammenhang mit der akuten Erkrankung stellt, Zukunftsperspektiven einführt und damit die Veränderungsmotivation aktiviert. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Für eine psychotische Mutter wird durch das Medium des Bildes mehr als in jedem anderen therapeutischen Kontext, der sich auf Sprache oder alltagspraktische Übungen bezieht, Realität in die Therapie eingeführt. Im Gegensatz zu depressiven Müttern, die meist gefangen sind in der grüblerischen Auseinandersetzung mit ihrem negativen Selbstbild und dies ständig in der Interaktion mit dem Kind bestätigt sehen, steht bei psychotischen Müttern oft ein idealisiertes Mutterbild unverbunden neben der Realität. Unserer Erfahrung zu Folge reagieren vor allem Mütter, die unter schizophrenen Erkrankungen leiden, zum Schutz ihres fragilen Selbst hoch verletzlich auf Kritik und wehren zunächst therapeutische Beziehungsangebote ab. Das apersonale, scheinbar neutrale Medium des Bildes in der Videotherapie-Sitzung und der in der Dreiersituation »Therapeut-Video-Klient« entstehende indirekte Kontakt ist für sie leichter anzunehmen als der direkte Kontakt zum Therapeuten. Andererseits ist es für viele schizophrene Mütter äußerst belastend, sich selbst im Bild zu sehen, da es sie mit der Realität des Selbst konfrontiert. Nach unserer Beobachtung, vermeiden die Mütter häufig in den ersten Video-Sitzungen diese Konfrontation, indem sie nur ihr Baby betrachten und sich selbst aus dem Bild ausblenden. Da der Therapeut gerade bei der psychotischen Mutter die vielleicht einzige positive Ausnahme für die Sitzung ausgewählt hat, scheint das Baby im Bild die Mutter zu bestätigen, dass sie eine gute Mutter ist und keine Probleme mit ihrem Kind hat, entsprechend ihrer idealisierten Selbstwahrnehmung. Dies wird genutzt, um ihre Therapiemotivation zu gewinnen. Auch in der Bild-für-Bild-Analyse erkennt die psychotische Mutter zu Therapiebeginn ihre Defizite in der Interaktion nur selten, da ihre Wahrnehmung fragmentiert bleibt. Manchmal können Patientinnen keine Verbindung zwischen der Dyade im Bild und sich und ihrem Kind herstellen. Zum Beispiel sprechen sie bei der Analyse des eigenen Bildes in der dritten Person »die Mutter lächelt das Kind an«. Über den Fokus auf das Kind kann es schrittweise gelingen, fehlende oder verfälschte Wahrnehmungen gemeinsam mit der Patientin zu identifizieren und zu korrigieren. Erst wenn der Patientin die Identifikation mit sich und dem Kind © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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auf dem Bild gelingt, ist das Therapiebündnis tragfähig genug, um auf die wechselseitige Interaktion eingehen zu können und einen spezifischen »Working Point« zu definieren.

Behandlungseffekte

Abbildung 1: CGI (Clinical-Global-Impression-Scale) und SOFAS (Skala zur Erfassung des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus) zur Einschätzung des psychopathologischen Schweregrads und des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus bei Aufnahme und Entlassung In einer Qualitätssicherungsuntersuchung, in der psychopathologische und interaktionale Parameter bei Aufnahme und nach einem sechswöchigen Behandlungszeitraum untersucht wurden, konnten wir zeigen, dass die Therapieziele erreicht wurden (Hornstein, Trautmann-Villalba, Hohm, Rave, Wortmann-Fleischer u. Schwarz, 2007). Die Stichprobe umfasste 52 schwer postpartal erkrankte Mütter: 33 depressive (ICD-10: F31, F32, F33) und 20 psychotische (ICD-10: F20, F23, F25, F29) und ihre Säuglinge im Alter von 0–7 Monate, die zwischen Mai 2003 und September 2005 konsekutiv in der Klinik behandelt wurden. Der Schweregrad der Erkrankung (gemessen anhand der Clini© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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cal-Global-Impression-Scale, CGI) hat sich am Ende der Behandlung für beide Störungsbilder gegenüber dem Beginn deutlich reduziert (Abbildung 1). Ebenso ist der psychosoziale Kompetenzzuwachs zum Zeitpunkt der Entlassung der Mütter klar zu erkennen (gemessen anhand der Skala zur Erfassung des sozialen und beruflichen Funktionsniveaus, SOFAS). Die Differenzen waren statistisch hoch signifikant (p < .000). Weiterhin konnte gezeigt werden, dass sich die mütterliche Bindung an das Kind innerhalb des sechswöchigen Behandlungszeitraums bei den depressiven Patienten hoch signifikant verbesserte (Tabelle 1). Bei den psychotischen Patientinnen sind die Effekte weniger ausgeprägt, da bei diesen die Bindungsstörungen bei Aufnahme deutlich geringer ausgeprägt waren. Tabelle 1: PBQ-Werte (Postpartum Bonding Questionnaire) zur Einschätzung der selbsterlebten Bindung: Mittelwerte (Standardabweichungen in Klammern) Art der Störung psychotisch Variablen

affektiv

Aufnahme

Entlassung

verzögerte Bindung

9.44 (7.79)

5.40 (3.04)

Ablehnung/ Wut

5.43 (4.05)

Angst

5.00 (1.19)

p

Aufnahme

Entlassung

p

.030

19.33 (11.96)

9.78 (6.97)

.000

3.07 (2.34)

.030

10.80 (6.85)

5.07 (4.02)

.000

2.13 (4.46)

.015

8.07 (4.75)

3.97 (3.20)

.000

selbsterlebte Bindung

Als Maß für die Mutter-Kind-Beziehung haben wir Parameter für die mütterliche Reaktivität sowie das Blickverhalten von Mutter und Kind verwendet, die anhand einer zehnminütigen Videoaufnahme (Spiel- und Wickelsituation) mit den Mannhei© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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mer Beobachtungsskalen zur Beobachtung der Mutter-KindInteraktion bewertet wurden. Wie aus den Tabellen 2 und 3 ersichtlich, veränderte sich nicht nur das Verhalten der Mütter in der beobachteten Interaktion mit dem Kind positiv, sondern es veränderte sich auch das Interaktionsverhalten der Kinder. Während die Mutter feinfühliger im Umgang wurde, auf die Signale des Kindes prompt und adäquat reagierte, nahm auch die vokale, mimische und motorische Reaktivität des Kindes zu, und es war deutlich interessierter am Blickkontakt mit der Mutter, mit der es in gutem emotionalen Austausch war. Vor allem diejenigen Komponenten mütterlichen Feinfühligkeit, die in der interaktionalen Therapie thematisiert worden waren, wie zum Beispiel Ammensprache, Unterstützung des Explorationsverhaltens des Kindes, verbesserten sich bei allen Müttern. Tabelle 2: Interaktionsverhalten bei Müttern mit psychotischen und affektiven Störungen bei Aufnahme und Entlassung: Mittelwerte (Standardabweichungen in Klammern) Art der Störung psychotisch Variablen

Aufnahme

Entlassung

affektiv p

Aufnahme

Entlassung

p

Interaktionsverhalten (in Frames) face to face

6522.05 7934.26 (2456.74) (2072.75)

.022

8291.79 9436.67 (2633.28) (2277.54)

.051

vokale 3032,89 4223.68 Reaktivität (1674.90) (2035.53)

.003

3675.93 5384.26 (1426.17) (1860.82)

.000

mimische 993.42 2368.42 Reaktivität (1276.44) (1407,74)

.001

1768.52 (1125.91)

3712.96 (1507.92)

.000

motorische 2236.84 3756.58 Reaktivität (1592.57) (1772.41)

.001

2337.96 4277.78 (1321.88) (2144.52)

.000

mangelnde 4973.68 2046.05 Reaktivität (2431.56) (1685.42)

.000

4203.70 2551.89 (2806.92) (2214.79)

.004

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Tabelle 3: Interaktionsverhalten bei Kindern von Müttern mit psychotischen und affektiven Störungen bei Aufnahme und Entlassung: Mittelwerte (Standardabweichungen in Klammern) Art der Störung psychotisch Variablen

Aufnahme

Entlassung

affektiv p

Aufnahme

Entlassung

p

Interaktionsverhalten (in Frames) face to face

2072.71 3652.76 (1781.91) (3279.32)

.081

4131.05 4443.05 (2680.02) (2440.78)

.051

Lächeln

280.25 (402.13)

483.06 (506.40)

.215

496.42 (585.36)

894.00 (786.28)

.031

Weinen

1097.42 (1609.83)

149.89 (334.05)

.022

794.89 495.26 (2307.71) (1026.12)

.550

vokale 2340.28 2756.94 Reaktivität (2107.76) (2008.47)

.470

2899.04 3149.04 (2136.59) (2103.28)

.653

mimische 1784.72 2166.67 Reaktivität (1000.74) (1613.93)

.344

2735.58 3043.27 (2070.73) (1930.33)

.426

motorische 2956.28 4666.67 Reaktivität (1587.41) (2033.72)

.014

4004.81 4995.19 (1321.88) (2144.52)

.033

Blickvermeidung

.001

1860.58 (3121.96)

.054

4544.12 1742.65 (3654.23) (2226.65)

721.15 (1151.80)

Die genannten Ergebnisse machen deutlich, dass die häufigen und schweren psychischen Erkrankungen, unter denen Mütter nach der Geburt eines Kindes leiden und die die Beziehung zum Kind und seine Entwicklung gefährden, sich durch gezielte therapeutische Intervention gut behandeln lassen. Therapieprogramme wie das hier dargestellte leisten damit einen Beitrag zur Prävention von kindlichen Entwicklungsstörungen und Kindeswohlgefährdung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Mutter-Kind-Interaktionstherapie

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Christiane Hornstein und Patricia Trautmann-Villalba

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Forum »Multikulturalität und Familie«

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Uta Cramer-Düncher

Einführung in das Forum

Bei der Beschäftigung mit dem Thema »Multikulturalität und Familie im Kontext von Psychotherapie« kann sich zunächst einmal die Frage stellen, ob eine Psychotherapie mit Menschen aus anderen Kulturen – seien es nun Einzelpersonen, Kinder oder Erwachsene oder Familien – wirklich so anders sei, dass spezielles Wissen über den jeweiligen kulturellen Hintergrund für eine gelingende Arbeit notwendig sei. So betont der folgende Beitrag etwa, dass die interindividuellen Unterschiede allemal größer als die kulturellen Gemeinsamkeiten seien; die Variationsbreite innerhalb der jeweiligen Kulturen sei riesig. Es gebe weder die Türken oder türkische Familie, noch die Deutschen oder deutsche Familie noch die Chinesen oder chinesische Familie. Komme es also nicht zu allererst darauf an, den anderen in seiner Einzigartigkeit, die spezifischen Muster dieser besonderen Familie zu verstehen und reiche nicht das Psychotherapiewissen und -werkzeug aus der Ausbildung und das Einlassen auf die psychotherapeutische Situation aus? Der Autor des folgenden Beitrags verneint diese Position entschieden. In der Psychotherapieausbildung werde nicht auf die Sensibilität und Spezifität der Psychotherapieauffassungen anderer Kulturen eingegangen. Der Autor plädiert daher für eine stärkere Beachtung der (Trans- oder Inter-) Kulturalität bereits in der Ausbildung, aber auch in der Fortbildung von Psychotherapeuten, da eine Eins-zu-eins-Übertragung der Ergebnisse westlicher erziehungswissenschaftlicher Forschungsergebnisse auf Familien mit Migrationshintergrund nicht zulässig sei, wie Uslucan anhand einer eigenen Untersuchung darlegt. Was in der westlichen Mehrheitsgesellschaft als Erziehungsstil abgelehnt wird, kann für einen türkischen Jugendlichen unter Umständen die angemessene und erfolgreiche Erziehungsmethode sein. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Uta Cramer-Düncher

Von daher nochmals der Apell: Wirklich empathisches Verstehen sei nur vor dem kulturellen Hintergrund des Gegenübers möglich; auch schaffe Wissen über kulturelle Hintergründe Vertrauen in der therapeutischen Beziehung. Uslucan stellt in seinem Beitrag am Beispiel türkischer Migranten ausführlich die Besonderheiten von Werten und Erziehungsstilen in türkischen Familien im Vergleich zu deutschen Familien und deren Auswirkungen auf die Integrationsprozesse dar. Neben der Betonung der Risiken und Probleme liegt es ihm besonders am Herzen, auch auf die positiven Aspekte und Resourcen von Migranten hinzuweisen und deren Mut und Risikobereitschaft zu würdigen. Gelungene Integration werde kaum wahrgenommen; angesichts der schwierigen Umstände, mit denen Migranten zu kämpfen haben, seien sie aber eigentlich eher ein »Wunder«. Der defizitorientierte Diskurs unterschätze sowohl die Chancen einer Migration als auch die bislang erbrachten Leistungen von Migranten; eine ressourcen- und resilienzorientierte Sicht sei unabdingbar. In der Diskussion wurden diese Gedanken von den Diskutanten aufgenommen: Wichtig im therapeutischen Prozess sei Offenheit für das Fremde, aber auch für das Eigene. So sei es auch wichtig, die eigenen Grenzen deutlich zu machen. Professor Uslucan machte in diesem Zusammenhang einen interessanten Exkurs über therapeutische Haltungen: Er zitierte aus dem Buch »Transkulturelle Psychologie« eine Klassifikation therapeutischer Haltungen: Der Eroberer hat seine Vorstellungen und ist irritiert, wenn er bei anderen Unterschiede feststellt. Der Relativist erkennt andere Vorstellungen und Kulturen an, sowohl in den Vereinbarkeiten als auch in den Unterschieden. Der Universalist sagt, dass es Gleiches bei allen Kulturen gibt (z. B. das Sicherheitsbedürfnis), aber Unterschiede kulturell kodifiziert sind. Für sich selber skizzierte er folgende Haltung: »Ich möchte wechselseitig Gleiches im therapeutischen Prozess herausarbeiten und mich auf die Interkulturalität in der therapeutischen Beziehung einlassen.« Aber auch die Erwartungen an Psychotherapie bzw. Helfer sind kulturell gefärbt. Es wurde von Erfahrungen berichtet, dass © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Einführung in das Forum

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türkische, vor allem ältere Migranten mehr somatisieren und andere Erwartungen an den Psychotherapeuten haben als deutsche Patienten. Die Verhaftung im schulmedizinischem Denken sei wesentlich stärker und die Rolle des Kranken und des Heilers sind fest umschrieben: »Ich habe Schmerzen, sag mir, was zu tun ist.« In westlichen Gesellschaften dagegen stehe das gemeinsame Erarbeiten von Lösungen und Einstellungsänderungen im Vordergrund. In den jüngeren Generationen der türkischen Migranten habe sich das Bild inzwischen allerdings gewandelt. Psychisches Leid wird als solches erkannt und anerkannt. Aber auch Störungsbilder werden in unterschiedlichen kulturellen Kontexten unterschiedlich bewertet. Hyperaktivität wird in südamerikanischen Gesellschaften, zum Beispiel in Brasilien, ganz anders bewertet als in Deutschland. Die Prävalenzen von ADHS sind in beiden Ländern gleich. In allen Ländern, auch in Brasilien, sind die Störungen nach ICD-10 gleich beschrieben, aber der Umgang damit ist anders. Durch den mehr bewegungsorientierten Unterricht und Alltag werde das gleiche Verhalten in Brasilien mehr integriert als in Deutschland und nicht als pathologisch bewertet. Brasilianische Eltern in Deutschland verstehen von daher nicht ohne Weiteres, warum sich Lehrer über das Verhalten der Kinder beschweren oder weshalb es eine Therapie machen soll. Wenn die Aufnahmegesellschaft individualistisch, die Herkunftsgesellschaft jedoch kollektivistisch geprägt ist, prallen sehr differente Sichtweisen aufeinander. Auch die Therapieverfahren, die alle in westlichen Gesellschaften ihren Ursprung haben, sind individuumzentriert. Die Deutschen fragen »Was kann ich gegen mein Problem tun?« Kollektivistische Gesellschaften sehen weniger Selbstverantwortung. Es ist beispielsweise die Schwiegermutter oder der böse Blick an der Erkrankung schuld. Eine Erklärung, die den kulturellen Kontext berücksichtigt, wäre dagegen folgende: Der böse Blick kann beschreiben, dass die Beziehung zum Nachbarn gestört ist, dass es ein Person-Umwelt-Ungleichgewicht gibt. So lässt sich konstruktiv psychotherapeutisch mit dieser Sichtweise arbeiten. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Haci-Halil Uslucan

Familiale Lebenswelten von Migranten

Zusammenfassung Der Beitrag fokussiert zunächst auf die Vielfalt von Akkulturationsprozessen und unterstreicht, dass gelungene Integration von Familien mit Migrationshintergrund nicht nur von ihrem eigenen Verhalten, sondern zugleich auch von dominanten Haltungen und institutionellen Vorgaben der Mehrheitsgesellschaft abhängt. Daran anknüpfend wird – entlang einer eigenen empirischen Untersuchung zu elterlichen Erziehungsstilen und ihrer Perzeption seitens der Jugendlichen im ethnischen Kontext – auf Besonderheiten von Erziehungsstilen von Migrantenfamilien eingegangen und herausgearbeitet, inwieweit sich diese von deutschen Familien unterscheiden und welchen spezifischen erzieherischen Herausforderungen und lebensweltlichen Risiken Migrantenfamilien ausgesetzt sind. So wird deutlich, dass ein Teil der in der westlichen erziehungspsychologischen Forschung geläufige Annahmen sich nicht bruchlos auf Familien mit Zuwanderungsgeschichte übertragen lassen. Abschließend werden einige Handlungsempfehlungen für die pädagogische Praxis gegeben, wie zum einen Migrantenfamilien gefördert sowie zum anderen ihre vorhandenen Ressourcen angemessener berücksichtigt werden können. Zuletzt wird auf methodische Fallstricke hingewiesen, die es zu vermeiden gilt, wenn man insbesondere quantitative vergleichende Studien durchführen oder bereits vorhandene sinnvoll deuten möchte.

Integration und Familie In meinem Beitrag werde ich zunächst die generellen Integrationsperspektiven von Migranten in Deutschland streifen und mich anschließend auf eine spezifische Gruppe, und zwar auf türkischstämmige Migranten, konzentrieren. Im Fokus der Betrachtung sollen dabei die elterliche bzw. familiale Erziehung sowie Risiken und Ressourcen von Migrantenfamilien stehen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Haci-Halil Uslucan

Die sozialwissenschaftliche sowie die politische Debatte um Integration von Migranten ist in den letzten Jahren ein Topos, der – Dauerreflexionen trotzend – seine Attraktivität, seine politische Verwertbarkeit und Instrumentalisierbarkeit nicht verloren hat. Gleichwohl fast immer nur Migranten, das heißt die Zuwanderer, allein als Gegenstand von Integrationsfragen fungieren, ist aus einer umfassenden Perspektive Integration begrifflich als eine Befähigung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verstehen. Und diese erfolgt nicht unmittelbar mit der Migration, sondern erfordert erfahrungsgemäß eher mittel- bis langfristige Prozesse; sie vollzieht sich in vielen Fällen auch nicht innerhalb einer Generation, sondern spannt sich über mehrere Generationen, wodurch die Klammer zwischen Familie und Integration geschlossen wird. Versteht man darüber hinaus Integration von ihrem Gegenbegriff her, und zwar der Desintegration bzw. des Ausschlusses, der Aus- und Abgrenzung, so wird evident, dass nicht nur Migranten integriert oder desintegriert sein können, sondern auch Teile der Mehrheitsgesellschaft. Auch wenn die Migrationsdebatte weitestgehend defizitorientiert läuft und mit vielfältigen Belastungen verbunden wird, ist daran zu erinnern, dass Mobilität in der Moderne ein positiv besetzter Begriff ist und in diesem Sinne Migranten eine äußerst mobile Population darstellen. Trotz gehässiger Einzelstimmen des Feuilletons, die gern »Parallelgesellschaften« konstruieren und dabei scheinbar unversöhnliche, inkompatible kulturelle Lebensentwürfe in den Mittelpunkt stellen, zeigen empirische Daten, dass Migranten in Deutschland weitestgehend an ihrer Integration interessiert sind (Salentin, 2004). Denn damit ist für sie auch der Zugang zu wichtigen Ressourcen im Leben wie etwa Wohnung, Arbeit, Bildung, politische Partizipation etc. verbunden, die sie im Sinne eines wohlverstandenen Eigeninteresses auch anstreben. Nach dieser kurzen begrifflichen Annäherung sollen im Folgenden Integrationsprozesse wesentlich aus einer stärker psychologischen Perspektive betrachtet werden. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Familiale Lebenswelten von Migranten

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Die psychologische Perspektive auf Integration Wenn Migranten mit Anforderungen wie der Organisation des Alltags in einer modernen Gesellschaft konfrontiert werden und dabei sich sowohl um die Integration in die Mehrheitsgesellschaft kümmern müssen, ohne damit eigene kulturelle Überzeugungen aufzugeben, ist eine gewisse Form des Stresses unvermeidlich. Diese Form des Stresses, der bei der Begegnung mit Einheimischen bzw. Institutionen der Mehrheitsgesellschaft entsteht, wird vielfach als Akkulturationsstress bezeichnet. Entwicklungspsychologisch lässt sich konstatieren, dass Migranten, aber auch ihre in Deutschland geborenen Kinder im Prozess ihrer Akkulturation und Sozialisation, das heißt bei der allmählichen Aneignung von Schlüsselkompetenzen und Verhaltensstandards der Aufnahmekultur, stets in doppelte soziale Bezugsnetze involviert sind: Denn sie müssen einerseits das Verhältnis zur eigenen Ethnie bzw. zur Herkunftsethnie der Eltern, andererseits ihr Verhältnis zur Aufnahmegesellschaft bzw. den Einheimischen eigenaktiv gestalten. In Anlehnung an Berry, Kim, Minde und Mok (1987) lassen sich dabei vier idealtypische Formen unterscheiden: Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung. Während bei der Integration und Assimilation die Handlungsoptionen des Einzelnen stärker auf die aufnehmende Gesellschaft fokussiert sind, ist Separation durch eine deutliche Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft bei gleichzeitiger Hinwendung zur eigenen Ethnie bzw. dem ethnischen Hintergrund der Eltern und schließlich Marginalisierung durch eine Abgrenzung sowohl von intra- als auch interethnischen Beziehungen gekennzeichnet. Diese Optionen können darüber hinaus bereichsspezifisch variieren und bringen nicht nur individuelle Präferenzen zum Ausdruck, sondern hängen zumeist auch mit den Erfahrungen mit Handlungsopportunitäten und -barrieren in der Aufnahmegesellschaft zusammen. So kann beispielsweise die sprachliche und soziale Integration gut gelungen, aber die Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt eher misslungen sein; eine durch Selbstständigkeit gute berufliche Integration erfolgt bzw. hergestellt sein, jedoch eine © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Haci-Halil Uslucan

(gewünschte) Einbindung in multiethnische Vereine, Verbände, Freundschaften, Partnerschaften weniger gelungen sein. Integration ist insofern kein »Sekt-oder-Selters«-Phänomen. Nicht zuletzt ist – in Anlehnung an Bommes (2007) – festzuhalten, dass Integration (von Mehrheiten wie Minderheiten) stets ein temporäres Phänomen ist; das heißt, dass Menschen in bestimmten für sie bedeutsamen sozialen Konstellationen in gesellschaftliche Zusammenhänge integriert sind, aber darüber hinaus auch die Freiräume jenseits enger sozialer Einbindung genießen. Vor diesem Hintergrund muss es natürlich auch Migranten gestattet sein, einfache »Couch-Potatoes« zu sein, das heißt, sich nicht immer und zu allen Fragen gesellschaftlich positionieren zu müssen und ihren »integrativen Anteil«, ihren Integrationswillen zu dokumentieren, sondern auch sich temporär zurückziehen zu können. Tabellarisch lassen sich die unterschiedlichen Akkulturationsorientierungen von Migranten und Einheimischen in dem (leicht modifiziertem) theoretischen Konzept von Bourhis et al. (1997) veranschaulichen. Im Zentrum dieses Modells stehen die Interaktionsbeziehungen zwischen Migrantengruppen und der aufnehmenden Mehrheitskultur. Es wird von einer dynamischen Sichtweise ausgegangen, die sowohl die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitskultur als auch die Anpassungsbereitschaft der Einwanderergruppe gleichermaßen berücksichtigt. Tabelle 1: Das Interaktive Akkulturationsmodell (IAM) Aufnehmende Gesellschaft

Integration

Migranten

Integration

Assimilation

Separation Marginalisation

Konsens

problematisch Konflikt

problematisch

Assimilation problematisch Konsens

Konflikt

problematisch

Segregation

Konflikt

Konflikt

Konflikt

Konflikt

Exklusion

Konflikt

Konflikt

Konflikt

Konflikt

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Familiale Lebenswelten von Migranten

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Modellhaft wird hier veranschaulicht, mit welchen Alternativen die aus psychologischer Sicht wünschenswerte Akkulturationsorientierung »Integration« theoretisch zu konkurrieren hat: So zeigt die Tabelle 1, dass lediglich das Aufeinandertreffen von integrations- oder assimilationsorientierten Haltungen der jeweiligen Mitglieder relativ unproblematisch, alle anderen Konstellationen dagegen latent problembehaftet sind, so zum Beispiel, wenn Migranten eine eher integrationsorientierte Haltung favorisieren, das heißt Schlüsselelemente der eigenen Kultur beibehalten wollen und gleichzeitig die Bereitschaft zeigen, Schlüsselelemente der Aufnahmekultur zu erwerben, die Aufnahmegesellschaft jedoch von ihnen eher eine Assimilation erwartet, das heißt eine Aufgabe eigenkultureller Bezüge und eine Adaptation der Normen und Werte der Aufnahmekultur wünscht. Kritisch an diesem Modell ist jedoch die uneindeutige Verwendung des Integrationsbegriffes. Integration ist zwar in den Forschungen Berrys die präferierte Akkulturationsorientierung von Migranten (Überblick in Berry u. Sam, 1997), jedoch weist Integration eine enorme semantische Bandbreite auf: Zum einen hat Integration vielfach die Konnotation von Assimilation, anstelle die des Vorzugs von sowohl Herkunfts- als auch Aufnahmegesellschaft. Darüber hinaus ist zu fragen, ob Integration auf eine komplette Übernahme der Mehrheitskultur und ein komplettes Beibehalten der Herkunftskultur oder auf eine irgendwie geartete 50 %-Übernahme und ein 50 %-Beibehalten ausgerichtet ist (Mavreas, Bebbington u. Der, 1989). Ferner ist auch denkbar, dass Migranten Zugang zu beiden Kultursystemen haben und je nach Kontext von einem zum anderen wechseln (etwa eine »duale Monokultur«). Schließlich könnte sich Integration auch auf das Schaffen einer »neuen Kultur« aus den vorhandenen beziehen. Methodologisch und inhaltlich scheinen sich die Akkulturationsorientierungen nicht komplett auszuschließen, sondern stehen, wie empirische Befunde nahe legen, miteinander in Zusammenhang. Integration und Assimilation sowie Assimilation und Separation sind meist negativ miteinander korreliert. Integration und Marginalisierung korre© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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lieren negativ, Separation und Marginalisierung stehen in allen Studien in einem korrelationsstatistisch positiven Zusammenhang (Berry, Kim, Power u. Bujaki, 1989). Trotz seiner Vorzüge wie etwa der empirischen Operationalisierbarkeit, der Überwindung der Dichotomie »Integration-Anpassung« bzw. »Integration-Desintegration« etc. ist weiterhin an diesem Modell die homogenisierende Sicht auf Mehrheiten wie Minderheiten kritisch; denn nicht nur die Mehrheit verfolgt eine klar identifizierbare Orientierung gegenüber Minderheiten, sondern auch Migrantengruppen untereinander weisen eine enorm hohe Varianz im Hinblick auf ihre Orientierungen zur Aufnahmegesellschaft auf (Phinney, Ong u. Madden, 2000); es lassen sich sogar deutliche Unterschiede in ein und derselben ethnischen Migrantengruppe (wie z. B. der türkischen) aufzeigen. Je nach dem, wie stark der Einzelne in die Migrationsentscheidung selbst eingebunden war, ist auch mit unterschiedlicher Verantwortungsübernahme für den Erfolg der Migration und der Integration zu rechnen. So kann beispielsweise eine unfreiwillige Migration etwa als Jugendlicher ein Hinweis auf eine starke hierarchische Familienform sein, was eine Integration erschwert, während die Freiwilligkeit der Migration Offenheit für neue Erfahrungen signalisieren kann. Aber auch eine unfreiwillige Migration etwa als Flüchtling kann Schwierigkeiten bereiten, weil eine Vorbereitung im eigenen Land in der Regel fehlte (Silbereisen u. Schmidt-Rodermund, 1999). So scheint eine proaktive, eigeninitiierte Migration eher mit einem gelingendem Akkulturationsverlauf assoziiert zu sein als eine reaktive, unfreiwillige Migration (Richmond, 1993). Zuletzt scheint es denkbar, dass Pioniermigranten sich stärker an die Aufnahmegesellschaft wenden als Kettenmigranten, die auf bereits existierende Netzwerke und Verbindungen mit Mitgliedern der Herkunftskultur stoßen. An dieser aufgeführten Kritik wird verdeutlicht, wie schwer es ist, mit statischen Modellen die verschiedenen Facetten des Zusammenlebens von Migranten und Einheimischen abzubilden. Als eine Gemeinsamkeit aller Migrantengruppen lässt sich festhalten, dass sie eine hochselektive und mobile Gruppe darstellen, die es wagte, in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihr © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Land zu verlassen und Mut genug bewiesen hat, die Herausforderung der kulturellen und sprachlichen Fremdheit auf sich zu nehmen. Dadurch stehen sie vor Entwicklungsaufgaben, die anspruchsvoller sowohl als derjenigen nichtmigrierter Familien in der Heimat als auch der Mehrheitskultur sind und die es verdienen, gesondert gewürdigt zu werden. Gerade vor dem Hintergrund, dass Migranten vielen Risiken ausgesetzt sind, wie in vielen Studien deutlich wird (Collatz, 1998; Uslucan, 2005a, Uslucan 2005 b), müsste auch eine ganz »normale«, unauffällige Lebensführung von Migranten zunächst erstaunlich und erklärungsbedürftig sein. Deshalb sind die Anstrengungen »zur Normalität« bei den »unauffälligen Migranten« besonders zu honorieren und anzuerkennen; denn der größte Teil der Integration erfolgt unauffällig. Im Idealtypus ließe sich eine gelungene Integration daran festmachen, dass im Arbeitsleben die Verteilung von Migranten über verschiedene Hierarchieebenen und Berufszweigen demselben Muster gehorcht wie bei den einheimischen Erwerbstätigen. Und diese Argumentation lässt sich auch auf den Bildungssektor übertragen, wo sich die Bildungsverläufe und Platzierungen von Schülern mit und ohne Migrationshintergrund sowie ihre spätere Verteilung in unterschiedlichen Berufen in der Wirtschaft, Politik und Verwaltung repräsentativ wiederfinden müsste. Diesen Gedanken fortführend, dürfte langfristig bei einer vollständig gelungenen kulturellen Integration auch das Ausmaß an Pathologie, Anomie sowie Devianz statistisch keine bedeutsame Abweichung von der Verteilung in der einheimischen Bevölkerung aufweisen.

Familie, Erziehung und Förderung in Migrantenfamilien Im Folgenden soll nun auf einige Besonderheiten familialer Erziehung eingegangen, Ergebnisse einer eigenen Studie referiert sowie auf Möglichkeiten der Förderung von Eltern und Kindern fokussiert werden. Abschließend werden einige methodische © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Haci-Halil Uslucan

Besonderheiten hervorgehoben, um die Befunde der Migrationsforschung angemessen zu verstehen. Allgemein wird in der eher westlich geprägten erziehungspsychologischen Forschung davon ausgegangen, dass ein autoritativer Erziehungsstil – damit ist eine hohe Zuwendung, Unterstützung, Wärme, hohe Selbständigkeit bei gleichzeitig hohen Forderungen an das Kind gemeint – sich als der optimale für die Entwicklung des Kindes auswirkt, wogegen der autoritäre Erziehungsstil (rigide Durchsetzung der elterlichen Autorität, geringe Selbständigkeit und hohe Kontrolle des Kindes) als eher ungünstig für die Entwicklung des Kindes eingeschätzt wird (Baumrind, 1991; Darling u. Steinberg, 1993). Kulturpsychologische Studien zeigen jedoch, dass eine autoritative Erziehung zwar für euroamerikanische Kinder den optimalen Erziehungsstil darstellt, unter anderem dadurch, dass dieser zu einer höheren sozialen Kompetenz und höherer Selbstständigkeit führt. Dies konnte jedoch beispielsweise für chinesische und andere Kinder mit Migrationshintergrund nicht gezeigt werden (vgl. Leyendecker, 2003). Auch weist unter anderem Schneewind (2000) darauf hin, dass ein autoritärer Erziehungsstil unter bestimmten Umständen, insbesondere wenn das Kind unter entwicklungsgefährdenden bzw. delinquenzförderlichen Umwelten aufwächst, was in einigen Fällen für türkische Jugendliche zu vermuten ist, als durchaus funktional und sinnvoll zu betrachten ist, weil hier das Einbringen von »guten Gründen« für eine Mitgliedschaft bzw. Teilnahme an delinquenten Gruppen seitens der Jugendlichen wenig sinnvoll wäre und Jugendliche hier eine straffere Lenkung und Kontrolle brauchen. Insofern ist eine bruchlose Übertragung der Wirkungen bestimmter Erziehungsstile und -praktiken auf die kindliche Entwicklung in differenten kulturellen Kontexten problematisch. Darüber hinaus gilt es, aus entwicklungs- und familienpsychologischer Sicht auf folgende riskante Bedingungen des Aufwachsens und Erziehens in türkischen bzw. Migrantenfamilien hinzuweisen: 1. Mit Blick auf das Finanzkapital wiesen in der Studie des Deutschen Jugendinstitutes circa 54 % der türkischen Familien ein © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Haushaltseinkommen auf, das zu den untersten 10 % des Äquivalenzeinkommens aller Haushalte gehörte; dieser Satz lag bei deutschen Familien circa bei 7 % aller untersuchten Familien. Dagegen hatten 48 % aller deutschen, aber nur 20 % aller türkischen Familien ein mittleres Haushaltseinkommen (Daten des DJI-Kinderpanel: Alt u. Holzmüller, 2006). Die materielle Ausstattung von Migrantenfamilien bzw. ihre Deprivation ist ein wichtiger Indikator, um auch Erziehungsund Integrationsfolgen besser abschätzen zu können: Denn arme Kinder aus Migrantenfamilien haben ein doppelt so großes Risiko, desintegriert bzw. gering integriert zu sein, als ein Kind aus einer Durchschnittseinkommens-Familie (Beisenherz, 2006). 2. Ein häufiges entwicklungspsychologisches Risiko in Migrantenfamilien aus der Sicht des Kindes stellt das Aufwachsen in einem großen Geschwisterverband mit geringen Altersabständen dar: Zum einen droht bei einem Altersabstand von weniger als zwei Jahren in der Geschwisterreihe die Gefahr der Übersozialisierung und Vernachlässigung typisch kindlicher Bedürfnisse des älteren bzw. ältesten Kindes: Eltern betrachten vielfach dieses Kind als deutlich »reifer«, kompetenter, genügsamer, weil sie es intuitiv häufig mit dem jüngeren bzw. jüngsten Kind vergleichen. Zum anderen ist auch das Risiko bzw. die Wahrscheinlichkeit für eine spannungsreichere Adoleszenz bei Altersabständen unter zwei Jahren höher als bei Geschwistern mit größerem Altersabstand. Und einige empirische Daten – wenngleich diese nicht repräsentativ, aber in den Größendimensionen doch tendenzweisend und besonders auffällig sind – zeigen, dass lediglich 24 % der deutschen acht- bis neunjährigen Kinder Altersabstände unter zwei Jahren zu einem benachbarten Geschwister haben, diese Rate jedoch bei Migrantenkindern insgesamt bei etwa 80 % liegt (Marbach, 2006). Nicht zuletzt tangiert die hohe Geschwisterzahl im eigenfamilialen Kontext bzw. in der eigenen engeren Verwandtschaft auch die Integrationschancen von Migrantenkindern: Denn die Interaktionen mit anderen Kindern bzw. deutschen Kindern werden in der Regel geringer, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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wenn die Anzahl verfügbarer Geschwister bzw. Kinder aus der Verwandtschaft größer ist. Das Netz an Peer-Kontakten zu Kindern außerhalb der Familie ist dann geringer und die Möglichkeiten, Sozialkapital außerhalb der Familie zu generieren, reduzieren sich. In der Regel sorgen aber gerade Gleichaltrige außerhalb der eigenen Familie für mehr Heterogenität der sozialen Umwelten und stimulieren dadurch Entwicklungen bedeutsamer. Im Folgenden soll exemplarisch von den Ausprägungen einiger – insbesondere für externalisierendes Problemverhalten relevanter – Erziehungsstile in deutschen und türkischen Familien berichtet werden. Es wird beschrieben, wie Eltern ihre eigene Erziehung hinsichtlich des befragten Kindes (die Kinder bzw. die Jugendlichen waren im Durchschnitt in beiden Gruppen etwa 14 Jahre alt) einschätzen (vgl. Uslucan, Fuhrer u. Mayer, 2005). Die befragten Eltern (in Berlin im Zeitraum von 2003 bis 2005) setzten sich wie folgt zusammen: Insgesamt nahmen 412 deutsche und 239 türkische Elternteile teil. Das Alter der deutschen Mütter variierte von 29 bis 61 Jahren, das der türkischen von 30 bis 61 Jahren. Die türkischen Väter wie Mütter waren im Vergleich zu ihren deutschen Geschlechtsgenoss(inn)en tendenziell rund fünf Jahre jünger, was als ein Hinweis zu werten ist, dass der Übergang zu Familie in türkischen Partnerschaften deutlich früher erfolgt. Auffällige Unterschiede ließen sich auch im Hinblick auf den Bildungshintergrund der Eltern identifizieren: Die deutschen Elternteile verfügten in der Regel über höherstufige Bildungsqualifikationen. Tabelle 2 zeigt, dass hinsichtlich des Erziehungsstils »aggressive Strenge« türkische Mütter als auch türkische Väter strenger gegenüber ihren Kindern sind. Diese Differenzen sind sowohl bei den Müttern als auch bei den Vätern signifikant. Was die elterliche Unterstützung betrifft, so berichten zum einen in beiden Gruppen Mütter von einer stärkeren Unterstützung als Väter; zum anderen ist das Unterstützungsverhalten deutscher Eltern tendenziell stärker ausgeprägt als türkischer Elternteile. Deutlich höher liegen dagegen die Forderungen nach Verhaltens© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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disziplin: Hier zeigt sich, dass in beiden Gruppen Mütter stärker Wert auf ein diszipliniertes Verhalten legen; ferner wird aber auch erkennbar, dass die Unterschiede nicht zwischen den Elternteilen, sondern zwischen den ethnischen Gruppen liegen; das heißt im Einzelnen: Türkische Eltern verlangen von ihren Kindern in deutlich stärkerem Maße ein diszipliniertes Verhalten in der Öffentlichkeit als deutsche Eltern. Tabelle 2: Elterliche Erziehungsstile (Mittelwerte (M) und Standardabweichungen (SD) deutsche Eltern

türkische Eltern

Mütter

Mütter

Väter

Väter

erzieherische Dimension

M

aggressive Strenge

1.58

.44

1.57

.50

1.74

.61

1.75

.63

Unterstützung

4.25

.44

4.01

.53

4.17

.67

3.90

.66

Verhaltensdisziplin

2.68

.62

2.57

.59

3.71

.77

3.47

.74

Inkonsistenz

1.75

.49

1.83

.58

2.04

.62

2.06

.63

SD

M

SD

M

SD

M

SD

Hinsichtlich des inkonsistenten Erziehungsstils dagegen fällt auf, dass in beiden Gruppen Mütter von einem konsistenteren Erziehungsstil berichten als Väter. Jedoch weisen hier türkische Elternteile höhere Inkonsistenzwerte auf. Allerdings ist hier, bevor unreflektiert lediglich ethnische Hintergründe als Gewaltrisiken betrachtet werden, vor Augen zu führen, dass sich die verglichenen Eltern insbesondere in ihren Bildungsvoraussetzungen und -hintergründen auffallend unterscheiden. Ein Vergleich deutscher und türkischer Eltern (Mu = Mutter; Va = Vater), bei dem der Bildungshintergrund parallelisiert wurde (so wurden z. B. nur Eltern in die Analyse einbezogen, die einen Hauptschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss haben), brachte folgende Ergebnisse (Tabelle 3): © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Tabelle 3: Elterliche Erziehungsstile in Abhängigkeit des Bildungshintergrundes: (Hauptschule als höchster Bildungsabschluss); Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD) und Stichprobengröße (N) türkische Eltern

> >

deutsche Eltern

erzieherische Dimension

N

M

SD

N

M

SD

F

p

aggressive Strenge (Mu)

33

1.67

.54

46

1.86

.54

2.44

.12

Unterstützung (Mu)

35

4.22

.70

47

4.11

.47

.82

.36

Verhaltensdisziplin (Mu)

36

3.51

.83

46

3.00

.52

11.74

.00

Inkonsistenz (Mu)

32

1.94

.48

44

2.03

.55

.60

.43

aggressive Strenge (Va)

32

1.77

.73

36

1.80

.69

.32

.86

Unterstützung (Va)

30

3.97

.63

38

3.95

.60

.00

.92

Verhaltensdisziplin (Va)

36

3.83

.68

38

3.09

.66

22.00

.00

Inkonsistenz (Va)

34

2.11

.61

37

2.08

.74

.02

.88

Nach Kontrolle des Bildungshintergrundes wird also deutlich, dass dysfunktionale Erziehungsmuster in türkischen Familien zurückgehen bzw. bei deutschen Familien, in denen die Eltern nur über einen Hauptschulabschluss verfügen, noch stärker ausgeprägt sind. So ist denkbar, dass türkische Eltern mit einem Hauptschulabschluss gegenüber ihrer eigenkulturellen Referenzgruppe über durchschnittliche bis hohe Bildung verfügen, da in der Türkei aufgewachsene Elternteile oft nur über einen Grundschulabschluss verfügen, während deutsche Eltern mit nur einem Hauptschulabschluss im Vergleich zu der (deut© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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schen) Gesamtbevölkerung eher zu den Bildungsverlierern zählen (vgl. Uslucan, 2008). Deutlich wird an den zuletzt präsentierten Daten, dass vergleichende Studien – um aussagekräftig zu sein – den Forderungen der Intersektionalitätsanalyse als einer grundlegenden Strategie sozialpädagogischer Reflexion gerecht werden müssen, indem sie beispielsweise den gleichzeitigen Einfluss von Geschlecht, Ethnie und Schicht untersuchen, um keiner falschen Homogenisierung zu erliegen. Die Anforderung dabei ist, dass stets mehr als eine Differenzlinie betrachtet wird; denn soziale Gruppen sind selten homogen, sondern eher vielfach heterogen (vgl. Leiprecht u. Lutz, 2006). Zuletzt gilt es noch einmal zu unterstreichen, dass der defizitorientierte Diskurs sowohl die Chancen einer Migration als auch die bislang erbrachten Leistungen von Migranten schlichtwegs unterschätzt; deshalb ist hier eine ressourcen- und resilienzorientierte Sicht unabdingbar. So kompensiert beispielsweise die starke Familienorientierung in der Erziehung erfahrene soziale Isolation im Alltag; der Familialismus türkischer und islamischer Familien stellt nicht nur ein Integrationshemmnis dar, sondern erweist sich als eine Ressource, zum Beispiel Hilfe bei Schulaufgaben, beim angstlosem Kontakt und der Einführung in ein deutsches Umfeld und als Protektivfaktor gegenüber Stresssituationen.

Handlungsempfehlungen 1. Eindeutig zeigt die Forschung, dass die in den ersten beiden Lebensjahren etablierte sichere Mutter-Kind-Bindung eine bedeutsame Entwicklungsressource darstellt. Dieser Befund sollte in Erziehungs- und Familienberatungsstellen, Jugendämtern etc. insbesondere gegenüber Migrantenfamilien und -müttern stärker kommuniziert werden und auf die Gefahren einer Bindungsstörung durch unreflektierte »Verfrachtungen« des Kindes – je nach ökonomischer Situation – in die Heimat, zu den eigenen Eltern, Verwandten etc. hingewiesen werden. Vielfach fehlt Eltern schlichtwegs das Wissen um © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Entwicklungsgesetzlichkeiten, Entwicklungstempo und sensible Phasen in der Entwicklung des Kindes. Denn die Auswirkungen unsicherer Bindung bleiben nicht auf die Kindheit begrenzt, sondern sind auch in der Jugendphase wirksam. Unsicher gebundene Jugendliche zeigen weniger Ich-Flexibilität, ein negatives Selbstkonzept, stärkere Hilflosigkeit und Feindseligkeit (Seiffge-Krenke u. Becker-Stoll, 2004). 2. In der pädagogischen Praxis können über die Verbesserung der Erziehungsqualität der Eltern resilienzfördernde Wirkungen erzielt werden; wenn beispielsweise dem Kind systematisch beigebracht wird, eine aktive Problembewältigung zu betreiben, das heißt, wenn das Kind bei auftretenden (mit eigenen Kompetenzen lösbaren) Problemen diese nicht verleugnet oder vermeidet, sondern auf diese zugeht und Eltern das Kind dazu auch animieren. Dadurch kann eher das Gefühl der Selbstwirksamkeit, also das Gefühl der eigenen Kontrolle über die Entscheidungen, erworben werden. Das kann wiederum durch einen systematischen Einbezug des Kindes in Entscheidungsprozesse und durch die Verantwortungsübernahme des Kindes gefördert werden. Auch hier gilt es, Migranteneltern die Bedeutung des Einbezuges eines Kindes in familiale Entscheidungsprozesse zu verdeutlichen und bei ihnen die zum Teil vorherrschende traditionelle Haltung »Es ist doch noch ein Kind« zu überwinden. Insbesondere gilt es, die vielfach fehlende Erziehung zur Selbstständigkeit in der frühen Kindheit – insbesondere bei Söhnen – zu thematisieren: Diese Haltung hatte historisch seine Berechtigung (Kindheit aufgrund eine hohen Säuglings- und Kindersterberate als eine fragile Phase und deshalb kaum Belastungen an das Kind), schränkt aber gegenwärtig Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder ein. (Migranten-)Eltern soll die eindeutige Botschaft vermittelt werden: Verwöhnung durch mangelnde Selbstständigkeitserziehung ist nicht nur ein Zuviel an Liebe, sondern auch ein Zuwenig an Zutrauen zum Kinde. 3. Häufig betrachten insbesondere muslimische Eltern die komplette Assimilation ihrer Kinder an deutsche Lebensverhältnisse als ihre größte Sorge. Sie befürchten eine völlige kultu© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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relle und religiöse Entfremdung und versuchen dem mit einer intensiveren religiösen Werteerziehung beizukommen. Jedoch ist hier deutlich zu machen, dass zwar das Aufwachsen in liberalen Gesellschaften gewisse Entwicklungsrisiken für Kinder bergen (vor denen die Eltern ihre Kinder durch eine starke religiöse Erziehung zu schützen versuchen), jedoch auch die Frage zu stellen, ob und inwiefern religiös geschlossene Gruppen bestimmte Risiken (Drogen- und Alkoholgebrauch, traumatisches Erlebnis elterlicher Scheidungen etc.) nur dadurch senken, indem sie die Auftretenswahrscheinlichkeit für andere Risiken (rigide Persönlichkeit, geringe Autonomie im Denken etc.) erhöhen. Diese Gefahren einer Abschottung und Isolation werden natürlich größer, je weniger authentische Kontakte und persönliche Bekanntschaften mit deutschen Familien stattfinden; dann wird die Möglichkeit einer GegenErziehung – und zwar gegen explizit westliche bzw. als westlich gehaltene Werte – wahrscheinlicher. Eine behütende, überbehütend-kontrollierende Erziehung ist in der Regel die Folge, was die Entwicklung und Entfaltung der Kinder einschränkt. Hier sollten Erziehungsinstitutionen wie Kindertagesstätten und Schulen für größere Transparenz ihrer erzieherischen Ziele sorgen; denn vielfach existieren unter Migranteneltern verzerrte Erziehungsvorstellungen über »typisch deutsche Erziehung«, Fehldeutungen der frühen Selbstständigkeitserziehung als eine »kalte und lieblose Haltung« zum Kinde, was sie eher animiert, »krampfhaft« an den eigenen, zum Teil dysfunktional gewordenen Erziehungsmustern festzuhalten. Diese Formen der ethnischen bzw. religiösen Einkapselung sind – und das sollte mit Nachdruck festgehalten werden – nicht ausschließlich ein Spezifikum von Muslimen in Deutschland, sondern sind beispielsweise auch stark in der griechischen Migrantencommunity in Deutschland zu beobachten (Vgl. Boos-Nünning u. Karakasoglu, 2005). Mit Blick auf Erziehung ist aber festzuhalten, dass ein Wandel im Erziehungsstil der Migranten keineswegs damit verbunden ist, dass diese nun per se deutsche bzw. die in der Mehrheitskultur gängigen Erziehungsstile übernehmen, sondern © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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sich möglicherweise, einerseits durch den scharfen Kontrast in der Migration von den selbst erlebten, harten und rigiden Erziehungsstilen distanzieren, andererseits aber auch nicht restlos das Neue übernehmen, sondern individuelle Wege und Methoden in der Erziehung der eigenen Kinder finden. 4. Zu den recht stabilen Befunden der Migrationsforschung zählen die hohen Bildungsaspirationen von Migrantenfamilien für ihre Kinder. Diese Ansprüche sind jedoch oft an große, zum Teil unrealistische Erwartungen gekoppelt, und – durch den Mangel an eigenen Kompetenzen – kaum mit der schulischen Unterstützungsleistung der Eltern einlösbar (Nauck u. Diefenbach, 1997). Bei ausbleibendem oder geringem Erfolg der Kinder führt dieses Auseinanderklaffen dann zu Enttäuschungen auf Seiten der Eltern und psychischen Belastungen bei Kindern. Nicht selten sind jedoch solche hohen Erwartungen dem Umstand geschuldet, dass sozialer Aufstieg und anerkannte Berufe für viele Migranteneltern nur mit akademischen Berufen wie Arzt und Anwalt verknüpft sind. Daher gilt es, in Kontexten der Schul- und Berufsberatung Migranteneltern zum einen auf die belastende Wirkung hoher Erwartungen bei fehlender Unterstützung hinzuweisen, wie sie sich in aggressiven Akten nach außen oder in depressiven Verstimmungen nach innen entladen können, und zum anderen ihnen in verständlicher Weise die Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten auch durch handwerklich-technische Berufe zu kommunizieren sowie natürlich gesellschaftlich die Voraussetzungen zu schaffen (durch mehr Gerechtigkeit in Bildungsinstitutionen), dass auch Personen ohne größeres familiales Bildungskapital Zugang zu angesehenen Berufskarrieren finden. 5. Eine Reihe von Studien zeigt, dass ein positives Schulklima eine fördernde und schützende Wirkung hat, insbesondere wenn eine gute Beziehung zum Lehrer vorhanden ist, den die Schüler als interessiert an ihnen und sie herausfordernd wahrnehmen. An diesen Befund anknüpfend lässt sich folgern, dass eine Verbesserung des Schulklimas und mehr persönliches Engagement der Lehrkräfte bei Migrantenkindern resilienzfördernd wirkt. Vor allem kann ein Schulklima, das © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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die kulturelle Vielfalt der Schüler als Reichtum und nicht als Hemmnis betrachtet, einen Beitrag zur Resilienz leisten, weil es so dem Einzelnen das Gefühl von Wichtigkeit, Bedeutung und Anerkennung verleiht (Speck-Hamdan, 1999). 6. Als weitere Fördermöglichkeit ist im Schulkontext zu erwähnen, Migrantenjugendliche – ungeachtet ihrer möglicherweise geringeren sprachlichen Kompetenzen – noch stärker in verantwortungsvolle Positionen einzubinden. Sie werden sich dann erfahrungsgemäß stärker mit der Aufgabe identifizieren: Ihre inneren Bindungen zur Schule werden gestärkt, während sie auf diese Weise Erfahrungen der Nützlichkeit und der Selbstwirksamkeit machen.

Methodische Bedenken Methodisch gilt es, sich von verallgemeinernden Vorstellungen von »der ausländischen Familie« zu distanzieren und vielmehr auf den Einfluss und die Auswirkungen der jeweiligen Herkunft für das Zusammenleben in der Familie – aber auch für das Leben in und mit der Aufnahmegesellschaft – zu achten. So steht zum Beispiel fest, dass die Variation, die Heterogenität innerhalb der Migranten, aber auch innerhalb einer einzelnen Migrantengruppe wie etwa der türkischstämmigen Bevölkerung, größer ist als in der deutschen Population (z. B. ist es forschungsmethodisch geboten, eine angemessene Zahl von innerethnischen Gruppierungen wie Lazen, Kurden, Türken, aber auch innerhalb des Islam religiös verschiedene Gruppierungen wie Aleviten und sunnitische Muslime in einer Stichprobe zu haben, um annähernd repräsentative Ergebnisse für »die Türken« zu haben). Die naive Annahme eines Zusammenfallens von kultureller und ethnischer Identität erweist sich als problematisch. Es kann beispielsweise nicht einfach von »den Türken« geredet werden. Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen decken sich vielfach nicht; so etwa, wenn Migranten von Deutschen als Türken wahrgenommen werden, sie selber sich jedoch aus einer Innenperspektive als Kurden verstehen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Haci-Halil Uslucan

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Forum »Kinder in familiengerichtlichen Verfahren«

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Marion Schwarz

Einführung in das Forum

Für das Forum »Kinder in familiengerichtlichen Verfahren« auf dem Psychotherapeutentag konnten wir für das Thema »Kindeswohl und Kindeswille« Professor Maud Zitelmann, Professorin für Soziale Arbeit und Gesundheit an der Fachhochschule Frankfurt am Main, für das Thema »Aufgaben des Familiengerichts« Dr. Katja Schweppe, Richterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Fachbereichen Erziehungswissenschaften und Rechtswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt, sowie für das Thema »Kinder im begleiteten Umgang« Alfred Krieger, Psychoanalytiker in eigener Praxis und in einer Erziehungsberatungsstelle, gewinnen. Im Folgenden werden die Ausführungen von Maud Zitelmann und Katja Schweppe dargestellt, anschließend folgt ein Beitrag von Alfred Krieger zum Thema und abschließend einige fachlich-inhaltlich wesentlichen Aspekte aus der Diskussion zu den Ausführungen und Beiträgen.

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Marion Schwarz

Kindeswohl und Kindeswille

Vorbemerkung Verschiedene Fragestellungen, die Kinder und ihre Familien unmittelbar betreffen, können zur Einleitung eines zivilrechtlichen Verfahrens beim Familiengericht führen. Hierzu zählen insbesondere der Antrag auf »Alleinsorge« (§ 1671 BGB), auf Regelung oder Ausschluss des Umgangs mit einem oder beiden Elternteilen (§ 1684 BGB), das Verfahren wegen Kindesschutzes bei drohender Kindeswohlgefährdung (§ 1666, § 1666 a BGB), ebenso die Prüfung einer Verbleibensanordnung für Pflegekinder (§ 1632 BGB). In all diesen Verfahren ist das Familiengericht zuständig, die Vorschriften zur Gestaltung des Verfahrens richten sich nach dem FamFG. Die familiengerichtliche Entscheidung wird in erster Linie durch vom Gesetz vorgeschriebene Kriterien bestimmt, wobei das Kindeswohl als das verfahrensleitende Prinzip und als Entscheidungsmaßstab des Gerichts gilt.

Der Rechtsbegriff »Kindeswohl« Mit der staatlichen Interpretation des Begriffes »Kindeswohl« werden Kriterien und Maßstäbe einer Grundversorgung von Kindern in der Gesellschaft festgelegt. Hierbei können sehr wohl staatliche oder gar parteipolitische Interessen einfließen, wie sich das geschichtlich in Deutschland zunächst in der Weimarer Republik und dem dann folgenden Nationalsozialismus dokumentieren lässt. Staatliche Erziehungsvorstellungen leite© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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ten die moralische und politische Disziplinierung von Kindern und ihren Familien und »legitimierten« ihre Verfolgung im deutschen Faschismus (Zitelmann, 2005, S. 134 ff.). Das nationalsozialistische Regime setzte die Individualrechte von Erwachsenen und Kindern durch systematische Selektion, Verfolgung und Ermordung ganz außer Kraft und beanspruchte das primäre Recht an der Jugend. Nach dem Nationalsozialismus wurde die Autonomie der Familie und damit indirekt die elterlichen bzw. väterlichen Rechte deutlich gestärkt; das Familienrecht wurde in das Privatrecht eingeordnet, um es vor staatlichen Interventionsversuchen zu schützen. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte sich schließlich, auch als Folge der damaligen gesellschaftlichen Veränderungen, ein neues kindschaftsrechtliches Denken. Das Wohl des Kindes wurde zum entscheidenden Maßstab für eine Ordnung der Rechtsbeziehung zwischen Kind, Eltern und Staat. Galt bis dahin der nahezu absolute Vorrang der biologischen Elternschaft, wurde nunmehr zunehmend auf die Interessen und Bedürfnisse des Kindes durchgegriffen. Es folgte eine weit reichende Reform des Kindschaftsrechts, in dem die elterliche »Gewalt« durch ein an der Entwicklung und am Willen des Kindes orientiertes Sorgerecht ersetzt wurde. Dabei wird angenommen, dass das Kindeswohl eine Ersatzfunktion für den Willen des Kindes hat, solange dessen Wille rechtlich nicht anerkannt wird (Unmündigkeit des Kindes). Weiterhin obliegt dem Kindeswohl eine »Leit- und Sperrfunktion«, das heißt, die Gesamtsituation ist nur unter Berücksichtigung des Kindes zu bewerten, kindeswohlfremde oder -widrige Gesichtspunkte müssen hierbei abgewehrt werden. Zudem wird nicht mehr nach allgemeinen Regeln entschieden, sondern es gilt vorrangig eine dem Einzelfall angepasste Gerechtigkeit im Sinne einer hermeneutischen Betrachtungsweise. Das Kindeswohl umfasst seine subjektive Sicht, sein Wohlbefinden und seine Zukunftsperspektive, die eine allseitige Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit ermöglichen soll. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Kindeswohl und Kindeswille

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Kindeswohlkriterien Zur Definition der Kriterien für das Kindeswohl wurde zunehmend außerjuristisches Fachwissen herangezogen (Pädagogik, Psychologie, Soziologie), von denen man sich das erforderliche Wissen über die Erziehung und die kindliche Entwicklung erhoffte. Es gelte, »die am wenigsten schädliche Alternative für die Entwicklung und das weitere Aufwachsen des Kindes«5, zu finden. So bemühte man sich, Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu benennen, die als verbindlicher Standard des Kindeswohls gelten können. Zentrale Anknüpfungspunkte sind dabei die »basic needs« der UN-Konvention über die Rechte des Kindes oder der WHO: – das Bedürfnis nach Liebe, Akzeptanz und Zuwendung; – die Möglichkeit, stabile Bindungen einzugehen; – das Bedürfnis nach Ernährung und Versorgung; – das Bedürfnis nach Gesundheit; – Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung; – das Bedürfnis nach Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung. So haben sich im Kontext der Rechtssprechung und des fachöffentlichen Diskurses folgende Entscheidungsmerkmale herauskristallisiert: 1. Förderungsprinzip: Sind die Eltern/Ist ein Elternteil (bei Trennung und Scheidung) in der Lage, den Lebensumständen entsprechend das Kind in seiner Persönlichkeit zu fördern und zu erziehen? Dies betrifft neben der grundsätzlichen Bereitschaft zur Übernahme der elterlichen Sorge die sehr persönlichen Kompetenzen der Bezugspersonen, ihre Erziehungssituation (inklusive der sozioökonomischen Faktoren), ihre Motivkonstellation, sowie ihre Fähigkeit, dem Kind bei der

5 »The least detrimental available alternative fort he child’s growth and development« (Goldstein, Freud u. Solnit, 1973, S. 53).

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Bewältigung seiner jeweiligen Entwicklungsaufgaben angemessen und unterstützend zur Seite zu stehen. 2. Bindungsqualität: Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen dem Kind und seinen Eltern (Mutter/Vater), wie die der Geschwister untereinander oder die zu den Großeltern? Hier wird Bezug genommen auf die Bindungstheorie und die Bedeutung sicherer Bindung für die Entwicklung de Kindes. 3. Kontinuität: Wo bekommt das Kind eine zukunftsorientierte Stabilität, wo werden seine bestehenden Bindungen am besten geschützt? Die Kontinuitätsgrundsätze beruhen auf der Annahme, dass es am ehesten dem Wohl des Kindes entspreche, wenn der weitestgehende Erhalt der bisherigen Lebensverhältnisse gewahrt bleibe, wobei zwischen lokaler und personaler Kontinuität unterschieden wird. 4. Wille des Kindes: Wie drückt das Kind seine Selbstbestimmung aus, welche Hinweise auf Bindungsindizien gibt es? Dabei gilt es, die individuellen Entwicklungs- und Erfahrungsfaktoren des Kindes bzw. Jugendlichen zu berücksichtigen. Diese Kriterien wurden im Bereich des Scheidungsrechtes entwickelt, setzen also implizit durchschnittliche Erziehungsverhältnisse und Fähigkeiten der Eltern voraus. Im Bereich des Kindesschutzes hingegen tragen sie den Besonderheiten (hochunsichere Bindungen, Traumata, Deprivation etc.) ebenso wenig Rechnung wie intensiven Angstbindungen des Kindes und seiner Identifikation mit dem Aggressor (hier: Eltern oder Bezugspersonen).

Schutz- und Risikofaktoren Hier erscheint eine Bezugnahme auf neuere Befunde der Resilienzforschung als sinnvoll. Aus der Resilienzforschung sind sowohl schützende wie die Kindesentwicklung gefährdende Faktoren bekannt. Dabei sind soziale Faktoren von kindbezogenen Faktoren zu unterscheiden (nach Egle, Hoffmann u. Joraschky, 2000, S. 9–20). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Kindeswohl und Kindeswille

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Als Risikofaktoren gelten: – Verlust der Mutter, – längere Trennung von den Eltern in den ersten sieben Lebensjahren, – sexueller Missbrauch/Misshandlung des Kindes, – Alkohol- und Drogenmissbrauch eines Elternteils, – Kriminalität/Dissozialität eines Elternteils, – psychische Störungen eines Elternteils, – schwere körperliche Erkrankung eines Elternteils, – häusliche Gewalt, – Trennung, Scheidung der Eltern, – geringer Status, Arbeitslosigkeit, schlechte Schulausbildung. Aus diesen Faktoren ist eine Risiko-Gesamtbelastung zu ermitteln. Gemildert oder kompensiert werden können diese Belastungen durch sogenannte Schutzfaktoren: Soziale Schutzfaktoren: – dauerhafte und gute Beziehung zu mindestens einer primären Bezugsperson, – gutes Ersatzmilieu nach Mutterverlust, – verlässlich unterstützende Bezugspersonen im Erwachsenenalter. Kindbezogene Schutzfaktoren: – überdurchschnittliche Intelligenz, – robustes, aktives und kontaktfreudiges Temperament, – internale Kontrollüberzeugungen, Selbstwirksamkeit, – sicheres Bindungsverhalten.

Kindeswille im Recht Die Rechtssprechung unterscheidet zwischen dem »rationalen Kindeswillen« und dem »emotionalen Kindeswillen«. Während der rationale Kindeswille die graduell wachsende Selbstverantwortlichkeit des Kindes widerspiegele (Selbstbestimmung, Reife, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Urteilskraft, Kritik- und Entscheidungsfähigkeit), sei der emotionale Kindeswille ein Indiz besonderer Verbundenheit und damit eine integrale Komponente des Kindeswohls. Hierbei ist aber insbesondere die jeweilige Entwicklung und Reife eines Kindes zu beachten. Unter »Wille« finden sich eine Fülle von inneren Haltungen, Wünschen oder auch Befürchtungen. Die Willensbildung beim Kind ist bestimmt durch sein Entwicklungsalter, aber auch durch seine Erfahrungen im sozialen Kontext. Das Kind ist dabei nicht unabhängig und frei, sondern beeinflussbar von Personen und Situationen, wobei Beeinflussung in jeder Eltern-Kind-Beziehung als wünschenswert gilt und auch dem Kompetenzzuwachs des Kindes dienen kann. Die wachsende Autonomieentwicklung eines Kindes/eines Jugendlichen geht einher mit einer steigenden Willensbildung auf der Grundlage der Entwicklung des formal-operierenden Denkens, wobei sie zunehmend fähig werden, vielfältige Optionen und Perspektiven einzunehmen, um Situationen und Probleme zu durchdenken und zu beurteilen. Zugleich erfolgt spätestens in der Adoleszenz eine erste kritische Überprüfung der vom Elternhaus übermittelten Beziehungsgestaltung, Werte und Lebensweisen. Diese Kompetenzen werden jedoch insbesondere in Fällen von Misshandlung und Missbrauch gebrochen. Hier ist mit Überanpassung, Rollenumkehr, problematischen Identifikationsprozessen mit dem Aggressor wie auch reparativen Phantasien zu rechnen. Ebenso gefährden Erpressungen, Druck und Drohungen das Kindeswohl. Unter all diesen Aspekten ist die Beachtung des Kindeswillens im familiengerichtlichen Verfahren ein Akt gerichtlicher Abwägung, wobei zunehmend dem Kind zur Wahrnehmung und Darstellung seines Willens und zur Durchsetzung seiner wohlverstandenen Interessen ein Verfahrensbeistand (§ 157 FamFG) zur Seite gestellt wird. Schließlich hängt die Beteiligung und Mitarbeit eines Kindes/ Jugendlichen vor Gericht nicht unwesentlich von den emotionalen Reaktionen der Eltern bzw. der Bezugspersonen des Kindes © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Kindeswohl und Kindeswille

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ab. Oftmals bestehen beim Kind/Jugendlichen Vorstellungen von Gerichtsverfahren, die durch das Fernsehen geprägt sind. Auch hier ist das kindliche Verständnis der Vorgänge abhängig von seinem Entwicklungs- und Reifegrad, es kann zudem durch Fehlinformationen und Drohungen von Tätern negativ beeinflusst werden. Im Optimalfall werden dem Kind vom Gericht bei Anhörungen besondere Möglichkeiten eingeräumt, um es zu entlasten und ihnen ein Gefühl subjektiver Wirkmächtigkeit zu geben. Hierzu zählt insbesondere eine angemessene Vorbereitung des Kindes, um die Bereitschaft zur Mitarbeit zu erhöhen und Ängste abzubauen. Auch ist es nicht zwingend, dass Kinder im Gericht vor allen Beteiligten angehört werden müssen. Ort und Zeitpunkt der Kindesanhörung können an die Situation des Kindes angepasst werden. Zudem sollte dem Kind stets die Möglichkeit eröffnet werden, auch noch später Mitteilungen gegenüber dem Gericht abgeben zu können. Schließlich hängt auch viel von der Gesprächsführung des Richters ab, inwieweit er empathisch in der Lage ist, sich auf die Sicht und Empfindungen des Kindes einzulassen.

Literatur Egle, U. T., Hoffmann, S. O., Joraschky, P. (2000). Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung. Stuttgart: Schattauer. Goldstein, J., Freud, A., Solnit, A. J. (1973). Jenseits des Kindeswohls. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Zitelmann, M. (2005). Kindeswohl und Kindeswille: Im Spannungsfeld von Pädagogik und Recht. Münster: Votum.

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Aufgaben des Familiengerichts

Vorbemerkung Dem Familiengericht kommt im Konflikt der Eltern um das Kind eine Ordnungsfunktion zu; es übernimmt die Umsetzung des staatlichen Wächteramtes und ist dabei befugt, Eingriffe in die elterliche Sorge vorzunehmen.

Rechtliche Grundlagen Einerseits ist durch das Grundgesetz, Art. 6 Grundgesetz, festgelegt, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung stehen und Eltern den Vorrang bei der Erziehung ihrer Kinder haben, andererseits ist der Staat bei vorliegender Gefährdung des Kindeswohls zum Eingriff in die elterliche Sorge verpflichtet. Kinder sind sowohl Objekt staatlicher Fürsorge, ihnen wird aber auch über die allgemeinen Persönlichkeitsrechte die Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit zugestanden. Bei Konflikten zwischen den Grundrechtspositionen der Eltern und denen des Kindes hat das Kindeswohl Vorrang. Dabei sind Eingriffe in Rechtspositionen immer nur dann zu rechtfertigen, soweit sie erforderlich, notwendig und angemessen sind (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als wesentliches Element der Verfassung). Im Familienrecht versucht der Gesetzgeber zudem, gesellschaftliche Entwicklungen umzusetzen bzw. auch zu steuern. Während früher auch elterliche Gewalt als Erziehungsmittel legitim war, gilt inzwischen ein klares Gewaltverbot: »Kinder haben ein Recht © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig (§ 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge). Deutlich wird das neue Erziehungsbild auch in den Grundsätzen der elterlichen Sorge, geregelt in § 1626 BGB, in dem sowohl die Pflichten und Rechte der Eltern benannt sind, aber auch die Verpflichtung zur Berücksichtigung der wachsenden Fähigkeiten und des wachsenden Bedürfnisses des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Eltern sollen Fragen der elterlichen Sorge mit dem Kind besprechen, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, und dabei Einvernehmen anstreben. Weiterhin wird die Bedeutung der Beziehung und Bindung zu beiden Elternteilen betont: »Zum Wohl des Kindes gehört in der Regel den Umgang mit beiden Elternteilen« (§ 1626 (3)). Dies wird sogar auf andere Bezugspersonen, zu denen das Kind Bindungen besitzt, ausgedehnt, wenn die Aufrechterhaltung des Umgangs für die Entwicklung des Kindes förderlich ist. Dies betrifft vor allem den Umgang mit Großeltern, aber auch zum Beispiel ehemaligen Pflegeeltern. Die Eltern haben die elterliche Sorge in eigener Verantwortung und in gegenseitigem Einvernehmen zum Wohl des Kindes auszuüben, auch bei Meinungsverschiedenheiten müssen sie versuchen, sich zu einigen (§ 1627 BGB). Sind sie hierzu aufgrund ihrer Konflikte nicht in der Lage, so kann das Familiengericht auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen. Die Übertragung kann mit Beschränkungen oder mit Auflagen verbunden werden (§ 1628 BGB). Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind (§ 1666 BGB Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls). Zu den gerichtlich anzuordnenden Maßnahmen gehören u. a. die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge, oder Kontaktverbote (z. B. Verbot, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Fa© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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milienwohnung zu nutzen oder sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten, in dem sich das Kind regelmäßig aufhält) bis hin zur teilweisen oder vollständigen Entziehung der elterlichen Sorge. Während früher bei Trennungskonflikten die Zuordnung der elterlichen Sorge zu einem Elternteil Aufgabe des Familiengerichts war, ist jetzt das Ziel, die elterliche Sorge beider Eltern zu erhalten. In § 1671 BGB werden Fragen des Getrenntlebens bei gemeinsamer elterlicher Sorge geregelt. Dabei kann grundsätzlich jeder Elternteil beantragen, dass ihm das Familiengericht die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge allein überträgt. Unproblematisch ist dies, wenn der andere Elternteil zustimmt, es sei denn, dass das Kind das 14. Lebensjahr vollendet hat und der Übertragung widerspricht. Auch ist dem Antrag stattzugeben, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entsprechen. Soweit kein Antrag gestellt wird, verbleibt es bei gemeinsamer elterlicher Sorge. Ungeachtet dessen hat das Kind seinen Lebensmittelpunkt bei einem Elternteil, mit der Konsequenz, dass dieser in »Angelegenheiten des täglichen Lebens« allein entscheiden kann. Weiterhin ist ein Einvernehmen der Eltern bei Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind erforderlich (§ 1687 BGB). Das gemeinsame Sorgerecht (GES) gilt seit der Reform als »normativer Regelfall«, aber nicht in dem Sinne eines Vorrangs gegenüber der Alleinsorge. Erforderlich ist ein Mindestmaß an Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft zwischen den Eltern. Eine besondere Form der gemeinsamen elterlichen Sorge stellt das sogenannte »Wechselmodell« mit gleich hohen Betreuungsanteilen beider Eltern dar. Es setzt allerdings das Einvernehmen der Eltern über diese Betreuungsform voraus. Wenn ein Elternteil an dieser Praxis nicht festhalten möchte, ist eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Zu beachten ist weiterhin, dass das Wechselmodell auch finanzielle Konsequenzen (Kindergeld, Vertretung bei Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen) hat. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Auch die Regelung des Umgangs (§ 1684 Umgang des Kindes mit den Eltern) erfolgt nur dann, wenn es hierbei zwischen den Eltern kein Einvernehmen gibt. Grundsätzlich hat das Kind Recht auf Umgang mit jedem Elternteil und jeder Elternteil ist zum Umgang mit dem Kind verpflichtet und berechtigt. Dabei haben die Eltern alles zu unterlassen, was das Verhältnis des Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder die Erziehung erschwert. Entsprechendes gilt auch, wenn sich das Kind in der Obhut einer anderen Person befindet. Der § 1684 BGB kann als Versuch verstanden werden, das Elternprimat, das Kindesrecht, das Staatliche Wächteramt sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in eine einfachgesetzliche Norm zu fassen. Er gibt dem Gericht eine Gestaltungsmöglichkeit, über den Umfang des Umgangs und seine Ausübung zu entscheiden. Das Gericht kann die Beteiligten durch Anordnungen zur Erfüllung ihrer Pflicht anhalten. Wird die Pflicht dauerhaft oder wiederholt erheblich verletzt, kann das Familiengericht auch eine Pflegschaft für die Durchführung des Umgangs anordnen (Umgangspflegschaft). Auch kann angeordnet werden, dass der Umgang nur stattfinden darf, wenn ein mitwirkungsbereiter Dritter anwesend ist. Vor einem möglichen Ausschluss des Umgangs ist die Einschränkung des Umgangs zu prüfen (begleiteter Umgang oder Umgangspflegschaft), der Ausschluss des Umgangs ist nur als ultima ratio zu sehen.

Das Gerichtsverfahren Die zuletzt erfolgte Neuregelung der Verfahrensordnung durch das FamFG (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit) hat erhebliche Veränderungen für familienrechtliche Verfahren mit sich gebracht. Grundsätzlich gilt im familiengerichtlichen Verfahren (mit Ausnahmen in Parteiverfahren) der Amtsermittlungsgrundsatz, d. h. das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen (§ 26 Ermittlung von Amts wegen). Neue wesentliche Verfahrensgrundsätze sind nunmehr das Beschleunigungsgebot, die Beteiligungsrechte und das Hinwirken auf Einvernehmen (Entwicklung tragfähiger Konfliktlösungen). Dabei sollen Kindschaftssachen, die den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen, sowie Verfahren wegen Gefährdung des Kindeswohls vorrangig und beschleunigt durchgeführt werden (§ 155 FamFG Vorrang- und Beschleunigungsgebot). Die gerichtliche Erörterung mit den Beteiligten soll spätestens einen Monat nach Beginn des Verfahrens stattfinden. Das Gericht hört in diesem Termin auch das Jugendamt an. Auch kann das persönliche Erscheinen der verfahrensfähigen Beteiligten zu dem Termin angeordnet werden. Mit der Beschleunigung der Verfahren soll vor allem auch dem kindlichen Zeitempfinden Rechnung getragen werden. Bei dem Verfahren werden dem Kind Beteiligungsrechte (§ 159 FamFG) eingeräumt. So hat das Gericht das Kind persönlich anzuhören, wenn es das 14. Lebensjahr vollendet hat. Hat das Kind das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet, ist es persönlich anzuhören, wenn die Neigungen, Bindungen oder der Wille des Kindes für die Entscheidung von Bedeutung sind oder wenn eine persönliche Anhörung aus sonstigen Gründen angezeigt ist. Von einer persönlichen Anhörung darf das Gericht aus schwerwiegenden Gründen absehen, unterbleibt eine Anhörung allein wegen Gefahr im Verzug, muss sie unverzüglich nachgeholt werden. Das Kind soll über den Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens in einer geeigneten und seinem Alter entsprechenden Weise informiert werden, soweit nicht Nachteile für seine Entwicklung, Erziehung oder Gesundheit zu befürchten sind. Ihm ist Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Grundsätzlich entscheidet der Richter, ab welchem Alter Kinder angehört werden. Dies ist auch davon abhängig, wie sich das Kind bereits verbal ausdrücken kann und ob zumindest eine einfache Konversation möglich ist. Bei kleineren Kindern können Richter bei der Anhörung auch die Beobachtung der Interaktion nutzen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Bestehen zwischen dem Interesse des Kindes und dem seiner gesetzlichen Vertreter erhebliche Gegensätze, hat das Gericht dem minderjährigen Kind in Kindschaftssachen, die seine Person betreffen, einen geeigneten Verfahrensbeistand zu bestellen (§ 158 FamFG Verfahrensbeistand), der die Wahrnehmung seiner Interessen übernimmt. Die Bestellung eines Verfahrensbeistandes ist ebenfalls erforderlich, wenn die teilweise oder vollständige Entziehung der Personensorge in Betracht kommt (Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a BGB) oder wenn eine Trennung des Kindes von der Person erfolgen soll, in deren Obhut es sich befindet bzw. in Verfahren, die die Herausgabe des Kindes oder eine Verbleibensanordnung zum Gegenstand haben. Schließlich muss ein Verfahrensbeistand auch bestellt werden, wenn der Ausschluss oder eine wesentliche Beschränkung des Umgangsrechts in Betracht kommt. Aufgabe des Verfahrensbeistandes ist es, das Interesse des Kindes festzustellen und im gerichtlichen Verfahren zur Geltung zu bringen. Das Gericht kann dem Verfahrensbeistand die zusätzliche Aufgabe übertragen, Gespräche mit den Eltern und weiteren Bezugspersonen des Kindes zu führen, sowie am Zustandekommen einer einvernehmlichen Regelung über den Verfahrensgegenstand mitzuwirken. Er hat das Kind über Gegenstand, Ablauf und möglichen Ausgang des Verfahrens in geeigneter Weise zu informieren. Der Verfahrensbeistand kann im Interesse des Kindes Rechtsmittel einlegen, er ist aber nicht gesetzlicher Vertreter des Kindes. Die Auswahl des Verfahrensbeistands obliegt dem Gericht. Üblich sind Personen, die über pädagogische und/oder juristische Qualifikation verfügen. Neu ist nunmehr auch, dass grundsätzlich in Kindschaftssachen, die die elterliche Sorge bei Trennung und Scheidung, den Aufenthalt des Kindes, das Umgangsrecht oder die Herausgabe des Kindes betreffen, in jeder Lage des Verfahrens auf ein Einvernehmen der Beteiligten hinzuwirken ist, wenn dies dem Kindeswohl nicht widerspricht (§ 156 FamFG). Dabei soll auf Möglichkeiten der Beratung durch die Beratungsstellen und -dienste der Träger der Kinder- und Jugendhilfe insbesondere zur Entwicklung eines einvernehmlichen Konzepts für die Wahrnehmung der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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elterlichen Sorge und der elterlichen Verantwortung hingewiesen werden, ebenso auf die Möglichkeit der Mediation oder sonstiger außergerichtlichen Streitbeilegung. Einerseits kann das Gericht die Teilnahme solcher Beratung anordnen, jedoch ist die Anordnung nicht mit Zwangsmitteln durchsetzbar. Erzielen die Beteiligten Einvernehmen über den Umgang oder die Herausgabe des Kindes, wird diese Regelung vom Gericht gebilligt, sofern dies dem Kindeswohl nicht widerspricht. Kann jedoch eine einvernehmliche Regelung nicht erreicht werden, hat das Gericht mit den Beteiligten und dem Jugendamt den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erörtern. Das Gericht kann die Teilnahme an einer Beratung oder eine schriftliche Begutachtung anordnen. In Streitfällen über Regelung und Durchführung des Umgangs ist ein gerichtliches Vermittlungsverfahren (§ 165 FamFG) auf Antrag eines Elternteiles vorgesehen. Das Gericht kann die Vermittlung ablehnen, wenn bereits ein Vermittlungsverfahren oder eine anschließende außergerichtliche Beratung erfolglos geblieben ist. Dazu kann auch das Jugendamt geladen werden. Das Gericht soll darauf hinwirken, dass die Eltern Einvernehmen über die Ausübung des Umgangs erzielen. Die Eltern werden auf die bestehenden Möglichkeiten der Beratung durch die Beratungsstellen und -dienste der Träger der Kinder- und Jugendhilfe hingewiesen. Wird weder eine einvernehmliche Regelung des Umgangs noch Einvernehmen über eine nachfolgende Inanspruchnahme außergerichtlicher Beratung erreicht oder erscheint mindestens ein Elternteil in dem Vermittlungstermin nicht, stellt das Gericht durch nicht anfechtbaren Beschluss fest, dass das Vermittlungsverfahren erfolglos geblieben ist. In diesem Fall prüft das Gericht, ob Ordnungsmittel ergriffen, Änderungen der Umgangsregelung vorgenommen oder Maßnahmen in Bezug auf die Sorge ergriffen werden sollen Zur Klärung strittiger Fälle kann das Gericht ein Sachverständigengutachten einholen. Dieses ist unter Einsetzung einer Frist zu erstellen (§ 163 FamFG), wobei das Gericht anordnen kann, dass der Sachverständige bei der Erstellung des Gutachtenauftrags auch auf die Herstellung des Einvernehmens zwischen den Beteiligten hinwirken soll. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Kinder im Begleiteten Umgang

Zusammenfassung Das FamFG hat zum Ziel, den Kontakt zwischen Eltern und Kindern auch nach Trennung der Eltern aufrechtzuerhalten. Dies wird durch Streit zwischen den Eltern erschwert. In den Auseinandersetzungen zwischen den Eltern geht es oft nur vordergründig um das Wohl der Kinder. Im Begleiteten Umgang als einem der im FamFG aufgeführten Instrumente zur Aufrechtherhaltung des Kontaktes zwischen Kindern und getrennten Eltern ist die Perspektive der Kinder besonders zu berücksichtigen. Im folgenden Beitrag geht es am Beispiel Begleiteter Umgänge in einer Erziehungsberatungsstelle um die Möglichkeiten, die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme einzuschätzen.

Gesetzliche Rahmenbedingungen Die Notwendigkeit, Eltern beim Umgang mit ihren Kindern fachlich-institutionell zu begleiten, ergibt sich aus der Überforderung mancher Eltern nach Trennung oder Scheidung. Enttäuschung und Wut sind oft so groß, dass es schwerfällt, den Kontakt als Eltern aufrechtzuerhalten, und das betrifft auch den Kontakt zu den Kindern. Die Kontinuität der Beziehung der Kinder zu beiden Eltern ist durch deren Trennung gefährdet. Das Phänomen kennen auch Erwachsene, wenn sich im Freundeskreis ein Paar trennt: Es ist schwierig, den Kontakt zu beiden ehemaligen Partnern zu halten, und oft wird der Kontakt zu einem abgebrochen. In § 1684 BGB hat der Gesetzgeber Kindern das Recht auf Umgang mit jedem Elternteil zugesprochen und gleichzeitig jeden Elternteil zum Umgang mit Kindern verpflichtet und be© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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rechtigt. Durch die Verankerung der elterlichen Umgangspflicht vor dem Umgangsrecht wird der Pflichtcharakter für die Eltern betont, während es für die Kinder ein Recht, aber keine Pflicht zum Umgang gibt. In strittigen Fällen kann das Familiengericht anordnen, dass der Umgang nur stattfindet, wenn ein mitwirkungsbereiter Dritter anwesend ist. Das ist die gesetzliche Grundlage des Begleiteten Umgangs, der von einigen Erziehungs- und Familienberatungsstellen und anderen Institutionen angeboten wird. Mit dem neuen Familienverfahrensrecht (Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit FamFG) bemüht sich der Gesetzgeber um die bessere Wahrnehmung der Interessen der Kinder. Dazu gehört die Beschleunigung der Verfahren mit der Bestimmung, dass innerhalb eines Monats ein Termin mit allen Beteiligten und dem Jugendamt stattfinden soll (§ 155). Denn Untätigkeit und Aufschub führen oft zur Eskalation der Konflikte zwischen den Eltern. Den Beratungsstellen ist die Aufgabe zugedacht, den Eltern bei der Entwicklung einvernehmlicher Konzepte zu helfen (§ 156). Beratung kann auch angeordnet werden. Kinder sollen angehört werden und nach Vollendung des 14. Lebensjahrs müssen sie angehört werden (§ 159). Wenn das Interesse eines Kindes zu dem seiner gesetzlichen Vertreter in erheblichem Gegensatz steht, kann das Gericht einen Verfahrensbeistand bestellen (§ 158).

Institutionelle Rahmenbedingungen am Beispiel einer Erziehungs- und Familienberatungsstelle Die Familien-, Erziehungs- und Jugendberatung im Evangelischen Zentrum für Beratung in Höchst ist eine von 15 Erziehungsberatungsstellen in Frankfurt am Main. Für den Begleiteten Umgang gelten die Richtlinien des Jugend- und Sozialamts, die auch die Finanzierungsgrundlage durch das Jugendamt beinhalten. Unterschieden wird in Abhängigkeit von der Höhe des Konfliktniveaus (Alberstötter, 2004) und dem damit verbunde© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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nen Schutzbedürfnis der Kinder zwischen Kontrolliertem Umgang, wo der Umgangsbegleiter ständig anwesend ist, Begleitetem Umgang, wo Umgangsberechtigter und Kinder zeitweise allein gelassen werden, und Betreuter Übergabe, wo nur die Übergabe der Kinder in Anwesenheit eines Dritten stattfindet. Für den Evangelischen Träger ist der Schutz der Vertraulichkeit vorrangig: Deshalb werden in der Regel keine Aussagegenehmigungen für Berater als Zeugen in familiengerichtlichen Verfahren erteilt und die Abgrenzung zur gutachterlichen Funktion wird eingehalten. Für das Jugendamt/ Gericht wird bei Vorliegen von Schweigepflichtentbindungen der Eltern ein Bericht erstellt, der den Eltern in Kopie zugeht. Mitgeteilt werden die Termine, die stattgefunden haben, und vor allem, ob eine einvernehmliche Lösung erarbeitet werden konnte und wenn nicht, was die strittigen Punkte waren. Diese Informationen nach außen werden vom Berichtgeber auch im Sinn einer Abschlussintervention genutzt, um die neuralgischen Punkte, aber auch die Ressourcen in der Familie zu benennen. Der Begleitete Umgang ist ein Arbeitsfeld der Erziehungsberatungsstelle in Zusammenarbeit mit der Sozialberatung für Migranten und Flüchtlinge. Für Scheidungsfamilien werden außerdem auf der Kinderebene Gruppen für Kinder aus Trennungs- und Scheidungsfamilien und auf der Elternebene im Rahmen eines Modellprojekts »Konfliktregulierende Beratung« angeboten. Neben diesen spezifischen Formen von Beratung gehören Trennung und Scheidung zu den am häufigsten genannten Gründen für die Inanspruchnahme von Erziehungsberatung.

Aus einem Erstgespräch mit einem umgangsberechtigten Vater Von einer Kollegin aus dem Jugendamt haben die Eltern die Telefonnummer der Beratungsstelle erhalten. Als Erstes ruft der Vater an, der innerhalb von zwei Wochen einen Termin für ein Vorgespräch bekommt. Es geht um ein fünfjähriges Mädchen ohne Geschwister. Der Vater sagt, seine Frau habe ihn immer © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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nur provoziert wie auch vor drei Monaten, als er sie im Beisein des Kindes und einer Freundin der Mutter an den Haaren gezogen hätte. Es folgt eine Rechtfertigung für sein Verhalten mit einer Fülle weiterer Situationen, in denen er sich von seiner Frau in die Enge getrieben fühlte. Wie könnte das für die Tochter gewesen sein, unterbreche ich die Anklage des Vaters gegenüber der Mutter. Das sei alles sehr schnell gegangen, meint er, sie hätte es gar nicht richtig mitbekommen. Jedenfalls sei er auch früher schon gereizt worden, er schlage sonst nicht gleich los, ich solle keinen falschen Eindruck von ihm bekommen, er sei kein Schläger. Mein Eindruck von ihm ist, dass er nach drei Monaten ohne Kind wie unter Entzug steht. »Sie müssen mir helfen, meine Tochter zu sehen!«, beschwört er mich und ringt um Fassung, als er erfährt, dass ich erst mit der Mutter des Kindes sprechen, dann die Tochter kennenlernen will und mir einen Einuck verschaffen möchte, was die längere Kontaktpause und ein Wiedersehen für sie bedeutet. Das könne mehrere Wochen dauern. Das sei ihm viel zu lang, wo er doch schon seit drei Monaten das Kind nicht mehr gesehen habe. Er sei doch nur hier, damit er seine Tochter sehen kann. Er verstehe das alles nicht. Ihm sei im Jugendamt auch gesagt worden, bei den Treffen wäre dann noch jemand dabei. Das wolle er auf keinen Fall, da fühle er sich beobachtet und könne nicht unbefangen sein.

Folgerungen aus dem Beispiel Es kann sehr schwer sein, über die Kinder zu sprechen und deren Perspektive ins Spiel zu bringen. Typischerweise erfahre ich nur auf hartnäckiges Fragen etwas über die Kinder, deren Lebensgewohnheiten, die Beziehung zu Vater und Mutter, Geschwistern und Gleichaltrigen. Im Vordergrund steht der getrennte Partner mit all seiner vermeintlichen Schlechtigkeit, an dem der umgangsberechtigte Elternteil mit seinen guten Absichten immer wieder scheitert. Was dann inhaltlich über die Kinder gesagt wird, folgt diesem Gut-Böse-Schema meist wie © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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die Kompassnadel dem Nordpol: Man selber hat nur Gutes für die Kinder getan, der Partner nur Schlechtes. Weber (2006, S. 101) sieht die »Gefahr, dass Äußerungen und Verhaltensweisen von Kindern von Vätern und Müttern einseitig in einem Sinne verstanden und gedeutet werden, die den eigenen Wahrnehmungsmustern und Interessen entspricht.« Der daraus resultierende »Tunnelblick« macht hochstrittige Eltern zu schlechten Informationsquellen, wenn es um die Befindlichkeit der Kinder geht. Dementsprechend fühle ich mich in den Vorgesprächen mit Eltern weniger informiert als dazu gedrängt, eine Sichtweise zu übernehmen und in diesem Sinn tätig zu werden. Typischerweise erlebe ich eine Mischung aus Schuldgefühlen, weil ich dies nicht tue, und Ärger über das fordernde und auch mir gegenüber vorwurfsvolle Verhalten. Nach dem Motto »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich« kann ich als Berater schnell in die Rolle des Komplizen des anderen Elternteils geraten, den ich vielleicht noch gar nicht kennen gelernt habe. Das andere Extrem ist die voreilige Identifizierung mit dem anwesenden Elternteil. In beiden Fällen ist es schwer, die Position des neutralen Dritten beizubehalten. Dem entspricht die für Kinder noch viel größere Verführung, sich an dem jeweils anwesenden Elternteil zu orientieren und die Entwicklung einer eigenen Sichtweise defensivprotektiv zu opfern.

Zur Psychodynamik Psychodynamisch geht es um Verarbeitungs- oder Bewältigungsversuche einer unter Umständen traumatisch erlebten Trennung, die die narzisstische Homöostase empfindlich gestört hat. Um wenigstens sich selbst zu retten, wo der andere als verloren angesehen werden muss, wird durch Projektion alles Schlechte diesem Anderen zugeschrieben und alles Gute sich selbst. Dann ist es ja gut, dass das Schlechte geht und das Gute erhalten bleibt, dann ist die Trennung kein Verlust, sondern ein Gewinn. Aus der erlittenen Kränkung wird mit Hilfe der Projek© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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tion ein Triumph des Guten über das Böse. Die daraus resultierende Spaltung dient der Orientierung in einer Situation, wo alles in Frage gestellt zu sein scheint, auch die Kohärenz des eigenen Selbst. Deshalb erscheinen manche Umgangsberechtigte wie Ertrinkende und sind – soweit der Vergleich erlaubt ist – genauso schwer zu retten, weil ihr verzweifeltes Umsichschlagen Hilfe erschwert und in der Beratung auch den Helfer in Gefahr bringen kann. Figdor (2008, S. 61) spricht von einer massiven Störung des narzisstischen Gleichgewichts durch plötzliche, unvermutete Angriffe, was zu einer Regression, einer »Verkindlichung« und damit einer Schwächung von Ich und Über-Ich führt und wenig bearbeitete Triebimpulse und frühe Objektbeziehungsmuster aktiviert. Kinder im Begleiteten Umgang – das sind nicht nur die von Trennung und Scheidung ihrer Eltern betroffenen Kinder. Das sind auch die Kinder in den Eltern. Der Umgang der Eltern miteinander ist davon bestimmt, welche Erfahrungen sie in ihrer Biografie mit Trennungen gemacht haben. Der im Beispiel erwähnte Vater war nach seiner Geburt für die ersten Lebensjahre zu Verwandten ins Herkunftsland der Eltern gekommen, damit sie beide in Deutschland voll berufstätig sein konnten. Damit verbundene Trennungserfahrungen könnten reaktiviert worden sein und zu regressiven Prozessen geführt haben. Das soll aber nicht heißen, dass hochstrittige Eltern grundsätzlich krank, traumatisiert oder behandlungsbedürftig sind. Dazu noch einmal Figdor (2008, S. 73): Beratung in diesem Bereich ist der Versuch, »geschiedene, hoch strittige Eltern mit ihrem (für Scheidungseltern ganz normalen) Wahnsinn vertraut zu machen.« Diese Sichtweise wird unterstützt durch eine Untersuchung von Spindler (2009, S. 734), der grundsätzlich feststellt, das Hochstrittigkeit eine Form von Kontakt- und Beziehungsgeschehen ist: »Es ist nicht möglich, allein hoch strittig zu sein.« Deshalb kommt er zu dem Schluss, dass Hochkonfliktgeschehen weniger in den Individuen und deren Eigenschaften zu verorten ist. Vielmehr sollten »die Wege, Prozesse und Umfeldbedingungen (von anwaltlichen Strategien bis hin zu Terminierungstempo bei Familiengericht und Beratungsstelle) der Eskalation« unter© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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sucht werden: »Wo sind ›Schalter‹ oder ›Kreuzungen‹ an denen sich entscheidet, ob der Trennungsprozess bei gesunden, resilienten und sozial kompetenten Menschen sich gütlich oder hochstrittig gestaltet?« (Spindler, 2009, S. 747).

Beispiele für den Eltern-Kind-Kontakt im Begleiteten Umgang Was passiert mit den Kindern, wenn ein Elternteil oder beide Eltern in den Sog einer regressiven Bewegung kommen und dadurch ihre Verantwortung den Kindern gegenüber nur noch eingeschränkt wahrnehmen können? Oft progredieren die Kinder in einer Art Gegenbewegung und werden zu verständnisvollen, einsichtigen kleinen Erwachsenen. »Ich frage mich, was wir heute spielen können«, sagt ein Siebenjähriger zu seinem Vater, der so mit sich und seiner Kränkung durch die Trennung beschäftigt ist, dass er sich in der Spielsituation entweder heraushält oder überbordend aktiv ist. In einem anderen Beispiel ist die Entwicklung des Kontaktes gelungen: Der gerade vier Jahre alt gewordene Junge hat seinen Vater vor fünf Monaten das letzte Mal gesehen. Die Mutter schildert, wie der Vater über einen Gartenzaun geklettert sei und den Sohn in den Arm genommen hätte und später damit gedroht habe, ihn mit in die Türkei zu nehmen. Wegen eines tätlichen Übergriffs des Vaters gegenüber der Mutter in einer anderen Situation läuft ein Strafverfahren. Beim Familiengericht wurde Begleiteter Umgang vereinbart. Zum ersten Kontakt hat der Vater einen Spielzeug-Jeep für seinen Sohn mitgebracht, den dieser beim ersten Wiedersehen im Wartebereich ignoriert. Er klammert sich an die Mutter und will nicht mit ins Spielzimmer kommen. Ich bitte die Mutter mitzukommen, womit sie einverstanden ist. Im Spielzimmer sitzt der Junge auf dem Schoß der Mutter, der Vater sitzt abseits und spricht auf ihn ein, zu ihm zu kommen, was er verweigert. Dann setzt sich der Vater an den Tisch, fragt mich nach Malsachen und zeichnet ein Fußballfeld. Der Junge beobachtet ihn aus © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Alfred Krieger

den Augenwinkeln, ist von der Haltung her immer noch abgewendet. Der Vater spricht wie zu sich selbst, das sei jetzt ein Spiel von Galatasaray. Der Vierjährige löst sich von der Mutter und schaut sich einen Meter neben dem Vater stehend das aufgemalte Fußballfeld an. Der Kontakt entwickelt sich in dieser ersten Stunde gut und der Junge geht ab der zweiten Stunde auch ohne die Mutter mit dem Vater und mir ins Spielzimmer. Der Vater gibt wie im ersten Kontakt Anregungen, ohne das Kind zu bedrängen. Nach sieben Terminen kann der Begleitete Umgang beendet und weitere Termine ohne Begleitung vereinbart werden, die, wie ich später erfahre, auch zustande kommen.

Zum Ablauf des Begleiteten Umgangs Den Eltern wird durch das Jugendamt oder das Familiengericht ein Begleiteter Umgang vorgeschlagen bzw. er wird angeordnet. Wir bestehen darauf, dass sich die Eltern selber anmelden, und vergeben auch dann erst Termine. Damit soll trotz des Zwangskontextes, in dem Begleiteter Umgang stattfindet, die Eigenbeteiligung der Klienten gestärkt werden. Das Erstgespräch findet in der Beratungsstelle oder im Jugendamt statt und hat dann den Charakter eines Hilfeplangesprächs. Zu klären sind die Rahmenbedingungen, wozu die Besprechung der Regeln für den Begleiteten Umgang in der Einrichtung gehören und insbesondere die Schweigepflichtentbindung mit der Frage, wer welche Informationen erhält. Im Elterngespräch wird die Paar- und Familiengeschichte erfragt, ein Genogramm gezeichnet, über Konflikte und Lösungsversuche gesprochen und rechtliche Dinge geklärt: Wer hat das Sorge-/Aufenthaltsbestimmungsrecht, welche Besuchsregelung ist vereinbart und wie hat sie in der Vergangenheit funktioniert, ist das Familiengericht beteiligt, eventuell auch ein Verfahrensbeistand oder ein Gutachter? Wie erleben die Kinder die Situation, wie lange gab es keinen Kontakt, welche Befürchtungen und Hoffnungen könnten die Kinder mit dem Begleiteten Um© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Kinder im Begleiteten Umgang

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gang verbinden? Auch die äußere Situation der Kinder ist zu erfragen: Schule, Freunde, typischer Wochenverlauf etc. Im ersten Kontakt mit den Kindern soll geklärt werden, wie die Beziehungen zu den Eltern sind und was für die Entwicklung der Kinder förderlich ist. Es geht auch um das Kennenlernen der Begleitperson und der Räumlichkeiten. Die Beobachtung der Kinder kann durch projektive Tests wie Familie in Tieren oder Szeno ergänzt werden. In einem zweiten Elterngespräch wird ihnen der Eindruck des Beraters von den Kindern vermittelt und ein Vorschlag gemacht. Wenn dieser Begleiteten Umgang beinhaltet, sind Häufigkeit und Dauer der Kontakte festzulegen. Die Regeln für den Begleiteten Umgang werden besprochen und den Eltern mitgegeben. Kritische Punkte wie zum Beispiel Mitbringen von Geschenken, Fotografieren oder Termine außerhalb der Beratungsstelle werden besprochen und die Ergebnisse festgehalten.

Die Qualität der Umgangskontakte Der erste Kontakt findet im Spieltherapiezimmer der Beratungsstelle statt. Sinnvoll ist es, den Moment des ersten Treffens von Kindern und Umgangsberechtigtem im Wartebereich wahrzunehmen. Beobachtet werden soll auch, wie sich die Kinder vom anderen Elternteil lösen und wie der Auftakt im Spielzimmer ist. Als Leitfragen formuliert Reinhold (2004): Sind die Kinder offen oder reserviert gegenüber dem Umgangsberechtigten? Können sie Blickkontakt aufnehmen, antworten sie auf Ansprache, wie ist Gestik und Mimik einzuschätzen? Während des Spielens ist zu fragen, ob die Kinder Spaß dabei haben (Spielfreudigkeit), vom Elternteil angemessen beteiligt werden und ob es eine Art Abstimmung (Tuning) gibt bzw. sich zwischen Kindern und Erwachsenem entwickelt. Geht der Umgangsberechtigte auf die Kinder angemessen ein oder überfordert er sie, lässt er sich vom Kind involvieren oder dominiert er das Geschehen oder hält er sich übermäßig zurück, setzt er angemessene Grenzen und unterstützt das Kind? Hier geht es um die Spielfeinfühligkeit des Elternteils. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Die Interaktionsbeobachtung halte ich für das wichtigste diagnostische Instrument, um die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Begleiteten Umgangs beantworten zu können. Auch als Prädiktor für die Entwicklung der Beziehung zwischen Kindern und Elternteil nach Abschluss des Begleiteten Umgangs ist die Interaktion entscheidend. Zielsetzung kann nicht allein die Herstellung des Kontaktes zwischen Kindern und Umgangsberechtigtem sein. Die Art der Kontakte ist mit der Frage »Was hat das Kind davon?« zu qualifizieren. Als Begründung für die Fortführung eines Begleiteten Umgangs reicht es nicht aus, dass beide Eltern dies befürworten oder das Gericht es vorschlägt. Letztlich sollten die Kinder und deren Erleben im Mittelpunkt stehen, damit die Qualität des Kontaktes vor dessen formalem Zustandekommen steht. Begleiteter Umgang ist genauso wie Beratung oder Psychotherapie nicht immer hilfreich, auch nicht immer indiziert und kann bei Anwendung trotz Kontraindikation zu Schäden führen. In einer Untersuchung der Qualität der Eltern-Kind-Interaktion von Reinhold, Friedrich und Kindler (2008) wurde der Anteil der Begleiteten Umgänge mit ungünstigem Verlauf mit etwa einem Drittel angegeben. Die Autoren bezeichnen deshalb den Begleiteten Umgang als ein zweischneidiges Schwert: »Während er einerseits für viele Kinder eine sinnvolle Intervention zum Beziehungsaufbau zwischen umgangsberechtigtem Elternteil und Kind darstellt, wirkt er sich andererseits auf das Befinden einiger Kinder eher ungünstig aus.« Welche Kinder von Begleitetem Umgang profitieren und welche nicht, ist in der Praxis auch aufgrund der Interaktionsbeobachtung des Umgangsbegleiters immer wieder neu zu entscheiden und im Hinblick auf die Langzeitwirkungen weiter zu untersuchen.

Literatur Alberstötter, U. (2004). Hoch eskalierte Elternkonflikte – professionelles Handeln zwischen Hilfe und Kontrolle. Zeitschrift für die praktische Anwendung und Umsetzung des Kindschaftsrechts, 3, 90–99.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Kinder im Begleiteten Umgang

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Figdor, H. (2008). Hoch strittige Scheidungsfamilien und Lösungsstrategien für die Helfer. Aus der Praxis der psychoanalytisch-pädagogischen Erziehungsberatung. In H. Scheuerer-Englisch, A. Hundsalz, K. Menne (Hrsg.), Jahrbuch für Erziehungsberatung. Band 7 (S. 57–76). Weinheim u. München: Juventa. Reinhold, C. (2004). Beobachtung von begleiteten Umgangskontakten: Zusammenhänge zu Indikation und Beratung. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Universität Regensburg. Reinhold, C., Friedrich, V., Kindler, H. (2008). Qualität beobachtbarer Eltern-Kind- Interaktion während begleiteter Umgangskontakte. In W. E. Fthenakis (Hrsg.), Begleiteter Umgang von Kindern. Ein Handbuch für die Praxis (S. 538–551). München: Beck. Spindler, M. (2009). Hochstrittige Trennung und Persönlichkeitsstörung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 58, 733–750. Weber, M. (2006). Beteiligung und Schutz von Kindern bei der Beratung hoch strittiger Eltern. In M. Weber, H. Schilling (Hrsg.), Eskalierte Elternkonflikte. Beratungsarbeit im Interesse des Kindes bei hoch strittigen Trennungen (S. 93–102). Weinheim u. München: Juventa.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Forum »Familien in Psychotherapie – Strategien und Konzepte aus vier Blickwinkeln«

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Thomas Merz

Einführung in das Forum

In den folgenden Beiträgen werden Sie dazu eingeladen, gleich viermal einen Perspektivenwechsel mit zu vollziehen, wenn Ihnen die vier, ihrem jeweiligen Therapieverfahren verbundenen Autoren ihren theoretischen und praktischen Zugang (anhand einer Fallvignette) zu Familien darstellen. Doch zuvor einige Vorbemerkungen. Dass die LPPKJP Hessen einen Hessischen Psychotherapeutentag zur Familientherapie ausrichtete, kommt nicht von ungefähr: Einige namhafte Psychotherapeuten aus Hessen waren Wegbereiter des Systemischen Denkens in Deutschland. Allen voran Horst-Eberhard Richter, der schon 1972 mit seinem Buch »Patient Familie« den zuvor in den USA propagierten Paradigmenwechsel in der Betrachtung und im Umgang mit psychischen Krankheiten einläutete. Einen Wechsel von der individuumszentrierten Sichtweise zu einer Sichtweise der wechselseitigen Bedingtheit von Verhalten und Pathologie im Familiensystem, einer Sichtweise des Vernetztseins, die das wechselseitige Aufeinander-Angewiesensein in Familien und anderen sozialen Systemen in den Mittelpunkt des Verständnisses von Störungsentwicklung und -behandlung stellte. Ende der 1970er Jahre holte das Marburger Institut des Kollegen Klaus Deissler Pioniere der internationalen Systemikerszene wie Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin, Goolishian und andere zu Symposien und Workshops nach Mittelhessen. Ebenfalls seit 30 Jahren ist das ISTUP in Frankfurt mit Walter Schwertl in dieser Hinsicht aktiv. Der Wiesbadener Kollege Bernd Müller holte Carol Gammer ins Rhein-Main-Gebiet. Von dieser charismatischen Therapeu© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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tin wurde in den 1980ern eine ganze Generation von MitarbeiterInnen aus Erziehungsberatungsstellen in FT ausgebildet. Zu nennen wäre auch die evangelische Fachhochschule in Darmstadt – damals mit Frau Prof. Margarete Hecker, heute etwa mit Prof. Heino Hollstein-Brinkmann –, die bis heute einen systemischen Studienschwerpunkt hat. Seit Jahrzehnten gibt es darüber hinaus Systemische Aus- und Weiterbildungsinstitute in Hanau, Gießen, Wiesbaden und Kassel. Wir haben vier Vertreter verschiedener psychotherapeutischer Traditionen eingeladen, ihren Blick auf Familie darzustellen und zu diskutieren, welche Implikationen diese je spezifische Sichtweise für die konkrete Behandlungspraxis hat. Dabei geht es hier nicht um die verschiedenen Richtungen innerhalb der systemischen »Therapeutenfamilie«, sondern um Verbindendes und Trennendes zwischen den vier Grundorientierungen der Psychotherapie, wie sie sich in der deutschen Psychotherapeutenlandschaft herausdifferenziert haben, wie sie dem Vier-Säulen-Modell der Psychotherapie von Jürgen Kriz entsprechen und wie sie auch vom Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie anerkannt sind: – die psychodynamischen Verfahren, – die kognitiv-behavioralen Verfahren, – die humanistischen Verfahren und – die systemischen Verfahren. Innerhalb der Grundrichtungen gibt es jeweils eine Vielzahl theoretischer und praktischer Ansätze. Genauso wenig wie es nicht die eine psychoanalytische Familientherapie gibt, gibt es die eine systemische Familientherapie. Die psychoanalytische Familientherapie wurde etwa parallel in Gießen, Heidelberg und Göttingen entwickelt – dafür stehen unter anderem Horst-Eberhard Richter, Helm Stierlin und Almuth Massig. Bei den Systemikern gab es eine ganze Reihe an parallelen Entwicklungen in verschiedene Richtungen: die strukturelle Familientherapie Salvador Minuchins, die entwicklungsorientierte Familientherapie Virginia Satirs, die Kurzzeittherapie von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg, die strategische Familientherapie von Jay Hay© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Einführung in das Forum

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ley, die Mailänder Schule mit Mara Selvini Palazzoli, Boscolo und Cecchin, der narrative Ansatz von Goolishian, um nur die wichtigsten zu nennen. Neuere Ansätze wie die multisystemische Therapie Eia Asens kommen aus England oder wie der gewaltfreie Ansatz von Haim Omer aus Israel. Im Folgenden werden vier Vertreter der vier genannten Verfahren ihre Sichtweise auf folgende Fallvignette darstellen: Beim Psychotherapeuten angemeldet haben sich die Eltern einer 17-jährigen Jugendlichen, die seit vier Jahren an einer Anorexie leidet. Es gab schon verschiedene mehrwöchige bis mehrmonatige stationäre Behandlungen der Tochter, sowohl in einer auf Ess-Störungen spezialisierten Klinik als auch in der Kinderund Jugendpsychiatrie. Wenige Wochen nach der Rückkehr in die Familie würde die Tochter wieder in ihr altes Verhalten zurückfallen, ein Teufelskreis aus gegenseitigen Beschuldigungen würde die Situation zuhause eskalieren und für alle unerträglich werden lassen. Davon betroffen sei auch die zwölfjährige Tochter, die bislang zwar noch keine Symptome zeige, aber ganz offensichtlich unter den Spannungen in der Familie leide. Zum Erstgespräch erscheinen Mutter, Vater und die 17-jährige Tochter. Der Vater nimmt das Gespräch in die Hand, beschreibt ausführlich den Verlauf, den die Krankheit genommen hat, und wie hilflos sie sich als Eltern dem gegenüber empfinden. Während er emotional sehr engagiert spricht, hält sich die Mutter eher zurück, wirkt dadurch etwas kühl und distanziert. Die Tochter gibt sich als Expertin ihrer Krankheit, nennt verschiedenste Erklärungen, die sie für ihre Magersucht hat, und gibt schließlich resigniert zu verstehen, dass ihr diese Erklärungsversuche bisher nichts gebracht hätten. Sie leide am meisten darunter, dass man ihr die Magersucht inzwischen ansieht und sie sich in ihrer Schule und ihrem Freundeskreis dadurch mehr und mehr isoliert fühlt.

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Hans-Jürgen Wirth

Grundkonzepte der psychoanalytischen Familientherapie

Indem Freud (1905, S. 127) den Ödipuskomplex als »Kernkomplex der Neurosen« bezeichnete, richtete er seinen analytischen Blick auf die emotionalen Verstrickungen zwischen Eltern und Kindern, das heißt auf die unbewussten Beziehungen innerhalb der Familie. Für einen Psychoanalytiker liegt es also durchaus nahe, die Familienbeziehungen selbst zum Gegenstand seiner psychotherapeutischen Bemühungen zu machen (Wirth, 2000a, 2004). Tatsächlich hat Freud (1909) im Fall des »kleinen Hans« den Vater des Patienten mit in die Therapie einbezogen. In gewisser Weise kann die Behandlung des »kleinen Hans« als die erste psychoanalytische Familientherapie betrachtet werden. Allerdings hat Freud den Vater des »kleinen Hans« nicht als Teil des Patientensystems Familie angesehen, sondern als Hilfs- bzw. Co-Therapeuten betrachtet, der sich – im Auftrag des Therapeuten – in therapeutisch mehr oder weniger sinnvoller Weise zu dem kleinen Patienten verhalten sollte. Natürlich macht es einen wesentlichen Unterschied, ob man die Eltern oder die Angehörigen des Patienten als Mitpatienten betrachtet, oder aber in der Rolle als Co-Therapeuten anspricht. Dieser Unterschied markiert den Paradigmenwechsel von der individuumzentrierten zur familientherapeutischen Sichtweise. In Deutschland kann man die Geburtsstunde der Familientherapie auf die Publikation von Horst-Eberhard Richters Buch »Eltern, Kind und Neurose. Psychoanalyse der kindlichen Rolle« im Jahre 1963 datieren. Im Zusammenhang mit der Jugend- und Protestbewegung und dem durch sie ausgelösten öffentlichen Bewusstseinswandel in den Bereichen Sexualität, Paarbeziehung und der Kritik traditioneller Rollenbeziehungen in der Familie, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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erlebte die Paar- und Familientherapie einen enormen Aufschwung, der vom Ende der 1960er Jahre bis in die Mitte der 1980er Jahre anhielt. 1972 erschien Richters Buch »Patient Familie«, in dem er seine Theorie weiterentwickelte. 1976 gründete er am Psychoanalytischen Institut in Gießen einen Ausbildungskurs für psychoanalytische Paar- und Familientherapie. Im ersten dreijährigen Kurs waren 20 Teilnehmer. Ich selbst habe direkt nach Abschluss meines Psychologiestudiums auch an diesem Kurs teilgenommen. 1977 wurde im Anschluss an zwei große familientherapeutische Tagungen in Gießen mit über 1.000 Teilnehmern die »Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie« (DAF) gegründet. In den 1970er Jahren gab es noch eine ganze Zahl weiterer grundlegender Publikationen zur Familientherapie. Der in Heidelberg ansässige Psychoanalytiker Helm Stierlin entwickelte etwa zeitgleich zu Richter, aber unabhängig von ihm in Amerika sein Konzept der »Delegation« und brachte es Anfang der 1970er Jahre mit nach Deutschland (vgl. Stierlin, 1978, 1980, 1989). Der Schweizer Psychoanalytiker Jürg Willi, übernahm von Dicks (1967) das Konzept der »Kollusion«, also des unbewussten Zusammenspiels zweier Partner, und entwickelte daraus sein Konzept der »Zweierbeziehung« (Willi, 1975) und ihrer Therapie (Willi, 1978). Der MehrgenerationenAnsatz der Göttinger Familientherapeuten um Eckart Sperling, Manfred Cierpka und Günter Reich (vgl. Sperling et al., 1982) und die »Beziehungsanalyse« Thea Bauriedls (1980, 1994) in München hatten großen Einfluss auf die Familientherapie. Anfänglich war die Paar- und Familientherapie weitgehend psychoanalytisch orientiert (Möhring u. Neraal, 1991). Im Laufe der 1980er Jahre bekamen die systemisch orientierten Methoden und Theorien jedoch mehr und mehr Zulauf. Die psychoanalytische Familientherapie geriet in der Gunst des Publikums ins Hintertreffen. Die Fortbildungskurse, die in sieben Städten Deutschlands existierten, hatten jedoch weiterhin großen Zulauf. Diese psychoanalytisch orientierten Ausbildungsinstitute in Göttingen, Gießen, Heidelberg, Hamburg, Berlin, Konstanz und München schlossen sich Ende der 90er Jahre zu einem neuen »Bundesver© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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band für Psychoanalytische Paar- und Familientherapie« (vgl. BvPPF, 1999) zusammen und gründeten eine neue Zeitschrift, die »Psychoanalytische Familientherapie«. Der Verband soll für alle eine berufliche Heimat sein, die sich auf dem Gebiet der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie fachlich weiterentwickeln wollen, sowie für Angehörige von Berufsgruppen, die in psychoanalytisch orientierter Familienberatung oder Sozialtherapie tätig sind. Die theoretischen Grundkonzepte der Familiendynamik und -therapie wurden in den 1970er Jahren formuliert, und zwar im Wesentlichen von Richter, Stierlin, Willi und Sperling. Die späteren Autorinnen und Autoren haben sich dann der Ausdifferenzierung dieser Konzepte (Bauriedl, 1980, 1994; Buchholz, 1993, 1995; Möhring u. Neraal, 1996; Wirsching, Scheib, 2002; Reich et al., 2007), der Anwendung bei bestimmten Patientengruppen (Richter u. Wirth, 1978; Reich, 1991; Reich et al., 2003; Neraal u. Wildermuth, 2008) und der Entwicklung diagnostischer Instrumente (Cierpka, 2008) gewidmet. Auch in den USA existiert eine Tradition psychoanalytischer Paar- und Familientherapie, die auf der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie von Fairbairn (Fairbairn, 2006; Hensel et al., 2007) fußt (Scharff u. Scharff, 2003). Diese theoretischen Konzepte der verschiedenen Autoren sind sich von den Grundgedanken her sehr ähnlich und haben nach wie vor Gültigkeit. Hier soll nun eines davon, nämlich das Konzept von Horst-Eberhard Richter, genauer vorgestellt werden. Es geht ihm um eine Charakterisierung der Eltern-Kind-Beziehung in der Familie. Sein Modell fußt im Wesentlichen auf zwei psychoanalytischen und einem soziologischen Konzept: 1. der Theorie der Abwehrmechanismen und 2. Freuds zwei Typen der Objektwahl; 3. der soziologischen Rollentheorie, die Richter mit dem psychoanalytischen Konzept der Abwehrmechanismen verbindet. Die Abwehrmechanismen stellen einen sehr zentralen und recht gut ausgearbeiteten Baustein der psychoanalytischen Theorie dar. Anna Freud (1936) beschreibt in ihrem Buch »Das Ich und die © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Abwehrmechanismen« unter anderen: Verdrängung, Regression, Reaktionsbildung, Rationalisierung, Intellektualisierung, Ungeschehenmachen, Projektion, Verschiebung, Identifikation mit dem Angreifer usw. Während die psychoanalytische Theorie die Abwehrmechanismen nur als intrapsychische Vorgänge beschreibt, geht Richter einen Schritt weiter mit der Überlegung, dass wir auch unsere Mitmenschen dazu benutzen können, um unsere unbewussten Konflikte abzuwehren. Dieser Gedanke ist die entscheidende Neuerung bei Richter. Er spricht in diesem Zusammenhang von psychosozialen Abwehrmechanismen. Viele psychische Störungen von Kindern sind dadurch bedingt, dass Eltern ihre Kinder zur »Erfüllung ihrer unbewussten Erwartungsphantasien« funktionalisieren. Diese Eltern stehen »selbst unter dem Druck affektiver Konflikte« und »saugen das Kind gewissermaßen in ihren eigenen Konflikt hinein« (Richter, 1963, S. 73). Häufig findet man bereits vor der Geburt des Kindes sehr »differenzierte Phantasien der Eltern über die Position, die das Kind in der Familie einnehmen soll« (Richter, 1976, S. 9). Das beste Beispiel ist Ödipus. Seine Eltern, Laios und Jokaste, hatten aufgrund eines Orakelspruches schon lange vor seiner Geburt, ja sogar schon vor seiner Zeugung, die Phantasie, von Ödipus werde großes Unheil ausgehen. Deshalb ließen sie ihn mit durchbohrten Füßen allein im Gebirge aussetzen. Ödipus ist also ein von seinen Eltern vernachlässigtes und misshandeltes Kind, das seiner Tötung nur knapp entrinnen konnte. Ödipus ist ein »Frühgestörter«, ein Umstand, der in der psychoanalytischen Theoriebildung nahezu vollständig ausgeblendet blieb (vgl. Wirth, 2000b). Nur Otto Rank (1924) hat sich in seiner Theorie vom »Trauma der Geburt« mit diesem Aspekt beschäftigt. Auch bleibt die merkwürdige Tatsache festzuhalten, dass es sich bei diesem für die Psychoanalyse so zentralen Mythos des Ödipus um ein Familiendrama, das durch die unbewussten Ängste und Projektionen der Eltern in Gang gesetzt wird, handelt. In diesem familiären Geschehen wird dem Kind die Funktion zugewiesen, »den Eltern zu einer Entlastung von ihrer Konfliktspannung zu verhelfen« (Richter, 1963, S. 73). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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In der alten Kontroverse zwischen Verführungstheorie und Triebtheorie ergreift die psychoanalytische Familientherapie eindeutig Partei für die Auffassung, dass die neurotischen Konflikte nicht – oder jedenfalls nicht ausschließlich und nicht primär – in der unbewussten Trieb- und Phantasiewelt des Kindes ihre Ursache haben, sondern in der missbräuchlichen Beziehung des Erwachsenen zum Kind. Der Missbrauch des Kindes beschränkt sich allerdings nicht auf den realen sexuellen Missbrauch, den Freud ursprünglich im Auge hatte, sondern kann auch darin bestehen, dass das Kind vom Erwachsenen dazu missbraucht wird, seine eigene neurotische Abwehr zu festigen. Die Tatsache, dass die Familientherapie der realen, von außen kommenden Traumatisierung ein so großes Gewicht bei der Entstehung psychischer Störungen beimisst, dürfte ein wesentlicher Grund sein, warum die psychoanalytische Familientherapie innerhalb der Mainstream-Psychoanalyse bis heute nur eine randständige Position einnimmt (Wirth, 2006, 2007). Um die Funktion des Kindes für die Abwehrorganisation der Eltern theoretisch näher zu bestimmen, greift Richter nun auf den aus der Soziologie stammenden Begriff der »Rolle« zurück. Er definiert die kindliche Rolle als die Gesamtheit »der unbewussten elterlichen Erwartungsphantasien« (Richter, 1963, S. 73), die dem Kind die Erfüllung einer bestimmten Funktion zuweisen. Die Eltern benutzen das Kind in einer spezifischen Rolle, mit deren Hilfe sie ihre eigenen unbewussten Konflikte abwehren können: »Die Rolle des Kindes bestimmt sich also aus der Bedeutung, die ihm im Rahmen des elterlichen Versuchs zufällt, ihren eigenen Konflikt zu bewältigen« (S. 73). Um diese Rollenmuster nun genauer auszudifferenzieren, greift Richter auf Freuds zwei Typen der Objektwahl zurück: den narzisstischen Typus und den Anlehnungstypus. Nach Freud (1914, S. 154) suchen wir in unseren Partnern entweder einen Aspekt des eigenen Selbst (in diesem Fall sprechen wir von Projektion bzw. dem narzisstischen Typus der Objektwahl) oder wir suchen im Partner einen Ersatz für eine Objektbeziehung aus der Kindheit. In diesem Fall folgt die Beziehung dem Muster der Übertragung bzw. Anlehnung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Nach Freud (1914, S. 154) hat der Mensch »zwei ursprüngliche Sexualobjekte: sich selbst und das pflegende Weib«. Manche Menschen wählen ihre Liebesobjekte nach dem Vorbild ihrer eigenen Person: »Sie suchen offenkundigerweise sich selbst als Liebesobjekt, zeigen den narzißtisch zu nennenden Typus der Objektwahl« (S. 154). Andere Menschen wählen ihr späteres Liebesobjekt »nach dem Vorbild der Mutter«. Diesen Typus der Objektwahl nennt Freud »Anlehnungstypus«, weil das Objekt in Anlehnung an eine Elternfigur ausgesucht wird. Genau genommen hätte Freud auch vom »Übertragungstypus« der Objektwahl sprechen können, weil das Subjekt seine Elternbeziehung auf den Partner überträgt. Die beiden grundlegenden psychischen Vorgänge sind also erstens die Projektion und zweitens die Übertragung.

Der narzisstische Beziehungsmodus im Hinblick auf die Eltern-Kind-Beziehung Betrachten wir zunächst den narzisstischen Beziehungsmodus im Hinblick auf die Eltern-Kind-Beziehung: 1. Das Kind als Abbild des eigenen Selbst: Das Kind soll so werden, wie der Vater oder die Mutter sich selbst sehen. Diese Rollenerwartung tritt bei narzisstisch gestörten Eltern auf, die sich selbst im Mittelpunkt sehen und nicht ertragen können, dass »ihr« Kind, für das sie sich so sehr einsetzen, anders ist und anders werden will als sie selbst. Dieses Beziehungsmuster zeichnet sich dadurch aus, dass der Therapeut nicht »zwischen« die Eltern und das Kind kommt. Beide sind so eng miteinander verbunden, dass der Elternteil alle Kommentare des Therapeuten nur als Störung seiner innigen Vertrautheit mit »seinem« Kind auffassen kann. In der Perspektive von Willis Kollusions-Konzept bilden beide eine narzisstische Union, die ihnen »ein ozeanisches Glücksgefühl, einen Urzustand, der durch keine Subjekt-Objekt-Spaltung getrübt wird« (Willi, 1975, S. 69), beschert. 2. Das Kind als Substitut des idealen Selbst der Eltern: Das Kind soll die unerfüllten Wünsche und Ideale der Eltern verwirkli© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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chen. In leistungs- und aufstiegsorientierten Gruppen der Gesellschaft geschieht es nicht selten, dass Eltern das Leiden am eigenen Misserfolg dadurch wettzumachen versuchen, dass sie ihr Kind unbewusst dazu drängen, ihre eigenen verfehlten Ziele zu realisieren. Das Kind muss um jeden Preis erfolgreich sein, um die narzisstische Kränkung der Eltern auszugleichen. Häufig tritt dieses Muster bei sogenannten »Lieblingskindern« auf. Die Eltern nehmen voll Bewunderung am besonders erfolgreichen Leben ihres Kindes teil und idealisieren dessen sportliche oder schulische Leistungen, weil sie selbst gern so erfolgreich geworden wären. Der perfektionistische Erwartungsdruck kann erhebliche Komplikationen für die Entwicklung des Kindes mit sich bringen. Das gleiche Beziehungsmuster der Projektion des Ich-Ideals findet sich oft in streng religiösen Familien, in denen die Kinder auf absolute moralische Reinheit getrimmt werden, weil die Eltern damit ihre Schuldgefühle und Selbstvorwürfe wegen eigener Verfehlungen beschwichtigen wollen. Der umgekehrte Fall tritt vielleicht noch häufiger auf, dass nämlich der Vater bzw. die Mutter sich selbst als Ideal dem Kind anbietet und aufdrängt. Manche Eltern missbrauchen ihre Kinder dazu, das eigene brüchige Selbstwertgefühl durch deren bewundernde Abhängigkeit zu stabilisieren. 3. Das Kind als Substitut der negativen Identität der Eltern: »Während das Kind als Substitut des elterlichen idealen Selbst die positiven Ziele erreichen soll, unter deren Verfehlen die Eltern leiden, soll das Kind umgekehrt in der Rolle des Substituts des negativen Selbst stellvertretend für die Eltern deren Schwächen und Minderwertigkeiten ausleben, um den Eltern die Verleugnung eben dieser negativen Merkmale möglich zu machen« (Richter, 1976, S. 11). In diesem Fall fungiert das Kind als Substitut der negativen Identität der Eltern. Es dient den Eltern als Sündenbock. Das Kind soll den Selbstanteil der Eltern, den sie an sich selbst verleugnen und ablehnen, übernehmen und ausleben. Wenn Eltern ihren Kindern diese Rolle des Sündenbocks aufbürden, können sie daraus einen doppelten Nutzen ziehen. Zum einen bietet ihnen die Projek© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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tion verdrängter Impulse auf das Kind die Möglichkeit, »sich durch teilweise Identifizierung mit dem Kind eine relativ schuldfreie Ersatzbefriedigung« (Richter, 1963, S. 199) in der Phantasie zu verschaffen. So kann es durchaus sein, dass ein Elternteil mit lüsterner Neugier in das Sexualleben des Kindes eindringt, um eigene verleugnete Bedürfnisse zu befriedigen. Sexueller Missbrauch in der Familie wird häufig dadurch angebahnt, dass ein Elternteil (meist der Vater) in aufdringlicher Weise in die sexuelle Phantasiewelt des Kindes (meist der Tochter) eindringt, penetrante Fragen stellt usw. Im zweiten Schritt der Sündenbock-Praktik werden dann durch Vorwürfe und Bestrafungen die Selbstbestrafungstendenzen des Elternteils auf bequeme Weise abgeführt. Die moralisierenden und strafenden Deutungen sind als externalisierte Selbstbestrafung zu verstehen. Die Rolle des Sündenbocks ist besonders geeignet, um Kinder auf den Weg der Dissozialität, Soziopathie, Drogensucht und Kriminalität zu drängen, wie das schon Erik Erikson (1959) beschrieben hat. Bei der Sündenbock-Projektion kann man eine Unterscheidung danach treffen, ob triebhafte »böse« Anteile oder eher schwache Selbstanteile projiziert werden. Bei der Projektion der schwachen Selbstanteile auf das Kind dient die Ausübung von Macht dazu, die narzisstische Kränkung von einst – selbst der ohnmächtig Unterworfene gewesen zu sein, dessen Wille gebrochen, dessen Selbstachtung mit Füßen getreten wurde – dadurch wettzumachen, dass anderen die gleiche Schmach zugefügt wird, die man selbst erleiden musste.

Der Anlehnungstypus in der Eltern-Kind-Beziehung Betrachten wir nun die zweite Gruppe, die nach dem Muster der Übertragung bzw. dem des Anlehnungstypus funktioniert. Konkret heißt dies, dass das Kind einen vergangenen oder gegenwärtigen Partner des Vaters oder der Mutter ersetzen soll. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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1. Das Kind repräsentiert für den Vater oder die Mutter die eigenen Eltern oder Elternfiguren (oder Aspekte von ihnen): Eltern, die zeitlebens die enttäuschte Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung durch ihre Eltern, die sie immer vermissen mussten, nicht bewältigt haben, neigen oft dazu, von ihren Kindern die Dankbarkeit, Bewunderung und Liebesbeweise zu erwarten, nach denen sie sich vergebens gesehnt haben. Sie benutzen ihre Kinder als Liebesquelle für sich selbst. Vielleicht sind solche Eltern bereit, ihren Kindern sehr viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie sind geduldige Zuhörer, kommen ihnen – wo immer es geht – entgegen. Kinder können sich von solchen Eltern zunächst sehr angenommen fühlen und doch hat die Beziehung etwas Ausbeuterisches, da der Vater oder die Mutter ihr Kind nicht so annehmen wie es ist, sondern es letztlich nur in der speziellen Funktion als Spender von Dankbarkeit suchen. 2. Das Kind als Partnerersatz: Dieses Rollenmuster kann direkt in den sexuellen Missbrauch führen, kommt aber auch in einer nichterotischen Form vor, wenn nämlich der im realen Leben vereinsamte Elternteil (beispielsweise nach einer Scheidung) gleichsam nur noch mit und über sein Kind am realen sozialen Leben teilnimmt. Eltern, die kein befriedigendes privates Leben haben, geraten leicht in die Versuchung, ihr gesamtes emotionales Leben nur noch in der Beziehung zu ihren Kindern zu suchen. Häufig sind auch die Fälle zu beobachten, in denen beispielsweise der Vater sich mit großer Hingabe seiner Tochter zuwendet, während die Beziehung zu seiner Ehefrau mehr und mehr austrocknet. Diese vatergebundenen Töchter haben es dann als erwachsene Frauen oft schwer, einen Partner zu finden, weil kein Mann mit ihrem idealisierten Vaterbild mithalten kann. Oder aber die Konflikte eskalieren schon frühzeitiger, wenn die Tochter in die Pubertät kommt. Ist die Partnerersatzdynamik mit ausagierten sexuellen Kontakten verbunden, spricht Hirsch (1987, S. 53) von realem sexuellen Missbrauch. Als latenten Missbrauch bezeichnet er die von den Eltern ausgehenden sexuellen Wünsche und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Phantasien, die an das Kind gerichtet sind, aber nicht ausagiert werden, gleichwohl aber große negative Bedeutung für die psychische Entwicklung des Kindes haben. Denn das atmosphärisch-verführerische Bündnis zwischen Eltern und Kind führt beim Kind zu einer unauflösbaren Konfusion zwischen den eigenen inzestuösen Phantasien und den von den Eltern ausgehenden realen Übergriffen oder Verführungsangeboten. 3. Das Kind in der Rolle eines umstrittenen Bundesgenossen: Eine besondere Variante der Partnerersatz-Rolle besteht darin, dass das Kind die Rolle eines umstrittenen Bundesgenossen einnimmt. Das Kind wird nicht als eigenständige Persönlichkeit anerkannt, das zu beiden Eltern eine gute Beziehung unterhalten will, sondern zu einer Zwangssolidarität mit einem Elternteil verpflichtet. Dies kommt häufig in Scheidungsfamilien vor, wenn Vater und Mutter miteinander um die Liebe ihres Kindes konkurrieren, jeder versucht, das Kind auf seine Seite zu ziehen oder auch nur dem anderen wegzunehmen, um ihm oder ihr wehzutun. Was das Kind selbst fühlt, denkt und will, ist für die Eltern nicht wichtig. Sie lieben es nur, wenn es ihre Erwartungen unbedingter Bundesgenossenschaft erfüllt und drohen ihm mit Verstoßung, wenn es sich dem anderen Elternteil annähert oder eigene Wege geht. Solche Kinder neigen zum Schauspielern, zum Lügen und zum Opportunismus. Weil sie immer an einem Elternteil, an beiden Eltern und vor allem auch an sich selbst zum Verräter werden (Richter, 1962), entwickeln sie kompensatorisch eine fassadäre »Als-ob-Persönlichkeit« (Deutsch, 1934). Ihr inneres Gefühl der Zerrissenheit ist ein Abbild des Gezerres, das ihre Eltern mit ihnen veranstalten, wie dies Keith Haring mit einem Bild eindrucksvoll dargestellt hat. So weit Richters psychoanalytische Rollentheorie der psychosozialen Abwehrmuster. Diese Rollenmuster sind idealtypische Beschreibungen. In der klinischen Realität begegnen sie uns meist nicht in reiner, idealtypischer Form, sondern als Mischformen. Sie stellen das zentrale Instrument der psychoanalyti© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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schen Familien- bzw. Beziehungsdiagnostik dar. Diese Rollenmuster lassen sich nicht nur auf die Eltern-Kind-Beziehung anwenden, sondern auch auf die Beziehung zwischen erwachsenen Partnern. So kann beispielsweise der Mann eine Mutterübertragung auf seine Frau entwickeln. Richters Konzept eignet sich also auch als Grundlage für die Paartherapie. Es ist so allgemein formuliert, dass es sich auch auf alle möglichen anderen Beziehungskonstellationen anwenden lässt, in denen die Abwehr unbewusster Konflikte eine Rolle spielen kann, beispielsweise auf die Therapeut-Patient-Beziehung (Wirth, 2007) oder auch in politischen Kontexten (Wirth, 2001; 2002). Besteht zwischen zwei Partnern ein Machtgefälle, begünstigt dies die Ausbildung solcher unbewussten Rollenerwartungen, die für den einen Partner eine Entlastung von unbewusstem Konfliktdruck versprechen, vom anderen hingegen eher als Zumutung und Bürde empfunden werden. Einigen sich jedoch beide Partner in einem unbewussten Dialog darauf, dass sie beide von einer solchen kollektiven Abwehrformation psychische Entlastung gewinnen können, spricht man von einem »unbewussten kollusiven Zusammenspiel«. Als Beispiel denke man an die wechselseitige Abhängigkeit von Sadist und Masochist. Der Begriff der »Kollusion« spielt in Jürg Willis paardynamischem Konzept eine zentrale Rolle. Im Grunde ist Willis Kollusionskonzept jedoch ganz ähnlich aufgebaut wie Richters Rollentheorie. Unter Kollusion versteht man die wechselseitigen, sich ergänzenden unbewussten Rollenerwartungen.

Kommentar zur vorgegebenen Fallvignette Nun zu den Fragen: Würden Sie den Fall übernehmen? Ja, ich würde diesen Fall übernehmen. Allerdings mit Vorsicht. Einerseits: Dass die Indexpatientin bereits eine gewisse Krankheitseinsicht zeigt, empfinde ich als relativ günstig. Dass sich die Indexpatientin in stationärer Behandlung befindet, stellt eine Beruhigung für den ambulant arbeitenden Familientherapeuten dar, da es sich um eine schwer gestörte Patientin mit labilem © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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und gefährdetem Gesundheitszustand handelt. Andererseits: Es sind mehrere Therapieversuche bereits gescheitert. Ich würde sehr skeptisch sein, ob es mit meinem eigenen Ansatz besser läuft. Der Therapeut hat offenbar die jüngere Schwester nicht mit eingeladen. Das würde ich anders machen. Ich lade zumindest zum Erstgespräch immer alle Familienmitglieder ein. Sie gehören zum Gesamtsystem der Familie und haben innerhalb der Familie eine bestimmte Funktion. Es ist oft so, dass die Geschwister, die nicht im Zentrum des familiären Konflikts stehen, trotzdem von den familiären Spannungen belastet sind, oder aber sie können aufgrund einer gewissen emotionalen Distanz sehr wertvolle Kommentare geben. Die Tatsache, dass sich erstens der Gesundheitszustand der Patientin im Laufe der stationären Behandlungen jedes Mal bessert, es aber einen Rückfall gibt, bald nachdem sie in die Familie zurückgekehrt ist, und zweitens auch die ambulante Psychotherapie bei der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin abgebrochen werden musste, werte ich als Zeichen dafür, dass familiäre Spannungen nicht nur bei der Genese, sondern auch bei der aktuellen Krankheitsdynamik von zentraler Bedeutung sind, dass also Familientherapie indiziert ist. Zum Erstinterview erscheint das Elternpaar allein. Das finde ich als Einstieg nicht so günstig. Ich würde – wenn irgend möglich – gerade beim Erstkontakt die ganze Familie sehen wollen. Und zwar nicht nur aus diagnostischen Gründen, sondern aus therapeutischen: Es soll deutlich werden und von mir deutlich gemacht werden, dass es um Probleme geht, die die ganze Familie betreffen, nicht nur ein Problemkind. Es soll ein Gespräch in der Familie initiiert werden, und jedes Familienmitglied soll motiviert werden, auch über die eigene Rolle in der Familie nachzudenken und mit den anderen darüber ins Gespräch zu kommen. Wenn die Eltern jetzt doch allein vor der Tür stehen, würde ich sie natürlich nicht nach Hause schicken, weil es wichtiger ist, überhaupt den Kontakt herzustellen. Aber dann würde ich sehr darauf achten, dass sie nicht nur über die Indexpatientin © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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sprechen, sondern auch über die ganze Familie, über sich selbst und über ihre Beziehung als Paar. Ich würde also auch nach der jeweiligen Herkunftsfamilie fragen, und nach der Qualität der Beziehung zwischen den Ehepartnern. Ich denke an Fragen wie: Wie haben Sie sich kennengelernt? Wie verstehen Sie sich als Paar? Wie ist Ihre sexuelle Beziehung? Auf jeden Fall würde ich darauf achten, dass die Eltern nicht nur in ihrer Elternfunktion, also quasi als Co-Therapeuten angesprochen werden, sondern sich auch mit ihren eigenen Problemen darstellen können. Die Tatsache, dass die Eltern allein kommen, kann im Übrigen die Botschaft enthalten: Wir haben zwar eine kranke Tochter, aber wir wollen jetzt erst einmal über uns sprechen. Beim Gesprächsverlauf fällt mir auf, dass der Vater »den Erstkontakt fast allein bestreitet«. Vielleicht würde ich zunächst versuchen, auch die Mutter ins Gespräch einzubeziehen. Wahrscheinlich wird das nicht so richtig gelingen, weil der Vater immer wieder das Wort an sich reißt. Dann würde ich eine psychoanalytische Intervention versuchen, eine Deutung der aktuellen und zugleich der familiären Situation. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass ich zum Vater sage: »Sie fühlen eine große Verantwortung auf Ihren Schultern. Mit drei Frauen haben Sie auch eine Menge zu tun. Sie sind zu Hause ja auch der Hahn im Korb.« Der Vater will ja offenbar mit dem Therapeuten in einen Experten-Dialog über Diagnose und Krankheitstheorien treten. Mit der Verwendung einer Metapher wie »Hahn im Korb« verlasse ich den kognitiv abgehobenen Dialog und fasse die Situation des Vaters in der Familie in einem Bild zusammen, das emotional anspricht, und damit die intellektualisierende Abwehr des Vaters unterläuft, das den Vater mit seiner eigenen Rolle und mit sich selbst konfrontiert und das ganz verschiedene und durchaus heikle Aspekte in der Persönlichkeit des Vaters anspricht. Welche Assoziation beim Vater und auch bei seiner Frau durch diese Metapher ausgelöst werden, würde sich dann im weiteren Gesprächsverlauf zeigen. Meine eigenen Assoziationen führen zu dem Wutausbruch des Vaters, © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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bei dem ihm aus ohnmächtiger Wut sozusagen der Kamm schwillt. Vielleicht konnte sich der Vater, als die Töchter noch Kinder waren, gut als Gockel der Familie bewundern und idealisieren lassen, als die Töchter in die Pubertät kamen, wurde ihm das aber zu heiß. Die Metapher vom Hahn im Korb spricht auch die narzisstische Dimension des Gockels an, der sich für alles verantwortlich fühlt und das Wort nicht an seine Frau abtreten kann. Natürlich kann man nicht voraussehen, wie der Vater und die ganze Familie auf eine solche Intervention reagieren würden und die weiteren Interventionen müssten sich darauf einstellen. Ich vermute, dass der Vater und die magersüchtige Tochter eine narzisstische Einheit bilden. Zumindest sind sie sich in ihrem Leistungsehrgeiz sehr ähnlich. Die Tochter ist trotz häufiger Fehlzeiten in der Schule sehr gut und sozial angepasst, der Vater arbeitet überdurchschnittlich viel. Die Tochter hat ihren Papi idealisiert und er sie. Sie bilden zusammen eine narzisstische Kollusion nach Willi. Im Fallbericht heißt es: »Sie sind stark aufeinander bezogen, jeder weiß vom anderen, wann und worauf er jeweils reagiert.« Zugleich hat der Vater seine Tochter noch in der Rolle des Partnerersatzes organisiert. Die Tochter ist in der Rolle einer Prinzessin. Sie phantasiert sich unbewusst als Geliebte des Vaters. Sie weiß, dass sie ihn mit ihrem liebreizenden Lächeln immer verführen kann, und sie weiß sich einig mit ihm, wenn sie – ganz wie der Vater – »den Kopf voller Störungsentstehungstheorien« hat und diese mit ihm diskutiert. Mit Eintritt in die Pubertät werden die narzisstische Kollusion und die inzestuös-libidinöse Einheit zwischen Vater und Tochter mit der Realität des Sexualtriebes aufgeladen. Der Konflikt spitzt sich zu und wird unerträglich. Als Ausweg flieht die Tochter in die Magersucht. Diese Symptomatik stellt – ganz klassisch psychoanalytisch betrachtet – eine Kompromissbildung zwischen den unbewussten libidinösinzestuösen Wünschen und der Abwehr des realen Inzestes dar. Als Magersüchtige kann die Tochter die kleine Prinzessin des © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Vaters bleiben, allerdings um den Preis, auf ihre eigene Entwicklung zur erwachsenen Frau zu verzichten. Die Mutter betrachtet das Treiben zwischen ihrem Mann und der Tochter dementsprechend distanziert und – wie es im Fallbericht heißt – »kühl und auch bei gefühlshaft-dichten Momenten seltsam unbeteiligt«. Da sie auf einer unbewusst-emotionalen Ebene ihren Mann als Partner an die Tochter verloren oder abgetreten hat, zeigt sie auch »wenig Verständnis und Einfühlung für ihre Tochter«. Sie nimmt die Tochter eher als Rivalin denn als geliebte Tochter wahr. Quintessenz aus meiner Analyse: Im Zentrum des familiären Konfliktes steht der Paarkonflikt. Die Ehepartner haben sich voneinander entfremdet. Ich würde vermuten, dass die sexuelle Beziehung schon längere Zeit weitgehend eingeschlafen ist und dass sich die beiden auch nicht mehr viel zu sagen haben. Die Frau hat sich resignativ zurückgezogen und wirkt deshalb distanziert und kühl, der Vater hat sich der Tochter als Ersatzpartnerin zugewandt. Die Therapie bzw. das Setting der Wahl ist Paartherapie. Ich würde einige wenige Familiengespräche führen und dabei auch meine Hypothese testen – und wenn sich diese als zutreffend erweisen sollte, umgehend eine Paartherapie anbieten. Diese sollte möglichst sofort beginnen, während die Patientin noch in der Klinik ist. Ziel wäre, dass das Ehepaar wieder mehr zueinander findet, dass die beiden ihre Beziehungskonflikte bearbeiten, ihre Beziehung revitalisieren und dass dann fast automatisch die Tochter aus ihrer Rolle als Partnerersatz entlassen werden kann. Wahrscheinlich ist eine ambulante oder stationäre Behandlung der magersüchtigen Tochter notwendig. Gleichwohl stellt die begleitende Paartherapie eine zentrale Bedingung dafür dar, dass die Behandlung der Tochter von dauerhaftem Erfolg sein kann. Auch in diesem Fall könnte sich die allgemeine Regel bewahrheiten, dass eine besondere Leistung der psychoanalytischen Paar- und Familientherapie darin besteht, als Parallelverfahren den Erfolg einer einzeltherapeutischen Maßnahme überhaupt erst zu ermöglichen oder auf Dauer zu stellen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Josef Könning

Familientherapie in der Verhaltenstherapie

Vorbemerkungen Ich möchte den Themenrahmen etwas weiter abstecken und nicht nur von Familientherapie sprechen, sondern weitere systemische und weitere Kontextbedingungen von Psychotherapie einbeziehen. Zu den Kontextbedingungen im weiteren Sinne gehören makrogesellschaftliche Rahmenbedingungen wie Wohngegend, Armut, Arbeitslosigkeit, Sucht, psychisch kranke Eltern, Infrastruktur, die mittelbare Bedingungsfaktoren für die Psychotherapie darstellen. Neben den vier Verhaltensqualitäten in der Problemanalyse (physiologische Ebene, emotionale Ebene, kognitive Ebene, Verhaltensebene) hat es sich als hilfreich herausgestellt, die Ebene der familiären Interaktion, die Ebene des sozialen Mikrokosmos (Schule, Peer-Group, Krankenhaus) und die Ebene des sozialen Makrokosmos, nämlich gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen, mitzubetrachten. Beim Thema Anorexie zum Beispiel gibt es gesellschaftliche Bedingungsfaktoren wie Mode, Figurbewusstsein, Frauenrolle, die Gegenstand der Einzeltherapie werden können. Dieser Mehr-Ebenen-Ansatz ist sowohl für den diagnostischen Prozess als auch für den Behandlungsprozess hilfreich. Im engeren Sinne ist die »Familientherapie eine psychotherapeutische Methode, die in der Theoriebildung und in der Behandlungsmethodik am interpersonellen Konflikt der Patienten ansetzt. Das Ziel dabei ist, die Interaktion zwischen einem Paar, in einer Kernfamilie, in einer erweiterten Familie oder zwischen Familien und institutionellen Subsystemen zu verändern und dadurch Probleme einzelner Familienmitglieder oder Probleme © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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von Familien-Subsystemen oder deren Gesamtfamilie zu lindern« (AWMF-Leitlinie zur Familientherapie, 2000). In der kognitiv-behavioralen Therapie mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist eine intensive Einbeziehung von Familienmitgliedern und der Familie als Gesamtheit notwendig. Mattejat (2006) spricht davon, dass gute Verhaltenstherapie immer auch empirisch fundierte Familientherapie ist. Die Familie ist die wichtigste Ressource für die kindliche Entwicklung (Sulz, 2005). Sie stellt den Überlebens-, Lebens- und Entwicklungsraum mit ausreichender Lebens- und Beziehungsqualität bereit, Raum für Selbstwerdungsbedürfnisse und ausreichende Entwicklungsförderung für anstehende Entwicklungsaufgaben.

Psychoedukative Ansätze Transparenz ist ein hohes Gut in der kognitiv-behavioralen Therapie. Die Psychoedukation des Störungsmodells für Patient und Familie ist in der Regel erster Therapiebaustein. Es geht um die Analyse der auslösenden, aufrechterhaltenden kognitiven, systemischen und plananalytischen Bedingungsfaktoren. Es wird versucht, ein prinzipielles Modell des Problems unter Berücksichtigung des Störungsmodells, mit dem die Familie kommt, zu erarbeiten. Dabei kommt den Eltern als Autoritäten, die für die Norm und Wertsetzung in der Familie Verantwortung tragen, zentrale Bedeutung zu. Häufig geht es darum, die Elternrolle im Prozess der Therapie zu stärken. Grundlage für diesen Prozess ist eine wertschätzende Beziehung zu den Eltern und zu allen Familienmitgliedern.

Arbeit mit Subsystemen Daneben ist häufig die Stärkung der partnerschaftlichen Ehebeziehung im psychotherapeutischen Prozess notwendig, die neben der elterlichen Ebene zentrale Bedeutung haben kann. Für die partnerschaftliche Kommunikation und für die Opti© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Familientherapie in der Verhaltenstherapie

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mierung der partnerschaftlichen Kommunikation gibt es in der kognitiv-behavioralen Therapie entsprechende Ansätze (Hahlweg, 2003). In manchen psychotherapeutischen Prozessen ist die klare Trennung der Ebene Elternfunktion und Partnerfunktion ein notwendiger Therapieschritt. Daneben ist es in der Regel notwendig, neben der Ebene Partnerschaft und der Ebene Elternschaft wieder Ressourcen für die persönliche Entfaltung von Vater oder Mutter als Personen zu schaffen und zur Verfügung zu stellen.

Kognitiv-behaviorale Elterntrainings Ein immer wiederkehrendes Thema in der Arbeit mit Eltern ist die Überprüfung und gegebenenfalls Steigerung der Erziehungskompetenz: – Wissen über die Erziehung, – Wissen über die Bedürfnisse des Kindes in unterschiedlichen Altersgruppen, – die Fähigkeit zu liebevoller Beziehungsgestaltung, – die Fähigkeit zum angemessenen Zeitmanagement, – das Verfügen über angemessene Erziehungstechniken. In diesem Bereich haben unterschiedliche Elterntrainings seit den 1960er Jahren eine lange Tradition in der kognitiv-behavioralen Arbeit. Beispielhaft sei hier das Tripple-P als präventives Elterntraining genannt, das weltweit Verbreitung gefunden hat. Aus dem deutschsprachigen Raum will ich beispielhaft das Selbstmanagement-Manual (Wünsche u. Reinecker, 2006) etwas genauer darstellen. Selbstmanagement meint hier die Erhöhung der Selbstregulationsfähigkeit mit maximalem Respekt vor der Autonomie der Familie und der einzelnen Familienmitglieder, Respekt vor der persönlichen Freiheit und Werte-Pluralität. Das Selbstmanagement-Training ist wissenschaftlich fundiert und evaluiert. Es geht von dem Prinzip der maximalen Eigenverantwortung und minimaler Intervention aus. Es werden gemeinsame Ziele mit den Eltern in einer Elterngruppe entwickelt und © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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es geht um die Schaffung und Erweiterung von hilfreichen Erziehungsbedingungen unter Aspekten der Ressourcen-Analyse und der Salutogenese. Ziel und Werteklärung stehen zu Beginn jedes Prozesses. Es geht um die Strukturierung von erfahrungsorientiertem Um- und Neulernen.

Systemanalyse Im verhaltenstherapeutischen Problemanalyseprozess ist ein Teil der Makroanalyse eine fundierte Systemanalyse (Kanfer et al., 1991). In der Systemanalyse versucht die Therapeutin implizite und expliziter Systemregeln aufzudecken: – Nach welchen Regeln gehen die Mitglieder des Systems miteinander um? – Welche Funktion hat das Symptom im Kontext des Systems Familie: Wie funktioniert das System Familie, mit oder ohne Problem? – Was ist der mögliche familiäre Krankheitsgewinn für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes in Bezug auf Kohäsion? – Welche unterschiedlichen Interaktionsmuster gibt es zwischen den Individuen in der Familie? – In welchem Verhältnis stehen die Subsysteme der Familie zueinander?

Überlebensregeln der Familie Sulz (2005) spricht von Überlebensregeln der Familien: Immer wenn die Familie ein bestimmtes familiennützliches Verhalten zeigt, und wenn die Familie niemals ein bestimmtes familienschädliches Verhalten zeigt, bewahrt sich die Familie ihr zentrales Familienbedürfnis und verhindert ihre zentrale Familienbedrohung. Ziel von Familiengesprächen ist, für jedes Familienmitglied ein funktionales Verständnis seines eigenen Verhaltens und seines Beitrages zur Familienhomöostase zu entwickeln. Zur Weiterentwicklung müssen individuelle, bisher verneinte Bedürfnisse neu © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Familientherapie in der Verhaltenstherapie

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verhandelt werden. Gesucht wird Alternativverhalten zum symptomatischen Verhalten.

Funktionale Familientherapie Die Funktionale Familientherapie nach Alexander hat systemische, kognitive und behaviorale Wurzeln (Heekerens, 2006). Auch hier wird gefragt: Was ist die Funktion des Symptoms für die Stabilität und Homöostase des Familiensystems. Nach dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu allen Familienmitgliedern folgt eine ausführliche Diagnostikphase. Die Bedeutung des Symptoms in der Familie wird durch »Reframen« so verändert, das eine symptomatische Änderung in der mittleren Therapiephase leichter fällt. Hypothesen über die Funktionalität des Symptoms für die Regulation von Nähe und Distanz in der Familie werden entwickelt. Ohne die Berücksichtigung dieser Funktionalität auf der familiären Ebene scheitern viele symptomzentrierte Therapien. Mit kognitiv-behavioralen Methoden wird dann versucht, das Problemverhalten zu verändern. Die Psychotherapieforschung hat eine hohe Wirksamkeit der funktionalen Familientherapie in Metaanalysen nachgewiesen.

Multisystemische Familientherapie In der multisystemischen Familientherapie nach Scott Henggeler (Mattejat, 2006) wird intensiv mit der Gesamtfamilie gearbeitet. Das Mitglied mit den größten Problemen steht zunächst im Fokus der Arbeit. Das allgemeine Ziel der multisystemischen Familientherapie ist, die Eltern wieder kompetent zu machen für ihre Erziehungsaufgaben. Am Anfang steht eine gute Beziehungsaufnahme über Joining-Prozesse und ein grundsätzliches Engagement für die Familie als Ganzes. Es soll versucht werden, die positiven Seiten zu sehen und zu fokussieren, ohne das Negative auszugrenzen und eine Auftragsklärung herbeizuführen. Als allgemeines Ziel nennt Scott Henggeler: »Parents-help to do © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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the education-job better«. Die Verantwortung in der Familie soll durch Interventionen »hier und jetzt«, eine sehr starke Handlungsorientierung in der Therapie und eine fortlaufende Evaluation des Prozesses erhöht werden. Wenn im Rahmen eines solchen familientherapeutischen Prozesses deutlich wird, dass eine PTSD-Störung bei einem Familienmitglied vorliegt, wird diese behandelt. Ansonsten findet keine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt. Der Fokus liegt auf dem Hier und Jetzt und der aktuellen Problemlösung. Unterschiedliche Subsysteme werden einbezogen. Der Entwicklungsstand des Jugendlichen wird berücksichtigt. Es geht um tägliches Bemühen und Üben, um tägliche Veränderungsimpulse. Das gesamte kognitiv-behaviorale Methodeninventar kann genutzt werden. Der Prozess wird aus unterschiedlichen Perspektiven evaluiert und dauert in der Regel nicht länger als ein halbes Jahr.

Störungsspezifische Ergebnisse Bei folgenden Störungen hat sich Familientherapie als empirisch wirksam herausgestellt: extraversive Störungen wie dissoziale Störungen, Drogenmissbrauch, Essstörungen, Depression, Angst, chronisch körperliche Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

Ausbildungsinhalte Im Folgenden finden Sie eine Aufstellung aus einem Ausbildungscurriculum zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie (AKJP, 2009). Die Themen beleuchten exemplarisch Inhalte, die sich dem Thema Familientherapie in der VT zuordnen lassen: – Grundlagen der Beziehungsgestaltung in der Elternarbeit; – Einführung in die Familientherapie und Familiendiagnostik; – Kontaktaufnahme, Beginn der Familientherapie; – Handwerkszeug in der Familientherapie I; © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Familientherapie in der Verhaltenstherapie

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– ressourcenorientierte Elternarbeit mit Video; – Prozesse mit Familien in der Therapie – Beginn – Krisen – Abschied; – Handwerkszeug in der Familientherapie II; – interkulturelle Arbeit mit Familien; – Bewältigung chronischer Krankheiten in der Familie; – Familiensysteme in Entwicklungsphasen: Kinder, Schulkinder, Jugendliche, junge Erwachsene; – Arbeit mit Trennungs- und Scheidungsfamilien, Patchworkfamilien; – Arbeit mit erweiterten Familiensystemen. Heim, Pflegefamilien, Adoptivfamilien; – Triple-P-Elterntraining; – Einführung in Kommunikationstraining für Paare (EPL); – Handwerkszeug in der Familientherapie III; – Verhaltenstherapie trifft Familientherapie, Erfahrungen, Verbindungen, Orientierungen.

Abschließende Anmerkungen Gute Verhaltenstherapie gelingt nur mit intensiver Einbeziehung der Familie, der Familienperspektive, der Familienressourcen und der Familienregeln. Hier hat die Erwachsenentherapie im Gegensatz zur Kinder- und Jugendlichenverhaltenstherapie Nachholbedarf. Die Familie ist die wichtigste Umwelt des Kindes. Die Verantwortung für den psychotherapeutischen Prozess bleibt hundertprozentig bei der Familie. Veränderungen müssen ins Familiensystem passen. Es ist hilfreich, die Eltern als Lösung und nicht als Problem anzusehen.

Der verhaltenstherapeutische Ansatz am Beispiel der Fallvignette Ich gehe davon aus, dass in den unterschiedlichen stationären Behandlungssettings auch leitliniengemäße, evidenzbasierte © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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störungsspezifische Therapie stattgefunden hat. Die Patientin konnte unter den veränderten Umweltbedingungen während der stationären Therapie ihr Gewicht halten und gesundes Essverhalten zeigen. Die nahe liegende Hypothese ist, das es in ihrem häuslichen Umfeld Bedingungsfaktoren gibt, die es für die Patientin und möglicherweise auch für die Familie lohnender machen, dass die 18-Jährige nicht gesund ist. Darüber hinaus könnte es personspezifische Bedingungsfaktoren geben, die im geschützten Klinikrahmen weniger bedeutsam sind, die aber im häuslichen Umfeld deutlicher wirksam sind. Aus der Falldarstellung lassen sich vorsichtig erste differenziertere Hypothesen ableiten: – Die Patientin könnte ein Verhaltensdefizit in Bezug auf soziale Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit haben, was ihr die bisherige Verselbständigung von zu Hause erschwert hat. – Sie verfügt über sehr gutes Störungswissen über die Anorexie. Was vermeidet sie damit? – Die Patientin scheint ein Defizit im Bereich altersentsprechender Sozialkontakte zu haben. – Wir wissen nichts über die bisherige psychosexuelle Entwicklung und ihren Umgang mit Körperlichkeit. – Die emotionale Interaktion zwischen Mutter und Tochter scheint defizitär. – Die Nähe/Distanz im Subsystem der Schwestern bleibt unklar, muss exploriert werden. – Es scheint eine übergroße Nähe zwischen Vater und Tochter zu geben. Das Bindeglied scheint die Krankheit zu sein. – Wir wissen nichts über die Nähe/Distanz im ehelichen Subsystem. Wegen der Massivität der Krankenrolle in der Familie könnte ein Behandlungsansatz Sinn machen, in dem grundsätzlich die Verantwortung für die Lösung des Essproblems bei der 18-Jährigen bleibt und dieses Thema im familiären Kontext verboten ist. »Wir reden hier nicht über die Esstörung. Dafür ist die Tochter allein zuständig.« Umdeutung: »Die junge Frau hat gezeigt, dass sie in der Klinik selbständig und eigenverantwortlich mit Essen © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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und Gewicht umgehen kann. Diese prinzipielle Fähigkeit ermöglicht ihr im außerhäuslichen Leben, sich selbständig weiterzuentwickeln.« Die strategische Entscheidung, dass die 18-Jährige sich für einen längeren Zeitraum von der Familie trennt und hierbei die ins Stocken geratene Autonomieentwicklung unter einzeltherapeutischer, ambulanter Betreuung wieder aufgreift, könnte Sinn machen. Das geht nur unter der Voraussetzung, dass die 18-Jährige sich dafür entscheidet, gesund zu bleiben, und die Maßnahmen, die sie sicherlich im Verlauf ihrer Klinikaufenthalte kennengelernt hat, selbstkontrolliert und eigenverantwortlich anzuwenden. Im Einzelgespräch mit der Patientin könnte das hier skizzierte Störungsmodell vertieft werden. Das Problem ist nicht die Essstörung, sondern ihre Rückkehr in Familie und vertraute Umwelt. »Wieso glaubt sie, nur mit der Essstörung in der familiären Welt überleben zu können?« Ich würde Patientin und Familie ein Stundenkontingent von fünf Stunden anbieten, um einen Teil der hier aufgezeigten Aspekte mit folgendem Ziel klären zu können: – Trennung von der Familie, – Entscheidung für störungsspezifische Einzeltherapie, – Leben in einer Wohngruppe für Essgestörte, in der der unterbrochene Autonomieprozess weitergehen kann. In Gesprächen mit den Eltern deutlich machen: Wir reden nicht über die Anorexie. Dafür ist die Tochter zuständig, eine Lösung zu finden. Wir reden über die Belastung, die sie in den vergangenen Jahren durch die kranke Tochter hatten: – Was hilft ihnen, wieder zu mehr Lebensqualität zu kommen? – Was könnte ihre partnerschaftliche Zufriedenheit steigern? Ziel ist, eine klare Grenze zwischen partnerschaftlichem Subsystem und dem Geschwistersubsystem zu etablieren. Die größere Nähe zwischen den Partnern könnte langfristig die Krankheit als Bindeglied in der Familie überflüssig machen. Je nach Verlauf der Gespräche sollte es auch ein Angebot für Mutter und beide Töchter mit dem Thema: »Frau sein, erwach© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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sen werden als Frau« (auch präventiver Aspekt für die jüngere Tochter) geben. Je nach Verlauf kann auch ein Einzelgespräch mit dem Vater nicht über Anorexie, sondern über die Funktionalität der Krankheit im familiären Kontext angeboten werden. Aufgrund der Schwere und Dauer der Störung, der Menge der Rückfälle und der Anzahl der bisherigen Behandlungsversuche glaube ich nicht, dass eine ausschließliche ambulante Familientherapie hier indiziert ist und eine gute Prognose hat. Das störungsspezifische Wissen über Verläufe von Essstörungen widerspricht dem.

Literatur AKJP (2009). Zugriff unter http://www.Kinderverhaltenstherapie.de AWMF (2000). Zugriff unter http://www.uni-düsseldorf.de Hahlweg, K. (2003). Beziehungs- und Interaktionsstörungen. In H. Reinecker (Hrsg.), Lehrbuch klinische Psychologie und Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Heekerens, H. P. (2006). Die Funktionale Familientherapie. In F. Mattejat (Hrsg.), Lehrbuch der Psychotherapie Bd. 4. München: CIP-Medien. Kanfer, F. H., Reinecker, H., Schmelzer, D. (1991). Selbstmanagementtherapie. Berlin. Springer. Mattejat, F. (2006). Kognitiv-behaviorale Elternarbeit und Familientherapie. In F. Mattejat (Hrsg.), Lehrbuch der Psychotherapie. Bd. 4. München: CIP-Medien. Sulz, S. K. D. (2005). Fallkonzeption des Individuums und der Familie. In E. Leibing, W. Hiller, S. Sulz, F. Leichsenring (Hrsg.), Lehrbuch der Psychotherapie. Bd. 3. München. CIP-Medien. Sander, M., Markie-Dadds, C., Turner, K. M. T. (2000). Triple P. Deutsche Ausgabe. Münster: Verlag für Psychotherapie. Wünsche, M., Reinecker, H. (2006). Selbstmanagement in der Erziehung. Göttingen: Hogrefe.

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Margot Rädecke

Der systemische Blickwinkel

Der systemische Ansatz begreift die Familie im Ganzen als behandlungsbedürftig. Das System der Familie ist unser »Patient«. Dies im Sinne, dass die Summe des Ganzen mehr ist als seine Einzelteile. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Kommunikationsstrukturen der einzelnen Familienmitglieder untereinander. Wir begreifen Familie als ein System, welches auf unterschiedlichen Ebenen, mit unterschiedlichen Verantwortungen, Funktionen und Aufgaben ausgestattet ist und ein Gleichgewicht darstellt. Kommt dieses System Familie ins Ungleichgewicht, kann es zu Störungsbildern, Symptomen, Problemen und Missverständnissen kommen. Das praktische Vorgehen in der systemischen Psychotherapie, Familientherapie basiert auf Hypothesenbildung und deren Überprüfung. Der Kontakt zum behandelnden System ist wertschätzend, respektvoll und durchaus direktiv. Es gibt unterschiedliche systemische Ansätze, ich unterscheide bzw. arbeite nach zwei Ansätzen: Zum einen dem entwicklungsund wachstumsorientierten Ansatz nach Virginia Satir und zum anderen dem strukturellorientierten Ansatz nach Salvador Minuchin.

Der wachstumsorientierte Ansatz Der wachstumsorientierte Ansatz geht von der Grundannahme aus, dass jeder Mensch, wie auch jedes System, in der Lage ist, mit Problemen konstruktiv umzugehen, sie zu lösen bzw. kons© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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truktive Lösungsmöglichkeiten zu finden (Ressourcen), dass jedoch bei Störungen der Zugriff auf eben diese Ressourcen verwehrt ist und ein Ungleichgewicht entsteht. Die Aufgabe der systemischen Psychotherapie bzw. der Familientherapie besteht darin, gezielte Hilfestellungen zu geben, um eben diesen Zugriff auf die eigenen Ressourcen wieder zu gewährleisten und somit wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Ein wichtiger Aspekt ist der Respekt vor der individuellen Geschichte, die jedes System und jeder Mensch hat, vor seiner Herkunft und den damit verbundenen Grenzen und Möglichkeiten. Im praktischen Vorgehen bedeutet das, auf der Interventionsebene hoffnungsinduzierend zu arbeiten, eine positive Grundeinstellung im Kontakt zum behandelnden System zu vermitteln und Mut für Veränderung zu schaffen.

Der strukturell orientierte Ansatz Der strukturell orientierte Ansatz geht von der Grundannahme aus, dass es klare Grenzen in einem Familiensystem gibt und eine natürliche Hierarchie zwischen Eltern und Kindern existiert, die es den Kindern ermöglicht, ihre eigene Persönlichkeit durch die Fürsorge und Leitung der Eltern zu entwickeln. Zu Störungen im Familiensystem kommt es dann, wenn diese Grenzen verwischt werden, es zu sogenannten Parentisierungen kommt. Parentisierung bedeutet, dass ein oder mehrere Kinder auf die Elternebene geholt werden und gegen den anderen Elternteil funktionalisiert werden oder ihn ersetzen sollen. Es kann weiterhin zu Störungen kommen, wenn Grenzen diffus oder zu starr in der Familie gelebt werden. Ein Selbständigwerden, ein autonomes und von den Eltern unabhängiges Aufwachsen ist nicht möglich oder kann nur unter großen Schwierigkeiten gewährleistet werden. Im praktischen Vorgehen bedeutet das, den Fokus im diagnostischen Bereich auf die Beobachtung der vorhandenen oder nicht vorhandenen Grenzen zwischen Eltern und Kindern zu legen als auch auf die Beobachtung, ob es Parentisierung im © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Familiensystem gibt, ob verdeckte oder offene Konflikte vorliegen oder ob Allianzen oder Koalitionen unter den Familienmitgliedern sichtbar werden. Wichtig ist auch die Beobachtung, wie sich der Kontakt zwischen den Eltern untereinander darstellt. Auf der Interventionsebene bedeutet dies, den Eltern durch klare Hilfestellungen und praktische Vorschläge zu helfen, ihre Position auf der Elternebene einzunehmen, um den Kindern ein Standing auf »ihrer« Ebene zu ermöglichen.

Der systemische Ansatz am Beispiel der Fallvignette Ich würde den Fall übernehmen. Mein Verständnis von Magersucht aus systemischer Sicht: Es ist die einzige Form von absoluter Kontrolle über den eigenen Körper, da alles außerhalb des eigenen Körpers durch die Mutter und/oder den Vater kontrolliert wird: Leistung, Anpassung, Werte etc. Die Kommunikation, in der Regel zwischen dem gleichgeschlechtlichen Elternteil und dem identifizierten Patienten, ist oft kontrollierend und durch einen »double bind« im Sinne von »Entwickle dich so, wie es für dich gut ist, aber bleibe so, dass du mich/uns brauchst« geprägt. Aufgrund der Fallvignette bilde ich folgende Hypothese: 1. Das Familiensystem hat rigide Grenzen und definiert sich über Leistung und Kontrolle. Zur nächsten Sitzung würde ich die Gesamtfamilie, also auch die 12-jährige Tochter/Schwester, mit einladen. Meine Begründung der Familie gegenüber wäre, dass die Art des Unabhängigsein-Wollens der älteren Tochter mit Sicherheit Auswirkungen auf die jüngere Tochter/Schwester hat und ich deren Meinung und deren Befinden dazu gern hören würde. In dieser Sitzung würde ich mein Augenmerk auf die Kommunikation zwischen der Mutter und der jüngeren Tochter, dem Kontakt unter den Geschwistern, sowie der Kommunikation zwischen dem Vater und der jüngeren Tochter als auch auf den Kontakt der Eltern untereinander legen. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Meine Arbeitshypothese würde lauten: 2. Es gibt eine Spaltung im Familiensystem. – Die Mutter hat mehr Nähe zur jüngeren Tochter (lässt sich noch leichter führen). – Der Vater hat mehr Nähe zur älteren Tochter. – In der Beziehung der Eltern, auf der Paarebene gibt es einen verdeckten Konflikt. Je nach Zutreffen meiner Hypothesen würde ich im Folgenden die Eltern zur nächsten Sitzung allein einladen. In dieser Sitzung würde ich über meine Beobachtungen sprechen und gezielte Fragen stellen, die mit dem Beginn ihrer Elternschaft zu tun haben, beispielsweise: – Wer wollte Kinder? – Was war der Grund, nach sechs Jahren noch ein weiteres Kind zu bekommen? – Gibt es Erziehungsprinzipien, wenn ja, welche? – Gibt es einen dominanten Elternteil, wenn es um Erziehungsfragen geht? Bezüglich des Hintergrunds für das Eltern-Setting ist meine Hypothese: 3. Es gibt einen verdeckten Konflikt auf der Paarebene, der mit dem Thema Macht und Schuld zu tun hat. Ein weiteres Thema könnte die eventuelle Eifersucht der Mutter auf die ältere Tochter sein, da der Vater der Tochter vielleicht mehr Aufmerksamkeit zukommen lässt als ihr, der Frau. Je nach Bestätigung oder Nichtbestätigung meiner Hypothesen würde ich noch circa drei Sitzungen mit den Eltern allein vereinbaren. In diesen Sitzungen würde ich mir die Erlaubnis der Eltern geben lassen, sie auf der Paarebene befragen zu dürfen, und sie dann nach ihrem Befinden, ihrer Zufriedenheit als Paar befragen, beispielsweise: – Gibt es genügend Zeit ohne Kinder? – Gibt es Gemeinsames? – Was hat sich verändert, seit die Kinder größer sind? © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Der Hintergrund, vor dem ich das Paar-Setting wählen würde, wäre folgende Hypothese: 4. Wenn der Blick der Eltern wieder ein Stück mehr auf die Paarebene gerichtet wird, bekommt die ältere Tochter, hier die Index-Patientin, mehr Freiraum und muss nicht eine für sie destruktive Symptomatik entwickeln, um damit das Elternbzw. Familiensystem zu stabilisieren. Ich gehe von der Annahme aus, dass die Index-Patientin das Symptom der Magersucht entwickelt hat, um die Eltern in Sorge um sie zu verbinden und um der Mutter und dem Vater das Gefühl, noch immer gebraucht zu werden, vermitteln zu können. Sie könnte unbewusst Angst haben, dass, wenn sie groß wird, unabhängig wird, sich autonom verhält, es keine Notwendigkeit mehr für die Eltern besteht, zu kooperieren, es unter Umständen zu einer Trennung kommen könnte, oder sich die Mutter nicht mehr gebraucht, wichtig fühlen könnte. Nach diesen circa drei Sitzungen würde ich wieder die Gesamtfamilie einladen und die Frage stellen, ob es Veränderungen in der Familie gibt und wenn ja, welche. Perspektivisch wäre mein Ziel, das Paarsystem der Eltern zu stärken, um damit Freiraum für die Entwicklung der Kinder ohne Symptome zu schaffen. Ich könnte mir vorstellen, in unterschiedlichen Settings weiterzuarbeiten: eventuell mit den Geschwistern auch einmal allein, um ihre Allianz zu stärken, mit der Mutter und der älteren Tochter, mit der Mutter und den beiden Kindern, mit dem Vater und den beiden Kindern. Meine Prognose würde ich davon abhängig machen, welchen Prozess die Eltern auf der Paarebene bereit wären zuzulassen. Für die gesamte Familientherapie würde ich circa zehn Sitzungen veranschlagen und würde je nach Stabilisierung der identifizierten Patientin gegebenenfalls eine weitere für sie unterstützende Verhaltenstherapie empfehlen.

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Gisela Borgmann-Schäfer

Der humanistische Ansatz

Vorbemerkung Folgende Aspekte charakterisieren grundsätzlich den humanistischen Ansatz: Er – hat philosophische und psychologische Wurzeln und verstand sich als »dritte Kraft« neben Behaviorismus und Psychoanalyse. – wendet sich dem Potenzial in der Person und in der Begegnung zweier Menschen zu und überschreitet den Krankheitsbegriff unseres Gesundheitssytems, in dem ein Mensch der Träger einer Krankheit ist. – betont das jedem Menschen innewohnende Bedürfnis nach konstruktiver Veränderung und Selbstverwirklichung. – bietet einen Zuwachs an Persönlichkeitsentwicklung für die Psychotherapeutin/den Psychotherapeuten und die Klientin/ den Klienten, – hat an den Entwicklungsaufgaben/dem Alter orientierte Ansätze mit den Eltern oder mit der Familie hervorgebracht. Aus dem Gedankengut der humanistischen Psychologie haben sich sehr vielfältige psychotherapeutische Ansätze herausgebildet, auch in der Arbeit mit Familien. Wenigstens erwähnen möchte ich: – das Familienstellen in der Gestalttherapie. – die Familienarbeit mit Handpuppen im Psychodrama. – die personzentrierte Spieltherapie mit begleitender Elternarbeit, personzentrierte Familientherapie und personzentrierte Familienspieltherapie. – die Familientherapie nach Virginia Satir, die kurz beispielhaft ausgeführt sei:  Psychische Probleme von Klienten werden © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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innerhalb der Familientherapie nicht isoliert gesehen, sondern das Verhalten aller Familienmitglieder wird in die Betrachtung einbezogen. Durch Gespräche, »Familienaufstellungen« und eine Vielzahl kreativer Methoden kann dabei erreicht werden, allmählich die inneren Prozesse der Familie zu verstehen. Verborgene Strukturen und Bindungen werden erfahrbar. Das Geflecht der Beziehungen wird Stück für Stück entwirrt, so dass Verstrickungen gelöst werden können. Die systemische Familientherapie geht davon aus, dass bei den Mitgliedern einer Familie und in der Familie als ganzer »Selbstheilungskräfte« vorhanden sind, die in der Therapie mobilisiert werden können. Virginia Satirs Anliegen war es, Menschen ihre Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie ihr »Grundpotenzial« nutzen konnten, und Wachstum und Frieden zu fördern. »Ich glaube daran, dass das größte Geschenk, das ich von jemandem empfangen kann, ist, gesehen, gehört, verstanden und berührt zu werden. Das größte Geschenk, das ich geben kann, ist, den anderen zu sehen, zu hören, zu verstehen und zu berühren. Wenn dies geschieht, entsteht Kontakt« Aus der Fülle von humanistischen Ansätzen werde ich als Modell für das humanistische Psychotherapieverständnis den personzentrierten Ansatz herausgreifen und mit den philosophischen Einflüssen beginnen, weil diese seine wesentlichen Prägungen darstellen.

Der personzentrierte Ansatz und seine philosophischen Wurzeln Auch wenn ich Ihnen die Einflüsse nur skizzenhaft darstellen kann, liegt mir viel daran, ins Gedächtnis zu rufen, dass der humanistische Ansatz in einer langen Tradition von Geisteswissenschaftlern steht und versucht, vorhandenes Wissen über das Menschsein und nicht ausschließlich die Perspektive des Krankseins in moderne psychotherapeutische Konzepte einzubinden (Tabelle 1). Nur ganz kurz: © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Tabelle 1: Der personzentrierte Ansatz und seine philosophischen Wurzeln Phänomenologie, z. B. Husserl • »Jeder Mensch ist Mittelpunkt seiner Welt und Wirklichkeit.« • Ernstnehmen der subjektiven Realität des Menschen • leibliches Vorwissen Hermeneutik, z. B. Heidegger • Verstehen des Einzelnen nur durch das Verstehen des Ganzen • der Sinn entspringt dem Verstehen • das Verstehen bedarf des Anderen als Verstehenden Dialogphilosophie, insbes. Buber • Ich-Du-Begegnung • Psychotherapie als Encounter6: Beziehungsangewiesenheit als grundlegende menschliche Bedingung • Gegenwärtigkeit als therapeutisches Grundprinzip Aktualisierungstendenz • Entwicklungsprinzip des Erhaltens und Entfaltens • Wachstum • Bedürfnisse Existenzialismus, z. B. Sartre • Authentizität • Wahlfreiheit • Selbstverantwortung Menschen als gesellschaftliche Wesen • Bedürfnis nach positiver Beachtung

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6 Encounter ist Selbsterfahrung, also sich selbst erforschen, bewusster werden und persönlich wachsen. Es geht um direkten unmittelbaren Kontakt mit eigenen Gefühlen und mit anderen Menschen im Hier und Jetzt.

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Die Grundkonzepte des personzentrierten Ansatzes (Carl Rogers) Menschenbild und Persönlichkeitstheorie In der Persönlichkeitstheorie von C. Rogers gibt es zwei Kernbegriffe: Aktualisierungstendenz und Inkongruenz. 1. Aktualisierungstendenz: Die Aktualisierungstendenz bewertet Erfahrungen danach, ob sie für den Organismus erhaltend, fördernd oder hemmend sind: – Sie ist die grundsätzliche Fähigkeit des Organismus (physische und psychische Ganzheit), sich selbst zu erhalten und sich weiterzuentwickeln. – Menschliche Entwicklungsprozesse sind Prozesse der Selbstorganisation. Menschen sind sich selbst entwickelnde Systeme mit einer richtunggebenden Kraft, das in ihr liegende Potenzial zu entwickeln. – Die Grundannahme der »Aktualisierungstendenz« erhält gerade in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich im Rahmen der Systemtheorie unter dem Begriff der »Selbstorganisation« neue Evidenz. 2. Inkongruenz: Inkongruenz bezeichnet »die konflikthafte, innerpsychische Diskrepanz, die besteht, wenn Erfahrungen vom Individuum nicht als Selbsterfahrung wahr- und angenommen werden, weil ihre Gewahrwerdung abgewehrt wird und/oder sie nur verzerrt und in entstellter Form symbolisiert7 werden können« (Stumm, Wiltschko u. Keil, 2003).

Störungsverständnis Im Folgenden beschränkt sich der Fokus auf die Bedeutung der Familie für die Entstehung und das Verständnis von Störungen.

7 Symbolisierung: Eine Person nimmt eine Vorstellung, Gefühle, Gedanken, Körperwahrnehmungen oder Worte mit ihrer subjektiv gefühlten Bedeutung und mit der einhergehenden spezifischen Bewertung wahr.

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– Störung und Familie: Wenn Eltern die inneren Erfahrungen ihres Kindes ablehnen oder negativ bewerten, kann sich das Kind diese Erfahrungen nicht so bewusst machen, wie sie in Wirklichkeit in seinem Organismus ablaufen. Es entstehen Differenzen, besagte Inkongruenzen, die schließlich zu Störungssymptomen führen können. In der begleitenden Elternarbeit ist die Heilung der Eltern-Kind-Beziehung der Schwerpunkt. – Störung als Beziehungsstörung: Ich kann einen Menschen in seinen Aspekten wahrnehmen und sehen, dass er abweichend ist, den Anforderungen von Gesellschaft (Familie, Schule oder Arbeitsplatz) in Beziehung zu anderen, zu sich selbst, zu seinem Körper verfehlt hat. Beginnt man, den Aspekt Beziehung zu berücksichtigen, ist es nicht mehr möglich von Krankheitsträgern auszugehen, es sind auch die anderen Teile des Geflechts wahrzunehmen. Die Suche nach den kranken Anteilen in einem Menschen wird zur Suche nach den derzeitigen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, eine Beziehung zu sich, zu anderen und zu seiner Umwelt aufzunehmen.

Wirkfaktor der Veränderung: Die Beziehungsgestaltung Das aus damaliger Sicht Revolutionäre am Ansatz von Rogers war, dass er (ganz in philosophischer Tradition) die Begegnung zwischen zwei Menschen und dem, was darin passieren kann, als den entscheidenden Wirkfaktor bei der Veränderung von Menschen erkannte. Rogers formulierte schon sehr früh Merkmale, die ein wirksames Beziehungsangebot beschreiben. Dabei handelt es sich um Einstellungen/Haltungen, die im psychotherapeutischen Geschehen in Handlungen umgesetzt werden: – Verändern durch Begegnung – Echtheit/Kongruenz: Ich bin echt, verhalte mich dem Kind, der Familie gegenüber, wie ich bin. Ich bin weniger in einer Rolle als Psychotherapeutin sondern als Mensch präsent. – Verändern durch Anerkennen –Bedingungsfreies Akzeptieren: Das heißt nicht, alles zu billigen, was der Klient macht. »Aber diese persönliche Bewertung der Verhaltensweise ändert © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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nichts an dem Wert der Person des Jugendlichen« (Weinberger u. Papastefanou, 2008). Es gibt auch keinen Therapieabbruch wegen Unterschreitens eines Gewichts und der darauf folgenden Krankenhauseinweisung. Es handelt sich vielmehr um eine gewisse Absichtslosigkeit und Vertrauen in die Aktualisierungstendenz. – Verändern durch Verstehen – Empathie als dialogischer Prozess: Ich verstehe dich« ist affektlogisch nicht möglich. Außerdem macht es den anderen zum Objekt. Die Beziehung wird zur neuen Qualität, indem beide sich aneinander besser verstehen. Ich versuche nachzuempfinden, wie die innere Welt meines Gegenübers aussieht mit all ihren emotionalen Komponenten und Bedeutungen. Es ist ein gemeinsames Entwickeln und Überprüfen von Verstehenshypothesen, eine gemeinsamer Suchprozess der Identifikation und Symbolisierung implizierter Bedeutungen.

Therapieziel Therapieziel ist die Veränderung der Beziehung des Klienten zu sich selbst. Veränderung im Verhalten, in der Beziehung zu anderen und die Reduktion von Symptomen gelten als Folge der veränderten Beziehung des Klienten zu sich selbst. Rogers fragt nicht: Wonach strebt der Mensch? Sondern: Wonach strebt das Selbst des Menschen, also wohin orientiert sich seine »wirkliche psychische Entwicklung«? Das Therapieziel lautet daher: »Das Selbst zu werden, das man in Wahrheit ist.«

Personzentrierte Ansätze der Arbeit mit Eltern und Familien Nun komme ich zu den Ansätzen, die sich innerhalb des personzentrierten Ansatzes entwickelt haben. Hier ist zu unterscheiden zwischen interaktiven Ansätzen, Trainingsansätzen und Kombinationen von Einzeltherapie mit intensiver Elternarbeit. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Interaktive Familiensitzungen Hierzu zählen: – Nondirektiv-empathiezentrierte Familientherapie: Durch empathische Interventionen können die verschiedenen Perspektiven besser verstanden und akzeptiert werden (Gaylin, O’Leary). – Familienspieltherapie: Die Familie geht ins Spielzimmer und hat die Instruktion, zu spielen (Kemper). – Therapiebegleitende personzentrierte Elternberatung: Parallel zur wöchentlichen Spieltherapie werden Eltern beraten. Bei Jugendlichen gelten aufgrund der Entwicklungsaufgaben andere Gewichtungen: Eltern werden seltener oder nur zusammen mit dem Jugendlichen oder auch gar nicht beraten.

Therapeutische Trainings mit Eltern Hierzu zählen: – Eltern-Kind-Responsivness-Training (Baby/Kleinkind): Anhand von Videoausschnitten wird im Einzelkontakt mit den Eltern eine neue Sensibilität für das Kind entwickelt. – Filialtherapie: Eltern werden trainiert, spieltherapieartige Sitzungen (nach Axline) mit ihrem Kind durchzuführen. – Relationship Enhancement Skill Training Programs: Eltern lernen Kommunikationsstrategien für Jugendliche. – Parent Effectiveness Training: Gordon oder »Elternschule der GwG«.

Beziehungsorientierte Settings des Erstkontaktes in der Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern Tabelle 2 (nach Behr, 2006) soll verdeutlichen, dass beim gegenwärtigen Stand der Forschung und Konzeptentwicklung nicht von einem Königsweg in der Gestaltung des Erstkontaktes ausgegangen werden kann. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Tabelle 2: Settings klassisch

jugendlichenzentriert

familienzentriert

• Familie/Mutter + Kind • 3 x Spieltermine + Testdiagnostik • nur Eltern

• Jugendliche • Jugendliche + Eltern • 2 x Jugendliche • Jugendliche + Eltern

• • • • •

Vorteile: • Es kann schon beim Erstkontakt Transparenz für alle geschaffen werden.

Vorteile: • optimaler Beziehungsaufbau zum Jugendlichen • Jugendlicher erlebt sich wertgeschätzt

Vorteile: • Kind wird nicht zum Behandlungsgegenstand gemacht

Vorteile: • Die Interaktion in der Familie wird sichtbar.

Vorteile: • Informationen der Eltern sind nicht so wichtig, da der Jugendliche weiß, was seine Eltern stört.

Vorteile: • sofortiger Ansatz zur Veränderung der Wahrnehmungen und Einstellungen der Eltern • Transparenz

Nachteile: Nachteile: • Eltern könnten • Der BeziehungsTherapie boykotaufbau zu allen kann tieren zwar gelingen, ist aber schwierig herzustellen.

Familie Familie Familie Familie Familie

Nachteile: • Kind erhält keine eigene Behandlung • Verminderung der Inkongruenzen im Kind nur durch die Veränderung in der Familie

Indikation: Indikation: Indikation: • sicheres Vorgehen, es • bevorzugter Weg des • manifeste Kommunikations- und/oder Erstkontaktes mit sei denn, die Eltern Beziehungsprobleme Jugendlichen sind hoch zerstritten in der Familie

Schlussbemerkung Nicht das Symptom, sondern die Person mit ihren Beziehungen zu sich selbst und zu den anderen steht im Fokus der Wahrneh© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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mung des Psychotherapeuten. Damit ist die gesamte Familie eingeschlossen. Im Zentrum der Behandlung steht die psychotherapeutische Beziehung, eben diejenige Beziehung, in der neue Erfahrungen angstfrei gemacht werden können und in der alte Bedeutungsgebungen durch korrigierende Beziehungserfahrungen revidiert werden. Die individuelle Entwicklung ebenso wie die Entwicklung und Aufrechterhaltung von seelischen Krankheiten findet innerhalb sozialer Interaktionen und gegenüber relevanten Bezugspersonen statt.

Der personzentrierte Ansatz am Beispiel der Fallvignette Da ich den Fall übernehmen würde, möchte ich Ihnen nun eine Herangehensweise aus personzentrierter Sicht darstellen. Aus dem eben dargelegten Störungsverständnis ist davon aus-zugehen, dass die Beziehung der Jugendlichen zu sich, zu ihren Eltern und zu ihren Altersgenossinen gestört ist. Daraus ist nicht unmittelbar abzuleiten, dass ein Familiensetting der beste Ansatz wäre. Sondern es gilt die Frage zu klären, ob das Beziehungsangebot innerhalb oder außerhalb der Familie am besten den Bedürfnissen der Klientin entspricht. Es ist bekannt, dass auch im Einzelsetting mit der Familie gearbeitet wird.

Überlegungen zur Auswahl des Settings Für eine Entscheidung über das geeignete Setting werden folgende Aspekte geprüft: 1. Altersabhängige Entwicklungsaufgabe: Eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben dieser jungen Adoleszenten ist Abschied von der Kindheit; es gilt eine emotionale Unabhängigkeit von den Eltern herzustellen. Dies spricht für eine Einzeltherapie mit der Klientin. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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2. Störungsspezifisches Wissen: Ausgehend von einer personzentrierten Betrachtung des Erlebens von Patientinnen mit EssStörungen möchte ich zu dieser Frage folgendes Charakteristikum zu bedenken geben: Die wahrgenommenen Bedürfnisse sind weitgehend auf den Nahrungsbereich beschränkt. Das Bedürfnis nach Autonomie wird auf den Körper umgelenkt, der oft das einzige Feld darstellt, auf dem selbstbestimmte und kontrollierbare Veränderungen möglich zu sein scheinen. Das Streben nach Autonomie als Teil der Aktualisierungstendenz ist blockiert. Die Mutter zeigt Defizite als Identifikationsfigur des Erwachsenseins als Frau. Dies spricht für eine Einzeltherapie mit der Klientin.

Spezifische »Fall-Hypothesen« In Bezug auf die Theorieebene der Störung sind Vater und Tochter Profis, woraus zu schließen ist, dass Emotion und Kognition nicht miteinander verbunden sind und dadurch die Erkenntnisse zu keinen nachhaltigen Verbesserungen geführt haben. Die Mutter verfügt über geringe Empathie der Tochter gegenüber und eignet sich nicht als Identifikationsfigur für die Tochter; da könnte sich stellvertretend eine Psychotherapeutin anbieten. Ein zu vermutender Ehekonflikt bei den Eltern, ob als Folge der Ess-Störung oder als Ursache, sei dahingestellt. Die Tochter muss sich darum allerdings nicht »kümmern«. Dies spricht für eine Einzeltherapie mit der Klientin. Die Entscheidung ist gefallen: ambulante Einzeltherapie mit der Klientin und einige wenige Gespräche mit der Familie.

Wie hat die Einzeltherapie das Familiensystem im Blick? Das weitere Vorgehen wird am Beispiel des Erstkontaktes gezeigt, wobei nicht alles schon beim ersten Kontakt zur Anwendung kommen kann. Es ist auch als ein Ausblick auf den weiteren Prozess zu verstehen. Der Erstkontakt findet mit dem Eltern und der Jugendlichen statt und gliedert sich in drei Phasen: als Auftaktphase das gemeinsames Gespräch, eine Phase allein mit © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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der Jugendlichen und eine Abschlussphase wieder gemeinsam mit allen. Ich lade zum Erstgespräch alle ein. 1. Auftaktphase: Zu Beginn steht in der Regel der Bericht der Eltern. Im Beziehungsdreieck Eltern-Jugendliche-Therapeutin ist die Psychotherapeutin Bündnispartnerin der Jugendlichen, muss aber auch den Kontakt zu den Eltern bekommen, damit diese die Psychotherapie nicht boykottieren. Während des Gesprächs achtet die Jugendliche auf das Geschehen und prüft: – Ist diese Psychotherapeutin auch auf der Seite der Eltern? – Wird sie den gleichen Druck ausüben zu essen, den alle ausüben? – Wird sie die gleichen unerfüllbaren Forderungen stellen? – Gibt es eine vage Hoffnung auf eine Verbündete? – Hört und sieht sie mich? 2. Begegnung mit der Jugendlichen – Jetzt wird’s ernst: Ich schicke die Erwachsenen für eine Weile aus dem Zimmer. Wir haben genug Informationen. Nun sprechen wir darüber, wie es uns beiden miteinander geht, wenn wir auf die Probleme schauen. Fehringer beschreibt diesen Augenblick so: »Meine Erfahrung geht in die Richtung, dass je konsequenter ich versucht habe, einer (theoretischen wie praktischen) Vorstellung von mir zu folgen, mich dem ›Dunkel des gelebten Augenblicks‹ anzuvertrauen […] um so eher bot ich meinem Klienten ein ›Zu-Zweit-Sein‹ bei der Betrachtung und dem Erleben seiner konfliktbeladenen Lebensgeschichte« (Fehringer, 2006). Die Begegnungsebene ist entscheidend dafür, dass die Jugendliche sich überhaupt auf eine Therapie einlassen kann. Zuerst wird die Vertrauensebene hergestellt. Die interpersonale Auseinandersetzung ist bei Jugendlichen vorrangig, daran schließt sich die intrapsychische Auseinandersetzung an. Die Jugendliche will in der Regel keine professionelle Hilfe, keine die ihr sagt, was sie zu tun, was sie zu essen hat. Sie braucht eine neue Beziehungserfahrung. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Der personzentrierte Ansatz hat in seiner Theorie die Beziehungsgestaltung als Wirkfaktor. Es werden nun die wesentlichen drei Angebote dieser neuen Beziehungserfahrung beschrieben, das heißt, wie diese konkret ungesetzt werden können: Neue Beziehungserfahrung I – Kongruenz (Konfrontieren, Beziehungsklären, Selbsteinbringen): – Wie erlebst du8 uns beide hier im Raum? (Metaphern bieten sich an, um verinnerlichte Beziehungsmuster zu symbolisieren.) – Ich bleibe deine Therapeutin, auch wenn du wieder ins Krankenhaus gehen musst. Bei einem BMI von ... machen wir eine Pause. Dazu brauche ich, dass du dich einmal in der Woche wiegst. – Ich bin parteiisch für dich. – Ich beantworte deine Fragen. Neue Beziehungserfahrung II – Bedingungsfreies Akzeptieren (Anerkennen, Solidarisieren, Bestätigen): – Ich akzeptiere völlig, dass du deinen Körper nicht zeigen magst. – Ich akzeptiere völlig, nicht über Essen zu reden. – Ich akzeptiere völlig, dass du unseren Abstand definierst: Intervalltherapie. – Ich akzeptiere Distanzierungsformen zu deiner Familie. – Ich spreche ermutigend kleine Schritte an, die in Richtung Selbstbestimmung gehen. Neue Beziehungserfahrung III – Empathie (Einfühlendes Wiederholen, Konkretisieren, Selbstkonzeptbezogenes Verstehen, Organismusbezogenes Verstehen, Interpretieren): – Wir reden über das Leben, zu welcher Person du werden möchtest. – Wie zentral soll das Thema Selbstbeherrschung für dich sein? 8 Das »Du« ist nicht im wörtlichen Sinne zu verstehen, denn selbstverständlich wird die Jugendliche mit »Sie« angesprochen, sondern dient der Beschreibung eines dichten, partnerschaftlichen Begegnungsraumes.

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– Wir nutzen Gespräch und Spiel, um gemeinsam auf die Suche zu gehen, wie du erwachsen werden kannst. Dabei werden als Themen angeboten: Abwertung, Nichtbeachtung, Nichternstnehmen deiner Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle besonders durch die Eltern. – Kreative Spielmöglichkeiten (Malen, Gestalten, Tanzen, Musik, Körper, Bewegung). Bevor die Bezugspersonen hereingeholt werden, kläre ich mit der Jugendlichen, wie wir verbleiben. 3. Abschlussphase: Es werden die Eltern wieder hinzugebeten und die Jugendliche berichtet von der Begegnung mit der Therapeutin. Die Bedeutung der Eltern-Kontakte wird nun aus drei Perspektiven beleuchtet. Aus Sicht des Jugendlichen: – Die Häufigkeit und die Inhalte der Elterngespräche werden mit der Jugendlichen gemeinsam festgelegt und die Elterngespräche werden wenn möglich gemeinsam mit der Jugendlichen durchgeführt. – Die Jugendliche erlebt sich als wertgeschätzt. – Die Jugendliche spürt den Veränderungsoptimismus der Therapeutin. Aus Sicht der Psychotherapeutin: Es ist wichtig, die Eltern kennen zu lernen, mich gefühlsmäßig in das Klima einstimmen zu können und Hypothesen bilden zu können: Wo sind Inkongruenzen in der Familie, verzerrte Beziehungsmuster, Abwertungen, wo ist ein Beziehungsvakuum, wo fehlt Lebensorientierung? Aber auch: – Aufklärung der Eltern, was eine personzentrierte Psychotherapie ist: Ich möchte mit der Tochter einen Weg gehen, damit sie zu sich selbst findet; damit gelingt: »Das Selbst zu werden, das man in Wahrheit ist.« Ziel der Therapie ist nicht »Wegmachen« des Symptoms, sondern die Unterstützung der © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Entwicklung einer integrierten und stabilen erwachsenen Persönlichkeit der Jugendlichen. – Hinhören und Hinspüren, welche Aufträge, Wünsche, und Anliegen von den Eltern in den Raum gebracht werden. – Aufklärung über die Störung. – Verdeutlichung meiner Haltung: Zum positiven Leben gehört die Aussöhnung mit der Familie – zum richtigen Zeitpunkt. Aus der Sicht der Eltern: – Sie wollen Bestätigung ihrer Sicht der Dinge. – Sie benötigen Entlastung in ihren eigenen Schuldgefühlen. – Sie möchten Verantwortung abgeben. – Sie möchten Kontrolle behalten. – Sie brauchen fachlichen Rat und Stärkung der eigenen Rolle in den Erziehungsaufgaben. – Sie wünschen manchmal Beistand im Bestreben, den Jugendlichen »loszuwerden« oder weiter an sich binden zu können. – Sie wollen der Jugendlichen die optimale Unterstützung für den Aufbau einer erwachsenen und stabilen Persönlichkeitsstruktur zukommen lassen. – Sie wollen in ihrer eigenen Emotionalität gesehen werden.

Schlussbemerkung Auch wenn nur ein Familienmitglied zur Psychotherapeutin geht, so befindet sich doch die Familie in Psychotherapie, weil – jedes psychische Krankheitssymptom die Folge einer unbefriedigenden Beziehung ist. »Die Familie ist ein so ursprünglicher Aspekt dessen, wer wir sind – wie wir uns im Verhältnis zum anderen sehen –, dass sie in unserem Selbstkonzept enthalten ist« (Gaylin, 2002, S. 321). – mit der Veränderung der Beziehung der Klientin zu sich selbst, mit der Veränderung des Selbstkonzeptes, es als Folge zu einer Veränderung im Verhalten, zu einer Veränderung in der Beziehung zu den Familienmitgliedern und zu einer Reduktion des Symptoms kommt. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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– weil die Auflösung der Überbelichtung der Mängel in der Beziehung zu den Eltern mit der Ermöglichung der Wahrnehmung von Aspekten, die abgeschirmt worden waren, einhergeht. Der partnerschaftliche Dialog in der Familie hat eine neue Chance.

Literatur Behr, M. (2006). Beziehungszentrierter Erstkontakt in der heilpädagogischen und psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien. Person, 10 (2). Fehringer, C. H. (2006). Ja, so ist die Jugend heute, schrecklich sind die jungen Leute (W. Busch). Personzentrierte Psychotherapie mit Jugendlichen. Person, 10 (2). Gaylin, N. L. (2002). Der Personzentrierte Ansatz in der Familientherapie. In W. W. Keil, G. Stumm (Hrsg.), Die vielen Gesichter der Personzentrierten Psychotherapie (S. 319-333). Berlin: Springer. Stumm, G., Wiltschko, J., Keil, W. (2003). Grundbegriffe der Personzentrierten und Focusing-orientierten Psychotherapie und Beratung. München. Pfeiffer bei Klett-Cotta. Weinberger, S., Papastefanou, C. (2008). Wege durchs Labyrinth. Weinheim: Juventa.

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Gerlinde Unverzagt

Die Familie – ein Fest?!9

Es ist ein Nachmittag wie aus dem Bilderbuch. Hoch ragen die Schaufeln der Windmühle in den blauen Sommerhimmel, unter dem sich weitläufig eine Obstbaumwiese ausbreitet: Kirschen satt, sogar der Klarapfel trägt gut, und daneben reifen viele kleine Birnen der Ernte entgegen. Dass ausgerechnet heute die Sonne lacht, nimmt Alexandra für ein gutes Zeichen. Der Sommer des Jahres 2020 hat bislang wahrhaftig nicht gehalten, was das heiße Frühjahr versprochen hat. Regen und nochmals Regen, unterbrochen nur von unwirklich anmutenden, drückenden Tagen, allesamt grau in grau. Doch jetzt scheint die Sonne und taucht die Mühle, die in den letzten Jahren zu Alexandras und Vincents Zuhause geworden ist, in gleißendes Licht. Wie eine Bestätigung für die Entscheidung, endlich zusammenzuziehen, will ihr das Wetter heute scheinen. Living apart together – die seit dem Anfang des neuen Jahrtausends beliebte Lebensform für Menschen, die sich lieben, aber nicht wissen, wie weit, hat Alexandra und Vincent vielleicht bis jetzt davor bewahrt, aneinander zu scheitern. »Aber jetzt«, so hat Vincent vor zwei Tagen feierlich verkündet, »machen wir Nägel mit Köpfen.« Alexandra lässt den Blick über den langen, festlich gedeckten Tisch schweifen, der sich unter der Last der aufgetragenen Köstlichkeiten zu biegen scheint. Ob das wohl gut geht? Wenn tat9 Dieser Text wurde als Abschlusslesung auf dem Psychotherapeutentag von Gerlinde Unverzagt vorgetragen. Er stammt aus ihrem Buch »Patchwork. Familienform mit Zukunft« (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2002) und wird hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin publiziert.

© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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sächlich alle Gäste kommen, wird die Festgesellschaft beinahe 50 Köpfe zählen – große und kleine, alte und junge, vertraute neben bloß wiedererkannten Gesichtern. Einige sind schon am Abend zuvor eingetroffen. Alexandra erinnert sich an das laute Gelächter, in das die Runde ausbrach über dem vergeblichen Versuch herauszufinden, welches Kind denn nun wie mit wem verwandt ist. Es sind die Kinder, über die die Erwachsenen noch miteinander in Beziehung stehen, selbst wenn die Beziehungen, aus denen sie hervorgegangen sind, schon zerbrochen sind. Fünf kleine Kinder, sieben Jugendliche, vier Stiefväter und drei Stiefmütter, zwischen fünf und sieben Tanten, dazu eine nicht näher bestimmbare Zahl von Exehemännern, Exehefrauen und getrennt lebenden ehemaligen Lebensgefährten. Ein abartiger Fall oder eine ganz normale Familie? Sie fängt Vincents Blick auf; er wirkt niedergeschlagen. Alexandra weiß, dass das mit ihrem Nein zum Vincents Heiratsantrag zu tun hat. Es kam wie aus der Pistole geschossen. Warum auch? Seit das Ehegatten-Splitting vor gut fünfzehn Jahren endgültig abgeschafft wurde, macht das Ja-Wort mit staatlichem Siegel keinen finanziellen Sinn mehr. »Aber die Form«, hatte Vincent eingewandt, »das Versprechen ist mir wichtig.« Alexandra hatte den Kopf geschüttelt. Liebe funktioniert oder eben nicht. Weder die amtliche Bestätigung der Beziehung noch der kirchliche Segen haben damit etwas zu tun. Und überhaupt: Vater–Mutter–Kind, das hält selten ein ganzes Leben. Die guten Absichten aus den familiären Gründerzeiten nutzen sich schnell ab, wie die rasante Entwicklung der Scheidungsraten der letzten Jahrzehnte zeigt. Doch ebenso rasch wächst der Anteil derjenigen, die sich nach einer Trennung schleunigst auf die Suche nach einer neuen, glücklicheren Familie machen. Vor gut 30 Jahren, als Alexandra mit David ihren allerersten Familienreigen eröffnet hatte, hatten über die Hälfte der Geschiedenen und Getrennten innerhalb der ersten zwei Jahre nach dem Ende der ersten Familie eine zweite ins Leben gerufen: Heute, mit fünfzig Jahren, lebt Alexandra in ihrer dritten Familie, nach Partnern gerechnet, und in ihrer © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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vierten, wenn sie die Familie mitrechnet, in der sie aufgewachsen ist. Zwischen den Paarläufen hatten immer auch Jahre gelegen, in denen Alexandra mit ihren beiden Töchtern allein zusammenlebte, und das keineswegs im Wartestand, sondern mit allem, was eine richtige Familie ausmacht: das dicht verschränkte Geflecht aus Zuneigung, Verantwortungsgefühl, gemeinsamer Geschichte und alltäglichem Hindernislauf. Alexandra sieht das Familienleben eher nüchtern. Der Idee von der Lebensabschnittsfamilie kann sie viel abgewinnen. Es sind vor allem die Riesenansprüche, die selbst das machbare Familienglück verhindern, findet sie. Sicher, die große Sehnsucht nach Nähe und Zusammengehörigkeit durchzieht die Wünsche, die sich um die Familie ranken, wie ein roter Faden. Doch dass die real existierende Familie von solcher Gefühlsverklärung unendlich überfordert ist, müsste eigentlich doch auch Vincent klar sein. Sie verdächtigt ihren Lebensgefährten, die Familie insgeheim immer noch durch die rosarote Brille zu sehen – wider besseres Wissen. Auch Vincent hat einige gescheiterte Beziehungen hinter sich und sich über lange Jahre mit den finanziellen Ansprüchen zweier Exfrauen herumgeschlagen, die jede ein Kind aus der vorangegangenen Beziehung hatten, während er versucht hat, Alexandras Töchtern ein guter, väterlicher Freund zu sein. Ein eigenes Kind wollte er nicht – andererseits wäre ihm eine Frau allein auch nicht recht gewesen. »Die ausschließliche Paarbeziehung wird dann zu intensiv und eng.« So hatte er Alexandra erklärt, warum er sich eigentlich immer nur in eine Frau mit Kind verlieben könne. »Andererseits bin ich gern mit Kindern zusammen. Ein Kind macht die Sache erst rund.« Vielleicht siegt deshalb jetzt die Hoffnung über die Erfahrung. Alexandra legt unwillkürlich die Hand au ihren Bauch, der sich bereits merklich gerundet hat, und schiebt ihre Brille zurück. Man wird sehen. Heute ist nicht der Tag zum Grübeln, heute wird gefeiert. Nervös greift sie zum Handy, denn einige der Gäste, die sie heute erwartet, um ihren 50. Geburtstag zu feiern, lassen noch auf sich warten. Mit Spannung erwartet sie David, ihren Exmann, den sie zusammen mit Elke, seiner Le© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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bensgefährtin, und ihren gemeinsamen Söhnen Jan und Klas eingeladen hatte. Auch Sascha, Elkes Sohn aus erster Ehe, wird mit von der Partie sein. Sascha ist Architekt, und nach allem, was man so hört, stürmt er gerade die Karriereleiter hinauf. Er baut derzeit das Miroslav-Klose-Stadion aus, nachdem Berlin soeben den Zuschlag als Austragungsort der Olympiade 2024 erhalten hat – ein Umstand, der Alexandra mächtig interessiert. Schließlich hat sie selbst vor zwanzig Jahren mit dem britischen Star-Architekten Sir Norman Foster zusammengearbeitet. Hauptsache, David kneift nicht, denkt sie, aber immerhin – abgesagt hat er jedenfalls bisher nicht. »Euch alle wiederzusehen, das lass ich mir doch nicht entgehen!«, dröhnte seine Stimme jetzt fröhlich durchs Telefon. In einer halben Stunde wird er da sein. Besonders neugierig ist Alexandra auf seine beiden Jungs, die sie zuletzt vor 17 Jahren gesehen hat, Rotzbengel, die sich auf der Feier zum 95. Geburtstag ihrer Oma Emma total daneben benommen hatten – im Gegensatz zu ihren beiden kleinen Mädchen. Marlene und Olga hatten die ganze Verwandtschaft zu Begeisterungsstürmen hingerissen. Das hatte Alexandra mit beträchtlichem Stolz erfüllt, der ihr heute fast peinlich ist. Aber nach der Trennung von David, dem Vater ihrer Töchter, hatte es ihr einfach unendlich gut getan, dass ihre Töchter so bezaubernd wohlgeraten waren. Der ganzen Welt hatte sie es zeigen wollen: Zwei Kinder allein großziehen und auch noch als Architektin erfolgreich sein, ha! Schnee von gestern, denkt Alexandra und erwidert das Lächeln ihrer Mutter, die in der Hängematte zwischen Kirsche und Birne schaukelt. Christiane, braungebrannt, topfit und bester Dinge, hat zur Feier des Tages ihren Horst mitgebracht, ihre Jugendliebe, 70 Jahre alt wie sie, frisch verwitwet und jetzt wieder total verliebt in Christiane. Die beiden haben große Dinge vor. Gut möglich, dass sich die ganze Familie bald wieder zu einem rauschenden Fest versammelt. Christiane und Horst wollen nämlich heiraten. Doch dazu muss Christiane erst einmal die Scheidung von Dieter hinter sich bringen – das Einzige, was Dieter seit 20 Jahren noch von ihr will. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Seit 23 Jahren haben Dieter und Christiane ungeschieden getrennt gelebt, seit Jonathan, den sie damals alle den »kleinen Onkel« nannten, die Bühne betreten hat: der Sohn von Dieter und seiner Freundin Gabi, die im letzten Jahr ihren 50. Geburtstag feierte. Streng genommen wäre Gabi dann Alexandras Stiefmutter. Ein schrecklicher Gedanke, denn Alexandra mag Gabi nicht sonderlich. Zu schmerzlich sind ihr noch die Auseinandersetzungen ihrer Eltern in Erinnerung, als ihre Mutter vom Verhältnis ihres Mannes mit der 20 Jahre jüngeren Gabi erfuhr und ihrer Tochter schwerste Vorwürfe machte, weil die längst von Gabi wusste und ihrer Mutter den Seitensprung des Vaters verheimlichte. Dorothee, Alexandras 10 Jahre jüngere Schwester, ist damals deshalb so abgedreht – davon ist Alexandra überzeugt. Dorothees Flucht in den Buddhismus – oder, wie sie selbst sagen würde, die Suche nach ihrer wahren Bestimmung für ein buddhistisches Klosterleben – begann vor genau 23 Jahren. Heute hat Dorothee ihrem Vater längst verziehen, steht über den Dingen und hat für das Fest sogar ihr Heiligtum verlassen. Begleitet wird sie von einem kahl geschorenen, ganz in orange gewandeten Mann unbestimmbaren Alters, der nicht redet – wahrscheinlich ihr Hauptjünger in dem buddhistischen Tempel, den sie in La Palma aufgebaut hat, vermutet Vincent bissig. Der buddhistische Schwager sitzt friedlich unter dem Birnbaum und zimbelt sphärische Klänge in den Sommernachmittag, die man hin und wieder sogar gut hören kann, wenn die Gespräche stocken. Die kleine Nike hockt im Gras und lauscht ihm gebannt, weiter hinten toben die Drillinge von Konstanze und Philipp, der einmal Alexandras längste Liebe war. Wegen Philipp hatte sie damals David verlassen, aber nach drei Jahren Patchworking in der Stiefvaterfamilie hat Philipp das Handtuch geworfen. Er werde immer der Außenseiter bleiben in der Familie, hat er ihr damals vorgeworfen, weil zwischen sie und ihre Töchter kein Blatt passe. Überdies fühle er sich von der Stiefvaterrolle überfordert, weil er exakt dieselbe Position wie Puerto Rico im Bund der Vereinigten Staaten innehabe – ein Sitz, aber keine Stimme. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Für Marlene und Olga war Philipps Auszug ein harter Schlag; sie hatten ihn von Anfang an gemocht, hatten ihn sogar »Viellieb« genannt. Wehmütig erinnert sich Alexandra an diese Zeit, in der es zumindest anfänglich so schien, als sei ihre Familie jetzt wieder komplett. Dass sie ihre Töchter nicht freigegeben hat, für Philipp keinen Platz in der Familie geschaffen hat, ist ihr erst Jahre später klar geworden. Im Grunde hat sie ihn nur auf den Stuhl seines Vorgängers gesetzt – nach der Enttäuschung mit David wollte sie so schnell wie möglich einen neuen, besseren Papa für ihre Kinder haben. Fünf Jahre später dann ist Philipp Vater geworden. Er hat mit Konstanze, dieser albernen Tussi, und ebenso tatkräftigem wie beharrlichem reproduktionsmedizinischen Aufwand Drillinge in die Welt gesetzt. Etwas von dem alten Schmerz blitzt auf, als sie die drei zehnjährigen Mädchen im Gras herumtollen sieht. Streng genommen gehören Tic, Tac, Toe, wie sie im Familienjargon genannt werden, nicht zur Familie. Aber was ist hier schon streng? Den Familienbegriff muss man so weit fassen, wie er reicht. Familien waren schon immer vielgestaltige Gebilde. Gesetzgebung, Religion, wirtschaftliche Gegebenheiten und Tradition haben sie geformt und dominante Formen hervorgebracht, die dann als Ideal galten und beträchtliche Strahlkraft entwickelten: Die traditionelle Familienform der bürgerlichen Gesellschaft als auf Dauer angelegte, mit Trauschein und kirchlichem Segen versehene Lebensgemeinschaft von Vater, Mutter und Kind war auch in der Geschichte keineswegs der Normalfall von Familie. Selbst im Märchen war das nie so ganz einfach vor dem Happy End. Dornröschen musste 100 Jahre lang allein schlafen, bis der Prinz sie wach geküsst hat, und Schneewittchen hat mit ihrer Stiefmutter einen Kampf um Leben und Tod geführt. Noch dazu musste sie sieben alte Zwerge versorgen, bevor sie so weit war. Auch die heilige war keineswegs eine heile Familie, sondern eine Patchworkfamilie. Josef war der soziale Vater eines Sohnes, den er nicht gezeugt hat. Und er hat sich offensichtlich rührend um ihn gekümmert. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Unwiderruflich vorbei ist es mit dem einen, universalen Familienbild, nachdem eine Familie grundsätzlich aus einem männlichen Oberhaupt besteht, an dessen Seite ein weibliches Wesen mit zart ordnender Hand das gemütliche Heim für die Lieben besorgt, während der Haushaltsvorstand die Seinen ernährt, bis der Stammhalter das Ruder übernimmt. In ländlichen Gebieten, wo die außerehelichen Versuchungen eher eingeschränkt sind, und auch bei religiös gebundenen Menschen scheinen die Familienbande etwas tragfähiger geknüpft zu sein. Anders in Großstädten: Fast jede zweite Ehe geht in die Brüche, und dadurch zerbrechen auch viele Familien. Doch dass nur Elterntrümmer und Scheidungswaisen übrig bleiben, wenn Familien auseinandergehen, ist falsch, auch wenn die Neigung zur Wiederheirat seit Mitte der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts stetig zurückgeht. Die Hälfte aller Scheidungskinder wird zu Stiefkindern, weil ihr verbliebener Elternteil wieder heiratet, der überwiegende Teil der anderen Hälfte lebt mit dem nichtehelichen Partner der Mutter oder des Vaters zusammen. Auch dass wir erst jetzt in die Ära eintreten, in der Teil-, Rumpf-, Schrumpf-, Misch-, Halb- und Kleinstfamilien der sogenannten Normalfamilie den Rang ablaufen, ist einfach nicht wahr. Stieffamilien waren auch früher keineswegs selten. Jedoch verdankten sie ihre Entstehung in der Vergangenheit anderen Gründen. Patchwork war schon im Mittelalter ein durchaus gängiges Muster, nach dem Familien ihre Schicksale webten, und blieb es bis weit in die Neuzeit hinein. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert lebte rund jedes fünfte Kind nicht mit beiden leiblichen Eltern zusammen. Die weitaus höhere Wochenbettsterblichkeit der Mütter ließ viele Kinder zu Halbwaisen werden, zu deren Versorgung ein Witwer möglich bald eine Stiefmutter zu finden hatte. Kriege wiederum rissen in vielen Fällen die Väter aus den Familien, für die wiederum die Mutter schnellstmöglich Ersatz finden musste, wenn sie die Existenzgrundlage ihrer Familie sichern wollte. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten mit einem Viertel viel mehr Kinder die neue Partnerschaft eines Elternteils, als dies gegenwärtig der Fall ist. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Die hohe Zahl von Fortsetzungsfamilien heute hingegen resultiert weniger aus äußeren Umständen als vielmehr der eigenen Entscheidung, eine Beziehung zu lösen. Aber was heißt dann Familienbeziehungen? Das ist die Frage, die uns die Fortsetzungsfamilie von heute stellt. Die Antwort liegt jenseits aller Selbstverständlichkeit. »Es scheint ganz so, als ob die Fortsetzungsfamilie wie in einer Art begrenztem Experiment die ständig verdrängt Willkürlichkeit der normalen Familie ans Licht brächte.« Diese Bemerkung des französischen Soziologen Pierre Bourdieu lenkt den Blick von den Familienstrukturen auf die Veränderungen zwischen Partnern und Generationen, deren Beziehungen zueinander auszeichnet, dass sie sorgfältig gepflegt werden müssen, wenn sie halten sollen. Mit der Konzentration auf das Wesentliche schwindet die Unübersichtlichkeit in familiären Landschaften und die Verwirrung angesichts der Vielzahl der Akteure. Es ist schwieriger geworden, auf den Straßen und Wegen durch moderne Beziehungslandschaften die Verkehrsflüsse regulieren zu wollen, Tankstellen, Rastplätze und Reparaturwerkstätten an die richtigen Stellen zu setzen. Es ist aber aussichtslos, irgendwelche Familien auf Seitenstraßen umleiten oder ganz aus dem Verkehr ziehen zu wollen. Dabei bleiben selbst Kleinfamilien auf der Strecke, wenn sie sich der Illusion hingeben, für die Ewigkeit zu bauen. Alexandra und ihre Gäste an diesem Sommernachmittag – lässt sich das alles noch als Familie im herkömmlichen Sinn bezeichnen? Dass die Großfamilie alten Schlages der modernen Kleinfamilie gewichten ist – eine Binsenweisheit. Aber was sich da im Laufe eines Lebens zusammenfindet und wieder auseinanderdividiert, um sich dann ganz anders neu zu ordnen – das ist nicht mehr ohne Weiteres in den üblichen soziologischen Schubladen unterzubringen. Familien sind lebendige Gebilde, und Leben bedeutet für Gruppen wie für jeden Einzelnen, sich fortwährend aufzulösen und wieder neu zu bilden, Zustand und Form zu verändern, zu sterben und geboren zu werden. Es kommt natürlich darauf an, was man unter Familie versteht. Und auch da gehen die Meinungen auseinander. Doch jede © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Familie ist anders, jedes Jahr ihres Daseins verläuft anders, und in jedem Alter verhält man sich anders. Die Gesellschaft, die Anschauungen und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verändern sich, und die Menschen verändern sich mit ihnen. Das »goldene Zeitalter der Familienorganisation«, wie manche es in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ausgemacht haben wollen, hat es in dieser Form nie gegeben. Ob man Familie lässig fasst als »eine Gruppe von Menschen, die sich lieben und füreinander sorgen«, wie eine Studie der amerikanischen Yale University Ende der 1980er Jahre ebenso bündig wie unverbindlich ausrief, oder den Fall eher zynisch angeht wie ein Zeitgenosse, der lieber ungenannt bleiben möchte: Familie ist der einzige Ort, wo sie dich aufnehmen müssen, selbst wenn du nur widerwillig hingehst – ein heikles Thema. Stellt man wie die Soziologin Rosemarie Nave-Herz das Kind in den Mittelpunkt und fasst Familie als das soziale Netz auf, das ein Kind umfängt, so ist auch die allein erziehende Mutter mit ihrem Baby eine Familie – ebenso wie ihr männliches Pendant, der allein erziehende Vater, wenn er auch selten und dann meist nur vorübergehend als Familienform vorkommt. Aber auch die Oma, die einen Enkel großzieht, das homosexuelle Paar, das sich zur Adoption eines Kindes entschließt, die geschiedene Mutter mit zwei Kindern, die sich in den getrennt lebenden Vater dreier Kinder verliebt und mit ihm zusammen noch ein gemeinsames Kind bekommt, bilden eine Familie. Der Kinderreichtum früherer Generationen ist dahin, auch das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den Familien von damals und denen von heute. Zum einen beanspruchen Frauen ein eigenes Berufsleben, aber auch weil Kinder keine wirtschaftliche Altersvorsorge mehr darstellen, gibt es heute in den Familien kaum mehr als eins. Der ökonomische Nutzen von Kindern ist verschwunden, der emotionale hingegen beinahe überlebensgroß. Kinder stiften Sinn im Leben, doch dafür reicht oft ein einziges. Daneben wächst die Zahl der Single-Haushalte, kinderlosen Ehen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften – starke Tendenzen in der Bevölkerungsentwicklung, die sich fortsetzen werden. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Gerlinde Unverzagt

Wo allerdings die Familien kleiner werden, wird es die Sippschaft auch. Wer ohne Geschwister aufwächst, hat für das eigene Kind auch keine Onkel und Tanten parat, geschweige denn Cousins und Cousinen. Besser sieht es in der senkrechten Linie aus: Die Lebenserwartung steigt, und lebenslustige, gesunde Urgroßmütter werden keine große Seltenheit sein. Auf der waagrechten Linie ersetzen jedoch Wahlverwandtschaften die Großfamilienschar. Die wachsende Scheidungsfreude, die noch im letzten Jahrhundert die Familien unter argen Zerfallsverdacht stellte, bedeutet ja auch Vielfalt. Zudem nährt sie das Missverständnis, wonach die Auflösung einer Beziehung einem Unfall gleichkommt, als dessen Ursache grundsätzlich menschliches Versagen gilt und unter dessen Folgen die Beteiligten, allen voran die Kinder, schwer zu leiden haben. Doch wer sich trennt, will ja gerade etwas besser machen. Und erst recht, wer sich in eine neue Partnerschaft wagt, tritt mit der Hoffnung an, sein Leben zum Besseren hin zu verändern. Warum sollte denn das Leben in der Patchworkfamilie – gerade im Hinblick auf das befriedigende Heranwachsen der Kinder – schlechtere Chancen bergen als in der Familie mit beiden leiblichen Eltern? Allen Unkenrufen zum Trotz erfüllt die Familie ihren Sinn ziemlich gut, wenn sie sich auf das besinnt, worauf es ankommt: Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen. Die Bedürfnisse von Kindern ändern sich nicht mit der Form, die ihre Familie annimmt. Über die Zuträglichkeit der Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, sagt die Familienkonstellation allein noch gar nichts. Wer tut, als sei die Kleinfamilie zu viert die allein seligmachende Art, in der Kinder aufwachsen können, ignoriert die Tatsache, dass konventionelle Familien trotz Trauschein, regelmäßigem Einkommen und einer Mutter, die nur für die Kinder da ist, sich mitunter gemein und bösartig verhalten, ihre Kinder einengen, misshandeln, bevormunden und drangsalieren. Unglückliche Kinder können durchaus in vollständigen Familien heranwachsen, und zufriedene, starke Kinder kommen auch aus kaputten Familien. Wenn es den Kindern gelingt, sich mit wechselnden Familienformen zu arrangieren – und das heißt vor allem, dass es den © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Die Familie – ein Fest?!

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Eltern ein Herzensanliegen sein muss, sie dabei zu unterstützen – lernen sie Bindungen einzugehen und aufzugeben, mit Verlusten fertig zu werden, ohne deshalb scheitern zu müssen. Im ausgehenden 20. Jahrhundert war es Mode, die Familie totzusagen. Doch bis heute kennen wir keine menschliche soziale Basisinstitution von vergleichbarer Widerstandskraft und Wandlungsfreude.

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. Giselind Berg, Diplom-Soziologin, ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin (Forschungsschwerpunkte: Migration und Gesundheit, Gesundheitsforschung, Public Health/Gesundheitswissenschaften sowie Gen- und Reproduktionstechniken) an der Berlin School of Public Health, Charité-Universitätsmedizin Berlin. Prof. Dr. med. Margarete Berger ist emeritierte Direktorin der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, Psychoanalytikerin in freier Praxis, Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin am Michael-Balint-Institut. Gisela Borgmann-Schäfer, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ist in eigener Praxis (Psychotherapie, Supervision, Aus-, Fort- und Weiterbildung) in Bodenheim tätig. Uta Cramer-Düncher, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Mitglied des Vorstands der Psychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP), Gesprächs- und Verhaltenstherapeutin, ist in freier Praxis in Frankfurt am Main tätig. Renate Frank ist promovierte Psychologin und Psychotherapeutin. Sie leitet die verhaltenstherapeutische Ambulanz der Universität Gießen. Jürgen Hardt, Diplom-Psychologe, Lehranalytiker, Supervisor und Organisationsberater, Präsident der Psychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP), ist in psychotherapeutischer, psychoanalytischer Praxis in Wetzlar tätig. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Die Autorinnen und Autoren

Dr. med. Christiane Hornstein ist als Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden, Wiesloch, tätig. Dr. Josef Könning ist als Psychologischer Psychotherapeut in Osnabrück tätig. Er leitet die dortige Akademie für Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie GmbH. Alfred Krieger, Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Psychoanalytiker, ist in einer Erziehungsberatungsstelle in Frankfurt-Höchst tätig. Dr. phil. Albert Lenz, Familientherapeut, ist Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Paderborn, Fachbereich Sozialwesen. Prof. Dr. phil. Fritz Mattejat, Diplom-Psychologe, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist Leitender Psychologe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Marburg und Ausbildungsleiter des Instituts für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin an der Universität Marburg e. V. Thomas Merz, Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut, ist seit 25 Jahren in einer Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle und in eigener Praxis tätig. Weiterbildungen in Systemischer Familientherapie, Gesprächspsychotherapie und körperorientierter Musiktherapie. Er ist Mitglied des Vorstandes der Landespsychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP). Dr. Ulrich A. Müller ist als analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut in eigener Praxis in Fulda niedergelassen, Dozent und Supervisor am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie in Kassel sowie Vorsitzender des Kasseler Forums für Psychoanalyse und Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP). © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

Die Autorinnen und Autoren

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Dr. sc. hum. Matthias Ochs, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Wissenschaftlicher Referent der Psychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP), ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universitätsklinik Heidelberg. Margot Rädecke, Diplom-Sozialarbeiterin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (KJP), ist in eigener Praxis in Wiesbaden tätig. Prof. Dr. Norbert F. Schneider ist Leiter der Abteilung »Soziologie der Familie und der privaten Lebensführung« im Institut für Soziologie an der Universität Mainz. Prof. Dr. rer. soc. Jochen Schweitzer, Diplom-Psychologe, leitet die Sektion Medizinische Organisationspsychologie im Zentrum für Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg. Er ist lehrender Supervisor und Lehrtherapeut für Systemische Therapie am Helm Stierlin Institut. Marion Schwarz, Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Psychologische Psychotherapeutin, ist in eigener Praxis in Bad Schwalbach tätig. Sie ist Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (bkj) und Mitglied des Vorstandes der Landespsychotherapeutenkammer Hessen (LPPKJP). Prof. Dr. Reinhard Sieder ist Außerordentlicher Universitätsprofessor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Dr. lic. psic. Patricia Trautmann-Villalba ist als Ärztin am Psychiatrischen Zentrum Nordbaden in Wiesloch tätig. Gerlinde Unverzagt ist Autorin und Journalistin und lebt in Berlin. © 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40328-0 — ISBN E-Book: 978-3-647-40328-1

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Die Autorinnen und Autoren

PD Dr. Haci-Halil Uslucan ist Vertretungsprofessor für Pädagogische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg sowie Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. Hans-Jürgen Wirth, Psychoanalytiker und Psychologischer Psychotherapeut, ist außerplanmäßiger Professor für das Fachgebiet »Psychoanalyse mit dem besonderen Schwerpunkt der Prävention, Psychotherapie und psychoanalytischen Sozialpsychologie« an der Universität Bremen. Er ist Verleger des Psychosozial-Verlages.

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