Die Heilungskräfte des starken Wanja: Kinder- und Jugendliteratur in der Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen 9783666402029, 9783525402023

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Die Heilungskräfte des starken Wanja: Kinder- und Jugendliteratur in der Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen
 9783666402029, 9783525402023

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Fr Mascha

Barbara Brutigam

Die Heilungskrfte des starken Wanja Kinder- und Jugendliteratur in der Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40202-3

 2009, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gçttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages çffentlich zugnglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlagabbildung: Illustration von Herbert Holzing aus: Otfried Preußler, Die Abenteuer des starken Wanja  1983 by Thienemann Verlag (Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart u. Wien. Satz: www.composingandprint.de Druck & Bindung: l Hubert & Co, Gçttingen Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier.

»Diese ganze Schreiberei – Bleistifte und was nicht alles – wird berbewertet. Alles Unfug. Steckt doch nichts dahinter« (A. A. Milne, Pu der Br und I-Ah).

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Literatur und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Bibliotherapeutische Anstze . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Bibliotherapie bei Kindern und Jugendlichen . . .

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2 Wozu lesen? Literarische Sozialisation und das Medium Kinder- und Jugendliteratur . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der Prozess des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Literarische Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das Medium Kinder- und Jugendliteratur . . . . . .

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3 Die Bedeutung von Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit in der beratenden und therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen 3.1 Identifikation mit literarischen Vorbildern . . . . . 3.2 Harry Potter als Beispiel einer Identifikationsfigur fr Kinder und Jugendliche im Kontext von Therapie und Beratung . . . . . . . . 4 Die Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in der therapeutischen Praxis: Untersuchungsdesign . . . 5 Die ausgewhlten Bcher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Vernderungen brauchen ihre Zeit – »Die Abenteuer des starken Wanja« von Otfried Preußler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8

Inhalt

5.2

Das Nebeneinander von Fakten und Gefhlen – »Das Wildpferd unterm Kachelofen« von Christoph Hein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Skurrile abgrndige Gestalten – »Geschichten aus dem Mumintal« von Tove Jansson . . . . . . . . . 5.4 Die Erschaffung eines inneren Gefhrten – »Das Tier in der Nacht« von Uri Orlev . . . . . . . . . . . . . 5.5 Auf der Suche nach sich selbst – »Konrad aus der Konservenbchse« von Christine Nçstlinger . 5.6 Die Geschichte einer innigen Vater-TochterBeziehung – »Ronja Rubertochter« von Astrid Lindgren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Nicht von dieser Welt – »Marsmdchen« von Tamara Bach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Der Kampf mit den verschiedenen Autoritten – »Harry Potter und der Orden des Phçnix« von Joanne K. Rowling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Zwischen Angst und Hass – »Der mechanische Prinz« von Andreas Steinhçfel . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 berlebensstrategien Zwçlfjhriger – »About a Boy« von Nick Hornby . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 Die Auswertung der Experteninterviews . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Auswertung zum Zeitpunkt T 1 . . . . . . . . . . . 6.2 Die Auswertung zum Zeitpunkt T 2 . . . . . . . . . . .

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7 Die Arbeit mit den Bchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Der starke Wanja als stiller Begleiter . . . . . . . . . . 7.2 Schwer auszuhalten: Das unsichtbare Kind . . . . . 7.3 Eine Brcke zu den Alptrumen: Das Tier in der Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Entlastung durch Komik: Konrad aus der Konservenbchse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Ronja Rubertochter als hilfreiche Gefhrtin . . . 7.6 Auf der Suche nach der sexuellen Identitt: Marsmdchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 »So’n Scheiß les’ ich nicht«: Harry Potter und der Orden des Phçnix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

7.8 7.9

Der mechanische Prinz: »Ne Nummer zu hart?« »Das Gefhl, ihm was gegeben zu haben …«: About a Boy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Primrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundrliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Als ich klein war, bin ich mit »Captain Conny und den Seeteufeln« auf Abenteuer in der Schley gesegelt. Als ich etwas grçßer wurde, bin ich mit zwei Lehrlingen aus Mlheim/Ruhr in zwei Jahren um die Welt geradelt. Als ich kleine Kinder hatte, bin ich mit ihnen und Max dorthin gesegelt »wo die wilden Kerle wohnen«. Noch heute profitiere ich von Astrid Lindgrens Kinderbchern, wenn ich mit dem Spruch »Richard msste Haue haben« aus »Madita« andere fr eigene Fehler verantwortlich machen will oder mich wie Carlson vom Dach als einen »gerade richtig dicken Mann in seinen allerbesten Jahren« sehen mçchte. Kinderbcher sind ein – leider schichtspezifisch sehr unterschiedlich zugnglicher – wichtiger Teil deutschsprachiger Kindheiten. Mir scheint, sie sind in den letzten zwanzig Jahren auch deutlich besser geworden als die Abenteuer-, Helden- und Schelmenromane meiner eigenen Kindheit um 1960. Barbara Brutigam hat sich der Kinderbcher wissenschaftlich angenommen, ber sie sogar an einer deutschen Universitt habilitiert. Und zwar mit der Frage, was die Kinder- und Jugendlichentherapie von ihnen haben kann. Vier Monate lang hat sie sich durch 100 gute Kinder- und Jugendbcher Bcher hindurchgelesen, die besten 10 ausgesucht, und dann 16 Psychotherapeut/innen gebeten, mit diesen 10 Bchern mit ihren jungen Klientinnen meist vorlesend zu experimentieren. Was dabei herausgekommen ist, beschreibt sie in diesem Buch. Die letzten Seiten des Buches kçnnen sehr gut als kurzgefasster Leitfaden zur psychotherapeutischen Nutzung von Kinder- und Jugendliteratur genutzt werden. Dies Buch kann aber auch mit Spaß lesen, wer

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Vorwort

sich »nur« einen berblick ber gute, »strkende« Kinderliteratur verschaffen will – das Buch ist trotz seiner wissenschaftlichen Ambition streckenweise auch literarisch schçn. Vielleicht ermuntert dieses Buch Sie, liebe Leserin oder lieber Leser, dazu, Ihre eigenen Kinderbcher mal wieder vom Regal auf dem Speicher herunterzuholen? Jochen Schweitzer

Einleitung

Mitternachtspartys sind eine feine Sache. Es gibt gute Dinge zu essen, die Teilnahme von Erwachsenen ist untersagt, die Sache verboten, aber nicht gefhrlich. Ich habe eine genaue Vorstellung von den im Mondschein um den Swimmingpool des Mdcheninternats aufgebauten Erfrischungen und Leckereien. Real habe ich nie an einer Mitternachtsparty teilgenommen; und dennoch sind die Erinnerungen an diese imaginierten Bilder, die aus meiner Lektre von Enid Blytons »Hanni und Nanni« (1941, dt. 1965) stammen, sehr lebendig, bunt und detailgenau. Die Bilder von Mitternachtspartys, riskanten Abenteuern, schweren Prfungen, liebenden und unglcklichen Helden bilden einen alternativen Erinnerungsschatz, der allein durch seine Existenz auf eine Tatsache hinweist, die in der beratenden und therapeutischen Arbeit mit psychisch beeintrchtigten und verhaltensaufflligen Kindern und Jugendlichen hohe Relevanz hat: Es gibt neben der realen Welt noch eine zweite, innere Welt, die die Erkenntnis erçffnen kann, dass Vernderung mçglich ist, und die Potentiale und Visionen bereithlt. Zu kindlichen Ressourcen zhlen Malen, Spielen, Rollenspiele, Phantasien und andere Symbolisierungsformen. Im beraterischtherapeutischen Kontext treffen wir oft auf Kinder und Jugendliche, die reich an belastenden realen Lebenserfahrungen und arm an innerer Vorstellungskraft sind, dass sich Dinge verndern kçnnen. Katz-Bernstein (2004) zufolge gibt es eine zunehmende Anzahl von Kindern, die kaum noch spielen, das heißt zwischen Fiktivem und Realem unterscheiden kçnnen, sondern zunehmend im Konkreten verharren, ein nicht unbetrchtlicher Teil

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Einleitung

von Kindern und Jugendlichen ist weniger denn je in der Lage, psychische Probleme zu symbolisieren (vgl. Seiffge-Krenke, 2007). Bei diesen Kindern und Jugendlichen muss sich der therapeutische Fokus auf die zu entwickelnde Fhigkeit richten, sich in inneren Wahrnehmungs- und Imaginationsrumen zu bewegen, um sich eine Vernderung ihrer gegenwrtigen Situation berhaupt vorstellen zu kçnnen. Wie diese Rume entstehen lassen? Seiffge-Krenke (2004, 2007) und Retzlaff (2008) erwhnen den Nutzen von Geschichten in der Psychotherapie; Seiffge-Krenke misst beispielsweise dem Vorlesen im therapeutischen Setting eine besondere Bedeutung zu, da auf diese Weise ein geschtzter bergangsraum kreiiert werden kçnne, in dem sich Phantasien entwickeln und produktiv genutzt werden kçnnten. In den Beratungs- und Therapierumen von Kindertherapeuten und dominieren allerdings nach wie vor die »Mut-Mach-Bcher«, direktiv anleitende Bilderbcher zum Umgang mit der eigenen Wut und Trauer, oder auch die sogenannten Aufklrungsbcher zum »Nein-Sagen«, wenn sexueller Missbrauch droht oder schon eingetreten ist. Diese Bcher, vor denen sich Literaturliebhaber in der Regel gruseln, haben im Beratungs- und Therapiesetting durchaus ihre Berechtigung, da viele Kinder und Jugendliche durch die im Beratungsprozess vermittelten Medien erstmals feststellen, dass sie nicht allein mit berwltigenden Gefhlen oder Problemen konfrontiert sind, sondern diese Erfahrung durchaus mit anderen teilen. Aber diese Bcher tragen nur in geringem Masse dazu bei, die Phantasie anzuregen, die Symbolisierungsfhigkeit zu fçrdern und die Fhigkeit zu strken, Vernderungen imaginieren zu kçnnen, bevor sie denn real eintreten. In diesem Buch stelle ich die Hypothese auf, dass nicht zu therapeutischen Zwecken geschriebene Kinder- und Jugendliteratur im beraterisch-therapeutischen Kontext ein bislang nahezu ungenutztes Medium ist und ein brachliegendes Potential darstellt. Die Arbeit mit diesem Medium bietet die Mçglichkeit, komplexe und mehrdeutige Geschichten zu vermitteln, die durch ihr identifikatorisches und projektives Potential zur kognitiven Perspektiverweiterung beitragen und somit den Glauben an die

Einleitung

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Vernderungsmçglichkeit unertrglicher psychischer und sozialer Umstnde strken, sowie die Fhigkeit zur Symbolisierung fçrdern und emotionale Prozesse anregen kçnnen. Bislang existiert zwar eine Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zur Verwendung von Mrchen oder therapeutischen Geschichten in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie (vgl. z. B. SeiffgeKrenke, 2004; Signer-Fischer, 2004; Jeon, 1992; Kast, 1982; Bettelheim, 1977); meines Wissens gibt es jedoch mit Ausnahme der Arbeiten zu Mrchen keine empirische Untersuchung, die den Nutzen der Einbeziehung von Kinder- und Jugendliteratur, die nicht speziell zu therapeutischen Zwecken geschrieben wurde, berprft. Kinder und Jugendliche brauchen neben Zuneigung, Frsorge und aufgezeigten Grenzen Bewegung fr ihren Kçrper, Herausforderungen fr ihren Geist und fiktive Geschichten zur Ausbildung ihrer Phantasie und Empathiefhigkeit. Woher sie diese Geschichten beziehen – ob aus dem Fernsehen, aus Bchern oder mndlichen Erzhlungen –, ist zunchst zweitrangig. Dieses Buch konzentriert sich nicht auf die Einfhrung des Lesens literarischer Texte in den beraterisch-therapeutischen Kontext. Das Lesen von Bchern stellt im beraterisch-therapeutischen Kontext weder die einzige noch per se die beste Gelegenheit dar, sich Geschichten anzueignen, da es immer mit intellektueller und potenziell berfordernder intellektueller Anstrengung verbunden ist. In der beraterisch-therapeutischen Beziehung aber – so die Hypothese dieses Buches – kçnnen gerade durch die multimodale Vermittlung (Erzhlen, Vorlesen, Selberlesen) von Kinder- und Jugendbchern die Kreativitt und Phantasie angeregt sowie emotionale Prozesse dynamisiert werden, die wesentlich zur zum Heilungsprozess und zur Entwicklungsfçrderung beitragen kçnnen (vgl. auch Kallenbach, 2003). Der empirische Teil konzentriert sich auf die Frage nach der Anwendbarkeit kinder- und jugendliterarischer Texte in der beratenden und psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus der Sicht von Behandler/innen. Diese Fragestellung wird anhand von Experteninterviews mit Therapeuten und Therapeuten, die mit unterschiedlichem theoretischem bzw. schulenspezifischem Hintergrund und in verschiedenen bera-

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Einleitung

tenden und therapeutischen Settings ttig sind, bearbeitet. Aus diesem Grunde wird auch immer – nur in Ausnahmefllen wird aus stilistischen Grnden darauf verzichtet – vom beraterischtherapeutischen Kontext die Rede sein. Die Begriffe »Patient/ Patientin« und »Klient/Klientin« werden im Folgenden weitgehend synonym verwendet, da die von mir befragten Experten und Experten in Abhngigkeit von dem institutionellen Kontext, in dem sie arbeiten, den einen oder anderen Begriff gebrauchen. Weiterhin werde ich aus Grnden der Lesbarkeit im folgenden Text in der Regel die mnnliche Form fr beide Geschlechter verwenden. Dieses Buch stellt eine im Wesentlichen gekrzte und an wenigen Stellen erweiterte Version meiner 2007 fertiggestellten Habilitationsschrift dar, die vor allem beabsichtigt, einen Einblick in die verschiedenen Mçglichkeiten zu geben, Kinderund Jugendliteratur im therapeutischen oder beraterischen Setting mit Kindern und Jugendlichen nutzbringend einzusetzen.

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Literatur und Psychotherapie

»›Der alte Balzac ist ein Zauberer, weißt du? Er hat seine unsichtbare Hand auf den Kopf der Kleinen gelegt; sie war wie verwandelt; es hat eine ganze Weile gedauert, bis sie in die Wirklichkeit zurckgekehrt ist. Ja, sie ist sogar in deine verdammte Jacke geschlpft – sie steht ihr im brigen gar nicht schlecht – und hat gesagt, die Berhrung von Balzacs Worten auf ihrer Haut bringe ihr Glck und Klugheit. Verstehst du jetzt was ich meine?‹« (Dai Sijie, »Balzac und die kleine chinesische Schneiderin«, S. 68).

Die Annahme, dass Literatur heilsame seelische Prozesse auslçsen kann, hat ihre Wurzeln im knstlerisch-literarischen wie auch im psychotherapeutischen Bereich. Oft geht die Suche nach psychotherapeutischer Untersttzung mit der Suche nach Sinn und den Bewltigungsversuchen existenzieller Krisen einher. Gleichzeitig wird der besondere Wert der Literatur von der Poesie- und Bibliotherapie vor allem darin gesehen, dass große Literatur in sich Elemente birgt, die den Grundkonflikten des Menschen entsprechen, und sie zudem menschliche Erfahrungen auf einzigartige Weise in Sprache zu fassen vermag. Literatur lsst die Welt weniger eng und festgelegt erscheinen, sondern rckt ihre Empfnglichkeit fr Neuschçpfungen und außergewçhnliche Wege in den Vordergrund (vgl. Epston u. White, 1989). »Nach Frisch haben wir alle ein Verlangen nach Geschichten, weil wir darauf angewiesen sind, Erfahrungen und Erlebnisse in Geschichten abzubilden. Erfahrung, die sich nicht abbildet, ist kaum auszuhalten« (Seifert, 1985, S. 299).

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Literatur und Psychotherapie

Das Erzhlen von Metaphern und Geschichten ist eine der ltesten Kulturtechniken, Gedanken und historische sowie persçnliche Ereignisse auf indirekte, verdichtete, aber um so wirkungsvollere Art zu vermitteln – man denke an die Schriften smtlicher Weltreligionen, die auf mndlicher berlieferung beruhen. Das Fabulieren, Hçren, Sehen und Lesen von Geschichten aktiviert darber hinaus die Empathie- und Imaginationsfhigkeit und die Ausbildung bzw. Differenzierung von Emotionen; diese Handlungen bringen nicht nur Fhigkeiten zum Vorschein, sondern tragen auch wesentlich dazu bei, diese zu entwickeln (vgl. Ulich u. Ulich, 1994). Historisch reicht die angenommene therapeutische Wirkung von Literatur bis in die Antike zurck; bereits Aristoteles sprach von dem kathartischen Effekt der Tragçdie auf den Leser und auf das Publikum. Man durchlebe mit den Protagonisten bestimmte Gemtszustnde, kçnne diese so berwinden und hinter sich lassen. In den USA setzten Therapeuten bereits seit dem 19. Jahrhundert ausgewhlte Literatur zur Behandlung psychisch Kranker ein. Man ging davon aus, dass durch die Rezeption hochwertiger belletristischer Literatur bei den Lesern Emotionen evoziert wrden und sie an den Bewltigungs- und Verarbeitungsprozessen des Dichters partizipieren kçnnten (vgl. Petzold u. Orth, 1985; Leedy, 1985). Die Unterscheidung zwischen Trivialliteratur und so genannter hochwertiger Literatur im Hinblick auf die Leserpsychologie wird allerdings zunehmend angezweifelt (vgl. z. B. Groeben u. Vorderer, 1988) und wird im Rahmen dieses Buches mçglichst vermieden. Das Lesen von Bchern bzw. die Rezeption literarischer Texte kann eine starke Wirkung auf das Individum haben, zum Beispiel in dem Sinne, dass bereits angestoßene, noch diffuse emotionale Prozesse durch die Lektre versprachlicht, kognitiv erfasst und mçglicherweise besser verkraftet werden kçnnen: »Wenn wir gern lesen, erhalten wir durch Bcher eine unvergleichliche Bereicherung unseres Lebens. Manche Bcher erhellen drngende Probleme, andere erçffnen neue Perspektiven zur Welt oder zum Menschen im allgemeinen und, was das wichtigste ist, zu uns selbst … Der Zufall wollte es, daß das Kennenlernen dieser Bcher in bestimmten Augenblicken

1 Literatur und Psychotherapie

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meines Lebens Eigenschaften einer Offenbarung erhielt – einer neuen Sicht, die dazu beitrug, in meiner inneren Welt Ordnung zu schaffen, wo zuvor große Ungewißheit und Verwirrung, wenn nicht gar Chaos geherrscht hatte« (Bettelheim, 1990, S. 109).

Die Literatur wird durch den Prozess der Symbolisierung, das heißt indem der Leser sich in der Literatur reprsentiert findet, zu einem Teil der Erfahrungswelt des Individuums (vgl. Rubin, 1985). Die gestaltete Sprache kann als Medium genutzt werden, um einen Zugang zu sich selbst und zu anderen Menschen zu finden, Lebenszusammenhnge zu erkennen und so die persçnliche Entwicklung zu fçrdern (Peseschkian u. Peseschkian, 2004; Rattner u. Danzer, 1993; Petzold u. Orth, 1985). Dem britischen Dichter Ted Hughes – Ehemann von Sylvia Plath – zufolge sollte der Dichter als Vermittler zwischen einer inneren und einer ußeren Welt fungieren; die Literatur habe durch die Beflgelung der Phantasie und der Vorstellungskraft eine besonderen Zugriff auf beide Welten und kçnne durch ihre integrative Kraft den inneren Heilungsprozess befçrdern (vgl. Kazzer, 1999). Die Beschftigung mit schçner Literatur trgt darber hinaus zur Entwicklung emotionaler Sozialisation bei und fçrdert die Wahrnehmung affektiver Prozesse – bei sich selbst und auch bei anderen; dieses wurde bereits in der therapeutischen Verwendung von Mythen diskutiert, die insbesondere auf die Arbeit von C. G. Jung zurckgeht (vgl. Diekmann, 1985). Dabei nehmen mythologische Erzhlungen eine regulierende und stabilisierende Funktion ein, da sie zum einen archaische Affekte thematisieren und zum anderen die soziale Welt abbilden, in der diesen Affekten ein Platz zugewiesen wird und diese somit kontrollierbarer erscheinen (vgl. Lange, 2001). Insgesamt verbindet Literatur und Psychotherapie die Thematisierung und Behandlung elementarer Gefhle und Konflikte; das Lesen literarischer Werke fçrdert den in der Psychotherapie angestrebten Prozess der Selbsterkenntnis durch die Widerspiegelung eigener Emotionen und Lebensthemen in denen der Protagonisten.

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Literatur und Psychotherapie

1.1 Bibliotherapeutische Anstze Den Begriff der Bibliotherapie prgte Samuel Crothers 1916 (vgl. Mc Carty Hynes, 1996). Forrest (1998) empfiehlt in einem Review zur bibliotherapeutischen Forschung zwei Definitionen der Bibliotherapie: »[…] ›bibliotherapy‹ is defined as ›the reading of books for treatment of mental disorders or for mental health‹. […] ›The therapeutic use of literature with guidance or intervention from a therapist‹« (S. 157).

Bibliotherapie kçnne bei der richtigen Geschichte zum richtigen Moment eine emotionale Katharsis auslçsen, bei der Lçsung von Alltagsproblemen helfen, die Beziehungsfhigkeit verbessern und Informationen ber andere soziale Gruppen geben (vgl. Doll u. Doll, 1997). Im angelschsischen Sprachraum ist die Methode der Bibliotherapie seit langem und weit verbreitet (vgl. Shrodes, 1949, Blanton, 1960, Hynes u. Wedl, 1990). Wolf (1989) vermerkt im Ausblick ihrer empirischen Arbeit zur Wirksamkeit der Bibliotherapie, dass diese Methode in den USA, England und Skandinavien oft als therapiebegleitende Maßnahme eingesetzt werde, um die Effektivitt der Therapie zu erhçhen; zum Teil werde sie sogar aus Grnden der Kostenersparnis als alleinige Methode eingesetzt, was mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht als positiv zu bewerten ist, da die Effektivitt von Bibliotherapie nach wie vor umstritten ist (Merten, 2002). Besonders kritisiert werden eine unspezifische, indikationslose Anwendung sowie die Durchfhrung von Bibliotherapie durch nicht hinreichend qualifizierte Personen. Doll und Doll (1997) weisen darauf hin, dass Studien, in denen Bibliotherapie als alleinige therapeutische Methode eingesetzt wurde, bestenfalls kurzfristig gute Ergebnisse beschrieben; Bibliotherapie sei demzufolge nur als Teilstrategie zu empfehlen. Forrest (1998) konstatiert, dass Bibliotherapie keine evidenzbasierte Methode sei und nur wenig systematische Untersuchungen ber ihre Wirksamkeit vorlgen; Bibliotherapie sei eher fr die Prvention zum Erhalt geistiger und seelischer Gesundheit oder aber als Teilstrategie anderer klinischer Behandlungen empfohlen. Die Wirksamkeit der Bi-

Bibliotherapie bei Kindern und Jugendlichen

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bliotherapie im Hinblick auf emotionales und kçrperliches Befinden sowie auf kognitive Variablen berprften Wolf (1989) und Merkle (1989) in einer empirisch angelegten Studie. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Bibliotherapie eine kognitive Einstellungsnderung und eine generelle persçnliche Weiterentwicklung untersttze, zur konkreten Modifizierung des Selbstkonzeptes und zur Verbesserung der Partnerbeziehung hingegen nicht wesentlich beitrage. Zusammenfassend ist zu bilanzieren, dass bibliotherapeutische Methoden im klinischen Kontext bislang bei sehr unterschiedlichen Patientengruppen eingesetzt und sowohl zur Prvention als auch in der Psychotherapie genutzt werden. Aktuelle Forschungserkenntnisse weisen daraufhin, dass Bibliotherapie nur als sorgfltig eingebettete Teilstrategie im Gesamtbehandlungsplan eingesetzt werden sollte und durch die Fçrderung der individuellen Persçnlichkeitsentwicklung auf indirekte Weise den Krankheitsverlauf gnstig beeinflussen kann.

1.2 Bibliotherapie bei Kindern und Jugendlichen Literarische Angebote spiegeln kindliche Gefhlslagen wider und regen den Symbolisierungsprozess als wichtige Voraussetzung fr das Selbst- und Fremdverstehen an. Gerade dort, wo sich Unterschiede zwischen der literarischen und außerliterarischen Welt auftun, entstehen Irritationen, die dabei helfen, kognitive und emotionale Prozesse in Gang zu setzen (vgl. Steitz-Kallenbach, 2003). Kinderliteratur thematisiert Zusammenhnge der Wirklichkeit, vermittelt unterschiedliche Schemata der Realittswahrnehmung und der Emotionen. Indem Kinder lesen, eignen sie sich auch unterschiedliche Wirklichkeitsdefinitionen an und bilden ihre Identitt aus. Sie erhalten so die Mçglichkeit, sich an fremden Lebenswelten emotional zu beteiligen und eigene Gefhle und Gedanken in fremden Geschichten gespiegelt zu sehen. Die Beschftigung mit Geschichten ermçglicht beispielsweise nicht nur eine emotionale Beteiligung, sondern auch eine kognitive Distanzierung von einer als belastend erlebten Realitt.

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Literatur und Psychotherapie

Insbesondere die Verwendung von Mrchen als therapeutischem Mittel in der Arbeit mit Erwachsenen und bei der Entwicklungsfçrderung von Kindern ist bereits vielfach erforscht worden (vgl. z. B. Kast, 1988; Wragge-Lange, 2003). Mrchen kçnnen frhe literarische Ereignisse darstellen, die Kindern Trost- und Identifikationsmçglichkeiten bieten, sie beim Erwerb emotionaler Schemata untersttzen (vgl. Wardetzky, 1992) und somit zur Verarbeitung innerer Konflikte beitragen kçnnen. Dabei reprsentieren nach tiefenpsychologischem Verstndnis die Figuren des Mrchens Teilaspekte des Individuums, die mit der Ich-Funktion entweder in Harmonie oder Konflikt stehen. Wirl (1999) weist auf die Wirksamkeit von Mrchen und individuell erfundener bzw. auf das jeweilige Kind zugeschnittener Geschichten in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie hin. Insbesondere die Parallelen zwischen den in Mrchen beschriebenen klassischen Heldenreisen, bei denen der Held bzw. die Heldin gefhrliche Prfungen bestehen muss und dann »gelutert« in eine vernderte Realitt zurckkehrt, und den zu bewltigenden Entwicklungsaufgaben des Klienten kçnnten im therapeutischen Prozess genutzt werden. Darber hinaus erachtet Wirl (1999) die in den Mrchen verwendete symbolhafte Sprache als wirkungsvoll, da sie als Brcke zwischen dem unbewußten und bewußten Vorgngen fungieren kann. In der psychologischen Beratung kann die Verwendung von Bilderwelten, modernen Mythen und Metaphern dazu genutzt werden, an die Erlebniswelt der Klient/innen anzuknpfen und entsprechende Reifungsschritte anzustoßen. Nach Bçgle (2004) sollten sich die Berater und Therapeuten in den aktuellen Bilderwelten von Kindern auskennen, um an diese im therapeutischen Prozeß anknpfen zu kçnnen und so leichter eine gemeinsame Sprache mit den kindlichen Klienten herzustellen. Berater und Therapeuten mssen zur Kenntnis nehmen, dass Kinder und Jugendliche ber sehr individuelle Interessen und Vorlieben verfgen und dass sie sich fr die jeweilige Lebenswelt inklusive der Mediennutzung aktiv interessieren mssen, um einen Zugang zu ihren Klient/innen herzustellen. Becker und Lehmkuhl (2005) weisen daraufhin, dass bei der Anamneseerhebung im klinischen bzw. beraterischen Kontext auch Fragen zu

Bibliotherapie bei Kindern und Jugendlichen

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Medien- und Internetnutzung gestellt werden sollten. Auch Systemtherapeuten greifen in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen immer çfter auf Fantasybcher und Comics zurck und verwenden diese, um ber bestimmte Themen wie Liebe, Sexualitt etc. besser ins Gesprch zu kommen (vgl. z. B. Nemetschek, 2006; Retzlaff, 2008). Ein Vorteil bei der Verwendung von Bchern bzw. Medien im beratenden Kontext liegt generell in der indirekten, Distanz ermçglichenden und somit potenziell entngstigenden Vorgehensweise. Die Auseinandersetzung mit fiktiven Helden ist tendenziell leichter als die mit realen Personen inklusive Therapeuten. Bei der Verwendung solcher Medien ist nach Charlton und Neumann (1990) differentialdiagnostisch darauf zu achten, ob die Beschftigung mit literarischen Texten Ausweichmançver und Realittsflucht darstellt oder aber als erster Schritt bei der Annherung an eine mçglicherweise schmerzhafte Realitt zu werten ist. Sie weisen darauf hin, dass sich Kinder potenziell ber die Identifikation mit einem Protagonisten mit schwierigen Themen bzw. Konflikte spielerischer und zugleich angstfreier auseinandersetzen kçnnen. Bibliotherapie ist auch bei Kindern und Jugendlichen immer nur als ein Baustein im Gesamtbehandlungsplan einzuordnen. Wie bei jeder Form von Therapie gilt es auch hier, Indikationskriterien und Begrenzungen aufzuzeigen sowie Settingfragen zu klren. Bei der Verwendung bibliotherapeutischer Methoden in der Kindertherapie muss nach Doll und Doll (1997) darauf geachtet werden, in welchem Alter und Entwicklungsstadium die Kinder in der Lage sind, Perspektiven von anderen einzunehmen, Rollen zu bernehmen etc. Wenn diese Kriterien bercksichtigt werden, kann die Einbeziehung von Geschichten und Metaphern bei der therapeutischen und beraterischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sehr ntzlich sein, um eine Brcke zu den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen herzustellen. Besonders bei fr Kinder schwer zu verbalisierenden Ambivalenzen bzw. Konflikten zwischen Angst und Lust oder Abhngigkeitsund Autonomiewnschen kann die Einbeziehung kinderliterarischer Texte ein hilfreiches Mittel sein (vgl. Kallenbach, 2003).

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Literatur und Psychotherapie

Abschließend mçchte ich noch auf einen weiteren entscheidenden Aspekt im Zusammenhang mit der Einbeziehung bibliotherapeutischer Methoden in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie hinweisen, der im empirischen Teil dieses Buches ebenfalls berhrt werden wird: Die Lektre von Kinderund Jugendbchern kann es Eltern ermçglichen, sich die Welt ihres Kindes einzufhlen bzw. an dessen Perspektive teilzunehmen. Prankel (2005) weist daraufhin, dass nicht nur Kinder laufend Entwicklungsaufgaben bewltigen mssen, sondern auch Eltern sich kontinuierlich Erziehungskompetenzen in Bezug auf die sich entwickelnden Fhigkeiten ihres Kindes aneignen mssen. Dazu ist eine bestndige Auseinandersetzung mit der kindlich-jugendlichen Sicht auf das Leben ntzlich, wenn nicht erforderlich. »Wenn es Kindergeschichten gelingt, die Kinder in entngstigender Weise mit ihren seelischen Regungen und Konflikten zu konfrontieren, so kann eben das auch bei erwachsenen Lesern passieren. Diese Geschichten kçnnen fr die Erwachsenen eine Art bergangsraum (im Sinne Winnicotts) erçffnen, in welchem sie sich mit ihren kindlichen Gefhlen, ngsten und Triebstrebungen konfrontieren kçnnen, ohne unmittelbar betroffen zu sein, weshalb diese Strebungen auch nicht sofort abgewehrt werden mssen. Das mag ihnen ermçglichen, sich mit Zgen der Kinder identifizieren zu kçnnen, die sie im Alltag mit eigenen Kindern entweder gar nicht bemerken wrden oder unterdrcken mssten« (Figdor, 1994, S. 78).

2 Wozu lesen? Literarische Sozialisation und das Medium Kinder- und Jugendliteratur

Dieses Buch streift das Fachgebiet der Lese- und Literaturdidaktik nur am Rande; die Klienten sollen im beraterisch-therapeutischen Setting nicht primr zum Lesen motiviert, sondern durch fiktive Geschichten in ihren kreativen Ressourcen und in ihrer Persçnlichkeitsentwicklung gefçrdert werden. Insofern sind die Erluterungen zu den Begriffen der Lesekompetenz und Lesesozialisation entsprechend knapp gehalten.

2.1 Der Prozess des Lesens »Die Erziehungspflicht besteht im Grunde darin, den Kindern das Lesen beizubringen, sie in die Literatur einzufhren, ihnen die Mittel zur Verfgung zu stellen, dass sie frei beurteilen kçnnen, ob sie das ›Bedrfnis nach Bchern‹ empfinden oder nicht. Man kann zwar ohne Weiteres zulassen, dass jemand Lesen ablehnt, aber es ist unertrglich, dass er vom Lesen abgewiesen wird oder sich abgewiesen glaubt« (Pennac, 1994, S. 169 f.).

Wozu ist Lesen gut? Geschriebenes dient der Konservierung von Informationen, ber Lesen und Schreiben wird kommuniziert und Information gewonnen. Aktives Geschichtenerzhlen von Kindern ist eine kulturelle Praxis innerhalb von Symbolisierungsprozessen, die dem Bedrfnis des Menschen entspringt, sich gegenber der Welt auszudrcken (vgl. Lange, 2001); ebenso kann Lesen als eine Form symbolisch-kultureller Praxis verstanden werden, die das Kind in erster Linie im Kontext seiner nchsten Umgebung erwirbt (vgl. Hurrelmann, 1999). Lesen

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kçnnen bedeutet zum einen die Mçglichkeit zur Teilnahme an der Schriftkultur und der Fhigkeit, sich kulturelle Traditionen zu erschließen, es ist aber auch nutzbar fr die Persçnlichkeitsentfaltung; Kinder versuchen von Anfang an, Lesen und Gelesenes fr die Bearbeitung eigener Themen fruchtbar zu machen und so ihre Entwicklungsaufgaben zu bewltigen (vgl. Graf u. Schçn, 2001; Hurrelmann, 2002a). »Lesen […] ist, unabhngig von der Art der gelesenen Texte, ein konstruktiver Akt. Textverstehen verlangt kognitive Leistungen, motivationale und emotionale Beteiligung, die reflexive Begleitung des Rezeptionsprozesses auf Metaebene und als kulturelle Praxis auch die Fhigkeit zur Teilnahme an Anschlusskommunikation in sozialer Interaktion« (Hurrelmann, 2002b, S. 277).

Sptestens seit der PISA-Studie haben Leseforschung und Lesefçrderung in Deutschland einen zentralen Stellenwert erlangt, da sie von entscheidender Bedeutung fr die schulische Erfolgsquote sind, den Zugang zu Informationen erlauben und so die Voraussetzung fr einen erfolgreichen Umgang mit den Institutionen der modernen Gesellschaft bieten (vgl. Kirsch et al., 2003). Mit PISA wurde der funktionale Lesebegriff eingefhrt; unter Lesekompetenz wird in diesem Zusammenhang die Fhigkeit verstanden, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und ber sie zu reflektieren. Lesekompetenz setzt sich aus Kognitionen, Emotionen, Reflexion, Motivation und Anschlusskommunikation zusammen. Dabei werden vorhandene Wissensbestnde verknpft und rekapituliert, durch Identifikation und Einfhlung werden Affekte inszeniert und zueinander in Beziehung gesetzt, und durch probeweise bernahme fremder Befindlichkeiten wird die Empathiefhigkeit gestrkt. Die Verwirklichung von Anschlusskommunikation stellt eine wichtige Voraussetzung fr die Herausbildung und Entwicklung von Lesemotivation von Kindern und Jugendlichen dar (vgl. Beinke, Charlton u. Viehoff, 2006) und spielt unter dem Gesichtspunkt der Verknpfung zwischen fiktiver und persçnlicher Geschichte auch im beraterisch-therapeutischen Setting eine zentrale Rolle. Des Weiteren kann Lesekompetenz durch die Herstellung eines geistigen Ab-

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standes zum Faktischen auch die Distanzierungsfhigkeit in Bezug auf andere Medien strken (vgl. Groeben, 2002).

2.2 Literarische Sozialisation »Lesen ist bergang, und literarische Sozialisation hilft dabei, die bergnge im Leben zu bewltigen« (Abraham, 1998, S. 85).

Ermahnungen und Erziehung zum Lesen sind wirkungslos ohne Vorbilder in der primren oder sekundren Sozialisation. Zum Lesen msse man »verfhrt« werden; bei leseunlustigen Schlern solle beispielsweise im Unterricht durch »zweckfreies Vorlesen« von Literatur die Lust am Lesen geweckt werden, wie Abraham (1998) und Paefgen (1999) hervoheben. Das Kinderund Jugendbuch kann dabei unter heutigen modernen Medienbedingungen nur ein Begleiter der Kindheit im Ensemble anderer Medien sein (vgl. Hurrelmann, 2005b), wobei Nagenborg (2005) darauf aufmerksam macht, dass insbesondere Eltern in der Verantwortung seien, eine bewusste Auswahl aus dem Medienangebot zu treffen und fr eine Ausgewogenheit in der Mediennutzung ihrer Kinder zu sorgen. Nach Gattermaier (2000) rangiert die Medienttigkeit Buchlesen bei Jugendlichen hinter Fernsehen, Radio hçren, Musik hçren, Computernutzung auf Platz 5 bis 8. Das Lesen werde nicht einfach durch die neuen audiovisuellen Medien verdrngt, das so genannte Leitmedium sei zwar das Fernsehen, aber ein Mehr an Fernsehzeit msse nicht ein weniger an Lesezeit bedeuten. Insgesamt sei Garbe (1997) zufolge die Lesequantitt in den letzten zehn Jahren eher gestiegen, was auf den allgemeinen Anstieg des Bildungsniveaus zurckzufhren sei, wobei Hurrelmann (2005b) darauf verweist, dass nach wie vor eine betrchtliche schichtspezifische Ungleichheit hinsichtlich des Zugangs zu Bchern bestehe. Das Verlangen des Kindes, Sprache zu verstehen und sich sprachlich mitzuteilen, ist gnzlich spontan und intrinsisch motiviert (vgl. Gibson u. Levin, 1989). Die Lesesozialisation ist dagegen sehr stark in der kulturellen Orientierung der Familie

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und in der Gestaltung von Vorleseprozessen verankert; nicht allein die Tatsache, dass Eltern vorlesen, sondern dass sie die Kinder an der Erfindung von Geschichten beteiligen, ist eine maßgebliche Voraussetzung fr eine erfolgreiche Lesesozialisation (vgl. z. B. Hurrelmann, 1995). Dabei zeigen sich deutliche schichtspezifische Differenzen. Mtter aus gehobeneren Schichten verflechten Vorgelesenes strker mit den alltglichen Lebens- und Gesprchszusammenhngen und beziehen ihre Kinder mehr in den Vorleseprozess mit ein (Wieler, 1997a, 1997b). Die vorlesenden Erwachsenen vermitteln dem Kind die Funktion des symbolischen Verstehens, welche ein Erfassen der nicht-identischen und gleichzeitig reprsentativen Beziehung zwischen Symbolen und realen Objekten umfasst (vgl. Wieler, 1997b). Gemeinhin sind es die Mdchen, die mehr lesen, sie gelten als verbal und sozial kompetenter, wohingegen die allgemeine Sozialisationserwartungen fr Jungen eher kçrper- und bewegungsorientiert sind (vgl. z. B. Gaschke, 2002). Nach Hurrelmann (1995) stehen weibliche Vielleser aus einer eher gehobenen Schicht mnnlichen Weniglesern aus bildungsfernen Schichten gegenber. Die IGLU-Studie von 2003, die das Bildungsniveau von Viertklsslern im nationalen und internationalen Vergleich untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass es zumindest in diesem Alter kaum geschlechtsspezifische Unterschiede im Leseverhalten gebe. Diese Ergebnisse weisen darauf hin, dass die geschlechtsspezifisch unterschiedlich bedingten Leseinteressen in der Regel erst ab der Pubertt zum Tragen kommen. Nach Maiwald (1999) setzt bei Mdchen die »literarische Pubertt« frher ein, sie lesen lnger, hufiger und weniger sachbezogen, bevorzugen Belletristik und die empathische Teilhabe am Imaginren. Bei Jungen erscheint die Beziehung zum Lesen als tendenziell khler, zweck- und sachorientierter ; die distanznehmende Intellektualisierung gilt als Signum mnnlicher Lektre. Graf (2004b) weist allerdings in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der jugendliche Leser von Sachbchern keineswegs weniger emotional involviert in seine Lektre sein msse als die Leserin eines Romans.

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»Das sachbuchlesende jugendliche Subjekt steht dem Lesevorgang nicht sachneutral, unvernderbar und distanziert gegenber, sondern ist emotional engagiert und involviert. Entwicklungspsychologisch darf vermutet werden, dass die Lust an der Sachbuchlektre wie in diesem Beispiel oft von ehrgeizigen Fantasien gespeist wird, also von Wnschen, die sich aufs Erwachsenwerden und auf eine Rolle in der Erwachsenenwelt richten« (S. 37).

Biografisch orientierte Leseforschung (z. B. Schçn, 1995) belegt, dass Adoleszenz die Lebensphase ist, in der das Lesen als lebensweltliche Ttigkeit weiter verbreitet als in irgendeinem anderen Lebensabschnitt und tendenziell suchthaft ist. Insbesondere aber belletristisches Lesen kçnne als Beitrag begriffen werden, die Identittsfindung Jugendlicher zu untersttzen und zur Formierung einer konsistenten, konturierten und zentrierten Identitt beitragen (vgl. Maiwald, 1999). Fr viele Jugendliche fungiere Lektre als ein Rckzugsmedium zum kompensatorischen Ausgleich individueller Beschdigungen des Alltags und ermçgliche ihnen zugleich eine Distanzierung von den alltglichen an sie erhobenen Anforderungen (vgl. Rosebrock, 1994). Eggert (1997) bezeichnet diesen bewussten Rckzug als »Intimisierung« von Lektre; diese Verweigerung habe den Charakter von Selbstschutz vor einem institutionellen Zugriff auf Innerlichkeit. Insgesamt belegen die Ergebnisse gegenwartsbezogener empirischer Lesesozialisationsforschung, dass ein in die familiale Interaktion eingebundener, flexibel auf die Bedrfnisse der Kinder abgestimmter Umgang mit Sprache und Text als das wirksamste Antriebsmoment der kindlichen Leseentwicklung angesehen werden kann (vgl. Hurrelmann, 2005 a; Wieler, 1997 a, 1997 b; Braun, 1995). Es ist weiterhin davon auszugehen, dass Kinder ihren bevorzugten Lesestoff abhngig von ihrem Entwicklungsstand und ihrer individuellen Interessenslage auswhlen und die jeweiligen Lesekompetenzen nicht in erster Linie als altersbedingt zu beurteilen sind. Lesen kann insbesondere fr Jugendliche eine wichtige und im Schutzraum der Fiktion identittsstiftende Funktion einnehmen, gleichzeitig aber auch dazu beitragen, die Konfrontation mit anstehenden Entwicklungsaufgaben zu vermeiden.

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2.3 Das Medium Kinder- und Jugendliteratur »›Wenn du ein Buch auf eine Reise mitnimmst‹, hatte Mo gesagt, als er ihr das erste in die Kiste gelegt hatte, ›dann geschieht etwas Seltsames: Das Buch wird anfangen, deine Erinnerungen zu sammeln. Du wirst es spter nur aufschlagen mssen, und schon wirst du wieder dort sein, wo du zuerst darin gelesen hast. Schon mit den ersten Bchern wird alles zurckkommen: die Bilder, die Gerche, das Eis, das du beim Lesen gegessen hast … Glaub mir, Bcher sind wie Fliegenpapier. An nichts haften Erinnerungen so gut wie an bedruckten Seiten.‹ Vermutlich hatte er damit recht. Doch Maggie nahm ihre Bcher noch aus einem anderen Grund auf jede Reise mit. Sie waren ihr Zuhause in der Fremde – vertraute Stimmen, Freunde, die sich nie mit ihr stritten, kluge, mchtige Freunde, verwegen und mit allen Wassern der Welt gewaschen, weit gereist, abenteuererprobt. Ihre Bcher munterten sie auf, wenn sie traurig war, und vertrieben ihr die Langeweile […]« (Cornelia Funke, »Tintenherz«, 2003, S. 24 f.)

Kinder- und Jugendliteratur stellt Zielgruppenliteratur dar ; Kmmerling-Meibauer (2002) macht auf die Marginalisierung von Kinder- und Jugendliteratur im Kanon der Weltliteratur aufmerksam; bis zum Ende des 20. Jahrhunderts werde in der berwiegenden Zahl der Literaturgeschichten Kinderliteratur als literarisch bedeutungslos bewertet und mit Erziehungsliteratur gleichgesetzt. Auch vom gesellschaftlichen Standpunkt wurde Kinder- und Jugendliteratur zu verschiedenen Zeiten immer wieder auf ein Erziehungs- und Sozialisationsinstrument reduziert und galt literarisch als wenig avanciert. In diesem Sinne wurde Kinder- und Jugendliteratur als eine Art Sozialisationsmittel verstanden, wobei den Ausgangspunkt die herrschenden Gesellschaftsnormen darstellten. Wenn hingegen von dem kindlichen Subjekt als Adressaten ausgegangen wurde, galt Kinder- und Jugendliteratur als eine dem kindlichen Wesen entsprechende, ihm gemße Literatur ; es spielten solche Stoffe und Themen eine Rolle, die jeweils aktuelle kindliche Bedrfnisse und Wnsche erfllten – so zum Beispiel das Erleben von Abenteuern oder der ersten Liebe (vgl. Gansel, 1999a). Insgesamt ist aber nicht zu unterschtzen, dass kinder- und jugendliterarische Texte Verhaltensmodelle zur Darstellung bringen, die von

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der Gesellschaft in der Regel positiv bewertet werden, und dass Kinder- und Jugendliteratur somit »[…] ein Teil der kulturellen Praxis ist, die ihr Publikum sozialisiert, indem sie ihm wnschenswerte Modelle menschlicher Persçnlichkeit, menschlichen Verhaltens, zwischenmenschlicher Beziehungen, gesellschaftlicher Organisation und des Daseins in der Welt bietet« (Stephens, 1998, S. 20).

Die Auseinandersetzung mit Erziehungsinstanzen unweigerlich zum Wesen der Kinder- und Jugendliteratur ; Ladenthin (2000) problematisiert die Gleichsetzung des Pdagogischen mit dem Moralisierenden. Pdagogisch und literarisch wertvolle Kinderund Jugendliteratur msse zwar auf neuere entwicklungspsychologische Erkenntnisse Rcksicht nehmen und sich in ihrer literarischen Form dementsprechend adressatenspezifisch anpassen; gegen das moralisierende, normierende Kinderbuch sei jedoch schon aus pdagogischen Grnden Einspruch zu erheben, da es untauglich und erfolglos sei. Von der Erzhlung im Erziehungskontext sei zu erwarten, dass sie der Herausbildung der Urteilskraft diene. Dies gelinge nicht, wenn der Erzhler selbst moralisiere; die Welt msse ambivalent dargestellt werden, damit Denkprozesse der Leser angeregt wrden.

2.3.1 Kinder- und Jugendliteratur unter historischem Blickwinkel »Wer sich also mit Kinderliteratur befaßt, vertieft sich zugleich in das große Buch der Kindheit, das die Autoren niemals aufgehçrt haben zu schreiben. Mindestens die Hlfte der gesamten Weltliteratur ist der Kindheit zugewandt« (Gelberg, 1999, S. 48).

Die Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur soll an dieser Stelle nur angerissen werden; gute und ausfhrliche berblicke dazu sind zum Beispiel bei Mattenklott (1994), Dahrendorf (1996), Nikolajewa (1996), Ewers (2001) und Schikorsky (2003) zu finden. Die Aufzhlung der genannten – deutscher und internationaler – kinder- und jugendliterarischen Werke erhebt keinen Anspruch auf Vollstndigkeit, sie dient vor

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allem dazu, dem Leser eine historische Einordnung ihm wahrscheinlich vertrauter Bcher vorzunehmen. Ich beziehe mich dabei ausschließlich auf kinder- und jugendliterarische Prosa und gehe nicht auf Lyrik oder Dramen ein; auch Bilderbcher werden in diesem Rahmen nicht behandelt. Die Anfnge deutscher Kinder- und Jugendliteratur (KJL) lassen sich zeitlich nicht exakt bestimmen; wenn man unter KJL die fr Kinder und Jugendliche als geeignet empfundene Literatur versteht, reichen ihre Wurzeln zurck bis ins Mittelalter, wo man Heranwachsenden spezielle Lehrbcher ber Grammatik und Rhetorik in die Hand gab (vgl. Schikorsky, 2003). Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts befasste sich die Kinderliteratur nur wenig mit Kindern und deren Anliegen, Kindern sollte in erster Linie die Welt der Erwachsenen vermittelt werden (vgl. Ewers, 2001, 2005). Den Grundstein so genannter moderner Kinderliteratur wurde in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts unter anderem durch Heinrich Campe gelegt. Der reformpdagogische Schriftsteller Heinrich Campe, der Rousseau und Locke bersetzte und einen Schulbuchverlag grndete, zhlt zu den Philantropen, die von der sozialen Natur des Menschen, von der Vereinbarkeit gesellschaftlicher und pdagogischer Interessen sowie der Sozialisationsfunktion von Literatur berzeugt waren (vgl. Knitter u. Wiedemann, 1996; Wulf, 1996; Nissen, 2005). Seine moralisierenden Exempelgeschichten sollten im sinnlichen Erfahrungsbereich des Kindes verankert sein und dazu beitragen, bestimmte Werte zu vermitteln sowie eine vernunftorientierte und praxisbezogene Erziehung nach Rousseau’schem Vorbild zu untersttzen (vgl. Armbrçster-Groh, 1997; Schikorsky, 2003). Als Beispiel kann das Buch »Robinson der Jngere« von Heinrich Campe (1779/1780) gelten, das sich an Daniel Defoes weltberhmtem Klassiker »Robinson Crusoe« (1719) orientierte und vom Autor in Richtung eines aufklrerischen Kinderbuchs modifiziert wurde, das geografisches Wissen und moralische Werte vermitteln sollte. Der romantischen Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts kçnnen smtliche Volks- und Kunstmrchen zugeordnet werden, als deren wichtigste Vertreter die Brder Grimm gelten drften. Die Romantiker betonten zum einen die besondere Neigung der

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Kinder zum Wunderbaren, geben in ihren Texten, wie zum Beispiel in E. T. A. Hoffmanns Mrchen »Nußknacker und Mausekçnig« (1816), ihren Lesern aber auch die Mçglichkeit, sich mit den Gegenstzen einer romantisch verklrten Kinderwelt und einer aufgeklrten, versachlichten Erwachsenenwelt auseinanderzusetzen (vgl. Ewers, 2001). Im Biedermeier wurden Mrchen und Sagen dann zunehmend mit belehrenden und moralisierenden Komponenten angereichert. 1845 erschien der »Struwwelpeter« von dem Kinderarzt Heinrich Hoffmann, dessen Erzhlungen bis heute zum einen abschreckend, in ihrer skurrilen berzeichnung jedoch durchaus kunstvoll wirken. Zu weiteren bedeutsamen Werken auch internationaler Kinder- und Jugendliteratur des 19. Jahrhunderts gehçren unter anderem »Onkel Toms Htte« (1852) von Harriet Becher Stove, die »Lederstrumpf-Erzhlungen« (1823 – 1841) von James Fenimore Cooper, »Max und Moritz« (1865) von Wilhelm Busch, die Romane Karl Mays, »Tom Sawyer« (1876) und »Huckleberry Finn« (1884) von Mark Twain, Emmy Rhodens »Trotzkopf« (1885) sowie die beiden Bnde des »Dschungelbuchs« (1894/95) von Rudyard Kipling. Ende des 19. Jahrhunderts sprachen sich Anhnger der Jugendschriftenbewegung, die sich um eine Erneuerung und Liberalisierung der Schulen bemhte und als deren bekanntester Vertreter Heinrich Wolgast zu nennen ist, radikal gegen eine spezifische Kinder- und Jugendliteratur aus, da diese die Jugendlichen nur zu Patriotismus und Moralisieren erziehe und zudem zu Trivialisierung und geistiger Verflachung fhre (vgl. Peltsch, 2004). Spter revidierte Wolgast seine Position und sprach sich fr eine kindgerechte, aber dennoch anspruchsvolle Kinderliteratur aus, durch die das Kind zum sthetischen Genuss erzogen werden sollte. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden zum einen berhmte Adoleszenzromane wie Musils »Tçrleß« (1906) und Hermann Hesses »Unterm Rad« (1906) und zum anderen phantastische Geschichten wie die des nie erwachsen werden wollenden Peter Pan von James Matthew Barrie (1904), die »Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgnsen« von Selma Lagerlçff (1906), »Der Wind in den Weiden« von Kenneth Grahames (1908) und die Geschichten um »Pu der Br« (1926) von Alan

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Alexander Milne. Zwischen 1913 und 1925 erschienen die zehn Nesthkchen-Bnde von Else Ury, die sich bemhten, das traditionelle Familien- und Frauenbild in heiterer und glckversprechender Weise aufrechtzuerhalten. 1929 wurde Kstners Kinderroman »Emil und die Detektive« verçffentlicht, der die Großstadt zu einem Ort kindlicher Sozialisation und Bewhrung machte. Im Nationalsozialismus war in Deutschland eine starke Rckwendung zu moralisierenden und ideologisch berformten Geschichten zu verzeichnen. Zu den bedeutendsten Kinderbchern der Exilautoren zhlt »Die rote Zora« (1941) von Kurt Held, eine Abenteuergeschichte, die zustzlich ein emanzipiertes Mdchenbild sowie scharfe Kritik an gesellschaftlicher Ausgrenzung vermittelt. 1943 erschien Saint-Exuprys »Kleiner Prinz«, der nur mit dem Herzen gut sah und Trçstliches ber die menschliche Einsamkeit zu sagen wusste, und 1945 Lindgrens »Pippi Langstrumpf«, deren Strke die mehrerer Polizisten bertraf. Die bundesrepublikanische Kinderliteratur der 1950er und 1960er Jahre distanzierte sich entschieden von den vorangegangenen explizit erzieherischen, moraldidaktischen sowie autoritren Texten der NS-Zeit und bereitete vieles von der so genannten Kinderliteraturreform von 1970 vor (vgl. ArmbrçsterGroh, 1997). Bereits in dieser Zeit warnten die kindlichen Protagonisten vor zuviel Angepasstheit, mal leicht und harmlos, dann wieder mit Ernst und realem Bezug. Die Geschichten mit ihren aufmpfigen Gestalten spielten manchmal im Reich der Phantasie und dann auch wieder in der real existierenden Wirklichkeit. »Das Motiv des stçrrischen Kindes hat sich im Zuge der Entwicklung der Kinderliteratur von der naiven, aber rechtschaffenen Harmlosigkeit in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hin zur engagierten Anmeldung von Kinderrechten und der Forderung nach sozialer Zuwendung gewandelt« (Doderer, 1998, S. 154).

In dieser Zeit entstanden archaische Mrchen bzw. Geschichten einer reinen Phantasiewelt, die als außerhalb der Gesellschaft

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angesiedelter kindlicher Frei- und Spielraum verstanden werden musste (vgl. Ewers, 1995). In dieser Literatur lebte, so Ewers, »das althergebrachte Geschichtenerzhlen in glanzvoller Weise noch einmal auf« (1995, S. 16). Die Idee der Autoren bestand zunchst darin, Kinder mçglichst geschtzt aufwachsen zu lassen und ihnen eine unbeschwerte Kindheit zu gçnnen; als wohl prominenteste Vertreter dieser Auffassung sind Otfried Preußler (»Der kleine Wassermann«, 1956, »Die Kleine Hexe«, 1957) und der frhe Michael Ende (»Jim Knopf und Lukas der Lokomotivfhrer«, 1960) zu nennen. James Krss’ »Tim Thaler oder das verkaufte Lachen« (1962) weist im Vergleich zu Preußlers Bchern schon dsterere und sozialkritischere Elemente auf. Die kinder- und jugendliterarische Prosa der DDR zeichnete sich in den 1950er und 1960er Jahren durch den blicherweise vorbildhaften Charakter der kindlichen Hauptfigur bzw. den Weg des unartigen Kindes aus, das zunchst ein harmonisch strukturiertes Kinderkollektiv bedroht und sich schließlich in selbiges eingliedert. Kinder- und Jugendliteratur stellte in dieser Gesellschaft ein wichtiges Medium dar, um gesellschaftlich erwnschte Werte und Normen direkt zu vermitteln (vgl. Strobel, 2005). »So klagte Franz Fhmann in der Nationalzeitung (23. 7. 1953), dass es in der Kinderliteratur ›ganz exakt‹, ›antiseptisch‹, und ›furchtbar langweilig‹ zugehe. Ein Pionier drfe keinen Streich denken, geschweige denn wagen, ›schon gar nicht Radieschen stehlen‹ […]« (Strobel, 2005, S. 89).

Die Probleme der Erwachsenengesellschaft wurden entweder nur am Rande berhrt oder die Integration des Kindes in die Welt der Erwachsenen als reibungsloser Vorgang beschrieben (vgl. Richter, 1995a); Adoleszenzromane, die den Prozess der Selbstfindung thematisierten, bei dem Jugendliche in existenzielle Erschtterungen und tiefe Krisen gerieten, galten als brgerlich. Ab den 1970er Jahren begannen einige Autoren zu berdenken, welche Mçglichkeiten die Gesellschaft dem Einzelnen lasse bzw. wie sich Ideal und Wirklichkeit zueinander verhielten, was sich auch im kinder- und jugendliterarischen Bereich niederschlug (vgl. Gansel, 1999a). Die Darstellungsweise von Kindheit wurde komplexer und die Folgen einer staatlich repressiven Erzie-

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hungspraxis wurden literarisch verarbeitet; als Beispiel sind die »Insel der Schwne« von Benno Pludra (1980) zu nennen (vgl. Strobel, 2005). Ende der 1960er und mit Beginn der 1970er Jahre vollzog sich in der Bundesrepublik ein entscheidender Paradigmenwechsel, der sich auch auf die gesellschaftliche Auffassung von Kindheit auswirkte (vgl. Ewers, 2000 b; Payrhuber, 2000); Kinder wurden nicht mehr prinzipiell als zu beschtzende und zu bevormundende Wesen eingeordnet, sondern zu mndigen, aufzuklrenden und gleichberechtigten Mitgliedern der Gesellschaft erklrt. Eine neue, reformierte Kinder- und Jugendliteratur entlarvte die traditionelle Kinderliteratur als brgerliches Sozialisationsinstrument, das den Heranwachsenden ein falsches bzw. geschçntes Weltbild vermittelte. Dies fhrte zur Entstehung extrem realistischer, problemorientierter Kinder- und Jugendbcher (vgl. Steffens, 1999), die bis dahin geltende Tabus durchbrachen, mehr Fragen aufwarfen als Antworten gaben und Themen wie Armut, Auslnderfeindlichkeit, Behinderung, Krankheit, Trennung und Tod behandelten; Autoren wie Ursula Wçlfel und Peter Hrtling sind beispielsweise dieser Richtung zuzuordnen. »Die bisherigen vorbildhaften Kinderbuchhelden /-heldinnen werden abgelçst durch ganz gewçhnliche Alltagskinder. Die neuen kindlichen Hauptfiguren kennzeichnet eine […] bemerkenswerte Erwachsenheit« (Armbrçster-Groh, 1997, S. 24).

Ende der 1970er Jahre bereits gelangten etliche Kinder- und Jugendbuchautoren wie zum Beispiel Christine Nçstlinger zu der Ansicht, dass eine schonungslose Darstellung der Welt von den Kindern psychisch nicht zu verkraften sei. Die Verpflichtung zu »rckhaltloser Offenheit« msse hinter der Rcksicht auf die »psychischen berlebensbedrfnisse« von kindlichen Lesern zurckstehen (vgl. Ewers, 2005). Noch radikaler richtete sich Otfried Preußler gegen die sozialkritische Kinderbuchbewegung der 1970er Jahre, die Kinder seiner Meinung nach in zum Teil unverantwortlicher Weise mit unlçsbaren und selbst fr Erwachsene schwer ertrglichen Problemen und einem ausschließlich – so Preußler – »miesen« Weltbild konfrontierten. In

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den 1980er Jahren begannen sich unterschiedliche kinder- und jugendliterarische Gattungen herauszukristallisieren, dazu zhlten neben den problemorientierten Kinder- und Jugendbchern auch der psychologische Kinderroman und der komische Familienroman. Auch die Erzhlweise wurde variationsreicher und passte sich zunehmend einer erwachsenliterarischen Stilistik an; eine auktoriale, objektivierende Erzhlweise wurde durch die personale oder Ich-Erzhlung immer strker in den Hintergrund gedrngt. Die Texte aus dieser Zeit erscheinen subjektiver und weniger geschlossen als frher geschriebene, sie rcken nher an das Wollen, Fhlen und Denken der Kinder heran, das erlebende und reflektierende Ich fließen zunehmend ineinander. Das extrovertierte, tatkrftige, aufmpfige Kind wird zunehmend durch das introvertierte, sensible, kreative, instabile und stçrungsanfllige Kind abgelçst (vgl. Armbrçster-Groh, 1997); insgesamt findet eine Akzentverschiebung von einer extensiven Weltdarstellung hin zu der Beschreibung innerer Realitten und subjektiver Wahrheiten statt (vgl. Steffens, 1999). Thematisch geht es dabei vorrangig um die Bewltigung von ngsten und Traumata, um Tendenzen zur Vereinsamung und deren berwindung sowie den Prozess der Selbstfindung. Mit dem komischen Familienroman wurde Mitte der 1980er Jahre Komik als literarisches Mittel eingefhrt, um die sich immer schneller verndernde Lebenswelt des Kindes abzubilden und bewltigbar erscheinen zu lassen; zu dieser Gattung zhlen die Romane von Christine Nçstlinger, Kirsten Boje und Anne Fine. Dabei implizieren die komischen Elemente jedoch nur zum Teil Versçhnlichkeit; in Christine Nçstlingers »Pfui Spinne« zum Beispiel werden die Elternfiguren eher verlacht, als dass ber sie gelacht wird. Der Aufschwung der phantastischen Literatur Mitte der 1990er Jahre wird vom soziologischen Standpunkt des çfteren einem tendenziellen Rckzug ins Private zugeschrieben werden, der nach Scheiner (1995) auch auf einen Wandel gesellschaftlicher Lebensformen und einer zunehmenden Individualisierung von Lebensstilen zurckzufhren ist. Phantastische Kinder- und Jugendliteratur, die fr therapeutische Zwecke meistens eher genutzt werden kann als realistische Literaur, kann verschiedene

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Funktionen erfllen: Die kindliche Phantasie als ein Reich, angefllt mit widersprchlichen Emotionen, mit Zuneigung und Hass, Eifersucht und Liebe, geprgt von Sehnschten und Wnschen (vgl. Kaminski, 1986), hat anscheinend einerseits eine Vorliebe fr die Beschreibung irrealer Welten, in denen sie sich ungehindert entfalten kann. Nach Stenzel (2006) strkt insbesondere phantastische Kinderliteratur die kindliche Entwicklung durch die Verarbeitung emotionaler Erlebnisse und die Spiegelung des eigenen Selbst, die literarische Genussfhigkeit sowie die Auseinandersetzung mit dem fremdartig erscheinenden Anderen. Fantastische Kinderliteratur bersetzt komplexe Aspekte des kindlichen Lebens in ausdruckstarke und ausreichend einfache Darstellungen, die ohne Entschlsselung berhren und zum Genuss fhren kçnnen, aber auch im Rahmen der Anschlusskommunikation entwicklungspsychologisch prododuktiv genutzt werden kçnnen. Sie ermçglicht es ihren Lesern, zwischen zwei Welten hin- und herzupendeln, erçffnet den Blick darauf, dass das Phantastische – das Nicht Mçgliche – als Element bzw. als Symbol fr etwas Dahinterliegendes angesehen wird, und fçrdert insofern die Symbolisierungsfhigkeit. »Ohne […] Probleme nach der Art des ›realistischen‹ Problembuchs explizit zu thematisieren, kann sie so zu einem wichtigen Medium der IchFindung werden. Sie kann zur symbolischen Bewltigung von inneren wie ußeren Konflikten und damit zur Strkung der Ich-Identitt beitragen« (Kaulen, 2004, S. 19).

Insgesamt zeichnet sich der moderne Kinderroman – zum Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung gehçrt, so Ewers (1995), auch der Wandel des literarischen Systems – durch die vielfltige Darstellungsweise pluraler kindlicher Lebenswelten aus, die in ihrer Komplexitt hohe Anforderungen an die Bewltigungskapazitten ihrer Bewohner und in ihrer literarischen Bearbeitung zunehmend hçhere Ansprche an die Rezeptionsfhigkeiten ihrer Leser stellen (vgl. Nikolajewa, 1996; Gansel, 1999b).

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2.3.2 Adoleszenzliteratur »Genau diese Frage nach dem ›Zu-sich-selber-Kommen des Menschen‹ ist die zentrale Frage in der jugendlichen Adoleszenz; es ist die Frage nach der eigenen Identitt, der Wunsch nach dem ber-sich-im-Bilde-Sein, die Suche nach dem Wissen darber, wer man selbst ist und was man will. Alle anderen Entwicklungsaufgaben der Adoleszenzzeit, die die moderne Entwicklungspsychologie und -soziologie außerdem nennen, sind dieser zentralen Frage nach der Identitt untergeordnet« (Lange, 2000, S. 68).

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren Texte, in denen es um Selbstfindung von Jugendlichen und Identitt ging, kein Gegenstand der Jugendliteratur (vgl. Gansel, 1995); der jugendliterarische Adoleszenzroman ist ein Gattungsbegriff, der erst Ende der 1980er Jahre Eingang in die Forschung der Kinder- und Jugendliteratur fand – die Werke von Salinger, Plenzdorf, Musil, Hesse etc. sind trotz ihrer adoleszenten Thematik intentionale Erwachsenenliteratur (vgl. Lange, 2000). Jugendliterarische weibliche Adoleszenzromane entstanden erst ab den 1970er Jahren mit der Forderung einer »spezifisch weiblichen Subjektgenese« (vgl. Wild, 1997). Thematisch handelt der Adoleszenzroman, dessen Protagonisten sich ungefhr im Alter zwischen 12 und 25 befinden, von den Problemen des Erwachsenwerdens; er beschrnkt sich jedoch nicht auf einige wenige Aspekte dieser Phase, sondern hat den Anspruch, die Zeit der Adoleszenz mçglichst umfassend darzustellen. Besonders großen Raum nimmt die Darstellung des Innenlebens der jugendlichen Protagonisten ein. Themen des jugendliterarischen Adoleszenzromans sind Liebe, Partnerschaft, Sexualitt; Identittssuche und -findung, die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt; weiterhin die Auseinandersetzung mit dem Selbstbild und dem eigenen Kçrper sowie die Festigung einer Geschlechtsidentitt. Die Beschreibung der Eltern-KindBeziehung, und zwar insbesondere die Ablçsung von den Eltern sowie die innere Entfernung von den elterlichen Geboten und die damit verbundenen Gefhle intensiver Leere, Trauer und Depression (vgl. Jongbloed-Schurig, 1998), nimmt ebenfalls breiten Raum ein. Weiterhin spielt die Beschreibung jugendlicher

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Wozu lesen?

Grandiosittsphantasien eine wichtige Rolle, wobei weibliche Adoleszenzromane hufig den mit Beginn der Pubertt einsetzenden Verlust an Selbstbewusstsein bzw. den starken Abfall des Selbstwertgefhls und die schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem eigenen und dem fremden Begehren thematisieren (vgl. Sauerbaum, 1994; Heiliger, 1998). Formale Merkmale des Adoleszenzromans sind die Verwendung von Jugendsprache und die Schnoddrigkeit seiner Protagonisten. Fr die postmoderne Entwicklung des Adoleszenzromans stellt Lange (2000) eine zunehmende Aufhebung der Grenzen zwischen gehobener und Trivialliteratur fest. Dabei kritisiert er die zum Teil verherrlichende Darstellung von Alkoholismus und Drogenexzessen sowie eine zunehmende Verklrung von Coolness – als Beispiel gelten Lange Bcher von Alexa Henning von Lange und Bret Easton Ellis, wobei Letzterer zwar nicht explizit fr Jugendliche schreibt, von diesen aber viel rezipiert wird. Insgesamt lsst sich eine Auflçsung der Grenzen zwischen Jugend- und Allgemeinliteratur feststellen (vgl. Bockhorst, 1999) und eine Orientierung jugendlicher Leser an spannender Unterhaltungsliteratur (etwa Stephen King) oder so genannter Popliteratur. Im Folgenden mçchte ich kurz auf psychoanalytische Deutungsweisen von Kinder- und Jugendliteratur eingehen; auf diese Weise sollen die in diesem Kontext bedeutsamen Mçglichkeiten deutlich gemacht werden, durch das Medium Kinder- und Jugendliteratur auch mit unbewussten Anteile von kindlichen bzw. jugendlichen Patient/innen in Kontakt zu kommen.

2.3.3 Kinder- und Jugendliteratur und psychoanalytische Textinterpretation »Die besondere Affinitt der Psychoanalyse zur Kinder- und Jugendliteratur liegt dann darin, daß letztere als sprachlich-symbolisch vermittelter Phantasiekomplex verstanden werden kann und sich somit einem Objektbereich zugehçrig erweist, dem die Psychoanalyse seit jeher verstrkte Aufmerksamkeit zugewandt hat. Damit verbunden ist nun das Interesse der Psychoanalyse an einer grundstzlichen Neukonzeption von (frher) Kindheit, frhkindlicher Entwicklung und ihrer (Trieb-)Dynamik. Ge-

Das Medium Kinder- und Jugendliteratur

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nauer gesagt, bildet das kindliche Phantasieleben als Ausdruck der Entwicklungen seines Trieblebens einen zentralen Bereich psychoanalytischer Erkenntnisinteressen, es ist ein Kernparadigma ihrer Theoriebildung« (Steinlein, 1996, S. 130 f.).

Der psychoanalytische Zugang zu Literatur liegt unter anderem darin begrndet, dass Literatur oftmals unbewusste Themen und Phantasien anspricht und auch ins Bewusstsein zu bringen vermag (vgl. Mc Gillis, 1996). Es werden Entwicklungsverlufe und psychodynamische Vorgnge auf eine sehr plastische Weise beschrieben, die der Psychoanalyse wertvolle Erkenntnisse einbrachte, wie bereits Freud 1908 erkannte (vgl. Bd 10 der Studienausgabe, 1969). Als ein Beispiel mag der Entwicklungsroman »Anton Reiser« von Karl Philip Moritz gelten, in dem nach Rohse (1997) eine eher pathologische Entwicklung in der Adoleszenz auf sehr einfhlsame Weise beschrieben wird. Rohse erklrt anhand ihrer Textinterpretation des Romans den in der Psychoanalyse gelufigen Begriff der »strategischen Adoleszenz«, bei der alle Beziehungen zur Reparation des verwundeten Selbst strategisch umfunktioniert werden. Stagnation und Wiederholung prgten die Adoleszenz von Anton Reiser, wobei die Objekte wechselten, nicht aber ihre strategische Funktion fr seine innere Stabilitt, die Erhaltung des chronisch bedrohten narzisstischen Gleichgewichts und die Reparation seines »brchigen Selbst«. Lange bevor die psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologie die Selbsterkenntnis des kleinen Kindes in seinem Spiegelbild als einen der wichtigsten Momente der Bildung des Selbst verstanden hatte, wurden Spiegel, Schatten- und Doppelgngermotive auch in der Kinder- und Jugendliteratur verwendet, unter anderem zu dem Zweck, Entwicklungsprozesse und -krisen darzustellen (vgl. Mattenklott, 1995). Aus psychoanalytischer Sicht ist eine der grundlegenden Annahmen in Bezug auf die Kinder- und Jugendliteratur die der Komplementaritt, das heißt das wechselseitige Aufeinanderverweisen zwischen der Phantasiestruktur fiktionaler Kinder- und Jugendliteratur und den aus dem Unbewussten gespeisten Phantasiebedrfnissen der kindlichen Rezipienten (vgl. Steinlein, 1996). Beer (1994) verweist auf das Phnomen, dass Erwachsene beim Lesen von Kin-

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Wozu lesen?

der- und Jugendliteratur, die sie aus ihrer eigenen Kindheit kennen, oftmals auf verschttete kindliche Emotionen und Erinnerungen zurckgeworfen wrden. Kinder und Jugendliche sind durch literarische Fiktionen stark affizierbar ; Steinlein (1996) prgte in diesem Zusammenhang den Begriff der »Fiktionsbedrftigkeit«. Der Erfolg von Lesestoffen hnge davon ab, inwieweit es gelinge, die adquaten Phantasien der jeweiligen kindlichen bzw. jugendlichen Entwicklungsstufe literarisch zu realisieren. Die Geschichte vom Ruber Hotzenplotz ist zum Beispiel aus psychoanalytischer Sicht eine lustbesetzte Bewltigungshilfe fr die Spannungen, die aus der notwendigen Auseinandersetzung mit egozentrischen Bedrfnissen – verkçrpert durch den Ruber – und deren sozialen und moralischen Beschrnkungen – verkçrpert durch den Wachtmeister Dimpfelmoser – resultieren und die die Entwicklungsprozesse bei einem Kind prgen (vgl. Ammerer, 1994, Zwettler-Otte, 1994). Nach Figdor (1994) kann Literatur in dreifacher Hinsicht entngstigende und Sicherheit gebende Wirkung haben: Zum Ersten, wenn die durch das Lesen angeregte Phantasie als Lçsungsstrategie bzw. Ablenkung von in der Realitt unlçsbaren Problemen genommen werde. Zum Zweiten bestehe die Mçglichkeit, sich selbst in anderen bzw. in den Helden der Geschichte wiederzuerkennen; es sei trçstlich zu wissen: »Nicht ich allein, sondern Kinder, Menschen allgemein sind so.« Und zum Dritten kçnne man sich anhand der Helden und ihrer Schicksale vor Augen fhren, wie diese mit Problemen, Gefhlen, Wnschen, inneren und ußeren Konflikten umgehen. »In Geschichten erçffnet sich dem Kind auch Geschichte, das heißt die Erkenntnis, daß das, was heute ist, nicht so bleiben muß. […] Geschichten ermçglichen Kindern also, mit den Schwierigkeiten des Lebens in einer spielerisch-denkenden Weise umzugehen, und erfllen damit eine psychohygienische Funktion, die nicht zuletzt auch in der Psychotherapie eine große Rolle spielt« (Figdor, 1994, S. 61).

3 Die Bedeutung von Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit in der beratenden und therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

»Neben das ›banale‹ Alltags- und Rollenwissen tritt im Symbolspiel von Anfang an das Skript- und Narrationswissen, das die Kinder aus ihrer fiktionalen Umgebung aufnehmen: aus erzhlten Geschichten, Filmen, Spielen, Mrchen etc.« (Knobloch, 2001, S. 19).

Die Ergebnisse der Suglingsforschung legen nahe, dass das Kleinkind etwa ab dem 18. Lebensmonat fhig ist zu symbolisieren und auf diese Weise Trennung von geliebten Objekten als ertrglich erleben kann. Symbolisierungsfhigkeit bedeutet die Nutzung eines psychischen Raums – es muss nicht agiert, es kann auch gefhlt und gedacht werden, es besteht eine Distanzierungsfhigkeit zu einem aktuellen und unmittelbaren Situationsdruck. Nach Winnicott (1969) verlaufen solche Symbolisierungsleistungen in einem potentiellen Raum des Spielens (bergangsraum) und in der beginnenden Differenzierung zwischen der Wahrnehmung innerer Zustnde und der ußeren Realitt. Cassirer (1951) definiert den Menschen als »animal symbolicum«, Kaplan (1961) sah die symbolische Aktivitt als ein Grundmerkmal menschlicher Existenz an (vgl. Bornstein, 2003). Symbolische Formen sind unter kulturhistorischen Gesichtspunkten tradierte und gebildete Systeme, durch die menschliches Wissen und Ttigkeiten geformt und weiter vermittelt werden (vgl. Lange, 2001). Symbolspiele sind als »Als-ob-Spiele« zu bezeichnen, die voraussetzen, dass ein abwesender Gegenstand in der Vorstellung prsent ist; sie beruhen also auf den Fhigkeiten der Reprsentation. Das frhkindliche Symbolspiel erlaubt

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Die Bedeutung von Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit

Voraussagen ber die narrative Kompetenz im Vorschulalter, das heißt zum Beispiel ber die Art der Kohsion und der Organisation innerhalb des Geschichtenerzhlens (vgl. Bornstein, 2003). »Symbolisieren ist nachdenken ber sich selbst in einem unbewusst-bewussten Raum: Zu sich selbst in Distanz treten kçnnen, eine beobachtende Position einnehmen, ber sich nachdenken, sich selbst deuten kçnnen. Symbolbildung schafft die Fhigkeit zur Bedeutungsverleihung und ermçglicht Kommunikation im weitesten Sinne, intrapsychisch und interpersonell« (Bahrke, 2005, S. 88).

Die Fhigkeit zur Symbolisierung hngt eng mit der Fhigkeit zur Mentalisierung (Fonagy, 2003) zusammen. Mentalisierungsfhigkeit meint die Reflexion der eigenen inneren Verfassung und die Differenzierung von der wahrgenommenen Verfassung der Bindungsperson. Schwere Deprivationen und tiefgreifend gestçrte Bindungsmuster verhindern, dass sich die Fhigkeit zur Mentalisierung herausbildet und beeintrchtigen die Mçglichkeit zu symbolisieren. Bereits Winnicotts Theorie des falschen Selbst beschreibt, dass sich dieses ausbildet, wenn keine ausreichende Affektabstimmung – Spiegelung der Basisemotionen – und kein »affektives mirroring« – Spiegelung negativer Affekte bei gleichzeitiger Vermittlung, dass diese seitens der Bezugsperson fr bewltigbar gehalten werden – stattfindet und somit auch die Fhigkeit zur Symbolisierung eingeschrnkt ist (vgl. Bahrke, 2005). In einer klinischen Pilotstudie ber selbstbezogene Symbolisierungsmuster emotional instabiler Jugendlicher kommt Brandt (2005) zu dem Schluss, dass nicht symbolisierte Erfahrungen premotionale Spannungszustnde erzeugen, die sich als affektiver Kontrollverlust manifestieren, und dass bei Persçnlichkeitspathologien bestimmte Erfahrungen nicht in ein bedeutungsvolles und bewusstseinsfhiges symbolisiertes Format gebracht werden kçnnen. Das bedeutet, dass eine mangelhaft ausgeprgte Symbolisierungsfhigkeit verhindert, dass Affekte kognitiv gefasst werden kçnnen; der bergang von Affekt in Emotion ist somit blockiert. Fr alle Menschen, insbesondere aber fr Kinder und Jugendliche, ist das Gefhl, selbstwirksam zu sein, das heißt, ent-

Die Bedeutung von Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit

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scheidend zu Vernderungen beitragen zu kçnnen, berlebenswichtig. Das Gegebene nicht einfach hinnehmen zu mssen, sondern Ideen zu dessen Modifizierung entwickeln und – in Grenzen – auch umsetzen zu kçnnen, ist fr den Erhalt seelischer Gesundheit unumgnglich. Nicht immer gelingt dies in der Realitt, um so wichtiger ist die Ausbildung von Fhigkeiten, die es ermçglichen, Vernderung zumindest imaginieren zu kçnnen. »Das befriedigende Erlebnis von Omnipotenz wird fr den Sugling eine entscheidende Voraussetzung fr die Einsetzung eines Realittsprinzips, das die Welt nicht starr und unvernderlich, sondern als der Kreativitt zugnglich erscheinen lsst. […] Dass die Welt durch Kreativitt vernderbar ist, ist nmlich keine selbstverstndliche Annahme, und Winnicott macht einsehbar, dass eine Voraussetzung fr diese Annahme ein positives Erleben von Omnipotenz ist« (Erdheim, 1997, S. 28 f.).

Zwei große Pionierinnen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Virginia Axline (1972) und Violet Oaklander (1981), sprachen sich dafr aus, dass Therapeuten fr die Phantasiettigkeiten von Kindern offen sein und diese auch gezielt fçrdern sollten; Phantasie kçnne kompensatorisch und kreativ wirken, sie kçnne verwendet werden, um unangenehme Situationen zu verndern, Bedrfnisse zu stillen oder um rein kreative Fhigkeiten zu entwickeln. Das Symbol- und Fiktionsspiel ermçglicht Kindern, ihr Wissen ber typische Situationen und Handlungsabfolgen in Szene zu setzen und auf diese Weise ihre Welt zu gestalten. Mit zunehmender Symbolisierungs- und Spielfhigkeit kann das Kind Entwicklungsaufgaben bewltigen und spielerisch inszenieren. Die Spielunlust als ernst zu nehmendes klinisches Phnomen beruht auf – und fhrt gleichzeitig zu – gravierenden Schwierigkeiten der Verhaltens- und Emotionsregulation (vgl. Papousˇek, 2003). Abgesehen von der menschheitsgeschichtlichen Bedeutung von Geschichten und Mythen hat sich die Arbeit mit Geschichten und Metaphern in der beraterischen und therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bereits bewhrt. Mills und Crowley (1996) weisen zum Beispiel auf den breiten Nutzen von Geschichten und Metaphern bei verschiedenen Problemstellungen in der Kindertherapie hin; in der Hypnotherapie nach Milton

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Die Bedeutung von Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit

Erickson werden nach induzierter Trance magische Bilder, Vorstellungen und Geschichten benutzt, um ngste zu mindern bzw. die kindlichen und jugendlichen Klienten in ihren Ressourcen zu strken (vgl. Signer-Fischer, 1999; Wirl, 1999). Projektive Testverfahren, die trotz ihrer eingeschrnkten empirischen berprfbarkeit nach wie vor einen bedeutsamen Stellenwert bei der Diagnostik emotionaler Konflikte und psychodynamischer Vorgnge in der klinischen und beratenden Praxis einnehmen, arbeiten ebenfalls mit fiktiven Geschichten (z. B. Dssfabeln) und Phantasiewesen (z. B. Schweinchen-Schwarzfuß-Test), um ber Projektions- und Identifikationsmechanismen Patient/innen anzuregen, unbewusste, tabuisierte oder schwer ertrgliche Gefhle mit Hilfe dieser fiktiven Geschichten auszudrcken. Die analytische Spieltherapie sttzt sich in ihrem Setting hufig auf analoge Ebenen, etwa ein gemaltes Bild, eine gebaute Szene oder eine phantasierte Geschichte, da auf diese Weise intrapsychische Inhalte von innen nach außen gebracht und somit einer bewussteren Wahrnehmung zugnglich gemacht werden (vgl. Fahrig, 2000). Dabei kann die Entfernung von der realen Ebene einen Sicherheitsabstand fr das Kind bedeuten, und die inszenierten Geschichten kçnnen unbewusstes Material herausfordern. Mills und Crowley (1996) beschftigten sich mit der Frage, wie aus einer literarischen eine therapeutisch wirksame Metapher wird. Eine therapeutische Metapher muss neben dem Gefhl bildhafter Vertrautheit darber hinaus auch eine beziehungsmßige Vertrautheit hervorrufen, die sich auf Lebenserfahrung und vertraute Sprache bezieht. Mit Hilfe der Metapher generiert der Therapeut eine gemeinsame phnomenologische Wirklichkeit mit dem Kind, die sich aus einem metaphorischen Konflikt, unbewussten Prozessen und Fhigkeiten, parallelen Lernsituationen, einer metaphorischen Krise und deren Lçsung zusammensetzt. Als Hauptfunktionen der therapeutischen Metapher bezeichnen Mills und Crowley (1996) Neuinterpretation und Reframing. »Dies erzeugt eine dreifache empathische Beziehung zwischen dem Kind, dem Therapeuten und der Geschichte, die es dem Kind ermçglicht, ein Gefhl der Identifikation mit den dargestellten Charakteren und Ereig-

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nissen zu entwickeln. Dieses Gefhl der Identifikation ist es, das die verndernde Kraft der Metapher enthlt. […] Das Kind muß eine Brcke persçnlicher Verknpfungen zwischen sich und den Ereignissen der Geschichte herstellen, um Teile der Geschichte in sein ›wirkliches‹ Leben bertragen zu kçnnen. Bei einer wirksamen Metapher wird dieser Prozeß dadurch gefçrdert, daß das Problem einerseits genau genug dargestellt wird, so daß sich das Kind nicht lnger einsam fhlt, und andererseits indirekt genug, daß es nicht verlegen, beschmt und ablehnend wird« (S. 88).

In der Entwicklungs- und klinischen Psychologie werden oftmals spezielle Phantasieproduktionen von Kindern beschrieben, wie zum Beispiel der »imaginre Gefhrte«, die eine entwicklungsfçrdernde Funktion besitzen, Selbstheilungskrfte aktivieren und der Kompensation von Defiziten im Beziehungsbereich, der Impulskontrolle und der Abwehr narzisstischer Krnkungen dienen (vgl. z. B. Seiffge-Krenke, 2004). Die Entwicklungspsychologin und Kindertherapeutin Nizza Katz-Bernstein (2004) orientiert sich in ihrem integrativen spieltherapeutischen Ansatz am Winnicott’schen Konzept vom bergangsraum, der die Fhigkeit zur Konstruktion von innerseelischen Instanzen erlaubt, die wiederum eine kognitiv-affektive Regulation ermçglicht. Die Fçrderung der Symbolisierungsfhigkeit bzw. der Fhigkeit, Symbol- und Rollenspiele zu inszenieren, bedeute dabei, eine genuine Verbindung zwischen innerer und ußerer Realitt herzustellen. Das jeweilige genutzte Medium kann im therapeutisch geschtzten Raum eine Verbindung der unterschiedlichen Welten – der des Therapeuten und der des Klienten – untersttzen oder auch erst herstellen: »So bewegt sich keine Therapie in einem fiktiv abgeschlossenen, monadischen Raum, sondern stets in einer gemeinsam erarbeiteten Wirklichkeit. Im intersubjektiven Feld treffen sich zwei Welten, ›die sich fortlaufend enthllen und voreinander verbergen‹. […] Das gemeinsame intersubjektive Dritte ist der Stoff, aus dem sich zunehmend das Kohrenz- und Kontinuittsgefhl bildet. Es kann sich dabei um ein Narrativ (eine Geschichte), ein Bild, eine Bewegung (etwa Tanz oder Pantomime) oder auch um Musik handeln« (Brgin, 2004, S. 118 f.).

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Die Bedeutung von Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit

Bibliotherapeutische Anstze machen sich eben dieses Phnomen zunutze, dass Patienten mit Hilfe entsprechender Bcher emotional angesprochen, aber nicht abschreckend konfrontiert werden. Im Folgenden soll es um die Wirksamkeit des psychischen Mechanismus der Identifikation mit literarischen Vorbildern gehen, durch die die in der Vorstellung vorhandenen Handlungsspielrume erweitert und emotionale Schemata modifiziert werden kçnnen.

3.1 Identifikation mit literarischen Vorbildern »Gleich welches Identifikationsmuster fr eine konkrete Interaktion von Leser und literarischer Figur angesetzt wird, allen gemeinsam ist die Tatsache, daß im Moment der Identifikation der praktische Lebensvollzug des Lesers durchbrochen wird, wodurch dieser nicht nur von seinen ›praktischen Interessen und eigenen affektiven Verstrickungen‹ […] freigesetzt wird, sondern gerade durch das identifikatorische Nachvollziehen der literarischen Figur ›eingespielte Verhaltensnormen in Frage stellen oder durchbrechen‹ […] kann« (Groeben u. Vorderer, 1988, S. 212).

Im Folgenden wird zunchst auf die Begriffe der Identifikation und Projektion eingegangen, bevor anschließend verschiedene Muster der Identifikation mit literarischen Figuren und ihre Funktionen fr den Rezipienten erlutert werden. Der in der Kinderpsychotherapie oftmals verwendete Mechanismus der Identifikation ber ein Medium (Puppenhaus, Kasperletheater etc.) ermçglicht es den kindlichen Patienten, Konflikte und Probleme zu externalisieren, um sich auf diese Weise von ihnen zu distanzieren. Die so genannten projektiven Testverfahren arbeiten mit den Mechanismen der Identifikation und Projektion, um die emotionale Verfassung und individuelle Konfliktlage von Kindern und Jugendlichen (und auch Erwachsenen) genauer einschtzen zu kçnnen. Dabei wird davon ausgegangen, dass im beraterisch-therapeutischen Rahmen die mentalen Verbindungen, die im wie auch immer gearteten Identifikationsprozess zwischen Patient und literarischer Figur entstehen, zu einer heilsamen Wahrnehmungsvernderung beiragen kçnnen.

Identifikation mit literarischen Vorbildern

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Charlton und Neumann (1990) definieren in Abgrenzung zu psychoanalytischen Theorien die Begriffe der Projektion und Identifikation nicht als psychopathologische Abwehrmechanismen, sondern als regulre Wahrnehmungsprozesse und grundlegende Lernmechanismen, die sich auf die soziale Welt beziehen. hnlich wie psychoanalytische Theorien beschreiben sie den Prozess der Identifikation als einen Vorgang, durch den ein Subjekt eine Eigenschaft eines anderen Subjektes bernimmt und sich selbst vollstndig oder teilweise nach dem Vorbild des anderen umwandelt. Unter dem Begriff der Projektion verstehen sie die Gleichsetzung einer fremden Handlung mit einer eigenen Handlungsweise, wobei es sich nicht wie in der psychoanalytischen Theorie um eine abgelehnte Handlung bzw. Eigenschaft handeln muss. Eine solch erweiterte Definition dieser beiden Begriffe ermçglicht ein besseres Verstndnis der psychischen Vorgnge, die bei der Begegnung mit literarischen Texten zu erwarten sind und die eine Amplifizierung von Handlungsgestaltungen zur Folge haben kçnnen: »Projektion und Identifikation kçnnen als Wahrnehmungs- und Strukturbildungsprozesse beschrieben werden, die im Verhltnis zur Sozialwelt analoge Funktionen ausben wie Assimilation und Akkomodation bei der Bewltigung der Anforderungen im Umgang mit der Sachwelt. Identifikation bedeutet demnach, daß die wahrgenommene Handlungsstruktur in die eigene Handlungsgestaltung integriert wird. Die Folge ist – ganz analog zu dem Fall einer Akkomodation in Bezug auf manipulative Handlungsschemata –, dass das interaktive Handlungsschema des Subjektes erweitert wird. Projektion bedeutet hingegen, daß die vom Subjekt ausgebildeten interaktiven Strukturen einer Sozialwelt bergestlpt werden – analog zur Assimilation einer neuen Situation an ein bereits bestehendes manipulatives Schema« (Charlton u. Neumann, 1990, S. 155).

Auf das Rezeptionsverhalten von Kindern bezogen beschftigen sich Charlton und Neumann (1990) in ihrer empirischen Untersuchung zu Medienrezeption und Identittsbildung unter anderem mit der Frage, welche Strategien Kinder benutzen, um Medienerlebnisse mit frheren Erfahrungen und der aktuellen Lebenssituation in Verbindung zu bringen, und inwieweit die Entwicklung der personalen und sozialen Identitt durch Medi-

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enerfahrungen in der Kindheit behindert und gefçrdert wird. Bei den – weitgehend durch teilnehmende Beobachtung erstellten – Rezeptionsanalysen stellte sich heraus, dass Kinder Mediengeschichten aus subjektiver Perspektive betrachteten, das heißt, eine bestimmte Geschichte – zum Beispiel die eines Bilderbuchs – wurde von dem jeweiligen Rezipienten zu seinem eigenen Thema in Beziehung gesetzt. Gute Kinderbcher sind nach Charlton und Neumann (1990) so angelegt, dass sie sowohl Hilfen zur Identifikation als auch solche zur Distanzierung bereitstellen; Herstellung und Verweigerung von Gemeinsamkeit stellten zwei basale Formen dar, die zu jeder menschlichen Beziehung gehçrten. Die Reaktionsformen Identifikation und Distanzierung auf das Medium Kinder- und Jugendliteratur stellen in der hier vorgenommenen empirischen Untersuchung eine wesentliche Komponente dar, ebenso wie die Erkenntnis, dass die sich an die Rezeption anschließende Kommunikation fr die Bezugnahme auf eigene Lebensthemen hilfreich sein kann, wenn Medien in einem sozialen Raum rezipiert werden. Im nchsten Abschnitt mçchte ich die bisher angestellten berlegungen zu verschiedenen Identifikationsmçglichkeiten anhand einer konkreten literarischen Figur illustrieren und auf Mçglichkeiten und Schwierigkeiten bei der Einbeziehung literarischer Protagonisten in die Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen verweisen.

3.2 Harry Potter als Beispiel einer Identifikationsfigur fr Kinder und Jugendliche im Kontext von Therapie und Beratung Joanne K. Rowling, geboren 1965, verçffentlichte 1997 den ersten Band von Harry Potter. Die mrchenhafte Erfolgsgeschichte der bisher erschienenen Bnde und die verschiedenen psychologisch-soziologischen und literarischen Grnde fr diesen Erfolg sind vielfach erçrtert worden (vgl. z. B. Tucker, 1999; Knobloch, 2000; Brvenich, 2001; Rank u. Just, 2002; Elstner, 2004) und sollen an dieser Stelle nicht nher ausgefhrt werden. Besonders

Harry Potter als Beispiel einer Identifikationsfigur

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bemerkenswert ist jedenfalls, wie stark diese Romane Erwachsene, Kinder und Jugendliche in den Bann ziehen und als vergleichsweise altmodisches Medium auch bei wenig lesebegeisterten Kindern und Jugendlichen mit anderen, leichter konsumierbaren Medien in Konkurrenz treten konnten. »This ability to rival the energy of the video games on the printed page while adding in a a consistently brilliant line of jokey inventiveness is surely Rowling’s most innovatory literary gift, and one which marks her out for critical as well as popular acclaim« (Tucker, 1999, S. 232).

Harry Potter ist, darin ist sich ein Großteil der Literaturwissenschaftler einig, ein gut geschriebenes, seine Leser ernst nehmendes und sprachlich nicht unterforderndes Werk, das sich nach allen Regeln der Kunst bemht, Spannung aufzubauen und seinen Figuren Leben zu verleihen. Rowling zeigt auf dichte und humorvolle Weise, wie Kinder mit unterschiedlichen Strken und Begabungen komplizierte Situationen bewltigen, ohne dabei das Leid und die Anstrengung zu verschweigen, die die Auseinandersetzung mit schwierigen Themen mit sich bringt. »Rowling missbraucht nie die phantastischen Mçglichkeiten ihrer Helden, um etwa verfahrene Handlungsstrnge aufzubrechen. Harry Potter zieren keine Superkrfte, sondern er hat zu ackern und zu lernen« (Elstner, 2004, S. 6).

Harry Potter ist am ehesten der phantastischen Kinderliteratur zuzuordnen; die Romane sind auf dem Zwei-Welten-Modell aufgebaut und weisen ein Geflecht verschiedener literarischer Bezge auf; es werden Elemente aus »school stories«, Detektivgeschichten, Bildungs- und Entwicklungsromanen, aus dem Bereich der Fantasy und dem satirisch-komischen Genre verwendet (vgl. Rank u. Just, 2002). Rowling verfgt ber eine pointierte, authentisch wirkende Umgangssprache, die mit Ironie und Witz spielt und die primre Zielleserschaft nicht durch »Kindertmelei« verrgert (vgl. Brvenich, 2001). Verschiedene Themen und Motive werden abgehandelt: Im Mittelpunkt steht der Kampf zwischen Gut und Bçse, wobei das Gute und das Bçse durchaus facettenreich dargestellt und nicht immer leicht zu

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unterscheiden sind. Weitere dominierende Themen sind Schule, Freundschaft und nicht zuletzt Harrys Entwicklung vom mnnlichen Aschenputtel und Außenseiter zum mutigen Helden, der dennoch bislang halbwegs bescheiden geblieben ist (vgl. Knobloch, 2000). Schließlich erzhlt Harry Potter die uralte Geschichte vom besonderen Kind, das alles in sich trgt und somit auch alles werden kann (vgl. Mattenklott, 2001; Maar, 2002): »Der moderne Kindheitsmythos zeichnet das Kind als Siegelbewahrer der Vernunft des Herzens, der die Liebe mehr gilt als Macht und Geld. Im Licht dieses Mythos ist das Kind unschuldig im Sinn einer ursprnglich moralischen Integritt […]. Harry Potter gehçrt in diese Reihe. Mit vielen der kindlichen Eltern dieser Geschichten teilt er seine geheimnisvolle Herkunft und sein lange Zeit verborgenes Leben ebenso wie seinen bisher immer nur partiellen Sieg ber das Bçse und seine spontane, von Liebe, Freundschaft und Mitleid getragene Moral« (Mattenklott, 2001, S. 40).

Der Aspekt, der mich in diesem Rahmen an den Harry-PotterRomanen interessiert, ist ihr therapeutisches Potenzial. Harry Potter ist in seinem Wert fr die beraterische und therapeutische Praxis als eines der wenigen kinder- und jugendliterarischen Werke bereits von rzten, Psychologen und Kinder- und Jugendtherapeuten entdeckt worden (vgl. Berloge, 2001; Saitner, 2002; Subkowski, 2004; Bçgle, 2004). Dies fhrt in einigen Fllen zu sehr psychologisierenden Interpretationen: »In den Harry-Potter-Bnden wird exemplarisch die psychische Entwicklung eines traumatisierten Jungen von der frhen verinnerlichten Mutterliebe ber das massive Verlusttrauma zur Zeit der analen Phase und der kumulativen Traumatisierung durch die Vernachlssigung und das Gequltwerden bei seinen Verwandten dargestellt« (Subkowski, 2004, S. 738).

Hier wird eine starke psychologische Vereinnahmung eines literarischen Textes deutlich – abgesehen davon, dass Subkowski unter anderem ganz offensichtlich die »Tatsache« bersieht, dass Harry bei Verlust seiner Eltern erst ein knappes Jahr alt ist und deshalb sein mangelndes Erinnerungsvermçgen an den Tod der Eltern nicht einer posttraumatischen Amnesie – so Subkowski –, sondern allein seinem Alter zuzuschreiben wre. Wrde man

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Rowling unterstellen, das Psychogramm eines kumulativ traumatisierten Jungen zeichnen zu wollen, msste man ihr vorwerfen, ein ganz und gar unrealistisches Bild dieses Jungen entworfen zu haben, denn Harrys psychische Funktionen sind weitgehend intakt beschrieben; er ist eine Figur mit außerordentlich gutem Sozialverhalten, beziehungsfhig etc. und zeigt sich nicht so beschdigt, wie es nach der Ermordung seiner Eltern und zehnjhriger Qulerei bei seinen Verwandten zu erwarten wre. Aber Harry Potter ist kein Psychogramm eines realen Jungen, Harry Potter ist ein fiktiver Held mit menschlichen und liebenswerten Zgen. Diese Vereinnahmung geht zum Teil so weit, dass der Protagonist Harry einer realen Diagnose unterzogen wird: Subkowski (2004) und Berloge (2001) sehen bei Harry typische Anzeichen einer Traumatisierung, intrusive Gedanken, Flashbacks, Amnesie, emotionale Betubung, ein geschwchtes Selbstwertgefhl; die Quelle fr seine dennoch vorhandenen Strken lge im ersten Lebensjahr, wo Harry ein stabiles Urvertrauen habe entwickeln kçnnen. »Wir kçnnen also diagnostizieren, dass Harry Potter an einer posttraumatischen Belastungsstçrung (PTBS) leidet, an deren Bewltigung er in der Folgezeit ber mehrere Jahre arbeiten muss« (Subkowski, 2004, S. 744).

Der Autor und Psychotherapeut Jung (2004) macht, nachdem er Harry zum einen attestiert hat, dass er »an der Wunde des Ungeliebten leide« und zum anderen das »ber alles geliebte Wunschkind« sei – woher er das weiß, bleibt unbelegt –, selbst vor der Diagnose anderer, eindeutig karikierend gezeichneter Romanfiguren nicht halt: »Tante Petunia, im Grunde eine unerfllte Frau voller Abwehr und Unerlçstheit, erdrckt ihren Sohn Dudley mit ihrer Overprotection. […] Mit ihrer symbiotischen Liebe zu Dudley verhlt sich Petunia wie ein Zweikomponentenkleber. Sie nimmt ihm und sich die Luft zum Leben« (S. 32 f.).

Insgesamt erscheint es schwierig, den Balanceakt zu vollbringen, Harry Potter bzw. kinder- und jugendliterarische Texte berhaupt psychologisch zu interpretieren, ohne ihren Figuren dabei

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Die Bedeutung von Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit

psychologisierend »Gewalt« anzutun. In erster Linie handelt es sich um fiktive, knstlerische Texte, die ihrer eigenen und nicht immer psychologischen Logik folgen und deshalb auch nicht eins zu eins bersetzt und »verrealisiert« werden drfen, sondern als Metapher zu belassen sind. Maar (2002) verweist in seiner klugen und schçn geschriebenen Analyse der Harry-Potter-Bnde »Warum Nabokov Harry Potter gemocht htte« auf das spekulative Element in den »psychologisch korrekten« Deutungen und bezweifelt, dass die Autorin bei ihrer in weiten Strecken raffiniert durchdachten Romankomposition tatschlich so einfache Botschaften transportieren wollte. Die Texte werden oftmals funktionalisiert, ohne dass diese Funktionalisierung als Konstruktion, die mit dem literarischen Ursprungstext nicht mehr viel zu tun hat, reflektiert wird. Dabei macht es einen Unterschied, ob der Text nur auf sehr subjektive Weise gelesen und mçglicherweise sehr textfern verarbeitet wird, oder ob der Text çffentlich interpretiert wird, diese Interpretation Anspruch auf eine gewisse Gltigkeit erhebt und somit zweckentremdet und tatschlich in seiner Intaktheit angegriffen wird. Die Harry-Potter-Geschichten bieten andererseits aber tatschlich – auch auf Grund der breiten Rezeption durch Kinder und Jugendliche – eine Vielzahl ntzlicher und wertvoller Strategien fr die Behandlung von traumatischen, depressiven und Angst-Stçrungen; als ein Beispiel ist der »Patronuszauber« zu nennen, der zur Kreation eines inneren Beistandes in bedrohlichen Situationen beitrgt bzw. gegen die berflutung traumatischer Erinnerungen oder das Versinken in depressive Stimmungen hilft. Die Psychoanalytikerin Barbara Saitner verweist explizit auf ihren Blickwinkel, unter dem sie Harry-Potter-Romane gelesen und therapeutisch verwendet hat, und distanziert sich auf diese Weise von einer psychologisch vereinnahmenden Interpretation: »Psychoanalytisch gesehen sind die Bcher Rowlings mit ihrer archaischen und verdichteten Symbolsprache eine Fundgrube fr die in der Fachliteratur beschriebenen Angstvariationen von der Phobie, Kastrationsangst, Trennungsangst, Angst vor berflutetwerden von negativen Affekten,

Harry Potter als Beispiel einer Identifikationsfigur

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Angst vor Autonomieverlust bis zur Angst vor Selbstverlust« (Saitner, 2002, S. 190 f.).

Saitner findet meines Erachtens eine angemessene sprachliche bersetzung, um den psychoanalytischen Gehalt und Wert der Harry-Potter-Romane zu verdeutlichen, ohne zu unterstellen, dass die Bcher in dieser Absicht verfasst wurden. Harry Potter eignet sich insgesamt sehr gut als Projektionsflche fr eigene Wnsche und Konflikte; der Leser erkennt Themen wie Verlust, Verrat und Enttuschung wieder und kann sich beim Lesen von Harrys Abenteuern, die die Auseinandersetzung mit ngsten vor Schlangen, Spinnen, Geistern etc. sowie mit Prfungsangst, Strafangst, sozialer Beschmung, Mobbing, Trennung und Tod beinhalten, sich »probeweise« eigenen existenziellen ngsten und Konflikten stellen. Dabei macht die Lust an der Angst einen besonderen Reiz aus. In den Bchern wird deutlich, dass Wachstum ohne berwindung von Angst, Regelverstoß und Grenzberschreitung nicht mçglich ist; es werden eine Vielzahl von Problemlçsestrategien angeboten, die insbesondere die Kreativitt und schçpferische Kraft der Kinder ansprechen (vgl. Saitner, 2002). Zudem greift Rowling fr Kinder und Jugendliche und deren Entwicklung relevante Themen auf, wie zum Beispiel die Erprobung der kçrperlichen Geschicklichkeit (Quidditch), den Erwerb grundlegender Fertigkeiten (Unterricht), Gewissens- und Moralentwicklung, Einstellungen gegenber sozialen Systemen (Stellung der Hauselfen) und die emotionale Unabhngigkeit von Eltern und anderen Erwachsenen (vgl. Bçgle, 2004), und bietet somit eine große Vielfalt an Identifikationsmçglichkeiten fr sehr unterschiedliche Leser an.

4 Die Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in der therapeutischen Praxis: Untersuchungsdesign

Bei meiner Untersuchung ging es mir um die Erforschung einer Verbindungsmçglichkeit zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt durch ein Medium in einem spezifischen, nicht alltglichen, sprich therapeutisch-beraterischen Kontext. Damit wollte ich einen Beitrag zur Praxisforschung leisten, der zum einen den Einsatz des Mediums Kinder- und Jugendliteratur in Psychotherapie und Beratung theoretisch untermauert und einen realen Nutzen fr Praktiker/innen aufweist; zum anderen wollte ich aber auch auf das breite, fundierte und von der Forschung oftmals ignorierte Wissen von Praktiker/innen hinweisen. Die Untersuchung hatte zum Ziel, die bisherige Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in therapeutischen und beraterischen Prozessen mit Kindern und Jugendlichen zu eruieren und des Weiteren Experten das Medium Kinder- und Jugendbuch in einer zeitlich begrenzten Phase »testen« zu lassen, um seine Probatheit einschtzen zu kçnnen. Es ging also in erster Linie darum, die Bereitschaft von Berater und Therapeuten, das Medium Kinder- und Jugendliteratur in ihrer Arbeit einzusetzen, und ihre Einschtzung hinsichtlich der Brauchbarkeit dieses Mediums zu erfassen, wobei als Nachteil angesehen werden mag, dass ich durch die Beschrnkung auf die Erhebung der Expertenmeinung nicht aus erster Hand erfuhr, wie die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Einbeziehung von Kinder- und Jugendbchern im Beratungs- und Therapieprozess erlebten, sondern ber deren Einschtzungen nur »durch die Brille« des jeweiligen Experten Kenntnis erhielt.

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Die therapeutische und beraterische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen stellt die Behandelnden immer wieder vor die Herausforderung, neue Zugangswege zu den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen zu finden und sich mit ihnen auf angemessene Art und Weise dialogisch zu verstndigen. Anders als es oftmals in der therapeutischen Arbeit mit Erwachsenen der Fall ist, kann weder ohne Weiteres von einem gemeinsamen Sprach- und Abstraktionsniveau noch von einer zumindest hinsichtlich bestimmter Generationserfahrungen hnlichen Lebenswelt ausgegangen werden. Kinder und Jugendliche denken und sprechen anders und interessieren sich in der Regel fr vçllig andere Dinge als Erwachsene. In der therapeutischen und beraterischen Arbeit, der sich Kinder und Jugendliche zudem nicht selten nur auf Druck der Eltern unterziehen, ist es daher wichtig, Brcken zwischen diesen verschiedenen Lebens-, Sprach- und Denkwelten zu schaffen, um so ein Arbeitsbndnis herzustellen und darauf aufbauend die Beziehung zwischen Behandelnden und Klienten zu strken bzw. zu vertiefen. Fr diesen Brckenbau ist meines Erachtens neben einem lebhaften Interesse von Therapeuten und Berater fr die aktuelle Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen der Einsatz von Medien hilfreich. In der beraterischen und therapeutischen Arbeit mit jngeren Kindern ist die Einbeziehung von Figuren, Puppen, Papier und Stiften in der Praxis und insbesondere im Rahmen der Spieltherapie absolut blich, bei Jugendlichen wird seltener auf solche Mittel zurckgegriffen. Als therapeutisches Medium kann im weitesten Sinne alles verstanden werden, was als Drittes in die Therapeut-PatientBeziehung einbezogen wird – so das Pferd in der Reittherapie, der Ton in der Ergotherapie usw. Der Jugendbuchautor Andreas Steinhçfel bezeichnet beispielsweise »Pdagogen so ziemlich als das Schlimmste, was jedweder Art von Literatur und Kunst berhaupt passieren kann« (Steinhçfel, 2001, S. 25), da diese mit Hilfe von Jugendliteratur vor allem aufklren wollten. Ich denke nicht, dass Bcher zwangslufig ihren literarischen Charakter einbßen, wenn sie zu pdagogischen oder auch therapeutischen Zwecken verwendet werden, auch wenn sie in diesem Zusammenhang nur fragmentiert gelesen, wenn aus ihnen vorgelesen oder zitiert wird.

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Kinder- und Jugendliteratur und Beratung bzw. Psychotherapie stehen an sich in keinerlei Zusammenhang. Kinder- und Jugendbcher – zumindest jene, die im Rahmen dieses Projektes verwendet wurden – sind nicht zu therapeutischen Zwecken geschrieben worden. Ebenso wie Pferde, Delphine, Ton, Papier und Stifte haben Kinder- und Jugendbcher nicht an sich einen therapeutischen Charakter. Aber alle diese Lebewesen und Dinge lassen sich in einem therapeutischen bzw. beraterischen Prozess nutzbringend einsetzen, ohne dass sie ihren eigentlichen Charakter verlieren. Auch wenn ein Pferd im Rahmen der Reittherapie nur Schritt luft und sich geduldig streicheln lsst, heißt das nicht, dass es in einem anderen Kontext nicht galoppieren und seine ganze Kraft entfalten kann. Die Bcher, die ich fr dieses Projekt ausgewhlt habe, verfgen meines Erachtens alle ber eine besondere literarische Kraft und Schçnheit und kçnnen aus diesem Grunde auch im therapeutischen Prozess eine Wirkung erzeugen. Daraus ist aber nicht der Umkehrschluss zu ziehen, dass sich das gesamte literarische Potenzial dieser Bcher in der jeweiligen Therapie bzw. Beratung niederschlagen muss. Ich interessierte mich also fr folgende, empirisch zu bearbeitende Fragen: – Welche Erfahrungen haben Kinder- und Jugendlichentherapeuten bislang mit dem Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur in ihrer Arbeit gemacht? – Inwiefern beeinflusst nach Einschtzung der befragten Experten die Verwendung ausgesuchter literarischer Werke in der Therapie und Beratung die Entwicklung ihrer Klient/ innen? – Welchen generellen Nutzen und welche Schwierigkeiten sehen die Experten bei der Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in ihrer Praxis? Die erhobenen empirischen Daten wurden auf der Basis von Experteninterviews zu zwei Zeitpunkten gewonnen (vgl. Bogner u. Menz, 2002a, 2002b) Im Vorfeld wurden Probeinterviews mit zwei Kinder- und Jugendlichentherapeuten gefhrt, um den aus theoretischen berlegungen und praktischen Vorerfahrungen generierten Interviewleitfaden durch empirisch gewonnene

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Daten zu modifizieren und anzupassen. Insgesamt wurden 32 leitfadenorientierte Interviews mit 16 Therapeuten, die mit Kindern und Jugendlichen beraterisch und/oder psychotherapeutisch arbeiten, im Abstand von ca. sechs Monaten gefhrt. Die Kriterien zur Auswahl der Interviewpartner/innen bestanden in erster Linie in der Motivation der Therapeuten, mit einem in ihrem Arbeitszusammenhang neuen Medium zu arbeiten, und zum anderen in einer mçglichst großen Heterogenitt hinsichtlich der Art der Ausbildung, des beraterischen bzw. therapeutischen Arbeitsrahmens und institutionellen Kontexts, des Geschlechts und einer mçglichst weitreichenden geografischen Verteilung. Der Erhebungszeitraum belief sich auf insgesamt 13 Monate; nach zwei Probeinterviews, in denen die Anwendbarkeit des Interviewleitfadens berprft werden sollte, wurden bundesweit ca. 30 Experten aus verschiedenen Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen beraterisch-therapeutisch arbeiten, schriftlich, telefonisch oder persçnlich um ihre Teilnahme angefragt; Insgesamt wurden jeweils zwei Interviews mit 16 Experten durchgefhrt. Die Interviews zum ersten Zeitpunkt (T 1) wurden bis auf ein Interview alle im persçnlichen Kontakt durchgefhrt und per Video aufgezeichnet. Die Interviews zum zweiten Zeitpunkt (T 2) wurden zum Teil im persçnlichen Kontakt und zum Teil auf Grund der großen rumlichen Distanzen telefonisch durchgefhrt und mitgeschnitten. Ein Interview wurde zu beiden Zeitpunkten telefonisch gefhrt – da zwischen Interviewerin und der Interviewten bereits ein guter persçnlicher Kontakt herrschte, schien diese Form vertretbar. Alle befragten Experten verfgten ber mindestens fnf Jahre – die meisten ber zehn bis fnfzehn Jahre – Berufserfahrung und ber mindestens eine therapeutische Zusatzausbildung. Insgesamt wurden fnf Mnner und elf Frauen interviewt, darunter acht Psycholog/innen, vier rztinnen und vier Pdagog/innen, die zum Teil in Großstdten (Hamburg, Berlin, Dsseldorf), zum Teil in Mittelzentren (Lbeck, Stralsund) und zum Teil in lndlichen Gebieten (Nord- und Sdbrandenburg, Mecklenburg-Vorpommern) ttig waren. Vier Experten arbeiteten in Erziehungs- und Familienberatungsstellen, sieben in

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eigenen Praxen bzw. Praxisgemeinschaften und fnf an insgesamt drei verschiedenen Kliniken fr Kinder- und Jugendpsychiatrie im ambulanten bzw. stationren Bereich. Unter den Interviewpartner/innen verfgten sieben ber eine familientherapeutische, vier ber eine verhaltenstherapeutische, drei ber eine tiefenpsychologische und drei ber eine integrative Therapieausbildung. Eine Therapeutin hatte eine gestalttherapeutische und ein Therapeut eine psychoanalytische Ausbildung abgeschlossen; drei Therapeuten verfgten ber eine Doppelausbildung. Als Erhebungsinstrument whlte ich das leitfadengesttzte, offene Interview. Der Interviewleitfaden zum ersten Interviewzeitpunkt orientierte sich nach einer einleitenden Vorbemerkung an den weiter unten beschriebenen Fragen. Bevor Bchern und Literatur im beraterisch-therapeutischen Kontext zum Einsatz kommen, ist es wichtig, die eigene Einstellung und subjektive Erfahrungen mit diesem Medium zu reflektieren; daher befragte ich meine Interviewpartner/innen zunchst nach ihren persçnlichen Erinnerungen und ihrer nachtrglichen Einschtzung, was fr sie an einzelnen Geschichten oder Helden wichtig gewesen sei, bevor ich mich fr ihre professionelle Einschtzung zu dem gegebenen Thema interessierte. Nach Abschluss der Interviews zum Zeitpunkt T 1 erhielten die Experten die in Kapitel 5 beschriebenen Kurzzusammenfassungen der zehn ausgewhlten Bcher, wobei sie lediglich die Inhaltsangaben (»Zum Text«) und nicht meine Interpretationsvorschlge (»Mçgliche Lesarten«) erhielten, um die Rezeption der Texte nicht vorschnell auf eine bestimmte Sichtweise einzuengen. Innerhalb von zwei Wochen nach dem ersten Interview entschied sich jeder Interviewpartner fr drei Bcher, die ihm dann von mir zugeschickt wurden. Jedem Interviewpartner wurde angeboten, sich zwecks Rckfragen in der Zeit zwischen den beiden Interviews mit mir telefonisch in Verbindung zu setzen, was von einigen auch in Anspruch genommen wurde. Nach fnf bis sieben Monaten wurden die Interviews T 2 gefhrt.

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Die ausgewhlten Bcher

Die Suche nach geeignet erscheinender Kinder- und Jugendliteratur gehçrte zu der schwierigsten und gleichzeitig schçnsten Phase im gesamten Forschungsprozess. Insgesamt habe ich in einem Zeitraum von vier Monaten ca. 100 Kinder- und Jugendbcher, die zwischen 1960 und 2004 geschrieben bzw. publiziert wurden, aus zwei çffentlichen Stadtbibliotheken (Berlin-Mitte, Stralsund) zusammengetragen und gelesen. Dabei habe ich mich in meiner Suche an der Auswahlliste des deutschen Jugendliteraturpreises orientiert; dieser Preis wird vom Bundesministerium fr Familie gestiftet und seit 1956 jhrlich als einziger Staatspreis fr Literatur in Deutschland verliehen (vgl. Arbeitskreis fr Jugendliteratur e.V., 1996). Darber hinaus habe ich mich von den Empfehlungen zweier bekannter Rezensentinnen von Kinder- und Jugendliteratur, Susanne Gaschke (2002) und Monika Osberghaus (2003), leiten lassen. Allgemeine Kriterien fr die Auswahl der Bcher waren in erster Linie literarische Komplexitt bzw. Facettenreichtum, therapeutisches Potenzial sowie Heterogenitt in Genre, Zielgruppe und Thematik. Die ausgewhlten Bcher sollten keine eindeutige (therapeutische) Botschaft vermitteln, sondern sich auf verschiedenen Ebenen lesen und verstehen lassen, um auf diese Weise den Experten und Patient/innen die Mçglichkeit zu geben, sich dem Text auf unterschiedliche Art zu nhern bzw. sich von ihm zu distanzieren (vgl. Charlton u. Neumann, 1990). Der Kinderbuchautor Otfried Preußler benennt einige Kriterien fr seines Erachtens gut geschriebene Kinder- und Jugendliteratur, die ich bei der hier getroffenen Auswahl der Bcher

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Die ausgewhlten Bcher

bercksichtigt habe und bei der Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in der Beratung und Psychotherapie generell fr wesentlich halte: Die Geschichten mssten einfach, schlank und stringent erzhlt sein und in ihrem Inhalt authentisch und berhrend sein. Sie sollten einfache, aber keine simple Weisheit transportieren und das Kind bzw. den Jugendlichen auf unterhaltsame und spannende Weise geistig und emotional anregen (vgl. Pleticha, 1998). Die Bcher, die ich ausgewhlt habe, sind hinsichtlich Genre, Erzhlweise und Zielgruppe sehr heterogen. Die Rahmenhandlungen ereignen sich zum Teil vor einem vçllig realistischen Hintergrund (»Marsmdchen«), zum Teil in einer ungebrochen phantastischen Welt (»Geschichten aus dem Mumintal«) und zum Teil im bergang bzw. Wechsel zwischen zwei Welten (»Der mechanische Prinz«). In einigen Bchern dominiert eine auktoriale Erzhlsituation (»Wanja«, »Geschichten aus dem Mumintal« und »Konrad aus der Konservenbchse«), das heißt, bei diesen Bchern wird den Lesern durch die stndige Prsenz einer Außenperspektive das Gefhl vermittelt, dass ihnen eine Geschichte erzhlt wird, in die sie eintauchen kçnnen. Der Roman »Marsmdchen« ist als Ich-Erzhlung verfasst und gibt den Lesern die Mçglichkeit, sich auf die Perspektive der Erzhlerin einzulassen oder sich von dieser abzugrenzen. »Der mechanische Prinz«, »About a Boy« und »Das Wildpferd unterm Kachelofen« bieten durch den stndigen Perspektivwechsel in ihren Erzhlungen gleichzeitig Identifikations- und Distanzierungsmçglichkeiten, whrend die personale Erzhlweise der Harry-PotterRomane stark zur Identifikation und Projektion auffordert. Das Spektrum der beschriebenen Helden reicht von einem sechsjhrigen Jungen mit ausgeprgten kindlichen ngsten bis zu einem 15-jhrigen Mdchen in einer Identittskrise. Insgesamt sollte den Experten eine mçglichst große Vielfalt an Textarten und mçglichen Identifikationsfiguren fr ihre Patient/innen angeboten werden. Ein weiterer allgemeiner Gesichtspunkt, der fr die Auswahl der Bcher eine Rolle spielte, liegt in einer persçnlichen Vorliebe. Alle Bcher, die ich ausgewhlt habe, gefallen mir selbst. Dieses Kriterium, das auf den ersten Blick unzulssig subjektiv er-

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scheint, ist meines Erachtens ein sehr wichtiges. Eine der Grundvoraussetzungen, um mit Kinder- und Jugendbchern in der Beratung und Therapie zu arbeiten bzw. um die Patient/innen dazu zu motivieren, sich mit den ausgewhlten Helden auseinanderzusetzen, ist der eigene emotionale Zugang der Experten zu diesen Bchern; eine Ausnahmen bildet natrlich die Arbeit mit Bchern, die die Patient/innen von sich aus in die Beratung und Therapie bringen. Aus diesem Grunde wurde den Experten ausdrcklich nahe gelegt, sich die Bcher nicht nur im Hinblick auf die Eignung fr ihre Patient/innen auszuwhlen, sondern auch unter dem Gesichtspunkt, ob die Bcher ihnen persçnlich zusagen bzw. in ihnen eine innere Resonanz erzeugen. Die folgenden Beschreibungen der zehn ausgewhlten Bcher konzentrieren sich auf bestimmte Aspekte der Texte. Einleitend werden zunchst Anmerkungen zu Genre und Autor gettigt sowie im Einzelnen begrndet, warum dieser Text fr diese empirische Untersuchung ausgewhlt wurde. Darauf folgt eine Inhaltsangabe des jeweiligen Buches bzw. Geschichte, die mit einer »mçglichen Lesart« des Textes abschließt. Die Zwischenberschriften »Mçgliche Lesarten« sollen die Subjektivitt meiner Interpretation verdeutlichen. Ich habe die folgenden Bcher – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – vor allem unter dem Blickwinkel ihres therapeutischen Potenzials gelesen, das heißt, ich habe mich auf die Beschreibung potenzieller Identifikationsfiguren, deren Umgang mit krisenhaften Situationen und ihre Auseinandersetzung mit emotionalen Konflikten konzentriert und beispielsweise weniger – etwa bei »Ronja Rubertochter« – auf den Abenteuercharakter eines Buches. Trotzdem ist Letzterer vorhanden; ich habe ihn beim Lesen genossen und er ist ein unverzichtbarer Bestandteil fr die Kinder und Jugendlichen, die das Buch lesen. Insgesamt habe ich mir erlaubt, den Inhalt der Bcher unter einem spezifischen Blickwinkel zu beschreiben, und mich gleichzeitig dabei bemht, deren literarisches und spannungsvolles Eigenleben erkennbar werden zu lassen. Ich hoffe, dass mir dieser Balanceakt gelungen ist.

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5.1 Vernderungen brauchen ihre Zeit – »Die Abenteuer des starken Wanja« von Otfried Preußler »Ohne die Gabe der Phantasie wre der Mensch mit all seinem Verstand nicht dazu befhigt gewesen, auch nur eine einzige bahnbrechende Erfindung zu machen, ohne sie auch nur um einen einzigen Schritt auf dem Wege des technischen, des wirtschaftlichen, des kulturellen, auch des moralischen Fortschritts weiterzukommen. Ohne Phantasie keine Liebe auf dieser Welt, aber auch kein Haß; ohne sie kein Edelmut, aber auch kein Verbrechen; ohne sie keine Sehnsucht nach dem ewigen Leben, ohne sie keine Todesfurcht« (Preußler, zit. in Pleticha, 1998, S. 57).

Preußler berichtet, dass ihm Geschichten und damit die Fhigkeit zu trumen und zu lachen ber die schlimmsten Zeiten seines Lebens wie zum Beispiel seine Jahre in sowjetischer Gefangenschaft hinweghalfen; die Flucht in die Geschichten sei fr ihn lebenserhaltend gewesen. Seine Erzhlungen und Romane entstnden im Dialog mit einem kleinen Jungen, der ihm bei seinen Erfindungen zuhçre und der er vor sehr langer Zeit einmal selbst gewesen sei: »Er hat eine Vorliebe fr Geschichten, an denen er seinen Verstand schrfen und seine Fhigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, unter Beweis stellen kann. Er legt Wert darauf, daß man ihn nicht fr dumm verkauft und hat eine erklrte Abneigung gegen jede Art von tantenhaftem Getue, besonders wenn es von einem Onkel ausgeht. Was er bevorzugt, sind ohne Umschweife erzhlte, schlanke Geschichten, in denen sich ›etwas rhrt‹. Er wnscht, daß ich die Dinge beim richtigen Namen nenne, und wird ungeduldig, sobald ich mich auf Nebenschlichkeiten einlasse, die er fr unerheblich hlt … Natrlich ergeben sich dann und wann Spannungen zwischen meinem Partner und mir. Whrend er in erster Linie von mir erwartet, daß ich ihm mit meinen Geschichten auf unterhaltsame Weise die Zeit vertreibe, kommt es mir mehr darauf an, ihm mit Hilfe eben dieser Geschichten eine Gelegenheit zu verschaffen, in seinem Leben und der Entwicklung seines Bewußtseins ein Stck voranzukommen. Das geht dann hufig nicht ohne Kompromiß ab. Aber aufs ganze gesehen, verstehen wir uns recht gut miteinander« (Preußler, zit. in Pleticha, 1998, S. 97 f.).

In dieser Passage wird das Spannungsverhltnis zwischen dem Autor, der eine wie auch immer geartete Botschaft vermitteln

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will, und dem vom Autor antizipierten kindlichen Leser, der in erster Linie unterhalten und nicht belehrt werden will, deutlich. »Die Abenteuer des starken Wanja«, das 1981 bei Thienemann erschien, war zunchst als Drehbuch fr einen Puppenspielfilm gedacht; die ausgereifte Erzhlung und die zentrale Figur des alten Zaren entstanden erst spter (vgl. Pleticha, 1998). Der Roman »Die Abenteuer des starken Wanja« lehnt sich an die Tradition russischer Volksmrchen an. Die phantastischen Elemente des Volksmrchens gehen dabei zurck auf Vorstellungen lngst vergangener Epochen und inszenieren ein magisches Weltbild, das den Zauber und das Wunderbare als real voraussetzt. Altertmliche und fremdlndische Zge gelten als charakteristisch fr solche Mrchen (vgl. Nickel-Bacon, 2006) ebenso wie das Motiv der Heldenreise als Identittsfindung und archetypisches Muster der Persçnlichkeitsentwicklung. Lange (2000) wertet die Helden- bzw. die »Initiationsreise« als literarisches Modell, bei dem der Held in einem dreiteiligen Zyklus und meist unter der Einbeziehung mythischer Motive seine alte Existenz aufgibt und sich unter Bewltigung großer Gefahren eine neue erwirbt. »Die Initiationsreise stellt sich […] als ein nach außen projizierter innerer Prozess dar ; er wird in den Mythen und in den Initiationsromanen meist als reale Reise gestaltet, bei der die drei Stufen des Aufbruchs, des Aufenthalts in der Fremde mit berwindung von Schwierigkeiten und der Rckkehr als ein neuer Mensch sichtbar werden« (Lange, 2000, S. 82).

»Die Abenteuer des starken Wanja« beruhen auf einem kindlichnaiven, auf Harmonie und guten Ausgang bedachten Weltbild und zeichnen alles andere als psychologisch komplexe Figuren. Der wichtigste Grund, diesen Roman auszuwhlen, bestand in der kindgerechten und dennoch eindrucksvollen metaphernreichen Beschreibung der inneren Wandlung eines Helden und der unaufdringlichen Vermittlung der therapeutisch meines Erachtens so wichtigen Botschaft, dass »die Dinge ihre Zeit brauchen«.

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5.1.1 Zum Text »›Sieben Jahr Lag der Faule Wanja Wohl auf dem Backofen Hej! Stark ist der faule Wanja geworden Wohl auf dem Backofen Hej!‹« (S. 65)

Im Mittelpunkt dieses mrchenhaften Romans steht der 17-jhrige Wanja als jngster von drei Brdern, der mit seinem Vater und seiner alten Tante in einem kleinen russischen Dorf lebt. Wanja, von seinen Brdern nicht wohl gelitten, von seiner Tante geliebt und verwçhnt, wird als ein »ungeheurer Faulpelz« beschrieben. Am liebsten isst und schlft er und vertrumt den ganzen Tag. Eines Tages wird er von seiner Tante in den Wald geschickt, um Birkenreiser fr einen neuen Besen zu holen. Wanja macht sich auf, um diese Aufgabe zu erledigen, schlft aber im Wald bald darber ein. Im Halbschlaf macht er die Begegnung mit einem blinden Mann im Pilgermantel. Dieser kndigt ihm an, dass die Zarenkrone hinter sieben Lndern und Kçnigreichen auf ihn warte. »›Was wrdest du sagen‹, begann er, ›wenn jemand kme und dir erçffnete, daß du Zar werden sollst?‹ ›Den wrde ich auslachen‹, erwiderte Wanja. ›Und doch wartet in einem fernen Land eine Zarenkrone auf dich‹, fuhr der Alte fort. ›Auf mich?‹ Wanja mußte nun wirklich lachen. ›Du scheinst nicht zu wissen, Vterchen, daß ich der faule Wanja bin. Ich – und Zar werden!‹« (S. 13).

Wanja, so sagt ihm der Pilger, msse nichts weiter tun, als mit sieben Scken Sonnenblumenkernen und sieben Schafspelzen eine Zeit auf dem Ofen zu liegen, zu faulenzen und zu schweigen, um fr die großen Aufgaben, die ihm bevorstnden, Kraft zu sammeln. Als Beweis, dass die Zeit reif sei, msse er nach jedem verzehrten Sack Sonnenblumenkerne versuchen, das Dach ber seines Vaters Haus mit den Armen emporzustemmen. Wanja

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beginnt ihm zu glauben, als der Alte das Dreikopekenstck erwhnt, das Wanja von seiner Mutter auf dem Sterbebett erhalten hat, und erklrt, dass es Wanja als Wegweiser dienen solle. Wanja befolgt die Anweisungen des alten Pilgers und verbringt so sieben Jahre auf dem Ofen. »Immer dann, wenn er einen der Scke leergegessen hatte, machte er, wie es der Blinde ihn geheißen hatte, die Dachprobe. Flach, auf dem Rcken liegend, versuchte er, das Dach ber seines Vaters Haus mit den Hnden emporzustemmen. Doch erst beim vierten Mal kam es ihm so vor, als habe das Balkenwerk um ein winziges nachgegeben. Und als er die Dachprobe nach dem fnften Jahr wiederholte, wehte fr einen Augenblick zwischen Dach und Hauswand die khle Nachtluft herein. Daran merkte er, daß es mit seinen Krften bergauf ging von Jahr zu Jahr, und er sagte sich: ›Alles braucht eben seine bestimmte Zeit, daran lßt sich nichts ndern‹« (S. 26 f.).

Seine Brder, die den Hof bewirtschaften, fr das Auskommen der Familie sorgen und sich ber Wanjas Verhalten ungeheuer rgern, versuchen auf alle erdenklichen Arten, ihn vom Ofen herunterzulocken. Dies geht so weit, dass sie ihm sogar das Dach ber dem Kopf anznden wollen. »Grischa und Sascha erçffneten ihm, was sie im Wald beschlossen hatten: Sechs Jahre lang habe er nun gefaulenzt, das sei genug. Er mçge geflligst vom Ofen heruntersteigen und in Zukunft genauso arbeiten wie sie alle. Sonst wrden sie ihm das Haus berm Kopf in Brand stecken. Bis morgen abend habe er Zeit, sich die Sache zu berlegen« (S. 36).

An dieser Stelle eilt der Pilger Wanja zu Hilfe und bittet bei Wanjas Vater um Geduld fr Wanja. »›Dein Sohn Iwan, den sie den faulen Wanja nennen, wird eines Tages ein starker Held sein und große Taten vollbringen. Laßt ihn in Frieden auf seinem Ofen liegen, bis sich die Zeit erfllt hat. Ein Jahr noch, sage das deinen Sçhnen Grischa und Sascha – sie mçgen ein Jahr noch mit ihm Geduld haben‹« (S. 43).

Nach sieben Jahren hat Wanja schließlich gengend Krfte beisammen, das Dach seines Vaters ein Stck anzuheben. Er verlsst

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Haus und Hof, verzeiht seinen Brdern und macht sich auf den Weg in die weite Welt. Unterwegs bieten sich ihm mehrere Gelegenheiten, sich und seine neuen Krfte zu erproben, schwierige Abenteuer zu bestehen und dabei anderen Menschen zu helfen. So zieht er allein ein Frachtschiff den Fluss hinauf, besiegt den bçsen Och, der Dçrfer zerstçrt, den schwarzen Batur als schlimmsten Ruber des Landes und die Hexe Baba Jaga, die den Dorfbewohnern die Pferde stiehlt. Um die Rstung des Zaren zu holen, muss er als letzte Hrde den steinernen Ritter besiegen, um hinter die weißen Berge zu kommen und Zar zu werden. Der alte Zar – identisch mit der Person des Pilgers – ist blind und krank. Er wartet auf den Bauernburschen aus dem Birkenwald, mit dem er einst gesprochen hat. Alle außer ihm, insbesondere seine Tochter, haben die Hoffnung bereits aufgegeben, dass ein tapferer Held kommen und das Land aus seiner Not erretten wird. Es droht die Zwangsverheiratung der Zarentochter mit dem bçsen Großfrsten Dimitri, der das Land mit harter Hand regieren will. Mit Hilfe von Mischa Holzbein, einem verkrppelten Narren mit Mut und Herz, schafft es Wanja, die bevorstehende Hochzeit der Zarentochter zu vereiteln; er gelangt zu dem alten Zaren, wird von ihm zum Zaren ernannt und darf anstelle von Dimitri die Zarentochter heiraten. »Wanja blickte die schçne Wassilissa an. ›Warum sollte ich sie nicht mçgen?‹, meinte er. ›Aber was sagt deine Tochter dazu? Ich bin nur ein einfacher Bauernbursch – wer kann wissen, ob ich zum Zar tauge?‹ ›Das hast du bewiesen‹, sagte der alte Zar. ›Du hast es durch deine Treue und deinen Mut bewiesen, sonst stndest du jetzt nicht hier. Glaub mir, es kommt nicht zuerst auf die vornehme Abkunft an: Das Herz ist es, was den Zaren ausmacht‹« (S. 178).

5.1.2 Mçgliche Lesarten Wanja ist wie ein nicht unwesentlicher Teil der Kinder und Jugendlichen, die sich – oftmals auf Druck ihrer Eltern – in Beratung oder Therapie begeben, ein Eigenbrçtler im Konflikt mit seiner Umwelt und verhltnismßig geringem eigenem Vernderungsdruck. Die Umwelt, in diesem Mrchen durch Wanjas

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Brder verkçrpert, tut sich hingegen schwer, bestimmte Verhaltensweisen wie Faulheit und Passivitt zu tolerieren, und wnscht mit Nachdruck eine Vernderung. Wanja wchst mit einem festen Label auf; er ist nicht nur Wanja, er ist »der faule Wanja«, und nicht nur seine Umwelt verknpft diese Eigenschaft mit ihm, sondern auch er hat sie als festen Bestandteil seiner Persçnlichkeit verinnerlicht. Er hat sich damit abgefunden, dass er faul ist, und hat es sich in seinem stigmatisierenden, aber auch identittsstiftenden Selbstbild zu Beginn der Geschichte ganz behaglich eingerichtet. Wanja beschließt sein gewohntes Leben nach einem ungewçhnlichen und fr ihn bedeutsamen Ereignis – der Begegnung mit dem Pilger – aufzugeben und sich auf eine innere und ußere Reise zu begeben. Die Geschichte des Aufbruchs beginnt an dem Punkt, an dem Wanja ein Ziel in Aussicht gestellt wird; der alte Pilger, ein Außenstehender, sieht oder vermutet in dem faulen Wanja Krfte, mit denen er etwas zuwege bringen kann, was weder er sich selbst noch seine Umwelt ihm zutraut. Der Pilger deutet Wanjas Verhalten quasi um: Wanja ist fortan nicht mehr einfach nur faul um des Faulseins willen, sondern er ist faul, um Krfte zu sammeln. Wanja wird in dem untersttzt, was er gut kann, nmlich faul zu sein, aber es ist ein gerichtetes Faulsein, und gleichzeitig wird ihm eine Aufgabe gestellt, die er auf Grund seines Wesens besonders gut erfllen kann, das heißt Geduld zu haben und abzuwarten. Fr seine Umwelt wird sein passives Verhalten allerdings zu einer immer grçßeren Provokation. Der Pilger bernimmt die Rolle des Vermittlers, der zum einen um den nicht zu beschleunigenden Entwicklungsprozess weiß und andererseits Verstndnis fr die Ungeduld von Wanjas Umwelt hat. Die Erzhlung vom starken Wanja ist die Geschichte einer persçnlichen Entwicklung, die ihr eigenes Tempo hat und sowohl Wanja als auch seiner Umwelt Geduld und Vertrauen abverlangt. Diese Herausforderung ist eine sich im Kontext von Therapie und Beratung oftmals wiederholende Erfahrung: Bestimmte Vernderungen und Reifungsprozesse folgen ihrem eigenen Rhytmus und sind weder zu beschleunigen noch aufzuhalten; sie sind lediglich zu begleiten. Seelische Entwicklungen haben auch bei

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hohem ußeren Vernderungsdruck ihr eigenes Tempo, und ein von außen betrachtet schwer verstndliches Verhalten kann ber eine bestimmte Zeit seinen inneren Sinn haben.

5.2 Das Nebeneinander von Fakten und Gefhlen – »Das Wildpferd unterm Kachelofen« von Christoph Hein Phantastische Literatur stellte in der DDR eine Raritt dar ; es finden sich lediglich knapp 100 Titel, die diesem Genre zuzuordnen sind und die auch fast alle Adaptationen an andere literarische Werke darstellen (vgl. Roeder, 2006). In der berwiegenden Zahl der Kinder- und Jugendbcher der DDR wurden kindliche Hauptfiguren gemß der Maßgabe des sozialistischen Realismus bereits von vornherein als Vorbilder angelegt oder im Verlaufe der Handlung erfolgreich und vorbildhaft in die Gesellschaft der Erwachsenen bzw. in das Kollektiv integriert; kindliche Autonomie erschien weitgehend als Unmçglichkeit. Heins Roman vom Wildpferd unterm Kachelofen, der 1984 im Altberliner Verlag erschien, nimmt mit der Zeichnung ausgefallener Figuren und deren Beziehungen eine Sonderstellung innerhalb der Kinderliteratur der DDR ein (vgl. Richter, 1995a). Nach Richter besteht eine Schlsselbotschaft des Textes darin, dass Freunde zu den wichtigsten Dingen im Leben gehçren, und erst mit ihnen Abenteuer, Wunder und Entdeckungen mçglich werden. Heins Buch, das viele hnlichkeiten mit Milnes »Winnie the Pooh« aufweist, kreiert ein Ensemble skurriler Figuren, das die Sehnschte von Kindern und Erwachsenen widerspiegelt und auf den Wunsch von Erwachsenen nach Selbstbestimmung hinweist. »Heins Kinderroman richtet sich gegen einseitigen Rationalismus, ist ein Appell fr ein phantasievolles, selbstbestimmtes Leben, in dem gemeinsame Erlebnisse mçglich sind, weil man Freunde hat. Die Bewahrung dieses Traums steht im Kontext mit einem ›kindlichen Mythos‹, der auf eine Entfaltung tiefer sozialer Beziehungen insistiert« (Richter, 1995 b, S. 169).

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Die beiden folgenden Geschichten wurden fr diesen Kontext in erster Linie deshalb ausgewhlt, da sie auf sehr spielerische Art und Weise Bewltigungsmçglichkeiten fr existententielle Fragen anbieten, die psychisch belastete Kinder an den Rand der Dekompensation bringen kçnnen: Wie ertrage ich es, von anderen missverstanden zu werden, und wie halte ich widersprchliche Gefhle aus, ohne einen Teil von ihnen komplett auszublenden?

5.2.1 Zum Text »Es regnete. Es regnete sehr stark. Jakob Borg stand vor einer Haustr. Er trug ein grnes Regencape und starrte trbsinnig in eine Pftze. ›Wie geht’s‹, erkundigte ich mich, ›langweilst du dich?‹ ›Ich langweile mich nie‹, sagte er, ohne mich anzusehen. Mit einem Stock stocherte er in der Pftze herum und versuchte, die kleinen Wasserblasen aufzuspießen. ›Hast du denn keine Freunde, mit denen du spielen kannst?‹ ›Natrlich‹, sagte er. ›Deine Schulfreunde, nicht wahr?‹, fragte ich weiter. Doch er schttelte den Kopf: ›Nein, in die Schule gehen sie nicht‹« (S. 10 f.).

In der Rahmengeschichte dieses Romans trifft der erwachsene Ich-Erzhler auf den alterslosen Jungen Jakob Borg, der gerade aus Frust und Langweile dabei ist, das Auto des Erzhlers zu demolieren, whrend dieser von der Post zurckkommt, um festzustellen, dass ihm wieder einmal niemand geschrieben hat. Beide haben offensichtlich nichts zu tun und Jakob Borg hat niemanden zum Spielen; beide verbindet ihre uneingestandene Einsamkeit. Jakob beginnt dem Ich-Erzhler von seinen Spielzeugfreunden, deren Eigenleben und Abenteuern zu erzhlen: Da gibt es den Clochard, der schon mal Professor war, vorgibt, sehr viel zu wissen und aufschneidet, was das Zeug hlt, Schnauz, den dummen Esel, der von Karamellpudding trumt und in seiner Naivitt Wahrheiten ausspricht, die die anderen nicht hçren wollen, die altkluge, auf Sauberkeit und Ordnung bedachte Katinka, den erfinderischen Indianer Kleine Adlerfeder und den knstlerisch begabten, vertrumten Falschen Prinzen. Der erwachsene Ich-Erzhler lsst sich von diesen Geschichten anstecken und beflgeln; er zieht am Ende das Fazit, dass man ei-

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gentlich stndig Geschichten erlebt – und darum nur begrenzt einsam und der Langeweile ausgeliefert ist. In diesem Rahmen sollen zwei Geschichten von Jakob Borgs Freunden vorgestellt werden, in denen es um hochgesteckte Ziele, große Wnsche, enttuschte Erwartungen und die Kunst geht, daraus etwas zu machen.

Wie der Falsche Prinz feststellte, daß er fliegen kann »Gern stellte er sich vor, er gebe ein Konzert. Er sitzt auf einer erleuchteten Bhne. Eben beendet er sein wunderbares Klavierspiel. Das begeisterte Publikum berschttet ihn mit Beifall. Er schließt die Augen und verbeugt sich langsam, und dann … und dann sagte Katinka: ›Schlaf nicht ein, Falscher Prinz‹« (S. 58).

Der Falsche Prinz trumt davon, fliegen zu kçnnen, und irgendwann erhebt er sich tatschlich in die Lfte. Zu seinem Leidwesen sieht ihn niemand außer Schnauz, dem Esel, der dies weder besonders erstaunlich – etwas Erstaunliches wre Karamellpudding zum Abendessen – noch wunderbar findet – wunderbar ist fr Schnauz, dass er gelernt hat, einen Purzelbaum zu schlagen. Der Falsche Prinz kann Schnauz schließlich davon berzeugen, dass sein Fliegenkçnnen etwas Außergewçhnliches ist. Als der Falsche Prinz seine neu errungene Fhigkeit den anderen Freunden vorfhren will, »versagt« er : Die Freunde machen sich ber ihn lustig und glauben ihm nicht. »Der Falsche Prinz war unglcklich. Er verstand nicht, weshalb er auf einmal nicht mehr fliegen konnte. Vielleicht weil ihn zu viele dabei anstarrten. Oder weil ihm doch keiner glauben wollte! Spt am Abend unterhielt er sich mit Jakob Borg. ›Glaubst du mir auch nicht, Jakob? Glaubst du auch nicht, dass ich fliegen kann?‹ ›Ach weißt du, das ist schwierig. Einerseits glaube ich dir gern, aber andererseits ist alles sehr merkwrdig. Ein Mensch ist kein Vogel.‹ ›Ich bin aber geflogen.‹ ›Schçn, Falscher Prinz, doch wie war es mçglich?‹ ›Ganz einfach. Ich habe die Arme bewegt und flog los.‹ Jakob Borg dachte eine Zeitlang nach und sagte dann: ›Weißt du, falscher Prinz, ich glaube dir. Wenn man etwas unbedingt erreichen will und sich sehr anstrengt, dann schafft man es. Auch wenn es unbegreiflich ist und keiner es glauben will.‹ Nach diesen Worten war der Falsche Prinz

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erleichtert. Es war doch gut, einen so klugen Freund wie Jakob Borg zu haben« (S. 67 f.).

Der Falsche Prinz beschließt, in Zukunft nur noch allein oder allenfalls in Schnauz’ Gegenwart zu fliegen, den er zwar fr dumm hlt, aber der in solchen Situationen doch ein unschtzbarer Freund ist.

Wie der Falsche Prinz und Kleine Adlerfeder ein Wildpferd einfingen »Katinka hatte einen Traum. Natrlich trumte sie jede Nacht einen anderen Traum, aber eigentlich war es immer der gleiche. Sie trumte ihn nicht nur, wenn sie schlief, nein, auch am hellichten Tage. Wenn es draußen regnete und Katinka am Fenster saß und hinaussah, oder wenn sie mit einem Buch in der Ecke hockte, aber nicht las, sondern in die Luft starrte, dann wußten alle, Katinka trumt ihren Traum. Und ihr Traum war ein Pferd. Manchmal, wenn sie am Fenster saß, seufzte sie und sagte: ›Ach, wenn ich doch ein Pferd htte!‹« (S. 96).

Katinka weiß alles ber Pferde und auch, dass es nicht vernnftig ist, sich ein richtiges Pferd zu wnschen. Zu ihrem Geburtstag bekommt sie wie alljhrlich Pferdebcher und Pferdefiguren, kann sich aber nicht mehr so richtig darber freuen, weil der Wunsch nach einem lebendigen Pferd immer strker wird. Ihre Freunde beschließen ihr zu helfen und ihr ein Wildpferd zu fangen. Es gelingt ihnen auch und sie bringen das Wildpferd Katinka. »Katinka betrachtete das Wildpferd lange und sagte zweifelnd: ›Seid ihr auch sicher, daß dies ein Wildpferd ist?‹ ›Natrlich, Katinka, es ist so, wie du es beschrieben hast.‹ ›Und es ist auch so gelb wie dein Glaswildpferd.‹ ›Ich dachte nur, daß Wildpferde ein wenig grçßer sind‹, wandte Katinka ein. Der Falsche Prinz erklrte ihr : ›Es gibt große und kleine Wildpferde. Und unseres gehçrt eben zu den kleinen.‹ ›Es wird schon noch wachsen, Katinka, wenn du es gut ftterst‹, trçstete Kleine Adlerfeder sie. Das sah Katinka ein, und sie berlegten, was ein Wildpferd frißt. ›Eigentlich fressen Wildpferde Hafer. Aber meins ist ja noch soo klein. Es will sicher noch Milch trinken‹« (S. 107 f.).

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Katinka pflegt ihr keines Wildpferd und spielt mit ihm, bis Jakob Borg die »Idylle« zerstçrt, indem er das Wildpferd als Katze entlarvt. Kleine Adlerfeder und der Falsche Prinz sind darber nicht glcklich, aber Katinka steckt die Information erstaunlich gut weg. »Katinka aber saß neben der gelben Katze und streichelte ihr Fell. Sie war ein bißchen traurig und ein bißchen froh. Sie freute sich, daß sie nun eine eigene Katze besaß. Und gleichzeitig war sie unglcklich, weil ihr Traum von einem Pferd ein Traum geblieben war. Aber ein Traum, sagte sie sich dann, ist auch etwas Schçnes. Wann immer ich will, kann ich von meinem Pferd trumen. Ein Traum ist nie zu groß, er paßt berall rein, selbst ins kleinste Kinderzimmer. Er gehçrt mir allein, und ich werde ihn nie verlieren« (S. 113).

5.2.2 Mçgliche Lesarten Die Geschichte vom fliegenden bzw. nicht fliegenden Falschen Prinzen erçffnet den Blick auf zwei scheinbar nicht miteinander zu vereinbarende und doch nebeneinander existierende Wirklichkeiten. Der Falsche Prinz kann fliegen und er kann es nicht – es hngt davon ab, in welchem Kontext er es tut. Die Beherrschung des Fliegens ist keine absolute Fhigkeit, keine, auf deren Anwendung und Einsatz man sich jederzeit verlassen kann. Der Falsche Prinz leidet unter seinem Versagen vor anderen, er fhlt sich beschmt und gedemtigt und ist dennoch von seiner prinzipiellen Fhigkeit, fliegen zu kçnnen, berzeugt. In ihrem Selbstwert verunsicherte und gestçrte Kinder und Jugendliche neigen zu Grçßenphantasien und kçnnen unter massiven Versagensngsten leiden. Ihre Selbstbeschreibungen weichen nicht selten von der Fremdwahrnehmung ihrer Umgebung ab und die Selbsteinschtzung ihrer Fhigkeiten differiert in positiver wie auch negativer Weise von dem, was andere ihnen zutrauen. Solche Kinder und Jugendliche neigen dazu, sich von ihrer Umwelt nicht gesehen und nicht verstanden zu fhlen. Sie fhlen sich brskiert und sehr schnell beschmt, wenn ihnen andere nicht glauben oder sie dieses auch nur vermuten.

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Erst in dem Moment, in dem Jakob Borg dem Falschen Prinzen glaubt, dass er tatschlich einmal geflogen ist und das Potenzial dazu in sich trgt, fhlt sich der Falsche Prinz erstmals verstanden und hat nicht mehr das Bedrfnis, andere von dieser speziellen Fhigkeit zu berzeugen. Der Falsche Prinz kann fliegen, aber nur wenn niemand – außer Schnauz, aber der ist ein Esel und zhlt nicht – ihm dabei zuguckt. Die Lçsung, die die Geschichte vom Falschen Prinzen anbietet, ist die eines Nebeneinander von verschiedenen Realitten, die einander nicht ausschließen und nicht absolut sind. Fliegen kçnnen und es nicht kçnnen: Beides ist mçglich. Die individuelle Sicht auf die Welt und deren Mçglichkeiten wird von den Freunden zwar nicht geteilt und dennoch akzeptiert. Die Geschichte von Katinka und ihrem »Wildpferd« handelt von großen Herzenswnschen, die anders in Erfllung gehen, als man es sich ursprnglich vorgestellt hat. Katinka schafft es, zwei gegenstzliche Gefhle – sich ber etwas zu freuen und ber etwas anderes traurig zu sein – nebeneinander zu empfinden und nicht das eine oder andere auszublenden. Die berzeugung, dass man nur dann glcklich werden kann, wenn eine bestimmte Vernderung im Leben eintritt, wird in Frage gestellt. Die Geschichte verneint nicht die Enttuschung ber einen nicht erfllten großen Wunsch – eine Katze ist nun mal kein Wildpferd –, macht aber gleichzeitig deutlich, dass die unerwartete Alternative ihre positive Seiten hat – auch um eine Katze kann man sich kmmern und mit ihr spielen.

5.3 Skurrile abgrndige Gestalten – »Geschichten aus dem Mumintal« von Tove Jansson Die 1914 in Helsinki geborene Tove Jansson gehçrte der schwedischsprechenden Minderheit Finnlands an und schuf ihre erste Mumingeschichte 1945. Bis 1970 erschienen neun Bnde dieser Erzhlungen, die eine vollkommen eigenstndige phantastische Miniaturwelt darstellen, die keinerlei Bezge zu einer realen Welt aufweist. Insofern sind die Mumingeschichten schwer einem Genre zuzuordnen, da sie keinem Zwei-Welten-Modell entspre-

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chen, das als wesentliches Charakteristikum fr phantastische Literatur aufgefasst wird (vgl. z. B. Rank, 2006) andererseits aber eine vçllig eigene Regelwelt aufstellen, die den Naturgesetzen widerspricht und daher als phantastisch gelten drfen. In Finnland zhlt die Muminfamilie nach wie vor zu den Kultfiguren, deren Bekanntheitsgrad in etwa dem der Grimm’schen Mrchen im deutschsprachigen Raum entspricht. Die einzelnen Werke, die nicht als Fortsetzungsserie geschrieben wurden, kçnnen als eigenstndige Romane gelesen werden. Die »Geschichten aus dem Mumintal«, die 1962 erstmals publiziert wurden, und aus dem die zwei hier vorgestellen Erzhlungen stammen, stellen den siebten Band in der Muminreihe dar. »Handeln die ersten fnf Bcher berwiegend von Abenteuern und Katastrophen, so ist ab [dem sechsten Band] ›Trollvinter› eine Wende zu einer mehr psychologischen Darstellung der Figuren festzustellen. Die episodische Struktur der ersten Muminbnde weicht einer Darstellungsweise, die mehr durch Stimmungsbilder und psychologische Portraits der Figuren bestimmt ist« (Kmmerling-Meibauer, 1999, S. 495).

Im Zentrum aller neun Bnde mit ihren Illustrationen steht die nilpferdartige Muminfamilie: der etwas exzentrische und melancholische Vater mit zeitweise heftigen Fernwehattacken, die dicke, kluge und warmherzige Muminmutter und der kleine Mumin, der stndig auf der Suche nach neuen Gefhrten ist. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Figuren, die zum Teil bei der Muminfamilie leben oder aber in ihrem Heim ein- und ausgehen: unter anderem den knarzigen, meist schlecht gelaunten Schnupferich, die chronisch zornige und lebenssprhende kleine M, den Stille liebenden Hemul und viele andere. »Keine Schwarzweißmoral hlt diese freizgige und chaotische Fantasiewelt zusammen, nicht der bliche Kampf gegen eine bçse Außenmacht sorgt fr Spannung. Was die Muminwelt zusammenhlt, ist das Menschliche. Bevormundung, Abhngigkeiten, Dazugehçren, auch Hçflichkeit und Wrde. Tove Jansson war in dieser Hinsicht die unerschrockenste Kinderbuchautorin des vorigen Jahrhunderts: Ihre Wesen sind gierig und hmisch, aber auch frsorglich und rhrselig. Es darf gelogen werden und die Angst hat den Platz, der ihr zusteht« (Osberghaus, 2003, S. 116).

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Osberghaus verweist hier auf ein zentrales Phnomen in den Muminbnden, das ein wesentliches Auswahlkriterium fr die folgenden beiden Erzhlungen darstellte: Smtliche Wesen sind außerordentlich individuell und eigenwillig und verfgen ber ein großes Spektrum »unsozialer« Triebe und Sehnschte. Sie ecken mit ihren skurrilen Kantigkeiten berall an und leben dennoch in einer Art Gemeinschaft zusammen; dies verlangt von jedem Einzelnen hohe Toleranz fr die Schrulligkeiten des jeweils anderen. »Geschichten aus dem Mumintal« wurden vor allem deshalb ausgewhlt, weil sie eine prinzipielle Bejahung von Eigenwilligkeit beschreiben und gleichzeitig ein gewisses soziales, wenn auch murrendes Arrangement mit den Eigentmlichkeiten anderer implizieren – beides Erfahrungen, ber die verhaltensauffllige Kinder und Jugendliche nicht unbedingt verfgen.

5.3.1 Zum Text Das unsichtbare Kind In dieser Geschichte sitzt die Muminfamilie mit der kleinen M auf ihrer Veranda und putzt Pilze. Plçtzlich bekommen sie Besuch von Tooticki, einem der seltsamen Wesen aus der Muminwelt. ›Wen bringst du denn da mit?‹, fragte Mumin. ›Das ist Ninni‹, sagte Tooticki, ›die Kleine heißt Ninni.‹ Sie hielt immer noch die Tr auf und wartete. Niemand kam. ›Na gut‹, sagte Tooticki und zuckte die Schultern. ›Wenn sie schchtern ist, kann sie ja draußen bleiben.‹ ›Aber wird sie denn nicht naß?‹, fragte die Muminmutter. ›Ich weiß nicht, ob das besonders viel ausmacht, wenn man unsichtbar ist‹, antwortete Tooticki. Sie kam an den Tisch und setzte sich. Die Familie hçrte auf mit dem Putzen und wartete auf eine Erklrung. ›Ihr wißt ja, manche Leute werden leicht unsichtbar, wenn man sie oft genug erschreckt‹, sagte Tooticki und aß einen Flaschenbovist auf, der wie ein netter kleiner Schneeball aussah. ›Also, diese Ninni, die ist von einer Tante erschreckt worden. Die Tante hatte Ninni zu sich genommen, ohne sie gern zu haben. Ich hab die Tante getroffen, sie war

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schrecklich. Wißt ihr – nicht etwa bçse, so was kann man ja noch verstehen. Sie war nur eiskalt und ironisch‹« (S. 105 f.).

Tooticki bringt Ninni zur Muminfamilie, damit sie dort bleibt und wieder sichtbar wird. Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft sieht man nur ein Silberglçckchen, das sie um den Hals gebunden hat. Die kleine M hat einen unverhohlen voyeuristischen Blick auf Ninni, der pragmatische Muminvater mçchte wissen, ob sie Pilze putzen kann und zu einem Arzt gebracht werden muss, whrend die Muminmutter dafr pldiert, Ninni in Ruhe eine Zeitlang unsichtbar sein zu lassen. Nachdem sie Ninni zu Bett gebracht hat, braut sie nach einem Rezept ihrer Großmutter ein Hausmittel gegen Unsichtbarkeit zusammen. Mit Hilfe dieses Hausmittels wird Ninni nach und nach bis zum Hals sichtbar – der Kopf bleibt unsichtbar – und beginnt zu sprechen. Die kleine M behandelt sie grob, Mumin mit schchterner Neugier, der Muminvater ungeschickt freundlich. Die Muminmutter nht Ninni ein hbsches Kleid und versorgt sie mit unaufdringlicher Frsorge. Schließlich wollen die kleine M und Mumin mit Ninni spielen. Aber Ninni ist lediglich hçflich und tut immer nur genau das, was man ihr sagt. »‹Du erwartest wohl, dass man dich lobt‹, schrie M. Hast du denn berhaupt keinen Mumm! Willst du, dass ich dich verhaue oder was?‹ ›Lieber nicht‹, piepste Ninni ergeben. ›Sie kann nicht spielen‹, murmelte Mumin enttuscht. ›Sie kann nicht wtend werden‹, erklrte die kleine M. ›Das ist es, was ihr fehlt. Du, hçr mal‹, fuhr M fort, trat dicht an Ninni heran und sah sie drohend an, ›wenn du nicht lernst, wie man sich haut, kriegst du nie ein eigenes Gesicht. Das darfst du mir glauben.‹ ›Ja natrlich‹, stimmte Ninni zu und wich vorsichtig zurck. Es wurde nicht besser« (S. 116 f.).

Trotz des Hausmittels bleibt Ninnis Kopf unsichtbar und die Muminmutter hçrt schließlich auf, ihr welches zu geben. Sie trçstet sich damit, dass es ja auch Vorteile htte, wenn sich jeder sein Aussehen selbst ausdenken kçnnte und dass man frher wohl auch ohne Kopf zurecht gekommen sei. Ninni hat sich eng an die Muminmutter angeschlossen und folgt dieser auf Schritt und Tritt. Als die Muminfamilie einen Ausflug macht, macht sich

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der Muminvater einen Spaß, indem er vortuscht, die Muminmutter ins Wasser werfen zu wollen. »Aber bevor er bei ihr angelangt war, erscholl ein durchdringender einen Schrei, ein roter Blitz flog ber den Steg, der Muminvater schrie wie am Spieß und sein Hut fiel ins Wasser. Ninni hatte ihre unsichtbaren Zhnchen in den Schwanz des Muminvaters gebohrt, und die waren scharf! ›Bravo, bravo‹, schrie M. ›Das htte ich selbst nicht besser machen kçnnen!‹ Ninni stand auf dem Steg und hatte einen roten Schopf und ein kleines, zornigen Gesicht mit Stupsnase. Sie fauchte den Muminvater an wie eine Katze. ›Wag es ja nicht, sie ins große schreckliche Meer zu werfen‹« (S. 121).

Mumin ist entzckt, Ninni in ihrer Gnze sehen zu kçnnen; der Muminvater ist ob seines verletzten Schwanzes eingeschrnkt begeistert und beschert Ninni unfreiwillig den ersten Lachanfall ihres Lebens, als er beim Angeln nach seinem Hut ins Wasser fllt und von oben bis unten mit Schlamm besudelt ist. »›Sie soll bisher noch nie gelacht haben‹, sagte Tooticki verblfft. ›Ihr habt die Kleine wirklich verndert, jetzt ist sie ja schlimmer als die kleine M. Aber die Hauptsache ist natrlich, dass man sie sehen kann‹« (S. 122).

Die Frhlingsmelodie Hauptperson der Geschichte ist der eigenbrçtlerische Schnupferich, der sich auf einer seiner Wanderungen befindet; ab und zu denkt er unbehaglich an seinen Freund Mumin, der zu Hause auf ihn wartet und sich nach ihm sehnt. Hauptschlich aber ist er froh, allein zu sein, und denkt sich dabei eine Melodie fr sich selbst aus. »Ein Abend wie geschaffen fr ein Lied, dachte der Schnupferich. Ein neues Lied, mit einem Teil Erwartung und zwei Teilen Frhlingsmelancholie und ansonsten nichts als maßlosem Entzcken, weil man ganz allein wandern darf und sich rundherum wohl fhlt« (S. 7).

Der Schnupferich ruht sich schließlich bei einem Picknick aus, als er auf ein kleines Tier stçßt. Das kleine Tier ist schchtern und gleichzeitig sehr zutraulich und lsst sich von der abweisenden und brsken Art des Schnupferich nicht abschrecken. Es erzhlt

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ihm, dass es schon viel von ihm gehçrt htte, und ihn sehr bewundere. »›Ja, ich weiß, daß du alles weißt‹, plapperte das kleine Tier und rckte noch nher. ›Ich weiß auch, daß du alles gesehen hast, daß alles, was du sagst, richtig ist. […] Der Igel hat gesagt, Mumin htte gleich, als er aus dem Winterschlaf aufgewachte, angefangen sehnschtig auf dich zu warten. […] Ist doch schçn, jemanden zu haben, der sich nach einem sehnt und immerzu auf einen wartet und wartet?‹ ›Ich komme, wenn es mir paßt‹, versetzte der Schnupferich heftig. ›Vielleicht komme ich berhaupt nicht. Vielleicht gehe ich in eine ganz andere Richtung‹« (S. 15).

Das kleine Tier bittet den Schnupferich, ihm einen Namen zu geben und Geschichten von seinen Reisen zu erzhlen. Der Schnupferich lehnt beides ab – unter anderem aus Angst, seine eigentlichen Erinnerungen beim Erzhlen zu verlieren. Bevor das kleine Tier Abschied nimmt, entschließt sich der Schnupferich, ihm doch einen Namen zu geben. »Nach einer Weile stand das Tierchen auf und sagte mit dnner Stimme: ›Na dann werd ich jetzt wohl nach Hause gehen. Tschss.‹ ›Tschss‹, sagte der Schnupferich und wand sich vor Unbehagen. ›Ach brigens. Dieser Name, den du haben wolltest. Du kçnntest Ti-Ti-uu heißen. Verstehst du, Ti-Ti-uu mit einem frçhlichen Anfang und vielen traurigen U am Ende.‹« (15).

Das kleine Tier verschwindet und der Schnupferich stellt fest, dass er seine Melodie verloren hat und nur noch an Ti-Ti-uu denkt. Zunchst ist er rgerlich und hlt sich fr krank; dann beginnt er, das kleine Tier zu suchen. Er findet Ti-Ti-uu, der sich eine eigene Hçhle mit einem Namensschild gebaut hat, und beginnt ein Gesprch mit ihm. Dabei erfhrt er, dass Ti-Ti-uu mit seinem neuen Namen angefangen hat »richtig zu leben«, nun sehr beschftigt ist und daher das Angebot des Schnupferich, ihm jetzt von seinen Reisen zu erzhlen, freundlich ablehnt. Der Schnupferich entschließt sich daraufhin, Mumin wieder einmal zu besuchen; bevor er ins Mumintal aufbricht, legt er jedoch eine kurze Rast ein.

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»Irgendwo unterm Hut begann sich seine Melodie zu regen, mit einem Teil Erwartung und zwei Teilen Frhlingsmelancholie, der Rest war nichts als pures Entzcken, weil er allein sein durfte« (S. 21).

5.3.2 Mçgliche Lesarten »Das unsichtbare Kind« handelt von einem offensichtlich durch ußere Umstnde – die hier in der Gestalt der kalten und ironischen Tante gebndelt werden – verschreckten und verstummten Kind, das jede Ausdrucksmçglichkeit verloren hat; dies wird in der Geschichte durch den Verlust einer sichtbaren Kçrperlichkeit plastisch. Fr die Außenwelt sichtbar ist lediglich das um den Hals gebundene Glçckchen. In der Geschichte werden feinfhlig und unaufdringlich Merkmale von Kindern beschrieben, die sich vorbergehend aus dem Leben zurckgezogen haben und alles dafr tun, aus dem Blickfeld ihrer Umwelt zu verschwinden. Die Reaktionen der Muminfamilie auf Ninni spiegeln typische Verhaltensweisen der Außenwelt wieder, mit denen ein solches Kind konfrontiert wird: Unsicherheit, Neugier, aggressives Aus-derReserve-locken-Wollen und beschtzende Frsorge. Ninni werden Dinge angeboten, die Elemente einer multimodalen Behandlung darstellen: ein sicherer Ort, eine feste Bezugsperson und ein Medikament (das Hausmittel); mit diesen Hilfen kann sie sich zum großen Teil wieder in der Welt prsentieren, aber sie zeigt noch nicht ihr Gesicht. Um ihre unverwechselbare Identitt nach außen zu tragen und ihr Gesicht zu zeigen, braucht es offenbar auch eine innere Vernderung. Diese erfolgt einerseits durch die Exposition einer gefrchteten Situation (Ninni wird mit dem angstbesetzten Wasser konfrontiert) und andererseits durch selbstwirksames Handeln. Ninni rettet die Muminmutter und erfhrt so, dass sie etwas bewirken kann. Diese impulsive Handlung geschieht aus bester Absicht, stçßt aber auf geteilte Begeisterung. Ninni zeigt der Welt ihr Gesicht um den Preis, dass sie nicht von jedem dafr geliebt wird, sondern sich mçglicherweise auch rger einhandelt. Da sie aber durch selbstwirksames Handeln neue Wehrhaftigkeit erlangt hat, ist dieses auszuhalten.

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Der Schnupferich in der »Frhlingsmelodie« ist ein wie viele Jugendliche auf seine Autonomie bedachtes und sich in dieser schnell bedroht fhlendes Wesen. Er genießt das Gefhl, ganz allein auf der Welt, von niemanden abhngig zu sein und sich selbst zu gengen. Die Sehnsucht, die er bei Mumin wahrnimmt, ist fr ihn in erster Linie etwas Lstiges und Abzuwehrendes; sie verhindert letzten Endes wahre Freiheit, wie er seiner neuen Bekanntschaft, dem kleinen Tier, erklrt. Das kleine Tier stçrt das Beziehungsmuster des Schnupferich, da es sich nicht damit begngt, ihn zu bewundern, sondern ihn um etwas bittet, und mit dieser Bitte offensiv in eine Beziehung zu ihm eingeht. Der Schnupferich wehrt sich zunchst gegen dieses Angebot, geht aber schließlich darauf ein und fhlt sich unfrei. Er ist nicht mehr Herr ber seine Gedanken und Melodien, sondern muss stndig an das kleine Tier denken, dem er schließlich auf dessen Bitte einen Namen gegeben hat. Erst als er Ti-Ti-uu wieder trifft, der mit Hilfe seines neuen Namens seinerseits ein Stck Autonomie aufgebaut hat, fhlt sich der Schnupferich wieder freier und kann sich des Alleinseins wieder freuen – mit dem Unterschied, dass er daneben noch die Sehnsucht nach dem anderen – in diesem Falle Mumin – spren kann.

5.4 Die Erschaffung eines inneren Gefhrten – »Das Tier in der Nacht« von Uri Orlev Der israelische Autor Uri Orlev, Sohn eines jdischen Arztes, wurde 1931 in Warschau geboren. Seine Mutter wurde von den Nazis ermordet, zu seinem Vater hatte er zwischen seinem achten und seinem 23. Lebensjahr keinen Kontakt. Whrend des Zweiten Weltkrieges war er mit seiner Tante und seinen Geschwistern fr fast zwei Jahre in Bergen-Belsen interniert. Seit 1962 ist er freischaffender Autor ; »Das Tier in der Nacht« ist Orlevs erstes Kinderbuch; es erschien 1976 und wurde 1993 von Mirjam Pressler ins Deutsche bersetzt. »Das Tier in der Nacht« ist ein realistisches Kinderbuch mit phantastischen Elementen, das ngste und Befrchtungen von Kindern in den Mittelpunkt stellt und das kindliche Potential der

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Gleichzeitigkeit einer realistischen Weltsicht und einem Bezug zur Magie nutzt. Dieses Buch wurde deshalb ausgewhlt, weil es hçchst einfhlsam das berwltigende und nur schwer von außen korrigierbare Angstgefhl vor Monstern beschreibt – unter dem fast alle phantasiebegabten Kinder eine Zeit lang leiden, das aber verstrkt fr psychisch belastete Kinder besonders qulend sein kann – und dabei die hilfreiche und ressourcenaktivierende Installierung eines imaginren Gefhrten sehr plastisch beschreibt.

5.4.1 Zum Text »Es wohnt in der Dunkelheit unter meinem Bett. Am Tag macht es sich klein. Aber in der Nacht, gleich nachdem Mama die Lampe ausgemacht hat, blst es sich auf. So ein Tier kann sich nur im Dunkeln aufblasen. Bei Licht schrumpft es. Als wir noch keine Freunde waren, hatte ich immer große Angst vor ihm, sogar schon bevor Mama ins Zimmer kam, um mir einen Gute-Nacht-Kuß zu geben« (S. 7).

Die Geschichte wird aus der Sicht eines sechsjhrigen Jungen erzhlt, der mit seinen Eltern in Jerusalem lebt. Er frchtet sich im Dunkeln vor einem Tier, das unter seinem Bett wohnt und sich in der Nacht aufblst. Besonders schlimm wird die Angst, wenn er nachts aufwacht, weil er schlecht getrumt hat oder aufs Klo muß. Mit Hilfe einer Taschenlampe, die er von seinem Vater geschenkt bekommt, verscheucht er das Schattentier. Bei einem Zirkusbesuch kommt ihm die Idee, das Tier unter seinem Bett zu zhmen; sein Vater erklrt ihm, die Tiere im Zirkus wrden durch Belohnungen dressiert. »Ich berlegte. Wie konnte ich das Tier unter meinem Bett mit Belohnungen dressieren? Wie konnte ich es liebhaben und zrtlich mit ihm sprechen, wenn ich doch Angst vor ihm hatte? Als erstes beschloß ich, es nicht mehr mit der Taschenlampe anzuleuchten. Ich wollte die Taschenlampe nur noch zur Sicherheit in der Hand halten, so wie der Lçwenbndiger die Peitsche in der Hand hlt und sie durch die Luft schwingt, aber dabei nicht die Tiere trifft« (S. 23).

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Der Junge beginnt dem Tier von sich zu erzhlen, und das Tier fngt an zuzuhçren. Als er wieder einmal schlecht trumt und aufwacht, verscheucht das Tier den Traum. Am nchsten Tag nimmt er das Tier in einer Blechdose mit in die Schule, erklrt ihm alles und beschtzt es im Straßenverkehr. Er entwickelt eine innige Beziehung zu dem Tier. »In der ersten Woche unserer Freundschaft rief ich das Tier jeden Abend. Damals wußte ich natrlich nicht, daß das bereits die erste Woche unserer Freundschaft war, auch wenn das Tier noch schwieg. Das merkte ich erst spter. Und so wie mit meinem Schattentier ist es mit jedem Freund. Am Anfang kennt man sich noch nicht. Man weiß noch nicht, wie der andere ist. Und dann, wenn man ihn schon nher kennt, wenn man weiß, wer da zu einem kommen will, dann lßt man ihn rein. Plçtzlich ist er dann der beste Freund. Bis man sich streitet. Manchmal stritten wir uns auch, ich und mein Tier, aber dann versçhnten wir uns wieder« (S. 14 f.).

Als der Vater im Jom-Kippur-Krieg umkommt, bleibt der Junge mit seiner schwangeren Mutter zurck. In dieser Situation ist das Tier an der Seite des Jungen, beschtzt die Mutter whrend der Geburt des zweiten Kindes und bermittelt Botschaften zwischen dem Sohn und seinem verstorbenen Vater. Zur Krise kommt es, als die Mutter eine Partnerschaft zu einem Freund des Vaters eingeht; der Junge verbietet dem Tier, seinem Vater etwas davon zu erzhlen, und sie geraten in Streit. Nach einer gewissen Zeit erlaubt er dem Tier, zum Vater zu gehen, erhlt die Erlaubnis vom Vater, den neuen Freund der Mutter zu mçgen, und trumt davon, wie ihm sein Vater die Geschichte vom Tier in der Nacht erzhlt. »Ich glaube, mein Schattentier wird immer bei mir bleiben, auch wenn ich schon erwachsen sein werde. Aber wenn ich einen Sohn bekomme, der so ist wie ich und sich vor der Dunkelheit frchtet, dann werde ich ihm mein Tier vielleicht ausleihen« (S. 93).

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5.4.2 Mçgliche Lesarten »Das Tier in der Nacht« illustriert die magische Denkweise vierbis achtjhriger Kinder, deren Phantasien und ngste im Dunkeln besonders belebt werden und fr die die Inneneinrichtung der Wohnung nachts zum Monsterball oder Horrorkabinett werden kann. Der kluge sechsjhrige Held des Buches ist in der Lage, hnlichkeiten zwischen dem Dunkeltier unter seinem Bett und den Tieren im Zirkus auszumachen. Alle sind sie gefhrlich, aber dennoch beherrschbar. Der Junge beginnt sich dem Tier zunchst nur zum Zwecke seiner Disziplinierung zu nhern. Je mehr er dem Tier von sich erzhlt, je mehr er das Tier zu seinem Partner macht, geht dieser Aspekt zu Gunsten eines anderen verloren; der Junge hat einen imaginren Gefhrten gefunden, der ihm beisteht, dem er zum Teil aber auch berlegen ist und der bei ihm das Gefhl von Einsamkeit lindert. Das Tier hilft ihm bei der Trauer um seinen Vater und bei der Bewltigung der Situation, dass er die Mutter mit dem neuen Geschwisterkind teilen muss. Im Loyalittskonflikt zwischen seinem Vater und dem Freund seiner Mutter schiebt er dem Tier die Sympathie fr den neuen Partner zu und kann auf diese Weise seinem verstorbenen Vater noch eine Zeitlang treu verbunden bleiben. Die Geschichte ldt dazu ein, sich fr Monster zu interessieren, ohne sie zu verharmlosen; das Tier in der Nacht ist, als es der Junge noch nicht kennt, wirklich gefhrlich. Erst als er sich schrittweise traut, dem Tier zu begegnen, indem er sich ihm mitteilt, verliert das Tier seine Bedrohlichkeit. Kinder, die sich in Beratung oder psychotherapeutischer Behandlung befinden, sind in der Regel ußeren Situationen und/oder inneren Konflikten ausgesetzt, die sie mit den Strategien, die ihnen aktuell zur Verfgung stehen, nicht bewltigen kçnnen. In der Geschichte vom Tier in der Nacht wird sehr deutlich, welchen Nutzen Spaltungsfhigkeit fr Kinder haben kann. Der Held im vorliegenden Roman muss in relativ kurzer Zeit eine Reihe von sehr schmerzhaften und fr ihn hochbedeutsamen Vernderungen ertragen, an denen er kollabieren kçnnte, wenn er mit ihnen allein wre. Durch die Existenz eines berechenbaren imaginren Gefhrten, der immer da ist, wenn man ihn braucht, der weder

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stirbt noch weggeht, gelingt es dem Jungen, die ber ihn hereinbrechenden und in sich widersprchlichen intensiven Gefhle zwischen sich und dem Tier aufzuteilen; so kann er sie ansatzweise spren und auch besser ertragen.

5.5 Auf der Suche nach sich selbst – »Konrad aus der Konservenbchse« von Christine Nçstlinger Christine Nçstlinger gehçrt zu den Hauptvertreterinnen des komischen Familienromans. Nçstlingers Bcher schildern den ganz realen Familienalltag und binden dabei phantastische Elemente mit ein. Typische Merkmal komisch-phantastischer Erzhlungen sind die Kontraste unterschiedlicher Realittsebenen, die sich humoristisch-heiter auflçsen oder aber satirisch zugespitzt werden. Der Effekt besteht zum einem in einer komischen Befreiung von alltglichen Zwnge oder einer satirischen Verfremdung realer Absurditten (vgl. Rank, 2006). Komik dient nach Armbrçster-Groh (1997) bei Nçstlinger vor allem als Stilmittel, um die zunehmend unberechenbare Lebenswelt der Kinder auf eine ertrgliche Weise zu beschreiben, ohne die dabei auftretenden Schwierigkeiten zu verharmlosen. Wo die Protagonisten Schwierigkeiten haben, ihren Alltag zu bewltigen, reagieren die Figuren mit Alltagspragmatismus und Lakonie. »In den Romanen zeigt sich so immer wieder eine subtile Verschrnkung von Realitt und kindlichen Wunschphantasien. Die przise Abbildung von Realitt, das Bemhen, dem kindlichen Alltag thematisch und sprachlich ganz nahe zu kommen, wird immer wieder dadurch berschritten, daß die Texte dem kindlichen Begehren, den çdipalen Phantasien, den Machtphantasien oder dem Ausphantasieren des ›Familienromans‹ folgen. Die Logik der realistischen Abbildung kindlicher Alltagswelt wird also unmerklich verwoben mit der Logik des kindlichen Tagtraums« (Wild, 1996, S. 65).

»Konrad aus der Konservenbchse« erschien 1975, in der Bltezeit antiautoritrer Kinder- und Jugendliteratur, und zhlt auf den ersten Blick zu den harmloseren Bchern der Autorin, die

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sich in vielen ihrer Romane mit Problemthemen wie Trennung, Scheidung, Puberttskrisen etc. auseinandergesetzt hat. Nçstlinger erzhlt in ihrer Geschichte von der Sozialisation und Individuation eines knstlich fabrizierten Jungen und seiner Anpassung an die Realitt mit ihren widersprchlichen Anforderungen. »Die Autorin kehrt hier den ›normalen‹ Sozialisationsprozeß um und erzhlt die Entwicklung eines Kindes von Bravheit und Wohlerzogenheit zum ›frechen Lmmel‹ […]. Immer mußte Konrad so sein, wie es andere von ihm erwarteten – zuerst sehr brav, zuletzt bçse; die Aufgabe, so zu werden, wie er tatschlich ist und er selber mçchte, muß er noch lçsen« (Dahrendorf, 1986, S. 101).

Der Roman wurde fr den vorliegenden Kontext ausgewhlt, weil er sich auf sehr lustvolle und witzige Art und Weise mit den Zwngen beschftigt, die Kindern und Erwachsenen durch vorgegebene Rollenerwartungen auferlegt werden, und dabei das Kunststck vollbringt, die dadurch entstehenden Nçte sowohl aus der kindlichen als auch aus der Erwachsenenperspektive zu thematisieren und weitgehend ohne Schuldzuweisungen auszukommen.

5.5.1 Zum Text Frau Berti Bartolotti ist eine geschiedene Frau »in den besten Jahren«, die allein lebt und eine Gelegenheitsbeziehung zum Apotheker Herrn Egon unterhlt. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, webt sie Teppiche. Sie zieht sich bunt an und schminkt sich viel, ist unordentlich und vergesslich, achtet nicht aufs Geld und lebt insgesamt ein recht unsolides Leben. Herr Egon hingegen ist ein Ausbund an Soliditt, doch da er und Frau Bartolotti sich nur zwei Mal die Woche treffen, kommen sie einander nicht ins Gehege. Eines Tages erhlt Frau Bartolotti ein großes Paket, das sie sich nicht erinnern kann bestellt zu haben, doch da Frau Bartolotti leidenschaftlich gern Waren aller Art bestellt, wird sie nicht misstrauisch. In dem Paket befindet sich eine große Dose, und als sie diese çffnet, findet Frau Bartolotti den fabrikneuen,

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wohlerzogenen siebenjhrigen Knaben Konrad, der lediglich mit einer Nhrlçsung bergossen werden muss, um sich von einem verschrumpelten Zwerg in einen hbschen, altersgerecht entwickelten Jungen zu verwandeln. Frau Bartolotti ist zunchst ratlos, aber da sie Konrad nicht enttuschen mçchte, beschließt sie, ihn als ihren Sohn anzunehmen. An dieser Stelle prallen erstmals Frau Bartolottis Vorstellungen von dem, was ein Kind braucht, und Konrads in der Fabrik gelernte und verinnerlichte Verhaltensregeln aufeinander. »›Schau her‹, sagte sie [Frau Bartolotti] zum Konrad, ›das wird dir schmecken, das ist was unheimlich Gutes‹. ›Sollte man Eis nicht nur im Sommer essen?‹, fragte der Konrad. ›Ach wo‹, rief die Frau Bartolotti. ›Eis kann man immer essen! Mir schmeckt es im Winter besonders gut. Am liebsten esse ich Eis, wenn es schneit.‹ ›Aber sollte man Eis nicht nur als Nachspeise essen?‹, fragte der Konrad. ›Entschuldige, mein Herzblatt‹, rief die Frau Bartolotti, ›ich habe ja ganz vergessen, daß du sicher Hunger hast. Ich werde dir ein Schinkenbrot machen und ein weiches Ei kochen und eine Gurke dazulegen, ja?‹ ›Ich habe keinen Hunger‹, erklrte der Konrad. ›Der Nhrlçsungsberguß macht einen fr sechsundzwanzig Stunden satt. Ich war mir nur nicht sicher, ob man Eis essen darf, wenn man nichts anderes im Magen hat.‹ ›Himmeldonnerwetter, warum fragst du denn dauernd, was man darf und ob man darf ?‹ ›Ein siebenjhriger Junge muß das doch!‹, sagte der Konrad. ›Ich weiß aber berhaupt nicht, was ein siebenjhriger Junge darf und was ein siebenjhriger Junge nicht darf!‹, rief die Frau Bartolotti verzweifelt. ›Dann werde ich fr heute das Eisessen bleiben lassen‹, sagte der Konrad, ›und du wirst dich morgen erkundigen, wie das mit dem Eisessen ist, ja?‹« (S. 32 f.).

Herr Egon ist nach anfnglichem Entsetzen ber den neuen Sohn seiner Freundin vçllig begeistert von Konrad und seinem vorbildlichen Benehmen. Er beschließt gegen den Willen von Frau Bartolotti, aber mit Konrads Einverstndnis, Konrads Vater zu werden, und bemht sich Frau Bartolotti ihrer neuen Mutterrolle gemß Sitte und Anstand beizubringen. Dies fhrt zu Konflikten, unter denen Konrad leidet, da er sich zu beiden »Elternteilen« gleichermaßen hingezogen fhlt. In der Schule erbringt Konrad zwar erstklassige Leistungen, wird aber von seinen Mitschlern verspottet, da er vollkommen dem Bild eines Langeweilers und Strebers entspricht. Die einzige Person, die Konrad mit unbe-

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fangener Sympathie begegnet, ist das Nachbarsmdchen Kitti, die ihn vor den Angriffen anderer Kinder zu beschtzen sucht. »Die Kitti versuchte dem Konrad zu erklren, daß ihn die Kinder nie mçgen wrden, wenn er sich weiter so benahm. Sie redete ihm zu wie einem kranken Pferd, doch der Konrad schttelte bekmmert den Kopf. ›Kitti‹, sagte er, ›es geht nicht, sie haben mich so erzeugt. Und in der Endfertigungsabteilung haben sie mich auch so eingeschult! Ich kann nicht anders! ›Probiers doch wenigstens einmal, mir zuliebe‹, bat die Kitti, denn fr die Kitti war es auch nicht so einfach, einen Freund zu haben, den niemand leiden konnte« (S. 102).

Schließlich bekommt Frau Bartolotti wiederum Post von Konrads Fabrik, diesmal mit der Nachricht, dass ihr »das Produkt« irrtmlicherweise zugestellt worden sei; sie msse es umgehend zurckerstatten, damit es den richtigen Empfngern zugeschickt werden kçnne. Frau Bartolotti und Kitti schmieden einen Plan, dem sich Herr Egon und Konrad nach einigem Widerstreben anschließen; Konrad wird bei Herrn Egon versteckt und von Kitti »umerzogen«. »Die Kitti sagte: ›Konrad, es ist ganz einfach! Alles funktioniert bei der Erziehung nach dem Grundsatz: Wenn das Kind etwas Richtiges tut, wird es gelobt. Wenn das Kind etwas Falsches tut, wird es gescholten oder nicht beachtet. Also: Bravsein – loben, Schlimmsein – strafen, verstehst du das?‹ Der Konrad verstand es. ›Und bei der Umschulung‹, erklrte die Kitti, ›machen wir beide es jetzt genauso, nur umgekehrt. Also: Schlimmsein – loben, Bravsein – strafen.‹ […] ›Tro, Tro, Tro, Tro, Trottel!‹ Endlich hatte der Konrad es herausgestammelt. Die Kitti beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Der Konrad freute sich sehr. ›Und jetzt abwechselnd Trottel und gndige Frau!‹ befahl die Kitti. Der Konrad tat es. Bei jedem ›Gndige Frau‹ piekte ihn die Kitti mit der Nadel in den Arm, bei jedem ›Trottel‹ kßte sie ihn auf die Wange« (S. 126 f.).

Als die Mnner der Fabrik Konrad bei Herrn Egon entdecken, ihn abholen und seinen »rechtmßigen Eltern« bergeben wollen, erkennen sie ihr Produkt nicht wieder. Es brllt ein Schimpfwort nach dem anderen, bewirft die neuen Eltern mit Spinat und singt unanstndige Lieder. Die Eltern verzichten und Konrad kann bei Frau Bartolotti bleiben.

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»Der Konrad saß auf einer Kiste Babynahrung. Er sah recht blaß aus. ›Ach‹, sagte er, ›das war aber sehr anstrengend!‹ ›Mein armer Schatz‹, sagte die Frau Bartolotti und streichelte ihm die rechte Wange. ›Mein armer Schatz‹, sagte der Herr Egon und streichelte ihm die rechte Wange. ›Du warst herrlich!‹, rief die Kitti, kam ber die Wendeltreppe herunter und kßte ihn auf den Mund. ›Muß ich jetzt immer so sein?‹ fragte der Konrad. ›Gott bewahre‹, rief der Herr Egon. ›Muß ich jetzt wieder so wie frher sein?‹ ›Gott bewahre‹, rief die Frau Bartolotti. Die Kitti legte ihm den Arm um die Schultern und sagte: ›Ach Konrad, das kriegen wir schon hin!‹« (S. 148).

5.5.2 Mçgliche Lesarten »Konrad aus der Konservenbchse« setzt sich mit normativen Vorstellungen vom Kindsein auseinander. Konrad selbst trgt die ihm anerzogenen Regeln gebetsmhlenartig vor; Herr Egon und Frau Bartolotti haben beide ebenfalls recht feste Konzepte, wie ein Kind zu sein hat. Fr Herrn Egon stehen Fleiß, Gehorsam und Leistungsfhigkeit im Vordergrund, fr Frau Bartolotti Vitalitt und Unangepasstheit. Konrad befindet sich zum einen im Loyalittskonflikt zwischen beiden Elternteilen, die so Unterschiedliches von ihm verlangen, und zum anderen in dem Zwiespalt, die von ihm internalisierten Regeln zu befolgen und gleichzeitig Frau Bartolotti zu gehorchen. Die Erfahrung, in der Schule nicht gemocht zu werden, ist fr ihn schmerzhaft; es ist ihm aber nicht mçglich, von seinen inneren Regeln abzuweichen. Kittis mechanistische Umerziehung zum Ungehorsam bringt zwar kurzfristig den gewnschten Erfolg – Konrad kann auf diese Weise bei Frau Bartolotti bleiben –, der aber keine Dauerlçsung ist. Konrad muss mit Hilfe seiner »Eltern« und Kitti ganz neu berlegen und ausprobieren, wie er sich in Zukunft verhalten und woran er sich orientieren kann. Konrad prsentiert zu Beginn des Romans das Bild eines Kindes, das sich gestresste und berforderte Eltern mit einem schwierigen, das heißt unangepassten und oppositionellen Kind zumindest fr ein paar Tage wnschen. Ein Kind, dem man nicht stndig sagen muss, was es zu tun hat, das Normen guten und rcksichtsvollen Benehmens verinnerlicht hat und sich entsprechend verhlt. Je nher man Konrad kennen lernt, desto

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mehr geht einem sein phrasenhaftes Gerede und sein Musterkind-Verhalten auf die Nerven. Konrad ist – wie soll es bei seiner Herkunft auch anders sein – nicht echt; man sucht vergeblich nach seinem wahren Wesen. Aber Konrad hat das Glck, dass er nicht nur von seinen Eltern, sondern auch von Kitti gemocht und trotz seiner vielen Fehlleistungen (petzen, andere nicht abschreiben lassen etc.) positiv gesehen wird. Dies ist die Voraussetzung dafr, dass Konrad am Ende des Buches vielleicht einen Weg findet, wirklich zu werden. In der Geschichte wird deutlich, dass in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Personen unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was richtiges Benehmen ist, und dass es fr Kinder oft schwer ist, sich darin zurechtzufinden. In der Beratung und Therapie mit Kindern, Jugendlichen und deren Bezugspersonen geht es nicht selten um die Frage, welche Ansprche und Vernderungswnsche von außen an diese herangetragen werden. Kinder mit oppositionellem und unangepasstem Verhalten gehen in der Regel zu Unrecht davon aus, dass sich ihre Eltern statt ihrer auf Dauer einen Konrad wnschen und dass absoluter Gehorsam fr alle Probleme eine Lçsung darstellen wrde. »Konrad aus der Konservenbchse« stellt diese berzeugung auf komische und humorvolle Weise in Frage.

5.6 Die Geschichte einer innigen Vater-TochterBeziehung – »Ronja Rubertochter« von Astrid Lindgren »Allein, es gibt eine Spezies von Menschen, die sich jenen freundlichen Zugang zum Kind, das sie selbst waren, offenbar erhalten haben. Es ginge wohl zu weit zu behaupten, sie htten gar keine infantile Amnesie, aber diese scheint durchlssiger zu sein, oder anders ausgedrckt: Ein Teil der kindlichen Leidenschaften scheint weniger angstbesetzt zu sein, so daß einigen, was sie einst selbst gewnscht, ersehnt, gefrchtet und gedacht hatten, erinnerbar geblieben ist oder zumindest ber die Identifizierung mit Kindern nachgefhlt und nachgesprt werden kann. Diese Spezies Mensch, von der ich rede, ist eine Handvoll begnadeter Kinderbuchauto-

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ren. Und zu diesen gehçrt – an ganz vorderer Stelle – auch Astrid Lindgren« (Figdor, 1994, S. 57).

Astrid Lindgren wurde als schwedische Bauerntochter 1907 geboren. Sie erlernte den Sekretrinnenberuf und schrieb mit 37 fr ihre damals zehnjhrige Tochter ihr erstes Buch, das weltberhmt wurde: Pippi Langstrumpf. »Ronja Rubertochter« verçffentlichte sie 1981, in deutscher bersetzung erschien es 1982. In ihren zahlreichen Kinderbchern schafft sie zum einen reale, wenn auch sehr heile Welten, in denen sich Kinder ausprobieren und entwickeln drfen, und zum anderen eine von Mythen durchdrungene Phantasiewelt, in denen ihre Helden fr Werte wie Liebe, Gte und Gewaltlosigkeit eintreten (vgl. Doderer, 1998). Sie vertritt wie Preußler die Auffassung, dass es Kindern ermçglicht werden solle, weitgehend unbeschwert aufzuwachsen. Kennzeichnend fr viele von Lindgrens Bchern ist die Mischung von beschriebenen Aufgaben und Entwicklungsschritten, die ihre Protagonisten bewltigen mssen, und dem Zugestndnis, dass dieses nur in einer Umwelt geschehen kann, die faktische und moralische Sicherheit bietet. In »Ronja Rubertochter« beschreibt Lindgren nicht nur die Abenteuergeschichte zweier Kinder, sondern auch den schwierigen Prozess der Entidealisierung geliebter Elternfiguren in der beginnenden Pubertt. »Mit dem Erleben der Diskrepanz zwischen den realen Eltern und den inneren, idealisierten Bildern von ihnen sind heftige Gemtsschwankungen von Enttuschung, Wut und Trauer verbunden. Idealisierungen selbstgesuchter Vorbilder nehmen jetzt einen berbrckenden Stellenwert ein. Die Entidealisierung der Eltern fhrt in der Regel zu realerer Einschtzung elterlicher Strken und Schwchen und schließlich zur Versçhnung mit ihnen« (Rohse, 1997, S. 95).

Die Begrndung fr die Auswahl dieses Buches liegt zum einen in der feinfhligen Beschreibung einer beginnenden Umorientierung und eines sich langsam vollziehenden Wertewandels, mit dem sich viele auf der Suche nach sich selbst befindende weibliche Jugendliche identifizieren kçnnen, und zum anderen in der

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respektvoll geschilderten und sich selbst nicht verleugnenden Auseinandersetzung zwischen zwei Generationen.

5.6.1 Zum Text Die Geschichte beginnt mit Ronjas Geburt, die sich in einer Gewitternacht auf der Mattisburg ereignet. Ronjas Ankunft wird insbesondere von ihrem temperamentvollen und jhzornigen Vater Mattis, einem Ruberhauptmann, ungeduldig erwartet. Als Mattis Ronja das erste Mal im Arm hlt, empfindet er eine große, ihn schier berwltigende Zuneigung. »Aber Mattis wollte sich noch nicht von seiner Tochter trennen. Er stand da und sah mit Staunen ihre klaren Augen, ihren winzigen Mund, ihren dunklen Haarschopf und ihre hilflosen Hnde, und er erschauerte vor Liebe. ›Du Kind, in diesen kleinen Hnden hltst du schon jetzt mein Ruberherz‹, sagte er. ›Ich begreife es nicht, aber es ist so‹« (S. 9).

Whrend ihrer Kleinkindzeit versucht Mattis so viel Zeit wie mçglich mit Ronja zu verbringen, fttert sie und ist entzckt ber ihre Entwicklungsschritte. Lovis, Ronjas Mutter, begleitet und versorgt ihre Tochter nchterner, wenn auch nicht weniger liebevoll. Ronja wird grçßer und ihr Bewegungsradius erweitert sich. »Aber eines schçnen Tages sah Mattis ein – wie sehr es ihm auch mißfiel –, daß die Zeit gekommen war. ›Lovis‹, sagte er zu seiner Frau, ›unser Kind muß lernen, wie es ist, im Mattiswald zu leben. Laß Ronja hinaus!‹ ›Schau an, hast du das endlich auch begriffen?‹, sagte Lovis. ›Wenn es nach mir gegangen wre, dann wre sie schon lngst draußen.‹ Und damit hatte Ronja die Erlaubnis, frei herumzustreunen, wie sie wollte« (S. 15 f.).

Ronja beginnt also den Mattiswald mit allen berraschungen und Gefahren zu erkunden und probiert allerlei aus. Sie gert in die Gewalt von Graugnomen, vor denen sie ihr Vater rettet. Von ihrem Vater lernt sie auch, sich vor Gefahren zu hten. »Und whrend der folgenden Tage tat Ronja nichts anderes, als daß sie sich vor allem Gefhrlichen htete und sich darin bte, keine Angst zu haben. In

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den Fluß zu plumpsen, davor sollte sie sich hten, hatte Mattis gesagt, und darum sprang sie am Ufer khn und keck von einem glatten Stein zum anderen, dort wo das Wasser am wildesten toste. Schließlich konnte sie sich ja nicht im Wald davor hten, in den Fluß zu plumpsen« (S. 20).

Im Mattiswald lebt nicht nur Mattis mit seiner Familie und seinen Rubern, sondern auch Borka mit seiner Ruberbande. Mattis und Borka sind verfeindet und Mattis bemht sich, die gegnerische Horde aus dem Wald zu vertreiben. Borka hat ebenfalls ein Kind, einen Sohn Birk, der in derselben Nacht wie Ronja geboren wurde. Ronja und Birk treffen sich im Wald und reagieren zunchst mit starker Ablehnung aufeinander. Erst als sie sich gegenseitig aus gefhrlichen Situationen befreit haben, schließen sie Freundschaft und nennen sich Bruder und Schwester, verheimlichen aber ihre Begegnungen vor ihren Familien. Mit Beginn dieser Freundschaft legt sich ein erster Schatten ber die Vater-Tochter-Beziehung, zumal sich Ronja von dem Ruberhandwerk ihres Vaters zu distanzieren beginnt. »Ronja seufzte. Warum mußte ihr Vater so ungestm in allem sein. Ob er froh war oder traurig oder zornig, stets war es das gleiche, so wild und maßlos war er, daß es fr eine ganze Ruberbande gereicht htte. Ronja log ihren Vater nie an. Sie verschwieg nur manches, von dem sie wußte, es htte ihn betrbt oder wtend gemacht oder beides zugleich. Und genau das wrde geschehen, wenn sie ihm von Birk erzhlte« (S. 61 f.).

Der sich anbahnende Konflikt zwischen Ronja und ihrem Vater bricht auf, als Mattis Birk als Geisel nimmt, um Birks Vater damit zu erpressen und ihn zu zwingen, den Mattiswald zu verlassen. Ronja stellt sich erstmals gegen ihren Vater und beschimpft ihn, whrend sich Lovis in ihrer pragmatischen Art um den verletzten Birk kmmert und sich auf ihre Weise von Mattis distanziert. »In dieser Nacht lag Mattis nicht in seinem Bett neben Lovis, und wo er schlief, wußte sie nicht. ›Es ist mir auch gleich‹, sagte sie. ›Jetzt kann ich hier kreuz und quer liegen, wie ich will.‹ Aber schlafen konnte sie nicht, denn sie hçrte ihr Kind verzweifelt weinen, und das Kind ließ sie nicht an sich heran und wollte keinen Trost. Dies war eine Nacht, die Ronja allein durchstehen mußte. Sie lag lange wach und haßte ihren Vater so sehr, daß sich ihr das Herz in der Brust zusammenkrampfte. Aber jemanden hassen, den man

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jeden Tag seines Lebens so sehr geliebt hatte, war schwer, und deshalb war es fr Ronja die schwerste aller Nchte« (S. 89 f.).

Ronja, die Mattis’ Handlungsweise zutiefst verabscheut, begibt sich vor den Augen aller Ruber freiwillig in die Gefangenschaft von Borka und demtigt somit ihren Vater çffentlich. Mattis gibt Birk frei, ist aber innerlich versteinert und erklrt, er habe keine Tochter mehr. Daraufhin verlsst Ronja schweren Herzens ihr Elternhaus und beschließt, mit Birk im Wald in einer Grotte zu leben. Sie verbringen glckliche Momente, erleben Abenteuer, streiten, versçhnen und beschtzen sich. Irgendwann erscheint Lovis, um sie nach Hause zu holen. Sie berichtet, daß Mattis sie tagsber zwar nie erwhne, aber jede Nacht im Schlaf nach ihr rufe und an dem Verlust seiner Tochter zu zerbrechen drohe. »Ronja sprte, daß es jetzt hervorbrechen wollte, dieses Weinen, das die Berge zum Bersten bringen wrde. Doch sie biß die Zhne zusammen und fragte Lovis: ›Du, Lovis, wenn du ein Kind wrst und einen Vater httest, der dich so erbarmungslos verleugnet, daß er nicht einmal deinen Namen nennt, wrdest du dann zu ihm zurckkehren? Wenn er nicht selber kme und darum bte?‹ Lovis dachte eine Weile nach. ›Nein, das wrde ich nicht. Er mßte mich darum bitten, das mßte er!‹ ›Und das tut Mattis nie‹, sagte Ronja. Wieder verbarg sie ihr Gesicht in Lovis’ Schoß und Lovis’ rauher Wollrock wurde naß von Ronjas stillen Trnen. Es war Abend und dunkel geworden, aber auch die schwersten Tage nehmen ein Ende« (S. 139).

Schließlich kommt Mattis kurz vor Einbruch des Winters zu der Grotte und bittet seine Tochter, nach Hause zu kommen. Und er tut noch mehr : Er akzeptiert Ronjas Beziehung zu Birk, weil er sprt, wie stark diese geworden ist und dass er sich nicht gegen sie stellen kann, ohne Ronja erneut zu verlieren. Er ldt Birk ein, mit ihnen zu leben, auch wenn er betont, dass er ihn nicht besonders mag; doch Birk entscheidet sich, ebenfalls zu seiner Familie zurckzukehren. Als es Frhling wird, beschließen Ronja und Birk jedoch wieder in ihre Grotte zu ziehen. »Mehr und mehr Frhling wurde es. Und Ronja bangte vor dem Augenblick, wo sie Mattis gestehen mußte, daß sie jetzt wieder in die Brenhçhle ziehen wollte. Aber Mattis war ein wunderlicher Mann. Bei ihm wußte man nie, woran man war. ›Meine alte Grotte, ja, die ist schçn‹, sagte er. ›Besser als

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da kann man zu dieser Jahreszeit nirgends wohnen! Oder was meinst du, Lovis?‹ Lovis kannte ihren Mattis und seinen plçtzlichen Sinneswandel und war deshalb nicht sonderlich erstaunt. ›Geh du nur, Kind, wenn dein Vater meint‹, sagte sie. ›Aber ich werde dich vermissen.‹ ›Und im Herbst kommst du ja wohl wieder heim wie immer‹, sagte Mattis, so als sei Ronja seit Jahr und Tag aus der Mattisburg ausgezogen und dann wieder heimgekehrt. ›Ja, genau wie immer‹, versicherte Ronja, froh und berrascht, daß es diesmal so leicht gegangen war« (S. 167 f.).

5.6.2 Mçgliche Lesarten »Ronja Rubertochter« zhlt zu den spteren Werken Astrid Lindgrens und kann als ein Pldoyer fr eine pazifistische Welt verstanden werden. In diesem Rahmen soll aber ein anderer Aspekt beleuchtet werden; nmlich die Autonomieentwicklung Ronjas und ihre schmerzhafte Ablçsung von ihren geliebten Eltern. Ronja ist wie viele der Mdchengestalten Astrid Lindgrens ein freiheitsliebendes, starkes und mutiges Mdchen. Im Gegensatz zu Pippi Langstrumpf hat Ronja Eltern, die sie lieben, versorgen und ihr wichtige Fertigkeiten vermitteln. Dazu gehçrt Vertrauen in sich selbst und die Umwelt, ohne deren drohende Gefahren zu unterschtzen. Ronja wird von ihren Eltern schrittweise in die Freiheit entlassen und alles ist gut, solange Ronja ihre Eltern, insbesondere ihren Vater, vorbehaltlos und uneingeschrnkt bewundert und liebt. Als Ronja an ihrem Vater Zge entdeckt, die sie weder schtzt noch tolerieren kann, ist die Vater-Tochter-Beziehung empfindlich gestçrt. Ronja nimmt ihrem Vater bel, dass er nicht so ist, wie sie ihn immer gesehen hat, und Mattis kann seiner Tochter nicht verzeihen, dass sie plçtzlich gegen ihn aufbegehrt. Da die Verbindung zwischen beiden vorher so innig war, ist die Verletzung um so tiefer und fhrt zu einem vorbergehenden Abbruch der Beziehung. Nach Vermittlung durch Ronjas Mutter geht Mattis den entscheidenden Schritt auf Ronja zu; auf diese Weise entsteht eine neue Qualitt in ihrer Beziehung. Mattis gesteht Ronja ein, einen Fehler gemacht zu haben, duldet einen »Nebenbuhler« und macht sich auf diese Weise kleiner, aber auch berhrbarer. Die Bindung zwischen Ronja und ihrem Vater bleibt innig, aber sie

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lsst der Tochter einen grçßeren Freiraum; andere gegengeschlechtliche Beziehungen werden erlaubt. Die Geschichte der Ronja Rubertochter ist eine Geschichte ber die Freude und den Schmerz, die die verschiedenen Entwicklungsschritte von Kindern begleiten und die Eltern und Kinder – zwar in unterschiedlicher Form, aber oft in hnlicher Intensitt – betrifft. Der Verlust, nicht mehr der ausschließlich bewunderte Vater zu sein, und die Erkenntnis, keinen mehr ausschließlich bewundernswerten Vater zu haben, kann gleichermaßen erschttern. Lindgrens Roman schreibt sehr eindeutig den Eltern die Verantwortung zu, ihre Kinder nach solchen tiefen Verunsicherungen wieder ins Familienboot zu holen. Natrlich ist Lindgrens Geschichte eine sehr ideale, und Eltern, die sich gemeinsam mit ihren Kindern und deren oftmals pathologischen Ablçsungsbemhungen (z. B. Essstçrungen) in Beratung oder therapeutischer Behandlung befinden, sind oftmals zu erschçpft, um die Kraft aufzubringen, sich ihren Kindern in dieser versçhnlichen Form wieder zu nhern. »Ronja Rubertochter« beschreibt, wie ein Wiederannherungsprozess zwischen sich liebenden und heftig bekmpfenden Familienmitgliedern unterschiedlicher Generationen stattfinden kann, ohne dass der Stolz jedes Einzelnen allzu sehr verletzt wird und eine schrittweise Ablçsung der Kinder von ihren Eltern geleugnet bzw. rckgngig gemacht werden muss.

5.7 Nicht von dieser Welt – »Marsmdchen« von Tamara Bach Tamara Bach, geboren 1976 in Limburg, erhielt fr ihr Erstlingswerk »Marsmdchen« den deutschen Jugendliteraturpreis 2004; in der Begrndung hieß es unter anderem, dass es diesem Buch gelinge, »das Lebensgefhl seiner Zeit exemplarisch abzubilden« (Glasenapp, 2004, S. 20). Fr die Auswahl dieses Buches hat nicht nur das aktuelle Erscheinungsdatum gesprochen. »Marsmdchen« zeichnet sich im Rahmen der Untersuchung durch die treffsichere Beschreibung des Gefhls der Mittelmßigkeit und der Unscheinbarkeit aus,

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unter dem viele sich in Selbstwertkrisen befindende Jugendliche extrem leiden. Das Buch beschftigt sich in angenehmer Unaufdringlichkeit mit der in Therapie und Beratung oft so relevanten Frage, wie und ob es mçglich ist, sich selbst zu mçgen, ohne seinem Ideal zu entsprechen.

5.7.1 Zum Text Der Roman beginnt mit einem Zitat aus einem Lied der Sngerin Bjçrk: »This small town hasn’t got room for my big feelings.« Mit diesem Satz ist schon – fast – alles gesagt. Miriam, die Protagonistin der Geschichte, ist 15 Jahre alt und lebt in einer kleinen Stadt, die sommers von Touristen heimgesucht wird und im Winter wie ausgestorben ist. Miriam beschreibt sich als eine, die immer »dazwischen« ist, ohne besondere Begabungen, weder hbsch noch hsslich. »Ich bin ganz klug, sagen meine Noten in Mathe und in Franzçsisch. Aber Geschichte und Chemie sagen, ich sei der letzte Idiot. Was ist man denn, wenn man immer mittendrin ist, nicht ihm und nicht ihr, nicht Fleisch oder Fisch? Langweilig ist man dann« (S. 11 f.).

Miriam wnscht sich, schçn, klug und talentiert zu sein, sich von den anderen abzuheben, vielleicht schon einen Freund und Sex zu haben, wie eine ihrer Freundinnen, in jedem Falle aber auf irgendeine Art ihrer gefhlten Durchschnittlichkeit und den immer gleichen Tagen zu entfliehen. »Keiner zu Hause. Das Haus ganz ruhig. Manchmal ist es so, kennst du das, es ist ganz ruhig und in dir schreit alles plçtzlich, ganz laut, und du willst selbst einfach nur schreien oder treten oder spucken und Flickflack machen oder so? Manchmal bin ich innen viel grçßer und passe nicht hier rein … Manchmal hçrt man nur ein gleichmßiges Summen wie Neonlicht oder den Khlschrank. Es ist nie wirklich ruhig. Aber es passiert auch nie wirklich was. Ich denke an eine Stadt und an nichts. Dann mache ich die Musik an und stelle sie laut. Verdammt laut« (S. 22 f.).

Miriam lebt mit ihrem lteren Bruder und ihren Eltern in einer »normalen« Familie in einem Einfamilienhaus. Sie konstatiert,

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dass sie noch nie irgendwo neu war und sich dennoch ungeheuer fremd fhlt, so als ob sie vom Mars kme. Mit ihrer Mutter trgt sie die blichen kleinen, sie aber dennoch stark aufwhlenden Konflikte um Zimmeraufrumen und das Hçren (zu) lauter Musik aus. »Ich muss raus. Ich muss irgendwas machen, jetzt, sofort. Das Zimmer ist zu klein, es ist schon wieder Nachmittag, und es ist immer dasselbe: zu gleich, zu klein. Nicht nur mein Zimmer, ach was, das ganze Haus, diese Stadt. Ich muss raus, ich kann hier nicht atmen« (S. 31).

Als Miriam die etwas ltere Laura kennen lernt, die neu in ihrer Klasse ist, verndert sich Miriams Lebensgefhl langsam. Laura ldt sie ein, sie nach Hause zu begleiten, wo sie zusammen mit Philipp – ein Freund von Laura, dem Miriam zunchst mit Misstrauen begegnet – herumhngen und Musik hçren. Am nchsten Morgen fhlt sich Miriam gegenber Laura seltsam befangen. »Ich bin schlecht gelaunt. Ich bin mde. Ja, ich habe verschlafen. Ich will einfach mal nicht reden. Na und? Lasst mich in Ruhe. Ich brauche die Welt nicht. Vielleicht kommt der Stein ja noch oder der Regen oder irgendwas. Und ich bin die Einzige, die darauf vorbereitet ist. Diejenige, die lcheln wird, wenn es passiert, weil ich es geahnt habe. Ha! Ich bin ganz ruhig. Mir ist ganz langweilig. Ich will Laura nicht anschauen. Was macht die nur, dass ich mich so komisch fhle? Warum luft in meinem Kopf alles so schnell, wenn sie da ist, so schnell, dass ich die Gedanken gar nicht greifen kann?« (43).

Miriam verheimlicht ihren Freundinnen ihr Treffen mit Laura, ohne recht zu wissen warum. Laura ldt sie ein, mit ihr das Wochenende zu verbringen, sie gehen in die Disko, rauchen, trinken und tanzen und Miriam erlebt mit Laura das, was sie sich gewnscht hat, einen »schçnen Abend«. Am Ende des Abends halten Miriam und Laura sich an den Hnden und Miriam weiß nicht, ob sie sich in Laura verliebt hat. Sie fangen an mehr Zeit miteinander zu verbringen, irgendwann ksst Laura Miriam und schließlich verbringen sie zusammen mit Philipp ein Wochenende und die Nacht miteinander. Philipp erfhrt von ihrer Liai-

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son; vor allen anderen halten Laura und Miriam ihre Beziehung geheim. »Vielleicht ist das jetzt eine Liebesgeschichte. Eine Affre. Nein. Keine Affre. Es ist ein Geheimnis. Laura und ich sehen uns jeden Tag in der Schule. Mehr nicht … Ich lebe nur noch fr die kleinen Momente, in denen wir allein sind. Es geht keinen was an. Und Laura zwinkert mir zu. Das ist wie mit den Wnschen. Wenn man sie weitersagt, dann erfllen sie sich nicht. Also bleib ich still und sag nichts. Das, was da ist. Und Laura sagt nur: ›Du und ich.‹ Und damit hat sich’s. Mehr sagt sie nicht. Nein. Ist kein Verbrechen« (S. 142 f.).

Als Miriam beginnt, an eine wirkliche Beziehung zu Laura zu glauben, ist Laura plçtzlich weg. In einem kurzen Brief an Miriam teilt sie ihr mit, dass sie sich mit ihrer Mutter verkracht hat und zu ihrem Vater zurck nach Kçln gezogen ist. Sie bittet Miriam, sie an einem bestimmten Abend in der Disko zu treffen, doch dort begegnet Miriam nur Philipp, den Laura offensichtlich auch dorthin bestellt hat. Sie sprechen ber Laura, stoßen mit Tequila auf das an, was bleibt, und stellen beim Verlassen der Disko fest, dass es bald wieder Sommer wird.

5.7.2 Mçgliche Lesarten »Marsmdchen« beschreibt keine dramatischen Ereignisse oder Krisensituationen wie zum Beispiel den Verlust geliebter Bezugspersonen, Scheidung der Eltern oder Drogenabhngigkeit. »Marsmdchen« schildert das Lebensgefhl eines sich durchschnittlich fhlenden und an der eigenen Durchschnittlichkeit leidenden 15-jhrigen Mdchens, das aber berdurchschnittlich klar seine Gefhle beschreiben kann. »Marsmdchen« erzhlt das normale und existenziell erschtternde Drama pubertierender Jugendlicher, die sich plçtzlich in ihrem Kçrper und ihrer Umgebung eingeengt fhlen, und die an ihren machtvollen Gefhlen zu ersticken drohen. Miriam benennt das Gefhl der Langeweile und der Enge sowie den Wunsch, aus diesem Kokon auszubrechen. Sie whlt den fr die Kleinstadt provozierenden Ausweg, sich in ein Mdchen zu verlieben, und hat damit etwas

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erreicht, was sie ersehnt und zugleich frchtet: anders zu sein. Sie verachtet ihre Freundinnen, die so normal sind, dass sie einen Freund haben, und beneidet sie gleichzeitig. »Marsmdchen« beschreibt ein zentrales Dilemma 15-Jhriger in großer Klarheit und sprachlicher Schrfe: Es muss ein Weg zwischen Individuation und Integration in die Gemeinschaft gefunden werden, und Miriams Weg zeigt, dass dies kein gerader ist. Miriam ist nicht ehrlich zu ihren Freundinnen oder zu ihren Eltern, sie sagt nicht die Wahrheit, weicht aus und geht Umwege. Sie ist weder besonders mutig noch stellt sie sich Konflikten mit anderen. Miriam macht anderen etwas vor, aber nicht sich selbst. »Marsmdchen« bietet ein Modell dafr an, normal sein zu drfen und an der Normalitt zu leiden, anders sein zu wollen und sich nicht zu trauen, und schließlich doch in einer Hinsicht anders zu sein, ohne sich dabei ins soziale Abseits zu mançvrieren. Der Roman hebt die große Strke vieler Jugendlicher hervor – die radikale gedankliche Infragestellung der Umwelt und der eigenen Person – und beschreibt gleichzeitig die Schwierigkeiten und ngste, aus diesen berlegungen reale Konsequenzen zu ziehen und dabei die potenzielle Missbilligung der Umgebung in Kauf zu nehmen.

5.8 Der Kampf mit den verschiedenen Autoritten – »Harry Potter und der Orden des Phçnix« von Joanne K. Rowling »Spannung und Drama kçnnen nur durch das berschreiten von Grenzen entstehen. Auch eine Phantasiewelt muss nach klar definierten und nachvollziehbaren Regeln funktionieren. […] Ich kann mir nichts deres vorstellen als einen Helden mit unbegrenzten Superkrften. Hast du ein Problem, reibst du an deinem Ring – schwupps – ist alles in Butter. Das ist unertrglich langweilig« (Rowling, zit. in Brvenich, 2001, S. 61).

ber Harry Potter gibt es mittlerweile Berge an Sekundrliteratur – und nicht nur Fans, Pdagogen und Literaturwissenschaftler haben das Phnomen von Harry Potters Erfolg untersucht; auch fr Psychologen und Psychoanalytiker stellen Rowlings Romane – wie bereits im dritten Kapitel erwhnt – eine

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wertvolle Fundgrube fr ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen dar. Eine Inhaltsangabe der ersten vier Harry-Potter-Romane soll hier nur in aller Krze erfolgen (vgl. dazu Brvenich, 2001; Knobloch, 2000). Harry Potter, ein schmchtiger und schchterner Junge, lebt bei seinen Verwandten – so genannten Muggeln, die der nichtmagischen Welt angehçren –, ohne zu wissen, dass er ein Zauberer ist. Seine Eltern, ebenfalls Zauberer, wurden von Lord Voldemort, der Verkçrperung des Bçsen, ermordet, als Harry ein knappes Jahr alt war. An seinem 11. Geburtstag wird Harry vom Halbriesen Hagrid, der im Folgenden Harrys Freund und Beschtzer wird, ber seine Herkunft und Identitt aufgeklrt sowie darber, dass er auf die Zauberschule Hogwarts gehen soll. In Hogwarts trifft Harry Hermine und Ron, die seine beiden besten Freunde werden, er macht Bekanntschaft mit dem gtigen und mchtigen Schulleiter Dumbledore, der zu Harry in den ersten Bnden wie ein liebevoller Vater und Mentor ist, sowie mit zahlreichen anderen Figuren. Er besteht gemeinsam mit seinen Freunden verschiedene Abenteuer, lernt seinen Paten Sirius, den ehemals besten Freund seines Vaters kennen, den der grçßte Teil der Zaubererwelt fr einen Verbrecher und Anhnger Voldemorts hlt. Er kmpft im vierten Band von Angesicht zu Angesicht mit Voldemort, der nach 14 Jahren wiedererstarkt ist, und verliert einen Schulkameraden, der von Voldemort getçtet wird. In diesem Rahmen mçchte ich mich auf den fnften Band konzentrieren, in dem der 15-jhrige Harry, der mit Selbstzweifeln und Misstrauen gegen seine Umwelt zu kmpfen hat, sich mit ußeren und verinnerlichten Autoritten auseinandersetzen muss. Ich habe diesen Band in erster Linie deshalb ausgewhlt, weil der Hauptheld Harry zwar nach wie vor eine absolut positive Identifikationsfigur darstellt, der auf Grund seines Gerechtigkeitsempfindens und seiner Liebes- und Leidensfhigkeit den Kampf gegen das Bçse fhrt aber dennoch in seiner seelischen und moralischen Verfassung erstmals als angreifbarer und anfechtbar beschrieben wird (vgl. auch Stenzel, 2006). Das Buch ldt Jugendliche zum einen dazu ein, sich im Rahmen einer spannenden und Moralisierung vermeidenden Geschichte mit eigenen Moralvorstellungen auseinanderzusetzen und macht

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zum anderen das psychisch zu bewltigende – weil sehr krnkende – Ungleichgewicht zwischen den Mchten der Erwachsenenwelt und dem real begrenzten Handlungsspielraum Jugendlicher deutlich. Der 15-jhrige Harry Potter ist eine Identifikationsfigur, der in diesem Band an mehreren der ihm gestellten Aufgaben scheitert, aber er scheitert in Wrde – auch das wiederum eine Erfahrung, die fr viele sich in Therapie und Beratung befindende Kinder und Jugendliche neu sein drfte.

5.8.1 Zum Text Der fnfte Band beginnt damit, dass Harry wie blich bei seinen Verwandten die Sommerferien verbringt und auf Nachrichten von seinen Freunden aus der Zaubererwelt wartet. Er macht sich Sorgen ber Voldemorts Rckkehr, fhlt sich ausgeschlossen, ungerecht behandelt und von allen wichtigen Ereignissen abgeschnitten. »Womit waren Ron und Hermine eigentlich so beschftigt? Und warum war er, Harry, nicht beschftigt? Hatte er nicht bewiesen, dass er mit viel mehr fertig werden konnte als sie? Hatten sie alle vergessen, was er getan hatte? War es nicht er gewesen, der diesen Friedhof betreten und gesehen hatte, wie Cedric ermordet wurde und er an diesen Grabstein gefesselt wurde und fast umgebracht worden wre? […] Das Gefhl, wie ungerecht das alles war, staute sich in ihm auf, und er htte am liebsten vor Wut geschrien. Wenn er nicht gewesen wre, htte berhaupt niemand erfahren, daß Voldemort zurck war! Und zur Belohnung saß er in Little Whinging, vçllig abgeschnitten von der magischen Welt, dazu verurteilt, zwischen welken Begonien zu kauern, nur um Neuigkeiten ber Wasserski fahrende Wellensittiche zu hçren. Wie konnte Dumbledore ihn nur einfach so vergessen? Wieso hatten Ron und Hermine sich getroffen, ohne ihn einzuladen? Wie lange musste er sich von Sirius sagen lassen, er solle die Ohren steif halten und ein braver Junge sein; oder der Versuchung widerstehen, an den blçden Tagespropheten zu schreiben und denen klar zu machen, dass Voldemort zurckgekehrt war?« (S. 15 ff.).

Ein Kennzeichen des fnften Bandes ist, dass nicht nur die Grenzen zwischen Gut und Bçse, sondern auch die zwischen magischer und nichtmagischer Welt zunehmend verschwimmen.

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Harrys bis zum vierten Band ausgesprochen beschrnkte Tante erweist sich als eine in die Zaubererwelt Eingeweihte; in der Muggelwelt tauchen Dementoren – die bçsen und seelenlosen Wrter des Zauberergefngnisses Askaban – auf und bedrohen Harrys verhassten Cousin, dem Harry in dieser Situation zu Hilfe eilt, und Harry erlebt sein Zuhause bei Onkel und Tante erstmals als Schutzraum. Harry muss demzufolge immer wieder Umbewertungen vornehmen; nichts ist mehr so, wie es jahrelang festzustehen schien. »Mit der Ankunft der Dementoren in Little Whinging schien die große, unsichtbare Mauer durchbrochen worden zu sein, welche die gnadenlos nichtmagische Welt des Ligusterweges und die Welt jenseits von ihr getrennt hatte. Harrys zwei Leben hatten sich gleichsam verschmolzen und alles war auf den Kopf gestellt; die Dursleys fragten nach Einzelheiten ber die magische Welt … und er selbst wrde vielleicht nie mehr nach Hogwarts zurckkehren. In Harrys Kopf pochte es noch schmerzhafter« (S. 49 f.).

Kurz vor dem Ende der Ferien wird Harry von einer Zaubererdelegation zum Hauptquartier des Orden des Phçnix begleitet (der Orden des Phçnix ist der Zusammenschluss der gegen Voldemort kmpfenden Zauberer), wo er Hermine und Ron, dessen Familie und seinen Paten Sirius wiedertrifft. Im Folgenden geht es unter anderem um die Frage, wie viel der minderjhrige Zauberer Harry ber den Orden und seine Ttigkeit wissen darf, also darum, fr wie schtzenswert bzw. autonom er als Jugendlicher befunden wird. Harrys Pate Sirius und Rons Mutter Mrs. Weasley verkçrpern dabei zwei unterschiedliche Pole: »›Er ist kein Mitglied des Phçnixordens!‹, sagte Mrs. Weasley. ›Er ist erst fnfzehn und‹ – ›Und er ist mit ebenso viel fertig geworden wie die meisten im Orden‹, sagte Sirius, ›und mit mehr, als manche von sich behaupten kçnnen.‹ ›Keiner bestreitet, was er getan hat!‹, sagte Mrs. Weasley mit erhobener Stimme und ihre Fuste auf den Armlehnen bebten. ›Aber er ist immer noch‹ – ›Er ist kein Kind mehr!‹, sagte Sirius unwirsch. ›Ein Erwachsener ist er auch nicht!‹, erwiderte Mrs. Weasley und ihre Wangen frbten sich« (S. 110).

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Bevor er nach Hogwarts zurckkehrt, muss Harry noch vor das Zauberergericht, weil er gegen ein wichtiges Gesetz verstoßen hat. Harry muss sich allein vor der Autoritt des Gerichtes verteidigen, erhlt unerwartet Hilfe von Dumbledore und wird freigesprochen. Dumbledore nimmt aber keinen weiteren Kontakt zu Harry auf und geht ihm auch im Folgenden aus dem Weg, was Harry sich nicht erklren kann und was ihn tief bedrckt. In der Schule angekommen, muss sich Harry mit einer neuen Lehrerin, Prof. Umbrigde, auseinandersetzen, die das Zaubereiministerium hinter sich hat. Prof. Umbrigde setzt sich mit Erfolg dafr ein, das Schulsystem von Hogwarts strker zu reglementieren, und behandelt die Schler mit grçßter Herablassung und offensichtlichem Sadismus, wogegen Harry Widerstand zu leisten beginnt. Harry wird von Umbridge bestraft, stellt sich ihr aber weiter offen – und erfolglos – entgegen. Auf Initiative seiner Freunde grnden sie eine Widerstandsbewegung gegen die zunehmende Reglementierung. Harry soll dabei seine bisherigen in zahlreichen Abenteuern erworbenen Fhigkeiten an die anderen weitergeben. Gleichzeitig entdeckt Harry die erste Liebe fr sich und ist von dieser »Aufgabe« vçllig berfordert. Schließlich trumt Harry, dass er in Gestalt einer Schlange – Lord Voldemorts Wahrzeichen – Rons Vater angreift und schwer verletzt. Sein Traum stellt sich insofern als »wirklich« heraus, als Rons Vater tatschlich angegriffen wurde. Harry wird von Zweifeln und Schuldgefhlen befallen; er qult sich mit der Frage, ob er fr diesen Angriff verantwortlich ist. Er hat Angst, dass Voldemort von ihm Besitz ergriffen hat, und beginnt unter negativen Grçßenphantasien zu leiden. Von den Erwachsenen fhlt er sich unverstanden bzw. in seinen Sorgen nicht ernst genommen; von seinen Freunden zieht er sich zurck. Doch diese rcken ihm den Kopf zurecht und relativieren Harrys Exklusivittsgefhl. »›Wir wollen mit dir reden, Harry‹, sagte Ginny, ›aber da du dich nun mal versteckt hast, seit wir wieder zurck sind …‹ ›Ich wollte nicht, dass jemand mit mir redet‹, sagte Harry, der sich immer gereizter fhlte. ›Tja, das war ein klein wenig dumm von dir‹, sagte Ginny zornig, ›wenn ich mir berlege, dass du außer mir niemanden kennst, der von Du-weißt-schon-wem [Voldemort] besessen war und ich dir sagen kann, wie es sich anfhlt.‹

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Harry rhrte sich nicht, whrend die Wucht dieser Worte ihn traf. ›Hab ich vergessen‹, sagte er. ›Du Glcklicher‹, erwiderte Ginny khl. ›Tut mir Leid‹, sagte Harry und das meinte er auch« (S. 587).

Auf Dumbledores Wunsch soll Harry bei Prof. Snape, einem der von ihm meist gehassten Lehrer, Privatstunden nehmen. Harry nimmt widerwillig an dem Unterricht teil, wird aber schließlich von Snape hinausgeworfen, nachdem er in einem unbeobachteten Moment eine Zeitreise ins Snapes Erinnerungen unternommen hat und dort seinen Vater, der damals 15 Jahre alt ist, beobachtet, wie dieser seinen Klassenkameraden Snape demtigt. »Was Harry so entsetzte und unglcklich machte, war nicht, dass man ihn angeschrien oder ihm Glasbehlter nachgeworfen hatte. Der Grund war, dass er wusste, wie es war, inmitten eines Kreises von Zuschauern gedemtigt zu werden, dass er genau wusste, wie Snape sich gefhlt hatte, als sein Vater ihn verhçhnt hatte, und dass, nach dem zu schließen, was er gerade gesehen hatte, sein Vater genauso arrogant gewesen war, wie Snape ihm immer gesagt hatte« (S. 764).

Fr Harry bricht eine Welt zusammen; der Vater, dem er angeblich so hnlich sein sollte, entspricht nicht mehr seinen Vorstellungen von einem zu verehrenden und bewundernden Menschen. Er stellt sich die Frage, ob er berhaupt noch so sein will wie sein Vater, und hat das dringende Bedrfnis, sich mit seinem Paten und einem anderen Freund des Vaters ber diesen auszutauschen. Dabei macht Harry die Feststellung, dass die Freunde seines Vaters ihn in Schutz nehmen, whrend er das Verhalten seines Vaters fr nicht entschuldbar hlt. »Dann sagte Lupin leise: ›Ich mçchte nicht, dass du deinen Vater nach dem beurteilst, was du dort gesehen hast, Harry. Er war erst fnfzehn.‹ ›Ich bin auch fnfzehn‹, erwiderte Harry aufgebracht. […] ›Sieh mal‹, sagte er [Sirius], ›dein Vater war der beste Freund, den ich je hatte und er war ein guter Mensch. Im Alter von fnfzehn sind eine Menge Menschen Idioten. Er ist da rausgewachsen.‹ ›Ja, schon gut‹, sagte Harry mit schwerer Stimme. ›Ich htte nur nicht gedacht, dass mir Snape jemals Leid tun wrde‹« (S. 787 f.).

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Auf Grund eines Traums ist Harry davon berzeugt, dass sein Pate im Zaubereiministerium gefangen halten wird und getçtet werden soll. Harry flieht mit seinen Freunden aus dem Internat, um Sirius zu befreien. Nachdem sich Harrys Vision als eine Finte Voldemorts herausgestellt hat, um Harry ins Zaubereiministerium zu locken und zu tçten, beginnt ein Kampf zwischen Voldemorts Anhngern und den Jugendlichen. Der Orden des Phçnix, unter anderem Dumbledore und Sirius, eilt den Jugendlichen zu Hilfe. Der Kampf endet mit Sirius’ Tod und einem Zweikampf zwischen Voldemort und Dumbledore, bei dem Voldemort entkommt. Harry fhlt sich zutiefst gedemtigt, dass er auf Voldemorts List hereingefallen ist, und schuldig am Tod seines Paten. In einem Zwiegesprch stellt sich Dumbeldore Harrys Fragen, seiner Wut und seiner Verzweiflung. Nachdem er ihm ber 900 Buchseiten ausgewichen ist, erklrt sich Dumbledore Harry : »›Ich weiß, wie du dich fhlst Harry‹, sagte Dumbledore sehr leise. ›Nein, das wissen Sie nicht‹, erwiderte Harry, und seine Stimme war plçtzlich laut und stark; weiß glhender Zorn kochte in ihm hoch; Dumbledore wusste nichts von seinen Gefhlen. […] ›Du hast keinen Grund, dich fr das, was du fhlst zu schmen, Harry‹, sagte Dumbledores Stimme. ›Im Gegenteil … die Tatsache, dass du auf solche Weise Schmerz empfinden kannst, ist deine grçßte Strke.‹ […] Bebend vor Wut wandte Harry sich um. ›Ich will nicht darber sprechen, wie ich mich fhle, in Ordnung?‹ ›Harry, dass du so leidest, beweist, dass du immer noch ein Mensch bist! Dieser Schmerz gehçrt zum Menschsein.‹ ›DANN – WILL – ICH – KEIN – MENSCH – SEIN!‹, brllte Harry. […] Harry drehte sich wieder zu Dumbledore um. ›Lassen Sie mich raus‹, sagte er. Er zitterte am ganzen Kçrper. ›Nein‹, sagte Dumbledore schlicht. […] ›Lassen Sie mich raus‹, sagte Harry noch einmal, mit einer Stimme, die kalt und fast so ruhig war wie die Dumbledores. ›Nicht ehe ich gesagt habe, was ich sagen will‹, antwortete Dumbledore. ›Glauben Sie – glauben Sie, ich will – glauben Sie, es wrde auch nur einen – ES IST MIR EGAL, WAS SIE ZU SAGEN HABEN!‹, brllte Harry. ›Ich will nichts von dem hçren, was Sie zu sagen haben!‹ ›Du wirst es‹, sagte Dumbledore mit fester Stimme. ›Weil du nicht annhernd so zornig auf mich bist, wie du sein solltest … Harry, ich schulde dir eine Erklrung‹, sagte Dumbeldore. ›Eine Erklrung zu den Fehlern eines alten Mannes. Denn ich sehe jetzt, dass das, was ich im Hinblick auf dich getan und nicht getan habe, alle Merkmale der Schwchen des Alters trgt. Die Jugend kann

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nicht wissen, wie das Alter denkt und fhlt. Aber alte Menschen machen sich schuldig, wenn sie vergessen, was es hieß, jung zu sein … und wie es scheint, habe ich es in letzter Zeit vergessen‹« (S. 965 ff.).

Nach Dumbledores Erklrungen weiß Harry mehr ber die Motive des Schulleiters, sich so und nicht anders zu verhalten, Harrys Bewertung des Gehçrten bleibt unklar. Ein besonderes Kennzeichen des Gesprches ist, dass Dumbledore sich nicht rechtfertigt oder ausweicht, er nennt die Dinge beim Namen und bemht sich um Authentizitt. Der fnfte Band endet wie auch jeder der vorangegangenen Romane damit, dass Harry zu seinen Verwandten zurckkehrt – erschçpft, traurig, ausgebrannt und dennoch froh, Freunde zu haben, die zu ihm stehen.

5.8.2 Mçgliche Lesarten Ein wesentliches Thema, das die sechs bisher erschienenen Bnde durchzieht, ist der Kampf zwischen guten und bçsen Mchten, wobei Dumbledore als der Vertreter des Guten und Voldemort als Vertreter des Bçsen fungiert. Auf der einen Ebene wird dieser Kampf zwischen Figuren ausgetragen, die jeweils bestimmte Werte reprsentieren; Dumbledore steht fr Humor, Toleranz und Humanitt, whrend Voldemort Machtgier, Diktatur und brutale Gewalt propagiert. Im Verlaufe der Bcher und insbesondere in Band fnf – Band sechs wurde in diesem Rahmen nicht miteinbezogen – verlagert sich aber der Kampf zwischen guten und bçsen Mchten zunehmend in Harrys Inneres; in den ersten vier Bnden ist Gut und Bçse eindeutig zuzuordnen, whrend sich im fnften Band diese Schwarz-Weiß-Zeichnung langsam aufzulçsen beginnt. Harry schlgt sich wie fast alle Jugendlichen mit Selbstwertschwankungen, Grandiosittsgefhlen und der Scham ber letztere herum. Er ist unausgeglichen und stimmungsschwankend, seine Schwchen werden sichtbarer als in den vier Bnden zuvor. Isolations- und Unverstandenheitsgefhle gehçren zu den zentralen Empfindungen Jugendlicher ; typisch sind auch eine starke Emotionsintensitt und die berschtzung des eigenen

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Handlungsspielraums. Harry leistet gegen die sadistische Prof. Umbrigde mit aller Khnheit und Unbeherrschtheit Widerstand. Weiterhin werden die Bedeutung der Peergroup, die Idealisierung von Vorbildern – Dumbledore –, das Engagement fr ein bestimmtes Ziel und die Erprobung der eigenen Fhigkeiten sowie der Zweifel daran thematisiert. Dieser Band beschreibt weiterhin die fr Adoleszente typischen und schmerzhaften Gefhle von Desillusionierung; die Elternfiguren werden in Frage gestellt und Harry erlebt – etwa als er meint, er als Einziger kçnne seinen Paten retten – die Verfhrung durch eigene narzisstische Grçßenideen. Das letzte Gesprch zwischen Dumbledore und Harry ist meines Erachtens ein gelungenes Beispiel fr die Auseinandersetzung zwischen einem Erwachsenen, der Fehler eingesteht und trotzdem seine Autoritt bewahrt, und einem Jugendlichen, der vor Schmerz und Enttuschung ber Vorgefallenes vçllig die Fassung verliert. Harry muss als 15-Jhriger die schmerzliche Erfahrung machen, dass weder er selbst noch die von ihm bewunderten Autoritten so fehlerlos und edelmtig sind, wie er sich das wnscht bzw. erwartet. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass Dinge und Personen eine zum Teil nur schwer fassbare und noch schwerer zu bewertende Mehrdeutigkeit annehmen und dass er immer wieder mit berraschungen oder enttuschten Erwartungen konfrontiert wird. Er erleidet wiederum den Verlust eines geliebten Menschen und muss sich den damit einhergehenden Schuldgefhlen stellen. Harry merkt, dass er in gewisser Hinsicht ganz auf sich gestellt ist, da Werte und Menschen, an denen er sich bis jetzt orientiert hat, etwas hçchst Relatives bekommen. Auf der anderen Seite darf er feststellen, dass er Freunde hat, die zu ihm halten. Harry wird whrend dieses Bandes illusionsloser, unabhngiger und realistischer in seiner Selbsteinschtzung; sein Individuationsprozess macht deutlich, dass in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen verinnerlichten und ußeren Autoritten ein schmerzhafter Loslçsungsprozess von bewhrten berzeugungen unumgnglich ist – und dass daraus Reifung resultiert.

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5.9 Zwischen Angst und Hass – »Der mechanische Prinz« von Andreas Steinhçfel Andreas Steinhçfel, geboren 1962, verçffentlicht seit 1991 Kinder- und Jugendbcher. Der Roman »Die Mitte der Welt« (1998), der den Selbstfindungsprozess eines 17-jhrigen Jungen beschreibt, erhielt den Buxtehuder Bullen und wurde fr den deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Weiterhin schreibt Steinhçfel Drehbcher fr Filme und Fernsehserien und unterhlt im Internet ein Forum, in dem er Fragen oder Kommentare von Leser/innen beantwortet. »Der mechanische Prinz« (2003) ist ein sprachlich anspruchsvolles, metaphernreiches und mit literarischen Anspielungen versehenes Werk (z. B. Peter Pan); es bezieht darber hinaus andere Medien (Filme, Computerspiele) mit ein und wechselt zwischen einer unmittelbaren und mittelbaren Ebene. Auf der einen Ebene erzhlt der elfjhrige Max dem Autor des Buches seine Geschichte, auf der anderen nimmt der Leser an direkt an Max’ erlebter Geschichte teil. Die Unterhaltung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind ist von einer Umkehrung der Rollen gekennzeichnet; der Erwachsene hçrt Max’ Geschichten mit kindlicher Ungeduld an, whrend Max ihn nach jeder Episode auf die Fortsetzung vertrçstet; der Autor ist in seinen ußerungen grob und unfreundlich, was Max mit hçflicher Nachsicht hinnimmt. Am Ende des Romans verhilft Max seinem erwachsenen Gegenber dazu, die Chance zu ergreifen, emotional erwachsen zu werden. In diesem Rahmen soll es aber ausschließlich um die von Max erlebte Geschichte und seinen Weg gehen. Die Auswahl dieses Textes gestaltete sich als schwieriger als die der anderen Bcher. »Der mechanische Prinz« erschien mir beim ersten und zweiten Lesen als wenig subtil und in der psychologischen bersetzung von Max Heldenreise durch die Refugien fast platt. Fr die Auswahl des Buches sprach letzten Endes die feine Zeichnung des Helden Max und seinem existentiellen Lebens- bzw. »Egalgefhl«, das sehr viele Kinder und Jugendliche im klinischen oder Beratungskontext teilen. Ich versprach mir also von diesem Roman fr die Kinder und Jugendlichen ein

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hohes Identifikationspotential, war mir aber gleichzeitig unsicher, inwieweit die berdeutlichen Bilder vom »Trnensee« und den »Gletschern aus gefrorener Wut« bei Therapeuten und Klienten nicht auch Abwehr und Widerstand hervorrufen kçnnten.

5.9.1 Zum Text »Tatschlich war Max mit dem schrecklichen Gefhl aufgewachsen, eines der egalsten Kinder auf der Welt zu sein. Meistens wurde er von seinen Eltern einfach bersehen. Manchmal versumten sie ihm zu essen zu geben … Sein Geburtstag wurde regelmßig vergessen, und Weihnachtsgeschenke bekam er nur, damit er die Klappe hielt. Schçn war das alles nicht. Manchmal fragte sich Max, wie es ihm berhaupt gelungen war, das zarte Alter von elf Jahren zu erreichen. Und er fragte sich, ob es einen Zeitpunkt gab, an dem ein Mensch so egal geworden war, dass er verschwand. Sich in Luft auflçste wie ein Nebelstreif, weil er es einfach nicht mehr aushielt. Sich aus lauter Traurigkeit ganz tief in sich selbst versteckte, so dass er unerreichbar wurde fr die Welt und alles Schçne« (S. 13 f.).

Max wacht an einem Samstagmorgen mit einem seltsamen Schwindelgefhl auf; seine Eltern streiten sich wie blich und nehmen kaum zu Kenntnis, dass Max die Wohnung verlsst. Max will seiner Lieblingsbeschftigung U-Bahnfahren nachgehen und sich mit seinem Freund Jan treffen. Jan vereint alle Eigenschaften, die Max nicht hat. »Jan war der beste Freund und Kumpel, den man sich vorstellen konnte. Okay, vielleicht kam er manchmal auf Ideen – auf fiese Ideen –, die Max selber nie gehabt htte. Außerdem waren sie nicht immer einer Meinung, was hin und wieder zu Streitereien fhrte. Aber dafr hatte Jan andere Qualitten. Er hatte jede Menge Witz auf Lager, er war groß und er war verdammt stark. Mit Jan an seiner Seite musste man keine Schlgertypen frchten. Noch besser war, dass man ihm alles erzhlen konnte. Alles, was einem das Herz schwer machte« (S. 17).

Als Max vor dem Fahrscheinautomaten steht, stellt er fest, dass er sein Geld vergessen hat. Ein einarmiger Obdachloser schenkt ihm ein abgegriffenes so genanntes »goldenes Ticket«, mit dem er

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berall ein- und aussteigen kann. Max kann sich zunchst keinen Reim darauf machen, bis ihm die alte, etwas verrckte und Tauben ftternde Marlene erklrt, daß »Kartenkinder« mit einem goldenen Ticket die sind, die »auf der Kippe stehen«. »›In euch Kindern steckt noch alles drin, verstehst du? Ihr kçnnt gut werden oder bçse, krumm oder gerade. Glaub der Marlene, das entscheidet sich sehr frh. Und manche Kinder stehen auf der Kippe. Sie balancieren zwischen Himmel und Hçlle. So wie du.‹ Die letzten Worte kamen mit einer Selbstverstndlichkeit, die Max schlucken ließ. ›Ja, ja, hast schon richtig gehçrt‹, fuhr Marlene fort, ganz in ihre Arbeit vertieft. ›Bist ein nettes Kerlchen, Max. Ein bisschen dumm, aber sehr nett. Aber du wanderst am Abgrund, auch wenn du es nicht weißt. Du bist traurig, und manchmal macht deine Traurigkeit dich wtend. Sehr wtend.‹«

Max begegnet Tanita, die ebenfalls ein goldenes Ticket besitzt. Tanita erklrt ihm, dass jedes »Kartenkind« persçnliche U-Bahnstationen, so genannte Refugien hat, die fr es bestimmt sind. Max kommt nach Nimmerland zum Trnensee »Mare Lacrimarum« und zu den Gletschern aus gefrorener Wut. Er begegnet einem von Peter Pans vergessenen Gefhrten, der ihn zum Bleiben berreden will. »Etwas in Max sehnte sich, genau das zu tun. Dieses Etwas wusste, dass er mehr im Wasser des Sees erblicken wrde als sein eigenes Spiegelbild. Er wrde alles darin sehen, was er sich je gewnscht hatte. Seine Eltern darin sehen, irgendwo dort unten, am Grund des Mare Lacrimarum. Und er wusste, dass er seine Lungen niemals mit genug Luft fllen konnte, um so tief zu tauchen, und dass er es trotzdem versuchen wrde, immer wieder, bis ans Ende seines Lebens. Seines traurigen, gleichgltigen Lebens« (S. 81).

Max widersteht der Versuchung, in den See und seine eigene Traurigkeit einzutauchen, und gelangt in das nchste Refugium, in dem er seinen streitenden und ihn nicht wahrnehmenden Eltern begegnet und begreift, dass er diesen nicht helfen kann. Schließlich trifft er auf den »mechanischen Prinzen«, den Herrscher aller Refugien, an dem kein Kartenkind vorbeikommt. Der Prinz, ein bleiches Wesen, halb Mensch, halb Rstung, fragt Max zunchst nach dem Grund, warum er zu ihm gekommen sei.

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»Warum er hier war … Musste man das unbedingt in Worte fassen? Mit etwas Abstand betrachtet, war es schließlich gar keine so große Sache. Gut, ab und zu war er ein bisschen traurig, aber ansonsten ging es ihm hervorragend. Er war nicht in Afrika zur Welt gekommen, wo Kinder verhungerten oder an grausamen Krankheiten starben. Im Gegensatz zu dem Einarmigen war noch alles an ihm dran, er war gesund und putzmunter. Er war auch keine Halbvollwaise, die zusehen musste, wie sie allein auf der Welt klarkam, sondern er hatte Eltern … Und plçtzlich war alles ganz einfach, kamen die Worte ganz von allein. ›Ich bin hier, weil ich immer so traurig bin‹, sagte er. ›Ich bin meinen Eltern egal, weißt du‹« (S. 149).

Darauf unterzieht der mechanische Prinz Max einer Prfung. Besteht er sie nicht, droht sein Leben weiterzugehen wie zuvor. Max wird vor die Aufgabe gestellt, sich sein Herz zurckzuholen, das sich in der Halle der Seelen befindet; um dorthin zu gelangen, muss er zuvor die »Egaltore« passieren. Der mechanische Prinz gestattet Max einen Begleiter auf seine Reise mitzunehmen und Max whlt seinen Freund Jan. Jan hat wie immer jede Menge cooler Sprche auf Lager und Max fhlt sich frs Erste getrçstet. Als aber Max bei einer Wanderung durch die Smpfe Angst bekommt, ntzen ihm auch Jans abgebrhte Kommentare nichts mehr. »Er rannte und keuchte, keuchte und rannte. Was auch immer ihnen auf den Fersen war, er wollte es nicht sehen, durfte es nicht sehen, weil dessen Anblick ihn auf der Stelle umbringen wrde. Ich laufe weiter und weiter, dachte er, bis ans Ende meines Lebens, dabei weiß ich nicht mal, wovor ich davonlaufe. Plçtzlich tauchte, trotz seiner Panik, ein fast greifbares Bild vor ihm auf: Er sah sich selbst, wie er rannte und rannte, ohne sich dabei von der Stelle zu rhren. Und ungeachtet des fliegenden Schlamms, des tosenden Wassers, bildete sich in seinem Kopf ein Gedanke: Wenn er schon, obwohl er weglief, auf der Stelle trat … konnte er dann nicht ebenso gut stehen bleiben und sich umdrehen? War je ein Mensch an seiner Angst gestorben? Wirklich gestorben? War es nicht viel wahrscheinlicher, dass man starb, weil einen die Flucht irgendwann so erschçpfte, dass man tot zu Boden sank?« (S. 175).

Als sie auf ihrem Weg einem verwundeten Jungen begegnen und Jan an diesem vorbeigehen will, beginnt sich Max von Jans herzloser und khler Art zu distanzieren und sich gegen ihn

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durchzusetzen. Als Max schließlich im Kampf um sein Herz dieses kurzzeitig Jan anvertraut, macht er eine schockierende Entdeckung. Jan lsst Max’ Herz fallen und will es mit einem Schwert durchbohren. An dieser Stelle wird erçffnet, was bis dahin nur angedeutet wurde, dass Jan, ein starker, aber ebenso knallharter Bursche, nur eine Erfindung von Max ist. »Er hatte seinen eigenen Helden erschaffen. Einen Freund, der lter und strker war als er selbst. Einen Kumpel, dem er Dinge anvertrauen konnte, die er sonst niemandem anvertraute. Einen Jungen, der aus Traurigkeit Wut destillierte, der bockig wurde und austrat, wenn ihm etwas nicht passte. Der ihm Kraft verlieh. Anfangs war das wunderbar gewesen. Jan hatte fr alles einen passenden Spruch auf den Lippen gehabt. Wenn die Gleichgltigkeit seiner Eltern unertrglich wurde, wenn er in der Schule verprgelt oder gedemtigt worden war, dann war Jan unsichtbar bei ihm gewesen, dann hatte er geflstert: Hey, Alter, alles halb so wild, da stehen wir drber. Die kriegen alle noch ihr Fett weg. Eines Tages machen wir sie fertig, du und ich. Und wenn seine Angst und seine Niedergeschlagenheit ihn auf die Stelle genagelt hatten, war es Jan gewesen, unsichtbar und immer da, der trçstend die Arme um ihn gelegt und gesagt hatte: Warts ab, du stehst hier nicht ewig rum, bald rennen wir. Wir rennen so schnell, dass keiner uns mehr kriegen kann. Irgendwann laufen wir deiner Angst davon, du und ich … Jan war immer strker geworden, gemeiner und fieser und schließlich … hasserfllt« (S. 245 f.).

Die Person Jan verblasst, Max ist erstmals allein und verliert das Bewusstsein. Als er aufwacht, ist er wieder in der Realitt, wird von der Polizei aufgegriffen, der er mitteilt, dass er von zu Hause weggelaufen und im Gras eingeschlafen sei. Dabei erfhrt er, dass seine Eltern intensiv nach ihm suchen, was sein »Egalgefhl« irritiert. Aus der Rahmengeschichte erfahren wir am Ende, dass Max inzwischen mit seinen Eltern manchmal ins Kino geht, mehr mit ihnen redet und sich insgesamt nicht mehr so unverstanden fhlt.

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5.9.2 Mçgliche Lesarten Max ist ein frhpubertierender Junge, dessen Lebensgefhl mit einem einzigen Wort beschrieben wird: dem »Egalgefhl«. Er hat das Gefhl, allen gleichgltig zu sein, und hat das Gefhl fr sich selbst verloren. Dieses von Steinhçfel so treffend beschriebene Egalgefhl gehçrt zu den schwerwiegendsten Phnomenen, auf die wir in der Beratung und Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen treffen. Hinter diesem Egalgefhl verbergen sich, wie Steinhçfel dies auch bei Max beschreibt, meist unbndige Angst, Wut und Trauer. Max steht »auf der Kippe« und vor der Entscheidung, weiter abzustumpfen und einen destruktiven Weg einzuschlagen oder aber sich seinen ngsten zu stellen. Steinhçfel beschreibt den fr viele Patient/innen typischen Weg von anfnglicher Traurigkeit ber eine sich verfestigende Depression mit einsetzender Gleichgltigkeit, die mit dem Erlebenkçnnen von Wut und Handlungsfhigkeit durchbrochen werden kann. Max’ imaginativer Freund Jan, der den Schutz vor, aber auch die Abspaltung von schmerzlichen Gefhlen personifiziert, sichert einerseits in Notsituationen das berleben, trgt aber andererseits auch zu einer stndigen Verhrtung und Isolation von der realen Außenwelt bei. In dem Moment, als es Max gelingt, sein eingefahrenes und gut trainiertes Verhalten, vor der Angst und allen anderen bedrohlichen Gefhlen davonzulaufen, zu durchbrechen, ist eine Distanzierung von Jan bzw. ein Durchbrechen des Egalgefhls mçglich. Die Geschichte von Max illustriert den Weg eines Jungen, der trotz seines Egalgefhls noch darber traurig ist, dass er sich so fhlt, und sich darum auf die Suche nach seinem verlorenen Herzen machen kann. Entscheidend ist der Satz, dass Max »auf der Kippe steht«: Alles ist mçglich. Und das ist bei fast allen Kindern und Jugendlichen, die sich in Therapie oder Beratung befinden, ebenso.

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5.10 berlebensstrategien Zwçlfjhriger – »About a Boy« von Nick Hornby Nick Hornby, dessen Bcher sich in Buchlden und Bibliotheken nicht unter der Rubrik Kinder- oder Jugendbuch finden lassen, arbeitete vor seiner Karriere als Schriftsteller als Lehrer; »About a Boy« lsst erkennen, dass er mit dem Schicksal von Außenseitern in der Schule vertraut ist. In diesem Buch beschreibt er hçchst einfhlsam und dabei vergnglich das Lebensgefhl eines kauzigen, altklugen Zwçlfjhrigen und das eines 36-Jhrigen, der Schwierigkeiten mit dem Erwachsenwerden hat. Hornbys Roman ist in gewisser Hinsicht hnlich wie die Bcher von Christine Nçstlinger ein komischer Familienroman, der mit ironischem Witz und satirischer Verfremdung tragische Situationen ertrglich beschreibt, ohne sie zu verharmlosen; dieses Buch, das, wie bereits gesagt, allgemein nicht der Kategorie Kinder- und Jugendbuch zugeordnet wird, wurde aber vor allem deshalb fr diesen Kontext ausgewhlt, weil es meines Erachtens in einzigartiger Weise die fr problembelastete Kinder und Jugendliche existentielle Frage aufgreift, inwieweit und unter welchen Bedingungen sie es sich »leisten« kçnnen, anders als andere zu sein.

5.10.1 Zum Text Der zwçlfjhrige Marcus bemht sich, seine Mutter nach der Trennung von ihrem Freund mit einer Fernsehsendung ber einen Tiefseefisch abzulenken, denn »er glaubte nicht, daß der seine Mutter an irgend etwas erinnern wrde« (S. 14). Der 36jhrige Will vertreibt sich die Zeit mit Psychotests, hlt es fr eine Todsnde, dabei zu schummeln, und freut sich ber die hohe Punktzahl bei der Frage nach seiner Coolness. So beginnt der Roman »About a Boy« und macht auf den ersten Seiten die Situation der beiden Hauptprotagonisten deutlich. Will fhrt ein sorgloses Leben und sein einziges Interesse besteht darin, sich das Leben mit Hilfe von hbschen Frauen und flchtigem Sex ein wenig abwechslungsreicher zu gestalten. Lstig sind nur seine

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Altersgenossen, die sein Leben als sinnentleert beurteilen und ihm mangelndes Verantwortungsbewusstsein vorwerfen. Marcus hingegen hat jede Menge Sorgen; seine alleinerziehende Mutter leidet unter schweren Depressionen und begeht einen Selbstmordversuch; er selbst wird auf seiner neuen Schule von seinen Mitschlern verspottet und gemobbt. »Marcus wußte, daß er sonderbar war, und er wußte auch, daß er zum Teil deshalb sonderbar war, weil seine Mutter sonderbar war. Sie kapierte einfach nicht, nichts davon. Sie predigte ihm immer wieder, nur oberflchliche Menschen ließen sich in ihrem Urteil von Kleidung oder vom Haarschnitt beeinflussen; sie wollte nicht, daß er sich Schrottsendungen im Fernsehen ansah oder Schrottmusik hçrte oder Schrottcomputerspiele spielte … Er war zu Hause ganz glcklich, Joni Mitchell zu hçren und Bcher zu lesen, aber in der Schule nutzte ihm das wenig. Das war seltsam, denn die meisten Menschen htten wohl das Gegenteil vermutet – daß viele Bcher lesen helfen mßte –, aber das tat es nicht: Es machte ihn anders, und weil er anders war, fhlte er sich nicht wohl, und weil er sich nicht wohl fhlte, konnte er spren, wie er sich von allen und allem abkapselte, den Kindern, den Lehrern und dem Unterricht. Nicht an allem war seine Mutter schuld. Manchmal lag es eher an ihm selbst als an ihr, daß er so sonderbar war« (S. 23 f.).

Will und Marcus lernen sich unter recht absurden Umstnden kennen. Bevor sich eine emotionale Beziehung zwischen ihnen entwickelt, entdecken beide zunchst ein starkes funktionales Interesse aneinander. Fr Will ist Marcus nach anfnglicher Irritation eine interessante Abwechslung, fr Marcus ist Will jemand, der im Gegensatz zu seiner Mutter weiß, was in und cool ist. Als Marcus zu Will flieht, nachdem er von den Jungen aus seiner Schule verfolgt wird, entspinnt sich folgender Dialog: »›Und was beabsichtigst du dagegen zu tun?‹ ›Wie meinst du das?‹ ›Willst du das fr die nchsten soundso viel Jahre so weitergehen lassen?‹ ›Du bist wie die Lehrer in der Schule.‹ ›Was sagen die?‹ ›Oh, du weißt schon. Geh ihnen aus dem Weg. Als ob ich mich denen extra in den Weg stelle.‹ ›Aber das muß dich doch unglcklich machen.‹ ›Na ja, irgendwie schon.‹ ›Aber so muß das Leben nicht sein, oder?‹ ›Weiß nicht. Sag du es mir. Ich habe nichts gemacht. Ich bin nur auf eine neue Schule gekommen und das habe ich davon. Ich weiß nicht warum.‹ ›Was war mit deiner alten Schule?‹ ›Da war es

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anders. Da waren nicht alle Kinder gleich. Es gab kluge und dicke und beliebte und komische. Dort bin ich mir nicht anders vorgekommen. Hier komme ich mir anders vor.‹ ›So anders kçnnen die Kinder hier auch nicht sein. Kinder sind Kinder.‹ ›Und wo sind dann die ganzen Komischen?‹ ›Vielleicht sind sie nur anders komisch, bis sie sich anpassen. Komisch sind sie immer noch, aber sie fallen nicht mehr auf. Das Problem ist, du fllst den anderen Kindern auf. Du machst dich zur Zielscheibe.‹ ›Ich muß mich also unsichtbar machen?‹ Angesichts der Grçße dieser Aufgabe schnaubte Marcus nur. […] ›Du mußt dich nicht unsichtbar machen. Du mußt dich nur tarnen … wie wre es, wenn du dieselben Kleider, dieselbe Frisur und dieselbe Brille wie alle anderen tragen wrdest? Innen drin kannst du so komisch sein, wie du willst. Mach nur was an deinem ußeren‹« (S. 126 f.).

Als Will Marcus neue Turnschuhe kauft, steht der am nchsten Tag trnenberstrçmt bei Will vor der Tr : Seine Mitschler haben ihm die neuen Schuhe geklaut. Will hat mit seiner Diagnose recht, aber seine Strategie geht nicht auf; die anderen Kinder lehnen Marcus zwar auf Grund seiner Andersartigkeit ab, aber auch mit Hilfe ußerer Attribute wird er nicht einer der ihren. Marcus’ Situation verndert sich erst, als er sich mit Ellie, einem lteren Mdchen, anfreundet; sie ist ebenfalls Außenseiterin, wird jedoch im Gegensatz zu Marcus respektiert bzw. gefrchtet und schtzt seine Spleenigkeit. Mit Hilfe von Ellie und Will macht Marcus eine neue und fr ihn lebenswichtige Erfahrung: Er ist in der Lage, Menschen kennen zu lernen und fr sich einzunehmen. »Er wußte nicht, ob Ellie klarkommen wrde, denn sie dachte nicht so ernsthaft ber Dinge nach, auch wenn sie klug war und ber Politik und so Bescheid wußte; und er wußte nicht, ob seine Mutter klarkommen wrde, denn sie war oft nicht sehr belastbar. Aber er war davon berzeugt, daß er Wege wußte, mit allem zurechtzukommen, die sie nicht kannten. Er konnte in der Schule klarkommen, denn er wußte, was er machen mußte, und er hatte rausgefunden, wem man trauen konnte und wem nicht, und rausgefunden hatte er das in London, wo Leute in den komischsten Winkeln aufeinandertrafen. Man konnte ein Gerst aus Menschen bauen, das unmçglich zustande gekommen wre, wenn seine Mutter und sein Vater sich nicht getrennt htten und sie alle drei in Cambrigde geblieben wren. Es funktionierte nicht bei jedem. Es funktionierte nicht bei Leuten, die verrckt waren, Leute, die keinen kannten, oder Leute, die krank waren oder

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zuviel tranken. Aber bei ihm wrde es funktionieren, dafr wrde er schon sorgen …« (S. 302 f.).

Am Ende des Romans macht Marcus die Erfahrung, dass seine Welt grçßer geworden ist. Er ist in seinem ganzen Benehmen und Auftreten lssiger und selbstbewusster geworden. Er weigert sich, die von der Mutter geliebte Joni Mitchell zu hçren und Schlabberpullover anzuziehen, er ist nach wie vor nicht der Beliebteste in seiner Klasse, aber er hat ein paar Freunde mehr. Fr Will ist die Welt hingegen kleiner und instabiler geworden; er hat sich erstmals wirklich verliebt und geht das Risiko ein, sich emotional sehr abhngig von der Zuneigung eines anderen Menschen zu machen.

5.10.2 Mçgliche Lesarten »About a Boy« handelt von den ngsten und Wnschen beim Eingehen von emotionalen Beziehungen. Weiterhin ist es ein Buch ber die Suche nach dem Sinn des Lebens und die Schwierigkeit, in ziemlich ausweglos erscheinenden Situationen zu berleben. Nebenbei schildert der Roman typische Erfahrungen von Kindern psychisch kranker oder zumindest erheblich beeintrchtigter Eltern, die sich fr die Andersartigkeit ihrer Eltern verantwortlich fhlen, dieses aber nur schwer anderen Menschen gegenber kommunizieren kçnnen (vgl. Riedesser, 2005). Will ist zu Beginn des Romans ein zwar liebenswerter, aber durch und durch auf sich bezogener Single, der sich von allen Zwngen und Verbindlichkeiten befreit hat. Er kann es sich leisten, anders als die anderen zu sein, aber er weiß sehr genau, dass ein zwçlfjhriger Junge sich diese Andersartigkeit nicht leisten kann. Dass Marcus, wenn er in Hippiekleidung zur Schule geht und nicht ber die neuesten Fernsehserien Bescheid weiß, unweigerlich zum Außenseiter wird, hat der egozentrische Will besser als Marcus’ Mutter verstanden. Entscheidend ist aber, dass Marcus mit Hilfe von Wills Bekanntschaft seinen Blickwinkel auf die Welt betrchtlich erweitert. Vor der Bekanntschaft mit Will

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war es fr Marcus nur relevant, sich zu seiner Andersartigkeit zu bekennen, auf einmal geht es darum, diese in Frage zu stellen. Marcus stellt sich der Frage: Bin ich tatschlich anders als die anderen und will ich anders sein? Er beantwortet die Frage schließlich in der Form, dass er zwar anders ist als die meisten Menschen, aber doch nicht so anders, dass er nicht in sozialen Bezgen leben kçnnte und ohne Freunde auskommen msste. Will, der sich ungewollt von einem Zwçlfjhrigen anrhren lsst, gert – mehr oder weniger stolpernd – in emotionale Tiefen, er lsst sich auf eine intime Beziehung und Verbindlichkeit um den Preis seiner sich verringernden Freiheit ein; Marcus hingegen wird unabhngiger und entscheidet sich mit einer erweiterten Perspektive auf die Welt dezidiert fr eine dosierte Andersartigkeit.

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Die Auswertung der Experteninterviews

In den Interviews zum Zeitpunkt T 1 wurden die Experten zu ihren eigenen Erinnerungen an erste Leseerlebnisse und zu wichtigen Begegnungen mit Kinder- und Jugendliteratur sowie zu ihren professionellen Erfahrungen bei der Verwendung von Kinder- und Jugendbchern in der Therapie und Beratung befragt. Die Interviews zum Zeitpunkt T 2 zielten auf die aktuellen Erfahrungen der Experten ab, die sie nach dem ersten Interview bei der Verwendung der von ihnen ausgewhlten Bcher bzw. Geschichten in ihrer konkreten Praxis gemacht hatten.

6.1 Die Auswertung zum Zeitpunkt T 1 Bei der Auswertung dieser Interviews konnten sieben Kategorien gewonnen werden, von denen sich vier auf die atmosphrisch dichten Erinnerungen an Kinder- und Jugendbcher und die retrospektiv vorgenommenen Einschtzungen der subjektiven Bedeutung und der Funktion des Lesens bezogen. Dabei ergab sich ein breites Spektrum an sehr unterschiedlichen Beziehungen zur Literatur, die fr die einen die Mçglichkeit zur inneren Emigration in schwierigen Situationen darstellte und einen welterweiternden Blick ermçglichte und von anderen als ein mit Bildung und Leistungsdruck verbundenes pdagogisches Instrument empfunden wurde. Die brigen drei Kategorien gaben ber die bisher gesammelten Erfahrungen der Experten mit dem Medium und ber berlegungen zu einem gezielten Einsatz von Kinder- und Jugendbchern Auskunft. Hieraus ergab sich, dass

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Die Auswertung der Experteninterviews

mehrere Experten das Vorlesen von Geschichten oder ganzen Bchern bereits nutzten, um eine entspannte und regressionsfçrdernde Atmosphre herzustellen. Eine Therapeutin las beispielsweise hufig die Lieblingsbcher ihrer Patientinnen, um an deren Lebenswelt anknpfen zu kçnnen. Als besonders bedenkenswert erachteten die Experten die Frage, inwieweit die Arbeit mit dem Medium Kinder- und Jugendliteratur im beraterischtherapeutischen Kontext die Beziehung zum Patienten intensivieren bzw. auch von zentralen Themen ablenken kçnne.

6.1.1 »Tomatenmark und Zwiebeln«: Bilder und Atmosphren erster Erinnerungen Die meisten Interviewpartner/innen haben bruchstckartige Erinnerungen an ihre ersten Bcher oder »Leseereignisse«. Dabei spielen Atmosphren und Stimmungen, die im Rckblick entweder von den Bchern selbst ausgingen oder im Kontext des Vorlesens auftaucht, eine zentrale Rolle. Die genauen Inhalte der ersten Bcher oder des Vorgelesenen werden selten erinnert, çfter dagegen einzelne Wortlaute aus den Bchern bzw. interaktive Rituale mit den vorlesenden Bezugspersonen. Aus diesen ersten Erinnerungen wird auch deutlich, dass mit den ersten Leseereignissen bestimmte Rituale und Vorlieben verbunden sind, die unterschiedlich bewertet werden. Der Akt des Lesens oder Vorgelesen-Bekommens erscheint oft als etwas Lustvolles: »Lesen war ein fester Bestandteil meiner kindlichen Lebenswelt […] und da gab es auch, ich weiß, ich musste nach der Schule Schularbeiten machen und wenn es dann draußen usselig war und kein Kind zum Spielen da war, dann hab ich – und das war dann schon so ein Ritual, das Ritual war Lesen und ein Brot mit Tomatenmark und Zwiebeln gleichzeitig zu essen […] meine Bcher sind vollgeschmiert mit Tomatenmark und Zwiebeln« (G).

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6.1.2 »Ich glaub, ich fand es toll, dass man sich nicht anpassen muss«: Persçnliche Vorlieben und Abneigungen Die meisten Interviewpartner erinnern eine starke emotionale Beziehung zu den fr sie bedeutsamen Bchern oder Geschichten und kçnnen relativ przise ihre Faszination durch einzelne Protagonisten bzw. deren Eingebundenheit und Werdegang in der betreffenden Erzhlung beschreiben. Zum Teil werden dabei Bezge zur eigenen Lebenssituation hergestellt, zum Teil werden ber die Helden und deren Beziehungen untereinander bestimmte Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Solidaritt oder auch das Recht auf Unangepasstheit transportiert, die positiv bewertet werden. »Indianerbcher hab ich verschlungen […] ein freies wildes Leben mit Lieblingspony und Tapferkeitsspielen und immer dieser Loyalittskonflikt von dem [Helden] Haka, ist er jetzt seinem Vater treu oder seinem Stamm, das fand ich sehr spannend« (C).

6.1.3 »Ich seh’ da ein Mdchen, das den Umstnden trotzt«: Die Held/innen Die erinnerten Helden und Heldinnen werden berwiegen positiv beschrieben, sie sind stark und haben Vorbildcharakter. Insbesondere Mut, Klugheit Widerstandsfhigkeit und Trotz sind immer wieder genannte Eigenschaften, die als berzeugend erinnert werden und ein starkes Identifikationspotential aufweisen, ebenso wie die Eingebundenheit der Helden in Freundschaften oder soziale Bezge: »Ich seh’ da ein Mdchen [Momo], das den Umstnden trotzt, ich sehe die grauen Herren als ein Symbol fr eine Erwachsenenwelt, wo die bergnge einfach fehlen und wo dieses Kind seinen Weg dadurch findet, und das find ich einfach mutmachend und hat damals sehr stark zur Identifikation eingeladen. […] Da fllt mir als erstes Mut und ein Dranbleiben ein, sich nicht kleinmachen, runtermachen lassen, sich Verbndete suchen, das Kmpfen und Einsetzen fr irgendwas, Erfolg trotz aller Widerstnde, Hindernisse und Gefahren« (F).

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Die Auswertung der Experteninterviews

In einigen Fllen weisen die erinnerten Helden aber auch Schwchen auf oder zeigen destruktive Gefhle, die um so bedeutsamer sind, da sie Parallelen zur eigenen Lebenssituation aufweisen. Diese Helden erfahren hierbei statt Bewunderung eher Mitgefhl und Solidaritt: »Interessant ist glaube ich auch die ganze Auseinandersetzung, wie er [Pip aus ›Große Erwartungen‹ von Dickens] sich schmt, fr seine einfache Herkunft, wo er dann zu Geld kommt und unter besseren Leuten ist und versucht das zu verbergen, wie er damit umgeht, wie er den Mann von seiner Schwester, den er eigentlich sehr mag, wie er den im Stich lsst und sich selbst auch nicht treu ist und sich dann noch mal doppelt schmt, als er erfhrt, woher sein Geld gekommen ist […] die Abenteuer des kleinen Jungen, […] so ausgelacht zu werden, nicht dazu zu gehçren, was allen Auslndern passiert […] dass es halt jedem so geht, dass man ausgelacht wird und nicht dazugehçrt und sich selbst treu sein sollte« (A).

6.1.4 »Wo andere Worte fr etwas gefunden haben«: Die Funktion des Lesens und der Umgang mit Bchern Der Akt des Lesens ist in der Erinnerung fr beinahe alle Interviewpartner/innen mit Rckzug, Abgrenzung, Schutz vor einer fordernden und mçglicherweise unangenehmen Außenwelt sowie mit der Mçglichkeit verbunden, sich eine eigene Phantasiewelt aufzubauen: »Wenn ich gelesen habe, hab ich berhaupt nichts mitgekriegt, und auch wo wir nach Deutschland gekommen sind und wo das, glaube ich, ziemlich hart war, war es wirklich so ein Ausstieg, so ein ›weg von der Welt‹ und ich konnte mich darin vertiefen und das war ganz okay« (A).

Zugleich wird der Umgang mit Bchern als etwas Horizont- und Perspektivenerweiterndes empfunden, wodurch Einblick in andere Lebenswelten ermçglicht und Gefhle der Isolation durchbrochen werden: »[…] dass das Leben vielfltig ist und dass es eben nicht nur Dinge gibt, die in unserer Familie Usus waren, das so genannte Bçse, was in meiner Familie als bçse angesehen wurde. Das war in diesen Bchern viel freundlicher

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dargestellt und das hat mir geholfen, glaube ich, dafr waren auch die ›Georgette-Hayer-Bcher‹ wichtig, fr ein bisschen Erotik und Lebensfreude, die zu Hause nicht mçglich war. […] Das hat alles sehr viel bunter gemacht« (C).

Mehrere Interviewpartner/innen beschreiben eine entlastende Funktion von Literatur : Wenn in Bchern Emotionen verbalisiert werden, die von dem Lesenden zuvor hnlich, aber eben nicht versprachlicht, sondern diffus und bedrckend nah empfunden wurden, konnte beim Lesen eine Distanz zu den als berbordend erlebten Gefhlen hergestellt werden. Gleichzeitig konnte so ein Gefhl entstehen, von der Welt verstanden zu sein: »Wo andere Worte fr etwas gefunden haben, was ich selber schwer ausdrcken konnte und wo man sich dann so berhrt gefhlt hat, weil das, was da gesagt wurde, hat so gepasst mit der eigenen Befindlichkeit und man htte es selber nicht so sagen kçnnen … Das hatte was Hilfreiches« (O).

Bei etlichen Interviewpartner/innen hinterließ allerdings der vom Elternhaus pdagogisch verordnete und mit Bildungsattitde behaftete Umgang mit Bchern, der in der Erinnerung mit Druck, Verbot und Unlust verbunden war, einen moralinsauren Beigeschmack: »›Wer nicht liest, ist doof‹, […] ber die Qualitt eines guten Buches macht man aus, wie viel Intellekt und Reflexionsfhigkeit jemand hat, das war streng und eher unangenehm […]. Bravo lesen war ein absolutes No No, und selbst die Phantasie dahin, wenn ich mir in der Schule ein Bravoheft angeguckt habe, da fhlte ich mich wirklich, da dachte ich, jetzt bist du so doof, jetzt zeigt es sich, dass du gar nichts im Kopf hast. […] Da ist mir viel Spaß entgangen, und ich hab mehrere Bcher auch nur gelesen, weil mein Vater sie toll fand, z. B. Lederstrumpf fand ich gar nicht so toll, aber das waren halt angeblich gute Jugendbcher « (J).

Deutlich wird in dieser Kategorie die Flucht- und Rckzugsfunktion des Lesens wie auch die als erfllend erlebte Mçglichkeit, mit Hilfe von Bchern Zugang zu anderen Welten zu erlangen. Gleichzeitig wird dem Potenzial des literarischen Ausdrucks und der Wortmchtigkeit der Autoren Bedeutung verliehen: Dadurch, dass Emotionen »verwçrtert« werden, ist

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Die Auswertung der Experteninterviews

man mit diesen nicht mehr allein. Im Gegensatz zu diesen positiv beschriebenen Funktionen des Lesens steht ein von bildungsbrgerlichen Vorstellungen geprgter und als erdrckend erlebter Umgang mit dem Medium Buch, der mit Zwang verbunden ist und der Lust am Lesen diametral gegenber steht.

6.1.5 »Das hat eine neue Qualitt gebracht, um ber Aggression zu sprechen«: Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur in Beratungs- und Therapieprozessen Auf die Frage nach der allgemeinen Relevanz des Mediums fr die Patient/innen vertraten die Experten berwiegend die Auffassung, dass es eine durch alle Schichten gehende Vielzahl von Kindern und Jugendlichen gebe, fr die Bcher eine sehr geringe Rolle spielen, und ebenso etliche Klienten, die gern und viel lesen. Alle Experten konnten sich aber unabhngig von der generellen Einstellung ihrer Patient/innen zu Bchern vorstellen, mit diesem Medium im therapeutisch-beraterischen Kontext zu arbeiten; ein Teil der Interviewpartner/innen verfgte bereits ber Erfahrungen mit dem Medium Kinder- und Jugendliteratur in der Beratung und Therapie. Manche Experten setzten Vorlesen als regressionsfçrderndes Medium ein oder um die Atmosphre im jeweiligen Setting zu gestalten.Wiederholtes Vorlesen diene den Experten zufolge auch dazu, eine Art Ritual zu etablieren und den Patienten dadurch ein Gefhl von Sicherheit zu geben. Andere arbeiten mit ihren Patienten und Klienten eher interaktiv, sprechen mit ihnen ber Buchinhalte und beziehen die Bcher aktiv in die therapeutische Arbeit an bestimmten Symptomen mit ein. Dabei wird zum Teil auf die Lieblingsbcher der Patienten eingegangen, um sich ein Bild davon zu machen, welche Themen diese beschftigen, und dieses fr den Beratungs- und Therapieprozess zu nutzen; zum Teil werden von den Experten fr geeignet empfundene Bcher verwendet, die Anknpfungspunkte fr spezifische Probleme bieten: »Einmal musste ich Stephen King lesen, das war ziemlich furchtbar […] war eine Herausforderung, aber hat sich gelohnt. Es war ein Mdchen mit

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einer sich entwickelnden Borderline-Persçnlichkeitsstçrung […] und las dieses Buch, und als ich es gelesen hatte und mit ihr darber erzhlt habe, was es bedeutet hat, dass es mir sehr schwer gefallen ist, es zu lesen und was ihr daran gefllt, was sie gut findet und was ich nicht so gut finde. […] Das hat eine neue Qualitt gebracht, um ber Aggression zu sprechen und ber Schutz vor Aggression und wo Aggression hingehçrt und wo sie nicht hingehçrt. […] Und das hat die therapeutisch lebbare Version von Nhe gebracht und hat gleichzeitig ein Tor geçffnet, wo Aggression hingehçren kann und mir wurde deutlich, welche Grçße und Intensitt diese phantasierte Aggression bei diesem Mdchen hat, das nach außen so wirkte, als wrde sie kein Wsserchen trben […] als wre sie meilenweit davon entfernt, und das hat fr mich ein Tor geçffnet, um mit diesen Problemen, Aggression zum Beispiel, umzugehen« (K).

Eine Interviewpartnerin berichtete, dass sie Kinder- und Jugendliteratur vorwiegend dazu nutze, um Eltern die Einfhlung in eine kindliche Welt zu erleichtern bzw. deren Empathiefhigkeit fr ihre Kinder zu fçrdern: »Ich habe Bcher zu Themen gesammelt und biete das manchmal Kindern, aber eher Eltern an und sage denen, lest es nicht euren Kindern vor, sondern lest es selbst mit kindlichen Augen, um so ein Stck Empathie zu entwickeln, wie fhlt sich das aus kindlicher Perspektive an, dieses Ohnmachtsgefhl oder Grandiosittsgefhl, da habe ich gute Erfahrungen gemacht. […] Calvin und Hobbes fçrdert die Einfhlung von Eltern in die kindliche Perspektive, da kann ich mir vorstellen, das viel strker einzusetzen, weil viele Erwachsene haben vielleicht noch einen Zugang zu ihrer eigenen Adoleszenz, aber zu ihrer Kindheit schon nicht mehr. Eltern versuchen ihre Kinder zu erziehen, haben aber wenig Einfhlung in deren Welt« (N).

6.1.6 »… wenn Literatur ein Medium sein kann, um in Kontakt zu kommen«: Welche Bcher fr wen? In dieser Kategorie werden die sehr unterschiedlichen und zum Teil gegenstzlichen Erfahrungen und Vorstellungen markiert, ber die die Experten hinsichtlich der Arbeit mit dem Medium Kinder- und Jugendliteratur mit unterschiedlichen Patientengruppen verfgen. Die Frage nach Indikation und Kontraindikation beantworten die Interviewpartner/innen sehr heterogen.

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Die Auswertung der Experteninterviews

Viele erwhnen, dass sie bei Patienten mit Psychosen bzw. mangelndem Realittsbezug zurckhaltend seien, da diese Patienten nicht noch zustzliche fiktive Geschichten bruchten. Ansonsten halten die Experten hçchst unterschiedliche Dinge fr mçglich bzw. unmçglich: »Fr traumatisierte Kinder und Jugendliche stelle ich es mir als sehr trçstlich vor […] wenn es unkonzentrierte, aufmerksamkeitsgestçrte Kinder sind, wre ich sehr vorsichtig, weil das ja auch anstrengend ist« (E). »Ich kann mir das gut vorstellen mit ADHS-Kindern, wenn man es schafft, mit denen so eine Rolle zu entwickeln oder einfach ein Interesse dafr zu wecken, dass denen das gut hilft, so durch den Alltag zu kommen, wenn die da so ein paar positive Identifikationen haben« (P). »Nicht gut vorstellen kann ich mir, hyperaktive Kinder mit dieser Thematik zu konfrontieren, weil es auch schwierig ist, die dann mit Aufmerksamkeit halten zu wollen. […] Beim Thema Aggression wre ich auch vorsichtig, da mir keine guten Helden fr aggressive Kinder bekannt sind« (H). »Bei Angst und Aggression, da komme ich am ehesten darauf, ein Bild oder eine Metapher zu finden, oder auch eine Mutmachgeschichte zur Ermutigung« (K).

bereinstimmend beurteilen die Interviewpartner/innen allerdings den Einsatz von Bchern als sinnvoll bzw. als nicht angemessen, je nach dem, ob er als beziehungsfçrdernd bzw. beziehungsvermeidend eingeschtzt wird: »Wenn ich das Gefhl htte, das ist ein Medium, das von unserer Beziehung ablenkt, dann wrde ich es nicht einsetzen; die Beziehung hat Prioritt, aber wenn Literatur ein Medium sein kann, um in Kontakt zu kommen« (D).

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6.1.7 »Es muss auch ’ne gute Geschichte sein«: Qualittsansprche an einzusetzende Bcher Insgesamt stellen die Interviewpartner/innen den Anspruch an zu verwendende Bcher, dass diese zu dem einzelnen Klienten passen mssen bzw. nicht moralisch sein drfen: »Was ich nicht mag, sind viele therapeutische Geschichten, die finde ich unheimlich platt und moralbehaftet, die kann ich zum großen Teil nie einsetzen, es muss schon so ein bisschen subtiler sein. […] Es geht ja nicht nur darum, eine Metapher fr das Thema zu finden, sondern ich finde, es muss auch ’ne gute Geschichte sein« (E).

Unterschiedlich dagegen beurteilen die Interviewpartner/innen, ob die Bcher eine positive Stimmung vermitteln bzw. mehr oder weniger gut ausgehen sollten: »Ich htte schon das Anliegen, dass es ein Buch ist, wo es noch einen Schimmer am Horizont gibt« (C). »Depressivitt oder etwas Lebensverneinendes wre berhaupt kein Ausschlusskriterium, im Gegenteil, das ist einfach eine innere Realitt von Kindern, die ihnen immer abgesprochen wird. Dagegen laufe ich immer Sturm« (N).

Ein Interviewpartner verwies auf das nicht unerhebliche Kriterium des Buchumfangs, eine andere Interviewpartnerin sprach sich gegen etwaige Einschrnkungen bei der Buchauswahl aus und empfahl darber hinaus jedes Beratungszimmer auch mit Comics auszustatten. »Fr die meisten Klienten drfte es nicht zu dick sein, es drfte nicht einen allzu erschreckenden Umfang haben, das halte ich fr das wichtigste Kriterium, ansonsten sehr unterschiedliche Bcher« (O). »Es gibt kein Buch, was nicht geeignet ist, bloß Aufhçren mit dem Scheiß des guten Buches, das nimmt einem im Nachhinein ganz viel. Es gehçren auch ein paar Comics in die Ecken, die Mangas z. B.« (J).

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Die Auswertung der Experteninterviews

Einig sind sich die Experten in einem: Um mit Kinder- und Jugendliteratur sinnvoll und nutzbringend im therapeutisch-beraterischen Rahmen arbeiten zu kçnnen, muss fr einen Klienten zunchst das passende Buch zum passenden Zeitpunkt gefunden werden.

6.2 Die Auswertung zum Zeitpunkt T 2 Die Mehrheit der Interviewpartner/innen (11 von 16) berichtete von positiven und negativen Erfahrungen bei ihrer Arbeit. Zwei Experten – aus unterschiedlichen Therapieschulen und institutionellen Rahmenbedingungen – beurteilten die Einsatzmçglichkeiten als berwiegend negativ, whrend weitere zwei Experten – ebenfalls aus unterschiedlichen Therapieschulen und Arbeitszusammenhngen – von ausschließlich positiven Erfahrungen berichteten. Es konnten sechs Kategorien generiert werden, die sich auf die von den Experten angegebenen Kriterien fr die Auswahl der Bcher, die Erfahrungen mit dem Medium in verschiedenen Settings, den eingeschtzten Nutzen bzw. Gefahren und Einschrnkungen bei der Verwendung dieses Mediums sowie auf die von den Experten angegebenen persçnlichen Schlussfolgerungen nach Abschluss der Explorationsphase bezogen. Es ergaben sich keine eindeutigen Hinweise darauf, dass bestimmte Therapieschulen oder bestimmte institutionelle Rahmenbedingungen die Arbeit mit dem Medium generell erleichterten oder erschwerten.

6.2.1 »Themen, die mir schon mal irgendwo begegnet sind bei Patienten« oder »Was spricht mich an«: Die Auswahlkriterien Bei der Auswahl der Bcher gingen die Experten ihren Schilderungen zufolge nach zwei unterschiedlichen Mustern vor. Die einen orientierten sich in erster Linie an ihren persçnlichen Vorlieben und konzentrierten sich auf ihr eigenes Resonanzerleben nach der Lektre der von mir angefertigten Zusammenfassungen.

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»Ich habe die Exzerpte gelesen und einfach nur darauf geachtet, was spricht mich irgendwie an, und das habe ich dann danach ausgesucht […] und was mich in meiner Rolle als Kindertherapeut anspricht« (F).

Die anderen lasen die Exzerpte bereits mit Blick auf ihre Patienten und Klienten und ließen sich in erster Linie von praktischen berlegungen zur Einsetzbarkeit bestimmter Bcher in ihrer Praxis leiten. »Ich habe zunchst mal deine Zusammenfassungen gelesen und hatte dabei schon immer Klienten oder Patienten von mir im Kopf, welches Buch denn fr die passen kçnnte« (B).

Bei einem Experten lçste die Lektre eines von ihm ausgewhlten Buches ein starkes Gefhl der Enttuschung aus, da der aktuelle Eindruck zu seinen Erinnerungen an vergangene Leseerfahrungen im Widerspruch stand; dies beeinflusste seiner Einschtzung nach auch seine weitere Vorgehensweise. »Dann hab ich das Buch mit den Mumins gelesen und zum Teil auch meinen Kindern vorgelesen und war enttuscht und zwar um so lnger ich darin gelesen habe, desto mehr […] da passte das, was ich gelesen hatte, berhaupt nicht mehr zu meiner Erinnerungsassoziation, ich war ganz unzufrieden und hatte da ein echtes Problem. […] Das waren alles so Geschichten, wo ich dachte, ach Gott, ach Gott, was machst du denn damit und was ist das berhaupt fr ein Stil […] das war wie ein Schlag ins Kontor und das hat die ganze Sache auch gedmpft und hat die Weiterbeschftigung mit den anderen Bchern auch beeintrchtigt« (O).

6.2.2 »Mit dem Vorlesen hat sich eine Verbundenheit hergestellt, die vorher so nicht da war«: Lesen und Vorlesen im Behandlungssetting Der Akt des Vorlesens wurde bereits bei den Interviews zum Zeitpunkt T 1 als eine Methode beschrieben, die therapeutische Atmosphre zu gestalten. Diese Erfahrungen wurden whrend der Explorationsphase noch erweitert und vertieft. Vorlesen wurde von den Experten als eine Mçglichkeit erachtet, eine therapeutische Beziehung nicht nur zu intensivieren, sondern, wie

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Die Auswertung der Experteninterviews

im Folgenden am Beispiel einer Arbeit mit einer 13-jhrigen magerschtigen Klientin beschrieben wird, sie auch qualitativ zu verndern. »Um das Medium Buch, Vorlesen in die Therapie mit einzubringen, hab ich vor der Sommerpause die Weihnachtsgeschichte von den Mumins vorgelesen. […] Ich habe gesagt, ›mach’s dir doch ein bisschen gemtlich, hast du Lust, dass ich dir was vorlese‹, und da war sie dann erst ein bisschen erstaunt, hat sich aber dann tatschlich in die Hngematte gelegt und ich habe ihr dann die Geschichte vorgelesen. Ich habe mir dann einen Spaß daraus gemacht, ihr diese Geschichte auch ein bisschen theatralisch vorzulesen, und das hat ihr dann auch gefallen. […] Mit dem Vorlesen der ersten Geschichte hat sich eine Verbundenheit hergestellt, die vorher so nicht da war, ich hab die vorher innerlich nicht erreicht, die hat die Stunden vorher hçflich abgesessen, aber war distanziert, und die Geschichte, die ich ihr vor der Sommerpause vorgelesen habe, auch verbunden mit der Einladung, wir machen das total locker und gemtlich, das hat eine Verbindung hergestellt, die vorher nicht da war, und die ist immer noch da, und seither ist sie auch geçffneter« (G).

Weiterhin scheint Vorlesen eine Form besonderer Zuwendung zu Patienten darzustellen, die von den Experten als wirkungsvoll eingeschtzt wird. »Die Kinder kriegen normalerweise nicht mit 9 oder 14 Jahren zu Hause vorgelesen, und diese Stunde und den Erwachsenen ganz fr sich zu haben, der das fr einen macht, das ist sehr wirkungsvoll« (B).

Eine Expertin beschrieb, dass sie es bei ihren jugendlichen Patient/innen als problematisch empfunden htte, ihnen etwas vorzulesen oder zu erzhlen, da diese sich dadurch leicht manipuliert fhlen kçnnten, whrend jngere Kinder hinter dem Gelesenen nicht sofort eine mit Vernderung verbundene Absicht vermuteten. »Mit den Kindern im Alter von 8 bis 12 fand ich es besonders leicht, die schienen mir auf eine Geschichte von jemand anders mit weniger Druck lauschen zu kçnnen, wo ich so das Gefhl hatte, die Jugendlichen, die durchschauen das jetzt sehr schnell, die erzhlen mir jetzt so eine Geschichte, die hat was mit mir zu tun, damit soll ich irgendwas machen. Und

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die Kinder kçnnen eher zuhçren und sind offener, weil die nicht gleich so den Druck haben, ja was heißt das jetzt fr mich« (C).

Die Aufforderung zum aktiven Lesen wird hingegen besonders bei kindlichen Patient/innen als problematisch eingeschtzt. Mehrere Experten beschreiben, dass Bcher ein oftmals vorbelastetes Medium fr die Patient/innen seien, weil sie sich damit berfordert shen und es sie zudem sehr an die Schule erinnere. »Eine generelle Schwierigkeit ist, […] dass viele Kinder berhaupt nicht gut zu sprechen sind auf Bcher, einfach durch die Medienberhandnahme, in vielen Familien ist Lesen kein Kult oder Ritual mehr, im Gegenteil, viele Kinder verbinden Lesen und Buch mit Schulpflichten« (H).

Das aktive Leseverhalten Jugendlicher wird unterschiedlich beurteilt; zum einen berichten einige Experten, die jugendlichen Patient/innen seien nur schwer oder gar nicht zum Lesen zu motivieren gewesen; andere erzhlen wiederum, die Jugendlichen htten eine berraschende Bereitschaft gezeigt, Bcher im therapeutischen Kontext zu lesen. Im Zusammenhang mit einem als eher problematisch eingeschtzten Leseverhalten Jugendlicher brachten zwei Experten auch die potenzielle Verwendbarkeit anderer Medien wie zum Beispiel die Einbeziehung von Filmen oder Fernsehserien im beraterisch-therapeutischen Rahmen zur Sprache. Ein Experte nutzte sehr konkret den Vorschlag eines Patienten – der zunchst eine deutliche Abneigung gegenber Bchern zeigte, sich aber fr Filme interessierte –, sich mit ihm gemeinsam einen Film anzusehen und auf diese Weise in ein Gesprch ber persçnliche Strken und Schwchen zu kommen, das bislang nicht mçglich gewesen war. »Ich hab dann erst mal so grundstzlich gefragt, ob ihn Geschichten interessieren, und dann sagte er, dass ihn Filme interessieren, und dann haben wir angefangen uns ber Filme zu unterhalten und dann schlug er vor, dass wir doch mal einen Film gucken kçnnten […] Dann brachte er einen Bud Spencer- und Terence Hill-Film mit und dann haben wir zusammen Bud Spencer und Terence Hill geguckt […] Und ich habe mich dann mit ihm so ber Strken und Schwchen von Bud Spencer und Terence Hill unterhalten. […] Als Diagnostikum war das ganz spannend, weil er erst gesagt hat, da gibt’s nichts in Bezug auf die Strken bei ihm. Und da

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Die Auswertung der Experteninterviews

hab ich ihm gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann und dass ich mit ihm wette, dass wenn wir jetzt beide eine Weile berlegen, mindestens fnf Sachen finden, und das ist uns dann auch gelungen. Also es war was, wo wir zumindest ber Geschichten in Kontakt gekommen sind und wo wir dann auch ins Arbeiten gekommen sind« (I).

6.2.3 »ber das gleiche Thema in einer anderen Verpackung zu reden«: Erfahrungen im Gruppensetting Zwei Experten, die im stationren Kontext arbeiten, verwendeten das Medium Kinder- und Jugendliteratur im gruppentherapeutischen Rahmen. Zum einen wurde das Medium dazu genutzt, fr die Patienten relevante Themen anzusprechen. Auch in diesem Setting erleichterte das Sprechen ber fiktive Geschichten eine Auseinandersetzung mit emotional berhrenden Themen. »Dann hatte ich noch die Geschichten aus dem Mumintal. Davon hab ich eine in der Gruppentherapie vorgelesen zum Thema Freundschaft. […] Was ich angenehm fand, war, dass dieses Freundschaftsthema so sehr subtil und von ganz vielen Aspekten beleuchtet wird […] Das ist eine Gruppe, die oft wechselt, die nicht so eine konstante Zusammensetzung hat, sondern immer mal wieder Neue, und das war total praktisch, ber so Themen, die zu Freundschaft gehçren, immer mit den Charakteren da zu reden. […] Also da mussten die Jugendlichen nicht sagen ›ich habe‹ oder ›mir geht’s mit Freundschaft so‹, sondern die konnten immer sagen, wie der Mumin das gemacht hat. […] Da wussten auch alle gleich, was gemeint war. […] Die meisten kannten diese Zeichentrickfigur Mumin, die haben zwar diese komplizierten Namen immer mal wieder vergessen und haben sich auch ein bisschen darber lustig gemacht. Irgendwie konnten sie sich aber doch damit identifizieren« (P).

Eine andere Expertin entschied sich dafr, nicht mit den zur Auswahl gestellten Bchern zu arbeiten, sondern auf die Lieblingsbcher der Patientinnen einer Mdchengruppe einzugehen und diese ber einen Zeitraum von mehreren Gruppensitzungen zu besprechen. Die Gruppe bestand bereits ber mehrere Monate und konstituierte sich aus sechs Mdchen zwischen 13 und 19 Jahren mit unterschiedlichen Stçrungsbildern (u. a. Angststçrung, Zwangsstçrung, Borderline-Stçrung). In einer Sitzung

Die Auswertung zum Zeitpunkt T 2

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stellten alle Patientinnen und die Gruppentherapeutin ihre Lieblingsbcher vor und entschieden sich im Anschluss per Abstimmung fr eines der Bcher, das sie in den nchsten zwei Wochen lesen wollten. Laut der Expertin stellte bereits die Vorstellung der Lieblingsbcher eine von großer Intimitt und Vertrautheit geprgte Atmosphre her und fçrderte ein Gefhl der Zusammengehçrigkeit und gegenseitiges Interesse fr einander. »Die 13-jhrige N. hat ›Warte nicht auf einen Engel‹ erzhlt, und ich glaube, dass das die anderen am meisten berhrt hat, wie sie es erzhlt hat. Jeder Titel war irgendwie interessant und wir haben uns auch zugesagt, dass wir ber die Zeit alle Bcher nacheinander lesen; dieses Versprechen schwebt noch ein bisschen. Die 13-Jhrige mit der alkoholkranken Mutter hat erzhlt, das sei das Mdchenbuch ihrer Mutter gewesen und das htte sie ihr so ans Herz gelegt, und dann htte sie es gelesen und das htte sie sehr beeindruckt. Dann hat sie eben erzhlt, dass das die Geschichte ist von einem Mdchen, die zufllig ein Gesprch mithçrt, unabsichtlich, dass ihre Mutter eine todbringende Krebskrankheit hat und dann so in zwei Welten lebt. Einmal in dieser Wirklichkeit ›Meine Mutter wird sterben‹ und in diesen Konflikten, die sich da entwickeln, und auf der anderen Seite in ihrer jugendlichen Peergroup […] wo sie aber auch nichts sagt und sie nicht offensiv mit diesem Wissen umgeht. […] Dieses Ritual, wir alle lesen jetzt zur selben Zeit dasselbe Buch und wir reden drber, das ließ einem die Gnsehaut ber den Rcken laufen, und wo die N. sagte […], ›wenn ich mir jetzt abends vorstelle, die lesen jetzt in den nchsten 14 Tagen alle mein Buch.‹ […] Also die Geste der Gemeinschaft, ich weiß nicht, Bindung, Verlsslichkeit, ber das Ritual ›wir lesen jetzt alle dein wichtiges Buch‹« (K).

6.2.4 Der Nutzen des Mediums: »Brckenbau zwischen den Welten« Von allen Experten wurde die Anregung, sich mit Kinder- und Jugendliteratur zu beschftigen, als positiv bewertet und – bis auf eine Ausnahme – auch die konkrete Anwendung des Mediums als sinnvolle Erweiterung des Methodenspektrums beschrieben. Als ntzlich wurde zum einen hervorgehoben, dass die Einbeziehung von Kinder- und Jugendliteratur eine Mçglichkeit biete, in nheren Kontakt mit den Patient/innen zu kommen bzw. sich bestimmten Themen zu nhern.

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Die Auswertung der Experteninterviews

»Ich habe jetzt so den Eindruck, dass es ganz gut ist, um Kontakt zu kriegen, und dass es ganz gut ist sich so ein bisschen auszukennen mit Kinder- und Jugendliteratur« (I).

Zum anderen beschrieb ein Teil der Experten, dass durch die gemeinsame Beschftigung mit etwas Drittem die therapeutische Beziehung sich um eine Ebene erweitere und sich Patient/innen sehr aufgewertet fhlten, wenn sie von ihrem Therapeuten ein Buch zur Verfgung gestellt bekmen bzw. es ihnen »anvertraut« wrde. »Das war so eine Ebene, auf der wir uns erst mal so getroffen haben, ohne groß darber zu sprechen und es war sozusagen was Gemeinsames, und ich glaub schon, dass er [der Patient] sich da auch aufgewertet gefhlt hat« (M).

Als bereichernd wird der Fokus auf Phantasie und Kreativitt beschrieben sowie der Zugang zu einer unbewussten Ebene, der durch die Projektion von Gefhlen auf die literarischen Protagonisten hergestellt wird. Weiterhin entstehe ber die gemeinsame Beschftigung mit einer Geschichte eine strkere Verbindung zwischen Therapeutin und Klientin. »Ntzlich finde ich es beispielsweise, um so kreative Prozesse in Gang zu kriegen, noch mal einen Zugang zu kriegen zu den Gefhlen und wie die individuell vom Kind erlebt werden, mal eine andere Verstndnisebene zu erreichen. Und das hat ja auch was Verbindendes, weil man hat gemeinsam was gelesen und macht was damit« (E).

Als positive Effekte der Arbeit mit diesem Medium schildern die Experten die Fçrderung der Fhigkeit, sich von emotional bedrngenden Problemen zu distanzieren, sowie die Herstellung einer gewissen Leichtigkeit im Umgang mit belastenden Themen. »Das ist eine Bereicherung des therapeutischen Spektrums, Probleme zu bebildern. […] Es hat fr mich den Vorteil im Therapieverlauf, den Metaphern ja oft haben. Es bringt ja eine große Leichtigkeit rein, ber den kleinen Piraten oder den kleinen Prinzen zu sprechen, wenn es eigentlich um ein schweres Problem geht […] Das hat den Nutzen der Vogelperspektive, in die Metaebene zu gehen, um etwas zu betrachten, und da auch

Die Auswertung zum Zeitpunkt T 2

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die Sprache als Brcke zwischen den verschiedenen Ebenen zu nehmen« (K).

Ein Experte wies auf die entscheidende Funktion des Brckenbaus zwischen einer Erwachsenen- und einer Kinder- bzw. Jugendlichenwelt hin; demgegenber betonte eine andere Expertin den Nutzen der Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur vor allem fr die Kinder- und Jugendlichentherapeuten, die dabei ihre Bilder von Kindheit und Jugend reflektieren und gegebenenfalls auch modifizieren kçnnten. »Aber das Wesentliche, was mich fr die Arbeit auch wirklich interessiert hat, ist der Brckenbau zwischen den Welten. […] Das hat mich auch auf etwas aufmerksam gemacht, was ich bis dahin kaum aktiv verwendet habe […] einfach eine bereichernde Idee, das nicht nur zu verwenden, sondern auch mehr zu lesen« (F). »Mumin […] kçnnte in die Weiterbildungsliteratur aufgenommen werden, und dann finde ich berhaupt, dass Therapeuten Kinderbcher gut kennen sollten. […] In der Weiterbildung spielt es bisher keine Rolle und das finde ich aber ganz wichtig. […] Wenn man in die Kinderbcher mit seinem eigenen Psychowissen reinguckt, das kçnnte bereichernd sein« (N).

6.2.5 »… dass da was Fremdes eingefhrt wird«: Gefahren und Einschrnkungen Als eine der grçßten Schwierigkeiten beim Einsatz von Kinderund Jugendliteratur im therapeutischen Setting wird die Einfhrung von etwas »Fremdem« beschrieben, das dem Patienten bergestlpt werde; dadurch kçnne er sich missverstanden fhlen bzw. dies kçnne auch vom eigentlichen Prozess ablenken. »Eine Gefahr liegt darin, dass man das Vorhandene, also das was das Kind mitbringt, zu sehr mit einer fremden Geschichte a) vergleicht und b) vielleicht auch berformt und berfrachtet. Ich wrde, wenn ich mich mit der Sache lnger und ausfhrlicher beschftigen wrde, wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass man Ausschnitte aus der Geschichte nehmen sollte und nicht mehr, und sich dabei die Freiheit nehmen sollte, die Geschichte auf die Situation des Kindes abzustimmen« (F).

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Die Auswertung der Experteninterviews

Eine weitere Gefahr liege in der emotionalen berforderung und Bedrngnis, die entstehen kçnne, wenn die Identifikationsfigur nicht als positiv erlebt werde und die Patient/innen starke Parallelen zwischen ihrer eigenen Biographie und der fiktiven Geschichte shen. Hinzu komme der Aspekt der Beschmung durch die Annahme, vom Therapeuten mit der Identifikationsfigur in unmittelbare Verbindung gebracht zu werden. »Die Gefahr ist […], dass es zu dicht an dem dran ist mit der Identifikation, und die Identifikation nicht eine positive ist und dass die denken, dass ich sie so sehe. Das habe ich ein paar Mal gedacht « (A).

Es sei nicht zu unterschtzen, dass das Medium Buch fr eine Reihe von Klient/innen eine abschreckende Wirkung haben und den Klienten unter Druck setzen kçnne. »[…] dass man die berfordert, weil die ein schlechtes Gewissen haben, dass sie dem nicht nachkommen konnten, was man von denen verlangt hat […] und meinen Erwartungen nicht entsprechen« (A).

Zum anderen kçnne das Medium Buch nicht nur von Wichtigem ablenken, sondern mçglicherweise auch zu einer negativen Form der beridentifikation fhren. »Ich denke, man kann sich auch prima gemeinsam mit einem Buch beschftigen, um sich abzulenken und nicht zu den eigentlich wichtigen Dingen zu kommen. […] Ich denke, es kçnnte auch passieren, dass sich jemand sehr identifiziert mit einer Person im Buch und dann zustzliche Symptome entwickelt, die vorher nicht da waren« (C).

Zwei Experten berichteten von konkreten Erfahrungen, bei denen Patient/innen auf Selbsterfahrungsberichte in Romanform (»Dann bin ich eben weg«, die autobiographische Geschichte einer magerschtigen jungen Frau), mit Symptomverstrkung reagierten – beim Einsatz fiktiver Literatur wurde davon allerdings nicht berichtet. »A. hat reagiert auf einen autobiographischen Bericht von einer Magerschtigen ›Dann bin ich eben weg‹. Sie hat das bei mir im Regal gesehen und

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gesagt, ›Ach, sehen Sie, das hat mir die Idee gegeben, magerschtig zu werden‹« (E).

Mehrere Experten weisen auf die Schwierigkeit hin, fr einen Patienten die richtige Geschichte zu finden; zum einen msse der Therapeut ber eine breite Auswahl an Kinder- und Jugendliteratur verfgen, um auf das jeweils passende Buch zurckgreifen zu kçnnen, zum anderen kçnne er sich nicht darauf verlassen, dass der Patient mit der Geschichte etwas anfangen kçnne, selbst wenn der Therapeut von der Eignung der Geschichte berzeugt sei. »Mein Resmee ist eigentlich, dass es schon eine sehr individuelle Sache ist, also ob diese Bcher und Geschichten nun passen und ob man sie wirklich verwenden kann und auch wenn ich finde, dass die passen, mssen sie fr die Kinder noch lange nicht passen, die mssen damit nichts anfangen kçnnen. […] Das Problem ist auch, dass ich denke, dass man einen relativ großen Fundus an Geschichten haben muss, wo man dann whlt, das kçnnte vielleicht passen« (E).

6.2.6 »Es muss auch jemand sein, der gern liest«: Persçnliches Resmee und Konsequenzen fr die Praxis Viele der befragten Experten heben hervor, dass sie die Einbeziehung von Kinder- und Jugendliteratur in den Behandlungsprozess fr eine sehr individuelle und nicht manualisierbare Methode halten; die Bcher oder Geschichten seien nicht stçrungsspezifisch, sondern nur persçnlichkeitsspezifisch einzusetzen. Darber hinaus sei die Arbeit mit dem Medium stark von der persçnlichen Haltung des Therapeuten dazu geprgt. »Es ist trotzdem auch etwas, wo der Individualist des Therapeuten gefragt ist. Es muss auch jemand sein, der gern liest und der fr sich die Antworten aus Bchern holt und die Augen selber leuchten, wenn es ums Lesen geht, das geht nur mit einem Hauch der Begeisterung fr das Medium. Das wrde ich auch als Schwierigkeit sehen, man kann nicht sagen, das muss jetzt jeder machen, das geht nach hinten los« (K).

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Die Auswertung der Experteninterviews

Der Anstoß, sich mehr mit Kinder- und Jugendbchern zu beschftigen, da diese einen Zugang zu der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen darstellten, gehçrt zu den wichtigsten persçnlichen Konsequenzen, die von den Experten gezogen wurden. »Es ist ganz gut, sich so ein bisschen auszukennen mit Kinder- und Jugendliteratur, also zum Beispiel jetzt Harry Potter, zumindest mal einen Band gelesen oder vielleicht einen Film gesehen zu haben, dass man vielleicht darber reden kann. […] Es hat mich angeregt, als ich das letzte Mal bei meinen Eltern zu Besuch war, da zu stçbern, was da noch da ist und einiges mitzunehmen, und ich hab mir vorgenommen das eine oder andere noch mal zu lesen und die Bcher dann in die Beratungsstelle mitzunehmen und einfach ein bisschen was dastehen zu haben an Kinder- und Jugendliteratur« (I).

Eine der beiden Experten, die berwiegend negative Erfahrungen mit dem Einsatz des Mediums gemacht hatten, berichtete von ihren berlegungen, ob und inwiefern auch ihre eigene ambivalente Haltung zu dem Medium zum »Scheitern« beigetragen haben kçnnte. Im Interview zum Zeitpunkt T 1 hatte sie berichtet, dass sie zu Bchern ein sehr zwiespltiges Verhltnis habe; einerseits neige sie dazu, Bcher und den Umgang mit Literatur zu berhçhen, andererseits kçnne sie sich gut daran erinnern, dass Lesen als Kind fr sie mit Anstrengung und großem intellektuellen Druck seitens des Vaters verbunden gewesen sei. »Gescheitert bin ich daran, dass immer, wenn ich einen Vorschlag gemacht habe, alle gesagt haben, sie haben keinen Bock darauf. […] Keiner wollte sich was vorlesen lassen, egal welches Buch ich auch erwhnt hab. […] Beim Erzhlen ist es mir irgendwie auch nicht geglckt, den Kern zu treffen, dass ich das Gefhl bekomme, es entsteht eine Nhe zu meiner Erzhlung oder es entsteht irgendeine Form der Identifikation zu irgendwas. Sie haben dann zugehçrt, aber wollten eigentlich nichts mehr davon hçren, wollten auch nicht mehr darber reden. […] Ich habe mich lange gefragt, warum das so schwierig ist, das, was ich eigentlich so schçn finde, den Kindern zu vermitteln, was das ist, ob es wirklich ein ganzes halbes Jahr Zufall war, dass ich nur auf Menschen getroffen bin, die mir nicht zuhçren wollten oder meine Ideen nicht annehmen wollten oder ob es an meiner Art lag, ihnen die Ideen nicht in dem Moment zu geben, wo sie offen dafr waren. […]

Die Auswertung zum Zeitpunkt T 2

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Und das fllt mir jetzt so ein, dass ich vielleicht zu bedacht war, also zu heilig, dass es nicht selbstverstndlich genug gekommen ist und dass ich es immer so herausgezogen habe wie so einen extra weißen Hasen. Dass es nicht integriert genug ist in mein Ich und irgendwie hat es auch nie gepasst. Und wahrscheinlich hat es auch nie zu dem gepasst, wie die Kinder mich bis jetzt erlebt haben und da haben sie vielleicht eher gedacht, ja was macht sie denn jetzt! Also das kçnnte so ein Punkt sein« (J).

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Die Arbeit mit den Bchern

Alle zehn vorgestellten Bcher wurden zwischen zwei und acht Mal ausgewhlt, neun von ihnen wurden im beraterisch-therapeutischen Setting eingesetzt. »Das Wildpferd unterm Kachelofen«, das offensichtlich eher zu den unbekannteren Kinderbchern zhlt, wurde zwei Mal ausgewhlt, aber nicht eingesetzt. Nach Einschtzung der Experten stieß keines der ausgewhlten Bcher bei den Kindern und Jugendlichen auf durchweg positive bzw. negative Resonanz. Im Folgenden wird die beraterisch-therapeutische Arbeit mit jedem der ausgewhlten Bcher exemplarisch anhand eines so genannten Positiv- und eines so genannten Negativbeispiels dargestellt. Mit dieser Vorgehensweise wollte ich nochmals deutlich machen, dass nicht von an sich therapeutisch wirksamen Kinder- und Jugendbchern ausgegangen werden kann, sondern dass ein gelingender Einsatz dieses Mediums von sorgfltig zu differenzierenden Bedingungen abhngt, unter anderem von der therapeutisch-beraterischen Beziehung, dem Zeitpunkt und vor allem von einem »dosierten Bezug« des Patienten zu den offenen und versteckten Themen der jeweiligen Geschichte.

7.1 Der starke Wanja als stiller Begleiter »Die Abenteuer des starken Wanja« wurden insgesamt sieben Mal ausgewhlt. Von den Experten wurde zum Teil erwhnt, dass das Buch bereits aus der eigenen Kindheit bekannt sei und auch

Der starke Wanja als stiller Begleiter

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darum Interesse geweckt htte. Vor allem aber wurden die metaphernreiche und mrchenhafte Sprache sowie die Thematisierung lange Zeit beanspruchender Entwicklungsschritte als interessant und im Rahmen von Therapie und Beratung passend empfunden. Ein Experte schilderte den erfolglosen Versuch, das Buches in der ambulanten Therapie mit einem 14-jhrigen Jugendlichen zu verwenden, den er als introvertiert, auffllig langsam und trge beschrieb. Dieser Patient lehnte es laut der Schilderung seines Therapeuten sehr deutlich ab, sich mit dieser Geschichte zu beschftigen; zum einen wrde er nicht gern lesen, aber auch die Geschichte an sich interessiere ihn nicht: »Ich hatte bei dem zunchst an die Abenteuer des starken Wanja gedacht. Weil ich dachte, na ja, da entwickelt ja jemand erst mal so sehr langsam Krfte und besondere Eigenschaften, und ich hatte dann gedacht, ja, das kçnnte auch was sein, was zu ihm auch passt. Und das hat er erst mal total abgelehnt, ›nee, will ich nicht‹ und so. […] Ich habe erst mal gesagt, dass ich da ein Buch habe, von dem ich dachte, das kçnnte ihn interessieren und habe erst mal offen gelassen, in welcher Form man da was machen kçnnte, und er hat erst mal gesagt, ›nee‹, und dann hab ich halt so nachgefragt, warum. Und dann meinte er, Lesen wrde ihn nicht so interessieren, er kçnnte nicht so gut lesen und so. Und dann meinte ich, wir kçnnten das ja eventuell anders machen, dass ich daraus vorlese oder ihm die Geschichte erzhle, und da hatte er dann auch gesagt, ›nee‹, das interessiert ihn auch nicht und dann hab ich’s erst mal sein gelassen« (I).

Bei dieser Expertenschilderung ist zu vermuten, dass ber die pure Leseabneigung des Patienten hinaus die von dem Therapeuten sehr deutlich gesehene Parallele zwischen Protagonist und Patient bei dem Jugendlichen Widerstand dagegen hervorrief, sich auf diese Weise gespiegelt zu sehen. Daraus ließe sich die Schlussfolgerung ziehen, dass eine zu starke bereinstimmung nicht unbedingt positiv besetzter Eigenschaften – wie zum Beispiel Langsamkeit – zwischen Held und Jugendlichem, beim Patienten eher ein Schamgefhl als ein vom Therapeuten gewnschtes Strkungsgefhl induziert. Eine andere Expertin nutzte den starken Wanja vor allem in der Kindertherapie und machte dabei positive Erfahrungen. Ihr

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Die Arbeit mit den Bchern

Anliegen bestand in erster Linie darin, die Patient/innen zu ermutigen, sich bei bestimmten Prozessen Zeit zu lassen und darber hinaus die Botschaft zu vermitteln, dass sie sich auf ihre inneren Krfte verlassen kçnnten. »Den Wanja hab ich ein paar mal ganz gut nutzen kçnnen. Das war einmal ein neunjhriges Mdchen, dessen Mutter gestorben ist. Und sie ist einer ganz schwierigen Situation, der leibliche Vater trinkt und will sie aber zu sich nehmen und sie ist einer Familie von einer Freundin der Mutter untergekommen und wird da nun so hin- und hergezerrt … Und die kommt zu mir, um zu trauern, und kommt eigentlich zu gar nichts so richtig. Und da habe ich mit ihr mehrere Male darber gesprochen, dass manche Dinge einfach Zeit brauchen, in dem Sinne, dass wir ber diesen Wanja gesprochen haben, wobei sie das Buch nicht gelesen hat. Ich hatte ihr davon erzhlt, dass der sich da auf dem Ofen verkrabbelt hat und so lange Zeit da geblieben ist und seine Nsse gefuttert hat und einfach strker geworden ist, wobei ich versucht habe, ihr Mut zu machen, dass sie sich auch erst mal verkrabbeln darf und sich fttern lassen und strker werden darf, bevor sie irgendwelche Entscheidungen trifft. Und das konnte sie ganz gut annehmen, zumindest kam sie dann zwei, drei Termine spter darauf zurck, dass sie sich manchmal erinnern wrde an den Wanja und dass ihr das gut tun wrde, an den zu denken, wenn ihr so alles zuviel wird« (C).

An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine Geschichte im therapeutisch-beraterischen Kontext vor allem dann Frchte trgt, wenn sie mittels Perspektiverweiterung eine Erlaubnis zu neuen Verhaltensweisen erteilt. Die Rezeption der Geschichte »Die Abenteuer des starken Wanja« und die Anschlusskommunikation zwischen Therapeutin und Patientin haben das Mdchen offensichtlich zu etwas ermutigt, fr das sie vorher keine inneren Bilder hatte: Das Recht auf Selbstfrsorge und die Einsicht in den schwer kontrollierbaren zeitlichen Ablauf innerer Prozesse.

7.2 Schwer auszuhalten: Das unsichtbare Kind Die »Geschichten aus dem Mumintal« wurden sechs Mal ausgewhlt. Auch hier gab es zum Teil eigene Erinnerungen der Experten an die Muminbcher und deren Figuren; insbesondere

Schwer auszuhalten: Das unsichtbare Kind

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die Geschichte von dem unsichtbaren Kind (s. 5. 3) stieß bei den Experten auf große Resonanz. In einem Fall wurde die Geschichte vom unsichtbaren Kind einem siebenjhrigen Mdchen mit einer Bindungsstçrung vorgelesen, das große Schwierigkeiten hatte, mit der Therapeutin in Kontakt zu treten und sich ber weite Strecken im Therapieraum in einer selbstgebauten Hçhle verkroch. Die Expertin beschrieb, dass sie diese Geschichte ausgewhlt hatte, weil ihr die Patientin auch »irgendwie unsichtbar« vorgekommen sei und sie diese Metapher als sehr passend empfunden habe. Das Mdchen reagierte aber dem Empfinden der Expertin zufolge aversiv auf die Geschichte; diese zog daraus den Schluss, dass die Erzhlung mçglicherweise zu anspruchsvoll und fr das Mdchen nicht ausreichend verstndlich gewesen sei oder aber dass es fr die Patientin wichtig gewesen sei, auf »eigene Initiative« ihre Hçhle zu verlassen. »Bei den Geschichten aus dem Mumintal, da fand ich das zwar ganz toll, aber das Mdchen fand es nicht so toll. […] In der Therapie gab es diese sehr lange Sequenz, wo sie immer ein kleiner Hund war und immer eine Hçhle gebaut hat und immer in der Hçhle verschwunden ist und nicht rausgekommen ist. […] Und dann hab ich gedacht, das passt ja schçn, weil sie ist ja auch unsichtbar und sie hat sich das auch angehçrt, immer relativ kurze Abschnitte, aber dann so deutlich gemacht, dass sie das Vorgelesene nicht haben will. Sie hat dann angefangen zu klopfen. […] Dann durfte ich schon ein Stck vorlesen, aber eben nicht sehr lange. Das war deutlich, das war etwas, was von mir kam und nicht so viel Resonanz gefunden hat. Und ich habe dann auch aufgehçrt, ich persçnlich fand es schade, weil ich fand es passend […] Ich glaube, fr sie war es wichtig, was Eigenes zu finden zum Rauskommen, und nicht was zu nehmen, was von mir kommt, das ist meine Phantasie. […] Und dann sind die Mumingeschichten, die sind ja zum Teil sehr komplex, psychologisch sehr komplex, vielleicht war es ihr auch zu schwer und hat sie deshalb auch nicht angesprochen« (E).

Auch in diesem Fall sieht die Therapeutin eine deutliche Parallele zwischen der Heldin und ihrer Patientin und empfindet deshalb die Geschichte als besonders geeignet fr das Mdchen. Die beschriebene Reaktion der Abwehr lsst vermuten, dass der Patientin die Geschichte zu nah ist, dass sie sich durchschaut, ertappt und »zu gut« verstanden fhlt. Diese Fallschilderung unter-

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Die Arbeit mit den Bchern

streicht die Hypothese, dass im therapeutischen Rahmen Geschichten, die den Patienten nicht ausreichend Distanzierungsmçglichkeiten lassen, vermieden bzw. nur dann verwendet werden sollten, wenn der Therapeut/Berater in der Anschlusskommunikation bewusst beabsichtigt, seinen Klienten mit dessen Abwehrstrukturen zu konfrontieren. Eine andere Expertin las die Geschichte einer 13-jhrigen magerschtigen Patientin vor und leitete diesen Prozess damit ein, dass sie der Patientin unterstellte, das unsichtbare Kind auf Grund ihrer eigenen schwierigen Erfahrungen mçglicherweise gut verstehen zu kçnnen. Auf diese Art und Weise konstruierte die Therapeutin eine empathische, aber auch ausreichend distanzierte Beziehung zwischen Patientin und Protagonistin, die es der Patientin offensichtlich erleichterte, sich mit dem unsichtbaren Kind zu identifizieren und bestimmte zentrale, aber fr sie schwierige Affekte wie zum Beispiel Wut wahrzunehmen und nicht wie zuvor meist auszublenden. »Und dann hab ich die Geschichte von dem unsichtbaren Kind so eingeleitet, indem ich gesagt habe, ›du hast ja Erfahrungen gemacht, die andere so noch nicht gemacht haben, du bist schon durch sehr schwierige Zeiten gegangen, und ich kçnnte mir vorstellen, dass du daher Verstndnis bzw. eine besondere Sensibilitt fr Leute hast, denen es auch nicht gut geht, und da wollte ich dir dann einfach mal dazu eine Geschichte vorlesen.‹ Und dann habe ich angefangen vorzulesen und dann an einer Stelle einen Schnitt gemacht und gefragt, wie kçnnte das denn jetzt weitergehen. […] Bei der Stelle, wo die Ninni nicht spielen kann, sondern immer so fgsam ist, und die L. hatte fr mich immer so einen sehr fgsamen Teil, das war der Grund, warum ich an das unsichtbare Kind gedacht hatte. […] Da habe ich dann wieder unterbrochen und L. gefragt, was kçnnte denn der Ninni jetzt helfen, dass die wieder mit anderen Kindern spielen kann, dass die wieder Boden unter den Fßen kriegt, dass die vielleicht sogar wieder sichtbar wird. Und da sagte sie, ›na ja, die sollte sich nicht so leicht verletzen, aus der Bahn werfen lassen, die msste irgendwie robuster werden‹, aber wie das passieren kçnnte, das wusste sie irgendwie nicht. Und dann haben wir die Geschichte zu Ende gelesen, wo die Ninni so einen Wutausbruch kriegt […] ich hab dann L. gefragt, ja was war es denn jetzt, was geholfen hat, dass sie ihr Gesicht wiederbekommen hat. Und da sagte sie, ›ja das war die Wut.‹ […] Wir haben das dann nicht weiter vertieft, aber ich habe ihr dann gesagt, dass ich finde, dass sie sich doch ganz gut in andere Leute hinein-

Eine Brcke zu den Alptrumen: Das Tier in der Nacht

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versetzen kann, und das hat sie dann gefreut und insgesamt war sie sehr aufmerksam und beteiligt. […] Ich glaube, das war ein besserer Weg, sie an ihre Ressourcen zu erinnern, als der Weg, den ich vorher eingeschlagen habe. Vorher habe ich anhand eines Ressourcenkataloges versucht, die mit ihr herauszufinden, das wollte sie nach zwei, drei Stunden nicht mehr. Aber dieser Umweg mit ihrem Verstndnis fr Ninni, das ging. Das war halt auch viel vorsichtiger dosiert, da konnte sie sich ganz gut reinfhlen. Da war es mçglich, dass sie ein Lob hat annehmen kçnnen« (G).

In diesem Fallbeispiel gelingt es der Therapeutin einen behutsamen Identifikationsprozess zwischen Patientin und Protagonistin zu untersttzen, da sie der Patientin explizit Wege aufzeigt, einen Abstand zwischen sich und der Heldin aufzustellen. Die Therapeutin weist daraufhin, dass die Parallele zwischen Ninni und der Jugendlichen nicht in einer Wesenshnlichkeit bestnde, sondern dass sie nur mçglicherweise »hnliche Erfahrungen« gemacht htten und dass daher die Patientin sich wahrscheinlich gut in Ninni einfhlen kçnne. Diese ußerung der Therapeutin ermçglicht es der Patientin, eine ausreichend souverne und distanzierte Position einzunehmen, um sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und bei der Protagonistin bis dahin tabuisierte Affekte wahrzunehmen und im therapeutischen Gesprch zu verbalisieren.

7.3 Eine Brcke zu den Alptrumen: Das Tier in der Nacht »Das Tier in der Nacht« wurde acht Mal ausgewhlt, konnte aber nur sechs Experten zur Verfgung gestellt werden, da es eine Zeitlang vergriffen war und selbst antiquarisch nicht mehr bestellt werden konnte. Das Buch stellte sich als gnzlich unbekannt heraus, wurde aber auf Grund der Thematisierung kindlicher ngste und Loyalittskonflikte als sehr interessant bewertet. Ein Experte, der sich fr das Buch persçnlich sehr begeisterte und es als sehr tiefgrndig empfand, gab es einem 17-jhrigen russischen Patienten mit sozialen ngsten zu lesen, unter anderem verbunden mit der Aufgabe, mit diesem Buch sein Deutsch zu verbessern. Der Patient weigerte sich, sich mit dem Buch nher

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Die Arbeit mit den Bchern

zu beschftigen, und begrndete dies damit, dass er kein Kind mehr sei und deshalb auch mit Kinderbchern nichts anfangen kçnne. »Ich habe ›Das Tier in der Nacht‹ gelesen. […] Ich war begeistert von dem Buch und habe das einem Patienten gegeben, einem jugendlichen Patienten, so 16, 17 Jahre alt, der als Angstpatient zu mir kam, eigentlich mehr wegen so sozialer ngste, und der ein Aussiedlerjunge ist. Aber die Erfahrung war nicht so berwltigend, weil der sagte, ich htte ihm quasi so eine Art Kinderbuch gegeben, und das fand ich nun ja nicht so. Ich hatte ihm das allerdings auch so mit dem Thema gegeben, er sollte daran lernen, Wçrter zu lernen, Fragen zu stellen, die er nicht versteht, und da hat er gesagt, der Text war leicht zu lesen, eigentlich hat er das alles verstanden. Die eine Intention, ihn zum Nachfragen unverstandener Vokabeln zu aktivieren, die war damit nicht erfllt, und die andere, die Angstthematik, die hat ihn entweder nicht so angesprochen oder das Buch hat ihn ungleich weniger angesprochen als mich jetzt« (O).

In diesem Falle ist der Grund fr das Scheitern des therapeutischen Ansinnens in der diffusen Mischung aus pdagogischer Absicht – der Patient soll sein Deutsch mit Hilfe des Textes verbessern – und der therapeutisch motivierten Idee, sich mit den ngsten des sehr viel jngeren Helden zu beschftigen und daraus Schlsse fr das eigene Verhalten zu ziehen, zu vermuten. Es ist anzunehmen, dass sich der Patient in seinem Stolz und Selbstwert herabgewrdigt fhlte, weil er sich von dem Therapeuten durch die Einbeziehung des Mediums Kinderbuch auf die Position eines Kindes »reduziert« und sich als nahezu erwachsener Jugendlicher nicht ausreichend ernstgenommen fhlte. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass im therapeutisch-beraterischen Kontext zum einen die Verquickung pdagogischer und therapeutischer Intentionen als problematisch anzusehen ist und zum anderen mit großer Sensibilitt darauf geachtet werden sollte, insbesondere Jugendlichen mit brchigem Selbstwertgefhl nur solche Helden zuzumuten, die ihnen in Alter und Reife gleichgestellt bzw. berlegen sind. Ein anderer Therapeut setzte dieses Buch bei mehreren kindlichen Patienten ein und bezog sich dabei vor allem auf die von dem Protagonisten entwickelten Strategien zur Angstbe-

Eine Brcke zu den Alptrumen: Das Tier in der Nacht

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wltigung. Er whlte fr jeden Patienten bestimmte Ausschnitte aus der Geschichte aus und erzhlte diese nach, um so ber bestimmte Themen ins Gesprch zu kommen; mit dieser Vorgehensweise machte er positive Erfahrungen. »Mit dem ersten Buch, ›Das Tier in der Nacht‹, habe ich direkt gearbeitet. […] Ich habe einen fnfjhrigen Jungen, der hat chronische Alptrume, seit Jahren schon, der ist frh traumatisiert worden und der kommt mir immer mit seinen Horrortrumen und dann hab ich bei einer dieser Gelegenheiten mal das Buch auf den Tisch gelegt und hab ihm gesagt, ich htte was ganz Merkwrdiges und Spannendes gelesen, ob ihn das interessieren wrde[…] Und zwar sei da ein Junge, der htte ein ziemliches Problem, und zwar kme nachts immer ein Wesen in sein Zimmer, das ihm ungeheure Angst machen wrde und das kme nur bei ihm und bei keinem anderen. Und er kçnnte machen, was er wollte, er htte noch nichts gefunden, um dieses Tier zu bndigen. Und dann erzhle ich so ein paar Ausschnitte aus der Geschichte, dass der zum Zirkusdirektor geht und den fragt, wie kriegt man wilde Tiere zahm … Und dann hab ich ihm erzhlt, wie der Junge das gemacht hat, wie der den verstrkt hat, wenn der was Gutes gemacht hat und freundlich mit ihm gesprochen hat. […] Und der hçrte mir so aufmerksam zu, und wir haben dann irgendwann, ich weiß nicht mehr genau, an welcher Stelle, die Brcke zu seinen Alptrumen gemacht und wie er es schaffen kçnnte […] wie man sich Dinge ausdenken kann, dass man sich sicher fhlt und da bin ich seit Wochen mit ihm dabei« (F).

Bei diesem Fallbeispiel baut der Therapeut eine Brcke zwischen der Geschichte des Helden und den Erfahrungen seines Patienten und bietet dem Patienten auf diese Weise mçgliche Auswege aus seiner Angstproblematik an. Die Geschichte wirkt offensichtlich als Perspektiverweiterung, und der Therapeut erleichtert diese Wahrnehmung, indem er die Geschichte als »merkwrdig und spannend« charakterisiert und dem Patienten die Mçglichkeit lsst, die Erzhlung nur unter diesen Gesichtspunkten wahrzunehmen oder sie aber auf sich zu beziehen. Auch aus diesem Fall ist die Hypothese abzuleiten, dass die Empfnglichkeit von Patienten fr die unterschiedlichen Botschaften eines Textes dann besonders groß ist, wenn bei der Ankndigung von Geschichten und im therapeutischen Gesprch ber das Rezipierte mçglichst viel Freiheit bei der Bezugnahme auf die eigene Problematik gelassen wird.

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Die Arbeit mit den Bchern

7.4 Entlastung durch Komik: Konrad aus der Konservenbchse »Konrad aus der Konservenbchse« wurde sieben Mal ausgewhlt und bereitete den Experten bei der eigenen Rezeption viel Vergngen. Eine negative Erfahrung machte eine Expertin in der Arbeit mit einem Mdchen, das ein sehr oppositionelles und aufmerksamkeitsgestçrtes Verhalten zeigte, da das Mdchen sich offensichtlich damit berfordert fhlte und sich kein Protagonist zur Identifikationsfigur eignete. »Bei Konrad bin ich supergescheitert. Das Mdchen, das so ein stark oppositionelles Verhalten hat und sich so dolle bemhen muss, gut zu sein, weil es ein Heimkind ist und sich da immer ziemlich anpassen muß, hatte null Bock, obwohl auch Erzhlen und Vorlesen eine echt schwierige bung fr die ist. […] Die ist so sehr unruhig und aufmerksamkeitsgestçrt, dass sie kaum mir zuhçren kann, wenn ich einen Satz sage, insofern war ich da, glaube ich, auch mit meinen Ansprchen zu hoch bei ihr, obwohl ihr das gut getan htte, war so mein eigener Gedanke. Es war ihr, glaube ich, zu abgefahren, das Kind aus der Konservenbchse, das war ihr zu verrckt, dem wollte sie nicht folgen« (J).

Abgesehen von der Aufmerksamkeitsproblematik verdeutlicht dieses Fallbeispiel, dass eine Identifikation zwischen Helden und Rezipienten auch dann nur schwer gelingen kann, wenn zu wenig Parallelen zwischen beiden hergestellt werden kçnnen. Die Therapeutin beabsichtigte offenbar, das sich sehr oppositionell verhaltende Mdchen mit dieser Geschichte zu entlasten und ihm aufzuzeigen, dass auch Anpassung nicht die Lçsung fr alle Probleme darstelle. Auf die Patientin wirkte die Geschichte befremdlich, da sie anscheinend keinerlei Bezug zu ihrer Lebenssituation herstellen konnte und sich mçglicherweise bei dieser Intervention von ihrer Therapeutin nicht ausreichend gesehen fhlte. Eine Expertin las das Buch einem berangepassten und sozial gehemmten Patienten mit großen sozialen Integrationsschwierigkeiten vor und beschrieb, wie befreiend und entlastend der komisch-parodierende Stil Nçstlingers auf diesen gewirkt habe – wobei auch die auktoriale, die Außenperspektive betonende Er-

Entlastung durch Komik: Konrad aus der Konservenbchse

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zhlweise wahrscheinlich verhindert hat, dass sich der Patient bei der Beschreibung vom Konrad zu sehr getroffen fhlte. Darber hinaus fhrten laut der Therapeutin auch Gesprche mit der von der ihr als sehr zwanghaft und rigide erlebten Mutter ber das Buch und die Beziehung zwischen Konrad und Frau Bartolotti zu einer deutlichen Entspannung in der Mutter-Kind-Beziehung. »Den Konrad hab ich in zwei Beratungssequenzen einsetzen kçnnen. […] Zum ersten Mal bei einem Jungen, der elf Jahre ist […] drei Partnerwechsel miterlebt hat und unter einer ganz heftigen Mobbingsituation in der Schule gelitten hat. Er hat eine Mutter, die als wirklich zwanghaft sauber zu bezeichnen ist, der Haushalt ist picobello, ganz rigide, es wurde kein Zu-sptKommen erlaubt, ja der Junge zeichnete sich durch ganz altmodische Kleidung aus, wurde gehnselt deswegen in der Klasse, er galt als Streber, seine Hefte waren mustergltig und vor den Schlern wurde er immer als gutes Beispiel angefhrt. […] Ich habe dann angefangen in einer Phase, als ich das Gefhl hatte, es stagniert, ich komme an den Jungen nicht richtig ran, und dann habe ich angefangen vorzulesen. Und bei der Beschreibung dieser Frau Bartolotti und dem Haushalt und den Fischen in der Badewanne brach das Eis dann auf einmal, er hat laut angefangen zu lachen, und hat gesagt, na da msste meine Mutter mal hin. Er konnte dann beschreiben, wie schlimm es manchmal fr ihn ist, wenn er Krmel vom Tisch nicht wegmacht oder wenn er beim Pipimachen Trçpfchen an den Rad macht. […] Oder einmal hat er beschrieben, sei ihm eine Patrone ausgelaufen und ein kleiner Tintenfleck sei im Badezimmer im Waschbecken geblieben und dann htte er Fernsehverbot bekommen, so dass er mittlerweile ganz bertriebene Ansprche an das eigene Verhalten gestellt hat und soziale Unsicherheit gezeigt hat. […] Wir haben dann noch weitergelesen, diese sehr bertriebene Beschreibung von der Frau Bartolotti war fr ihn mit Entlastungssituationen verbunden, er konnte lachen und dann immer besser seine eigene familire Situation beschreiben. Er hat mir dann auch mitgeteilt, dass seine Mutter ihm aufgetragen htte, mit keinem ber Zuhause zu sprechen, weil sie einfach auch Angst hatte, vor der Schule. Dann gab es ein ganz ergreifendes Ereignis, da wird beschrieben, wie die Frau Bartolotti im Zweifel ist, ob es wirklich gut ist, dass der Konrad da ist und die sagt dann irgendwie, ich bin sehr froh, dass du da bist. Das habe seine Mutter noch nie zu ihm gesagt. […] Er hat so das Bild, dass er nur dann Anerkennung findet, wenn er alles das macht, was seine Mutter gut findet. […] Wir haben irgendwann geendet in der Geschichte und ich konnte mit der Mutter dann irgendwann ber den Punkt sprechen ›ich bin sehr froh, dass du da bist, Konrad‹. Das hat sie sehr nachdenklich gemacht und diese

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Die Arbeit mit den Bchern

Buchsequenz hat schließlich dazu gefhrt, dass sich auch zwischen Mutter und Sohnemann was aufgedrçselt hat« (H).

In diesem Fall geht die Absicht der Therapeutin, den Patienten mit Hilfe der Geschichte von Konrad zu entlasten, auf. Es geht hier weniger um eine Identifikation mit dem Helden als vielmehr um den Wiedererkennungseffekt einer familiren Situation, die sich rigide an Normen und Vorschriften orientiert und die in Nçstlingers Roman satirisch verfremdet und somit enttabuisiert werden. Die Rezeption der Geschichte und das sich daran anschließende Gesprch mit der Therapeutin ermçglichen dem Patienten, sich in seiner Situation weniger isoliert zu fhlen und gleichzeitig auch den Wunsch nach einer Vernderung der realen Situation zu artikulieren. Die Einbeziehung der Mutter – eine Intervention, die im Kontext dieser Untersuchung leider nur selten erfolgte – stellt einen Ausblick auf die Mçglichkeit dar, das Medium Kinder- und Jugendliteratur auch gewinnbringend in Eltern- bzw. Familiengesprchen einzusetzen.

7.5 Ronja Rubertochter als hilfreiche Gefhrtin »Ronja Rubertochter« wurde nur zwei Mal ausgewhlt; fnf Experten gaben allerdings an, dass sie das Buch selbst besßen, und setzten es zum Teil auch ein. Eine Expertin, die im stationren Kontext arbeitet, berichtete, sie htte das Buch gern in Familien eingesetzt, habe sich jedoch gescheut, den Eltern die Lektre von Kinderbchern zuzumuten. »Ich fand diese Idee, da z. B. Ronja Rubertochter anzugucken, das fand ich total gut bei dem ersten Interview […] aber ich habe es irgendwie nicht hingekriegt […] und die Eltern haben ja auch immer ganz viele Fragen. […] Und die wollen da ihre Fragen beantwortet haben, wollen da Tipps haben, und so Phantasiesachen, das ist schwer, und vielen Familien htte ich auch nicht zugemutet, ein Kinderbuch zu lesen. Fand ich immer irgendwie schwierig und unpassend« (P).

Bei dieser Schilderung wird exemplarisch die Zurckhaltung der meisten befragten Therapeuten und Berater deutlich, das Medi-

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um Kinder- und Jugendliteratur im familiren Kontext einzusetzen. Als Grund wurde zumeist die Vermutung angegeben, dass die Eltern oder die erwachsenen Bezugspersonen diese Intervention als befremdlich und zu merkwrdig erlebt htten. Dabei ist die Hypothese aufzustellen, dass die Zurckhaltung der Experten, dieses Medium im Umgang mit Familien auszuprobieren, darauf zurckzufhren ist, dass die Verwendung von Kinderund Jugendliteratur im therapeutisch-beraterischen Kontext bislang ungewohnt ist. Mçglicherweise ließe sich diese Zurckhaltung nach einer gewissen Etablierung des Mediums auflçsen. Eine Expertin setzte Ronja in der Arbeit mit einer 15-jhrigen Anorexiepatientin ein, die das Buch bereits kannte, und fhrte die Protagonistin dabei quasi als »Beraterin« im therapeutischen Prozess ein. Die Expertin nahm sich die Freiheit, sich weit von der Geschichte zu entfernen, und konzentrierte sich auf die Heldin Ronja als ein von der Patientin positiv besetztes Identifikationsobjekt. Auf diese Weise gelang es, in die Therapie neue Ideen und Hypothesen aufzunehmen, und die Patientin konnte ihr bislang sehr stark mit Nicht-Essen verknpftes Autonomiebedrfnis auf eine andere Ebene verlagern. »Und bei Ronja war ich auch ein bisschen nervçs, wie kriege ich das jetzt eingefhrt, wie kriege ich Ronja ins Therapiezimmer. Ich habe dann einfach das Buch hingelegt und gefragt, ›kennst du das da‹, ›ja, ja, kenne ich, drei Mal gelesen und ein Mal den Film gesehen.‹ […] Ich habe sie gefragt, ›was sind denn die hnlichkeiten zwischen dir und Ronja?‹ Da ist sie wach geworden und hat dann gesagt ›also erst mal weiß sie, was sie will, dann ist sie selbstbewusst und dann ist sie wild romantisch‹. Und diese Qualitten hat auch M., und ich hab dann selber noch was dazu gefgt, ›ihr beide lebt intensiv, habt beide was Intensives.‹ […] Dann kam irgendwann meine Frage, ›wenn du Ronja im Wald treffen wrdest, ihr seid beide lter geworden […], ihr seid jetzt beide so 14, 15 […], du weißt ja so ungefhr, wie Ronjas Leben im Wald hat weitergehen kçnnen. Was wrde die Ronja dir empfehlen fr dein Problem mit der Magersucht?‹ […] Und dann hat sie erst zçgerlich reagiert, ›ach, die kann mir sowieso nichts raten, weil die das Problem gar nicht kennt, weil die im Wald lebt‹, und wollte das ein bisschen wegwischen. Aber ich habe dann gesagt, ›stell dir mal vor, wenn Ronja sich Mhe gibt, sich ein bisschen in deine Situation zu versetzen, dann fllt ihr bestimmt was ein, was kçnnte das sein?‹ Und sie hat dann gesagt, ›na ja, die wrde mir dann wahrscheinlich sagen, iss doch das, was du gerne isst, aber

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das wre dann ein Scheißratschlag‹. Weil das wrden ihr alle Leute sagen und da kçnnte ihr die Ronja auch nicht viel weiterhelfen. Dann hat sie noch ein bisschen weiterberlegt, ›na ja, aber dann kçnnte es sein, dass die Ronja auch sagt, Mensch, leb doch einfach mal bei uns mit im Wald und da wrdest du mal sehen, wie das Leben wirklich ist, und dann wrst du raus aus dem ganzen berfluss‹. Und dann hat sie fr sich so eine Erklrungshypothese entwickelt, was fr sie auch ein Grund fr die Magersucht wre, nmlich dieser stndige berfluss« (G).

Dieses Fallbeispiel veranschaulicht die sich als ausgesprochen ntzlich erweisende Intervention, einen vom Patienten positiv besetzen literarischen Helden als imaginren Gefhrten, Begleiter und Ratgeber aktiv von therapeutischer Seite zu etablieren, um auf diese Weise das therapeutische Gesprch um die Perspektive einer dritten Person zu erweitern. Die Therapeutin ermutigt im beschriebenen Fall die Patientin, ein inneres Zwiegesprch aufzunehmen, das sie lediglich begleitet und durch behutsame Fragen strukturiert. Auf diese Weise regt sie die inneren Selbstheilungskrfte der Patientin an und strkt deren Fhigkeit, sich mit Hilfe eines inneren Dialoges eigene Bewltigungsstrategien zu kreieren. Exkurs – ein direkter Einblick in die Interaktion zwischen Therapeutin und Patientin: Eine Expertin zeichnete das Gesprch, das sie mit einer Patientin nach deren Lektre von »Ronja Rubertochter« fhrte, auf Video auf und stellte mir das Band mit Einwilligung der Patientin zur Verfgung. Da diese Aufnahme einen direkten Einblick in die Therapeuten-Patienten-Interaktion ber das Medium ermçglicht, wird aus dem Gesprch zitiert. Hier findet ein Ebenenwechsel statt, da die anderen Schilderungen von Therapeuten-Patienten-Interaktionen jeweils nur aus der subjektiven Sicht des Therapeuten dargestellt werden. An diesem Beispiel soll illustriert werden, wie Therapeuten und Berater mit Patient/innen ber Bcher ins Gesprch kommen und sich daraus die Beschftigung mit emotionalen Prozessen und relevanten Themen entwickeln kann. Die Expertin fragte das 17-jhrige Mdchen, das sich wegen einer bulimischen Ess-Stçrung zum zweiten Mal in stationrer Behandlung befand, zu-

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nchst danach, welchen Zugang sie zu dem Buch gehabt habe und welche Gefhle beim Lesen ausgelçst worden seien. Th: Wie fandest du das Buch berhaupt? Pat: Ich fand es eigentlich sehr interessant und auch sehr gut geschrieben, bisschen ungewçhnlich, es war eine vçllig neue Erfahrung, ich hab vorher eher nur Krimis gelesen. […] Die Beziehungen waren einfach super dargestellt, so dass man den berblick behalten hat, war eine schçne Geschichte. Th.: Welche Stellen haben dich denn besonders angesprochen? Pat: Als […] klar wurde, dass Ronja und Birk befreundet waren und dass die Freundschaft geheim gehalten werden muss, weil die Familien sozusagen Feinde sind […], hat mich sehr ergriffen sozusagen, auch die Zeit, als Ronja in der Hçhle gelebt hat, so lange von ihren Eltern getrennt war und gerade ihren Vater vermisst hat und immer gedacht, der will sie nicht haben, dabei hat er auch ziemlich drunter gelitten, oder die Stellen, wo Ronja und Birk gestritten haben, und wo sie dann doch wieder zusammen gekommen sind, die fand ich schon ziemlich toll. Th: Welche Personen fandest du interessant? Pat: In erster Linie Ronja und danach kam gleich Birk, die beiden waren ein Superteam, wirklich, man hat sich da auch selber drin wiedergefunden. Die Sturheit und dann, als sie klein war, dieses Unbndige, dass sie viel gemacht hat, viel auf Gefahren, mutig halt. Sie hat gemacht, was sie wollte, weil nachher, als sie dann krank wurde, hat sie alles so ein bisschen verloren. Da hab ich mich ein bisschen drin gefunden, weil ich dachte, frher warst du auch so und jetzt bist du krank geworden, und danach war alles anders. Kommt jetzt natrlich wieder, aber eine Zeit lang hat man sich verloren gefhlt, man hat seine Gefhle, seine Taten, seine ganzen Gedanken, das alles hat man irgendwie gesucht. Th: Welche Gefhle hattest du beim Lesen? Pat.: Na ja, das war eine reine Mischung von Gefhlen, in so traurigen Situation hat man so mitgefiebert, hat es einem einfach nur Leid getan, besonders die Stelle, als sie krank war und ihre Gefhle verloren hat, das hat mich ziemlich ergriffen, weil ich selber schon mal in der Situation war, na ja, und da war ich halt ziemlich traurig. Th: Gab es auch Stellen, die du doof fandest? Pat.: Den Mattis fand ich stellenweise total unsympathisch, so stur, so typisch Mann-Reaktionen, da hab ich auch meinen Vater drin gesehen, wie der frher so war, immer nur an sich gedacht. […] Er hat ja sehr an ihr gehangen, wollte sie immer beschtzen, hatte auch was Nerviges – typisch Vater, der erzhlt alles doppelt und dreifach. […] Und am liebsten wrde er sie ja gar nicht gehen lassen, so was finde ich super nervig.

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Die Arbeit mit den Bchern

Als die Patientin eine Parallele zwischen Ronjas und Birks Einzug in die Brenhçhle und ihren eigenen Plnen, sich mit ihrem Freund gemeinsam eine Wohnung zu suchen, herstellt, fragt die Therapeutin nach, ob sich ihre Sichtweise nach der Lektre verndert htte. Th: Denkst du jetzt anders, nachdem du es gelesen hast? Pat.: Mir hat es das Gefhl gegeben, dass es auf jeden Fall erst mal eine schwierige Zeit wird, weil dieser Auszug in diese Brenhçhle, zu Anfang waren sie halt ziemlich positiv und dann haben sie erst mal gemerkt, wie es aussieht mit dem Essen, wie es aussieht mit der Zeit, was fr Gefahren lauern. Und in der Hinsicht bin ich ein bisschen wacher geworden, dass es halt schwierig werden kann mit dem Geld, mit der Nahrung, ja und welche Gefahren auf einen zukommen. Aber irgendwie hat es mich auch ein bisschen gestrkt, das eigentlich auch mal so auszuprobieren, man kann es schaffen, die beiden haben es auch geschafft, es ist nicht unerreichbar.

Im Interview berichtet die Expertin, welche Aspekte in dem Gesprch ber das Buch ihrerseits zu einem grçßeren Verstndnis der Patientin beigetragen htten und was sich daraus fr den therapeutischen Prozess entwickelt habe. »Was mich weitergebracht in ihrer Therapie, war die Frage nach der negativen Identifikation, welche Figur sie nicht mochte, da hat mich total berrascht, dass sie gesagt hat, der Vater. […] Sie hat sich tierisch aufgeregt ber den, und davor war die so richtig berangepasst und so devot ihren Eltern gegenber und so dankbar und schuldig, und da war berhaupt kein Rankommen. Nachdem das war und sie sich aufgeregt hat ber Mattis und wir uns darber unterhalten haben, hat sie mir auch viel mehr erzhlt, was der Vater alles angestellt hat mit der Mutter und wie sauer sie war, und dass sie eigentlich wollte, dass die Mutter sich trennt von ihm. Und da hat sie erst angefangen darber zu erzhlen und da hab ich erst geschnallt, wie parentifiziert sie war und wie sie ihre Mutter beschtzt hat die ganze Zeit« (A).

Bei diesem direkt aufgezeichneten Beispiel wird ersichtlich, welchen Nutzen Patientin und Therapeutin aus der Lektre des Buches bzw. aus dem danach gefhrten Gesprch ber die Geschichte und ihre Protagonisten ziehen kçnnen. Die Patientin fhlt sich emotional ergriffen und in ihren Gedanken, Phantasien und Plnen (gemeinsame Wohnungsplne mit dem Freund)

Auf der Suche nach der sexuellen Identitt: Marsmdchen

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kognitiv angeregt, whrend die Therapeutin durch die Frage nach »der negativen Identifikation« ihr psychodynamisches Verstndnis von der Patientin erheblich erweitern kann.

7.6 Auf der Suche nach der sexuellen Identitt: Marsmdchen »Marsmdchen« wurde sechs Mal ausgewhlt. Es stieß in erster Linie auf Grund seiner Aktualitt und der Zielgruppe adoleszenter Mdchen, die sich mit dem Identittsthema beschftigen, bei den Experten auf Interesse. Die Form der Ich-Erzhlung trug vermutlich dazu bei, bei den Klient/innen starke Identifikationsbzw. Abwehrreaktionen auszulçsen. Eine Expertin berichtete, dass sie das Buch gern einer jugendlichen Patientin gegeben htte, aber davon Abstand genommen habe, weil in dem Buch die Heldin eine lesbische Beziehung einginge und sie die Patientin dadurch nicht verprellen wolle. Eine andere Expertin berichtete von ihren eher schwierigen Erfahrungen mit dem Buch bei einer 18-jhrigen Patientin, die mit dem Buch und der Heldin nichts habe anfangen kçnnen und sich offenbar zustzlich von dem Medium Buch stark berfordert fhlte. »Das ›Marsmdchen‹ hab ich bei zwei 18-Jhrigen angesprochen. Die eine hat eine posttraumatische Belastungsstçrung, aber im Vordergrund steht eigentlich, dass sie so ein ganz selbstunsicheres Mdchen ist, das große Schwierigkeiten hat, sich in Beziehungen zu binden […] und immer zutiefst verunsichert ist […] wer sie eigentlich ist und was sie eigentlich will. […] Da hatte ich sie in zwei, drei Gesprchen mal auf das Buch angesprochen und ihr auch angeboten, das mal auszuleihen […], fand sie nicht interessant, da hatte ich so das Gefhl, da hat sie richtig abgeschaltet. Nun ist das auch ein Mdchen, das mit Literatur nicht viel anfangen kann. […] Ich dachte, es ist vielleicht auch ein Mittel, um mit ihr ins Gesprch zu kommen, weil die so sehr große Schwierigkeiten hat, sich mitzuteilen. […] Ich glaube, die war berfordert und das ist sie ganz schnell und ganz leicht, da kommen wir çfter an den Punkt, das ist so eine, mit der ich in ganz kleinen Schritten arbeiten muss« (C).

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Die Arbeit mit den Bchern

Dieser erfolglose Versuch, ber das Medium Buch ein therapeutisches Gesprch in Gang zu bringen, zeigt wie die bereits in den Experteninterviews sich çfter manifestierende Beobachtung, dass Bcher und Lesen gerade fr kognitiv schwcher begabte Kinder und Jugendliche mit einem enormen Leistungsdruck verbunden sind und eine »ffnung« eher hemmen denn fçrdern. Dieses fhrt zu der Hypothese, dass in solchen Fllen Literatur im therapeutisch-beraterischen Kontext eher erzhlt und Patienten nicht unbedingt zum Selber-Lesen aufgefordert werden sollten, um so Misserfolgserlebnisse, berforderungs- und Schamgefhle zu vermeiden. Eine andere Expertin gab das Buch mehreren Patientinnen mit unterschiedlichen Stçrungsbildern, die aber alle mit Schchternheit und Selbstunsicherheit zu kmpfen hatten und sich stark mit der jugendlichen Heldin identifizierten. Die Expertin nutzte den Roman zum einen, um diese Gefhle zu entpathologisieren und als »normal« im Rahmen einer adoleszenten Entwicklung einzustufen, was fr die Patientinnen offensichtlich eine entlastende Funktion hatte. Bei einer Patientin fhrte das Buch zur Offenlegung einer sexuellen Identitts- und Orientierungskrise und zur Enttabuisierung des Themas Homosexualitt. »Also ich habe das Marsmdchenbuch mehreren Patientinnen gegeben, die zwischen 14 und 17 waren, insgesamt waren es fnf. Die haben es selber gelesen und das sind Patientinnen, die so schchtern, so zurckgezogen waren. Bei einer Patientin ging es um so eine sexuelle Identittskrise. Und die haben das dann gelesen und ich hab es mit ihnen hinterher in dem Sinne ausgewertet, dass das eigentlich ganz normal ist, dass man, wenn man jugendlich ist, in ganz vielen Situationen superunsicher ist. Dafr fand ich das total praktisch, dass das nicht krankheitsbedingt so ist, sondern dass das eine ganz normale Situation ist und das konnte ich nach diesem Buch eigentlich immer ganz gut nachbesprechen. […] Also ich habe der Patientin mit der sexuellen Identittskrise das gegeben und gesagt: ›also ich habe so den Eindruck, vielleicht hat dieses Mdchen hnliche Gedanken wie du oder hnliche Probleme‹, und ob sie das mal lesen kann. Und dann hat die das gelesen, kam dann zum nchsten Termin eine Woche spter und hat gesagt, ja, und das Ende fand sie total blçd und sie ist außerdem ganz anders. […] Und sie hat gesagt, sie wrde sich nie schminken und sie wrde sich auch nie die Haare schçn machen und sie sei auch gar nicht schçn und dann hab ich gesagt, ›na ich hab gedacht, ihr seid euch ganz schçn hnlich,

So’n Scheiß les’ ich nicht«: Harry Potter

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weil du dich nmlich viele Sachen auch gar nicht traust, weil du dir Gedanken ber Sachen machst und keinem das erzhlst‹. Wir sind dann ganz gut ins Gesprch gekommen. […] Und die hat mir dann nmlich erzhlt, dass es keiner wissen darf, dass sie lesbisch ist. Das war sozusagen der Aufhnger an dieses Problem, dieses Geheimnis ranzukommen. […] Na ja, ich hatte zwar eine Idee, dass da irgendwas im Gange ist, aber dass das so klar ist, hat mich dann doch berrascht« (P).

Bei diesem Fallbeispiel leitet das therapeutische Gesprch ber die Lektre von »Marsmdchen« einen ganz klaren und entscheidenden Wendepunkt in der Therapie ein. Die Geschichte fungiert als »ffner« eines zentralen bislang tabuisierten Konfliktes, in dem sich die Patientin befindet – zwischen ihren sexuellen Neigungen und ihren daraus resultierenden Schamgefhlen. Es wre sicherlich vermessen, von der Verwendung des Mediums Kinder- und Jugendliteratur generell so spektakulre Effekte im beraterisch-therapeutischen Prozess zu erwarten, dennoch wird anhand dieser berichteten Passage die potentielle Kraft des Mediums im therapeutischen Kontext deutlich.

7.7 »So’n Scheiß les’ ich nicht«: Harry Potter und der Orden des Phçnix Harry Potter wurde nur von zwei Experten ausgewhlt. Einige Experten schreckten vor dem großen Umfang des Buches zurck und sahen es auch aus diesem Grunde als nur schwer einsetzbar an. Eine Expertin berichtete, sie habe es schwierig gefunden, mit dem fnften Band zu arbeiten, nachdem der sechste Band gerade erschienen sei und sich die Kinder und Jugendlichen nur noch fr den letzten Band interessierten. Eine andere Expertin erzhlte, dass sie zwar nicht mit dem fnften Band, aber dafr verstrkt mit dem dritten Band bzw. mit dem in diesem Band beschriebenen »Patronuszauber« gearbeitet habe; sie habe gute Erfahrungen damit gemacht, wenn Kinder unter ngsten litten, mit diesen einen eigenen »Patronus« als guten inneren Beistand zu kreieren. Ein Experte schilderte die deutliche Ablehnung eines Jugendlichen, dem diese Art von Fantasy zu kindisch gewesen sei.

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Die Arbeit mit den Bchern

»Harry Potter wollte ich einem Jugendlichen anbieten und der hat rundheraus gesagt: ›So’n Scheiß les’ ich nicht.‹ Also der interessiert sich schon fr Fantasy, aber auf einer anderen Ebene, der wollte dann mehr so die Erwachsenengeschichten, ›Herr der Ringe‹ und so was« (B).

In einem anderen Fall motivierte jedoch der Roman einen sich selbst als leseunwillig beschreibenden Jugendlichen, ein tausendseitiges Buch tatschlich zu lesen; so konnte er sich selbst davon berzeugen, dass er diese Ttigkeit gar nicht so schlecht beherrscht, und auf diese Weise eine Korrektur in seinem Selbstbild vornehmen. Darber hinaus intensivierte laut dem Experten das Sprechen ber ein gemeinsam gelesenes Buch die therapeutische Beziehung und regte zudem das Gesprch ber Sehnschte und Wnsche an. »Da kam Harry Potter ins Gesprch. […] Und als ich ihn dann gefragt habe, ob er Harry Potter denn schon mal gelesen hat und dann stellte sich raus, dass er sich den Orden des Phçnix gerade gekauft oder gewnscht hatte. Jedenfalls hatte er das Buch, und dann habe ich ein bisschen dazu gefragt, und dann hat er erzhlt, dass er nur die ersten 100 Seiten gelesen und es dann wieder weggelegt hat. Und dann haben wir uns ein bisschen darber unterhalten, was bis dahin geschehen ist, und da ich wusste, dass er sich sehr fr Mdchen interessiert, hab ich ihn dann gefragt, ob er schon an der Stelle war, wo Harry Potter sich verliebt hat. Und da meinte er ›nee‹, aber da wurde er ganz hellhçrig und da hab ich ihm ein bisschen was erzhlt, dass er sich in ein Mdchen verliebt und dass die sich auch irgendwann kssen, und da war er ganz Feuer und Flamme und wollte unbedingt weiterlesen. Und dann hat er es auch innerhalb der nchsten paar Wochen zu Ende gelesen, ja sogar relativ schnell. Das hat dann dazu gefhrt, dass wir uns so ein paar Stunden immer darber unterhalten haben, was da passiert ist, also es ist auf jeden Fall ein Kontakt ber das Buch zustande gekommen. […] Also das war so, dass ich immer mal so gefragt habe, wo er gerade so ist, in dem Buch. Einerseits war ganz spannend, dass er dann doch gut und relativ schnell gelesen hat, wo er doch erst gesagt hat, dass er nicht gut liest, und dann auch so erzhlt hat, dass er auch nachts die halbe Nacht gelesen hat und deswegen so mde ist und so. Und das fand ich irgendwie ganz toll, dass dann dadurch so was angeregt wurde. […] Und dann haben wir auch so ein bisschen gesponnen darber, was er denn machen wrde, wenn er zaubern kçnnte, und dann […] ging es so um materielle Sachen, die er sich herwnschen wrde, also es ging zum Beispiel um Essen, er hat sich immer

Der mechanische Prinz: »Ne Nummer zu hart?«

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irgendwie Essen gewnscht, ich weiß jetzt gar nicht mehr was, ich glaube, dass er immer Marzipan hat, so Sßigkeiten so« (I).

Anhand dieses geschilderten Falles wird die Vielfltigkeit der Lesarten literarisch komplexer Geschichten erkennbar. Bei meiner unter 5.8 beschriebenen Lesart des »Orden des Phçnix« war die Liebesgeschichte zwischen Harry Potter und Cho Chan nicht der Erwhnung wert, whrend sie fr den oben beschriebenen Klienten den Ausschlag gab, das Selbstbild des Leseunwilligen aufzugeben und sich in die Lektre eines umfangreichen Buches zu begeben. Es bleibt Spekulation, welche anderen Aspekte des Buches den Patienten noch bewegt oder beeindruckt haben; in jedem Falle scheint sich der therapeutische Kontakt durch das Gesprch ber die gelesene Geschichte vertieft und um mehrere Perspektiven (eigene Potentiale, Wnsche etc.) erweitert zu haben.

7.8 Der mechanische Prinz: »Ne Nummer zu hart?« »Der mechanische Prinz« wurde sechs Mal ausgewhlt und weckte zum einen auf Grund des aktuellen Erscheinungsdatums und zum anderen wegen der beschriebenen Thematik das Interesse der Experten. Der elfjhrige Held Max wurde von den Experten als der Prototyp einer im therapeutischen Setting oftmals nur schwer erreichbaren Klientengruppe angesehen. Die von mir als zum Teil sehr durchsichtig empfundene »kathartische« Heldenreise durch die inneren Emotionen wurde im Gegensatz dazu von Experten und ihren Klient/innen durchweg als sehr beeindruckend, fesselnd und berhrend beschrieben; es zeichnete sich ab, dass der Roman in seiner Rezeption einerseits nur wenig Distanzierung erlaubte aber andererseits auch die Beschftigung mit den eigenen existentiellen ngsten und Nçten provozierte und ermçglichte. Eine Expertin berichtete, dass sie einem zwçlfjhrigen Klienten, bei dem sie das Gefhl hatte, er fhle sich hnlich wie der Protagonist »egal« und unbedeutend, aus dem Roman vorgelesen habe und ihn dadurch ihrer Einschtzung nach zwar berhrt, in erster Linie aber verstçrt habe.

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»Ich hab das einem Jungen vorgelesen, der ist zwçlf. […] Und wir hatten schon zusammen rausgefunden, dass er in der Schule der Oberdazwischenquatscher ist. […] Also er muss halt immer sein Maul aufmachen um zu sagen, dass er da ist, und dann haben wir angefangen zu spielen und dann hab ich ihm gesagt, komm, ich les dir mal was vor, von einem Jungen, der vielleicht so ein hnliches Gefhl hat wie du. Und dann hab ich ihm die Stelle vorgelesen, wo Max dieses Mdchen im Kiosk trifft und ihr von dem Gefhl erzhlt, er sei seinen Eltern scheißegal, und er weiß noch nicht mal, ob seine Mutter bei der Geburt dabei gewesen sei. Und er hat zugehçrt und er ist ganz, ganz still geworden, ganz traurig, und hat dann gesagt, ich soll jetzt aufhçren zu lesen, und hat dann auch nichts mehr dazu gesagt. Dann war die Stunde zu Ende, er hat mir fast nicht mehr die Hand gegeben, ich habe sie mir sozusagen greifen mssen, und ich habe gefragt, ›was ist jetzt‹, und er hat gesagt, ›es ist alles okay, ich fand’s jetzt blçd, dass wir in diesem Zimmer jetzt haben spielen mssen‹, und ist dann gegangen. Also bei ihm ist, glaube ich, ganz viel angekommen, und als er dann wiederkam, war das okay zwischen uns, in Ordnung von der Beziehung her, und dann hab ich ihn noch mal gefragt und dann hat er gesagt, er will darber nicht mehr reden und er will auch von dem Buch nichts mehr sehen und hçren. […] Also ich hab ihm da definitiv einen bergebraten, was ’ne Nummer zu hart war« (J).

Bei diesem Fallbeispiel wird deutlich, wie der Klient von der Geschichte bzw. von den beim Vorlesen entstehenden Emotionen berschwemmt wird, sich vermutlich berwltigt fhlt und seine Distanzierungsmechanismen nicht mehr greifen. Es kann darber spekuliert werden, ob diese starke affektive Berhrung langfristig im therapeutischen Prozess nochmals aufgegriffen und sich als fruchtbar erweisen kann. Aus den Schilderungen der Expertin zum Zeitpunkt des Interviews lsst sich nur herauslesen, dass eine Kommunikation ber die Geschichte auf Grund der zu großen Dichte und Wucht im Anschluss nicht mçglich war. Eine andere Expertin schilderte hingegen, wie mit Hilfe dieses Buches bei einem elfjhrigen kontaktvermeidenden Jungen ein sehr kreativer Prozess in Gang gesetzt werden konnte. Fr den Patienten war es durch die Auseinandersetzung mit dem Roman offensichtlich mçglich, sich mit belastendem Material auf eine fr ihn ertrgliche Art und Weise zu beschftigen. Anhand des folgenden Beispiels wird deutlich, inwiefern Bcher oder Geschichten genutzt werden kçnnen, nicht nur Gesprche ber

Der mechanische Prinz: »Ne Nummer zu hart?«

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bestimmte Themen anzuregen, sondern auch auf einer sehr spielerischen Ebene Gefhle zu inszenieren. »Ja, und bei dem mechanischen Prinzen […] Ich habe so einen Jungen, der ist jetzt elf, ganz schwierig finde ich, sehr, sehr schlau, sehr, sehr klug, aber in seinem Sozialverhalten sehr auffllig. Ich habe ihn schon ziemlich lange. […] Er eckte in der Schule an, schon so ein Kind, wo ich beim Lesen des Buches gedacht habe, der steht schon auf der Kippe, der kçnnte das ganz wunderbar machen, der kçnnte aber auch total abstrzen und sich jede Menge rger einhandeln, und seine Zukunft sich so ein Stckchen versauen. Also z. B. dass der sehr klug ist, aber es nicht klar ist, ob der zum Gymnasium wechseln kann. Man kann sich sehr gut mit ihm unterhalten und er kann auch sehr gut reflektieren, aber macht dann jeden guten Kontakt, den man hat, durch einen Witz oder eine blçde Bemerkung zunichte, so dass man wieder von vorne anfangen muss, und gleichzeitig gibt es was ganz Inniges und sehr viel Sehnsucht nach Bindung usw. […] Dem hab ich das Buch als Hausaufgabe mit in die Sommerferien gegeben, da war ja dann lange Therapiepause von sechs Wochen, und das sollte er dann lesen. Fand er ganz doof, ich hab gesagt ›musste lesen, ist deine Hausaufgabe.‹ […] Und dann kam er zurck und dann sagte er, er htte sich so gergert und er wollte es gar nicht lesen, dann htte er doch angefangen und dann hatte er zwei Drittel gelesen, er war noch nicht ganz fertig, aber es sei ja total spannend. Also der fand das ganz toll, das war schçn, weil ich finde es ja auch toll. Und dann haben wir angefangen, nachdem er das ganz gelesen hatte. Also er hat dann angefangen, Stationen zu bauen von dem goldenen Ticket. Also ich habe so einen Sandkasten, mit allem mçglichen Material, Bausteine, Playmobilfiguren, Tiere, Muscheln und Steine, solche Dinge, so dass er viele Stunden damit verbracht hat, eigene Stationen zu bauen. Wir haben die dann fotografiert, ich habe die dann aufgenommen, so mit der berlegung, wenn er dann alle Stationen gebaut hat, ein eigenes Buch zu machen, dass ich die Fotos dann entwickle und ich die dann aufklebe und dann was dazu schreibe. Das hat ganz viel Spaß gemacht und ich fand das sehr wertvoll, noch mal um so ein Stck Einblick zu kriegen, wie es in ihm vorgeht. Ich hab dann manches auch besser verstanden, zum Beispiel hat er … ein Mare latritium, latritium sagt er immer, gebaut, anfangs wieder mit sehr viel Liebe, sehr einsam, ganz çde und dann gab es da so Spuren im Sand, die sich so verloren, und ein Kind, was dann so auf die Erde fiel. Und dann kam wieder der Witz, dann geht er ans Regal und nimmt eine Kaffeekanne und stellt sie dahin und sagt, das wrde jetzt aber gut passen. […] Und da haben wir aber anschließend ganz gut darber reden kçnnen, wie es ist, sich einsam und verloren zu fhlen und wie schlecht man das aushalten kann, dass es immer besser ist, man kann kmpfen und

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Die Arbeit mit den Bchern

was tun, als in dnis und Einsamkeit zu sein und verloren zu sein. […] Da ist eine fruchtbare Arbeit entstanden, wo wir auch noch gar nicht ganz fertig sind. Wir hatten jetzt eine kurze Pause, da ging es um was Anderes, aber wo er dann sagte, nein, er ist noch nicht fertig, er will das das nchste Mal noch mal neu bauen« (E).

Bei diesem geschilderten Beispiel gelingt es der Therapeutin, die bei ihrem Patienten durch die Rezeption des Buches offensichtlich ausgelçsten Gefhle mit Hilfe eines anderen Mediums – des therapeutischen Sandkastens – zu kanalisieren. Es ist anzunehmen, dass der eher zur Rationalisierung und Intellektualisierung neigende Klient sich durch die Identifikation mit Max hat anregen lassen, seine innere, emotionale Landschaft zu beleben bzw. besser zu spren und ihr mit Hilfe konkreter Spielhandlungen Audruck zu verleihen. Indem die Therapeutin die geschaffenen »Sandwerke« fotografiert, erteilt sie ihnen – und somit natrlich auch ihrem Klienten – eine besondere Wertschtzung und unterstreicht dabei gleichzeitig ihren Status eines knstlerischen, sublimierten Produkts, das wiederum dem Klienten eine ertrgliche Distanzierung von seinen bloßgelegten Affekten und ein Gesprch ber die Verbindung zwischen dem Dargestellten und seiner Person ermçglicht.

7.9 »Das Gefhl, ihm was gegeben zu haben …«: About a Boy »About a Boy« wurde drei Mal ausgewhlt. Ein Experte berichtete, er habe das Buch zwar nicht direkt im therapeutischen Setting eingesetzt, es habe ihn aber stark fr das Thema »Kinder psychisch belasteter Menschen« sensibilisiert; nach der Lektre exploriere er in solchen Familien die Belastungen der Kinder noch genauer und sorgfltiger als vorher. Eine andere Expertin, die das Buch selbst als »emotional sehr dicht« empfand, machte bei der Verwendung des Buches in der Arbeit mit einem Patienten die Erfahrung, dass dieser durch zu große Nhe zu der Identifikationsfigur emotional berfordert war.

7.9 »Das Gefhl, ihm was gegeben zu haben …«:About a Boy

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»›About a Boy‹, da hatte ich einen [dreizehnjhrigen] Jungen, bei dem habe ich das abgebrochen. […] Dem habe ich Kapitel vorgelesen. […] Es war so, dass seine Mutter ihn emotional berfordert, das ist eine alleinerziehende Mutter. […] Ich denke, der ist so unter Strom, weil die Mutter […] sehr emotional und sehr dicht an ihm dran ist und immer wieder versucht, alles mit ihm durchzudiskutieren. […] Wo die Stelle kam mit der Selbstmorddrohung, das war dem zuviel, der wollte nicht mehr zuhçren, und da habe ich schon gedacht, na dann lasse ich es lieber. […] Es ist fast noch mal das Gleiche, weil das Buch auch sehr emotional und sehr dicht ist. […] Der wurde ungeduldig, […] beim Lesen an den Stellen zappeliger, manchmal hat er ganz intensiv zugehçrt und denn. […] Bei dem Jungen, das war zu hnlich, fand ich, der hat sich zuviel identifiziert mit dem [Marcus]« (A).

Anhand dieser Schilderung wird deutlich, dass die Expertin noch whrend des Vorlesens die berdeutliche Parallele zwischen ihrem Patienten und dem Protagonisten registriert und diese Nhe selbst als unpassend bzw. emotional berfordernd bewertet. Sie bricht die Lektre ab und entlastet somit ihren Patienten von der Aufgabe, sich selbst bermßig abgrenzen zu mssen. Dieses Beispiel zeigt ein ußerst verantwortungsvolles und ausreichend behutsames Vorgehen mit der im beraterisch-therapeutischen Kontext eher unterschtzten emotionalen Sprengkraft fiktiver Literatur. Bei einem anderen Patienten kam dieselbe Expertin zu der Einschtzung, dass die Lektre des Buches ihn dazu anregte, sich mit dem Thema der Anpassung auseinanderzusetzen, und zudem, dass dieses Buch fr ihn in einer schwierigen Zeit ein wertvolles »bergangsobjekt« gewesen sei. »Und dann habe ich das mit einem anderen Jungen gemacht, der war 15. […] Die Stiefmutter wollte den nicht mehr haben, der Vater auch nicht mehr. […] Und bei dem war so der Aufhnger, so ein Sonderling zu sein und etwas abseits zu sein, und ihm ist es total wichtig, um jeden Preis in der Gruppe mitzuschwimmen und akzeptiert zu werden. Und da war das total interessant dieses Kapitel, wo Marcus immer laut im Unterricht singt, die Lehrerin ihn auch zur Schau stellt, ihn da zu fragen, ob er das auch kennt und wie es ihm dabei ergangen ist und was er dem Marcus fr einen Rat geben wrde. Und da hat mich auch sehr berrascht, dass er gesagt hat – er hat schon gesagt ›anpassen, der muss sehen, dass er ›ne Frisur kriegt‹ […], aber dass er sich den anderen Jungs nicht anschließen wrde, und man

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Die Arbeit mit den Bchern

msse bei seiner eigenen Meinung bleiben. Und das ist was, was dem total schwer fllt, einfach weil der soviel Druck hat. […] Aber das Schçnste war, und da hab ich gedacht, Mann, da gibt man den Kindern echt was, wenn man denen ein Buch gibt. […] Da habe ich den gefragt, ›na willst du denn weiterlesen und ich kann es dir gerne leihen‹, […] und dann kam ich in der schlimmsten Zeit, als klar war, der geht nicht nach Hause zurck, da war der noch allein in seinem Zimmer […] und dann lag er da und hat das Buch gelesen, […] irgendwie hatte ich da das Gefhl, dass ich ihm was gegeben habe, weil der sonst auch nicht liest« (A).

Bei diesem Fallbeispiel wird zweierlei deutlich: Angeregt durch die teilweise gemeinsame Rezeption der Geschichte kann ein bis dato zwischen Therapeutin und Patient nur schwer verbalisierbares Thema – der Wunsch, um jeden Preis dazuzugehçren – aufgegriffen und neu verhandelt werden. Die Therapeutin lsst sich von der Interpretation des Patienten berraschen und lernt neue Seiten bzw. Denkweisen von ihm kennen, wodurch der therapeutische Prozess neu belebt werden kann. Darber hinaus zeichnet sich anhand dieses Beispiels die potentiell verbindende Kraft des Mediums Buch in der beraterisch-therapeutischen Beziehung ab. Das Buch als Leihgabe an den Patienten, das ihm auch in der Abwesenheit des Therapeuten vermitteln kann, dass er gesehen wird, kann als »sptes bergangsobjekt« die therapeutische Beziehung strken und Trennungs- und Verlassenheitsgefhle lindern.

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Geschichten haben eine trçstende, von eigenem Kummer ablenkende Funktion. Sie vermitteln die beglckende Erfahrung, in fremde, phantastische Welten entfhrt zu werden, an dem Leben mutiger Helden teilzuhaben oder sich in diese hineinversetzen zu kçnnen. Sie induzieren Mitgefhl oder Bedauern, wenn den Hauptfiguren der Geschichte etwas zustçßt oder sie sich in brenzligen Situationen enttuschend kleinherzig verhalten. Die Idee, die mich zu diesem Buch bewogen hat, bestand darin, die trçstliche und welterweiternde Wirkung besonders geeignet erscheinender Kinder- und Jugendbcher im Kontext von Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen zu untersuchen. Im Zentrum dieses Buches stand die Frage nach der Verwendbarkeit kinder- und jugendliterarischer Texte in der beratenden und psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie der von Experten eingeschtzte Nutzen bzw. die Grenzen dieses methodischen Ansatzes. Vorab wurde angenommen, dass eine Vielzahl nicht zu therapeutischen Zwecken geschriebener Kinder- und Jugendbcher bei ihrer Rezeption im beraterisch-therapeutischen Kontext Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit fçrdern sowie bedeutsame emotionale Prozesse anregen und dynamisieren kçnnen. Insgesamt ergaben sich in Bezug auf die Fragestellung folgende Schlussfolgerungen: 1. Die Experten ließen sich bei der Auswahl der Bcher entweder von ihrem persçnlichen Resonanzerleben auf die gelesenen Inhaltsangaben leiten (therapeutenbezogene Bcherauswahl) oder berlegten bereits gezielt, welches Buch zu welchem

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Zusammenfassung und Ausblick

Klienten passen kçnnte (patientenbezogene Bcherauswahl). Bei der Auswertung der Interviews ließ sich kein Zusammenhang zwischen den Auswahlkriterien und dem Erfolg beim Einsatz des Mediums im beraterisch-therapeutisch Kontext herstellen. Der Akt des Vorlesens wird von den Experten als Mçglichkeit angesehen, in der therapeutischen Beziehung Nhe herzustellen und den Patient/innen Wertschtzung und Zuwendung zu vermitteln sowie in Gruppen die Aufmerksamkeit von Patienten mit sehr unterschiedlichen Stçrungsbildern zu binden. Einschrnkend muss vermerkt werden, dass nach Einschtzung einiger Experten jugendliche Patient/innen sich durch Vorlesen im Behandlungs- bzw. Beratungssetting manipuliert oder bedrngt fhlen kçnnen. Die Experten weisen daraufhin, dass Patient/innen, fr die Lesen in erster Linie mit schulischem Leistungsdruck verbunden sei, im beraterisch-therapeutischen Kontext nur schwer zum Selbstlesen animiert werden kçnnen; die Aufforderung zum Lesen kçnne, wenn Patient/innen befrchteten, den an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht zu werden, auch eine kognitive und emotionale berforderung von Patient/innen darstellen und sich so negativ auf den Behandlungsprozess auswirken. Insbesondere fr diese Klient/innen kçnnte die Einbeziehung anderer Medien (Filme, Fernsehserien, Computerspiele) eine weitere Behandlungsmçglichkeit sein, die bislang noch weitgehend unausgeschçpft ist. Die Einbeziehung von Kinder- und Jugendliteratur im therapeutischen Gruppensetting ergab nach Einschtzung von Experten eine Strkung der Gruppenkohrenz, eine Fçrderung der Empathie der einzelnen Gruppenmitglieder freinander sowie die Mçglichkeit, anhand des Gelesenen ber intime oder tabuisierte Themen zu sprechen, ohne diese unmittelbar als persçnliche Anliegen çffentlich machen zu mssen. Die Experten halten die Verwendung von kinder- und jugendliterarischen Texten insgesamt fr eine bereichernde Erweiterung ihres Methodenspektrums; ber die gemeinsa-

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me Beschftigung mit einer Geschichte kçnne eine starke Verbindung zwischen Therapeutin und Klientin entstehen und ber die Identifikation mit bzw. Abgrenzung von den literarischen Protagonisten der Zugang zu unbewussten Themen und Konflikten erleichtert werden. Der Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur im beraterisch-therapeutischen Kontext kann nach Einschtzung der Experten insbesondere dazu dienen, bei den Patient/innen die Fhigkeit zu fçrdern, sich von emotional bedrngenden Problemen zu distanzieren, und weiterhin die Verbalisierung von belastenden und konfliktbehafteten Themen zu untersttzen. Die Experten gelangten darber hinaus zu der Auffassung, dass durch die Beschftigung mit Kinder- und Jugendliteratur der Zugang zu kindlichen bzw. jugendlichen Lebenswelten erheblich erweitert werden kçnne. 6. Eine Gefahr bei der Verwendung des Mediums stellt nach Ansicht der Experten die Einfhrung einer »fremden Geschichte« dar, durch die sich der Patient falsch oder auch zu gut verstanden fhlen kçnne; in letzterem Falle kçnne sich der Patient durchschaut oder beschmt fhlen und aus diesem Grund eine Abwehrhaltung entwickeln. Eine weitere Schwierigkeit besteht nach Meinung der Experten darin, dass es einer relativ breiten Kenntnis von Kinder- und Jugendliteratur bedrfe, um fr den jeweiligen Patienten ein passendes Buch oder eine Geschichte auszuwhlen. 7. Die befragten Experten kamen zu dem Ergebnis, dass literarische Texte nicht stçrungsspezifisch eingesetzt werden kçnnen und sich nicht bestimmten Krankheitsbildern zuordnen lassen, sondern dass die verwendete Literatur sehr individuell zu der Patientenpersçnlichkeit passen msse. Aus den Schilderungen der konkreten Arbeit mit den Bchern wurde darber hinaus deutlich, dass Alter und Geschlecht der literarischen Helden dazu beitragen, die Identifikation mit ihnen zu erleichtern bzw. zu erschweren. Insgesamt spielt der persçnliche Zugang des Therapeuten zum Medium eine wesentliche Rolle; es bedarf einerseits der persçnlichen Begeisterung, um auf dieses im beraterisch-thera-

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peutischen Kontext bislang nicht besonders gebruchliche Medium zurckzugreifen, und andererseits einer ausreichend distanzierten Haltung, um auf eine mçgliche Ablehnung auf das Medium seitens der Klient/innen elastisch und nicht mit Krnkung zu reagieren. Was folgt aus diesen Ergebnissen, die sich auf die empirische Basis von 32 Experteninterviews sttzen, fr die anfangs gestellte Forschungsfrage? Eignen sich kinder- und jugendliterarische Texte fr die praktische Arbeit im beraterisch-therapeutischen Kontext? Welche neuen Erkenntnisse lassen sich aus dieser Untersuchung ableiten? Aus der bibliotherapeutischen und literaturwissenschaftlichen Forschung ergeben sich zahlreiche Hinweise, dass literarische Texte ein hohes Potential besitzen, zu berhren, emotionale Prozesse in Gang zu setzen und zu katalysieren. Inwiefern lsst sich die bereits bestehende Erkenntnis von Pdagogen und Literaturdidakten, dass durch die Beschftigung mit Literatur Empathie- und Introspektionsfhigkeit sowie die Fhigkeit zur Perspektivbernahme gefçrdert werden kçnnen (vgl. z. B. Spinner, 2001; Hurrelmann, 1998), auch auf den beraterisch-therapeutischen Kontext anwenden? Aus den im Rahmen dieser Untersuchung geschilderten Erfahrungen der Experten lsst sich zunchst ablesen, dass sich das Medium Kinder- und Jugendbuch in der beraterisch-therapeutischen Arbeit mit Verhaltensaufflligen und in ihrer Symbolisierungs- und Imaginationsfhigkeit oftmals stark beeintrchtigten Kindern und Jugendlichen unter Beachtung spezifischer Bedingungen als sehr fruchtbar erweisen kann. Im Rahmen des Einzelsettings liegt die besondere Strke des Mediums Kinder- und Jugendliteratur darin, dass Therapeut und Patient ber etwas Drittes, fr das sie mçglicherweise eine hnliche Begeisterung entfalten, kommunizieren kçnnen, und auf dieser Ebene – zum Beispiel durch Externalisierung – ein behutsamer Zugang zu Emotionen, Phantasien und Wnschen des Patienten hergestellt werden kann. Die oben genannten spezifischen Bedingungen beziehen sich zum einen auf die Textauswahl und zum anderen auf den im beraterisch-therapeutischen Einzelsetting sensiblen Punkt der Identifikation.

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Besonders bei noch fragilen Beziehungen eignen sich Texte, die sich gerade nicht auf fr den Patienten konflikthafte Themen beziehen, sondern vielmehr ein Gesprch ber das Gehçrte oder Gelesene anregen, das dazu dienen kann, eine weitere Ebene in der Beziehung herzustellen. Durch die Arbeit mit Texten kçnnen affektiv sehr durchlssige Patient/innen dazu verleitet werden, sie berfordernde Emotionen zuzulassen. Kinder- und jugendliterarische Texte, bei denen der Behandler absehen kann, dass diese den Patienten stark berhren und zu einer Auseinandersetzung mit belastenden Themen fhren kçnnen, kçnnen meines Erachtens nur dann nutzbringend und konstruktiv eingesetzt werden, wenn im Einzelsetting bereits eine einigermaßen stabile und tragfhige therapeutische Beziehung und ein Klima besteht, in dem es auch mçglich ist, ber Krnkungen und Missverstndnisse zu sprechen. Gelingt im Rahmen der Rezeption bzw. der Anschlusskommunikation zwischen Berater und Klient eine Identifikation mit einem geschtzten oder auch bewunderten Helden, empfinden es die Patienten offenbar als große Wertschtzung seitens der Behandler, mit diesem Helden in Verbindung gebracht zu werden. In diesen Fllen wird die therapeutische Beziehung gestrkt und kann bezglich der Anknpfung an kindliche und jugendliche Lebenswelten erweitert werden. Entwickelt der Patient jedoch eine berwiegend negative und ablehnende Haltung gegenber dem Helden, besteht die Gefahr, dass der Patient es dem Behandler bel nimmt, dass dieser anscheinend hnlichkeiten zwischen dem Helden und dem Patienten sieht. Auf diese Weise kann es zu Irritationen oder auch zu Distanzierungen in der therapeutischen Beziehung kommen, die sich abhngig von der Stabilitt der bereits bestehenden Beziehung negativ auswirken oder aber auch zu einer Intensivierung des Dialogs – zum Beispiel ber das Phnomen des »Sich-nicht-verstanden-Fhlens« – zwischen Behandler und Patient fhren kçnnen. Im Einzelsetting bewegt sich die therapeutisch-beraterische Arbeit mit dem Medium Buch also auf einem schmalen Grat; die Patient/innen fhlen sich entweder gesehen, verstanden und vielleicht sogar getrçstet, oder aber durchschaut, beschmt und berfordert. Im Gruppensetting scheint die Arbeit mit solchen

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Texten dagegen weniger brisant und eher dazu zu ermutigen, sich schneller und leichter mit problembehafteten Themen auseinanderzusetzen. Hier ermçglicht das Gesprch ber einen literarischen Text, intime und heikle Themen anzusprechen, ohne dass sich die einzelnen Patient/innen dabei vor den anderen Gruppenmitgliedern eine Blçße geben mssten. Leider ergaben sich aus den Experteninterviews fast keine Hinweise auf die Verwendung von Kinder- und Jugendliteratur in Familien- oder Elterngesprchen, auch wenn mehrere Experten angaben, dies in Zukunft einmal ausprobieren zu wollen. Insgesamt lsst sich aus den Ergebnissen der empirischen Untersuchung schlussfolgern, dass das Medium Kinder- und Jugendliteratur im beraterisch-therapeutischen Kontext eine positiv wirksame Methode darstellt, wenn sich die damit arbeitenden Behandler zuvor mit den mçglichen Nebenwirkungen und Kontraindikationen befasst haben. Fr die weitere Forschung erscheint es zum einen lohnenswert, die Arbeit mit Kinder- und Jugendliteratur im familientherapeutischen Kontext nher zu betrachten. Dabei stellt sich zunchst die allgemeine Frage, ob durch das gemeinsame Lesen von durch den Therapeuten vorgeschlagenen Bchern bzw. Geschichten die familire Kommunikation angeregt oder die Kommunikationsstruktur sogar verbessert werden kçnnte. Darber hinaus wre insbesondere interessant zu untersuchen, ob bei eher kommunikationsarmen Familien auf diese Weise das Gesprch ber Wahrnehmungen und Gefhle angeregt und Sprachlosigkeiten berbrckt werden kçnnten. Bei kommunikationsstarken, aber eher symbiotisch verbundenen Familien kçnnte im therapeutischen Gesprch beispielsweise darauf fokussiert werden, ob unterschiedliche Resonanzen auf die Texte und eventuell daraus resultierende Konflikte wahrgenommen, zugelassen und artikuliert werden kçnnen. Zum anderen erscheint es sinnvoll, die Einbeziehung anderer Medien, wie zum Beispiel Filme, Fernsehserien oder Computerspiele, in den beraterisch-therapeutischen Kontext systematisch zu untersuchen und auch bei der Verwendung dieser Medien den spezifischen Nutzen sowie Einschrnkungen und Gefahren herauszuarbeiten. Eine Schwierigkeit besteht dabei sicherlich in der

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wachsenden Kluft zwischen den Medienkenntnissn von Therapeuten und Beratern einerseits und den Klienten andererseits. In einer zunehmenden Differenzierung und Segmentierung der Welten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nimmt das Ausmaß der gemeinsamen Referenzen ab; whrend in den 1970er Jahren zum Beispiel die Fernsehserie »Bonanza« unterschiedliche Charaktere bereitstellte, die allgemein bekannt waren und auf die man sich beziehen konnte, sind heute die meisten Erwachsenen – ebenso Therapeuten und Berater – mit den Eigenschaften fiktiver Figuren und den zum Teil hochkomplexen und multimedial verwerteten Geschichten nicht mehr vertraut. Diese Phnomene kçnnen zwar beklagt werden; ein interessanter und fruchtbarer Ansatzpunkt aber kçnnte darin liegen, die kindlichen und jugendlichen Klient/innen in ihrer Expertenrolle fr neue und sich weiterentwickelnde Medien ernst zu nehmen und sich als professioneller Helfer bewusst in die Rolle des Lernenden und Unwissenden zu begeben. Die Wertschtzung dieser partiellen, faktischen berlegenheit von Kindern und Jugendlichen durch Therapeuten geschieht in der Praxis zwar schon hufig, ist aber meines Wissens keine in der Therapie und Beratung empirisch berprfte Methode, auf diese Weise das Selbstwertgefhl und die Wahrnehmung eigener Kompetenzen von belasteten Kinder und Jugendlicher zu strken und ihnen auf diese Art und Weise ein echtes Interesse fr den Teil der Lebenswelt zu signalisieren, der den meisten Erwachsenen fremd ist. Dennoch wird das Medium Buch in der Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen durch seine geringe Bildhaftigkeit gegenber anderen moderneren Medien den Vorteil behalten, dass die Klient/innen notwendigerweise innere Bilder entwickeln mssen. So kann die lebensnotwendige Fhigkeit, zu symbolisieren, in besonderer Weise belebt und gefçrdert werden.

Dank

In erster Linie mçchte ich mich bei allen Interviewpartnerinen und Interviewpartnern bedanken, ohne deren Bereitschaft, in einem stressigen Arbeitsalltag etwas Neues auszuprobieren, dieses Buch nicht mçglich gewesen wre. Des Weiteren gilt mein besonderer Dank Prof. Dr. Christoph Wulf und Prof. Dr. Jochen Schweitzer, die mich fachlich und persçnlich untersttzt, begleitet und ermutigt haben. Meiner Freundin und Lektorin Anja Lutter mçchte ich von Herzen fr ihre Unermdlichkeit und Geduld, krude Satzungeheuer aufzulçsen und verstndliche Formulierungen zu finden, danken; ohne sie wre dieses Buch deutlich weniger gut lesbar geworden. Zuletzt bedanke ich mich bei Martin Herberhold, der mich mit viel Liebe und Nachsicht durch die Zeit des Schreibens begleitet hat.

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