Fremd in der eigenen Familie: Wenn sich Kinder von ihren Eltern entfernen [1 ed.] 9783666462825, 9783525462829

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Fremd in der eigenen Familie: Wenn sich Kinder von ihren Eltern entfernen [1 ed.]
 9783666462825, 9783525462829

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LEONIE FEUERBACH

FREMD IN DER ­E IGENEN FAMILIE Wenn sich Kinder von ihren Eltern entfernen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Innengestaltung nach einem Entwurf von Hagen Verleger, Berlin Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, nach einem Entwurf von Hagen Verleger Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2750-6568 ISBN 978-3-666-46282-5

Inhaltsverzeichnis 8

I EINLEITUNG Wieso das Thema »Fremd in der eigenen Familie«? Was charakterisiert die Beziehung erwachsener Kinder zu ihren Eltern?

II POLITIK

24 I n Timurs russlanddeutscher Familie sind Rassismus, Verschwörungsmythen und Esoterik verbreitet. Zu vielen Verwandten hat er den Kontakt abgebrochen – nicht aber zu den Eltern.

30 M  arens Eltern wählen die AfD, der Vater macht Schießübungen im Garten. Den Kontakt hält sie vor allem wegen ihrer Kinder aufrecht.

36 W  as sagen Fachleute zum Umgang mit rechtsextremen Eltern? Jannis Panagiotidis vermutet Gemeinsamkeiten zwischen Ostund Russlanddeutschen, Roland Imhoff rät bestimmte Themen auszusparen und Liane Czeremin, sich der Perspektive der Eltern anzunähern.

45 S ein Vater hat kein Verständnis für Davids Sorgen wegen des Klimawandels, fährt weiter viel Auto und fliegt um die Welt. Das sorgt zunehmend für grundsätzliche Konflikte.

50 D  eboras Eltern sind Alt-68er und haben sie als Kind vernachlässigt. Weil sie ihre Selbstgerechtigkeit nicht mehr ertragen konnte, hat sie den Kontakt zu ihnen abgebrochen.

58 W  as sagen Fachleute zur Beziehung von Kindern und altlinken Eltern? Meike Baader kritisiert, dass den Kindern von 68ern viel zugemutet wurde und Lea Dohm rät, in Debatten um den Klimawandel erst mal zuzuhören.

III MIGRATION 68 A  milas Mutter akzeptiert den deutschen Partner ihrer Tochter nicht. Sie fühlt sich bosniakisch, Amila fühlt sich eher deutsch – und liebt ihre Mutter trotzdem.

74 M  it Cans Coming-out kamen seine Eltern nur schlecht zurecht, sie sind danach in die Türkei zurückgekehrt. Er sieht sie nur noch selten.

80 A  ynurs Eltern wollen ein Enkelkind, das mit muslimischen Traditionen aufwächst. Aynur will kein Kind, kann mit diesen Traditionen nichts anfangen – und distanziert sich immer mehr von den Eltern.

86 W  as wissen Fachleute über Konflikte in Einwandererfamilien? Isabelle Albert ist bewusst, wie schwer es Kinder von Migranten dabei haben, ihren Eltern Grenzen zu setzen und Dicle Özerden hält ein Coming-out im kleinen Familienkreis manchmal für sinnvoll.

IV BILDUNG 96 B  arans Vater, ein Taxifahrer aus dem Iran, wollte immer, dass es sein Sohn einmal besser hat als er – und hat ihn deshalb in der Schulzeit extrem unter Druck gesetzt. Das hat die Beziehung nachhaltig verschlechtert.

102 L  isa ist die erste Akademikerin der Familie. Ihr fällt es schwer zu ertragen, dass ihre Eltern billiges Fleisch und Plastikspielzeug für die Enkel kaufen. Trotzdem hat sie ein enges Verhältnis zu den beiden.

109 W  as sagen Fachleute zur Beziehung von Bildungsaufsteigern und ihren Eltern? Aladin El-Mafaalani weiß, warum sich studierte Arbeiterkinder oft vom Herkunftsmilieu entfremden.

114 P  eters Eltern sind Ärzte, er ist Sachbearbeiter beim Job­center. Sein Bildungsabstieg trägt zur Entfremdung von den Eltern bei.

121 W  as wissen Fachleute über Familiendynamiken bei Bildungsabstiegen? Martin Schmeiser kennt den Vorwurf von Arzt­ kindern, zwar Patienten gut versorgt zu haben, jedoch nicht die eigenen Kinder.

V GLAUBEN 130 A  beba kann mit dem konservativen Islam ihrer Mutter nichts anfangen. Den Kontakt mit ihr hat sie auf das ­Nötigste reduziert.

136 J ulias Eltern sind Freikirchler. Seit sie nicht mehr an Gott glaubt, ist der Umgang mit den beiden noch schwieriger als ohnehin.

142 F  erdinand ist Agnostiker in einer Pfarrersfamilie. Das Verhältnis zu seinen Eltern ist gut, aber distanziert – auch, weil er den Konflikt seit Jahrzehnten umschifft.

148 W  as wissen Fachleute über religiöse Konflikte? Lars Allolio-­ Näcke ist überzeugt, dass sie immer auch Konflikte mit den Eltern sind und Sarah Pohl hat beobachtet, dass sich Kinder oft emotional erst von den Eltern und dann von deren Religion entfernen.

VI TRENNUNG 158 F  elix hat seit der frühen Trennung seiner Eltern ein distanziertes Verhältnis zum Vater – und hat erst in einer Therapie erkannt, wie sehr er sich mehr Nähe wünscht.

164 L  auras Stiefvater akzeptierte sie nur so lange als Tochter, bis er eine eigene bekam. Heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihm und ihren Eltern.

170 S eit Tobias weiß, dass sein vermeintlicher Vater nicht sein Erzeuger ist, fühlt er sich ihm gegenüber nicht mehr ganz so fremd.

177 Was sagen Fachleute zu Scheidungs-, Stief- und Kuckuckskindern? Sabine Walper weiß, warum sich Kuckuckskinder oft von der Mutter entfremden und Matthias Franz, wie schädlich eine Trennung der Eltern für Kinder sein kann.

VII AUSBLICK

188 Was bleibt? 201 Dank 202 Literatur

I EINLEITUNG

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Wieso das Thema »Fremd in der eigenen Familie«? Was charakterisiert die Beziehung erwachsener Kinder zu ihren Eltern? Ich bin die Tochter zweier Psychologen. Jahrelang habe ich am Küchentisch Gesprächen über die menschliche Psyche gelauscht – und irgendwann auch selbst mitgeredet. Als ich dann studieren wollte, dachte ich natürlich zuerst an Psychologie. Und entschied mich schließlich doch für Soziologie und Politik. Die Gesellschaft interessierte mich mehr als das Individuum. Ich wollte das große Ganze verstehen, soziale Ungleichheit, Krieg und Frieden, und befasste mich mit den französischen Banlieues und dem Drogenkrieg in Rio de Janeiro. Und heute? In meinem Beruf als Journalistin erstaunt mich immer wieder, wie sehr mein Elternhaus mich offenbar geprägt hat. Denn ich schreibe viel mehr über einzelne Menschen als das große Ganze, von dem ich nach sieben Jahren Studium gar nicht mehr so recht wusste, was das eigentlich sein sollte. Wobei das vielleicht auch gar kein Widerspruch ist. Oft habe ich sogar das Gefühl, mich den großen Themen besser im Kleinen nähern zu können. Ich habe mit einer jungen Bestatterin und einem alten Kriegsveteranen gesprochen, mit einem Sekten-­ Aussteiger und einem ehemaligen Salafisten, mit einer genitalverstümmelten Frau und mit einer früheren Verschwörungstheoretikerin, die lange an die Existenz von Chemtrails geglaubt hat. Viele dieser Menschen waren einmal entfremdet – von ihren Lebenspartnern, ihrer Familie, der Gesellschaft. Und fühlten sich zu der Zeit, als ich sie traf, wieder zugehörig. Was faszinierte mich so an ihren Geschichten? Vermutlich das Spannungs-

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feld zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung, das dem großen Ganzen ziemlich nahekommt. Zumindest ist dort, wo es grundsätzlich wird, seit Jahren immer von der Entfremdung bestimmter Gruppen vom Staat, von der Spaltung der Gesellschaft die Rede. In diesem Buch soll es um Spaltung im Kleinen gehen, in der Familie. Denn während mir die Entfremdung aus den Reden und Leitartikeln häufig schwer greifbar erscheint, begegnet sie mir in Familien ganz unmittelbar. Leute erzählen mir nebenbei, wie ihr Vater nach zwei, drei Sätzen Smalltalk am Telefon immer sagt: »Dann geb’ ich dich jetzt mal an deine Mutter weiter.« Oder sie erzählen mir halb im Scherz, dass ihre freiberufliche Tätigkeit für die Eltern ja keine »echte Arbeit« sei oder dass ihre Eltern bis heute nicht verstünden, was sie im Büro eigentlich machen. Die Leute, die das erzählen, sind meist die ersten in der Familie, die studiert haben. Von Kindern von Migranten, oft ebenfalls Bildungsaufsteiger, höre ich ähnliche, aber auch andere Geschichten. Ihre Eltern mischen sich in vielen Fällen stark in ihr Leben ein, sind unzufrieden, weil die Tochter in »wilder Ehe« lebt und der potenzielle deutsche Schwiegersohn die Bräuche und Traditionen der Familie nicht kennt. Und seit Beginn der Corona-Pandemie Anfang 2020 höre ich immer öfter von Leuten, deren Eltern ihnen Videos mit Verschwörungserzählungen zum Virus bei WhatsApp schicken und die das Gefühl haben, gar keine gemeinsame Basis mehr mit den Eltern zu haben. Das ist traurig. Für mich als Journalistin, die versucht, im Kleinen das Große oder Allgemeingültige zu entdecken, die oft hin- und hergerissen ist zwischen

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gesellschaftspolitischen und psychologischen Themen, ist es aber auch wahnsinnig spannend. Denn das Thema Fremdheit in der eigenen Familie berührt grundsätzliche und psychologische Fragen wie die nach Zugehörigkeit und Verbundenheit, Abnabelung und Abgrenzung, Toleranz und Umgang mit Differenzen und gleichzeitig auch gesellschaftliche Risse entlang von Bildung, Politik, Religion. Es ist ein psychologisches, soziologisches und politisches Thema. Es ist sehr menschlich, aber überhaupt nicht trivial, es ist gesellschaftlich relevant, aber schwebt nicht auf der Makroebene, wie die Soziologen sagen würden, sondern bewegt sich auf der Mikro- und Mesoebene, also der von Individuum und Familie. Voller Begeisterung stürzte ich mich deshalb auf das Thema und merkte schnell: Die Geschichten aus meinem Bekanntenkreis reichen nicht, um ein Buch zu füllen. Doch wie findet man mehr als ein Dutzend Leute, die sich von ihren Eltern entfremdet haben? Das erschien mir zunächst als große Herausforderung. So schwer war es dann aber gar nicht. Ich habe Aufrufe in sozialen Netzwerken geteilt: bei nebenan.de, Facebook, eBay-Kleinanzeigen. Ein Bekannter war so nett, mein Gesuch an einen Uni-Verteiler zu schicken. Ich war erstaunt, wie viele Menschen sich bei mir gemeldet haben. »Alleine die enorme Zahl der Zugriffe auf Ihre Anzeige zeigt, wie weit verbreitet dieses Thema ist«, hieß es in einer Zuschrift – das eBay-Gesuch »Menschen, die sich fremd in ihrer Familie fühlen« war 1111 Mal angeschaut worden. Viele hatten ein großes Bedürfnis, über ihre Familiengeschichte zu sprechen und haben das so auch formuliert. »Weiß nicht, in wieweit es auch mir guttut, wenn ich es erzähle«, schrieb mir eine Frau, »Ich

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hab’ sooo viel erlebt, dass jeder meint, dass ich ein Buch schreiben soll«, eine andere. Viele Schicksale, das wurde mir schnell klar, sprengen den Rahmen dieses Buchs. Der »doch nicht« genannte Unterordner im Ordner »Fremd in der eigenen Familie« wuchs immer weiter. Darin steht die Geschichte eines Pakistani, der mit seiner Mutter erst nach Deutschland und dann nach Kanada zog, wo er beim Stiefvater nicht willkommen war und auf der Straße landete. Die einer Frau Ende fünfzig, deren Mutter, ein Kriegsflüchtling aus Masuren, die Tochter nie in den Arm nahm und nicht verstand, dass Kinder mehr brauchen als Essen und Kleidung. Diese Frau fing als Jugendliche an Drogen zu nehmen, erlebte Missbrauch, verlor ein Kind, kann inzwischen nicht mehr arbeiten und muss von 350 Euro Rente leben. Ein Schicksal, das mir mit dem Label »familiäre Entfremdung« nur unzureichend beschrieben schien. So manche Geschichte hat mich auch schockiert. Es meldete sich zum Beispiel ein Mann, der adoptiert worden war – ein klassisches Beispiel für Fremdheit in der eigenen Familie, dachte ich zunächst. Im Gespräch stellte sich dann heraus, dass der Mann als Kind erst von seinem Pflegebruder missbraucht worden war und sich dann, als der übergriffige Junge aus der Familie genommen und an seiner Stelle ein jüngeres Kind dazugekommen war, selbst an dem jüngeren Pflegebruder verging. Mir wurde klar: Wenn man nach Menschen mit schwierigen Familiengeschichten sucht, stößt man binnen Wochen auf Schicksale, denen man sonst wohl ein Leben lang nicht begegnet wäre. Man stößt aber auch auf Ablehnung. Denn das vorherrschende Bild von Eltern, die nur das Beste für ihr Kind wollen, ist stark.

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Schlecht über die eigenen Eltern zu reden erscheint manchem geradezu als Verrat. So schrieb mir eine Frau auf mein Gesuch: »Deine Eltern haben Dir das Leben geschenkt. Wenn Du Dich gegen Deine Eltern wendest, so wendest Du Dich gegen Dein eigenes Leben.« Offenbar wird es schnell grundsätzlich, sobald es um Eltern und Kinder geht. Das gilt auch für die Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern. In einem kleinen bissigen Wortwechsel mit den Eltern steckt viel mehr, als wenn man mal anderer Meinung ist als die Kollegin. Eine Frau Mitte dreißig erzählte mir etwa, dass ihre Mutter in einer Diskussion über Sinn oder Unsinn von Naturkosmetik plötzlich sagte: »Du bist nicht der erste Mensch, der eine Uni von innen gesehen hat.« Wie geht man damit um, wenn nach einem Studium die Wortwahl, aber auch die Werte und der Blick auf die Welt ganz anders sind als bei den Eltern? Wenn die Eltern sich, wie im Fall dieser Frau, nicht respektiert oder sogar angegriffen fühlen von den Lebens- und Kon­ sumentscheidungen des Kindes? Wie damit, wenn der Vater AfD wählt – und der eigene Sohn erkennt: »Der Opa ist ein Rassist«, wie es eine Interviewpartnerin erlebt hat? Oder damit, wenn man sich selbst als Deutsche, die Mutter sich aber als Türkin fühlt? Diese Fragen sind auch deshalb so schwer zu beantworten, weil die Bindung zu den eigenen Eltern keine ist, für die wir uns entscheiden. Wir werden in sie hineingeboren. Wenn wir uns in der Beziehung zu unseren Eltern nicht mehr wohlfühlen, fällt es uns umso schwerer, uns gegen sie zu entscheiden und sie zu beenden, so, wie wir es mit einer Freundschaft oder Liebesbeziehung tun würden. Und die Bindung, die

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seit der Geburt besteht, werden wir auch mit einem Beziehungsabbruch nicht los. Familie, sagte mir eine Interviewpartnerin, sei ein Stück Identität. Das wolle sie sich selbst und vor allem ihren Kindern nicht durch Kontaktabbruch mit ihren Eltern nehmen – obwohl die AfD wählen und in die sogenannte Querdenker-Szene von Corona-Leugnern abgedriftet sind. Sie war überzeugt, dass ein Kontaktabbruch keine Probleme lösen könne, denn die Eltern seien ja weiter da: als Teil des Familiensystems, aber auch in ihren eigenen Handlungen und in ihren Kindern. Den Kontakt zu ihrem ebenfalls rechtskonservativ bis rechtsextrem denkenden Bruder hatte sie hingegen ziemlich bedenkenlos auf ein Minimum reduziert. Diese Äußerungen illustrieren, wie besonders die Beziehung zu den eigenen Eltern ist. Sie ist auch die erste Beziehung unseres Lebens. Und zumindest für Einzelkinder oft auch die längste. Gleichzeitig ist die Beziehung zu den eigenen Eltern eine, die sich fortwährend verändert. Neugeborene sind zum Überleben von ihren Eltern abhängig, sie müssen ernährt, umsorgt und gepflegt werden. Mit den Jahren werden sie unabhängiger, lernen laufen, kommen in die Pubertät und stellen das Verhalten der Eltern infrage. Konflikte nehmen in dieser Zeit zu – und später, mit dem Auszug aus dem Elternhaus, wieder ab, weil Reibereien im Alltag wegfallen, Streitthemen leichter gemieden werden können. Es entsteht allerdings auch eine größere innere Distanz. Bei der Geburt eigener Kinder wird vor allem die Beziehung von Müttern und Töchtern oft noch einmal enger, allerdings nicht unbedingt konfliktärmer. Früher haben Psychologen größtenteils von einer notwendigen Ablösung erwachsener Kinder von ihren

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Eltern gesprochen. Heute sehen die Fachleute das anders. Statt von Ablösung sprechen sie von Individuation und meinen einen Prozess, in dem die Beziehung als eine zwischen gleichberechtigten Erwachsenen um­ definiert wird, dabei aber durchaus eng bleibt. Einige Menschen, mit denen ich gesprochen habe, hatten schon in der Kindheit eine schwierige Beziehung zu den Eltern. Bei vielen aber scheint es mir so, als seien die Konflikte erst im Erwachsenenalter offenkundig geworden, sei es, weil bestimmte Problemfelder wie die Partnerwahl der Kinder sich erst da auftaten, oder weil sie und ihre Eltern daran gescheitert sind, die Eltern-­ Kind-Beziehung als eine zwischen Erwachsenen neu zu gestalten. Einen Interviewpartner etwa behandeln seine Eltern bis heute wie ein unwissendes Kind. Bei politischen Diskussionen sagen sie, er sei noch zu jung, um bestimmte Sachverhalte zu verstehen – dabei ist er Anfang zwanzig und hat ein abgeschlossenes Studium in Politikwissenschaft. Bei ihm führt das dazu, dass aus kindlicher Bewunderung nicht Respekt und Anerkennung für die Eltern geworden ist, wie er es sich wünschen würde, sondern eine gewisse Verachtung. Denn eigentlich seien sie es, sagt er, die gewisse Dinge – seien es die Corona-Maßnahmen oder die Asylgesetzgebung – nicht verstehen. Dieses Beispiel ist ein extremes. Doch auch wenn Eltern ihre erwachsenen Kinder als gleichberechtigte Gesprächspartner betrachten: Im Gegensatz zu der Beziehung zu Freundinnen oder Geschwistern ist und bleibt die Beziehung zu den Eltern ein Leben lang asymmetrisch. Ein simples, aber illustratives Beispiel dafür ist, dass Eltern ihren Kindern ein Leben lang teurere Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke machen als

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umgekehrt. Vielleicht hat es auch mit dieser Asymme­ trie zu tun, damit, dass wir zu unseren Eltern aufblicken wollen, dass wir es besonders schwer ertragen können, wenn sie sich in unseren Augen irrational oder moralisch fragwürdig verhalten. Als ich anfing, mich dem Thema »Fremd in der eigenen Familie« zu widmen, kamen mir dennoch schnell Zweifel. Fühlten sich erwachsene Kinder ihren Eltern gegenüber früher nicht viel fremder? Gehörte die Entfremdung von den »Alten« unter den 68ern nicht noch zum guten Ton, während die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern heute nicht immer, aber doch in den meisten Fällen weniger konflikthaft und oft auch sehr eng sind? Genau das habe ich sogar selbst vor ein paar Jahren mal in einem Artikel mit dem Titel »Ein bisschen erwachsen« geschrieben. Der Einstieg in den Text ging so: »Als ich die Zusage für meinen ersten richtigen Job bekam, habe ich erst mal meine Mutter angerufen. Danach meinen Vater und erst dann meinen Freund und meine beste Freundin. In diesem Jahr werde ich dreißig, und noch immer rufe ich, wenn es wichtig wird, zuerst meine Eltern an.« Immerhin: Heute würde ich wohl eher zuerst meinen Freund anrufen und dann meine Mutter. Offenbar hat sich das Verhältnis zu meinen Eltern zwischen Ende zwanzig und Mitte dreißig noch einmal verändert, ich bin etwas autonomer geworden. Nach wie vor sind meine Eltern aber zwei meiner wichtigsten Ansprechpartner, wenn ich traurig oder gestresst bin, ein Problem bei der Arbeit habe – oder mir etwas Schönes widerfährt. Wieso dann ein Buch mit dem Titel »Fremd in der eigenen Familie«? Nun, zum einen denke ich, dass die

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These meines Artikels damals vielleicht nicht ganz richtig war. Sicherlich haben in meinem Umfeld viele eine sehr gute Beziehung zu ihren Eltern. Aber womöglich liegt das auch daran, dass ich in einer dieser viel gescholtenen Blasen lebe. Und es gibt eben viele Leute, bei denen das anders ist. Zum anderen lässt sich die Frage, ob die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern heute besser sind als früher, gar nicht so leicht beantworten, wie man vielleicht vermuten würde. Aus dem Bauch heraus lässt sie sich sicherlich bejahen. Wissenschaftlich untermauern lässt sie sich nur schwer. Zwar zeigen Untersuchungen, dass die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern eng sind. Bei einer Datenerhebung in den Jahren 2016 und 2017 etwa gaben 33 Prozent der befragten 25- bis 45-Jährigen an, täglich Kontakt zur Mutter zu haben, sei es persönlich, per Telefon, WhatsApp oder Mail. Vierzig Prozent hatten mindestens wöchentlich Kontakt. Zum Vater waren es 19 Prozent, die täglich, und dreißig Prozent, die mindestens wöchentlich Kontakt hatten. Es lässt sich aber nur vermuten, dass frühere Generationen in weniger regem Austausch mit den eigenen Eltern standen: Vergleichbare Daten gibt es aus dieser Zeit leider nicht. Wie sich das Phänomen der Entfremdung von den Eltern im Laufe der Jahrzehnte verändert hat, lässt sich auch nicht quantifizieren. Wohl aber die heutige Entfremdung – zumindest wenn man der Definition zweier Professoren der Universitäten Köln und Halle-­ Wittenberg folgt, Karsten Hank und Oliver Arránz ­Becker. Die beiden sprechen von Entfremdung von den eigenen Eltern bei jungen und mittelalten Erwach-

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senen zwischen 18 und 45 Jahren, wenn Kinder und Eltern sich emotional nicht nahestehen und weniger als einmal im Monat Kontakt haben. In einer im Oktober 2021 erschienen Studie haben sie Angaben von mehr als 10.000 Menschen aus der »pairfam«-Längsschnittstudie ausgewertet, einem 2008 begonnenen Beziehungs- und Familienpanel. Zwanzig Prozent der Befragten waren demnach vom Vater, neun Prozent von der Mutter entfremdet. Zur Entfremdung trugen vor allem einschneidende Familienereignisse bei, etwa der Tod eines Elternteils oder die Trennung der Eltern. Gab es ein Stiefelternteil, mit dem das erwachsene Kind nicht gut zurechtkommt, verstärkte das die Entfremdung. Söhne und Töchter waren gleich häufig entfremdet. Die Soziologen haben nur Angaben von erwachsenen Kindern ausgewertet, die nicht mehr bei den Eltern wohnen. Trennung der Eltern sowie Probleme mit Stiefelternteilen als Entfremdungsgründe sind auch mir begegnet, in meiner überhaupt nicht repräsentativen, ganz persönlichen Erhebung. Dass Frauen und Männer sich gleich häufig entfremdet fühlen, aber öfter vom Vater, ist auch mein subjektiver Eindruck. Gleichzeitig habe ich aber auch mit Menschen gesprochen, die sich emotional entfremdet fühlen, aber viel Kontakt zu ihren Eltern haben, teils sogar noch bei ihnen wohnen. Mir erscheint das kein Widerspruch zu sein. Denn gerade weil die Beziehung zu den eigenen Eltern eine so besondere ist, ist sie oft selbst dann eng, wenn eine gewisse innerliche Distanz vorhanden ist. Das gilt womöglich vor allem in Familien mit Migrationshintergrund. Eine Interviewpartnerin mit serbisch-bosniakischen Wurzeln etwa wohnt mit Anfang dreißig noch bei ihrer

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Mutter, obwohl die ihre Beziehung zu einem Deutschen nicht akzeptiert. »Deine Großeltern werden das nicht dulden, das wird nicht funktionieren« – das waren die Worte der Mutter, als sie vom deutschen Freund ihrer Tochter erfuhr. Zwar hat sie inzwischen verstanden, dass sie die beiden nicht auseinanderzwingen kann. Die Entfremdung wächst aber trotzdem. Denn mit jedem Jahr, das die Mutter älter wird, wendet sie sich mehr ihrer Heimat und den dortigen Traditionen zu, während die Tochter sich mit jedem Jahr, das sie mit ihrem Freund, seiner Familie und seinen Freunden verbringt, deutscher fühlt. Weil sich Menschen und ihre Werte ein Leben lang verändern, tun das auch die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern. So wird im Fall der Bosniakin die Mutter im Alter konservativer, die Tochter liberaler. Die Mutter hat außerdem ihr Familienbild aus Serbien mitgebracht – Migrationsforscher würden es als kollektivistisch und interdependent beschreiben. Für sie ist es völlig normal, sich in das Leben ihrer Tochter einzumischen, vermutlich würde sie ihr Verhalten nicht mal als »Einmischung« beschreiben. Die Tochter aber hat über Schule, Studium, Freundschaften und ihre Beziehung erlebt, wie Familienbeziehungen in Deutschland aussehen, nämlich eher individualistisch und independent. Das heißt, dass Familienmitglieder sich hier mehr Freiraum geben, weniger verwoben sind. Mutter und Tochter mögen räumlich und auch emotional eng verbunden bleiben – ihre Werte driften immer weiter auseinander. Und Studien zeigen, wenig überraschend, dass geteilte Werte in der Beziehung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern eine Rolle spielen. Menschen

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fühlen sich ihren Eltern verbundener, wenn sie ähnliche Werte haben. Eine internationale Forschergruppe fand 2020 heraus, dass vor allem Töchter häufig mit den Werten ihrer Eltern übereinstimmen. Bei Müttern und Söhnen hängt die Häufigkeit des Kontakts mit der Werteähnlichkeit zusammen, nicht aber bei Müttern und Töchtern – womöglich, weil letztere ohnehin in engem Kontakt stehen, unabhängig von Differenzen, während Ähnlichkeit bei Söhnen eher dazu führt, dass sie den Kontakt suchen. Tatsächlich habe ich mich in einigen Interviews gewundert, wenn meine Gesprächspartnerin erst die schwierige Beziehung zur Mutter und das Gefühl der Fremdheit geschildert hat, und dann auf meine Frage nach der Kontakthäufigkeit »täglich« oder zumindest »wöchentlich« geantwortet hat. Etwa eine Frau Mitte dreißig, die mir erzählte, ihr Vater halte sie für eine Ökoradikale und ihre Mutter könne nicht verstehen, warum ihr Enkelkind nicht getauft ist – und die ihre Eltern zweimal wöchentlich sieht. »Wir haben ein gutes Verhältnis«, sagt sie. »Aber ich fühle mich ihnen gegenüber einfach fremd.« Diese Frau wollte, wie alle meine Gesprächspartner, anonym bleiben. Ich habe deshalb die Namen und manchmal auch biografische Details verändert, allerdings immer so, dass ihre Erzählungen dadurch nicht inhaltlich verändert wurden. All denen, die mit mir gesprochen haben, bin ich für ihre Zeit und ihre Offenheit dankbar. Ihre Geschichten erzähle ich in den folgenden Kapiteln. Ich habe sie nach dem Grund der Entfremdung geordnet, etwa Uneinigkeit bei Politik oder Religion, ein Bildungsaufstieg oder eine verschieden enge Bindung an die Kultur des Herkunftslands

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von Eltern oder Großeltern. Natürlich beeinflusst ein Bildungsaufstieg oft auch die politische Haltung, und in Familien mit Einwanderungsgeschichte sind Religion und Kultur nicht immer klar zu trennen. Manche meiner Gesprächspartnerinnen fühlten sich ihren Eltern gegenüber auch in so gut wie jedem dieser Bereiche fremd. Dann habe ich versucht, die Ursache dafür zu verstehen – zum Beispiel die Bildungsdifferenz. Weil jede Familie, jede Eltern-Kind-Beziehung individuell ist, kann eine solche Kategorisierung natürlich nicht jedem Fall gerecht werden. Jenseits von Ordnungsversuchen und Kategorisierungen zeigen all diese Geschichten aber vor allem eins: Die Beziehung zu den eigenen Eltern ist belastbar wie kaum eine andere, belastbarer auch als die zu Geschwistern. Vielleicht stehen sich die verschiedenen gesellschaftlichen Lager tatsächlich immer unversöhnlicher gegenüber. In Familien aber sitzen Erzkonservative und Linksliberale, Gläubige und Atheisten, Klima-­Aktivisten und vielreisende Hedonisten oft noch zusammen am Küchentisch – so wie ich früher mit meinen Eltern am Küchentisch saß und es auch heute bei meinen Besuchen immer noch gern tue. Statt sich nur übereinander zu empören, sich in der Abgrenzung voneinander zu definieren, üben sich Familien in Akzeptanz, wo es ihnen möglich ist. Und wo Haltungen inakzeptabel erscheinen? Selbst da gibt es noch Wege: »Ich versuche die politischen Ansichten meiner Eltern davon zu trennen, dass sie mich großgezogen haben, ein Teil von mir sind«, sagte eine Gesprächspartnerin, »und ich versuche das anzuerkennen, dafür dankbar zu sein.« Das zeigt: Selbst wenn die Beziehung von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern von Fremdheit oder Entfrem-

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dung geprägt ist, muss sie deshalb nicht schlecht sein. Und selbst wenn sie eher schlecht ist, sind die meisten erwachsenen Kinder nicht bereit, sie aufzugeben. Und das ist, bei all den traurigen, teils tragisch-komischen und manchmal erschütternden Geschichten, die ich hier wiedergebe, doch ein tröstliches Fazit: für meine Gesprächspartner und für mich – und auch im großen Ganzen.

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Rechtsextreme Eltern In Timurs russlanddeutscher Familie sind Rassismus, Verschwörungsmythen und Esoterik verbreitet. Zu vielen Verwandten hat er den Kontakt abgebrochen – nicht aber zu den Eltern. Manchmal träumt Timur davon, dass er fünfzig ist und Professor. In seinen Träumen hat er mehrere Bücher über Politik geschrieben, und seine Eltern erkennen seine Leistungen und sein Wissen an. In Wirklichkeit ist Timur Anfang zwanzig und studiert Politikwissenschaft im Master. Und obwohl er politisch viel gebildeter sei als seine Eltern, erzählt er, nähmen sie ihn nicht ernst und glaubten lieber das, was auf Putins Propa­ gandasender RT läuft. Als Antwort auf mein Gesuch hat Timur mir in einer Mail geschrieben: »Meine Familie kommt aus Kasachstan, ehemalig allerdings aus der Wolgaregion in Russland. Die Historie entspricht den klassischen ›Russlanddeutschen‹, und hier fußt bereits das Problem. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber innerhalb dieser Volksgruppe gibt es erschreckend starke Tendenzen in eine Richtung, welche man weit außerhalb der demokratischen Mitte lokalisieren würde. Ich spreche hier von Rassismus, Homophobie, Verschwörungsmythen, Medienfeindlichkeit, Esoterik usw. von der übelsten Sorte. Im Übrigen sind Russlanddeutsche eine der größten Wählergruppen der AfD. Für mich, der sich politisch mittig, eher links davon, positionieren würde und dazu auch als Politikwissenschaftler genau diese Themen zu seinem Bildungsweg gemacht hat, ist das natürlich besonders problematisch. Ich habe mittlerweile zu einem Großteil meiner Familie den Kontakt verloren. In einer

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Umgebung, in der es heißt ›für uns oder gegen uns‹, sind Menschen wie ich kaum überlebensfähig, außer sie halten dicht und reden nicht darüber. Ich fühle mich dadurch sehr isoliert und glaube daher gut zu Ihrem Anliegen zu passen.« Den Kontakt verloren, stellt sich im Gespräch heraus, in dem Timur schnell lockerer klingt als in seiner etwas förmlichen Mail, hat er vor allem zu seinen Großeltern. Aber auch mit einigen Tanten, Großonkeln, Cousins und Cousinen spricht Timur nicht mehr. Mit seinen Eltern ist der Kontakt zwar schwierig, aber immer noch eng. Die beiden kamen als Zwanzigjährige Mitte der neunziger Jahre mit Teilen ihrer Familien nach Deutschland. Damit gelten sie als Spätaussiedler. So werden all jene deutschstämmigen Zuwanderer aus Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion bezeichnet, die nach 1993 in die Bundesrepublik kamen. 1997 kam Timur auf die Welt. Weil die kasachischen Studiengänge der Eltern in Deutschland nicht anerkannt wurden, mussten sie hier noch einmal studieren. In dieser Zeit, zwischen seinem siebten und seinem elften Lebensjahr, lebte Timur bei seinen Großeltern. Dort wurde sein Interesse an Politik geweckt. Es lief viel russisches Fernsehen, und der Opa kommentierte das meinungsstark, was in Timur einen gewissen Widerwillen auslöste, wie er erzählt. In der Nachbarschaft, einer Sozialbausiedlung, lebten viele Gast­arbeiter und Flüchtlinge, mit deren Kindern Timur gern spielte, über die sein Großvater aber immer verächtlich sprach. Nichts als Verachtung hatten die Großeltern auch für Homosexuelle übrig. Einmal sagte die Großmutter, wenn Timur schwul würde, wäre er kein Teil der Familie mehr. »Das hat mich sehr scho-

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ckiert, so früh zu merken, dass die Liebe meiner Großeltern an Bedingungen geknüpft ist«, erzählt Timur. »Diese Erinnerungen haben sich sehr in meinen Kopf gefressen.« Von der fünften Klasse an wohnte Timur wieder bei den Eltern, verbrachte die Wochenenden aber noch bei den Großeltern. Nun verstand er schon mehr von dem, was sein Opa redete, und sein Widerwillen wurde immer größer. »Wenn neue Politiker gewählt wurden, hat mir mein Opa erklärt, dass das Juden sind und wie ich das im Gesicht von den Leuten erkennen kann, ob sie Juden sind. Im russischen Fernsehen kamen auch oft Hitler-Dokus, da hat mein Opa immer gesagt, dass das nicht so schlimm war, wie es dargestellt wird. Und damit meinte er nicht die Autobahnen, sondern die Judenvernichtung«, erzählt Timur mit Sarkasmus in der Stimme. »In Deutschland ist Rassismus heute oft kulturell, aber bei meinem Opa ist das echt dieser alte, biologische Rassismus, der von Menschenrassen ausgeht.« Für ihn habe sich das nie richtig angehört, schon als Kind nicht. Irgendwann konnte Timur den Hass und die Verblendung seiner Großeltern nicht mehr ertragen. Erst widersprach er jedes Mal heftig, sobald sie über Politik redeten. Dann sagte er ihnen, er werde sie nur noch besuchen, wenn sie nicht über solche Themen redeten. Als sie sich daran nicht hielten, versuchte er, das Ganze humorvoll zu betrachten. »Als eine Art Realsatire. Aber das hinterlässt auch ein eher ungutes Gefühl.« Und so hörte er auf sie anzurufen. Irgendwann ging er auch nicht mehr ans Telefon, wenn sie sich meldeten. In ihren Augen sei er undankbar und respektlos. Inzwischen sieht er seine Großeltern nur noch bei größeren

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Familientreffen. Das scheint ihm unausweichlich. »Ich möchte meinen Eltern kein Ultimatum stellen: Wenn die kommen, komme ich nicht«, sagt Timur. »Das würde niemand verstehen, ich wäre dann der Schuldige, der die Familie zerstört.« Deshalb saß er zum Beispiel an Silvester mit den Großeltern und dem Rest der Familie zusammen und schaute sich die Neujahrsansprache des russischen Präsidenten an. »Putin ist ein identitärer Ankerpunkt für meine Familie, während Merkel für sie immer wie eine Fremde war, eine Unterdrückerin.« Timur findet das paradox, denn die Wolgaregion, aus der seine Familie stammt, hatte historisch gesehen wenig mit dem russischen Staat zu tun. Die deutschstämmige Zarin Katharina II. holte sie ins Russische Reich, wo sie in deutschen Enklaven lebten – bis Stalin die Menschen dort erst hungern ließ, indem er ihnen die gesamte Ernte abnahm, und dann ihre Deportation nach Zen­ tralasien und Sibirien befahl. Timur vermutet, dass sich die Radikalität seiner Großeltern auch mit dieser Vergangenheit der Abschottung und Vertreibung erklären lässt. »Ich denke, dass in Russland die wenigsten so extrem denken wie sie. Vermutlich ist das aus dieser kulturellen Sondersituation heraus entstanden, die Heimat zu verlassen und in einer kulturellen Enklave zu leben, in der gewisses Gedankengut immer weiter existiert.« Auch von den Eltern fühlt Timur sich entfremdet, allerdings nicht so heftig wie von den Großeltern. Das liegt zum einen daran, dass sie politisch moderater eingestellt seien: »Sie sind eine Generation jünger und vertreten nicht so krasse Meinungen. Sie sind eher auf dem Niveau eines durchschnittlichen AfD-Wählers: gegen

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Flüchtlinge, aber keine biologischen Rassisten.« Zum anderen liegt es auch daran, dass Timur die Beziehung zu ihnen wichtiger ist als die zu den Großeltern. Vor allem seine Mutter, erzählt Timur, bewundere er für ihren Weg. Und er sei ihr dankbar für all die Unterstützung, finanziell und emotional. Seinen Vater, der enttäuscht darüber sei, dass der Sohn nicht auch Maschinenbau studiere und das Büro des Vaters übernehme, betrachtet Timur mit ambivalenteren Gefühlen. Von beiden hat er aber letztlich den Eindruck, sie hätten ihm nie richtig zugehört, ihn nicht ernst genommen oder zumindest nicht verstanden und wüssten eigentlich gar nicht, was ihn als erwachsenen Menschen ausmache. Das liege auch daran, dass ihr Deutsch und sein Russisch nicht fließend sind. Und vielleicht auch daran, dass in russischen Familien, anders als zum Beispiel in deutschen, auch erwachsene Kinder eher als unmündig und unwissend und weniger als eigenständige Individuen wahrgenommen werden. Timur findet die flüchtlingsfeindliche Einstellung seiner Eltern bedauerlich. Er kann sich aber in diesem Punkt ein wenig in sie einfühlen. Als die Familie vor gut 25 Jahren nach Deutschland kam, wurden einzelne Aufnahmeanträge abgelehnt, weil sie die Voraussetzungen nicht erfüllten. Der Frust darüber, Familienmitglieder zurückzulassen, die sich selbst als Deutsche begriffen, sei groß gewesen. Und nun würden Menschen in Deutschland aufgenommen, die definitiv keine Deutschen seien – auch wenn Asyl natürlich etwas anderes sei. Überhaupt nicht nachvollziehen kann Timur hingegen, dass seine Eltern skeptisch gegenüber Corona und gegenüber Impfungen sind, an Esoterik, alternative Medizin und Homöopathie glaubten. Denn die

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Mutter ist leitende Ärztin, der Vater studierter Maschinenbauingenieur. Beide haben zu Beginn der Corona-­ Pandemie behauptet, dass das Virus nicht existiere, von der Regierung erfunden worden sei. Inzwischen tun sie das nicht mehr, wollen sich aber nicht gegen Corona impfen lassen – es sei denn, es handele sich um den russischen Impfstoff. Timur sagt, gerade seine Mutter nehme ihn im Vergleich zu den anderen älteren Familienmitgliedern ernst, lasse sich durchaus auch mal von dem überzeugen, was er ihr erklärt. Aber dann telefoniere sie wieder mit einer Freundin, die irgendein dubioses Youtube-­Video gesehen habe – und alles gehe wieder von vorne los. Timur macht es fassungslos, wie wenig das Studium seiner beiden Eltern deren Denken beeinflusst hat. Die an der Uni erlernten Kriterien wie Überprüfbarkeit von Thesen oder die Unterschiede von Zusammenhängen und Ursache-­Wirkungs-Beziehungen oder von Einzelfällen und statistischer Signifikanz spielten für ihre Meinungsbildung überhaupt keine Rolle. Was eine Nachbarin oder ein dubioser Youtuber sage, habe für sie im Zweifel einen höheren Stellenwert als seriöse Studien oder Medien. Was ihn auch erschüttert: wie wenig die beiden trotz ihres etablierten Lebens in Deutschland von der hiesigen Gesellschaft wüssten. »Meine Eltern haben ihre Berufssprache, aber wenn es um Themen geht, die außerhalb von Beruf und Alltag stehen, dann fehlen ihnen die Worte und dann schalten sie, glaube ich, auch schneller ab. Wörter wie ›Demokratie‹ oder ›Verfassung‹ kennen sie nicht. Meine Eltern wüssten nicht, was der Bundestag ist. Meine Großeltern wissen nicht mal, was Kommunismus ist, obwohl sie dreißig Jahre lang darin gelebt haben. Sie beziehen sich immer

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nur auf den Alltag, nie auf Übergeordnetes, Strukturen. Es wird nichts reflektiert. Dadurch reagieren sie auch so allergisch auf Veränderungen wie Flüchtlinge oder Corona.« Ausgerechnet die Corona-Krise hat Timur seinen Eltern aber nähergebracht. Als während der Lockdowns die Uni geschlossen war, zog Timur wieder bei den beiden ein. Seine Freundin, die näher am Wohnort seiner Eltern als an seinem lebt, kam oft zu Besuch. Dass er seit zwei Jahren eine Beziehung hat, freue die Eltern sehr. Zu viert gingen sie manchmal spazieren, schauten einen Film. »Aktuell gibt es keine großen Probleme. Es ist eine friedliche, etwas distanzierte Koexistenz. Ich hab’ das Glück, dass meine Eltern einfach vor sich hinleben, ab und zu mal was zu Politik raushauen am Esstisch, da sage ich dann was. Aber sie gehen auf keine Demos, sind sehr passiv. Dadurch eskaliert es nicht. Meine Strategie ist, das auszuhalten, bestimmte Themen zu meiden und wenn sie doch aufkommen, meine Meinung zu sagen.« Mehr, sagt Timur, könne und wolle er nicht tun.

Rechtsextreme Eltern Marens Eltern wählen die AfD, der Vater macht Schießübungen im Garten. Den Kontakt hält sie vor allem wegen ihrer Kinder aufrecht. Im Frühjahr 2019 schrieb Maren an eine Freundin: »Hab mich gerade total mit meinen Eltern gestritten. Hab ich noch nie so in der Art gehabt, seit ich ausgezogen bin. So ein Mist, ich bin so wütend und traurig! Aber ich hab so lange den Mund gehalten und konnte heute

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Morgen nicht mehr! Jetzt wird erstmal Funkstille sein und ich weiß auch nicht, wie das zu lösen ist. Es ist zu grundsätzlich.« Maren ist Ende dreißig, zweifache Mutter, arbeitet als Künstlerin in Leipzig und bezeichnet sich selbst als Linke, die grün wählt. Marens Vater ist AfD-Mitglied, hat einen Waffenschein – und bezeichnet sich selbst als »normal«. Ich kenne Maren über ein paar Ecken. Sie ist eine fröhliche, kreative Person, die eine gewisse Gelassenheit ausstrahlt – selbst, wenn sie gerade eins ihrer Kinder einzufangen versucht oder von ihren schwierigen Eltern erzählt. Wenn sie Letzteres tut, dann redet Maren immer von der Zeit vor und nach »Tag X«. Davor war der Kontakt eng, danach herrschte drei oder vier Monate Funkstille. Jetzt telefoniert sie alle ein bis zwei Wochen mit den beiden. Tag X war der Tag, an dem sie ihrer Freundin die traurige Nachricht schrieb. Maren war zu Besuch bei ihren Eltern in einer sächsischen Kleinstadt. Ihr Vater schimpfte auf die Ausländer, die überall seien und deretwegen er kaum noch in die Stadt gehe. Maren widersprach, und ihr Vater begann, sich in Rage zu reden. Er sagte unter anderem, dass die Afrikaner mal besser verhüten sollten, dann ginge es auch der Wirtschaft dort besser und sie müssten nicht nach Europa kommen, aber offenbar seien sie dafür ja nicht schlau genug. Maren entgegnete, das sei rassistisch. Und ein riesiger Streit brach los. Beide Eltern schrien die Tochter an. »Sie meinten, jetzt wüssten sie endlich, wie ich denke, dabei sei ich doch mit ihnen im Libanon gewesen, hätte gesehen, dass die Menschen dort wären wie Tiere.« In Beirut hatte Maren neun Monate lang einen Arabischkurs besucht und an der Uni Kunst studiert. Ihre Eltern

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hatten sie damals besucht und kulturelle Unterschiede, mit denen auch Maren Schwierigkeiten hatte, etwa die Stellung der Frau, sehr negativ wahrgenommen. Während diese Erfahrung für Maren trotzdem vor allem spannend und bereichernd war, trug sie bei ihren Eltern offenbar zur Festigung eines rassistischen Menschenbilds bei. Was die beiden abstreiten. »In ihrer Vorstellung kann man Menschen als Tiere bezeichnen, ohne rassistisch zu sein.« Den Mund gehalten hatte Maren, als die Eltern begannen, das Gartentor abzuschließen, das zuvor immer offen stand, wegen der Flüchtlinge – die es in der sächsischen Kleinstadt gar nicht gibt, und als sie in der WhatsApp-Familiengruppe ständig Links zu fremdenfeindlichen Artikeln unseriöser Medien posteten. »Weil ich noch mitbekommen wollte, was sie denken, Zugriff haben wollte.« Damals versuchte Maren noch, die beiden zu verstehen. Ihre Eltern wurden in der DDR geboren und fühlten sich nun wieder so bevormundet wie vor der Wende. So, als würde man ihnen wie damals Informationen vorenthalten. »Zu diesem Gefühl hatte ich einen gewissen emotionalen Zugang«, sagt Maren, »zumindest wollte ich es ihnen nicht absprechen.« Wirklich verstehen konnte sie es indes nicht. »Die sind tatsächlich Wendegewinner. Sie waren dreißig beim Mauerfall und haben die Chance ergriffen, sich was aufzubauen. Sie haben gute Jobs, verdienen gut. In der DDR waren sie eher Mitläufer, mein Vater, der handwerklich begabt ist, hat immer mal unter der Hand gearbeitet, aber sich nie gegen das Regime gestellt. Sie haben ein Haus auf Usedom und eine Eigentumswohnung, zwei Kinder, die studiert haben.«

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Nicht mal ein Jahr nach dem großen Krach brach die Corona-Pandemie aus. Das machte die Wiederannäherung nicht leichter. Marens Eltern wittern hinter dem Virus eine Verschwörung. Im Netz suchen die beiden gezielt nach entsprechenden Erzählungen und sagen dann Dinge zu Maren wie: »Das ist gesteuert. Du wirst schon noch sehen, was die da oben mit uns machen. Es wird eine gewaltige Inflation geben.« Wenn Maren versucht, dagegen zu argumentieren, dringt sie nicht durch. »Die nehmen mich als unmündig wahr, als jemand, der keine eigene Meinung haben kann«, erzählt sie. »Ich weiß nicht, ob das so ist, weil ich für sie immer noch das Kind bin, das ich mal war, oder ob sie inzwischen einfach generell so mit anderen Meinungen umgehen.« Marens einzige Strategie in solchen Situationen ist es, das Thema zu wechseln. Immerhin muss sie das nicht mehr bei Themen wie Flucht und Migration tun: Die meiden ihre Eltern ihr gegenüber seit dem »Tag X«. Zumindest das ist eine gewisse Erleichterung für Maren. Verschärft wird das Problem hingegen durch ihre eigenen Kinder. Einerseits will Maren auch ihretwegen den Kontakt nicht abbrechen. »Ein Kontaktabbruch innerhalb der Familie ist extrem, denn man schneidet sich von der eigenen Herkunft ab«, findet sie. »Das ist nie leicht, aber etwas leichter, wenn man es nur für sich selbst entscheidet.« Und ihre Eltern, sagt Maren, seien liebevolle Großeltern. Andererseits hat sie Angst davor, dass ihre Eltern ihre Kinder indoktrinieren könnten. Wie soll sie das verhindern, wie mit den Kindern darüber sprechen, ohne ihre Großeltern schlecht zu machen? Gerade mit der Kleinen sei das noch nicht wirklich möglich. Mit dem Zehnjährigen hingegen gelingt ihr das einigermaßen.

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»Ich hab’ ihm gesagt, dass der Opa denkt, dass manche Menschen nicht so schlau sind wie andere, je nachdem, woher sie kommen. Aber dass Unterschiede zwischen Menschen nichts mit ihrer Herkunft zu tun haben und dass eigentlich alle Menschen gleich sind und die gleichen Rechte haben.« Er antwortete ihr, dass er ihrer Meinung sei und nicht der des Großvaters. Das beruhigte Maren – bis ihre Tochter nach einem Besuch bei den Großeltern erzählte: »Der Opa hat eine richtige Pistole!« So erfuhr Maren, dass ihr Vater nicht nur Mitglied in der AfD und in einem Schützenverein ist, sondern auch im Garten schießen übt – und ihren Kindern erklärt, man müsse sich schließlich zu verteidigen wissen. Als Maren ihm sagte, er solle ihren Kindern nie wieder Waffen zeigen, habe ihr Vater »nur irgendwas in seinen Bart genuschelt«. Manchmal kann Maren es selbst kaum fassen, dass ihr Vater Ausländer als Tiere bezeichnet, eine Waffe besitzt, Mitglied einer Partei ist, die gerade in Ostdeutschland eindeutig rechtsextrem ist. Und dass ihre Mutter ihm in nichts nachsteht. Sie lacht dann beim Erzählen, als wäre das alles ein schlechter Witz. Und schildert ihre Geschichte so, als lägen der Bruch und die Wiederannäherung nicht zwei, drei Jahre, sondern ein Jahrzehnt zurück. Das könnte auch daran liegen, dass die Entfremdung von ihren Eltern schon vor fast zwanzig Jahren begann. Damals, gleich nach dem Abitur, zog Maren aus der Kleinstadt nach Leipzig und begann, sich in Künstlerkreisen zu bewegen. Das sei ein ganz neuer Kosmos für sie gewesen. Gleichzeitig hätten sich die Eltern, die früher CDU wählten, immer weiter nach rechts bewegt. So wuchs die Entfremdung weiter. Inzwischen ist sie so

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massiv, dass Maren innerlich schon beinahe mit ihren Eltern abgeschlossen hat. In ihrem übervollen Alltag mit Partner, Kindern, Kunst und diversen Projekten sei der Konflikt nicht sonderlich präsent. In den Telefonaten mit ihren Eltern erzählt sie, was sie gekocht hat und was die Kinder in der Schule machen. Wenn sie mit Freunden über die Eltern spricht, dann eher mit einem etwas zynischen Unterton, als emotional und verletzlich. Maren ist sich sicher: Hätte ein Freund oder eine Freundin die politische Einstellung der beiden, hätte sie diese Freundschaft schon lange aufgekündigt. Aber es handelt sich eben um Mutter und Vater. Und deshalb bleibt bei aller Entfremdung auch eine tiefe Verbundenheit. »Es sind ja meine Eltern. Ich versuche, ihre Ansichten davon zu trennen, dass sie mich großgezogen haben, ein Teil von mir sind. Und ich versuche, das anzuerkennen, dafür dankbar zu sein.« Deshalb habe sie in den Monaten, in denen Funkstille herrschte, trotzdem zumindest an den Geburtstagen der beiden angerufen. Diese Verbindung konnte auch deshalb zwei Jahrzehnte der Entfremdung überstehen, weil Maren sich die ersten 18 Jahre ihres Lebens den Eltern gegenüber gar nicht fremd gefühlt hat. Die Eltern hätten ihr Interesse an Kunst immer gefördert, seien mit ihr in Ausstellungen gegangen – und besuchten dann später die Ausstellungen der Tochter. »Meine Eltern waren immer sehr interessiert, das fand ich cool«, erzählt Maren. »Und sie haben immer viel gelesen, Trivialliteratur, Romane. Bücher spielten bei uns immer eine Rolle, auch ich habe viel gelesen.« Das ist nicht das Einzige, wofür sie ihren Eltern dankbar ist. Die beiden hätten ihr auch ein »Urvertrau-

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en« mitgegeben, das Gefühl, aufgefangen zu werden, egal wie tief sie fallen würde. »Ich weiß, wenn irgendwas ist, dass sie da sind, dass da eine Sicherheit ist«, sagt Maren. »Ich hab’ keine Angst, sehe immer das Positive. Das hab’ ich, glaub ich, von den beiden.« Maren ist sich nicht sicher, ob ihre Eltern selbst dieses Urvertrauen und diesen Optimismus spüren und an sie weitergegeben haben oder ob diese Einstellungen eher Teil ihres eigenen Charakters sind. Selbst wenn Letzteres der Fall sei: Ihre Eltern und die Umgebung, die sie für ihre Kinder schufen, haben erlaubt, dass sich diese Anlagen bei Maren ausbildeten. »Meine Eltern waren immer zupackend, haben Dinge in Angriff genommen. Ich habe mich immer als verantwortlich für mein Tun gesehen, und das haben sie mir mitgegeben.« Marens Fazit ist paradox und tröstlich zugleich: »Die Resilienz, die ich dadurch entwickelt habe, hilft mir jetzt, mit ihnen umzugehen.«

Was sagen Fachleute zum Umgang mit rechtsextremen Eltern? Jannis Panagiotidis vermutet Gemeinsamkeiten zwischen Ostund Russlanddeutschen, Roland Imhoff rät bestimmte Themen auszusparen und Liane Czeremin, sich der Perspektive der Eltern anzunähern. Was bedeutet es für die Familienbeziehungen, wenn die eigenen Eltern rechtsextreme politische Einstellungen haben? Die Geschichten von Maren und Timur zeigen, dass erwachsene Kinder dann wütend oder enttäuscht sind, sich entfremdet fühlen, teils sogar den Kontakt abbrechen. Wie umgehen mit solchen Eltern? Diese

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Frage beantworten Maren und Timur vergleichbar: Sie meiden politische Themen soweit es geht und widersprechen den Eltern, sollten sie doch mal zur Sprache kommen. In meinen Augen zeigen die Geschichten der beiden einmal mehr, dass für die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern ganz andere Maßstäbe gelten als in Liebesbeziehungen oder Freundschaften. Maren und Timur könnten unter keinen Umständen mit jemandem zusammen oder befreundet sein, der die gleichen politischen Einstellungen hat wie ihre Eltern. Sie können und wollen aber die Beziehung zu den Eltern, die im Fall von Maren auch liebevolle Großeltern für ihre Kinder sind, trotz dieser Einstellungen aufrechterhalten. Maren sagt: »Ein Kontaktabbruch innerhalb der Familie ist schwer. Damit schneidet man sich von der eigenen Herkunft ab.« Und Timur: »Es ist mir wichtig, trotz allem den Kontakt zu meinen Eltern zu halten – viel wichtiger als bei meinen Großeltern. Weil ich einfach enger mit ihnen verbunden bin.« Interessant an den Eltern von Maren und Timur ist auch, dass sie als Ostdeutsche und Russlanddeutsche zu zwei Gruppen gehören, die besonders oft genannt werden, wenn es um Rechtsextremismus und die AfD geht. Ist das überhaupt berechtigt? Lassen sich diese Gruppen miteinander vergleichen? Und: Wie sinnvoll ist die Strategie, die Timur und Maren im Umgang mit ihren Eltern wählen? Diese Fragen habe ich Fachleuten gestellt: den Professoren Roland Imhoff und Jannis Panagiotidis, die sich mit Verschwörungserzählungen und postsowjetischer Migration befassen, und Liane Czeremin, die bei einer Beratungsstelle Menschen mit radikalisierten Verwandten unterstützt.

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Jannis Panagiotidis hat herausgefunden, dass die These von einem allgemeinen Rechtsruck in der post­ sowjetischen Community nicht richtig ist. Es gebe einen stabilen Anteil von um die vierzig Prozent Russlanddeutschen, die links-grün wählen. »Aber es gab einen Rechtsruck innerhalb des rechten Lagers, von der CDU hin zur AfD.« Das hänge auch mit einer Art Konkurrenzgefühl gegenüber den seit 2015 neu in Deutschland angekommen Geflüchteten zusammen – ein Gefühl, das auch Timur bei seiner Familie beobachtet. Viele Russlanddeutsche hätten die Behandlung, die sie damals bekommen haben, mit der verglichen, die Geflüchtete erfahren. Daraus, dass ihnen damals niemand applaudierte, wie den Flüchtlingen 2015 am Münchner Hauptbahnhof, leiteten manche ab, generell schlechter behandelt worden zu sein. Das sei objektiv betrachtet falsch – die Spätaussiedler bekamen sofort eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und umfangreiche Integrationshilfen – was aber nichts an den Gefühlen vieler Russlanddeutscher ändere. Panagiotidis spricht von einem Kampf in einer hierarchisierten Migrationsgesellschaft, in der manche Gruppen weiter oben und manche weiter unten stünden. »Russlanddeutsche hatten den Anspruch, Teil der Dominanz­ gesellschaft zu sein, der oft nicht eingelöst wurde, weil sie weiter als Russen wahrgenommen wurden.« Nun, wo neue, als fremd wahrgenommene Menschen nach Deutschland kommen, treten sie sozusagen nach unten. In Ostdeutschland hat der Zustrom Geflüchteter im Jahr 2015 zu ähnlichen Tendenzen geführt, was vor allem in den Pegida-Demonstrationen in Dresden sichtbar wurde. Gibt es hier Gemeinsamkeiten? Untersucht hat Panagiotidis das nicht, aber er sagt: »Ich denke

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schon, dass es da eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit von russlanddeutschen und ostdeutschen Erfahrungen gibt, das Gefühl, nicht als vollwertig anerkannt zu werden in dieser bundesdeutschen Dominanzgesellschaft.« Nicht nur die vergleichbare Zustimmung zur AfD sei frappierend, sondern auch die zur Linkspartei, die unter den Russlanddeutschen – entgegen der öffentlichen Wahrnehmung – auch einen großen Rückhalt habe. Zu der Geschichte von Timur sagt der Geschichts­ professor und Migrationsforscher: »Dieser junge Mann ist definitiv kein Einzelfall. Junge Russlanddeutsche, gerade die, die sich politisch eher links verorten, haben sich mit ihren Eltern und Großeltern in den letzten Jahren ziemlich in die Haare bekommen über Themen wie Rassismus und Homophobie.« Eine Erklärung für homophobe und fremdenfeindliche Einstellungen unter postsowjetischen Migranten sei der Einfluss des russischen Fernsehens. Umfragen zeigten, dass stärkerer Konsum von russischen Medien zu extremen Einstellungen führt im Bereich der Flüchtlingspolitik. »Wobei das sicherlich nicht der einzige Faktor ist. Man kann sich auch sehr gut auf Deutsch das Gehirn waschen lassen.« Die Generation der Urgroßeltern von Timur habe im Schwarzmeergebiet ein paar Jahre unter Nazi-Besetzung erlebt, auch das sei eine mögliche Erklärung für die Verbreitung von Herrenmenschen-Ideologie. Gleichzeitig gebe es auch ein fremdenfeindliches sowjetisches Erbe. Teils habe das multiethnische Zusammenleben in der Sowjetunion problemlos funktioniert, »gerade auch in Kasachstan, wo viele verschiedene Ethnien ›abgeladen‹ wurden«. Aber es habe auch starke stereotype Vorstellungen davon gegeben, wie die anderen und wie

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man selbst sei – etwa als Wolgadeutscher fleißig, sauber und ordentlich. Es habe ein konservatives Deutschlandbild gegeben. »Und es gab auch viel Antisemitismus in der Gesellschaft! Viele meinten zu wissen, wie Juden aussehen. Dann kommt man nach Deutschland, das auch nicht frei von Rassismus ist und wo es auch viele verschiedene Gruppen gibt.« Bei der Homophobie spielten die orthodoxe Kirche und Pfingstkirchen eine Rolle, aber es gebe auch eine säkulare Homophobie, die in den russischen Medien stark verbreitet werde. Panagiotidis ist kein Psychologe und kann deshalb die Frage, wie Menschen wie Timur am besten mit ihren Eltern umgehen sollten, nicht beantworten. Deshalb habe ich auch mit dem Psychologen Roland Imhoff gesprochen, der sich an der Universität in Mainz mit Verschwörungserzählungen befasst, wie sie die Eltern von Timur und Maren teils bezüglich des Coronavirus oder eines vermeintlichen Bevölkerungsaustauschs glauben. Imhoff hält sich im Gespräch mit Ratschlägen zurück. Denn die Frage nach dem richtigen Umgang mit Verschwörungsgläubigen, sagt er, werde selbst von Wissenschaftlerinnen oft eher nach Gefühl als nach überprüfbaren Fakten beantwortet. »Wir können nicht in diese Familien reingehen und teilnehmende Beobachtungen machen. Deshalb guckt sich die Forschung eher die Zustimmung zu verschwörungstheoretischen Narrativen in größeren Stichproben an und setzt das in Beziehung zu anderen Variablen.« Bekannt sei, dass inhaltliche Auseinandersetzungen nicht weiterhelfen, da beide Seiten für sich in Anspruch nähmen, an Fakten zu glauben – die eine Seite an die von Tagesschau und FAZ, die andere an die von RT und Compact. Viele seiner Kolleginnen und Kolle-

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gen seien deshalb sehr pessimistisch, was die Chancen angeht, mit Menschen mit einem geschlossenen verschwörungsgläubigen Weltbild in einer guten Beziehung zu bleiben. Imhoff sieht das anders, er teilt diesen Fatalismus nicht: »Die Frage ist, wie belastbar die Beziehung ist und wie viel den Menschen an ihr gelegen ist. Bei den eigenen Eltern ist das ja oft sehr viel.« Imhoff ist überzeugt, dass Detaildiskussionen zwar nichts bringen – bei den Terroranschlägen vom 11. September etwa die Frage, bei wie viel Grad Stahlträger schmelzen –, man aber auch nicht ganze Themenkomplexe völlig aussparen müsse. Stattdessen könne man ein Gespräch darüber führen, wie man an richtiges Wissen kommt. »Selbst wenn prominente Wissenschaftler oder die Wissenschaft an sich dämonisiert werden, gibt es vielleicht Quellen, die dem gleichen Erkenntnis­ modell verpflichtet sind, aber nicht als böse gesehen werden, wie zum Beispiel ›Die Sendung mit der Maus‹«, sagt Imhoff. »Ich glaube, dass sich daraus ein inte­ ressanteres Gespräch entwickelt als bei Detailfragen.« Anders als mit Verschwörungstheoretikern bewertet Imhoff den Umgang mit Rechtsextremen und AfD-Wählern. Denn auch wenn manche AfD-Anhänger an Verschwörungserzählungen glauben, sei hier die Dynamik eine andere. »Ich muss mich ja nicht von einem faktenbasierten Weltbild entfernen, um AfD zu wählen, ich kann einfach meine Werte anders setzen und sagen, Ertrinkende im Mittelmeer sind mir völlig egal. Da ist es schwierig gegen zu argumentieren, weil jeder Werte ­anders gewichtet.« Bei Verschwörungstheorien hingegen würden andere Fakten angenommen, die Werte aber häufig geteilt. Teils hätten Anhänger solcher Erzählungen ein großes Ungerechtigkeits­bewusstsein

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und seien deshalb so aufgewühlt von Erzählungen wie der, dass in Amerika Kinder gefangen und gefoltert würden. So schwer es sei, die Kaltherzigkeit mancher AfD-Anhänger zu ertragen: Mit Menschen, die ein faktenbasiertes Weltbild haben, sei es meist leichter umzugehen. Denn dann könne man sich eher darauf einigen, bestimmte Themen auszusparen. Zu dieser Strategie rät auch Liane Czeremin – zumindest als Übergangslösung. Sie arbeitet bei dem Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie« und koordiniert dort die Onlineberatung gegen Rechtsextremismus. Czeremin erklärt: »Es kann sinnvoll sein, das Thema, über das man ständig streitet, eine Zeit lang ganz auszusparen und abzuwarten, ob sich mit der Zeit eine Basis entwickelt, auf der man dann doch wieder darüber reden kann.« Gleichzeitig sagt sie aber, wenn das ausgesparte Thema die ganze Zeit unterschwellig brodele, sei das auch nicht gut. »Denn dann kocht es irgendwann doch wieder über.« Die Geschichten von Timur und Maren erscheinen Czeremin vertraut. Eigentlich wendet sich ihre Beratungsstelle vor allem an Eltern, die merken, dass ihr Kind falsche Freunde hat oder Rechtsrock hört. Aber immer öfter melden sich auch Menschen bei ihr, die sich um ihre Eltern sorgen. »Man merkt nicht erst seit Corona, sondern schon seit ein paar Jahren, dass das Klima gesamtgesellschaftlich rauer wird, die Polarisierung zunimmt, und dass dies auch Familien spaltet. Seither haben wir auch mehr Anfragen von erwachsenen Kindern.« Czeremin und ihre Kolleginnen raten den Betroffenen nie zu konkreten Handlungen, etwa, den Kontakt abzubrechen oder genau das nicht zu tun. Sondern sie suchen Wege, wie die Kommunikation wieder besser

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funktionieren kann. Meist geht es dann darum, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, die Eltern aus einer anderen Perspektive zu betrachten, empathisch zu sein, sich zu fragen, worum es ihnen wirklich gehe. Oft habe es bei Menschen, die sich bestimmten Ideologien zuwenden, einen Bruch gegeben und sie suchten nun neuen Halt. Auch im Fall von Maren würde Czeremin versuchen, sich der Perspektive der Eltern über Fragen anzunähern: Was für Themen beschäftigen sie? Wo stehen sie im Leben, was haben und was brauchen sie und wodurch sind sie geprägt? Gab es Brüche in der Wendezeit? Steckt hinter den hasserfüllten Aussagen des Vaters über Ausländer vielleicht Angst? Vermeintlich vor Fremden, aber eigentlich davor, dass sein Weltbild ins Wanken kommt durch den gesellschaftlichen Wandel, er nicht mehr mitkommt? Auf welchem Weg könnten die beiden ein Gefühl von Sicherheit wiedergewinnen? »Ein Enkel kann da eine schöne Rolle spielen, weil er Zufriedenheit schenkt und Angst nimmt. Und es ist vielleicht eine Möglichkeit, den Eltern von eigenen Erfahrungen zu berichten, ohne dies mit Vorwürfen zu verbinden. Zum Beispiel zu sagen: Ich kenne ja Menschen aus dem Irak, und die sind keine Gefahr, sondern gute Bekannte.« Czeremin weiß, dass das nicht leicht ist. »Solche Strategiewechsel in Gesprächen wirken nicht immer sofort. Manchmal fallen Reaktionen auch anders aus als erhofft. Unsere Erfahrung zeigt aber, dass dieser Ansatz häufig neue Türen öffnet.« Auch Timur würde Czeremin zunächst Fragen zu den Eltern stellen und versuchen, Verständnis für sie zu wecken: Liegt es nicht nahe, dass aus den Prägungen der Eltern diese Einstellungen erwachsen sind?

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Was mag Timur an ihnen, wann hat er sich zum letzten Mal richtig gut mit ihnen unterhalten und worüber? »In diesen funktionierenden Ausnahmen, wie wir das nennen, versuchen wir Punkte zu finden, an denen man anknüpfen kann.« In Fällen wie dem von Timur müsse man ganz klein anfangen, erst mal versuchen, die Beziehung an sich zu stärken, bevor man sich dann mit dem bereits beschriebenen Ansatz auch wieder strittigen Themen zuwende. »Auch da gilt: Die Erwartungen einnorden. Man wird diese Eltern – und die Großeltern sowieso – nicht dazu bewegen, komplett anders zu denken als bisher. Aber bei der Mutter, die ja noch ansprechbar scheint, wäre es zum Beispiel denkbar, dass sie im Laufe der Zeit ein paar Meinungen überdenkt.« Einfach sei das aber nicht, und natürlich stelle sich die Frage, wie viel Kraft jemand in Timurs Lage aufwenden könne und wolle. Manche Menschen entschieden sich, lieber das eigene Leben zu leben und sich mit Menschen zu umgeben, die ähnlich denken wie sie selbst. »Wir fragen unsere Klienten immer, wie viele Ressourcen sie selbst zur Verfügung haben und wieviel Kraft sie einsetzen wollen.« Timur hat diese Frage für sich schon beantwortet: In die Beziehung zu seinen Großeltern investiert er keine Kraft mehr, wohl aber in die zu seinen Eltern, vor allem zur Mutter. Maren, die selbst Mutter ist, muss ihre Ressourcen noch besser einteilen. Überzeugungskraft investiert sie vorerst nicht mehr, aber zumindest hält sie den Kontakt aufrecht.

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Altlinke Eltern Sein Vater hat kein Verständnis für Davids Sorgen wegen des Klimawandels, fährt weiter viel Auto und fliegt um die Welt. Das sorgt zunehmend für grundsätzliche Konflikte. Als David und sein Vater neulich am Telefon über den Klimawandel diskutierten, schossen David Tränen in die Augen. Weil er sich vom Vater so unverstanden fühlte und ihn gleichzeitig selbst so wenig verstand. »Ich hatte immer das Gefühl, egal bei welchem Thema, dass wir mehr oder weniger in dieselbe Richtung gehen, dieselben Grundideen haben«, sagt David. »Etwa, dass die Gesellschaft sozial sein soll.« Nun, mit Mitte dreißig, ist David dieses Gefühl abhandengekommen. Konnte er früher mit jedem Problem zu seinem Vater kommen, empfindet er ihn jetzt eher als Problem­ verursacher. David ist der Mann einer Kollegin, ich kenne ihn vom Sehen: ein großer blonder Mann mit Bart und Brille, der immer mit dem Rad unterwegs ist und deshalb meist sportlich-lässige Kleidung trägt. Seine Eltern, erzählt er mir am Telefon, trennten sich, als er neun war. Er blieb bei der Mutter wohnen, verbrachte die Wochenenden beim Vater. Als David 14 war, zog der Vater in ein linkes Hausprojekt in einem ehemals besetzten Haus. Das hatte eine große Dachterrasse, und David durfte jederzeit seine Kumpels einladen, dort mit ihnen abhängen und Tischtennis spielen. »Das fand ich richtig cool«, erinnert er sich. Oft war sein Vater dabei, auch auf Partys, und obwohl David damals in der Pubertät war, fand er ihn nie peinlich. »Es war immer entspannt mit ihm, eher ein bisschen kumpelhaft.«

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Davids Vater arbeitete früher als freier Journalist für verschiedene Radiosender, nahm Sozialreportagen in afrikanischen Ländern auf und Musiksendungen mit senegalesischem Rap und brasilianischem Samba. »Damit ging einiges einher«, sagt David, »Reisen, Antirassismus«. Sein Vater liebe es, fremde Kulturen und deren Musik kennenzulernen. Es sei immer sein Wunsch gewesen, in der Rente noch mehr zu reisen. Als David zwischen zwölf und 15 Jahre alt war, begleitete er seinen Vater auf einige Fernreisen: tauchen in Costa Rica, wandern in Ghana, Cessna fliegen in Tansania. »Das war immer sehr cool, aber ist jetzt auch ein Problem.« Denn David, der zwei kleine Kinder hat, arbeitet inzwischen für ein Unternehmen, das Solaranlagen und Windparks baut. Er fliegt nicht mehr, isst nur selten Fleisch, die Familie besitzt kein Auto. Warum, kann David schnell und sachlich erklären: »Ich finde es wichtig, für sich selbst zu schauen, wo man einen Beitrag leisten kann. Den Klimawandel empfinde ich als eine existenzielle Bedrohung. Die Folgen der Erderhitzung werden zunehmen: Fluten, Hitze, Dürren, Hunger, Verbreitung tropischer Krankheiten und so weiter. Das wird Menschenleben und viel Geld kosten, Fluchtbewegungen auslösen, kann zur gesellschaftlichen Spaltung beitragen und Nährboden für gewaltsame Konflikte sein. Die Erreichung des 1,5 Grad-Ziels ist wichtig, damit die Risiken überschaubar und die Auswirkungen beherrschbar bleiben. Ansonsten – und das bereitet mir Sorgen – wird sich der Klimawandel wohl sehr negativ auf das Leben meiner und aller anderen Kinder auswirken.« Diese Sorgen hat David seit dem Studium. Da waren sie noch rein rationaler Natur. Seit er Vater ist, sind

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diese Sorgen aber auch emotional. »Neulich waren wir ­ chlitten fahren, und ich habe mich gefragt, ob es das S letzte Mal war, wo die Kleinen Schnee sehen«, sagt er. »Ich bin ständig in Situationen, wo ich denke, dass ich ihnen gar nicht zu viel vom jetzigen Leben zeigen will, damit sie das später nicht vermissen.« David ist sich sicher, dass sich seine Kinder und vermutlich auch schon er selbst in Zukunft in Folge des Klimawandels extrem werden einschränken müssen. »Heute kann man mit viel geringeren Einschränkungen das Gleiche an CO2 einsparen und Zerstörungen verhindern, die unumkehrbar sind. Es ist absurd, für ein bisschen Spaß Dinge unwiederbringlich zu zerstören, etwa beim Artensterben.« David sagt, rational verstehe sein Vater das Problem. Aber Davids Emotionalität verstehe er nicht – obwohl es ja auch um seine Enkelkinder gehe. Das gibt David das Gefühl, die eigene Freiheit sei dem Vater wichtiger als die seiner Enkel. »Und das finde ich ganz schwer zu verkraften.« Ihre persönliche Sicht auf das Problem könne unterschiedlicher kaum sein. »Ich sehe auf mich zukommen, wie 600 Millionen Menschen fliehen, es Kampf um Lebensraum gibt. Er sieht seinen Urlaub flöten gehen.« Das macht David wütend. »Ich halte ihm vor, dass er mein Problem nicht akzeptiert und sich aus Gemütlichkeit nicht mit seiner Wirkung auf die Welt auseinandersetzen will.« David weiß aber auch: »Ich bin da ihm gegenüber besonders streng, weil er halt mein Vater ist und der Opa meiner Kinder.« Sein Vater, erzählt David, will seine Rente genießen, reisen, sich nicht einschränken – und sich nicht gegenüber seinem Sohn für sein Verhalten rechtfertigen. Nach dem Streit am Telefon schrieb er David per SMS: »Die Proportionen geraten leicht außer Kontrol-

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le, wenn es ideologisch wird. Du wirst die Welt nicht retten.« David antwortete: »Es wundert mich, dass du mich so falsch verstanden hast. Ich fühle mich nicht verantwortlich für das Klima – das wäre auch reichlich dämlich bei der Dimension des Problems. Ich spreche mich allerdings nicht von jeglicher Verantwortung frei.« Davids Vater schrieb: »Wo wir unersetzlich sind, in der Familie, unter Freunden, im eigenen Job, in der Nachbarschaft, da tragen wir viel Verantwortung. Aber im ganz großen Maßstab können wir von den Megathemen nur erdrückt werden.« David antwortete, er könne nicht verstehen, wieso der Vater Unersetzlichkeit in der Familie als Widerspruch zum Klimaschutz betrachte. »Wer soll sich denn für die Zukunft seiner Kinder einsetzen, wenn nicht die eigenen Eltern?« Nur selten tauschen David und sein Vater so offen Argumente aus. Meist meiden sie das Thema. »Wir schweigen es tot. Das ist eine Nicht-Lösung.« Etwa, wenn der Vater und seine Frau David und seine Familie am Rand von Frankfurt besuchen und beide im eigenen Auto kommen, weil sie später noch an verschiedene Orte weiterziehen wollen. Und der jungen Familie dann von ihrem nächsten Urlaub erzählen. David fragt sich dann: »Soll ich ihnen eine schöne Zeit wünschen oder sagen, dass ich es scheiße finde, dass sie schon wieder fliegen? Und sage ich was zu den zwei Autos?« Oft sagt er nichts. Wenn sie doch mal diskutieren, empfindet David seinen Vater als ausweichend. Der entgegnet dann zum Beispiel, als er jung war, habe er viel für eine bessere Welt demonstriert, nun seien die Jungen dran. Auch damals habe man sich außerdem viele Sorgen gemacht, und dann sei es doch anders gekommen, die Welt nicht untergegangen. Das könne doch beim Klimawandel auch so sein: Ob

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man das mit den Kipppunkten wirklich so sicher wisse? Ob es nicht sein könne, dass noch eine CO2-bindende Technologie entwickelt werde? Wenn David ihm erklärt, warum sich andere soziale Fragen und der Klima­wandel nicht vergleichen lassen, es keine magische Lösung geben werde, weiche sein Vater aus, wechsele das Thema. »Ich kann mit ihm weder einen Konsens noch einen Dissens festhalten«, klagt er, »stattdessen flutscht das Gespräch irgendwie weg.« Eigentlich sei sein Vater kein konfliktscheuer Mensch. »Aber in dem Moment, wo er sich selbst hinterfragen müsste, wird er es.« An anderen Tagen gibt Davids Vater sich auch resigniert, sagt etwa, dass gegen den Klimawandel doch eh nur noch beten helfe. »Das legitimiert, nichts zu tun, weil es ja vermeintlich nichts ändern würde«, findet David. Die Frau seines Vaters, erzählt er, habe sich neulich sogar zu der Aussage verstiegen, dann gehe die Welt halt unter. »Das zu Eltern von jungen Kindern zu sagen: Das ist schon übel.« Oft, sagt David, verstehe er weder seinen Vater noch die Dynamik zwischen den beiden. Es handele sich nicht wirklich um einen Wertekonflikt. »Eigentlich liegen unsere Werte nicht so weit auseinander. Unsere Sicht auf die Welt, auf Fakten, ist schon sehr ähnlich. Das Verständnis darüber, in was für eine Situation wir uns reinbewegen, das bewerten wir anders beziehungsweise er hat das nicht so weit durchdrungen wie ich – oder wehrt sich innerlich dagegen. ›Da hilft nur beten‹ oder ›dann geht die Welt halt unter‹: So was zu sagen als guter Mensch, ist das einfach ein Verdrängungs­ mechanismus? Ich verstehe es nicht so richtig.« Wie könnte eine Lösung aussehen? »Es gibt einfach keine«, sagt David erst. Und dann: »Vielleicht muss ich

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manches einfach runterschlucken, und er muss sich bei manchen Dingen ein bisschen einschränken.« David würde sich wünschen, dass sein Vater teilweise einlenkt und sagt: »Ein paar Fernreisen will ich noch machen, aber ich komm mal mit zur Fahrraddemo, esse weniger Fleisch, rede auch mal mit anderen über das Thema.« Denn neben dem ökologischen Fußabdruck, der beim Vater wegen der Fernreisen eher groß sei, könne er ja auch seinen ökologischen Handabdruck angehen: durch Demos, Wahlverhalten, Gespräche mit anderen. »Man kann beliebig viel tun«, sagt David. »Aber gar nichts zu tun ist zu wenig.« Sein Vater aber mache keinerlei Anstalten in irgendeine Richtung. Und je drängender die Klimakrise werde, umso unversöhnlicher werde wohl auch der Konflikt. »Es wird einfach einen Schaden in unserer Beziehung hinterlassen«, ist David sicher.

Altlinke Eltern Deboras Eltern sind Alt-68er und haben sie als Kind vernachlässigt. Weil sie ihre Selbstgerechtigkeit nicht mehr ertragen konnte, hat sie den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Als Debora 15 Jahre alt war, schüchtern und unsicher, rief ihre Mutter ihr auf einer Feier mit lauter Musik und Tanz über den Lärm hinweg zu: »Wir müssen alle mal Gott ­ficken!« Noch mehr als zwanzig Jahre später erinnert sich Debora an die brennende Scham, die sie damals empfand. Eine offene Sexualität, sagt sie heute, sei für ihre Mutter Rebellion gegen das eigene konservativ-katholische Elternhaus gewesen. Deboras Vater wiederum rebellierte gegen seine Eltern, die überzeugte

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Nazis waren, indem er nach der Arbeit Obdachlosen und Drogenabhängigen half, weshalb Debora ihn nur selten zu Gesicht bekam. Wenn die jugendliche Debora sich bei ihren Freundinnen ausheulen wollte, hatten die kein Verständnis. Dass die Mutter nicht bloß demonstrativ über Sex sprach und Affären hatte, sondern ihr bei den Kindern ständig die Hand ausrutschte, wollten die Freundinnen weder hören noch wahrhaben. Sie sahen nur, wie locker und cool angezogen Deboras Mutter und Vater waren, nicht so spießig wie die eigenen Eltern. Der Mythos der 68er, so kommt es Debora oft vor, lag damals wie ein Schutzfilm um ihre Eltern. Und an diesem Schutzfilm perlte alle Kritik ab. Heute ist Debora Ende dreißig, lebt als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin mit ihrem Freund in Süddeutschland, an jedem zweiten Wochenende ist dessen Sohn bei ihnen. Ihr Stiefvater machte sie auf eins meiner Gesuche aufmerksam, und wir verabreden uns zum Telefonieren. Wenn mir später noch Nachfragen einfallen, was immer mal wieder vorkommt, weil Deboras Geschichte sehr komplex ist, schickt sie mir lange Sprachnachrichten als Antwort. Sie klingt immer sehr gefasst und reflektiert, nur manchmal bricht ihre Stimme leicht, wenn es emotional wird. Deboras Familiengeschichte ist chaotisch – und passt damit sehr gut in die Umbruchszeit der sechziger und siebziger Jahre. Deboras Mutter kommt aus einer religiösen Arbeiterfamilie und wurde mit 17 von einem zwielichtigen Mann schwanger, angeblich ohne zu wissen, dass Sex zur Schwangerschaft führen kann. Dann lernte sie einen Studenten kennen. Den setzte ihr Vater, Deboras Opa, so unter Druck, dass er Deboras Mutter

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heiratete und deren Tochter als sein Kind annahm. Die beiden gingen zusammen nach Frankfurt, und nur ein Jahr später brachte Deboras Mutter ein weiteres Kind zur Welt. In dem besetzten Haus, in dem das Paar lebte, lernte die junge Mutter dann Deboras Vater kennen. Elf Jahre später kam Debora auf die Welt, und ihr Vater adoptierte ihre beiden Halbschwestern. Es waren wilde Zeiten. Deboras Vater lieferte sich Straßenkämpfe mit Polizisten, manchmal musste die Familie nachts vor einer Razzia verschwinden. Angeblich lagerte die RAF ihre Waffen zwischenzeitlich mal in der Wohnung des Vaters. Deboras Halbschwestern saßen bei Demos auf seinen Schultern. Irgendwann aß die eine aus Versehen einen Haschischkuchen und schlief danach drei Tage durch. Deboras Kindheit war ruhiger, aber immer noch ungewöhnlich. Die Eltern waren abends viel unterwegs, und die Schwestern nahmen sie deshalb als Baby mit in die Disco. Debora besuchte einen Kinderladen, den Bekannte der Eltern im Zuge der antiautoritären Kinderladenbewegung gegründet hatten. Die Betreuer waren keine ausgebildeten Erzieher, sondern hatten zum Beispiel Kunst studiert. Debora weiß noch, dass sie viel in der Küche saßen, Kaffee tranken und rauchten und die Kinder oft lange sich selbst überließen, manchmal sogar dann nicht kamen, wenn die Kleinen nach ihnen riefen. Das ging manchmal gut – und manchmal furchtbar schief. Debora erinnert sich, dass ein Junge sie bei Doktorspielen mal mit einer Art Drahtzahnbürste, die eigentlich zum Malen und Gestalten gedacht war, im Intim­ bereich verletzt hat. Ein anderer Junge, der ältere Bruder eines Mädchens, der in die erste Klasse ging und im

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Kinderladen nachmittags wie in einem Hort betreut wurde, bedrängte sie, sich mit ihm im Turnzimmer zu verkriechen, ihn anzufassen und sich anfassen zu lassen. »Ich habe das alles irgendwie über mich ergehen lassen.« Debora sagt, das Verhalten des Jungen sei den Erziehern bekannt gewesen, aber niemand habe eingegriffen. Mit dieser Erfahrung erklärt sie sich, warum sie als Jugendliche lange weite, sportliche Klamotten trug, die ihre Körperformen verbargen, nichts mit Sexualität zu tun haben wollte, eine »absolute Spätzünderin« war. Heute glaubt sie: »Im Kinderladen sind mir Sachen passiert, die mir in einem Kindergarten mit Sicherheit nicht passiert wären. Da wäre ich besser betreut gewesen.« Als sie mit sechs den Kinderladen verließ, zogen Debora und ihre Eltern in ein Dorf in Nordhessen. Zu diesem Zeitpunkt führten die Schwestern schon ihre eigenen Leben. Der Vater arbeitete unter der Woche in Frankfurt, und auch die Mutter, eine gelernte Krankenschwester, war oft in der Stadt, wo sie sich zur Gestalttherapeutin weiterbilden ließ und, wie Debora Jahre später erfuhr, eine Affäre mit dem Chef des Weiterbildungsinstituts hatte. Diese Affäre lief über Jahre, begonnen hatte sie, als Debora noch ein Säugling war. »War ich dann als Baby dabei, wenn die sich getroffen haben?«, fragt Debora sich heute. »Das ist schon heftig. Auch, dass der Chef von einem therapeutischen Ausbildungsinstitut etwas mit einer Auszubildenden anfängt: Das hat natürlich auch etwas Missbräuchliches.« So wurde Debora, wenn die Eltern in Frankfurt waren, schon als Grundschulkind tagelang allein gelassen. Sie verbrachte viel Zeit auf einem Bauernhof im Dorf. Dort wurden alte Tiere versorgt – und auch Debora wurde aufgenommen. Im Alter von sieben, acht Jahren

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übernachtete Debora etliche Male tagelang am Stück auf dem Hof. Erst im Schlafzimmer der Bauern, weil sie allein Angst hatte, irgendwann dann in einem eigenen Kinderzimmer. Dort fand sie die Geborgenheit, die ihr bei den Eltern immer fehlte. War die Mutter da, war es für Debora ein emotionales Auf und Ab. Einerseits war die Mutter streng, ohrfeigte Debora für mangelnde Disziplin bei den Hausaufgaben. Andererseits gab sich die Mutter auch sehr verletzlich, erzählte immer wieder von ihrer schrecklichen Kindheit und wie ihr Vater sie im Gartenhaus mit dem Gürtel auf den nackten Hintern geschlagen habe. Sie war ständig krank, und Debora sorgte sich um sie, redete ihr gut zu – als wäre sie die Mutter und nicht das Kind. Die Mutter probierte außerdem die Methoden, die sie in der Ausbildung zur Gestalttherapeutin lernte, an Debora aus. In dem nordhessischen Dorf wurde Debora von ihren Mitschülern gehänselt. Mit der Mutter musste sie solche Konfliktsituationen nachspielen. Die Mutter war dann Debora und Debora die fiese Klassenkameradin, die einen Kaugummi nach ihr geworfen hatte. »Meine Mutter hat mich dann in der Rolle als ich angebrüllt, um mir zu zeigen, wie man mit solchen Leuten umgeht«, erinnert Debora sich. »Aber für mich war das wie eine zweite Bestrafung, denn sie hat sich in diesem Nachspiel verloren, mit aller Wut und Kraft gebrüllt.« Während die Beziehung zu ihrer Mutter zwar eng, aber schon immer ambivalent war, empfand Debora für ihren Vater viele Jahre lang vor allem Bewunderung. Sie wollte so sein wie er: ein guter Mensch, der sein Leben in den Sinn einer guten Sache stellt. Der Vater war Zahnarzt und behandelte aufgrund seiner politischen

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Überzeugungen Arme, Obdachlose und Drogenabhängige kostenlos. Dass er deshalb selten zu Hause war und ständig übermüdet, nahm sie ihm nicht übel. Und dass er sich selbst in seiner Rolle des Armenarztes etwas zu sehr gefiel und bei jeder Gelegenheit erzählte, dass Geld ihm nicht wichtig sei, fiel ihr damals auch nicht auf. »Ich habe meinen Vater bewundert dafür, dass er so viel ausgehalten hat, so sozial war. Und so intelligent und belesen. Lesen war sein Hobby, er hat immer den ›Spiegel‹ und die ›Frankfurter Rundschau‹ und alle Bestseller gelesen.« Wenn die Mutter den Vater anschrie, was sie oft tat, war Debora immer auf seiner Seite. Schon mit 17 zog Debora aus dem Elternhaus aus, verließ das Dorf, in dem sie immer unglücklich gewesen war, und ging zurück in die Stadt. Sie wohnte in einer Wohngemeinschaft und verbrachte viel Zeit mit einer Schauspielgruppe, in die ihr Vater sie vermittelt hatte. »Das war sektenartig, die Leute waren davor in Indien unterwegs gewesen und hatten sehr strenge Regeln«, erzählt Debora. Sie investierte damals so viel Zeit ins Theaterspielen, dass sie durchs Abitur fiel. Als sich einer der Leiter in eine Teilnehmerin verliebte, brach die Gemeinschaft auseinander. Danach fühlte sich Debora völlig verloren. Nur mithilfe einer Freundin der Mutter fand sie wieder Halt. Unterstützt von dieser Frau holte sie ihr Abitur auf einer Fachoberschule nach. Debora sagt, ihr großes Glück sei es gewesen, im Lauf ihres Lebens in älteren Frauen immer wieder Mütterinstinkte geweckt zu haben, wie schon bei der Bäuerin. Erst als Debora längst erwachsen und als Teil ihrer psychotherapeutischen Ausbildung selbst in Therapie war, wurde ihr klar, wie viel in ihrer Familie im Argen

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lag. Dass nicht nur die Schläge ihrer Mutter eine Zumutung waren, sondern auch die ständigen Anrufe, die Erwartung, immer verfügbar zu sein und sich um die Mutter zu kümmern, ihre Probleme anzuhören, sie zu trösten, wenn sie mit einer Freundin oder ihrem Mann gestritten hatte. Auch vom Vater distanzierte sie sich in Folge der Therapie. »Weil ich gemerkt habe, dass dieses Gutmenschentum keine Rechtfertigung dafür ist, dass mein Vater nie für mich da war.« Und weil er ihr zunehmend selbstverliebt und in der Vergangenheit verhaftet erschien. »Diese Generation ist so stolz auf diese Jugend und Umbruchzeit, dass sie darin in gewisser Weise hängengeblieben ist«, sagt Debora. »Und für die Kinder ist es schwer, wenn die eigenen Eltern nicht wirklich erwachsen sein wollen.« Bei der Verklärung dieser Jugend habe oft auch eine gewisse Überheblichkeit mitgeschwungen. »Welche Musikgeneration ist schon so toll wie die 68er? Hannes Wader, Konstantin Wecker, Janis Joplin, Rolling Stones. ›Die arme Generation, die zu spät geboren ist!‹ So klang das immer.« Erst als Erwachsene fiel Debora auf, dass in den Texten dieser Lieder Werte gepredigt wurden, die die Eltern nur in der Theorie bejahten, denen sie aber eigentlich überhaupt nicht folgten. Am augenfälligsten war das im Fall von Bettina Wegners Lied »Kinder«, in dem es heißt: »Sind so kleine Hände / Winz’ge Finger dran / Darf man nie drauf schlagen / Die zerbrechen dann«. Das hörte Deboras Mutter häufig laut im Radio. An Weihnachten vor sieben Jahren kam es erstmals zu einem Bruch. Debora war bei ihren Eltern, und die Mutter las einen esoterisch angehauchten Text vor, in dem es darum ging, dass das Jesuskind bei seiner Geburt den Eltern ausgeliefert war, wie alle Kinder ihren

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Eltern. Die Zuhörer sollten sich vorstellen, selbst nackt, ungeschützt und abhängig in einer Krippe zu liegen. Als immer wieder dieses Wort vorkam – ausgeliefert –, konnte Debora plötzlich nicht mehr. Sie stand auf, verließ die elterliche Wohnung und feierte stattdessen mit ein paar Freunden Weihnachten. Seither hat sie nur noch sporadisch Kontakt zu den Eltern. Zuletzt war es in manchen Jahren nicht mehr als eine Postkarte zum Geburtstag. »Ich habe mich von beiden entfremdet«, sagt sie. Debora denkt viel darüber nach, wie die Politik ihre Familie beeinflusst hat, wie sich politische Radikalität in den verschiedenen Generationen zeigt und sie gespalten hat. Der Vater ihres Vaters war ein gewalttätiger Sadist, schlug den Sohn mit Ketten. Er war außerdem ein überzeugter Nationalsozialist und in der SS. Ihr Vater folgte ihm erst ein Stück weit und war Mitglied in einer schlagenden Verbindung. Dann wechselte er von dem einen Extrem ins andere, wurde linksradikal. »Ich bin selbst weder links noch rechts«, sagt Debora. »Ich mag keine Extreme, weil die spaltend sind.« Seit ihrer Psychoanalyse sieht sie die Eltern und deren Zugehörigkeit zur Studentenbewegung mit anderen Augen. »Die 68er waren eine Maske«, ist Debora heute überzeugt. »Klar haben meine Eltern demon­ striert, Häuser besetzt, sich mit der Polizei geprügelt. Aber eigentlich haben sie nur eine Bewegung gesucht, in der sie ihren verletzten Seelen ein ehrenhaftes Kostüm geben konnten.« Diese seelischen Verletzungen und die emotionale Instabilität habe die Mutter an ihre beiden älteren Töchter weitergegeben. Beide seien magersüchtig, erzählt Debora, und ihre Kinder seien in ständiger Sorge um

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sie – so wie es Debora einst um ihre Eltern war. Mit ihren Halbschwestern hat Debora regelmäßig Kontakt, auch wenn die beiden zu den Eltern halten, Debora die Distanzierung vorwerfen. Wie geht es weiter? Debora sagt, im Laufe der kommenden Monate werde sie ihre Eltern vielleicht mal treffen wollen. »Ich will das nicht ewig auf Eis legen, aber weiß auch, dass es immer eine schlechte Wirkung auf mich hat, die beiden zu sehen. Dass ich danach an mir zweifle, mich teils sogar selber hasse.« Debora sagt, sie müsse emotional bezahlen für den Kontakt zu den beiden – aber es seien eben ihre Eltern.

Was sagen Fachleute zur Beziehung von Kindern und altlinken Eltern? Meike Baader kritisiert, dass den Kindern von 68ern viel zugemutet wurde und Lea Dohm rät, in Debatten um den Klimawandel erst mal zuzuhören. Bei Menschen, die sich über politische Themen von ihren Eltern entfremdet haben, dachte ich zuerst an Populismus, Pegida, AfD, Querdenker – und nicht an den Klimawandel oder die Alt-68er. Umso mehr habe ich mich gefreut, als sich David und Debora bei mir gemeldet haben. Beide haben linke Eltern, von denen sie sich entfremdet haben – Debora sehr, David ein wenig. Haben sie darüber hinaus etwas gemeinsam? Ganz beantworten kann ich diese Frage immer noch nicht. Aber im Austausch mit der Pädagogin Meike Baader und der Therapeutin Lea Dohm bin ich einer Antwort zumindest nähergekommen.

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Generell scheint zu gelten, dass Kinder von Alt68ern, aber auch von linksliberal-alternativen Eltern, die zur Zeit der Studentenbewegung selbst noch Kinder waren, mit ihren Eltern weniger Reibungspunkte bei klassischen Konfliktthemen haben, etwa Ausgehzeiten oder Optik und Ordnung des Kinderzimmers. Und womöglich besteht in diesen Familien eher ein Problem mit Parentifizierung – also damit, dass die Kinder viel Verantwortung übernehmen, früh in eine Erwachsenen­rolle hineinrutschen. Bei Debora und anderen Kindern studentenbewegter Eltern ist das sicherlich der Fall. Wenn sechzehnjährige Schülerinnen fürs Klima demonstrieren gehen und sich in Verzicht üben, während ihre Eltern eine Verantwortung im Kampf gegen den Klimawandel ablehnen, ist möglicherweise eine ähnliche Dynamik am Werk. David ist zwar schon erwachsen, aber er bleibt natürlich der Sohn seines Vaters – und findet dessen Verhalten in Bezug auf die Klimakrise unreif. Zwischen Debora und David gibt es eine weitere Ähnlichkeit: Deboras Eltern und Davids Vater waren Avantgarde, Vorreiter einer Ideologie ihrer jeweiligen Zeit. David und Debora sind damit gleichzeitig in außergewöhnlichen, aber auch für die damaligen Jahre paradigmatischen Elternhäusern aufgewachsen. Denn was in den 60ern und 70ern die Studentenbewegung, war in den 90ern wohl am ehesten Multikulturalismus und Weltmusik. Weil es sich davon abgesehen aber um zwei sehr unterschiedliche Fälle handelt, habe ich nicht mit derselben Expertin über beide gesprochen, sondern mit Meike Baader über Debora und die 68er und mit Lea Dohm über David und die Klimakrise.

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Meike Baader ist Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Hildesheim und hat viel zu den 68ern geforscht und publiziert. Was sie erzählt, ist so spannend, dass ich mich wundere, warum die 68er in der Psychologie, nach allem was ich herausfinden konnte, eher untererforscht sind. Gleichzeitig leuchtet mir ein, warum sich eine Pädagogin mit dem Thema befasst. Denn pädagogische Fragen waren für die Studentenbewegung zentral. Schließlich fragten sich die 68er, wie man junge Menschen so erziehen kann, dass sich Auschwitz nicht wiederholt. Junge Leute empörten sich über das Buch »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« der NS-Autorin Johanna Haarer, das dazu auffordert, Kinder zu Härte zu erziehen und – mit kleinen Änderungen – bis in die achtziger Jahre verlegt wurde. Und am Institut für Sozialforschung in Frankfurt befasste Theodor W. Adorno sich in seinen »Studien zum autoritären Charakter« mit Gehorsam und Unterwerfung unter Obrigkeiten. »Vor diesem Hintergrund entstanden die antiautoritäre Erziehungsbewegung und die von Eltern aus der Studentenbewegung gegründeten antiautoritären Kinderläden«, erzählt Baader. In diesen Kinderläden sollten die Kinder mitentscheiden über Essen, Schlafenszeiten, Gestaltung der Räume. »Ein zentraler Begriff war Selbstbestimmung«, sagt Baader. »Manchem davon würde man heute noch zustimmen, bei anderen Punkten war es überfordernd für die Kinder.« Aus dem Glauben heraus, Kinder könnten ihre Aggressionen selbst regulieren, solange man sie nur lässt, griffen Erzieherinnen teils nicht ein, wenn die Kleinen sich prügelten. »Den Kindern wurde da viel zugemutet.« Die studentenbewegten Erwachsenen hielten sich generell sehr zurück. Teils aus Überzeu-

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gung, weil sie die Kinder als selbstständige Persönlichkeiten anerkennen wollten. Teils aber auch, weil sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren oder damit, sich politisch zu engagieren. Besonders kritisch erscheint aus heutiger Sicht der Umgang mit Sexualität. Kinder wurden dazu ermuntert, ihre frühkindliche Sexualität zu entdecken, Eltern ließen die Tür offen, wenn sie Sex hatten. Dass in ­Deboras Kinderladen niemand etwas gegen den älteren, sexuell übergriffigen Jungen unternahm, fügt sich da ins Bild. Für diese Grenzüberschreitungen hatten die 68er theoretische Grundlagen, erzählt Baader: Genauso angesagt wie Adornos Studien seien damals die des Psychoanalytikers und Sexualforschers Wilhelm Reich gewesen, der davon ausging, eine unterdrückte Sexualität führe in den Faschismus. Während vieles aus dem sexuellen Bereich heute fundamental anders betrachtet wird, ist anderes als positives Erbe der Kinderladenbewegung bis heute gültig. »Die gewaltfreie Erziehung, über Strafen wirklich sehr kritisch nachzudenken, die wirklich auch abzulehnen«, sagt Baader: »Das bleibt eigentlich schon.« Insofern ist es ungewöhnlich, dass Deboras Mutter die Tochter in den Kinderladen geschickt und gleichzeitig geschlagen hat. Anderes wiederum erscheint Baader bei Debora durchaus exemplarisch: dass die Mutter im Selbsterfahrungsmilieu unterwegs war, darin aufging. Dass es mit der bedürftigen Mutter, die sich teils wie eine Tochter verhielt, eine Rollenkonfusion gab, eine Parentifizierung. Dass eine Entgrenzung stattfand, bezüglich der Mutter-Kind-Rolle, aber auch bezüglich der Sexualität, dem vor der Tochter geäußerten Wunsch, »mal Gott zu ficken«. Dass Debora viel allein gelassen

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wurde, während der Vater versuchte, die Welt zu verbessern und die Mutter, sich selbst zu verwirklichen. Und dass Debora sich Mutterersatz in anderen Personen suchte. »Bettina Röhl hatte auch Personen, denen sie sich verbunden fühlte und anvertraute in Abwesenheit der Mutter«, sagt Baader. Röhl, eine der Zwillingstöchter der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, ist das vielleicht prominenteste Kind von 68ern. In ihrem Buch »Die RAF hat euch lieb« prangert sie das Verhalten der Mutter an und rechnet mit den 68ern ab. Im Lauf der Jahre wurde Röhl immer vehementer in ihrer Ablehnung dieser Bewegung. Andere hingegen sahen die eigene Kindheit immer milder, je größer der Abstand wurde. Etwa Katharina Wulff-Bräutigam, die 2005 im Buch »Bhagwan, Che und ich: Meine Kindheit in den 70ern« ihren Eltern vorwirft, in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und Weltverbesserung die eigene Tochter sträflich vernachlässigt zu haben. Als der »Spiegel« Wulff-Bräutigam 2018 interviewte, fühlte sie sich den Eltern wieder viel näher und wollte sich nicht mehr kritisch über sie äußern. Debora ist deutlich jünger als diese beiden Frauen. Ihre Mutter bekam sie elf Jahre nach ihrem ersten Kind, und im Gegensatz zu ihren Schwestern ist Debora gar kein wirkliches Kind der siebziger Jahre, sondern eines der Achtziger, das im Zeitgeist der Siebziger aufwuchs. Ihre Kindheit liegt also weniger lange zurück. Gut möglich, dass ihr Blick auf die Eltern irgendwann auch noch einmal milder wird. Andererseits hat Debora der gewalttätigen Mutter deutlich mehr zu verzeihen als manch anderes Kind von Alt-68ern. So ungewöhnlich die Kombination antiautoritärer Ideale und gewalttätiges Handeln bei Debora auf den

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ersten Blick wirken mag: Ihre Mutter scheint mindestens emotional instabil, vermutlich sogar psychisch krank zu sein. Und mit psychisch kranken Eltern müssen viele Kinder umgehen. »Das ist zumindest nicht untypisch«, erläutert Baader. Womöglich habe die Mutter aus einer für die damalige Zeit typischen Kritik an der Psychiatrie und Reserviertheit gegenüber institutionalisierter Form der Hilfe nie eine Therapie gemacht. Und David? Um den Konflikt mit seinem Vater besser zu verstehen, habe ich Lea Dohm kontaktiert. Sie arbeitet als Psychotherapeutin in einem Dorf nahe Hannover – und ist Mitbegründerin der »Psychologists for Future«, einer Initiative von Psychologen zur Unterstützung der »Fridays for Future«-Bewegung. Dohm sagt, in der Klimakrise seien viele Mechanismen am Werk, mit denen Psychologinnen sich gut auskennen. Das ist zum einen die Verdrängung: Dass eine so große Krise immer wieder in den Hintergrund rückt, niemand so recht handeln mag, sei etwa ein Mechanismus ähnlich dem, den Menschen an den Tag legen, die eigentlich dringend zur Darmspiegelung sollten. Zum anderen die Kommunikation: Wie können vom Klimawandel alarmierte Menschen mit anderen darüber sprechen, ohne sie zu verschrecken? Und drittens die Gefühle rund ums Klima: Wie kann man damit umgehen, wenn der Klimawandel einem Angst macht, man traurig oder wütend ist? Den Konflikt, den David mit seinem Vater hat, hält Dohm für exemplarisch. Aber eher, weil es in Familien bei diesem Thema oft hoch hergeht, als weil es sich um einen Generationenkonflikt handelt. Dohm hält nicht viel davon, den Kampf gegen den Klimawandel als einen zwischen den Generationen zu betrachten. Das helfe niemandem weiter, spalte die Gesellschaft

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und werde den vielen älteren Menschen, die sich engagieren, nicht gerecht. Trotzdem sei es natürlich so, dass heute Fünfundsechzigjährige vom Klimawandel anders betroffen seien als Jüngere. Dohm sagt, dass der Klimawandel David Angst macht, sei verständlich. »Wer sich viel mit dem ­Thema befasst, bei dem stellt sich fast automatisch Angst ein.« Die Frage sei, wie man damit umgehe, ein Mittelmaß finde zwischen Verdrängung und einem panischen ­Hineinsteigern. Manche bräuchten etwa gelegentlich eine Pause von Social Media, um nicht ständig von alarmierenden Informationen überschwemmt zu werden. Was auch sehr gut gegen Klimaangst helfe, sei Engagement, weil Engagierte das Gefühl hätten, etwas zur Lösung beizutragen. Auch, dass David sich über seinen Vater ärgert, kann Dohm gut verstehen: »Er hat berechtigte Sorgen um eine lebenswerte Zukunft für seine Kinder. Dass die denselben Lebensstil haben werden wie er, ist unwahrscheinlich.« Dem Anderen nur Fakten hinzuknallen wirke aber belehrend und moralisierend und erzeuge Abwehr. Deshalb sollte er versuchen, seinen Vater besser zu verstehen. »Die Grundregel in der Klimakommunikation lautet: Erst mal zuhören!« Dohm sagt, wenn der Vater sein Berufsleben lang geplant habe, als Rentner viel zu reisen, bedrohten die Anforderungen seines Sohns seinen Lebensentwurf und damit einen Teil seiner Identität. Ich lese Dohm die Nachrichten vor, die David und sein Vater ausgetauscht haben, und sie ist sehr angetan: »Die bewegen sich auf differenziertem Niveau, sind zugewandt und bleiben es auch!« Sie gibt beiden ein Stück weit recht: Das »da hilft nur beten« des Vaters

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sei Defätismus, also die Vorstellung, dass man sich in einem ohnehin schon verlorenen Krieg nicht mehr anstrengen müsse. Eine falsche Einstellung, mit der man »Abgrunds-Orgien« rechtfertigen könne. Gleichzeitig müsse man auch aufpassen, die Klimakrise nicht zu sehr zu individualisieren. Wer an einem Tag auf das Schnitzel verzichte, könne die Krise danach wieder besser verdrängen – Single-action-bias nennt Dohm das. Dabei bringe der Verzicht auf Fleisch oder der Kauf einer Bambuszahnbürste vergleichsweise wenig. Sinnvoller sei kollektives Handeln. »In meinem Dorf hat der Sportverein jetzt eine Fahrradkampagne gestartet, aufgerufen, mal das Auto stehen zu lassen«, erzählt sie. »Mit der Botschaft: Fahrradfahren macht Spaß und ist gesund. So kommt man in eine Positivspirale, weg aus der Verzichtsdebatte.« Dohm glaubt nicht, dass David und sein Vater sich über den Klimawandel endgültig entfremden werden: »Die beiden scheinen ja guten Kontakt auf hohem Niveau zu haben. Einen Bruch würde ich in diesem Fall eher nicht vermuten.« Möglicherweise steuerten sie auf eine etwas andere Art des Kontakts zu, auf eine Beziehung, in der beide akzeptieren, sich nicht in allen Punkten zu verstehen. »Das ist ein schmerzhafter Prozess des Erwachsenwerdens, den wir alle durchmachen. Zu erkennen: Manches kann man besser mit der Partnerin oder einem Freund besprechen als mit den Eltern.« Das passiert bei David gerade auf jeden Fall, der sagt: »Ich konnte früher immer mit meinem Vater über alles reden, mit jedem Problem zu ihm kommen, jetzt ist er eher der Problemverursacher.«

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III MIGRATION

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Eingewanderte Eltern Amilas Mutter akzeptiert den deutschen Partner ihrer Tochter nicht. Sie fühlt sich bosniakisch, Amila fühlt sich eher deutsch – und liebt ihre Mutter trotzdem. »Deine Großeltern werden das nicht dulden, das wird nicht funktionieren, keiner wird es akzeptieren«: So reagierte Amilas Mutter auf die Nachricht, dass Amilas Freund Deutscher ist. Dabei ist Amila, die bosniakische Wurzeln hat, selbst in Deutschland geboren. Sie ist Anfang dreißig, hat ein abgeschlossenes Studium, einen Beruf, der ihr Spaß macht, und nun schon seit sechs Jahren einen festen Freund. Gleichzeitig wohnt sie immer noch bei ihrer Mutter und findet nur schwer ein Rezept im Umgang mit deren ständiger Einmischung – außer schweigen, lächeln, das Thema wechseln. Sich deutlicher abzugrenzen fällt ihr schwer. Denn Amila liebt ihre Mutter. Gleichzeitig fühlt sie sich ihr gegenüber mit der Zeit immer fremder. »Über die Freunde und die Familie meines Freundes habe ich die deutsche Kultur noch mal anders kennengelernt, unmittelbarer und nicht so, wie meine Eltern sie mir vermittelt haben«, erzählt sie. Ihre Mutter aber verbringt immer mehr Zeit in Serbien, seit ihr Mann verstorben ist, Amila und ihre Schwester erwachsen sind und die Großeltern zunehmend gebrechlich werden. »Je älter sie wird, umso mehr geht sie zurück zu ihren Wurzeln, während es bei mir genau andersherum ist«, sagt Amila. Sie selbst habe, im Gegensatz zu vielen anderen Migrantenkindern, überhaupt kein Problem damit, sich auch als Deutsche zu bezeichnen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie sehe, was es für Pro­

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bleme bringen könne, wenn man zu viel Wert auf die Heimat lege. Amila, eine große schlanke Frau mit feinen Gesichtszügen, die neben dem Studium gemodelt hat, ist mit einer Kollegin von mir befreundet. Sie hat Anglistik und Medienwissenschaften studiert und betreibt zusammen mit ihrem Freund eine kleine Agentur für Social-Media-Marketing – ein Beruf, unter dem ihre Familie sich nicht viel vorstellen kann. Amilas Mutter arbeitete in Deutschland viele Jahre als ungelernte Aushilfe, inzwischen ist sie Filialleiterin einer Modekette. Sie hat und hatte über die Jahre viel Kontakte zu Deutschen, auch über die Schule und den Tennisverein der Tochter. Amilas Mutter ist außerdem nicht sonderlich religiös, geht nicht in die Moschee, fastet während des Ramadans höchstens mal ein, zwei Tage. Amila war manchmal als Kind mit dem Vater in der Moschee und der Koranschule. Aber dann war bald keine Zeit mehr, weil er sie stattdessen zum Tennis und zum Volleyball fuhr. Sport, Schwimm­ unterricht, Klassenfahrten: Das alles war kein Thema. Erst als sie älter wurde und anfing, sich für Jungen zu interessieren, begannen die Probleme – und das Gefühl von Entfremdung. Mit dem ersten Freund ihrer Tochter war Amilas Mutter nicht zufrieden, obwohl er aus ihrer bosniakischen Heimatstadt kam. Amilas Mutter war der Meinung, dass ihre Tochter mit 17 noch zu jung sei für einen Freund, selbst einen, den sie nur ein paarmal im Jahr in dem muslimisch geprägten Ort in Serbien sah, in dem die Mutter aufgewachsen ist. Außerdem seien der Junge und seine Familie nicht gut genug für Amila. Womöglich war sie auch deshalb so streng, weil kurz

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zuvor Amilas Vater verstorben war und sie nun allein für den guten Ruf der Familie sorgen musste. Deutlich härter fiel ihr Urteil zu Amilas zweitem Freund aus, einem Deutschkroaten. Als die Mutter von dieser Beziehung erfuhr, sagte sie: »Das geht nicht, die Kroaten hassen uns.« »Die«, »uns«? Für Amila haben diese Kategorien keine Bedeutung. Sie war vier Jahre alt, als der kroatisch-bosniakische Krieg 1994 endete, hat keinerlei Erinnerungen an Fernsehberichte oder anderes aus dieser Zeit und auch nicht das Gefühl, dass die jugoslawischen Zerfallskriege sie heute noch irgendwie prägen. Ihre Mutter aber sieht sich bis heute in einer Opferrolle. »Und aus der kommt sie nicht raus«, sagt Amila. An der Kriegserfahrung liegt es wohl auch, dass Amilas Mutter einen muslimischen Schwiegersohn will, obwohl sie selbst den Islam nicht praktiziert. Zwar argumentiere ihre Mutter damit, dass der Islam es verbiete, Angehörige einer anderen Religion zu heiraten, erzählt Amila. Aber es gehe ihr eher um eine säkularisierte Form der Religion als Teil der Kultur als um den Glauben. Diese Kultur sei durch die Kriege im früheren Jugoslawien vielen heute wichtiger als vor einigen Jahrzehnten. Vor dem Krieg lebten orthodoxe Serben, katholische Kroaten, muslimische Bosnier und andere friedlich zusammen. Nach seinem Ende aber betonten diese Gruppen, die sich zuvor in erster Linie als Jugoslawen gefühlt hatten, ihre religiösen und ethnischen Unterschiede. »Weil Beziehungen und Freundschaften zwischen diesen Gruppen auseinandergebrochen sind im Krieg, will man jetzt unter sich bleiben«, glaubt Amila. Sie hat einen eher milden Blick auf ihre Mutter. Als Alleinstehende laste viel Druck auf ihr. Und der komme

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auch von den Großeltern, die nun mal noch einer ganz anderen Generation angehörten. Den Großeltern falle es noch schwerer als der Mutter, Amilas Beziehung zu akzeptieren. Sie werfen der Mutter vor, dass sie diese Beziehung zugelassen habe, fragen immer wieder, was denn »die Leute« denken sollen. »Das ist eh eine Krankheit auf dem Balkan, dass man so viel Wert da­ rauf legt, was andere denken«, sagt Amila. Auch diese Denkweise trennt sie vom Rest ihrer Familie. Sie meint, wer schlecht über andere reden will, findet immer einen Grund. In dieser Hinsicht ist sie dann doch enttäuscht von ihrer Mutter: Würde die sich gegenüber den Großeltern klar auf Amilas Seite positionieren, wäre bestimmt alles leichter, glaubt Amila. Vielleicht, überlegt sie, müsste sie das noch offensiver einfordern. Doch während sie zu Beginn ihrer Beziehung mit ihrem Freund noch öfter mit der Mutter diskutiert habe, versucht sie inzwischen eher, Diskussionen zu vermeiden. »Wir sind nicht zerstritten«, beschreibt Amila die Lage in ihrer Familie, »aber es ist oft ein Elefant im Raum.« Wenn sie sich von ihrer Mutter verabschiedet, um zu ihrem Freund zu fahren, antworte die nie »Viel Spaß und richte Grüße aus«, sondern: »Wann kommst du wieder?« Immerhin ist das schon eine Verbesserung im Vergleich zu früher. Da habe die Mutter ihr die Übernachtungen beim Freund zwar auch nicht grundsätzlich verboten, aber doch meistens eine Diskussion angefangen und manchmal auch gesagt: »Nee, heute Abend kommst du mal nach Hause.« In diesen halbherzigen Versuchen, sie von ihrem Freund fernzuhalten, habe der Wunsch mitgeschwungen, dass die Beziehung in die Brüche gehen, »das Problem sich von selbst lösen« würde, wie

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Amila es formuliert. Inzwischen sei ihrer Mutter bewusst, dass das nicht passieren werde. Sie hat Amilas Freund nun auch kennengelernt und betont inzwischen, dass ihre Abneigung nichts mit ihm persönlich zu tun habe. In dessen Wohnung, in der ihre Tochter demnächst auch leben wird, war sie allerdings bis heute nicht. Dass Amila zu ihrem Freund zieht, obwohl die beiden noch nicht verheiratet sind, ist ein weiterer Streitpunkt mit der Mutter. Und künftig könnte es Probleme geben, wenn Amila und ihr Freund selbst Eltern werden. Was für einen Namen bekommt das Kind? Wird es Weihnachten oder das Zuckerfest feiern? Wie wird es erzogen werden? Wenn ihre Mutter sie das fragt, antwortet Amila: »So wie er und ich erzogen wurden.« Sie meint damit: liebevoll, unterstützend, offen. Und nicht die religiöse Erziehung, die beide genossen haben – wobei ihr Freund aus der Kirche ausgetreten ist und sich als Atheist bezeichnet. Ein religiöser Name liegt da nicht gerade nahe. »Ich weiß, dass meine Familie bei einem nicht-muslimischen Namen Stress machen würde«, sagt Amila. »Und ich weiß, dass es meine Aufgabe ist, dann zu sagen: Stopp.« Amila erzählt, dass all die ungeschriebenen Gesetze, gegen die sie in den Augen ihrer Familie verstoße, nicht sonderlich kohärent seien. Die Pflicht, keinen Nicht-Muslim in die Familie zu bringen, gelte vor allem für Frauen. Und erst zu heiraten und dann zusammenzuziehen sei vor allem dann wichtig, wenn man diese Regel verletzt habe. Ihre Cousine zum Beispiel habe ihren Mann – einen Bosnier – auch erst nach dem Zusammenziehen geheiratet. Und würde ihre Schwester, die mit einem Deutschen mit bosnischen Wurzeln zusammen ist, es in dieser Reihenfolge machen, fände

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die Mutter das wahrscheinlich weniger schlimm als bei Amila. Zumindest erkundige sich die Mutter viel öfter nach dem Freund der Schwester, richte Grüße aus – ­obwohl die beiden erst viel kürzer ein Paar sind. Auch dass die Großeltern sich wünschen, dass ihr Freund zum Islam konvertiert, findet Amila unlogisch. Denn es sei nicht im Sinne der Religion, wenn ihr atheistischer Freund nur ihretwegen konvertiere. »Aber es geht eben nicht um Religion«, sagt Amila, »sondern um Tradition und Kultur.« Eine Tradition und Kultur, die in den Augen ihrer Familie nur in Abgrenzung von anderen bewahrt werden kann. Als sie noch sehr jung war, erzählt Amila, sei sie mal in einen Deutschen »verschossen« gewesen. »Da dachte ich schon: Ach nee, das geht nicht«, erinnert sie sich. »Ich wurde also offenbar so erzogen, dass mir unterbewusst klar war: Ich darf keinen deutschen Freund haben.« Früher haben sich Amila und ihre Mutter manchmal heftig miteinander gestritten. Wenn die Mutter behauptete, das gehe »nun mal einfach nicht«, schrie Amila, wenn die Mutter nicht wolle, dass sie mit einem Deutschen zusammen sei, hätte sie halt nicht nach Deutschland ziehen und sie dort zur Welt bringen sollen. Inzwischen sind die Auseinandersetzungen subtiler. Ihre Mutter schaffe es, Amila auch ohne Worte spüren zu lassen, dass ihr etwas nicht passt. Oder sie drückt ihr Missfallen indirekt aus. Etwa, wenn Amilas Tante fragt, wann der Freund denn nun endlich fertig renoviert habe und wann Amila bei ihm einziehe und die Mutter antwortet: »Wenn sie geheiratet hat.« Amila sagt, ihre Mutter wisse, dass das nicht stimme. »Ich kann verstehen, dass sie so denkt, aber akzeptieren kann ich es nicht«, erklärt Amila. Trotzdem ist

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sie sich sicher, dass die Beziehung zu ihrer Mutter nicht in die Brüche gehen wird. Dafür sei sie zu eng, vor allem seit dem Tod von Amilas Vater. Auch die Großeltern, weiß Amila, würden nie vollständig von ihr abrücken. Vielleicht ist es auch dieses Wissen um die Liebe und Loyalität ihrer Familie, das Amila den Streit und die Entfremdung mit Fassung und einem gewissen Vertrauen in die Zukunft tragen lässt. »Obwohl meine Familie mir Probleme macht, mag ich meine Herkunft«, sagt sie. »Ich wünsche mir, dass sie irgendwann mal moderner denken und leben. Vielleicht kann ich ja die Erste in der Familie sein, die da etwas ins Rollen bringt.«

Eingewanderte Eltern Mit Cans Coming-out kamen seine Eltern nur schlecht zurecht, sie sind danach in die Türkei zurückgekehrt. Er sieht sie nur noch selten. Als Can so etwa neun Jahre alt war, kamen an einem Samstagabend türkische Nachbarn zu Besuch. Es gab wie immer an solchen Abenden Schwarztee aus kleinen Gläsern, und jemand von den Erwachsenen fragte Can, auf welche Schule er nach der Grundschule wechseln wolle. Der kleine Can war damals nicht besonders gut in der Schule und hatte kaum Vorbilder in seiner Umgebung. Er antwortete den neugierigen Nachbarn mit einem Achselzucken, dass er wohl auf die Hauptschule wechseln werde. Am nächsten Tag, daran erinnert sich Can noch ganz genau, nahmen ihn seine Eltern zur Seite und fragten ihn, warum er denke, er könne es nur

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auf die Hauptschule schaffen. Sie machten ihm so viel Mut, dass Can danach nicht nur aufs Gymnasium wollte, sondern sich auch sicher war, dass er das Zeug dazu hatte. Ein Jahr später wurde ihm bei einer Feier zum türkischen Nationalfeiertag mit Tänzen und Folklore auf der Bühne einer Mehrzweckhalle zusammen mit wenigen anderen Kindern ein Pokal dafür überreicht, dass er es als Sohn von Gastarbeitern aufs Gymnasium geschafft hatte. Noch heute ist Can – Anfang dreißig, breite Schultern, sympathische Lücke zwischen den Schneidezähnen – seinen Eltern dafür dankbar, dass sie den Ehrgeiz in ihm geweckt haben, die Lust zu lernen, weiterzukommen. Gleich nach dem Abitur ging er zum Studieren nach England, heute arbeitet er als Entwicklungshelfer und reist dafür durch die ganze Welt. Seine Eltern hören ihm gern zu, wenn er von seinem Berufsleben erzählt. Leider gilt das nicht für sein Privatleben. Denn Can ist schwul. Seit einigen Jahren hat er einen festen Partner, mit dem er zusammenlebt. Seine Eltern, vor allem die Mutter, können das nur schwerlich akzeptieren. Sie blenden es aus, fragen nie nach seinem Freund, verheimlichen ihn und Cans Homosexualität vor dem Rest der Familie. Sein Coming-out hatte Can nicht geplant. Aber die Fragen danach, wann er endlich heiraten würde, lasteten immer schwerer auf ihm. Und bei einem Besuch bei seinen Eltern in Süddeutschland vor etwa sieben Jahren war seine Niedergeschlagenheit so deutlich, dass seine Mutter ihn drängte, ihr endlich zu sagen, was los sei. »Ich hab’ es einfach gesagt, aus der Not heraus, aber auch ohne Wenn und Aber«, erinnert sich Can. Seine Mutter brach in Tränen aus, auch sein Vater war be-

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stürzt. Beide versicherten ihm aber auch sofort: Wir lieben dich trotzdem. Die Monate und Jahre danach waren dennoch sehr schwierig. Schnell wurde klar, dass vor allem seine Mutter es nicht übers Herz bringen würde, einen Schwiegersohn zu akzeptieren. »Als ich jemanden kennenlernte, wurde darüber nicht gesprochen. Und als ich dann mal ganz konkret wissen wollte, ob ich ihnen von meinem Freund erzählen solle, hieß es: Mach du dein Ding, aber wir wollen nicht, dass das ein Thema ist, wenn wir uns sehen.« Kurz nach seinem Coming-out fing Cans Mutter außerdem an, Kopftuch zu tragen. Can hat das nicht als Kommentar zu seiner Homosexualität verstanden – sie habe weder bei seinem Coming-out noch danach etwas darüber gesagt, was der Islam von gleichgeschlechtlicher Liebe halte. Eher sei es so, dass sie Halt in der ­Religion suche, nachdem ihr Traum von Schwiegertochter und Enkelkind zerplatzt war. »Das war das Idealbild, auf das sie ihr Leben lang hingearbeitet hat«, sagt Can – quasi anstelle einer beruflichen Karriere. Das Kopftuch verspreche ihr eine gewisse Sicherheit, Ansehen in der Community. Eine verstärkte Religiosität gehe damit nicht einher, glaubt Can. Zumindest bete seine Mutter nicht häufiger als zuvor. In der Zeit unmittelbar nach seinem Coming-out hatte Can weniger Kontakt mit seinen Eltern als davor. Wenn sie miteinander telefonierten, sprachen alle drei aus Sorge vor Streit nur über völlig Belangloses: das Wetter, was sie zu Mittag gegessen hatten, wie es den Großeltern ging. »Das war so scheinheilig, dass ich irgendwann gar keine Lust mehr hatte, mit ihnen zu reden.« Can erinnert sich, dass er nach einem Telefonat mit den beiden einen Freund anrief und sag-

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te: »Das war’s jetzt mit meinen Eltern.« Er bot ihnen dann auch an, den Kontakt zumindest für ein paar Monate abzubrechen. Aber das wollten sie nicht. Sein Vater war überzeugt, dass es der Mutter, die ohnehin an Depressionen leidet, dann nur noch schlechter gehen würde. Daraufhin suchte Can einen türkischsprachigen Familientherapeuten und bestand darauf, dass seine Eltern mit ihm in die Sprechstunde gingen. »Das war super emotional, meine Mutter hat sofort angefangen zu heulen«, erzählt Can. »Der Therapeut hat dann Strategien angeboten, wie man damit umgehen kann. Er hat Beispiele aus seiner Umgebung genannt, wo das Outing nicht die ganze Verwandtschaft erreicht, sondern nur die Kernfamilie. Wir brauchten irgendwie Halt, einen Plan, und ich fand diesen Ansatz ganz okay. Tatsächlich wissen es meine Großeltern bis heute nicht.« Sein Coming-out bezeichnet Can rückblickend als Dämpfer und Befreiungsschlag zugleich. Erst danach begann er, schwule Dating-Apps zu nutzen, »auf die Piste zu gehen«, wie er es formuliert. In dieser Zeit hatte er wenig Kontakt mit seinen Eltern. Dann tastete er sich langsam wieder heran. Dabei half ihm auch, sich in seine Eltern und vor allem seine Mutter hineinzuversetzen. Can sagt, seine Mutter, die schon mit 18 die arrangierte Ehe mit seinem Vater einging, habe sich nie wirklich selbst finden oder entfalten können und stattdessen all ihre Energie auf ihr einziges Kind ausgerichtet. Die Deutschkurse seien ihr schwergefallen, ihr Freundeskreis sei ausschließlich türkisch gewesen. Wohnungen von Deutschen habe sie nur betreten, um dort zu putzen. Später habe sie zwar einen Minijob beim Bäcker gehabt, bei dem auch viele Deutsche arbeiteten,

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aber auch daraus seien keine engen Freundschaften entstanden. Can bezeichnet seine Mutter als bildungsfern und politisch desinteressiert. Sein Vater sei deutlich liberaler, weltoffener, interessierter. Aber auch er komme aus demselben Ort wie die Mutter. Wenn Wut auf seine Eltern in ihm aufsteigt, dann hilft es Can, an diesen Ort zu denken. »Ich führe mir dann diese Kleinstadt in Anatolien vor Augen, wo ich ja auch einmal im Jahr bin, und wie absolut undenkbar und unmöglich das Thema Homosexualität dort ist.« Inzwischen sind Cans Eltern in Rente – und in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Can vermutet, dass sie in Deutschland geblieben wären, hätten sie Hoffnung auf ein Enkelkind. Er nimmt ihnen den Wegzug aber nicht übel, weil er glaubt, dass die Rückkehr zu den Wurzeln ihnen gutgetan hat. »Sie haben ihre Kindheit und Jugend, die prägende Zeit ihres Lebens, woanders verbracht, und da sind sie jetzt halt wieder.« Das gelte selbst für den Vater, der einige Jahre vor der Mutter nach Deutschland kam und hier zur Schule gegangen ist, außerdem viel integrierter und eingebundener war durch Arbeitskollegen und Freundschaften: »Das Herz geht ihm in der Türkei auf.« Sowohl die Eltern seiner Mutter als auch die seines Vaters leben zudem noch immer in dem Ort, an den Cans Eltern nun zurückgekehrt sind. Wenn Can sie dort besucht, muss er sich von seinen Großeltern bis heute ausfragen lassen: Warum hast du noch keine Frau? Sollen wir eine für dich suchen? Bist du denn nicht einsam? Can antwortet dann zum Beispiel: »In Deutschland ist das ganz anders, da heiratet man oft erst mit vierzig. Meine Kollegen und Freunde, die sind alle nicht verheiratet.« Oder er wechselt das Thema. »In

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meiner eifrigen Outing-Zeit war ich so weit, dass ich zu meinen Eltern gesagt habe, dass ich ihnen gerne den Druck nehmen würde, indem ich mich vor meinen Großeltern oute. Aber das wollten die ganz klar nicht.« Bei seinem letzten Besuch hat Can stattdessen ein Machtwort gesprochen und den Großeltern weitere Fragen nach seinem Liebesleben untersagt. Nun sei es nur noch die Oma väterlicherseits, die einfach nicht lockerlasse. Über seine Eltern sagt er: »Wir haben immer noch ein gutes Verhältnis. Mich stört gar nicht so sehr, dass ich meinen Freund da nicht mitnehmen kann, wir nicht zu viert Zeit verbringen und so weiter. Aber dass die beiden sich in dreißig Jahren so wenig auf die Welt in Deutschland eingelassen haben, das stört mich schon.« Darauf kommt er auch immer wieder zu sprechen. Wieso hat das Land, das er als sein Heimatland betrachtet, seine Eltern in drei Jahrzehnten so wenig geprägt? Wieso hat seine Mutter an den Werten ihres Geburtsorts festgehalten, nicht die der neuen Umgebung übernommen? Can glaubt, dass es dafür Gründe gibt, die in der Persönlichkeit seiner Mutter liegen; ihre Bildungs­ ferne, die engen Bahnen, in denen ihr Leben verlaufen ist. Aber auch strukturelle Gründe. Für jemanden aus einem katholischen Dorf in Italien sei Homosexualität vermutlich ähnlich verpönt. »Aber die italienische ­Familie integriert sich wahrscheinlich noch mal anders in Deutschland, weil es mehr Überschneidungen gibt im Alltag und in den Ritualen. Bei einer muslimischen Familie ist diese Durchlässigkeit nicht gegeben, die stellen sich auch viel defensiver auf gegenüber allem, was die eigene Blase des Islams zerstören könnte«, vermutet er. Bei seinen Schwiegereltern sieht er, wie es sein könnte: »Wir besuchen die regelmäßig, waren auch

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schon mal zwei Wochen am Stück mit ihnen verreist. Selbst die Oma von meinem Freund, die 88 ist, fragt immer ganz liebevoll nach mir. Traumhaft. Ich hab’ schon so Momente, wo ich denke: ›Damn it!‹ Und dass meine Eltern auch was verpassen.« Das passiert aber eher selten. Inzwischen hat Can seinen Frieden damit geschlossen, dass er seine Eltern ein- oder zweimal im Jahr besucht und einmal die Woche mit ihnen telefoniert. Er liebt seine Eltern. Ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verbundenheit zieht er aber seit vielen Jahren eher aus seiner Beziehung und seinem Freundeskreis.

Eingewanderte Eltern Aynurs Eltern wollen ein Enkelkind, das mit muslimischen Traditionen aufwächst. Aynur will kein Kind, kann mit diesen Traditionen nichts anfangen – und distanziert sich immer mehr von den Eltern. »Du warst unsere letzte Hoffnung!« Diesen Ausruf muss sich Aynur manchmal von ihren Eltern anhören. Wenn sie zu Besuch bei ihnen in Süddeutschland ist und die Familie gemeinsam am Esszimmertisch sitzt, der Vater wie immer am Kopfende, oder wenn ihre Mutter sie abends anruft, mit sorgenvoller Stimme, und Aynur nach ihrem Lebenswandel ausfragt. Denn sie ist schon das dritte Kind, das den Erwartungen der Eltern nicht gerecht wird. Aynurs Eltern sind beide Kinder türkischer Gast­ arbeiter, selbst aber erst als Jugendliche nach Deutschland gekommen. In der Türkei haben sie die Volks­ schule besucht, in Deutschland dann Kissenbezüge genäht und Fensterheber in Autos eingesetzt. Aynur hat

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Abi­tur gemacht, Note 1,7. Sie hat einen Master in Wirtschaftsinformatik und eine gut bezahlte unbefristete Arbeitsstelle in einer Unternehmensberatung. Insofern entspricht sie dem Credo der Eltern: »Du sollst es mal besser haben als wir!« Doch damit meinten die Eltern vor allem eine höhere Bildung und ein größeres Einkommen und nicht den Lebensstil, der mit all dem einhergeht. Aynur ist 31, nicht verheiratet, lebt allein, hat keine Kinder, aber seit dem Masterstudium in Großbritannien vor fünf Jahren eine Fernbeziehung, zu einem Niederländer. Er hat – nach den Partnern ihrer Geschwister – die letzte Hoffnung ihrer Eltern auf einen türkischen Schwiegersohn zerstört. Und damit darauf, dass Aynur mit ihrer neuen Familie das Zuckerfest und den Geburtstag des Propheten feiern wird. Dass sie an diesen Tagen die Alten besuchen und die Jungen beschenken wird. Und dass bei solchen Feiern Türkisch gesprochen und der Geist der Heimat wachgehalten wird. Aynur, die nicht an Allah glaubt, würde auch als Single oder mit türkischem Partner keine muslimischen Feste feiern wollen. Doch ihren Eltern war das offenbar gar nicht bewusst  – bis sie sich für einen nicht-muslimischen Mann entschied. In der Partnerwahl, vermutet Aynur, werde klar, welche Werte und Traditionen man von den Eltern übernommen habe und an die eigenen Kinder weitergeben wolle. Aynur hat mich auf meinen Aufruf in einer Facebook-Gruppe hin kontaktiert. Ihr Profilbild zeigt eine Frau mit braunem Bob und verschmitztem Blick. Sie schrieb mir: »Ich komme aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationshintergrund und verspüre, je älter ich werde, eine größer werdende Entfremdung von meiner Fami-

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lie.« In unseren Gesprächen zeigte sich dann, an wie vielen Stellen diese Entfremdung spürbar wird. Zum Beispiel in der Sprache. Wenn es wichtig oder emotional wird, sprechen Aynurs Eltern bis heute lieber Türkisch. Dass es bei Aynur genau andersherum ist, sei oft schwierig für sie – die Vorstellung, dass ihre Enkelkinder womöglich nur gebrochen Türkisch sprechen, unerträglich. Weil Aynur schon jahrelang glücklich mit ihrem Freund zusammen ist, drängen die Eltern inzwischen auf eine Hochzeit: besser ein richtiger nicht-türkischer Schwiegersohn als eine Tochter in wilder Ehe. Aber Aynur hält nichts vom Heiraten. Ihre Eltern sagten oft Dinge wie »wir wollen doch nur dein Bestes«, »was ist, wenn er dich verlässt« oder »eine Ehe ist doch auch Sicherheit«. Aynur antwortet ihnen dann: »Wir sind uns sowieso sicher, seit Jahren zusammen, eine Ehe würde das nicht stärker machen. Aber ich brauche ohnehin keinen Mann als Sicherheitsfaktor in meinem Leben. Ich muss nicht versorgt werden, stehe fest auf meinen eigenen Füßen.« Warum ihre Eltern ihr Heiratsdruck machen, kann Aynur nicht wirklich verstehen. Am Rest der Familie liege es nicht: Aynurs Großeltern sind verstorben. Von ihnen sei aber auch zu Lebzeiten kein Druck ausgegangen, sie seien für ihre Generation eher progressiv gewesen. »Deren Kinder, also meine Tanten und Onkel, haben deutsche Partner gehabt, haben sich teils geschieden und noch mal geheiratet, hatten so eine Art Pionierrolle in der Community. Meinen Großeltern war wichtiger, dass die Kinder happy sind, als was die Leute sagen.« Außerdem, sagt Aynur, sei sie »mit einem offenen Mindset« erzogen worden. Ihre Eltern gehen nicht in die Moschee und fasten nicht. Es gehe ihnen bei der Kri-

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tik am Schwiegersohn nicht um Religion, sondern um Identität. »Es ist nicht so sehr ›er ist ein Nicht-Muslim‹, sondern eher ›da geht doch ein Teil von dir verloren‹.« Und damit, auch wenn die Eltern das nicht so formulieren, ein Teil von ihnen selbst. Vermutlich verspürten die Eltern außerdem einen gewissen Druck aus der türkischen Community, in der es verpönt sei, unverheiratet zusammenzuleben. In dieser Community werde nicht gefragt, ob eine Ehe für den Einzelnen das richtige Lebensmodell sei. Sondern es gehe um die Gesellschaftsordnung. Und darum, wie ein Paar sich in dieser Ordnung positioniere, nach außen dastehe. »Das ist das Allerletzte, woran ich in meiner Lebensplanung denke: was die Leute denken.« Aynur klingt resigniert. »Ich hab’ immer mehr das Gefühl, dass wir uns komplett fremd sind, voneinander entfernt haben, gänzlich andere Vorstellungen haben«, erzählt sie. »Die beiden sind so verhaftet in ihrer Community, bewerten und beurteilen andere, schauen darauf, wie sie selbst bewertet werden. Da fühle ich mich nicht wohl mit.« Inzwischen versuche sie, mit den beiden viel über Alltägliches, Belangloses zu sprechen. »Das Private versuche ich auszuklammern, weil die einfach ihre Grenzen nicht kennen.« Als mittelschwere Grenzüberschreitung empfindet Aynur das Drängen auf eine Hochzeit. »Das sind halt unterschiedliche Vorstellungen davon, was moralisch richtig ist, was nicht. In tradierten Gesellschaften hat ein Mann einen stärkeren Versorgungsauftrag, das brauche ich halt nicht, da geht die Vorstellung an meiner Lebensrealität vorbei.« Als schwere Grenzüberschreitung empfindet sie die Frage nach Kindern: »Das finde ich extrem übergriffig«, sagt sie. »Wenn ich aus medizi-

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nischen Gründen keine Kinder bekommen könnte und darüber nicht reden wollte, wäre das schlimm! Das ist so privat, da verbitte ich mir einfach jede Einmischung.« Tatsächlich ist es nicht so, dass Aynur keine Kinder haben kann. Sondern dass sie keine Kinder haben will. Vor allem für ihre Mutter sei das unvorstellbar. »Es gibt so viele Menschen, die das nur aus gesellschaftlichen Erwartungen machen und eigentlich gar keine Lust haben, Kinder zu erziehen. Das finde ich ganz schlimm, und das möchte ich auf keinen Fall.« Ihre Eltern seien aber der Meinung, ein Recht auf Enkelkinder zu haben. »Das ist doch eine absurde Argumentationsbasis. Damit die Enkelkinder haben, muss ich Kinder kriegen, und das möchte ich halt nicht.« Aynur hat schon häufig versucht, den Eltern ihre Beweggründe verständlich zu machen. »Ich mag Kinder, mag meine Nichten, aber sehe mich nicht als Mutter, möchte nicht diese Verantwortung für einen anderen Menschen übernehmen«, sagt sie. »Ich fühle mich menschlich nicht reif dafür, trotz meines Alters. Viele Mädchen und Frauen haben ja dieses Gefühl: ›Ich will mal Mutter werden.‹ Das hatte ich nie. Ich hab neulich mal ein Zitat gelesen: ›Lieber keine Kinder bekommen und es bereuen als Kinder bekommen und es bereuen.‹ Das fasst es für mich sehr gut zusammen. Ich glaube, viele bereuen es, und das kann man auch Kindern nicht antun. Und ich denke auch, die Welt ist kein guter Ort, um da Kinder reinzusetzen.« Für ihre Eltern aber seien all diese Überlegungen völlig fremd. Heiraten und Kinderkriegen sei für sie »natürlich«, gehöre zu einem erfüllten Leben dazu. »Da erleben wir unseren Culture Clash.« Aynur denkt oft darüber nach, welche Teile der Kultur ihrer Eltern sie

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liebt, etwa die Gastfreundschaft und Spontaneität, und welche sie eher abstoßen, wie die Erwartung, sich loyal und konform zu verhalten. Sie fühlt sich manchmal hin- und hergerissen: als Türkin, wenn irgendjemand ihr wegen ihrer dunklen Haare ein Kompliment für ihr Deutsch macht, als Deutsche, wenn sie das Getratsche der Bekannten und Verwandten der Eltern hört. In zwei Kulturen aufzuwachsen sei nicht leicht – ein weiterer Grund, warum sie mit ihrem niederländischen Freund keine Kinder haben will. »Meine Wurzeln sind mir präsent, aber ich fühle mich von ihnen auch behindert in meinem Vorankommen«, erklärt Aynur, »während sie meinen Eltern eher Halt geben.« Manchmal erzählen die Eltern auch von anderen Frauen, die im Ausland waren und nach der Rückkehr geheiratet und Kinder bekommen haben. »I don’t care«, sagt Aynur. »Die gehen dann in die Kleinstadt zurück, gehen auf in dieser kleinen Welt, nachdem sie mal draußen waren, das kann ich nicht verstehen, finde es kleingeistig.« Als die Eltern neulich mal wieder davon anfingen, wie schön es wäre, wenn Aynur Kinder bekäme, hat sie geantwortet: »Ich will darüber nicht reden, das ist privat, und ihr seid übergriffig.« Mittlerweile, berichtet Aynur, sei sie relativ harsch im Umgang mit den Eltern. »Ich möchte mir das nicht anhören. Ich will eine normale Beziehung zu meinen Eltern, aber die soll nicht davon bestimmt sein, ob ich ihren Ansprüchen genüge. Ich gebe dem inzwischen keinen Raum mehr, bin da schmerzfrei.« Als ich ein paar Wochen später noch einmal mit ­Aynur telefoniere, war sie kurz vorher wieder zu Besuch bei den Eltern in der Kleinstadt gewesen. Bei diesem

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Gespräch klingt sie versöhnlicher. Oft überlege sie, ob sie in bestimmten Situationen nicht besser hätte reagieren können. »Ich frage mich dann, ob ich stärker auf sie hätte eingehen sollen. Neulich hatte ich sogar mal so einen Anflug, einen kurzen Gedanken: Dann heiraten wir halt. Aber dann dachte ich wieder: auf keinen Fall!« Als ich ihr Monate später die Sätze schicke, mit denen ich sie zitiere, antwortet sie, es sei seltsam für sie zu sehen, wie sehr sie sich auf diese Themen eingelassen habe. Mittlerweile lasse sie solche Diskussionen gar nicht mehr zu. Auch das ist vermutlich nur ein Zwischenstand; das letzte Wort zwischen Aynur und ihren Eltern lange nicht gesprochen.

Was wissen Fachleute über Konflikte in Einwanderer­familien? Isabelle Albert ist bewusst, wie schwer es Kinder von Migranten dabei haben, ihren Eltern Grenzen zu setzen und Dicle Özerden hält ein Coming-out im kleinen Familienkreis manchmal für sinnvoll. Für mich war es überraschend, wie sehr sich die Kämpfe gleichen, die Aynur, Amila und Can mit ihren Eltern und vor allem Müttern ausfechten. Für die drei ist es hingegen völlig klar, dass das so ist. »Zur Erklärung für dich als Biodeutsche«, sagte Aynur zu mir, »wenn man in einem fremden Land lebt, selbst in dritter Generation, lebt man immer mit einem Identitätskonflikt.« Den trage man in sich selbst – und man fechte ihn mit den Eltern aus. Die drei beschreiben ihre Kindheit als glücklich, religiöse Rituale wie das Zuckerfest als schöne Erinne-

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rungen. In der Koranschule langweilten sie sich zwar, rebellierten aber nicht. Als Jugendliche entfernten sie sich dann aber immer mehr von der Religion der Eltern. Alle drei bezeichnen sich heute zwar nicht als Atheisten, aber zumindest als Agnostiker. Die Religion betrachten sie jedoch nicht als den Hauptgrund der Entfremdung, sondern eher die Einwanderungsgeschichte der Eltern mit alledem, was dazugehört: Sie fühlen sich deutscher als die Eltern, können ihre Gefühle auf Deutsch besser ausdrücken als in der Sprache der Eltern, fühlen sich der Community aus Verwandten und Bekannten weniger nahe, halten viele Bräuche und Traditionen für überholt. Sie spüren, dass ihre Eltern und vor allem die Mütter in Deutschland nicht so angekommen sind, sich nicht so verwirklicht haben, wie sie es sich wünschen würden. Und dass auch deshalb die Hoffnung der Mütter auf Enkelkinder schwerer auf ihnen lastet als bei deutschen Freunden und Bekannten. Enkel­kinder sind sozusagen alles, worauf die Mütter in ihrem Leben noch hoffen. Für Aynur, die keine Kinder haben will, und für Can, für den das Kinderkriegen in einer schwulen Partnerschaft nicht leicht wäre, stellt das eine größere Belastung dar als für Amila. Alle drei hatten in der Vergangenheit schon schwie­ rigere Phasen mit den Eltern: Can nach seinem ­Coming-out und Aynur und Amila, nachdem sie den Eltern von ihren Partnern erzählt haben. Can stand sogar kurz davor, den Kontakt ganz abzubrechen. Inzwischen haben sie ein Verhältnis zu den Eltern, das distanzierter ist als in der Kindheit und Jugend, aber besser als vor einigen Jahren. Die Ähnlichkeiten zwischen den dreien sind nicht zufällig, sondern durchaus typisch für Kinder von Ein-

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wanderern: Das sagt auch die promovierte Psychologin Isabelle Albert, die an der Universität Luxemburg unter anderem zu den Beziehungen von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern in Einwandererfamilien forscht. Und sie kennt den Fachbegriff dafür: Akkulturationskluft. Diese Kluft in der Akkulturation, also in der Aneignung der Kultur des Aufnahmelands, tue sich zwischen migrierten Eltern und ihren Kindern, die bei der Migration entweder noch sehr jung sind oder sogar im Aufnahmeland zur Welt kommen, unvermeidlich auf. Kinder passen sich durch ihre Kontakte in der Schule und mit Gleichaltrigen schneller an, haben weniger Probleme mit der Sprache und übernehmen die Gepflogenheiten des Aufnahmelands rascher. Für die Eltern sei es hingegen schwieriger, mit den neuen Gegebenheiten zurechtzukommen. Sie seien oft auf die Hilfe der Kinder angewiesen, etwa wenn sie Ärzte oder Behörden besuchen oder Formulare in der Sprache des Aufnahmelands ausfüllen müssen. So entstehe eine Kluft auch in den Werten, ein Generationenkonflikt, ähnlich wie in Zeiten schnellen gesellschaftlichen Wandels, wie es ihn in Deutschland etwa in den sechziger und siebziger Jahren gab. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Generationenkonflikt auch damals unter anderem in Fragen um Ehe, Zusammenleben und »freie Liebe« kulminierte. Warum gerade dieser Lebensbereich so konflikt­ trächtig ist, kann Aynur gut in Worte fassen: »Die Frage, wie man seine Herkunft und Traditionen lebt, vorführt, an die eigenen Kinder weitergibt, ist natürlich zentral in diesem Konflikt um die Identität. Und das wird eben in der Partnerschaft sehr sichtbar« – auch, wenn noch gar keine Kinder da sind oder vielleicht, wie in ihrem

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Fall, nie dazukommen werden. Die enorme Wichtigkeit dieses Lebensbereichs ist womöglich auch eine Erklärung für die Diskrepanz, die Aynur im Verhalten ihrer Eltern wahrnimmt: einerseits auf Offenheit und Toleranz zu pochen und andererseits auf einen türkischen Schwiegersohn zu bestehen. Auch Isabelle Albert hält das für eine mögliche Erklärung. Eingewanderte Eltern seien oft ambivalent in ihren Werten. Häufig sei es schwierig für sie, sich selbst darüber klar zu werden, welche Werte aus ihrer Herkunftskultur sie weitergeben wollen und welche nicht. Es gebe periphere Werte, bei denen Diskrepanz zu den Kindern leichter zugelassen werden könne, und ganz zentrale Werte, bei denen das schwererfalle. »­Familie und Partnerschaft können solche Kernwerte sein, denn da geht es ja darum, wie man sich selbst definiert als ­Familie.« Das sei durchaus auch bei Einwanderer­ familien denkbar, die in anderen Bereichen sehr aufgeschlossen und aktiv in der Aufnahmegesellschaft unterwegs seien – wie die Eltern von Aynur, Amila und Can. Albert fällt aber noch eine weitere mögliche Erklärung ein: Werte verändern sich im Lauf des Lebens. Als die Eltern selbst jünger waren, haben sie womöglich Werte an Aynur und ihre Geschwister weitergegeben, die sie mit fortschreitendem Alter noch einmal überdacht haben. Mit dem Alter steige das Sicherheitsbedürfnis vieler Menschen, und die Herkunftskultur gebe Migranten oft ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Das implizite Einmischen und Ausloten von Grenzen sei typisch in Familien, die eher kollektivistischen als individualistischen und eher interdependenten als independenten Kulturkreisen entstammten, erklärt Albert. Also Kulturen, in denen die Eltern auch dann

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noch mitreden und sich einmischen wollen, wenn ihre Kinder längst erwachsen sind, in denen viel Nähe und Kontakt eingefordert wird, man viel von den anderen weiß, emotional und teils auch finanziell verstrickt ist, wie Albert es formuliert. Der englische Fachbegriff für diese Verstrickung lautet »Enmeshment«. Und die würde meist erst dann als negativ wahrgenommen werden, wenn Familien von einem kollektivistischen in einen individualistischen Kontext auswandern – und die Kinder sehen, dass sich die Eltern ihrer Freundinnen im Aufnahmeland weniger einmischen. »Kinder versuchen dann Grenzen zu setzen«, sagt Albert, »und das ist eine delikate Angelegenheit mit vielen Ambivalenzen.« Häufig versuchten die Kinder das auch eher auf indirektem Weg als mit offener Kritik, auch, weil sie nicht dazu erzogen wurden, ihren Eltern zu widersprechen. Anders als Kinder in individualistischen Gesellschaften würden sie weniger dazu ermuntert, ihre eigenen Bedürfnisse auszudrücken und einzufordern und mehr dazu, Familienhierarchien zu akzeptieren und familiäre Erwartungen zu erfüllen. Ein weiterer Grund dafür, dass erwachsene Kinder mit Einwanderungsgeschichte ihren Eltern gegenüber selten offen Kritik übten, sei aber auch die besondere Dankbarkeit, die sie ihnen gegenüber empfinden. In der Regel haben die eingewanderten Eltern viel und hart gearbeitet, wenig Freizeit gehabt, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Und das erschwere es den Kindern, auf Autonomie zu pochen. Gleichzeitig, und das macht das Ganze noch komplizierter, verhielten sich Kinder von Einwanderern oft schon früher autonom und unabhängig als andere Kinder ihres Alters. Zum Beispiel, weil sie sich von den Eltern keine Hilfe bei den Schulaufgaben

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erhoffen können, sondern im Gegenteil den Eltern bei Behördengängen helfen müssen. Sprechen die Eltern ihnen im Erwachsenenleben diese Unabhängigkeit dann ab, ist das besonders hart für sie. Wie damit umgehen? Isabelle Albert empfiehlt erwachsenen Kindern mit ­Einwanderungsgeschichte, sich bewusst zu machen, was die Erwartungen der Eltern seien, die sie selbst übernommen haben und deretwegen sie nun innere Konflikte haben. Sie müssten erst einmal anerkennen, dass sie sich selbst diese Ansprüche ein Stück weit zu eigen gemacht haben. Und dann versuchen, sich in die Perspektive der Eltern hineinzuversetzen und mit ihnen oder für sich selbst eine Lösung zu finden. Amila scheint das ganz gut zu gelingen. Sie erkennt die Nöte ihrer Mutter an, auf der die Erwartungen der Großeltern lasten. Gleichzeitig ärgert sie sich, dass sie sich von den Ansprüchen der Mutter nicht noch freier machen kann, nicht früher zu ihrem Freund gezogen ist. Bei Aynur sitzt die Enttäuschung über das Verhalten ihrer Eltern tiefer, ihr Blick auf sie erscheint weniger nachsichtig – wohl auch, weil sie große Stücke auf die beiden hält und ihr Verhalten nicht mit dem sehr positiven Bild in Einklang bringen kann, das sie eigentlich von ihnen hat. Während Amila und ihre Mutter vielleicht wieder mehr zueinanderfinden, wenn Amila verheiratet ist und ein Kind hat, ist die Lage bei Aynur, die keine Kinder will, noch etwas komplizierter. Am schwierigsten ist sie wohl bei Can, dessen Homo­sexualität gerade für seine Mutter nur schwer zu ertragen ist. Can ist gleichzeitig derjenige von den dreien, der sich am offensivsten um eine Lösung bemüht hat: Er hat seine Eltern zu einer Familientherapie

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überredet, bei einem türkischsprachigen Therapeuten. Einen deutschsprachigen hätte die Mutter womöglich nicht gut genug verstanden. Vor allem aber ging Can davon aus, dass seine Eltern sich einem Landsmann eher anvertrauen würden. Dicle Özerden kennt das. Sie ist Vorsitzende der Gesellschaft für türkischsprachige Psychotherapie und psychosoziale Beratung. Auch Cans Geschichte kommt ihr sehr bekannt vor. Ältere deutschtürkische Frauen ohne viel Anbindung an die Mehrheitsgesellschaft litten öfters unter Depressionen – wie Cans Mutter. Und mit homosexuellen Kindern gingen auch ihre Patienten sehr schlecht um. Viele Deutschtürken verheimlichten ihre Homosexualität deshalb. Özerden glaubt, dass das nicht nur am Konservatismus der ländlichen Regionen liege, aus denen viele Türken in Deutschland stammen, sondern durchaus auch am Islam und an gesellschaftlichen Normen, die auch in Städten gelten. Homosexualität sei in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft verpönt, nicht nur auf dem Land. Ein Coming-out im kleinen Familienkreis, wie es Can empfohlen wurde, sei eine gute Option, wenn die Eltern die Homosexualität tolerieren, aber nicht akzeptieren könnten, die Großeltern nicht einmal das. Wenn die Eltern voll und ganz hinter ihrem Kind stünden, spreche auch nichts gegen ein Coming-out vor der ganzen Familie. Das sei aber sehr selten. »Oft wissen es nicht mal die Eltern.« Auch Probleme mit Schwiegersöhnen und -töchtern begegnen Özerden immer wieder. Die türkische Community in Deutschland sei strenger und konservativer als in der Türkei, finde im Festhalten an teils überkommenen Traditionen Sicherheit in der Fremde.

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Mit einer Ausnahme: Der extrem hohe Stellenwert, den Enkelkinder haben, gelte genauso auch in der Türkei. Cans Eltern haben seine Homosexualität lange höchstens toleriert. Sieben Jahre nach seinem Coming-­ out kennen seine Eltern seinen Partner immer noch nicht; zur Akzeptanz scheint es noch ein weiter Weg zu sein. Aber die Mutter behandelt den Sohn inzwischen nicht mehr, als wäre er Single, sondern fragt am Telefon öfter mal: »Was habt ihr am Wochenende gemacht?« Für Can ist das eine Leichtigkeit im Umgang mit seiner Mutter, die es jahrelang nicht gab und die ihm Hoffnung macht. Er glaubt, dass die Beziehung zu seinen Eltern von nun an nur noch besser werden wird.

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IV BILDUNG

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Leistungsdruck Barans Vater, ein Taxifahrer aus dem Iran, wollte immer, dass es sein Sohn einmal besser hat als er – und war deshalb in der Schulzeit sehr streng. Das hat die Beziehung nachhaltig verschlechtert. Als Baran in der Schule zum ersten Mal eine Zwei minus statt einer Eins schrieb, stieg er aufs Klettergerüst auf dem Schulhof, kauerte sich dort weinend zusammen und wollte nicht mehr runterkommen. Er erinnert sich noch genau an diesen Moment: Es war ein warmer Tag, die anderen Kinder lärmten und lachten unter ihm, und er schaute durch die Lücken der Latten des Holzgerüsts zum Schuleingang, erfüllt von der Angst, sein Vater könnte plötzlich den Schulhof betreten. Baran, damals vielleicht sieben Jahre alt, fürchtete sich vorm Zorn des Vaters und davor, für die Schande einer schlechten Note aus der Familie ausgestoßen zu werden. »Das waren natürlich übertriebene Ängste«, sagt Baran, der heute 22 ist. »Andererseits hat mein Vater mir das genauso suggeriert: Mit einer schlechten Note brauchst du gar nicht erst nach Hause zu kommen.« Barans Eltern kommen aus dem Iran. Sein Vater hatte in Täbris Mechatronik studiert, bevor er von der Uni flog, weil er fand, wer an Allah glaube, habe bloß Angst vorm Tod – eine Ansicht, die gefährlich war unter den Mullahs. Er ging nach Deutschland, arbeitete als Taxifahrer. Seinem Sohn, das war ihm klar, durfte das nicht passieren. Der hatte Anwalt, Arzt oder Ingenieur zu werden. Und dafür brauchte er Einsen statt Zweien. Die Erwartungen und der Notendruck, die auf Baran lasteten, waren zentnerschwer. Mal ließ er eine Klausur

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mit einer schlechten Note von der Mutter unterschreiben, um sie vorm Vater zu verheimlichen. Mal fälschte er selbst die Unterschrift seines Vaters für eine Klassenarbeit. Mal konfrontierte er den Vater: Die Lehrerin habe gesagt, Zweien und Dreien seien auch noch gute Noten. Doch das beeindruckte den Vater kaum. Fragt man Baran, ob er eine gute Kindheit hatte, denkt er lange nach. »Da bin ich skeptisch«, antwortet er dann. Er sei versorgt worden; mit Essen, mit Bildung, auch mit Geschenken. Der Vater habe sich besonders um seine Bildung bemüht, ihm schon vor der Grundschule Lesen und Schreiben beigebracht. »Wir hatten zuhause Bücher über Astronomie, Ernährung, Politik, Geschichte. Meine ersten Bücher waren ­Enzyklopädien«, erzählt Baran. »Mein Vater hat immer gesagt: Du hast nur einen Job: in die Schule gehen, was lernen, gute Noten schreiben. Auch Freunde, hat er gesagt, wären zweitrangig. ›Deine Arbeit ist Schule‹: Das war so das Ding als Kind.« Bevor Baran 13 oder 14 wurde, verbrachte er deshalb kaum Zeit mit Gleichaltrigen. Ein Moment hat sich fast so sehr in sein Gedächtnis gebrannt wie der auf dem Klettergerüst: Die Lehrerin hatte den Schülern ein Mathe-Übungsblatt mitgegeben und sie aufgefordert: »Versucht das eine Stunde lang zu lösen, und wenn ihr dann nicht fertig seid, hört auf. Quält euch nicht.« Barans Vater wollte davon nichts hören, und Baran musste an seinem Schreibtisch sitzenbleiben, bis er fertig war. »Es wurde abends, es wurde nachts. Ich saß weinend am Schreibtisch und hab diese Hausaufgaben gemacht«, erinnert er sich. Vor allem aber ist Baran skeptisch bezüglich einer schönen Kindheit, weil sein Vater ihn geschlagen hat. »Mal waren es nur Ohrfeigen, mal hat er mich mit

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dem Schuhlöffel gescheucht, manchmal auch wirklich geschlagen. Gürtel waren auch im Spiel«, sagt Baran. »Er war groß und einschüchternd. Vielleicht war es gar nicht so schmerzhaft, aber ich hatte immer Angst vor ihm.« Einmal nervte der damals vielleicht zehn Jahre alte Baran seinen Vater, weil er unbedingt sofort ein Computerspiel spielen wollte: »Lass mich spielen, lass mich spielen, lass mich spielen«, quengelte er immer wieder – und der Vater packte ihn, warf ihn ins Kinderzimmer und knallte die Tür zu. »Das war ein krasses Gefühl, einfach so weggeworfen zu werden«, sagt Baran noch heute. Trotzdem will Baran nicht nur schlecht über seinen Vater reden: »Das war seine Vorstellung von einer richtigen Erziehung: Du machst was falsch und kriegst das zu spüren.« Schrieb Baran mal eine schlechte Note, war die Reaktion des Vaters nie so schlimm, wie er damals auf dem Klettergerüst befürchtete. »Wegen einer Note hat mich mein Vater im Endeffekt nie geschlagen. Schlimmer war wahrscheinlich die Enttäuschung, das Gefühl, ungenügend zu sein. Und diese Enttäuschung dauerte immer etwas länger an als der Stolz über eine Eins«, erinnert sich Baran. Gleichzeitig war der Vater die wichtigere Bezugsperson. Baran sprach als Kind kaum Farsi, seine Mutter nur schlecht Deutsch. Sie war Hausfrau. »Ich habe meinen Vater lange für schlauer, besser gehalten, meine Mutter für ungebildeter, nerviger. Er war irgendwie der bessere Elternteil. So habe ich eigentlich die ersten 16 Jahre meines Lebens gedacht.« Deshalb zog Baran auch zunächst zum Vater, als die Eltern sich trennten. »Mittlerweile sehe ich das ganz anders, wohne deshalb auch bei ihr und nicht bei ihm.«

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Je älter Baran wurde, umso mehr hatte er das Gefühl, seine Eltern eigentlich gar nicht richtig zu kennen. Beim Vater hatten Respekt und Angst den Blick verstellt, bei der Mutter, dass ihr Deutsch schlecht war. Je besser er aber seine Muttersprache beherrschte, umso mehr erkannte er: Seine Mutter ist gar nicht dumm. Heute schämt er sich dafür, das mal gedacht zu haben. Während er sich der Mutter annäherte, wuchs die Entfremdung zum Vater. Der spreche immer mit passiv-aggressivem Unterton in der Stimme, suche die Schuld für alles, was in seinem Leben schieflaufe, grundsätzlich bei anderen, und wenn er sich in einer Diskussion in die Ecke gedrängt fühle, werde er wütend. »Man merkt dann schon, wie sein Puls steigt. Er schreit nicht wirklich oder haut auf den Tisch, aber man merkt einfach, er gerät in Erklärungsnot, und wenn der herablassende Ton ihn nicht weiterbringt, versucht er es mit Dominanzgehabe.« Statt mit ängstlicher Bewunderung schaut Baran heute eher mit Mitleid auf seinen Vater, der nie gelernt habe, über seine Gefühle zu sprechen und seine Aggression wie ein Schutzschild verwende. Gleichzeitig hat Baran auch ein Verständnis entwickelt für die Zwänge seines Vaters. In dessen Heimatland müssten Leute ohne gute Ausbildung hart schuften, etwa als Bau­arbeiter, und das wolle er seinem Sohn nicht antun. »Das Ironische ist, dass mein Vater da immer mit Erfahrung argumentiert und sagt, er wisse, wie es ist. Aber ich wüsste nicht, was er für Erfahrungen gesammelt haben will. Klar hat er als Taxifahrer mit vielen geredet. Aber die Welt heute ist eine ganz andere als vor zwanzig, dreißig Jahren – und dazu noch im Iran.« Wie wenig sein Vater von der Arbeitswelt in Deutschland versteht, wurde Baran klar, als er zu stu-

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dieren anfing. Dass es weder Jura, Medizin noch Ingenieurwissenschaften wurden, sondern Vergleichende Kulturwissenschaften, betrübte den Vater. »Meinem Vater ist nicht klar, was daraus werden soll. Er hat diese Vorstellung, man studiert ein Fach, und daraus ergibt sich ein Beruf.« Über Barans Nebenfach Philosophie war er deshalb besonders erbost: Philosoph ist schließlich kein wirklicher Beruf. Ständig redete er auf seinen Sohn ein, das sei kein wirkliches Fach, wertlos. Baran wechselte dann zu Politikwissenschaften. In den Augen seines Vaters wird man damit Politiker. Das stellte ihn zufrieden. Später wechselte Baran noch mal das Nebenfach. Er studiert jetzt Kultur und Geschichte. »Mit Kulturwissenschaften kann man so viel machen. Die Herausforderung ist eher rauszufinden, worauf man Lust hat. Wenn ich versuche, ihm das klarzumachen, ist es ein bisschen, als würde man gegen eine Wand reden.« Sein Vater geht immer noch davon aus, dass Baran mal Politiker wird. War es nicht übertrieben, dass Baran auf Druck des Vaters sein Nebenfach gewechselt hat? Diese Frage beantwortet Baran ausweichend: Er habe nach einem Semester noch keine wirkliche Meinung zu Philosophie gehabt und wollte halt nicht ständig hören müssen, dass er das Falsche mache. Der Leistungsdruck, den Barans Vater auf ihn ausübt, sieht heute anders aus als früher. Es geht nicht mehr um Noten – »ich weiß gar nicht, ob mein Vater weiß, dass man an der Uni auch noch Noten bekommt« –, sondern darum, fertig zu werden. »Je länger sich mein Studium zieht, desto schwerer wiegt der Druck meines Vaters«, sagt Baran. Mittlerweile ist Baran im zehnten Semester seines Bachelorstudiums,

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das auf sechs Semester angelegt ist. Baran schiebt es auf die Corona-­Pandemie, dass er so lange braucht. Er weiß aber auch, dass er dazu neigt zu prokrastinieren. An einer Hausarbeit ist ihm das besonders deutlich geworden. »Ich hatte ein Thema, das mich sehr interessiert hat, es wurde dann immer größer, ich dachte, ich schaffe das nicht so gut, wie ich wollte und hatte auch keinen festen Abgabetag, und so wurde es dann nichts. Ich hab’ bis heute nicht abgegeben.« Vielleicht, vermutet Baran, kommt sein heutiger Hang zu Perfektion und zum Aufschieben auch durch den Leistungsdruck aus seiner Kindheit. All das erzählt mir Baran sehr offen. Als ich Wochen nach unserem ersten Gespräch noch ein paar Nachfragen habe, meldet er sich sofort zurück, und wir telefonieren noch am selben Tag. Später schickt er mir via WhatsApp noch Sprachnachrichten mit weiteren Gedanken; seine oft wechselnden Profilbilder dort zeigen einen Hipster mit Vollbart und Vorliebe für ausgefallene Klamotten. Baran macht den Eindruck, dass es ihm guttut, über seinen Vater zu reden. Ich frage ihn, ob er mal über eine Therapie nachgedacht hat. Ja, sagt er, das habe er immer mal wieder. Vielleicht mache er es eines Tages auch mal. Und wie geht er ohne professionelle Unterstützung mit dem anhaltenden Druck um? »Ich bin gerade in dem Prozess, das herauszufinden. Das Beste ist, mich nicht für mich selbst zu schämen, sondern dahinterzustehen, wenn ich zum Beispiel länger brauche. Wenn mein Vater mit einer Leistung nicht zufrieden ist, mache ich ihm klar, dass das seine Standards sind und keine objektiven. Ich glaube, da hängt auch ein Narzissmus dran, dass sein Selbstbild nicht bröckeln darf. Ich breche manchmal einen Streit

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vom Zaun, was ich mich früher gar nicht getraut hätte. Dass ich hinter meiner Meinung stehe, auch mal ­Widerworte gebe, das ist mir wichtig. Auch mal zu sagen: Das stimmt nicht, oder: Nur weil du das so siehst, ist es nicht wahr.« Baran findet, das gelinge ihm in letzter Zeit immer häufiger. Früher habe er Konfrontationen stets gemieden, inzwischen traue er sich mehr, komme dadurch besser ins Gespräch mit seinen Eltern. Er entwickele dadurch mehr Verständnis für ihre Perspektive und sie für seine. Davon profitiere das Verhältnis. »Es muss besser werden, und es wird auch besser«, sagt Baran. Da sei er sich sicher.

Bildungsaufsteigerin Lisa ist die erste Akademikerin der Familie. Ihr fällt es schwer zu ertragen, dass ihre Eltern billiges Fleisch und Plastikspielzeug für die Enkel kaufen. Trotzdem hat sie ein enges Verhältnis zu den beiden. Zuletzt gekracht hat es zwischen Lisa und ihren Eltern ausgerechnet an Nikolaus. Weil ihre Eltern mal wieder alle mit Geschenken überhäuften: ein 100er-Pack Filzstifte, ein Sparschwein, ein Kinderregenschirm, Kleidung, Lego, Schokolade und ein viel zu leichtes Puzzle für Lisas Sohn. Geld, Schokolade, eine Tasse von Hertha BSC und Eierbecher in Flamingo-Form von Lidl für Lisa und ihren Mann. Und das, obwohl Weihnachten und der Geburtstag des Kleinen im Januar vor der Tür standen. Aus Lisas Sicht hätten die Geschenke zum Nikolaustag für alle drei Anlässe gereicht.

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Lisa stört zum einen die Menge der Geschenke, zum anderen deren geringe Güte. »Vieles ist aus Plastik und qualitativ minderwertig, das ist mir zuwider.« Unter der Treppe ihrer Maisonette-Wohnung bewahren Lisa und ihr Mann eine Kiste auf, die sie regelmäßig mit einem »zu verschenken«-Schild versehen und auf die Straße stellen. Immer, wenn Lisas Eltern ihnen oder ihrem Kind Geschenke machen, kommt das, was sie davon nicht brauchen, in diese Kiste. In solchen Momenten hat Lisa das Gefühl, in einer ganz anderen Welt zu leben als die Eltern. Ein Gefühl, das sie seit ihrer Gymnasialzeit kennt. Denn Lisa ist die erste in ihrer Familie, die ein Gymnasium besucht hat. Und so tat sich mit elf Jahren eine Umgebung für Lisa auf, zu der ihre Eltern keinen Zugang hatten. Seither konnten sie ihr nicht mehr bei den Hausaufgaben helfen. Später dann studierte Lisa: BWL. Unter ihrem Job in Marketing und Vertrieb großer Unternehmen konnten sich die Eltern nie viel vorstellen. Mit der Gründung einer eigenen Familie wurde die Fremdheit dann noch deutlicher. Heute gibt es kaum einen Lebensbereich, den sie nicht fundamental anders betrachtet als die beiden – sei es Ernährung, Umweltschutz, Religion oder Politik. Selbst bei den einfachsten Themen fragt sie sich, wie sie die mit ihren Eltern besprechen kann, ohne dass ein Streit ausbricht. Lisas WhatsApp-Profilbild zeigt eine hochgewachsene Frau mit knallrot geschminkten Lippen und funkelnden blauen Augen. Zu unserem Treffen im Café kommt sie ungeschminkt – und mit Säugling. Sie ist gerade zum zweiten Mal Mutter geworden. Wir treffen uns in Berlin, wo wir beide aufgewachsen sind

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und wo Lisa heute noch lebt, inzwischen nicht mehr am Stadtrand, sondern im Prenzlauer Berg. Sie erzählt offen von ihrer Kindheit und dem Verhältnis zu ihren Eltern. »Das alles noch mal so zu reflektieren«, sagt sie, »ist auch für mich sehr spannend.« Ihre Eltern waren erst Anfang zwanzig, als Lisa auf die Welt kam. Der Vater hat nur die Hauptschule abgeschlossen und ist Briefträger, die Mutter war auf der Realschule und arbeitet als Sachbearbeiterin bei einer Bank. Die Wohnung, in der Lisa aufwuchs, war klein – sechzig Quadratmeter für vier Personen –, das Geld oft knapp. Mit ihrer sieben Jahre jüngeren Schwester teilte sie ein zwölf Quadratmeter kleines Zimmer, bis sie 14 war. Als sie mit 13 zum ersten Mal einen Jungen einlud, der ihr gefiel, hielt die Schwester sich nicht an die Abmachung und kam ständig ins Zimmer. Die Stimmung war dahin. »Das Ganze endete damit, dass mein Schwarm mit meinem Vater auf dem Flur stand und sich über Computerspiele unterhielt«, erinnert Lisa sich und lacht. Trotz der Enge hatte Lisa eine glückliche Kindheit. Alle vier Großeltern wohnen in Berlin, an den Wochenenden traf sich die ganze Familie im Schrebergarten der Großeltern mütterlicherseits: grillen, tratschen, Kuchen essen. Doch Lisa erinnert sich auch an frühe Fremdheitsmomente. Zum Beispiel seien ihre Eltern gegenüber ihren Schulfreundinnen, deren Eltern ­Manager, Anwältinnen und Ingenieure waren, immer eher skeptisch gewesen. Sie machten Andeutungen, Sprüche: Die würden sich für was Besseres halten. Auch Lisas beste Freundin seit Kindheitstagen kommt aus einem sehr anderen Elternhaus als sie selbst. Bei der Familie der Freundin standen im Wohn-

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zimmer bis an die Decke gefüllte Bücherregale, und beim Abendessen ging es nicht nur darum, wie die Schule war und was man am Wochenende machen würde, sondern um gesellschaftliche Themen wie die Diskriminierung von Gastarbeitern oder die Gleichstellung von Frauen. Fuhr die Familie in den Urlaub, ging sie ins Museum. »Ich war nie mit meinen Eltern im Museum.« Die spöttisch-neidischen Sprüche, die Lisas Eltern früher über die Eltern ihrer Freundinnen machten, muss sich Lisa heute selbst anhören. Etwa: »Du Schlaumeier hast ja auch studiert, du weißt ja eh alles besser.« Deshalb vermeidet Lisa viele Themen, etwa Politik. Sie hat jahrelang ehrenamtlich Deutsch für Flüchtlinge unterrichtet. Ihre Eltern können das nicht verstehen. Auch, dass Lisa kaum noch fliegt, dem ­Klima zuliebe lieber in Deutschland Urlaub macht, sei für die Eltern unverständlich. »Ich glaube, meine Eltern halten uns für linksgrün-radikal. Mein Vater ist zwar auch ein bisschen links eingestellt, findet reiche Menschen böse, aber das bleibt alles eher oberflächlich. Man merkt, dass er nicht Zeitung liest, sondern höchstens mal die Landes­ schau guckt, was von Bekannten hört.« Ein weiterer Konflikt ist Religion: Lisas Großmutter mütterlicherseits kommt aus einem katholischen Dorf in Schlesien, »so katholisch wie es nur geht«, der Bruder der Großmutter ist Priester. Lisas Mutter sei zwar streng katholisch erzogen worden, betrachte Religion aber lockerer als ihre Mutter, ihr gehe es eher um Rituale als um den Glauben. »Darum, dass man tut, was die erweiterte Familie erwartet«, sagt Lisa. Als Kind übernachtete Lisa am Wochenende manchmal bei den Großeltern und ging dann sonntags mit ihnen in die

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Kirche. Als Erwachsene trat Lisa aus der Kirche aus, ihre Hochzeit war standesamtlich. Ihr Vater unterstützte das, die Mutter nicht; aus Angst vor dem Missfallen der Großmutter. Und sie sollte recht behalten: Darüber, dass Lisa und ihr Mann als erste in der Familie nicht vom Bruder der Großmutter getraut wurden, entbrannte ein heftiger Streit zwischen Lisa und ihrer Oma. »Das war ein riesiger Konflikt, eine Total-Katastrophe«, erzählt Lisa, »wir haben uns erst angeschrien und dann gar nicht mehr miteinander geredet.« Inzwischen habe es sich wieder etwas beruhigt, das Thema Kirche werde nun gemieden. Als Lisa sich auf meinen Aufruf hin meldete, bezog sie sich trotzdem weder auf Religion noch auf Politik oder Konsum. Sondern auf die Bildungsdifferenz. »Dieses ganze Bildungsthema schwingt immer unterschwellig mit«, ist Lisa überzeugt. »Selbst wenn es kein offener Konfliktpunkt ist. Aber ich spüre, dass meine Eltern irgendwie missgünstig sind. Weil ich studiert habe, mehr verdiene.« Lisa fragt sich, warum sie eigentlich als einzige in der Familie diesen Weg gewählt hat – ihre jüngere Schwester hat sich nach dem Abitur für eine Ausbildung entschieden. »Sie wollte auf keinen Fall studieren und ist meinen Eltern heute viel ähnlicher, hat ähnliche Vorstellungen, Werte.« Lisa vermutet, dass sie nach jemandem in der Familie kommt, der weder ihr Vater noch ihre Mutter ist. Eine Zeit lang, erzählt Lisa, habe sie sich sogar mal gefragt, ob sie vielleicht adoptiert sei. Sie diskutierte darüber mit ihrer besten Freundin, machte Witze vor den Eltern. Ernsthaft habe sie es nie geglaubt, dafür sehe sie dem Vater zu ähnlich. »Aber es wäre eine Erklärung gewesen.«

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Wer sie und ihre Familie kennt, glaubt Lisa, wäre von ihren Schilderungen wohl überrascht. »Von außen gesehen haben wir ein gutes Verhältnis«, sagt Lisa. »Wir sind einfach nur grundverschieden.« Ihre Eltern trifft Lisa einmal die Woche, ein weiteres Mal bringt sie außerdem ihren Sohn zum Babysitten vorbei. »Das finde ich auch für meinen Sohn schön. Es ist gut, dass sie da sind.« Die Differenzen mit den Eltern sind bei Lisa und ihrem Mann dennoch oft Thema. »Wie gehen wir damit um? Sprechen wir es an? Direkt oder indirekt?« Ihr Mann sei eher zurückhaltend. Sie selbst habe in ihrer Jugend, eigentlich ab dem Wechsel aufs Gymnasium, viel mit ihren Eltern gestritten, vor allem mit der Mutter. »Ich habe jede Meinungsverschiedenheit mit ihr ausgetragen, bis ich ausgezogen bin.« Der Auszug brachte dann eine gewisse Entspannung, die noch verstärkt wurde, als Lisa und ihr Mann für die Arbeit für längere Zeit ins Ausland gingen. »Wenn man sich dann mal gesehen hat, haben sich alle gefreut, und der Fokus war auf anderen Themen.« Nun, wo Lisa wieder in derselben Stadt lebt wie die Eltern, muss sie einen Mittelweg finden zwischen den heftigen Streitereien in ihren ­Jugendjahren und der Konfliktvermeidung während ihrer Auslandsjahre. Das gelingt ihr mal mehr, mal weniger gut. »Unser Ziel ist, dass es nicht noch mal in so einen großen Streit ausartet wie bei der Hochzeit.« Was tut Lisa dafür? »Eine Strategie ist, dass wir sagen, wir ernähren uns gesünder, aber wenn wir bei meinen Eltern zum Essen eingeladen sind, genießen wir es«, erzählt sie mir. »Mein Vater macht grandiose Burger. Viel Deftiges, Fettiges, Hausmannskost, Klöße mit Sauce und sehr totem Fleisch. Wir wissen, dass

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das Fleisch von Aldi ist, aber für den einen Tag ist es okay. Mit dieser Einstellung können wir es aushalten.« Eine weitere Strategie sei: aus den Augen, aus dem Sinn. »Wir liefern den Enkel ab, gehen und sehen nicht zu, wie sie ihn mit Schokolade vollstopfen.« Was sie ärgert: Dass ihre Eltern sich umgekehrt eigentlich nie einen Kommentar verkneifen könnten, etwa, wenn sie zu Lisa zum Brunch kämen und es keine Wurst und keinen Schinken gebe. Lisa sagt aber auch, sie habe sich damit abgefunden, dass sich daran nichts mehr ändern werde. »Meine Eltern gehen auf die Sechzig zu. Egal, wie viel man da erklärt: So wie wir die Welt wahrnehmen und die, das wird sich nicht mehr annähern.« Und weil sie auch in den nächsten dreißig Jahren noch in einem guten und engen Verhältnis zu ihren Eltern stehen und auf keinen Fall den Kontakt abbrechen will, schluckt sie viel runter oder ruft mal – wie zuletzt nach Nikolaus – eine Woche lang nicht an, bis sie sich wieder beruhigt hat. Immerhin seien die Eltern nicht besonders nachtragend. Als Lisa und ich ein paar Wochen später noch einmal telefonieren, quakt das Baby im Hintergrund. Sie erzählt, dass unser Gespräch einiges in ihr ausgelöst habe. Seither sehe sie ihre eigene Strategie der Konfliktvermeidung kritischer. »Ich verstelle mich meinen Eltern gegenüber. Dadurch vermeide ich Streit, aber befördere auch die Entfremdung.« So wüssten ihre Eltern immer weniger über Lisas Gedanken, ihre Lebenshaltung, aber auch ihren Alltag. Eine Lösung für dieses Problem ist Lisa noch nicht eingefallen. Aber womöglich wird sie in Zukunft weniger Konflikten aus dem Weg gehen – in der Hoffnung, die immer weiter fortschreitende Entfremdung dadurch aufzuhalten.

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Was sagen Fachleute zur Beziehung von Bildungsaufsteigern und ihren Eltern? Aladin El-Mafaalani weiß, warum sich studierte Arbeiterkinder oft vom Herkunftsmilieu entfremden. Lisa, eine Managerin und Mutter Mitte dreißig, und Baran, ein Student Anfang zwanzig mit iranischen Wurzeln, haben auf den ersten Blick nicht viel gemein. Baran ist mit dem muslimischen Imperativ aufgewachsen, seine Eltern zu ehren. Seinen Vater fürchtete er sogar. Viele Auseinandersetzungen mit ihm fanden deshalb bisher vor allem in Barans Kopf statt. Einen Streit vom Zaun zu brechen, traute er sich jahrelang nicht. Inzwischen nimmt er manchmal seinen Mut zusammen und widerspricht dem Vater. Lisa hingegen hat sich in ihrer Jugend oft und lautstark mit den Eltern gestritten. Inzwischen versucht sie eher, Streitereien zu meiden – auch um den Preis, nicht immer offen zu sein, nicht alles anzusprechen, was sie beschäftigt. Beide aber lieben ihre Eltern trotz einer gewissen Entfremdung und stehen in engem Kontakt zu ihnen: Lisa wohnt in derselben Stadt wie ihre Eltern, Baran sogar noch in der Wohnung der Mutter. Vor allem aber sind beide überzeugt, dass die Entfremdung von ihren Eltern mit Bildung zu tun hat. In Lisas Fall ist es ihr Bildungsaufstieg, der sie vom Milieu der Eltern entfremdet hat. In Barans ist es der für eingewanderte Eltern typische Leistungsdruck, der ihm die Beziehung zum Vater verleidet. Bildungsaufstieg, Herkunftsmilieu, Einwanderung: Die Begriffe, die nötig sind, um zu beschreiben, wie es den beiden ergeht, sind soziologische und keine

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psychologischen. Für dieses Kapitel habe ich deshalb nicht mit einem Psychologen oder einer Psychologin gesprochen, sondern mit Aladin El-Mafaalani. Er ist Soziologie-Professor, schreibt Bestseller über Migration und Bildung und ist regelmäßig zu Gast in Talkshows. Bis er Zeit für ein Telefonat hat, vergehen Wochen. Dann aber fällt ihm viel ein zu Lisa und Baran. Denn Geschichten wie diese kennt er aus seinen Untersuchungen zuhauf. Zu den Konflikten, die Lisa mit ihren Eltern über Plastikspielzeug und Flugreisen hat, sagt El-Mafaalani: »Das ist ein Klassiker.« Denn Menschen, die in Knappheit aufgewachsen seien, wünschten sich keine andere Gesellschaft oder bessere Welt, sondern eine bessere Position in der bestehenden Welt. »Deshalb ist es so schwer zugänglich für diese Leute, dass sich Menschen für etwas einsetzen, was erst in fünfzig Jahren zu einer Verbesserung führen kann.« Also etwa heute auf den Urlaubsflug zu verzichten, um langfristig die globale Temperaturerhöhung zu bremsen. Pierre Bourdieu, der einflussreiche französische Soziologe, sprach in den Siebzigern vom Habitus der Notwendigkeit. Damit meinte er, dass Vorlieben und Gewohnheiten der Menschen von dem geprägt sind, was sie sich leisten können. El-Mafaalani nennt dieses Phänomen heute Management des Mangels. Wer einen Mangel verwalte, der hinterfrage bei allem, was es bringe – auch bei sozialem Engagement. Da passt es ins Bild, dass Lisas Eltern kein Verständnis für ihr Engagement für Flüchtlinge zeigten, wie Lisa es formuliert, nicht verstehen, »wieso ich mich stresse für etwas, wofür ich kein Geld bekomme«. Das gilt in gewisser Weise auch fürs Klarinettelernen, ein Hobby, das Lisas

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Eltern ihr zwar finanziert, aber nie so recht verstanden haben, wie sie mir erzählt hat. Ist Mangel aber nicht ein überzogener Begriff, wenn es um eine Sachbearbeiterin und einen Postboten geht? Das, erklärt El-Mafaalani, komme darauf an, mit wem man Lisas Eltern vergleiche. Als Berufseinsteiger zählten die beiden vermutlich noch zur Mittelschicht, auch ein Realschulabschluss sei vor dreißig Jahren noch eher durchschnittlich als unterdurchschnittlich gewesen. Das hat sich inzwischen geändert. Mehr als die Hälfte eines Jahrgangs machen inzwischen Abitur, und mit einem Hauptschulabschluss bekäme Lisas Vater heute vermutlich keine Ausbildungsstelle mehr bei der Post. Teils werde der erstarkende Populismus auch mit der Erfahrung vieler Menschen erklärt, dass durch die Bildungsexpansion der vergangenen Jahrzehnte die eigenen Qualifikationen plötzlich weniger wert seien, sagt El-Mafaalani. Eine Beobachtung, die womöglich auch ein wenig auf Lisas Vater zutrifft, der wohlhabenden Menschen mit Misstrauen begegnet. Auch Lisas Gefühl, in einer völlig anderen Welt zu leben als die Eltern, kaum ein Thema ohne Angst vor Streit ansprechen zu können, ist laut El-­Mafaalani typisch für Bildungsaufsteiger. In der Abgrenzung zu ihren Eltern machten Kinder in der Adoleszenz kleine Differenzen oft größer, als sie eigentlich seien. Bildungsaufsteigern hingegen sei es fremd, kleine Unterschiede aufzublasen: Sie erlebten tatsächlich große Differenzen. »Und das ist ein großer Unterschied zu klassengleichen Distanzierungsprozessen«, erläutert El-Mafaalani. »Die einen distanzieren sich horizontal, die anderen vertikal«, also innerhalb oder außerhalb des Milieus oder der Schicht der Eltern. »Die einen be-

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tonen kleine Differenzen, die anderen haben Schwierigkeiten, überhaupt noch irgendeine Gemeinsamkeit festzustellen.« Auch Barans Fall hält El-Mafaalani für exemplarisch. Fast alle Iraner, die nach der Islamischen Revolution nach Deutschland kamen, seien studiert. Aufgrund unfairer deutscher Gesetze arbeiteten sie hierzulande trotzdem häufig in ungelernten Berufen, etwa wie ­Barans Vater als Taxifahrer. Ihre Kinder aber studierten dann in Deutschland und erreichten wieder den Status, den die Eltern hatten, bevor sie ihr Heimatland verließen. »Das zeigt: Es kommt nicht auf Geld an, sondern auf die habituelle Prägung, nicht nur auf die Schicht­ zugehörigkeit, sondern aufs Gesamtpaket.« Mit habitueller Prägung meint El-Mafaalani zum Beispiel die vielen Bücher, die bei Barans Familie im Wohnzimmerregal standen und dass sein Vater ihm schon früh lesen beigebracht hat. Das unterscheidet Barans Kindheit von der anderer Söhne und Töchter von Taxifahrern. Generell sei es so, dass auf Kindern von Migranten ein hoher Leistungsdruck laste, unabhängig davon, welches Bildungsniveau die Eltern hätten. El-Mafaalani hat beobachtet, dass dieser Druck vor allem bei den Kindern zu guten Noten führt, auf denen gleichzeitig ein eher geringer Loyalitätsdruck lastet. Das sei etwa bei vietnamesischen Familien der Fall. Schwerer hätten es Kinder türkischer Eltern, von denen einerseits hohe Leistungen, andererseits aber auch viel Zeit und Unterstützung erwartet würden, was das Lernen erschwere. Auf iranischstämmigen Kindern laste auch meist ein hoher Bildungs- und Loyalitätsdruck. Zwar litten sie als Kinder von Akademikern nicht unter denselben Problemen wie Bildungsaufsteiger. Die berufliche Degra-

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dierung der oftmals studierten Eltern in Deutschland könne aber auch, wie bei Baran, zu Konflikten führen. Dass Barans Vater ihm als Kind gedroht und ihn geschlagen hat, ist laut El-Mafaalani zwar nicht typisch, aber auch nicht außergewöhnlich. Er kenne aus seinen Untersuchungen und Interviews viele Fälle, in denen Kinder von Migranten sich mit schlechten Noten kaum nach Hause trauten, eine Zwei minus einer Katastrophe gleichkomme. Wie umgehen mit der bildungsbedingten Entfremdung von den Eltern? Dafür ist El-Mafaalani als Soziologe nicht der richtige Ansprechpartner. Hier könnte das gelten, was Isabelle Albert erwachsenen Kindern von Migranten rät (drittes Kapitel): sich in die Perspektive der Eltern hineinzuversetzen und mit ihnen oder für sich selbst eine Lösung zu finden. Teils geschieht das mit dem Älterwerden wohl auch von allein, weil erwachsene Kinder immer mehr von den Verpflichtungen und Rollen der Eltern nachvollziehen können. So ist es auch bei Baran. Er sagt, früher hätten ihm Angst und Abneigung den Blick auf die Eltern verstellt. »Das baut sich langsam ab als Erwachsener.« Er verstehe seine Eltern inzwischen besser als früher – und habe das Gefühl, das gelte auch andersherum. Lisa ist nicht ganz so optimistisch. Sie ist überzeugt, dass ihre Eltern sich nicht mehr verändern werden. Damit könnte sie Recht haben – oder auch nicht. Persönlichkeitspsychologen gehen heute davon aus, dass wir keineswegs mit dreißig Jahren charakterlich »fertig« sind, sondern uns alle noch bis ins hohe Alter weiterentwickeln. Während wir Veränderungen an uns selbst durchaus erkennen, neigen wir vermutlich dazu, unsere Eltern immer so zu betrachten, wie wir sie als

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Kinder erlebt haben. Womöglich hilft es Baran und Lisa in der Beziehung zu ihren Eltern, sich das klarzumachen und Veränderungen bei diesen bewusst wahrzunehmen. Das könnte auch die Beziehung zu ihnen zum Besseren verändern.

Bildungsabsteiger Peters Eltern sind Ärzte, er ist Sachbearbeiter beim Jobcenter. Sein Bildungsabstieg trägt zur Entfremdung von den Eltern bei. Als Kind wünschte Peter sich manchmal, sein Vater wäre Bauarbeiter. Denn der Vater eines Mitschülers arbeitete auf dem Bau und hatte samstags Zeit für die Familie. Peters Vater hingegen, ein Arzt mit eigener Praxis, hatte eigentlich nie Zeit. Dafür hatte die Familie Geld, konnte im Sommer in ein Hotel in Kärnten fahren und wandern gehen. Auch wenn Peter mit sieben Jahren noch keine Vorstellung davon hatte, wie viel ein Bauarbeiter verdient, ahnte er einen Zusammenhang zwischen den Urlauben im Sommer, dem Mercedes vor dem Haus und der Anspannung des Vaters. »Ich hab’ gemerkt, irgendwie sind meine Eltern anders als bei anderen Kindern, weil sie weniger Zeit haben, weil sie weniger emotionale Nähe schenken können.« So festigte sich schon früh eine ambivalente, eher ablehnende Haltung zu Geld und Wohlstand. Und möglicherweise zumindest indirekt auch zu akademischer Bildung, die ja im Fall des Vaters Voraussetzung des Wohlstands war. Heute ist Peter Anfang vierzig, arbeitet in einem Jobcenter in einer unterfränkischen Stadt und wohnt

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in einer Einliegerwohnung im Haus seiner Eltern in einem Vorort. Er, der Arztsohn, hat kein Abitur gemacht, nicht studiert und Schwierigkeiten, mit seinem Einkommen eine eigene Wohnung zu finden. Mit dem Bildungsabstieg ist er einigermaßen im Reinen; sein Beruf macht ihm Spaß. Den Kontakt zu den Eltern aber hält er trotz der räumlichen Nähe möglichst gering, um sich nicht runterziehen zu lassen von der dominanten Art des Vaters und der angepassten Art der Mutter. Peter hat sich auf mein Gesuch bei Facebook hin bei mir gemeldet. Er schrieb: »Mein Vater ist Arzt und meine Mutter war in der Praxis beschäftigt. Da habe ich viel erlebt, was zur Entfremdung zwischen mir und meinen Eltern beigetragen hat.« Nach einem ersten Telefonat wollte er sich lieber persönlich treffen, als am Telefon zu sprechen. Mehrere Verabredungen sagte er kurzfristig ab, bis es dann doch noch klappte. Womöglich spielte neben Terminproblemen auch eine Rolle, dass er unsicher war, ob er sich mir wirklich anvertrauen wollte. Denn seine Bildungsbiografie und die Beziehung zu seinen Eltern sind schmerzhafte Themen für Peter. Peter hat ein freundliches rundes Gesicht, trägt eine randlose Brille und die Haare millimeterkurz. Die Jahre auf der Grundschule des 1500-Seelen-Orts, in dem er aufwuchs, waren traumatisierend für ihn. Der Sportlehrer, ein militaristischer Typ, der meinte, die Kinder »formen« und »hart rannehmen« zu müssen, hatte schon seinen Vater unterrichtet. Der Vater war ein sportliches Kind aus einfachen Verhältnissen, der es später bis an die Uni schaffte. Peter war ein eher unsportliches Kind aus gehobenen Verhältnissen – und damit in den Augen des Sportlehrers ein Versager. An

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der Schule gab es bloß vier weitere Lehrer. Sie übernahmen den Blick des Sportlehrers schnell. Der Mathe­ lehrer sagte zu Peter: »Wenn du weiter so schlecht in Mathe bist, dann wirst du nichts. Dann kannst du auf die Müllhalde gehen.« Peter sagt heute, das habe gar nicht gestimmt: Seine guten Noten in Deutsch, Musik und Religion hätten die schlechte in Mathe locker ausgleichen können. Trotzdem habe er die Worte des Lehrers verinnerlicht, sich wertlos gefühlt. »Das war eine verdammt harte, leidvolle Zeit. Und das hat mich verdammt geprägt.« Von seinen Eltern hätte Peter sich gewünscht, dass sie zum Lehrer gegangen wären und diesen konfrontiert hätten: »Also hören Sie mal, wie reden Sie denn mit unserem Kind? So geht das nicht.« Aber das taten sie nie. Vielleicht, weil sie so viel zu tun hatten in der Arztpraxis, vielleicht, weil Lehrer für sie Autoritätspersonen waren, denen man nicht so einfach widerspricht. Vielleicht aber auch, weil sie sich selbst an Peters Verhalten in der Schule störten. Der malte beim Schönschreiben über die Linien, nahm beim Weitsprung Anlauf, um dann vor der Grube plötzlich abzubremsen und den Lehrer zu fragen: »Was muss ich jetzt machen?« In der Schule galt er damit als Störer, Außenseiter, Problemkind. »Aber das war eigentlich, so würde ich heute sagen, ein Hilfeschrei«, erzählt Peter. »Der Versuch, ein Stoppschild aufzustellen und zu sagen: So nicht, bitte.« Die Eltern hatten zu viel um die Ohren, um diesen Hilfeschrei zu erkennen. Peter hatte das Gefühl, dass sie eigentlich nie für ihn da waren. Selbst wenn sie mal zum Elternsprechtag oder einer Theateraufführung in der Schule kamen, waren sie mit den Gedanken ganz

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woanders. Und noch dazu sprachen dann alle möglichen Eltern und Lehrer den »Herrn Doktor« an, um ihre Wehwehchen zu schildern. Geld und Leistung waren ständige Konfliktthemen, von den Eltern auf ungesunde Art verknüpft. Die Schwestern seiner Oma durfte Peter zwar regelmäßig in Amerika besuchen. Doch jedes Mal hieß es, bevor man den Flug buche, warte man noch das Zeugnis ab, um zu sehen, ob Peter sich die Reise denn überhaupt verdient habe. In Peters Kopf verfestigte sich das Bild seines Vaters als jemand, der auf einem stetig wachsenden Geldsack sitzt, den er vor dem eigenen Sohn verteidigen müsse. Zum einen, weil Geld Sicherheit bedeutet und man es deshalb als Selbstständiger hüten muss. Zum anderen, weil Leistung sich lohnen muss und er selbst als Kind ja auch nichts geschenkt bekommen hatte. Peter bekam am Ende der Grundschule eine Empfehlung für die Hauptschule, der die Eltern folgten. »Bei denen war das so: Was die Lehrer sagen, zweifelt man ja nicht an.« Sie hätten den negativen Blick der Lehrer übernommen. Manchmal habe es noch »provokative Spitzen« gegeben, nach dem Motto: »Wenn du das jetzt nicht lernst, dann wirst du schon sehen, dann wird nichts aus dir.« Die hätten aber nachgelassen, irgendwann ganz aufgehört. »Das war dann auch von deren Seite ein Stück Resignation.« Wegen seiner Schwierigkeiten bekam er mal Hausarrest, musste mal zum Schulpsychologen, mal zum jugendpsychiatrischen Dienst. Dort wurde festgestellt, dass er keine Lernbehinderung hatte. Peter wollte seine Sicht der Dinge schildern, wie es ihm ging, wie sehr er kämpfte. »Aber das hat die gar nicht interessiert«, sagt er rückblickend. »Man kam dann zu so einer Lösung,

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dass ich zusätzliche Hausaufgaben machen musste, die die Lehrerin dann auch abgezeichnet hat, und dass Eltern und Lehrer engmaschig in Kontakt standen. Und damit war es ja wieder so weit, wieder alles auf der Leistungsebene. Das Emotionale hat man völlig ausgeblendet.« Eine Lehrerin aber erkannte, dass Peter, wie er es formuliert, »eigentlich ein Guter« war und »kein Aussätziger«. »Dass ich halt in Mathe nicht so gut bin, aber in anderen Fächern, und das auch gut so ist.« Seine Außenseiterrolle wurde Peter zwar nicht mehr los, von den Mitschülern nie zu Geburtstagsfeiern eingeladen. Aber er wechselte nach dem Hauptschulabschluss auf die Realschule und machte auch dort den Abschluss. Es folgte eine Ausbildung zum Justizfachangestellten. Das tägliche Pendeln zum Ausbildungsort, neue Menschen, für die er einfach nur Peter war und nicht mehr der Arztsohn: Das half. Gleichzeitig fiel es ihm nach wie vor schwer, Freundschaften zu schließen, eine Frau kennenzulernen. Er hatte Angst vor Nähe, Selbstzweifel plagten ihn. Mit Mitte zwanzig begann Peter eine Therapie. Ihm wurden depressive Verstimmungen diagnostiziert und sozialphobische Tendenzen. Viele Dinge, die er davor höchstens geahnt hatte, wurden ihm im Therapie­ gespräch klar. Er erkannte, dass der enge Kontakt zu den Eltern ihm nicht guttat. Irgendwann verkündete er ihnen, dass er von nun an nicht mehr am gemeinsamen Sonntagsessen teilnehmen werde. Bis heute sind die Gespräche mit seinen Eltern oft wenig verständnisvoll. Wenn Peter mal einen schlechten Tag bei der Arbeit hat, betonte der Vater immer, das sei doch gar nichts: Immerhin sei der Sohn angestellt,

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kriege ein festes Gehalt nach Tarifvertrag, könne Überstunden abbauen. »Das ist sicherlich nicht falsch«, sagt Peter. »Aber in dem Moment hab’ ich halt ein Anliegen, empfinde eine Ungerechtigkeit. Und dann hilft es mir nicht, wenn mir einer sagt, wie schlimm seine Welt ist.« Selbst wenn Peter einfach nur erzählt, dass er am Nachmittag mit einem Kollegen Eiskaffee trinken war, mache der Vater ihm das madig, indem er betone, er selbst habe ja in dieser Zeit gearbeitet. Ähnlich läuft es ab, wenn Peter von seiner Wohnungssuche berichtet. Er würde gern aus dem Haus der Eltern im Vorort ausziehen, allein in der Stadt wohnen, in einer netten Nachbarschaft. Doch die Mieten in der Stadt sind so hoch, dass er für ein Drittel seines Nettogehalts keine Wohnung findet, die ihm gefällt. »Dann sagt mein Vater, dass die Mieten ja auch so teuer sind, weil die Mietnebenkosten so hoch sind und die Steuern und dass es zu viele Auflagen gibt für Neubauten.« Sein Vater, analysiert Peter, ziehe immer alles weg von der emotionalen auf die Sachebene. Die Fremdheit, die Peter gegenüber seinen Eltern verspürt, betrachtet er als unüberwindbar. Sie sprächen nicht dieselbe Sprache wie er, könnten sich von ihrem Leistungsdenken nicht freimachen. Mit seiner Bildungsbiografie und seinem beruflichen Werdegang ist Peter etwas versöhnter. »Klar hatte ich auch Phasen in meinem Leben, wo ich gedacht habe: Vielleicht musst du doch auch studieren und dem Vater nach­ eifern. Aber dann habe ich schnell gemerkt, das wär’ eine total verlogene Welt für mich. Wie schon als Kind, wo ich dachte: Was nützt das ganze Geld, wenn man das Emotionale nicht hat, die Geborgenheit, den Zusammenhalt?«

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Vom Gehalt und den Entwicklungsmöglichkeiten stehe er heute nicht schlechter da als ein Akademiker. Er ist glücklich über seinen Job, bezeichnet ihn als ­L ebensversicherung im doppelten Sinne: »Was das Existenzielle betrifft, aber auch als Mensch. Zu wissen, wo man hingehört.« Und er hat täglich mit Zahlen zu tun, rechnet Dinge aus, weist Zahlungen an. »Also insofern habe ich das Bild meiner Lehrer früher tausendfach widerlegt, was mir auch hilft.« Aber ganz im Reinen mit seinem Werdegang ist Peter dann doch nicht. Auf mehrmaliges Nachfragen hin erzählt er, dass er gern Politiker geworden wäre. »Ganz ehrlich, ich hätte vielleicht doch gerne mehr gemacht.« Zugleich merke er aber auch: »Es würde mich emotional überfordern. Es würde mich umhauen, wenn ich dann diese Verantwortung hätte, es mal konfrontativ würde. Ich wüsste, ich könnte das nicht aushalten, auch wenn ich noch mal über irgendeinen Bildungsweg studiert hätte. Auch, weil ich eben diese Prägung habe, liegt mir sehr viel an Sicherheit, und die hab’ ich halt mit einem unbefristeten Vertrag beim Staat.« Peter erzählt, er lerne manchmal Menschen kennen, die ihm nicht glaubten, dass er mit seinem Job zufrieden sei. »Die sagen dann: ›Was du dir merken kannst oder was du für Leserbriefe schreibst, wie du formulieren kannst.‹ Die kennen mich teils nicht so gut und denken, ich könnte mehr machen, Teamleiter werden, mich weiterentwickeln. Das mag sein. Aber diese Bestärkung im Innern, die fehlt mir komplett. Und deshalb hab’ ich das, denke ich, auch nicht mehr weiterverfolgt.« Statt beruflich etwas zu verändern, geht Peter lieber sein Privatleben an. »Für mich ist es wichtig, im privaten Bereich diese konservative Welt noch mehr zu ver-

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lassen, also vielleicht einmal weniger in die Oper und dafür mal klettern zu gehen. Oder mal eine Kanutour zu machen.« Peter sagt, bei solchen Unternehmungen merke er, dass sich in ihm etwas neu entwickele, was vorher verkümmert war.

Was wissen Fachleute über Familiendynamiken bei Bildungsabstiegen? Martin Schmeiser kennt den Vorwurf von Arztkindern, zwar ­Patienten gut versorgt zu haben, jedoch nicht die eigenen Kinder. Viele Soziologinnen und Psychologen beschäftigen sich mit intergenerationeller Mobilität, genauer gesagt: mit Bildungsaufstiegen. Wie Aladin El-Mafaalani untersuchen sie, wie sich die Beziehung zu den Eltern und zum Herkunftsmilieu verändert, wenn Kinder aufsteigen, Abitur machen, studieren. Mit dem Gegenteil, also Bildungsabstiegen, beschäftigt sich hingegen kaum jemand. Vermutlich nicht nur, weil es seltener vorkommt, sondern auch, weil es nicht als wünschenswert gilt oder als Beitrag im Kampf gegen soziale Ungleichheit. Eine Ausnahme bildet der Soziologe Martin Schmeiser, der sich zum Thema Bildungsabstiege habilitiert hat. Einen Lehrstuhl hat er nie bekommen und sich enttäuscht aus der akademischen Welt zurückgezogen, weshalb er mir leider kein Interview geben wollte. Aus seiner Habilitationsschrift aber darf ich zitieren. Schmeiser schreibt, ein intergenerationeller sozialer Abstieg liege dann vor, wenn Kinder einen niedrigeren Bildungsabschluss hätten und ihr Beruf mit weniger Gehalt und Entscheidungsbefugnissen ein-

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hergehe als jener der Eltern, also zum Beispiel »wenn der Sohn eines Rechtsanwalts ›nur‹ kaufmännischer Angestellter oder Krankenpfleger wird, anstatt wie die Eltern nach dem Abitur und einem Hochschulstudium wiederum einen akademischen Beruf zu ergreifen, d. h. etwa Jurist, Mediziner, Volkswirt oder Ingenieur zu werden«. Das sei viel häufiger der Fall, als man vermuten würde: Die wenigen Untersuchungen, die es zum Thema gibt, kommen auf eine Abstiegsquote von um die vierzig Prozent bei Kindern von freiberuflichen Akademikern und Unternehmern. All diese Kindern litten unter einem sogenannten Reproduktionsdilemma: Sie würden einerseits früh mit Bildung vertraut gemacht, hätten bessere Beziehungen und mehr finanzielle Möglichkeiten in ihrer Ausbildung. Gleichzeitig haben sie aber auch am meisten zu verlieren. Schmeiser hat in zahlreichen Interviews mit Bildungsabsteigern vier Typen ausgemacht. Der erste Typus zögert den Bildungsabstieg möglichst lang hinaus, ist zum Beispiel viele Semester an der Uni immatrikuliert, ohne wirklich zu studieren und schmeißt dann erst hin. Der zweite Typus tut sich schon in der Schule schwer und wählt eine Ausbildung statt eines Studiums. Oft grenzt er sich bewusst vom Elternhaus und der akademischen Welt ab, macht etwas Praktisches oder wendet sich der Alternativkultur zu. Der dritte und der vierte Typus pendeln zwischen Herkunfts- und Abstiegsmilieu hin und her, versuchen immer wieder, den Herkunftsstatus zu erreichen, und scheitern. Beim vierten Typus entstammen die Eltern selbst verschiedenen Milieus und lassen sich irgendwann scheiden, worunter die Kinder und ihre schulischen Leistungen leiden.

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Peter lässt sich ziemlich eindeutig dem zweiten Typus zuordnen, dem »frühen Ausscheren aus der akademischen Normalbiographie«: Er hatte schon in der Grundschule Probleme, und ihm war früh klar, dass er kein Abitur machen, nicht studieren würde. Zwar kann man eine Stelle im Jobcenter kaum als alternative Lebensform bezeichnen, und laut Schmeiser betonen Absteiger dieses Typus oft, »dass man der instrumentellen Orientierung der dominanten, abstrakten und rationalen Kultur eine natürliche, ganzheitliche Lebensgestaltung entgegensetzt hat und auf die Entstehung einer Gesellschaft hinarbeitet, die die echten Bedürfnisse der Menschen berücksichtigt«. Zugleich betonte Peter im Gespräch mit mir aber immer wieder, wie sehr ihn die Bürgerlichkeit und die Fixierung auf Normen und Geld an seinen Eltern stören. Das verfolge ihn bis heute, etwa bei der Wohnungs­ suche: Viele der Vermieter, so schilderte er es, erinnern ihn an den Vater. Zum Beispiel der »Fettsack mit seinem Mercedes, barockem Auftreten, der jetzt jemand sucht, wo er möglichst maximale Miete herausholt«. Dass er als Angestellter im öffentlichen Dienst ein verlässliches Gehalt von immerhin 2.600 Euro netto habe und längerfristig etwas zu einem fairen Preis suche, werde nicht gesehen. »Die Wohnungssuche lässt so ein Stück weit die Entfremdung von den Eltern wieder hochkommen, von diesem ganzen Denken von früher.« Das liege daran, dass es um Geld gehe. Aber auch daran, dass er aufgrund der hohen Mieten und des selbstbewussten Auftretens von Vermietern und anderen Wohnungs­suchenden wieder das Gefühl habe, nicht dazuzugehören. Auch in anderen Momenten spricht aus Peter eine Sehnsucht nach mehr Ursprünglichkeit, mehr Distanz

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zu den bürgerlichen Gepflogenheiten des Elternhauses, etwa, wenn er sagt, er wolle öfter klettern und seltener in die Oper gehen. Auch die emotionale Kälte der Eltern teilt Peter mit anderen Bildungsabsteigern, die Schmeiser dem zweiten Typus zugeordnet hat. Ein von Schmeiser interviewter Arztsohn warf seinen Eltern vor, »dass sie zwar ihre Patienten gut versorgt und betreut haben, jedoch nicht die eigenen Kinder« – ein Vorwurf, der auch bei Peter mitschwingt, wenn er erzählt, dass die Praxis immer Vorrang vor dem Privatleben gehabt habe und der Vater, selbst wenn er mal bei Peter in der Schule war, noch um ärztlichen Rat gefragt wurde. Leichte Überschneidungen weist Peter auch mit dem dritten Typus auf. Schmeiser hat in seinen Interviews beobachtet, dass Bildungsabsteiger dieses Typs die Schuld für Schwierigkeiten in der Schule eher bei den Lehrern als bei sich selbst sehen. »Dieser Typus interpretiert die schulische Abstufung als Resultat einer ungerechten Behandlung, womit es zu einem illusionären Festhalten an der Zugehörigkeit zur akademischen Welt kommt und die Integration in das Abstiegsmilieu unterbleibt.« Auch das trifft in gewisser Weise auf Peter zu: Er gibt den Lehrern die Schuld an seinen Schulschwierigkeiten und hatte Phasen in seinem Leben, in denen er einen Druck verspürte, das Abitur nachzu­holen, zu studieren und »dem Vater nachzueifern«, wie er es formuliert. Mein Eindruck ist aber, dass in seinem Fall die Lehrer vermutlich wirklich nicht unschuldig sind. Denn Peter kann sich gut ausdrücken, hat nach der Hauptschulempfehlung die Realschule geschafft und heute mit der Beratung und Qualifizierung von Arbeitslosen einen wichtigen und verantwortungsvollen Job. Gut

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möglich, dass sein Bildungsweg mit liebevolleren Eltern und verständnisvolleren Lehrern anders ausgesehen hätte. Allerdings bedeutet das nicht, dass ein Studium per se die bessere Wahl ist – für Peter, aber auch generell. Denn nicht für jeden ist die freie Art des Lernens an der Uni das Richtige. Und wer in Deutschland nicht studiert hat, kann trotzdem über eine gute Ausbildung verfügen. Das unterscheidet unser duales von dem Bildungssystem anderer Länder: Ein Meister in einem Handwerksberuf etwa ist formal einem abgeschlossenen Bachelorstudium gleichgestellt. Trotzdem fordern die meisten Politiker, immer mehr junge Menschen an die Unis zu bringen. Der Soziologe Hans Bertram, den ich vor einigen Jahren mal zu diesem Thema interviewt habe, sieht das kritisch. Er sagte mir damals: »Wenn man sich die Jugend­ arbeitslosigkeit in Ländern ohne duales Ausbildungssystem anschaut, muss man infrage stellen, ob das Abitur der Königsweg ist. Was habe ich davon, wenn achtzig oder neunzig Prozent Abitur haben und es anschließend die dafür notwendigen Stellen nicht gibt?« Wichtiger, als möglichst viele Menschen in jungen Jahren zu Abitur und Studium zu bringen, sei eine spätere Durchlässigkeit des Systems. Wer mit 16 Jahren lieber schrauben und schleifen wolle, als Englisch zu lernen, der solle mit 26 Jahren problemlos ein Fachstudium machen können, falls ihn sein Beruf dann langweile. Und wenn er ihn nicht langweile, sei das umso besser. Peter ist nicht immer glücklich mit seinem Job, aber er ist zufrieden und verdient gut. Vor ein paar Jahren hat er mal einen früheren Lehrer wiedergetroffen und ihm gesagt: »Sie haben sich getäuscht. Aus mir ist doch etwas geworden.«

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Womöglich muss Peter sich also einfach damit abfinden, dass er – wie die meisten Menschen – ab und zu mit seinem Beruf hadert. Sollte dieses Hadern überhandnehmen, wird er sich vielleicht doch noch einmal umorientieren, wer weiß? Tiefer liegt sicherlich das problematische Verhältnis zu seinen Eltern. Aber auch hier scheint Peter mit Therapie, Verzicht auf gemeinsame Mahlzeiten und der Suche nach einer eigenen Wohnung auf einem guten Weg zu sein. Hat er erst einmal etwas mehr räumliche Distanz zwischen sich und die Eltern gebracht, lässt er sich eines Tages vielleicht sogar wieder gern von ihnen zum Essen einladen.

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V GLAUBEN

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Streng muslimische Eltern Abeba kann mit dem konservativen Islam ihrer Mutter nichts anfangen. Den Kontakt mit ihr hat sie auf das Nötigste reduziert. Ihre Kindheit und Jugend teilt Abeba in zwei Phasen ein: die vor und die nach dem Schlaganfall ihres Vaters – und vor allem vor und nach der daraus resultierenden Religiosität ihrer Mutter. In der ersten Phase seien ihre Eltern zwar auch schon muslimisch gewesen, aber recht liberal. »Mein Vater hat Alkohol getrunken, wir haben Silvester gefeiert«, erinnert sich Abeba, »alles ganz normal.« Als Abeba ungefähr sieben Jahre alt war, erlitt der Vater den ersten Schlaganfall. Die Religion gab ihm in dieser schweren Zeit Halt. Die Mutter zog mit und begann ein Kopftuch zu tragen. Knapp zwei Jahre später kam der zweite Schlaganfall, von dem der Vater sich nicht mehr erholte: Er war fortan ein Pflegefall. Diesmal reagierte auch Abebas älteste Schwester so wie die Mutter: mit Gebeten, Kopftuch, engeren Kontakten zur äthiopischen Community. Seitdem hat Abeba, die viel jünger ist als ihre zwei Schwestern, eine Art Sonderrolle in der Familie inne. Heute ist Abeba Mitte zwanzig und studiert Soziologie im Master. Sie hat meinen Aufruf in einer Rundmail an ihre Uni gelesen und mir geschrieben: »Ich bin sehr an Ihrem Buchprojekt interessiert, da ich selbst aus einer konservativen muslimischen Familie komme, allerdings atheistisch bin.« Wir verabreden uns zum Zoom-Gespräch. Abeba trägt einen Wollpulli und ihr Afrohaar ist zu langen Zöpfen geflochten. Sie hat wache, freundliche Augen, eine emotionale, lebhafte Art und gestikuliert beim Sprechen.

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Schon als Kind, erzählt sie mir, wehrte sie sich dagegen, die Koranschule zu besuchen, und gegen Verhaltensregeln, die ihr unlogisch erschienen, etwa mit rechts und nicht mit links zu essen. »Ich hab’ das nicht verstanden, die Religion nicht gebraucht«, erinnert sie sich. »Das war prägend in meiner Kindheit.« Als Jugendliche drehten sich die Auseinandersetzungen dann um ihre Kleidung: Sie sollte keine kurzen Röcke und keine eng anliegenden Hosen tragen, sich nicht schminken. »Meine Mutter hat es mir nicht explizit verboten, aber hatte immer etwas daran auszusetzen.« Eine Zeit lang versuchte Abeba, ihren rebellischen Geist um des Familienfriedens willen zu unterdrücken. »Ich wollte dem Islam eine Chance geben, auch, weil ich dachte: Vielleicht habe ich ja noch nicht verstanden, was so toll daran ist, warum die anderen ihr Leben darum aufbauen.« Deshalb besuchte sie ohne Murren die Koranschule, fastete phasenweise, betete abends mit der Familie. »Aber es hat nicht geklappt. Die Frage, ob es einen Gott gibt, ist einfach nicht relevant in meinem Leben. Ich habe in meiner Mail geschrieben, dass ich Atheistin bin, aber vielleicht bin ich auch Agnostikerin. Es geht mir nicht darum, zu verneinen, dass es etwas nach dem Tod gibt. Aber es ist mir einfach nicht wichtig.« Als Abeba sieben Jahre alt war, zog ihre ­mittlere Schwester aus. Abeba lebte nun mit dem kranken Vater, der Mutter und der 19 Jahre älteren, konservativ-religiösen Schwester zusammen. Als sie zehn war, zog auch die älteste Schwester aus. Als sie 14 war, verstarb der Vater. Der Konflikt um die Religion war im Zusammen­leben mit der Mutter fortan immer präsenter. Ständig forderte die Mutter sie auf, »etwas Nütz-

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liches« zu machen, mal im Koran zu lesen, mit ihr zu beten. »Sie konnte mir nie wirklich erklären, warum«, sagt Abeba. »Und Erklärungen wie: ›Mach das, weil ich deine Mutter bin‹ oder ›Mach das, sonst kommst du nicht in den Himmel‹ haben mir nicht ausgereicht. Für mich war es dann eine Frage des Prinzips: Wieso sollte ich irgendetwas tun, was mich persönlich nicht weiterbringt, mich nicht zu einem besseren Menschen macht, nur um vor den Bekannten meiner Mutter als brave Tochter dazustehen?« Denn zum Beten etwa forderte Abebas Mutter sie vor allem dann auf, wenn Besuch da war. Verwandte und Bekannte aus der äthiopischen Community in München, eine Gruppe von Menschen, die Abeba als scheinheilig und falsch empfand. »Mein Onkel zum Beispiel hat seine Kinder in die Koranschule geschickt, aber er selbst hat geraucht. Er wollte, dass meine Mutter und ich möglichst viel in der Wohnung bleiben, aber war selbst ständig unterwegs.« Je älter sie wurde, umso mehr fielen ihr solche Widersprüche im Verhalten der religiösen Menschen in ihrem Umfeld auf. Und gerade in der äthiopischen Community würden ständig andere verurteilt, die sich vermeintlich nicht religiös genug verhalten. »Letztlich ist das einfach Lästern, dabei sollte es doch um Nächstenliebe und Akzeptanz gehen.« Abeba erzählt, sie habe kein Problem mit Religion an sich, habe auch gläubige Freunde. »Aber mich nervt einfach dieses dogmatische, rechthaberische und unreflektierte Getue von Leuten, die nichts hinterfragen, auf irgendwelche Youtube-Prediger hören, was angeblich haram oder halal ist. Die befassen sich gar nicht wirklich mit der Religion, sondern wollen bloß ihrem

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Umfeld gefallen. Zumindest nehme ich es so wahr, und das stößt mich ab.« Neben der Religiosität ihrer Mutter stört sie auch deren konservatives und patriarchales Weltbild. Fremd fühlt sie sich gegenüber der Mutter nicht nur, was Werte betrifft, sondern auch im Umgang: Die Mutter spricht nur gebrochen Deutsch, Abeba aber auch nicht perfekt Tigrinya. »Wir reden eine Art Mischmasch miteinander, verstehen uns schon. Wenn es um Alltägliches geht, können wir problemlos kommunizieren. Aber wenn es komplexer wird, um Diskussionen und Argumente geht, dann wird es schwierig«, sagt sie. »So ist es auch sprachlich schwierig, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Das frustriert mich. Und es beeinträchtigt die Beziehung zu meiner Mutter schon auch stark.« Außerdem, glaubt Abeba, entspricht das Bild, das sie als in Deutschland geborene und aufgewachsene Tochter von der Rolle einer Mutter hat, nicht dem Rollenbild ihrer Mutter. »In Deutschland wird es als Aufgabe der Eltern gesehen, den Kindern zu helfen, sich selbst zu entfalten und nicht bloß eine bessere Kopie der Eltern zu sein. Das klappt auch nicht immer, klar, aber es wird eher anerkannt, dass Kinder eine eigenständige Persönlichkeit haben«, erklärt Abeba. In Äthiopien hingegen werde von Kindern erwartet, die Werte der Eltern unhinterfragt zu übernehmen. ­Widerspruch gelte schnell als unerhört, geradezu radikal. Und das Verhältnis von Eltern und Kindern sei dort auch stärker ökonomisch geprägt. »Eltern nehmen von vorneherein an, dass sie im Alter versorgt werden, dass die Kinder alles für sie tun und erledigen müssen, sie ihnen dafür nicht mal zu danken brauchen.« Vor allem ihre

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Schwestern unterstützten die Mutter, finanziell und organisatorisch, kümmerten sich ums Haus und um Verträge, erledigten Behördengänge für die Mutter, weil deren Deutsch dafür nicht ausreicht. »Wir sind da die Mittelsfrauen, schaffen den Anschluss für sie, aber sie erkennt das nicht so richtig an. Sie stellt alles in Rechnung: Ich hab’ das für dich getan, deshalb solltest du jetzt das machen.« Wegen alldem zog Abeba aus, sobald sie volljährig war. »Ich hatte da einfach keine Lust mehr drauf.« Seither ist der Kontakt zu ihrer Mutter sehr reduziert. Sie ist zwei-, maximal dreimal im Jahr für höchstens eine Woche zu Besuch. Am Telefon sprechen die beiden ungefähr einmal im Monat, und dann ist es meistens die Mutter, die anruft. Organisatorisches klären sie per WhatsApp. »Wenn ich mit ihr telefoniere, überlege ich immer, was ich ihr aus meinem Leben erzählen kann und was ich besser weglasse, weil ich Diskussionen vermeiden will.« Zum Beispiel Partys, WG-Abende, bei denen geraucht und getrunken wird, Dates. Die beiden zählen dann auf, was sie so gemacht haben. Abeba fragt nach Verwandten, wie es ihnen geht, was sie machen, und die Mutter stellt Fragen zum Studium der Tochter. »Sie fragt nach Klausuren, Hausarbeiten, erkennt an, wie viel Arbeit das ist, und wertschätzt das auch. Aber es gibt keine inhaltlichen Gespräche darüber; sie kann nicht nachvollziehen, was ich an der Uni mache.« Immerhin: Übers Telefon kommt es so gut wie nie zu Konflikten. Und inzwischen auch weniger, wenn Abeba zu Besuch ist. Es sind eher kleine Missstimmungen, etwa in Situationen, in denen die Mutter im Wohnzimmer betet und Abeba auf dem Sofa sitzt, das

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Handy in der Hand, und Fernsehen schaut. »Meistens äußert sich das dann in passiv-aggressivem genervten Verhalten: ›Boah, mach mal den Ton vom Fernseher aus‹ – obwohl sie noch in drei anderen Räumen beten könnte. Oder: ›Du bist ständig am Handy. Du machst ja gar nichts Nützliches.‹ Oder wenn ich spät – in Anführungsstrichen – nach Hause komme, gegen neun, dann macht sie mir Vorwürfe: ›Das geht doch nicht, du bist doch ein Mädchen, was sollen denn die Leute sagen, so verhält sich doch keine Muslimin!‹« Abeba glaubt nicht, dass sich die Beziehung zu ihrer Mutter in Zukunft verbessern wird. »Da müsste sie toleranter werden, und dafür ist sie schon viel zu lange in ihrer Blase und will da auch nicht raus.« Gleichzeitig will Abeba der Mutter auch nicht entgegenkommen, zumindest nicht mit ihr beten oder an Ramadan fasten. Was sie aber gerne tun würde: sich etwas mehr mit Äthio­pien befassen und irgendwann mal einen Tigrinya-­Sprachkurs besuchen. Sie glaubt aber auch nicht, dass es noch schlimmer wird. »Der worst case ist ja schon eingetreten: Ich bin ausgezogen und führe mein eigenes Leben, meine eine Schwester und ich leben nicht religiös, und sie weiß das auch. Also was soll da noch kommen?« Den sporadischen Kontakt will Abeba auch weiterhin zu ihrer Mutter halten. Denn es gebe auch Positives in der Beziehung zu ihr. Kleine Dinge. »Dass sie sich freut, wenn ich da bin, zumindest am ersten Tag. Dann ist es etwas Besonderes, sie macht was Aufwendiges zu essen. Und wenn ich finanziell Hilfe benötige, versucht sie mir zu helfen, obwohl sie selbst wenig Geld hat.« Zumindest was materielle Dinge angehe, sagt Abeba, könne sie sich voll und ganz auf ihre Mutter verlassen.

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Evangelikale Eltern Julias Eltern sind Freikirchler. Seit sie nicht mehr an Gott glaubt, ist der Umgang mit den beiden noch schwieriger als ohnehin. Als Julia ein Kind war, sah sie direkt nach dem Auf­ wachen manchmal Dämonen vor ihrem Bett schweben, die von ihr Besitz ergreifen wollten. Sie lag da, starr vor Angst, und konnte sich nicht rühren. Die Dämonen wirkten absolut real, kein bisschen eingebildet. Heute weiß sie, was dahintersteckte: Wenn wir schlafen, schüttet unser Körper Stoffe aus, damit wir uns nicht so stark bewegen. Diese Stoffe wirken auch halluzinogen, weshalb wir träumen. Bei manchen wirken sie nach dem Aufwachen noch fort, was bei Julia zu der gruseligen Mischung aus Lähmung und imaginierten bösen Geistern führte. »Seit ich Atheistin bin«, sagt Julia, »hab’ ich zwar manchmal noch Schlafparalysen. Aber von einem Dämon oder Satan halluziniert habe ich nie wieder.« Heute ist Julia Ende zwanzig und macht nach einigen Berufsjahren als Physiotherapeutin eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten. Ihr WhatsApp-Profilbild zeigt sie bei ihrer Hochzeit, sie lacht darauf mit geschlossenen Augen und wirkt glücklich. Am Telefon spricht sie schnell, die Erinnerungen sprudeln nur so aus ihr heraus. Julias Eltern sind evangelikale Christen und Mitglieder einer Freikirche. Als Kind übernahm sie den Glauben der Eltern – und in dem spielte nicht nur Satan eine große Rolle, den die Mutter manchmal einfach nur »der Feind« nannte, sondern auch Dämonen. Die Dämonen, eine Art böse Engel, lauerten überall. Über Medien konnten sie in Menschen eindringen.

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Um das zu verhindern, musste Julia aufpassen, was sie sah und las. Die japanische Zeichentrickserie Pokémon etwa war tabu, weil Pokémon für Pocket Monsters steht und Monster nur ein anderes Wort ist für Dämonen. Auch Harry Potter durfte die kleine Julia nicht lesen. Und trotzdem schwebten die Dämonen früh morgens über ihrem Bett. In ihrer Kindheit bedeutete die Religion für Julia aber auch viel Schönes. »Die Geburtstage waren der Wahnsinn, mit Mottos und Spielen«, erinnert sie sich. Weil ihre Mutter einen Kinderbibelkreis leitete, seien immer viele Kinder aus Schule und Nachbarschaft in Julias Elternhaus gewesen. Gemeinsam lasen sie die Bibel, sangen und tanzten. »Ich kann in drei verschiedenen Sprachen singen ›Lies die Bibel jeden Tag und bete, wenn du wachsen willst‹. Beim Singen und Tanzen haben wir uns verkleidet, hatten ganze Kisten voller Verkleidungen im Keller.« Der Glaube an Gott hat Julia auch über ihre Kindheit hinaus begleitet. Noch als junge Erwachsene, als sie längst bei den Eltern ausgezogen war und in einer anderen Stadt lebte, besuchte sie eine Freikirche. Erste Zweifel waren ihr da aber schon längst gekommen. Seit etwa fünf Jahren bezeichnet sich Julia nun als Atheistin. »Das war ein jahrelanger Prozess«, erzählt sie. »Immer wieder stieß ich auf kleine Dinge, die meinen Glauben erschüttert, aber noch nicht umgeworfen haben.« Zum Beispiel Bibelstellen. »Da stehen Sachen drin, da denkt man: Holla die Waldfee!« Etwa, dass Gott Homosexualität verabscheue. Oder Sex vor der Ehe. Julia sagt, sie habe nie verstanden, warum Gott damit ein Pro­ blem haben sollte. Mit Ehebruch, ja. Aber mit Sex vor der Ehe? Historisch sei es verständlich, weil es damals

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noch keine Verhütungsmittel gab. Aber das sei heute ja anders. Die Bibel aus der Zeit ihrer Entstehung heraus zu verstehen und zu interpretieren, sei in der Freikirche aber undenkbar gewesen. Also sagten die Eltern Julia nicht, dass gleichgeschlechtliche Liebe völlig okay sei, sondern nur, dass man Homosexualität an sich falsch finden könne, ohne einzelne Personen verurteilen zu müssen. Und sie sagten ihr nicht, dass sich Menschen, bevor sie von Bakterien wussten, Krankheiten mithilfe von Dämonen erklärten. Sondern dass sie sich vor den Dämonen hüten müsse. Mehr noch: Die Eltern glaubten selbst an deren Existenz, weil es so in der Bibel steht. Bei einer wortwörtlichen Interpretation aber ist die Bibel ein erschreckendes Buch. Julia las darin etwa, dass Menschen versklavt werden dürfen, ein Israelit aber nicht länger als sieben Jahre. »So habe ich immer mehr ein Bild von Gott als einem Tyrannen bekommen. Ich war mir damals immer noch ganz sicher, dass es Gott gibt, aber so weit mir zu wünschen, es gäbe ihn nicht.« Julia sah Dokus, las Bücher und lernte Argumente kennen, die sie an der Existenz Gottes zweifeln ließen. »Zum Beispiel, wie sich Wunder wissenschaftlich erklären lassen und was der Placebo-Effekt ist, wegen dem es hilft zu beten.« So fing Julia an, immer mehr Dinge, die sie als Kind gelernt hatte, zu hinterfragen. Das war schmerzhaft, da sie gleichzeitig noch sehr an der Religion ihrer Eltern hing. »Gott kriegt man in dieser Freikirche wirklich als Vater präsentiert, als Papa«, erzählt sie. »Ich hatte gefühlt immer zwei Papas.« Und einen davon loszulassen, das sei verdammt schwer. Heute, sagt Julia, trenne sie eine emotionale Kluft von ihren Eltern. »Natürlich hat das auch damit zu tun,

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dass ich mich so von ihrer Religion entfernt und bemerkt habe, dass da einiges auch sehr schädlich war, was ich als Kind mitgegeben bekommen habe.« Auch wenn sie weiß, dass ihre Eltern ihr nie schaden wollten, ist sie sicher, dass ihr die streng religiöse Erziehung nicht gutgetan hat. »Das distanziert mich von ihnen.« Anfangs sei sie manchmal wütend und verbittert gewesen, so viele Lücken und Ungereimtheiten zu finden in dem, was ihr ein Leben lang als die absolute Wahrheit verkauft worden war. »Eine Zeit lang war die Religion ein Spalter, wir haben immer wieder darüber gestritten.« Julia war in dieser Zeit wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen in Behandlung. Vor allem mit ihrer Mutter war der ­Umgang oft schwer und schmerzhaft, teils eskalierte jedes Gespräch zu einem Streit, bei dem die Mutter heftig schrie und weinte. Als ihre Eltern sich kennenlernten, erzählt Julia, glaubten beide noch nicht an Gott. Die Mutter trug bei der Hochzeit ein rotes Kleid, weil sie sich mit Weiß als Farbe der Unschuld nicht identifizieren konnte. Sie fanden dann als Paar zusammen zum Glauben und waren erst seit fünf Jahren religiös, als Julia auf die Welt kam. Vor allem ihre Mutter, vermutet Julia, sei zuvor auf der Suche gewesen nach etwas, das ihr Halt geben könnte. »Sie hat irgendwann mal zu mir gesagt, das einzige, was ihr ein Gefühl von Wert gebe, sei Jesus. Da dachte ich: Du weißt schon, dass ich dich auch wertschätze?« Ihre Mutter sei eine intelligente Frau, kreativ, lustig, hilfsbereit. »Sie könnte eigentlich mehr auf sich geben, aber hat das nie gelernt.« Ihr mangelndes Selbstwertgefühl gehe so weit, dass sie, wenn Julia und ihr Vater herumalbern, frage: »Lacht ihr über mich?«

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Neben dem mangelnden Selbstwertgefühl und der Hypersensibilität, vermutet Julia, leide die Mutter auch an Depressionen, die bloß nie diagnostiziert worden seien, weil sie statt zum Therapeuten lieber zum Gottesdienst gehe. In ihrer Familie, sagt Julia, gebe es viele psychische Krankheiten. Ihr Bruder sei betroffen, ihre Tante auch. Manchmal erscheint ihr das wie das ursächliche Problem, die Freikirche nur als Symptom. Was nicht heißt, dass es nicht schwer sei für die Eltern, dass ihre Tochter vom Glauben abgefallen ist. »Weil sie echt denken, dass ich später nicht mit ihnen im Himmel bin. Sie glauben nicht unbedingt, dass ich in die Hölle komme, das ist ja eher was Katholisches. Aber dass sie die Ewigkeit im Himmel bei Gott verbringen und ihre Tochter nicht da ist.« Insgesamt gingen beide aber gut damit um. Sie kämen niemals auf den Gedanken, den Kontakt zur Tochter zu reduzieren oder gar abzubrechen und versuchten auch nicht, Julia umzustimmen. Innerhalb der freikirchlichen Szene seien die Eltern eher liberal. Auch als Julias Bruder sich mit 15 als Atheist geoutet hatte, wie Julia es formuliert, seien die Eltern gut damit umgegangen. »Meine Eltern priorisieren uns: An Weihnachten gehen sie nicht mehr in die Kirche, um den Tag mit uns verbringen zu können. Sie sagen dann, in die Kirche gehen sie ja jeden Sonntag.« Seit sie aus dem Elternhaus ausgezogen ist, sieht sie ihre Eltern etwa fünfmal im Jahr. Es gibt eine Familien-WhatsApp-Gruppe und seit Beginn der Corona-­ Pandemie gelegentlich mal ein gemeinsames Skype-­ Telefonat. Ihre Mutter aber suche darüber hinaus ständig den Kontakt zu ihr, rufe sie an, schreibe ihr Nachrichten. Das ist Julia eigentlich zu viel. »Sie ist

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von mir abhängiger als ich von ihr, das ist schwierig für mich. Sie sucht Bestätigung und Anerkennung bei mir, das möchte ich eigentlich nicht.« Oft fühle die Mutter sich gekränkt und zurückgewiesen, es komme zu Streit. Julia sucht Lösungen dafür. Ein Codewort, das die Mutter sagen soll, sobald sie sich verletzt fühlt, funktionierte nicht. Stattdessen hat Julia jetzt für lange Autofahrten eine Playlist mit Liedern erstellt, die beide mögen: das entspanne. Und sie hat mit der Mutter abgemacht, dass sie öfters mal abwartet, bis Julia sich von sich aus bei ihr meldet. »Das vergisst sie oft, wenn ihr irgendwas einfällt, sie was Interessantes gelesen hat, ein Brief für mich angekommen ist. Dann ruft sie an, obwohl es anders vereinbart war.« Wie es weitergeht, weiß Julia nicht. Gerade überlegten die Eltern, wo sie sich in der Rente zur Ruhe setzen sollen. »Je nachdem, ob sie da eine Lösung finden, mit der sie beide zufrieden sind, kann ich mir vorstellen, dass es schlimmer oder besser wird.« Auch die Zukunft ihres Bruders spiele eine Rolle, der wegen seiner psychischen Krankheit nicht arbeiten könne. Julia will, dass die Eltern sich informieren, was er für Möglichkeiten hat, welche Hilfen man für ihn beantragen könnte. Aber auch da kommt die Religion in die Quere: Ihr Vater habe neulich eine Vision gehabt, dass Julias Bruder geheilt werde. Statt staatliche Unterstützung zu organisieren, warten Julias Eltern nun auf die Hilfe von Jesus.

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Pfarrerssohn Ferdinand ist Agnostiker in einer Pfarrersfamilie. Das Verhältnis zu seinen Eltern ist gut, aber distanziert – auch, weil er den Konflikt seit Jahrzehnten umschifft. Neulich war Ferdinand auf einem Familienfest, und schnell fühlte es sich an, als wäre er wieder zwölf: Seine ältere Schwester zog ihn mit peinlichen Begebenheiten aus der Kindheit auf, seine Mutter organisierte alles im Hintergrund, und sein Vater verkündete dann der versammelten Familie, wo man essen, wann man ruhen und wann spazieren gehen würde. »Das finde ich anstrengend«, sagt Ferdinand – und man hört an seinem Tonfall, dass er nicht übertreibt. Ferdinands Vater ist Pfarrer. So wuchs Ferdinand im Pfarrhaus auf und war, wie er es formuliert, »aus Routine und Erziehung gläubig« – bis ihm etwas verspätet als Jugendlicher der Kinderglaube abhandenkam. So, wie andere irgendwann nicht mehr an Weihnachtsmann und Osterhase glauben, glaubte Ferdinand irgendwann nicht mehr an Vater, Sohn und Heiligen Geist. Ein erwachsener Glaube trat nie an die Stelle des kindlichen. Auch deshalb hat Ferdinand bei Familienfeiern wie der neulich immer das Gefühl, sich verstellen zu müssen. Ich kenne Ferdinand über zwei Ecken und habe ihn gefragt, ob er sich mit mir über die Beziehung zu seinen religiösen Eltern unterhalten würde. Ferdinand ist 37 Jahre alt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Heidelberg, wo er zu mittelalterlicher Geschichte promoviert und sich abends mit befreundeten Professorenpaaren zum Weintrinken trifft. Ferdinand trägt immer Hemd und raucht selbstgedrehte Zigaretten.

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Mir erscheint er oft wie der Prototyp eines Intellektuellen. Ferdinand ist sehr klug – und sehr präzise in seiner Wortwahl. Er ist bereit, mit mir zu reden, stört sich aber am Wörtchen »religiös« und erklärt mir auch gleich warum. »Objektiv stimmt es, dass meine Familie religiös ist, aber so würden meine Eltern sich nicht selbst beschreiben.« Sein Vater habe den Gemeindedienst aufgegeben, als Ferdinand noch jung war, und habe stattdessen in der Kirchenverwaltung Karriere gemacht. »Meine Erfahrung mit ihm ist davon geprägt, dass er Theologe ist«, sagt Ferdinand, »bei unseren Gesprächen über Religion hat er eine wissenschaftliche Distanz.« Seine Mutter wiederum komme aus einem »bürgerlich-­ preußisch-patriarchalen Umfeld«. In diesem Umfeld, das auch kirchlich gewesen sei, ging es nicht so sehr um Glaubensinhalte und persönliche Frömmigkeit, sondern um die konfessionelle Zugehörigkeit. »Es war wichtig, dass man Lutheraner ist. Von den Katholischen hob man sich ab.« Deshalb, erklärt Ferdinand, seien »theologisch« und »kirchlich« Begriffe, die zu seinen Eltern besser passten als »religiös«. Ferdinand liefert auch gleich den theoretischen Hintergrund zu seiner Jugend mit: »Es gibt Studien zum ›deutschen Pfarrhaus‹, die sehr zutreffend sind«, findet er. Einerseits sei es ein reiches Umfeld mit vielen Besuchern, Austausch und Gesprächen, andererseits auch unstet und mit wenig Raum für Privatsphäre. »Weil der Vater immer für alle da ist und nie Feierabend hat. Sonntags, wenn andere Familien entspannen, hat er Gottesdienst, und man selbst geht hin.« Am Küchentisch saßen manchmal Leute, die seelsorgerischen Rat suchten. Sein eigenes habe sich sehr vom Familien­

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leben seiner Schulkameraden unterschieden. »Das war eine Spannung zwischen einer Bereicherung und einer Einengung oder zumindest dem Gefühl, die Eltern und das eigene Wohnzimmer zu teilen.« Als Ferdinand irgendwann nach seiner Konfirmation aufhörte, an Gott zu glauben, war das kein Schock für ihn. Zu dieser Zeit waren andere Dinge spannender: sonntags ausschlafen und danach ein Computerspiel zocken statt in den Gottesdienst zu gehen. Rockmusik zu hören statt Bach. Mädchen kennenzulernen und mit ihnen ins Kino zu gehen. Die eigenen Eltern waren da im Vergleich ziemlich langweilig. Auch deshalb sah Ferdinand keinen Grund, gegen sie oder ihren Glauben zu rebellieren. Er war viel unterwegs, auch, weil im Pfarrhaus immer so viele Leute waren, und war er da, schloss er seine Zimmertür. Bis heute hat er nie mit seinen Eltern darüber gesprochen, dass er, der Pfarrerssohn, dessen Bruder auch Pfarrer geworden ist, vom Glauben abgefallen ist. Ferdinand ist sich nicht mal ganz sicher, ob das seinen Eltern überhaupt klar ist. »Die wissen, dass ich in Heidelberg nicht in den Gottesdienst gehe.« Aber womöglich dächten sie, das liege eher an Ferdinands Bequemlichkeit als an mangelndem Glauben. Er vermutet sogar, dass seine Mutter denkt, er glaube nach wie vor an Gott. »Für sie versteht sich das von selbst, dass ich gläubig bin.« Und der Vater? Der ahne es wohl. »Für ihn ist es okay, solange man nicht über Glauben redet, sondern über Theologisches. Wir teilen auch eine Leidenschaft für Bach und Kirchenmusik. So kam es nie zu einer Diskussion darüber, warum ich Agnostiker bin.« Als Atheist würde sich Ferdinand nicht bezeichnen, »aus einer erkenntnistheoretischen Überlegung oder

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dem Bewusstsein heraus, dass es genauso ein Schnellschuss wäre zu sagen ›Gott kann es nicht geben‹ wie zu sagen ›Ich setze Gott voraus‹, beides finde ich logisch unzureichend, unbeweisbar«. Ferdinands Agnostizismus endet nicht damit, dass er die Begrenztheit menschlichen Wissens betont. Sondern er betrachtet Religionen auch weniger kritisch als Atheisten das tun. Ferdinand sagt, er habe »weniger kirchenkritische Reflexe als andere Leute«, die er kenne. Womöglich hätten diese Bekannten die Religiosität der Eltern als beengender empfunden als er und deshalb eine stärkere Ablehnung entwickelt. »Wenn ich in den Gottesdienst gehe, kriege ich teils Beklemmungen, gleichzeitig kann ich den Text einer Predigt auch mal spannend oder anregend finden«, sagt er. Dass Ferdinand manchmal noch Gottesdienste besucht, liegt auch daran, dass er sich mit seinen Eltern nie über seinen Glauben ausgesprochen hat. Wenn er am Wochenende bei ihnen ist und die beiden in den Gottesdienst gehen, kommt er deshalb mit. Das habe mit Konfliktvermeidung zu tun und sei ein »doppelter Schutz«: »Auf der einen Seite stehen meine Faulheit und Harmoniesucht, auf der anderen Seite nehme ich den Glauben meiner Eltern für sie sehr ernst und denke, es müsste eine Enttäuschung und Grund zur Sorge sein, wenn ich ihnen das sage«, erzählt Ferdinand. »Ich habe öfter mal darüber nachgedacht, ob es nicht besser wäre, alle Karten auf den Tisch zu legen, zu sagen: ›Augustins Lehre und Bach-Kantaten haben für mich eine andere Bedeutung als für dich, Vater, denn für dich sind sie Teil deines geliebten Glaubens und für mich nicht.‹ Dann habe ich wieder gedacht: Wofür? Sie können schließlich damit leben, dass ich

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manches teile, manches nicht, warum den Eklat oder eher die Betrübnis – vielleicht wäre es gar kein Eklat – hervorrufen?« Dass es bisher nie zufällig zu einem solchen Eklat kam, liegt auch daran, dass Ferdinand seine Eltern inzwischen sehr selten sieht. Weihnachten etwa feiert er seit vielen Jahren nicht mehr mit ihnen – auch, weil das früher binnen drei Tagen mindestens vier Gottesdienste bedeutete. Erst verbrachte er Heiligabend mit einem festlichen Essen mit seiner damaligen Freundin, später auch mal mit Freunden oder allein in der Kneipe. Wenn er zu seinen Eltern fahre, formuliere er das auch genauso. »Ich würde nie sagen, ich fahre nach Hause«, erklärt er. Und nach zwei Tagen bei seinen Eltern denke er eigentlich immer: Ich muss hier wieder raus. Einerseits, weil die Stimmung und die Rollenverteilung sich oft schnell so anfühlten, als wäre es wieder 1995. Und andererseits, weil Ferdinand immer den Eindruck hat, sich verstellen zu müssen. Erzählt er den protestantisch-beherrschten Eltern vom Vorabend, sagt er nicht: »Ich bin im Morgengrauen nach Hause getaumelt«, sondern: »Ich war mit Freunden unterwegs, und es ist später geworden.« War er zur Feier eines befreundeten Paars in einem Sternerestaurant und hat das Menü bestellt, bleibt er vage, weil es seinen Eltern schnell als Exzess erscheine, wenn man mal über die Stränge schlägt. »Deshalb denke ich immer, ich muss tiefstapeln, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde auf großem Fuß leben, nicht wissen, dass Geld auch erarbeitet werden muss.« Hat das Gefühl der Fremdheit, das er im Elternhaus empfindet, also mit Religion nur am Rand zu tun?

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Dem widerspricht Ferdinand. »Ich denke schon, dass mich diese religiöse Prägung dahin gepusht hat, den ­Lebensentwurf meiner Eltern nicht einfach ohne Religion nachzumachen, sondern mich mit einer linkeren Position zu identifizieren«, sagt Ferdinand. Und zu dieser linkeren Position gehöre eben auch eine Sympathie für die Religionskritik der 68er. Während manche meiner Gesprächspartnerinnen teils verzweifelt klangen, scheint Ferdinand sehr gut mit dem distanzierten Verhältnis zu seinen Eltern zurechtzukommen. Woran das liegt, weiß er selbst nicht so recht. In seiner letzten Beziehung aber, erzählt Ferdinand, habe er bemerkt, dass ihm Familie weniger wichtig sei als anderen. Seine Freundin konnte ganz offen mit den Eltern reden, besprach Probleme, Sorgen und Zukunftsängste mit ihnen, holte sich Rat. Sie sprach immer davon, »nach Hause« zu fahren, wenn sie die Eltern besuchte, empfand den Besuch als Erholung und nicht als Herausforderung. Ferdinand begleitete sie gern, merkte aber auch, dass er umgekehrt nicht das Gleiche tun, nicht einfach mal mit ihr zu seinen Eltern fahren konnte und wollte, um sich dort ein Wochenende lang zu entspannen. »Ich definiere mich nicht so sehr über meine Beziehung zu meinen Familienmitgliedern«, sagt Ferdinand. »Fürs Wohlergehen, ein Gefühl von Integriertsein, Aufgefangenwerden, sind mir andere Beziehungen wichtig.« Das heiße nicht, dass er seinen Eltern nicht dankbar sei, sie nicht liebe, ein Bruch mit ihnen nicht schwer für ihn wäre. »Aber eher, weil man halt nur eine Familie hat und es deshalb ein Jammer wäre. Mir würden dann nicht meine im Alltag wichtigsten Bezugsmenschen fehlen.«

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Was sagen Fachleute zu religiösen Konflikten? Lars Allolio-Näcke ist überzeugt, dass sie immer auch Konflikte mit den Eltern sind und Sarah Pohl hat beobachtet, dass sich Kinder oft emotional erst von den Eltern und dann von deren Religion entfernen. Abeba, Julia und Ferdinand haben Eltern, die an Gott glauben, und tun es selbst nicht. Während Abeba nie viel mit Religion anfangen konnte, war Julia bis ins junge Erwachsenenalter hinein sehr gläubig – und distanzierte sich dann umso stärker von der Religion. Ferdinand entwuchs seinem »Kinderglauben« ohne heftige Kämpfe mit sich selbst oder den Eltern. Heute bezeichnen sich alle drei als Agnostiker oder Atheistinnen und haben ein kompliziertes Verhältnis zu den Eltern, was nicht nur, aber auch an der religiösen Distanzierung liegt. Leider gibt es keine Studien zur Weitergabe von Religiosität durch Eltern an Kinder. Was aber bekannt ist: Mitte der sechziger Jahre waren noch mehr als 95 Prozent der Deutschen Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche. 2020 waren es gerade noch 51 Prozent. Es muss also sehr viele nicht-religiöse Menschen in Deutschland geben, deren Eltern Mitglied in einer Kirche sind und also zumindest teilweise an Gott glauben. Sicherlich gilt das so ähnlich auch für viele Menschen, deren Eltern muslimisch sind – auch wenn dieses Phänomen bei etwa sechseinhalb Prozent Muslimen hierzulande nicht ganz so verbreitet sein kann. Diese Zahlen verraten natürlich nichts darüber, wieso manche Menschen der Religion den Rücken kehren, wenn ihnen der kindliche Glaube abhandenkommt, während andere eine erwachsene Religiosität entwi-

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ckeln. Oder darüber, was das für die Beziehung zu den Eltern bedeutet. Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Religionspsychologie – ein kleines Spezialgebiet, das in der Theologie angesiedelt ist. Lars Allolio-Näcke, Privatdozent an der Universität Erlangen-Nürnberg, ist ihm selbst zufolge der einzige Wissenschaftler in Deutschland, der sich in diesem Bereich habilitiert hat. Mit ihm habe ich ebenso gesprochen wie mit der Pädagogin Sarah Pohl, die über Kinder in religiösen Gruppierungen promoviert hat und heute die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg leitet. Allolio-Näcke sagt, Religion falle nicht vom Himmel, sondern werde von den Eltern an ihre Kinder weiter­ gegeben. »Deshalb sind religiöse Konflikte eigentlich immer Konflikte mit den Eltern.« Je stabiler die Beziehung zu den Eltern, umso stabiler sei auch oft der Glaube. Umgekehrt sei das nicht der Fall: Ein intensiver Glaube der Eltern könne auch zu intensiverer Abgrenzung des Kindes führen. Nicht alle religiösen Eltern hätten ein Problem damit, wenn ihre Kinder den Glauben nicht übernehmen. »Aber je religiöser die Eltern sind und vor allem je mehr sie wollen, dass ihre Werte weitergelebt werden, umso mehr führt das zu Konflikten.« Religion, sagt der Religionspsychologe, sei ein Vehikel der Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind. Das sieht auch Sarah Pohl so. Sie hat beobachtet, dass die Beziehung zwischen Kindern und Eltern sich bei einer Abkehr der Kinder vom elterlichen Glauben vor allem dann verschlechtert, wenn sie vorher schon konflikthaft war. Wo die Beziehung hingegen innig ist, setzten sich selbst Eltern aus strengen religiösen Gruppierungen teils für die Kinder über die Regeln ih-

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rer Religion hinweg. Etwa bei den Zeugen Jehovas, wo zu Aussteigern der Kontakt eigentlich abgebrochen werden soll. Vor allem in zwei Phasen hadern Kinder laut Pohl mit dem elterlichen Glauben: Wenn sie in die Schule und somit in Kontakt mit Kindern kommen, die an einen anderen oder keinen Gott glauben. Und wenn sie aus dem Elternhaus ausziehen, das Verhältnis zu den Eltern neu austarieren und sich fragen, welche ­Familientraditionen sie übernehmen und von welchen sie lieber Abstand nehmen wollen. Was die beiden Fachleute sagen, erscheint mir einleuchtend – und es passt zu Abeba, Julia und Ferdi­ nand. Da, wo die Eltern besonders strenggläubig sind, nämlich bei Abeba und Julia, sind auch die Konflikte besonders groß. Auch, weil die Eltern Druck auf die Kinder ausüben. So fordert Abebas Mutter sie etwa immer wieder zum Beten und Fasten auf. Gleichzeitig ist es nicht die Religion allein, die zur Entfremdung führt. Bei ­Abeba ist es auch die sprachliche und kulturelle Kluft zur Mutter, bei Julia sind es die psychischen Probleme in der Familie und die emotionale Bedürftigkeit der Mutter. Bei Ferdinand scheint es so, als haben der Glauben der Eltern, ihr Konservatismus und die kühle Atmosphäre im Pfarrhaus dazu geführt, dass er sich heute lieber mit Freunden als Verwandten umgibt und einen weniger traditionellen Lebensstil gewählt hat. Abeba und Ferdinand zweifelten schon in ihrer Schulzeit am Glauben, Julia distanzierte sich als junge Erwachsene. Ihren Eltern ist die Beziehung zu den Kindern wichtiger als der eigene Glaube, weshalb sie an Weihnachten nicht mehr in die Kirche gehen. Von den dreien habe ich auch Pohl und Allolio-­Näcke erzählt. Beide halten deren Geschichten für Parade­

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beispiele der Entfremdung vom elterlichen Glauben und den Eltern: die Tochter einer Muslimin, die den Glauben der Mutter als starr und einengend betrachtet, die Tochter von Freikirchlern, die der naiv-wörtlichen Bibel-Interpretation der Eltern als Erwachsene nicht mehr folgen mag und der Sohn eines Pfarrers, der das Pfarrhaus nie als Zuhause empfindet und sich von der Religion abwendet. Über Abeba sagt Allolio-Näcke: »Das ist ein typischer Fall von: muslimische Tradition stößt auf eine junge Generation von Muslimen, die auch glauben wollen, das aber mit ihrer Lebensweise und mit der Moderne nicht auf die Reihe kriegen.« Tatsächlich versuchte Abeba es ja, ging in der Hoffnung, den Islam doch noch so toll zu finden wie ihre Familie, in die Koranschule – und scheiterte. Den Vorwurf, ihre Mutter, ihr Onkel und andere beschäftigten sich gar nicht wirklich von Herzen mit der Religion, sondern wollten vor allem gut dastehen in der Community, kann der Religionspsychologe gut nachvollziehen. »Im Islam ist es häufig wirklich so, dass man dem Umfeld gefallen will.« Im Christentum sei das früher auch so gewesen – und teils heute noch der Fall: »Auf bayerischen Dörfern muss man sonntags in den Gottesdienst, sonst wird geredet.« Junge Menschen, die Freiheiten gewohnt und durch die sozialen Medien mit der ganzen Welt verbunden seien, könnten diese Zwänge mit ihrem Lebensstil nicht mehr in Einklang bringen. Das gelte auch für den Zwang, alles für die eigenen Eltern zu tun, sich um sie zu kümmern, was Teil der muslimischen Identität sei. Auch dass Abeba als Jüngste von mehreren Schwestern die am wenigsten religiöse ist, sei häufig

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so: »Die Jüngsten sind oft am besten integriert in der neuen Gesellschaft, haben deren Werte am meisten kennengelernt und stehen deshalb am stärksten in Konflikt mit den herkömmlichen Werten der Eltern.« Ist Abebas Konflikt dann vielleicht eher ein kultureller, kein religiöser? Das würde Allolio-Näcke nicht sagen. Denn Kultur und Religion seien im Islam nicht trennscharf, selbst in säkularisierten Familien wirkten die muslimischen Werte weiter. Sarah Pohl sieht bei Abeba die Gefahr, dass der religiöse Konflikt mit ihrer Mutter in der Zukunft noch mal aufbricht. Sich zurückzuziehen, den Kontakt einzuschränken, bestimmte Themen zu meiden könne eine Zeit lang hilfreich sein. Doch auf Dauer entstünden aus Vermeidungsstrategien oft Spannungszustände, die sich entladen könnten, wenn religiöse Themen wieder relevanter werden – etwa, wenn Abeba einmal Kinder bekommt. Zu Julias Erziehung, dem Verbot von Harry Potter und Pokémon, sagt Allolio-Näcke: »Das ist kein drastisches, sondern ein klassisches Beispiel aus einer evangelikalen Freikirche.« Solche religiösen Sondergemeinschaften – früher sagte man Sekten – arbeiteten mit Zwangssystemen. Diese Zwangssysteme hielten die Gemeinschaft zusammen. Eine solche Funktion erfülle auch der Glauben an Dämonen. »Das funktioniert bei Kindern so lang, bis sie verstehen, dass es Dämonen nicht gibt.« Sobald ihnen das klar sei, folge eine weitere Erkenntnis: dass die eigenen Eltern den kindlichen Glauben nie abgelegt haben. Nicht, weil sie dazu nicht fähig seien, sondern als bewusste Entscheidung, weil ihnen Gottes Wort dafür zu wichtig sei. Deshalb werde die Bibel in diesen Kreisen bis heute nicht histo-

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risch-kritisch gelesen, sondern als ewig gültiges Wort Gottes. Dabei müsse, wie Julia es schon als Jugendliche erkannt hat, die Bibel aus ihrer Zeit heraus verstanden werden: »Sie wurde in einer patriarchalen Gesellschaft geschrieben. Deshalb verbietet sie Homosexualität und Sex vor der Ehe. Das kann heute nicht mehr gelten.« Die Freikirchen pochten auf das Gegenteil: weg von der historischen, hin zur wörtlichen Interpretation. Allolio-Näcke sagt, dass sich ihm nicht erschließt, warum sich Julia gleich ganz vom Glauben abgewandt hat und nicht nur von dessen evangelikaler Ausprägung. Ich habe sie das noch einmal gefragt, und sie hat mir erklärt, dass sie sich dafür schon zu sehr von Gott entfernt und zu sehr an seiner Existenz gezweifelt hatte. Zudem habe sie den negativen Blick übernommen, mit dem man in Freikirchen vor allem die katholische Kirche betrachte: »Heiligenverehrung verstößt gegen das erste Gebot, aus Sicht der Freikirche ist die katholische Kirche eine Sekte.« Aber auch die »normale« evangelische Kirche werde innerhalb der freikirchlichen Szene mit Misstrauen betrachtet. Dass viele von Julias Verwandten von psychischen Krankheiten betroffen sind, kommt Sarah Pohl aus ihren Beratungen bekannt vor. »Ein autoritärer Erziehungsstil, übergriffige, klammernde Eltern: Meist ist es nicht nur die Religion. Oft steckt noch eine Geschichte hinter der Geschichte.« Auch, dass Kinder religiöse Konstrukte erst einmal übernehmen, wenn sie ausziehen, eine Zeit lang eine eigene Gemeinde besuchen und erst dann bemerken, dass ihnen die Inhalte nicht zusagen, erlebt sie häufig. Es sei selten so, dass sofort mit dem Auszug der Abschied von der Religion erfolge. Oft sei das hilfreich für die Betroffenen, weil so die Ab-

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lösung von den Eltern und die von der Religion nicht zusammenfielen. »Das macht es leichter.« Gerade bei Kindern wie Julia, denen Gott oder auch Satan oder Dämonen als weitere Erzieher präsentiert wurden, sei die Ablösung in der Regel schwer. Es brauche Abstand, um diese schwarze Pädagogik reflektieren zu können. Manche distanzierten sich davon auch erst, wenn sie selbst Eltern werden und merken: So will ich mein Kind nicht erziehen. Bei Ferdinand vermuten Pohl und Allolio-Näcke, dass ihn die Fremdheit gegenüber dem Vater auch von dessen Religion entfremdet habe. Laut Sarah Pohl haben Glaubensüberzeugungen neben einer intellektuell-theologischen eine starke Gefühlskomponente. »Wenn der Glaube sich zuhause nicht schön anfühlt, wenig Raum für die Familie bietet, aber mit viel ­Öffentlichkeit einhergeht, könnte die Distanzierung auf der Gefühlsebene stattgefunden haben«, vermutet Pohl – also schon bevor Ferdinand bewusst wurde, dass ihm der Kinderglauben abhandengekommen war. Stelle man sich einen Eisberg im Meer vor, so stehe die sichtbare Spitze für theologische Fragen und unter der Meeresoberfläche lägen Gefühle und Bedürfnisse. »Da würde es sich vielleicht mal lohnen, unter Wasser zu tauchen, da noch mal zu schauen.« Auch bei Ferdi­nand sieht Pohl eine »Geschichte hinter der Geschichte«: Hier ist es das traditionelle, hierarchische Familien­ modell der Pfarrfamilie, mit dem Ferdinand unabhängig vom Glauben der Eltern nichts anfangen kann. Auch Allolio-Näcke vermutet, dass der junge Ferdinand mit dem in der Gemeinde omnipräsenten Vater keine innige Beziehung habe aufbauen können. Dass Ferdinand davon spreche, zu den Eltern zu fahren und

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nicht »nach Hause«, hänge auch damit zusammen, dass er ein wirkliches Zuhause in den wechselnden Pfarrhäusern nie gekannt habe. Diese Form der Entfremdung sei typisch bei Pfarrerskindern. Ebenso typisch sei es aber, dass Ferdinands Bruder selbst wieder Pfarrer geworden sei. »Die einen folgen dem Vater nach, die anderen sagen: Das war mir too much.« Also zu viel Religion und zu viel Entzug des Vaters durch Religion. Glauben Pohl und Allolio-Näcke, dass ­Ferdinand sich eigentlich eine engere Beziehung zum Vater wünscht? Pohl vermutet das, Allolio-Näcke eher nicht. Ferdinand kannte es schließlich nie anders, argumentiert er. Und es wirke auch so, als hege er keinen Groll. »Weil er den Schnitt schon in der Pubertät für sich gemacht hat. Dadurch hat er den Konflikt nicht mit ins Erwachsenenleben genommen.« Auch Abeba hat sich schon in der Pubertät weit von der Mutter und ihrer Sicht auf die Welt entfernt; auch sie wirkte im Gespräch gefestigt auf mich. Besonders schwer ist die religiöse Entfremdung sicherlich für Julia, in deren Leben sowohl die Freikirche als auch ihre Eltern lange eine zentrale Rolle einnahmen. Hier scheint die Beziehung zu den Eltern noch stärker im Wandel. Diesen Wandel gestaltet Julia aktiv – mithilfe einer Therapie, ihres Ehemanns und seiner Familie. Sarah Pohl findet das bemerkenswert: »Da merkt man: Da hat jemand hinter die Kulissen geguckt und entdeckt: Wir haben eine vorbelastete Familie.« Julia habe erkannt, dass die Religion allein keine Lösung für die Probleme ihrer Eltern sei, aber auch nicht die Wurzel allen Übels. Das, sagt Pohl, sei ein guter Weg.

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VI TRENNUNG

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Scheidungskind Felix hat seit der frühen Trennung seiner Eltern ein distanziertes Verhältnis zum Vater – und hat erst in einer Therapie erkannt, wie sehr er sich mehr Nähe wünscht. Wenn man Felix fragt, wer Teil seiner Familie ist, antwortet er: »Meine Mutter, meine Schwester und ich.« Und dann: »Und mein Vater gehört auch dazu.« So war es, seit er sich erinnern kann. Felix’ Eltern trennten sich, als er zweieinhalb Jahre alt war. Anfangs waren seine ältere Schwester und er mittwochnachmittags und an jedem zweiten Wochenende beim Vater, »ganz klassisch«, wie Felix es formuliert. Nachdem seine Mutter mit ihren beiden Kindern von Berlin nach Freiburg gezogen war, sahen sie den Vater eher alle sechs bis acht Wochen, dafür dann länger am Stück. Jahre später zog der Vater in die Schweiz. Die Besuche wurden noch seltener. »Das Verhältnis zu meinem Vater ist mit dem Wort Entfremdung sehr treffend beschrieben«, sagt Felix. »Wir haben nie eine wirkliche Bindung aufgebaut, und unsere Beziehung ist schwierig.« Lange dachte Felix, das sei kein Problem für ihn, ihm fehle nichts. Seit Kurzem aber macht er eine Therapie, weil er im Studium mit Stress und Angst zu kämpfen hat, und merkt: Viele seiner Probleme sind auf die Beziehung zum Vater zurückzuführen. Felix ist Anfang zwanzig, studiert ein geisteswissenschaftliches Fach in einer Großstadt und beschäftigt sich gern mit großen Fragen aus Politik und Gesellschaft. Auch Familie und Rollenbilder interessieren ihn. Dass die Kinder meist bei der Mutter bleiben, wenn

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Paare sich scheiden lassen, kann er verstehen. Und auch, dass die Beziehung zum Vater sich dann oft auf Wochenenden und Urlaube konzentriert, mehr Spiel und Spaß beinhaltet, aber weniger Vertrauen und Nähe. Trotzdem glaubt Felix, dass sich Väter und erwachsene Scheidungskinder nicht zwangsläufig entfremden müssen. Und dass bei seinem Vater und ihm noch etwas hinzukommt. Nämlich dass sein Vater seine Rolle nie wirklich ausfüllen wollte oder konnte. Seine Erinnerungen an die Zeit mit dem Vater in der Kindheit sind ambivalent. Einerseits erinnert er sich an viele schöne Erlebnisse. Etwa einen Urlaub auf Korfu, in dem Vater, Tochter und Sohn jeden Abend auf dem Balkon saßen, mit Blick über die Insel, und Skat spielten, was der Vater ihnen beigebracht hatte. Der dreizehnjährige Felix wuchs zu dieser Zeit schnell und war ständig hungrig, und das griechische Essen schmeckte ihm. Vor allem aber hatten seine Schwester und er im Urlaub die ungeteilte Aufmerksamkeit des Vaters. Das war in Deutschland selten der Fall. »Wenn mein Vater eine Freundin hatte, kam er freitagabends mit dem Zug und verschwand dann Samstag­morgen auf dem Balkon, um zwei Stunden mit der Frau zu telefonieren, die er am Tag zuvor gesehen hatte und am nächsten Tag wiedersehen würde.« Felix und seine Schwester waren immer schon ins Wohnzimmer geflitzt und hatten angefangen, ein Spiel aufzubauen. Felix verbrachte viel Zeit damit, den Kartenstapel zu seinem Vorteil zu manipulieren, wie er lachend erzählt. Damit konnte er sich zehn, zwanzig, vielleicht sogar dreißig Minuten beschäftigen. Kam der Vater dann immer noch nicht ins Wohnzimmer, schlichen er und die Schwester doch wieder zurück ins Kinderzimmer

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und warteten da auf den Vater. Nicht wütend, aber mit einem Gefühl der Beklemmung. Dann wurde es doch noch schön: mit dem gezinkten Kartenspiel, mit Go-Kart und Kajak fahren. Und mit stundenlangem Videospiele Zocken, was die Mutter nie erlaubt hätte. Es folgte ein für den kleinen Felix trauriger Abschied. Und dann: Funkstille. War der Vater zurück in Berlin, war der Kontakt bis zum nächsten Besuch immer nur sporadisch. Das ist es, was Felix in der Rückschau vor allem stört. Der Vater hätte nicht häufiger zu Besuch kommen müssen. Aber mal zwischendurch anrufen, Interesse zeigen: das schon. »Er ist so ein bisschen seiner elterlichen Pflicht nachgekommen, aber hat nur das Nötigste gemacht, sich ziemlich aus der Affäre gezogen.« Wie hätte Felix sich die Beziehung zum Vater gewünscht? »Stabiler, verlässlicher, intimer, inniger.« Ein bisschen mehr wie mit seiner Mutter. »Wir haben eine enge, sehr gute Beziehung, telefonieren jede Woche.« Als Felix zum Studium von Freiburg in die Großstadt zog, half sie ihm ganz selbstverständlich beim Umzug. »Mein Vater hat mir keinerlei Hilfe angeboten. Er fühlt sich einfach sehr wenig verantwortlich.« Sein Vater, so nimmt Felix es wahr, hat seine Kinder nie gegenüber Arbeit, Partnerinnen, Freunden oder Hobbys priorisiert. Wenn Felix und seine Schwester bei ihm waren, war nicht bloß die Partnerin oft da, sondern er traf in diesen Tagen auch Freunde. Einmal, Felix war vielleicht zehn Jahre alt, buken der Vater, er und seine Schwester zu dritt einen Schokokuchen mit einer Eierlikör-Sahne-Haube. Am nächsten Tag fläzten sie sich gemeinsam auf der Terrasse, die Sonne schien, der Blick ging über den kleinen Garten des Hauses im Norden von

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Berlin, der Vaters kratzte bei den Stücken der Kinder das alkoholhaltige Topping ab. Ein idyllischer Moment. Und dann kam eine kinderlose Freundin des Vaters vorbei, die mit den beiden, so Felix’ Eindruck, nichts anfangen konnte, bediente sich ordentlich am Kuchen und führte ein Erwachsenengespräch mit dem Vater. »Das hat diesen eigentlich schönen Familien­moment total eingetrübt. Meine Schwester und ich haben nicht verstanden, warum er diese Frau sehen musste, wenn wir dann mal ausnahmsweise da waren«, erzählt Felix. »Wir hatten nie das Gefühl, dass er sich uns anpasst, sondern eher, ein bisschen fehl am Platz zu sein.« Später dann, als der Vater Berlin verließ, in einer Art Midlifecrisis monatelang durch Südostasien reiste und dann in die Schweiz zog, endeten seine Besuche in Freiburg und die gemeinsamen Geschwisterbesuche beim Vater. Ein weiterer Bruch. »Für mich ist mit seinem Wegzug auch meine zweite Heimat in Berlin verlorengegangen. Nach dem Umzug kam nichts ­Neues, was unsere Beziehung zusammengehalten hätte«, sagt Felix. Die Erinnerungen an Spielenachmittage und Ausflüge verblassten und es trat nichts an die Stelle dieser Erlebnisse. »Ich wusste selbst immer weniger mit meinem Vater anzufangen und er auch immer weniger mit mir, so war mein Eindruck.« Gestritten haben sich die beiden nie. Die Entfremdung kam nicht plötzlich, sondern schleichend. Wie weit sie fortgeschritten ist, erkannte er bei seinem letzten Besuch beim Vater. Wie in Felix’ Kindheit unternahmen die beiden viel: gingen wandern, ins Museum und Kino. Sobald sich die beiden aber unterhielten, und zwar nicht nur übers Wetter, Sport oder Kochen, wurde es schwierig. Denn wie in Felix’ Kindheit

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erklärte der Vater seinem Sohn die Welt, schwang große Reden. Vor einigen Jahren fand Felix das noch spannend, heute erkennt er in den Monologen des Vaters einen Hang zu Esoterik und Verschwörungserzählungen. »Er nutzt jedes Thema dazu, sich selbst zu profilieren, zu sagen, dass es ganz anders ist als die Leute denken, er es durchschaut. Er referiert dann darüber und fühlt sich klug, aber es ist falsch und unterkomplex. Und wenn ich ihn darauf hinweise, fühlt er sich angegriffen, und wir streiten uns.« Kein längeres Gespräch sei ohne diese unangenehme Dynamik möglich gewesen. »Wahnsinnig frustrierend« findet Felix das. »Er erzählt mir teils hanebüchenes Zeug: Man könne durch Emotionen die Struktur von Wasser verändern. Wenn man auf ein Glas Wasser einen Zettel klebe, auf dem ›Wut‹ stehe, passiere was anderes, als wenn man ›Trauer‹ draufschreibe. Das finde ich schockierend, denn er müsste es als studierter Arzt ja besser wissen.« All das hat dazu geführt, dass Felix’ Beziehung zu seinem Vater deutlich abgekühlt ist. Inzwischen sehen sie sich nur noch einmal im Jahr, telefonieren bloß alle sechs bis acht Wochen. Felix fühlte sich seinem Vater nie so nah, wie er es sich gewünscht hätte. Hatte er Probleme in der Schule oder mit einem Mädchen, rief er ihn nie an. Aber mit seiner Mutter oder Schwester konnte er auch nicht alles besprechen. Was fehlte: eine männliche Bezugsperson, ein Mann als Vorbild. Da gab es niemanden: keinen Onkel, keinen Lehrer, keinen neuen Partner der Mutter. Womöglich hat ihn das mehr beeinflusst, als er lange dachte. Schon seit der Schule und vor allem im Studium empfindet Felix einen starken Leistungsdruck.

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Vor Klausuren oder Hausarbeiten fühlt er sich gestresst, hat teils Angstzustände. Aber auch ohne Klausuren steht Felix eigentlich ständig unter Strom. Die Vorstellung, bloß gut oder gar durchschnittlich zu sein, verunsichert ihn. »Ich habe das Gefühl, etwas wahnsinnig Gutes leisten zu müssen, um keine Zurückweisung zu erfahren«, erklärt Felix. Schafft er nicht alles, was er sich vornimmt, hat er ein schlechtes Gewissen. Diesen übersteigerten Ehrgeiz führt er zumindest indirekt auf den abwesenden Vater zurück, seit er mit einem Psychologen spricht. Denn seine Mutter sei ein ängstlicher Mensch, traue sich und anderen wenig zu. Neulich erst sei sie sehr besorgt gewesen, als Felix ihr erzählte, dass er vorhabe, in seiner Wohngemeinschaft den Wasserhahn in der Küche auszutauschen. »Mein Vater reagiert auf so was unterstützender, weniger ängstlich, aber im Alltag hat das gefehlt. Er war nie ein Korrektiv in dieser Hinsicht. Die Mischung wäre gut gewesen: sich Dinge gut zu überlegen, aber sie dann auch selbstbewusst zu machen. Sonst entsteht eine Dynamik, dass ich, wenn was schlecht läuft, denke, dass das doch klar war. Deshalb erscheint mir vieles größer als es ist, beinahe unüberwindlich. Das fängt bei Hausarbeiten an der Uni an, wo ich Angst habe zu scheitern.« In der Therapie habe er außerdem erkannt, dass es ihn eigentlich doch traurig macht, dass sein Vater nicht wirklich Teil der Familie ist. »Und diese Trauer bricht sich an anderen Stellen Bahn und verleidet mir mein Studium.« Neulich hat Felix seinen Vater zum ersten Mal gesehen, seit er in der Therapie zugeben konnte, wie sehr er bis heute unter der Trennung der Eltern leidet. Das sei ein emotionales Chaos gewesen, erzählt Felix: »Freude darüber, dass ich einen schö-

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nen Tag mit meinem Papa hatte, Trauer darüber, dass es nicht immer so ist, Sehnsucht nach intensiverem Kontakt, Enttäuschung darüber, dass es nicht so ist und nie so war, trotz dieser schönen Einzelerlebnisse. Und darüber dann wieder eine gewisse Wut.« Felix weiß, dass er mit der Aufarbeitung der Beziehung zum Vater noch ganz am Anfang steht. Wenn er daran denkt, wird er nervös. Aber er verspürt auch eine gewisse Vorfreude.

Stieftochter Lauras Stiefvater akzeptierte sie nur so lange als Tochter, bis er eine eigene bekam. Heute hat sie keinen Kontakt mehr zu ihm und ihren Eltern. Als Laura ungefähr acht Jahre alt war, holte sie sich mal ein Glas Wasser an dem alten rostigen Wasserhahn im Garten und drehte den schnörkeligen Griff danach ganz fest zu, wie die Eltern es ihr eingebläut hatten. Abends dann stand der ganze Rasen unter Wasser. »Ich bekam den Ärger meines Lebens«, erzählt Laura. Obwohl sie immer wieder beteuerte, den Hahn wirklich fest zugedreht zu haben, schrie der Stiefvater sie an und brummte ihr eine Woche Fernsehverbot auf. Als ihre Schwester am nächsten Tag zugab, dass es in Wirklichkeit sie gewesen war, die den Hahn nach Laura noch einmal aufgedreht hatte, bekam sie keinen Ärger. Und niemand entschuldigte sich bei Laura: weder ihre Schwester noch ihre Mutter noch ihr Stiefvater. »Weil sie die Tochter war«, sagt Laura. Und meint damit: die leibliche Tochter ihres Stiefvaters.

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Laura ist heute 28 Jahre alt, hat nach einer Ausbildung zur Grafikdesignerin noch mal ein Musikstudium begonnen, das sie bald abschließen wird. Sie ist gerade auf Wohnungssuche – und so über mein Gesuch bei eBay-Kleinanzeigen gestolpert. Bereits ihre erste Nachricht an mich ist ausführlich. Ihr WhatsApp-Profilbild ist in schwarz-weiß, sie schaut aus großen dunklen Augen ernst über ihre tätowierte Schulter in die Kamera. Schon einen Tag später telefonieren wir. Laura wirkt auf mich so, als hätte sie ihre Geschichte schon oft erzählt – und verständlicherweise trotzdem noch ein großes Bedürfnis, es wieder zu tun. Lauras Eltern ließen sich scheiden, als sie vier Jahre alt war. Die Mutter verließ den Vater für einen anderen Mann. Der Vater war darüber so wütend, dass er jahrelang kaum mehr ein Wort mit seiner Exfrau sprach. Zu Lauras 18. Geburtstag, zu ihrem Abiball: Immer kam nur einer der beiden. Von der neuen Freundin des Vaters fühlte Laura sich nie wirklich akzeptiert. Sie sah in Laura die Ex ihres Partners, gegen den sie wegen der Unterhaltszahlungen Groll hegte, womöglich auch eine Konkurrentin um Liebe und Aufmerksamkeit. Das ließ sie Laura spüren. Lauras Geschenke zu Weihnachten gab sie ihr zurück: Sie wolle das nicht haben. Anders war es mit dem neuen Partner der Mutter, bei dem Laura direkt nach der Trennung der Eltern mit ihrer Mutter einzog. Er behandelte sie wie eine Tochter, zumindest glaubt Laura, dass es so war. Es gibt ein Foto von den beiden, auf dem zu sehen ist, wie er Laura das Schwimmen beibringt. »Das sieht schon aus wie eine Vater-Tochter-Beziehung«, findet sie. »Und das hat sich dann verschoben, als meine Schwester auf die Welt kam. Ab da war ich nur noch das lästige Stiefkind.«

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Das begann schon kurz nach der Geburt der Schwester, als Laura im Krankenhaus ein Blumentopf runterfiel und die Eltern sich furchtbar empörten, so als könnte Laura einfach nichts richtig machen. Laura fühlte sich im Vergleich zu ihrer sechs Jahre jüngeren Halbschwester wie Aschenputtel. An Weihnachten schenkten die Geschwister des Stiefvaters Lauras Schwester eine Spielekonsole von Nintendo – und Laura eine Duftkerze aus dem Drogeriemarkt. Laura litt darunter sehr, stritt sich heftig mit der Mutter und dem Stiefvater. Oft drehten sich die Streitereien um Dinge, die Laura nicht durfte: lange aufbleiben, ausgehen, bei der Chorfahrt dabei sein. Ihre Mutter habe nie mit sich reden lassen, sich immer durchsetzen wollen mit ihren Regeln und Vorstellungen. Als Laura volljährig wurde, wollte der Stiefvater, dass sie auszog, was sie mit 19, mitten im Abitur, auch tat. Finanzielle Unterstützung bekam sie übergangsweise von ihrem Vater, von Mutter und Stiefvater bekam sie nichts. Laura fing an zu arbeiten, um ihre Miete zahlen zu können, begann erst später eine Ausbildung, danach ein Studium. Der Kontakt zu den Eltern brach irgendwann völlig ab. Doch wenn Kommilitonen sie fragten, ob sie am Wochenende nach Hause fahre, bejahte Laura das. Sie schämte sich dafür, keinen Kontakt zu den Eltern zu haben. Und log deshalb. »Weil ich dachte, dass die Wahrheit für andere zu krass und unverständlich ist.« Ein schlechtes oder sogar gar kein Verhältnis zu den Eltern zu haben, sei ein Tabu. »Und ich hab’ selbst zu dieser Tabuisierung beigetragen«, sagt Laura. »Aber ich finde es so wichtig, dass man darüber redet.« Auch deshalb hat sie sich bei mir gemeldet.

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Mit ihrer Familiengeschichte stößt sie oft auf Unverständnis. Bei einer Feier fünf Jahre nach dem Abitur traf sie eine Lehrerin wieder, die sich nach ihrer Mutter erkundigte. Laura erklärte ihr, sie habe keinen Kontakt zur Mutter. Später schrieb ihr die Lehrerin eine Mail: Sie solle sich das doch noch mal überlegen, sich bei der Mutter melden, bevor es irgendwann zu spät sei und sie es bereuen werde. »Wieso fragt die sich nicht mal, warum ein Kind mit seiner Mutter bricht?«, wundert Laura sich. »Das verharmlost, wie mit mir umgegangen wurde.« Wie kam es dazu, dass Laura heute weder Kontakt zu Mutter und Stiefvater noch zum Vater und seiner Partnerin hat? Das schlechte Verhältnis zum Vater lastet Laura zumindest teilweise der Mutter an. Als Kind wurde sie freitagnachmittags zum Vater gebracht und sonntags wieder abgeholt. Der Vater kam freitags aber immer erst nach Mitternacht nach Hause, wenn er sein Restaurant geschlossen hatte. Laura saß so lange allein an seinem Computer und spielte Videospiele, während sie auf ihn wartete. Erst Jahre später fand sie heraus, dass montags im Restaurant Ruhetag war – und die Mutter sich geweigert hatte, Laura unter der Woche zu ihm zu lassen. Der Machtkampf zwischen den Eltern wurde auf Lauras Rücken ausgetragen. Als Kind durfte sie samstags im Dorf nicht zum Ballett, was sie unbedingt wollte, weil alle netten Mädchen aus ihrer Klasse dorthin gingen. Aber samstags sollte sie ja beim Vater sein. Auch an der schlechten Beziehung zum Stiefvater sei ihre Mutter nicht unschuldig gewesen. Vor acht Jahren trennten sich ihre Mutter und der Stiefvater. Vier Jahre später traf sie ihn zufällig wieder. Er sagte ihr, die

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Mutter habe als Mittelsfrau zwischen ihnen beide manipuliert, sie geradezu gegeneinander aufgehetzt. Hätten sie direkt gesprochen, wäre es bestimmt nicht so weit gekommen. Laura hält ihre Mutter für eine Narzisstin. Sie weiß trotzdem nicht, wie sehr sie ihm seine Variante der Geschichte glauben soll. Zumindest an eine Anekdote, die ins Bild passt, erinnert sie sich: Ihre Schwester hatte Geburtstag, die Mutter hatte eine Zahn-OP hinter sich, der Stiefvater extrem schlechte Laune. Lauras Mutter lag Laura damit in den Ohren, wie schlecht es ihr gehe, wie sehr der Kiefer schmerze, dass ihr Mann sie nicht unterstützen wolle bei den Partyvorbereitungen für die Schwester und dass Laura stattdessen mit anpacken müsse. Später fand Laura heraus, warum ihr Stiefvater damals so einsilbig war: Die Mutter hatte für die kosmetisch bedingte, medizinisch nicht nötige Sanierung ihres Oberkiefers 30.000 Euro vom gemeinsamen Konto mit ihrem Mann abgehoben, ohne das mit ihm zu besprechen. Laura gegenüber aber stellte sie sich als Opfer ihres herzlosen Mannes dar, was Lauras Sympathien für ihn natürlich nicht wachsen ließ. Eine Zeit lang hatte Laura nach dem Wiedersehen Kontakt zu ihm, dann brach der nach einem Konflikt um ein Logo, das sie als Grafikerin für einen Verein des Stiefvaters entworfen hatte, wieder ab. Mit dem Vater und der neuen Freundin hielt der Kontakt noch länger, doch er war auch konfliktreich. An Weihnachten vor einigen Jahren wollte die Partnerin nicht, dass Laura ihren Hund mitbringt. Als Laura deshalb nicht kommen wollte und der Vater stattdessen zu ihr kam, war die Freundin gekränkt. Im Folgejahr blieb sie zuhause, als Laura am Abend des 24. Dezember eigentlich mit den beiden zum Essen im Restaurant

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verabredet war. Ein Jahr später flogen der Vater und seine Partnerin über Weihnachten in den Urlaub. Laura war wenige Wochen vor Weihnachten für ein Praktikum in eine neue Stadt gezogen, in der sie niemanden kannte. Zur Mutter hatte sie damals schon keinen Kontakt mehr. Trotzdem bot der Vater ihr nicht an mitzukommen, ignorierte ihre Bitte, sie an Weihnachten nicht allein zu lassen. Danach hatten die beiden ein Jahr lang keinen Kontakt. Im Dezember 2020 schrieb der Vater ihr eine Mail, ob sie nicht noch mal sprechen wollten, schließlich seien sie eine Familie, und es sei Weihnachten. Die beiden trafen sich, und Laura sagte ihm, wie sehr sie sein Verhalten im vergangenen Jahr verletzt hatte. Er wurde wütend, beleidigte sie – und sie stand auf und ging. Seither hat sie auch mit dem Vater und seiner Frau keinen Kontakt mehr. Laura fehlt in der Beziehung zu ihren Eltern nicht nur emotionale Sicherheit, sondern auch finanzielle. Die Mutter hat ihr keinen Cent gegeben, seit sie 19 war. Der Vater hat sich jahrelang vor Unterhaltszahlungen zu drücken versucht – aber fährt Porsche und hat sich kürzlich ein Haus gekauft. Ob Laura dieses Haus mal erben wird, weiß sie nicht. Laura sagt, wenn man sich die Bedürfnispyramide anschaue, das berühmte Modell des amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, dann hätten ihre Eltern ihr nicht bloß die Spitze der Pyramide verwehrt – soziale Beziehungen, Wertschätzung, Selbstverwirklichung –, sondern sogar den Boden der Pyramide: Essen, ein Dach überm Kopf, seelische Sicherheit. Heute umgibt Laura sich mit einigen wenigen engen Freunden und Freundinnen – und mit ihrem Hund, den sie mit 19 aus dem Tierheim geholt hat. »Der ist

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meine Familie, so blöd das klingt.« Wegen ihrer schwierigen Eltern falle es ihr bis heute schwer, anderen zu vertrauen. »Aber es wird«, erzählt sie. »Ich hab’ mir auch einen Therapeuten gesucht, weil ich nicht so werden will wie meine Eltern.« Laura sagt, sie würde den Kontakt zu den beiden nur dann wieder aufnehmen, wenn beide selbst eine Therapie machen, an sich arbeiten würden. Weil sie das für sehr unwahrscheinlich hält, geht sie davon aus, dass sich die Beziehung nicht mehr verbessern, der Kontakt nicht wieder einstellen wird. Womöglich, sagt Laura, wird sie irgendwann auf der Beerdigung von einem von beiden stehen und sich fragen, ob sie nun trauern müsse.

Kuckuckskind Seit Tobias weiß, dass sein vermeintlicher Vater nicht sein Erzeuger ist, fühlt er sich ihm gegenüber nicht mehr ganz so fremd. Als Tobias ein Schulkind war, brachte ihn sein Vater einmal vor einer Konzertreise des Knabenchors zum Bus nach Polen. Ein anderer Junge war in den Stimmbruch gekommen, und der elfjährige Tobias, der spontan einspringen musste, war aufgeregt, auch etwas verängstigt und wäre gern vom Vater in den Arm genommen worden. Der aber sagte bloß so etwas wie »auf Wiedersehen mein Sohn« – und schüttelte dem Jungen zum Abschied die Hand. »Das war ein Schlüsselerlebnis«, weiß Tobias, ein Musiker Mitte dreißig, heute. Eines, das deutlich mache, dass sein Vater einfach keine Gefühle zeigen könne, ei-

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nen emotionalen Panzer trage. Er wurde 1945 geboren, neun Jahre vor Tobias’ Mutter. »Da war die Vaterrolle noch recht knöchern; früher hatten wohl viele solche Väter«, vermutet Tobias. Er selbst hat es sich immer anders gewünscht, näher, liebevoller. Oft hat er sich in langen Tagträumen vorgestellt, wie sein Vater auf dem Sterbebett quasi mit dem letzten Atemzug erkennt, was er versäumt hat und ihm sagt, dass er ihn liebt. »Natürlich fände ich es immer noch schön, wenn er das mal formulieren könnte«, sagt Tobias. »Aber die Inbrunst, mit der ich diese Hoffnungen hatte, besteht inzwischen nicht mehr.« Das liegt daran, dass Tobias seit gut zwei Jahren weiß, dass der Mann, nach dessen Zuneigung er sich immer so gesehnt hat, gar nicht sein richtiger Vater ist. Seine Mutter hatte vor 34 Jahren eine Affäre mit einem Kollegen, von dem sie schwanger wurde. Ihrem Ehemann, mit dem sie seit zwölf Jahren versucht hatte, ein Kind zu bekommen, beichtete sie den Seitensprung und bot ihm an, einen Vaterschaftstest zu machen. Der lehnte ab, es sei bestimmt ihr gemeinsames Kind, und die beiden sprachen nicht wieder darüber. Tobias ist also kein klassisches Kuckuckskind, bei dem der Vater von der Mutter getäuscht wird. Aber es gibt auch keinen treffenderen Begriff, um die Beziehung zu beschreiben, in der Tobias zu seiner Mutter und seinen beiden Vätern steht. Kuckuckskind hin oder her: Die Geschichte von Tobias ist die einer doppelten Entfremdung. Dem Vater gegenüber hat er sich schon immer fremd gefühlt. Und als Dreißigjähriger von der Lebenslüge seiner Mutter zu erfahren, hat ihn auch von ihr entfremdet. Sie ist aber zugleich auch die Geschichte von mehreren Annä-

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herungen. Vor allem der an seinen biologischen Vater, aber auch der an seine Halbbrüder und deren Mutter. Und ein bisschen auch an den sozialen Vater, dem er mit weniger Erwartungen begegnet, seit er weiß, dass es sich bei ihm nicht um seinen Erzeuger handelt. Aber der Reihe nach. Vor etwa zwölf Jahren begann Tobias eine Therapie, weil ihn Selbstzweifel plagten, er sich ständig mit anderen verglich statt einfach sein »Ding zu machen«. Der Therapeut fragte ihn nach frühkindlichen Traumata, und Tobias erkundigte sich bei seiner Mutter. Die erzählte, er sei als Kleinkind mal schlimm gestürzt. Und sie wisse nicht, ob vielleicht mal was mit der Nanny vorgefallen sei, als sie nicht da war. Ganz zum Schluss, als sei es eigentlich nebensächlich, sagte sie noch: Außerdem habe es, während sie schwanger war, mal Zweifel bezüglich der Vaterschaft gegeben. Aber sie und ihr Mann seien sich dann doch sicher gewesen, dass nur er der Vater sein könne. So ging es los. Die Mutter klang so überzeugt, dass ­Tobias sich nach diesem Telefonat keine großen Gedanken machte. Aber seither tröstete er sich immer mal wieder mit der Vorstellung, dass der Mann, mit dem er so große Pro­ bleme hatte, ja vielleicht gar nicht sein Vater sei. Vor etwa fünf Jahren begann seine Freundin, ihm ins Gewissen zu reden: Das könne doch nicht ewig so weitergehen, er brauche doch mal Klarheit in der Beziehung zu seinem Vater. Also machte Tobias Ende 2017 zusammen mit dem Kollegen der Mutter, mit dem sie über die Jahre in losem Kontakt geblieben war, den Test. Das Ergebnis: Zu 99,9 Prozent handelt es sich bei ihm um Tobias’ Erzeuger. »Für mich war das eine gute Nachricht, weil ich mich von dem ungeliebten Vater lossagen konnte und es eine Erklärung dafür gab,

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dass ich mich ihm gegenüber so fremd gefühlt hab’«, erinnert sich Tobias. Seine Mutter hingegen sei zusammengebrochen. »Sie kam damit gar nicht klar, obwohl sie davor so getan hat, als wäre das alles ganz easy, als hätte es mehr mit mir als mit ihr zu tun. Sie hatte dann ein Burn-out, war in der Klinik, hat drei, vier Monate gebraucht, um das zu verarbeiten.« Tobias sieht es so, dass die Mutter damit in dieser Geschichte eine Opferrolle eingenommen habe. »Obwohl sie eigentlich – in Anführungszeichen – die Täterin ist.« Tobias ist deshalb enttäuscht von seiner Mutter. Er sagt, er sehe sie nun mit ganz anderen Augen als früher, könne kaum noch unbeschwert mit ihr zusammen sein, nachdem er sie – bis auf die Jahre der Pubertät – eigentlich immer »uneingeschränkt toll« fand. Sie habe lange darauf bestanden, die Möglichkeit eines anderen Vaters so vollkommen verdrängt zu haben, dass sie ihrem Sohn tatsächlich nichts zu beichten hatte. Das mangelnde Schuldbewusstsein hat die Beziehung zwischen den beiden nachhaltig beschädigt. Erst vor kurzem, sagt Tobias, habe sich seine Enttäuschung in Wut gewandelt, und er habe seiner Mutter endlich mal konkrete Vorwürfe gemacht, ihr gesagt, dass er es nicht akzeptieren könne, wenn sie so tue, als könne sie nichts für diese Lebenslüge. »Inzwischen sagt sie, dass es ihr leidtut«, berichtet Tobias. Aber auf ihn wirkt es eher wie ein Lippenbekenntnis als wie eine echte Empfindung. »Sie muss nicht zu Kreuze kriechen, aber ich hatte mir mehr erhofft.« Die beiden haben immer noch weniger Kontakt als früher, und Tobias freut sich nicht sonderlich auf ihren nächsten Besuch. Tobias nimmt seit einigen Jahren an den Treffen einer Selbsthilfegruppe für Kuckuckskinder teil.

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­Coronabedingt hat sich die Gruppe länger nur im Netz getroffen; einmal konnte ich dabei sein. Tobias – ­Locken und runde Brillengläser  – kam etwas zu spät zum Zoom-Meeting. Er war an diesem Tag der einzige Mann in der Runde. Alle von ihnen haben das Gefühl, dass ihre Eltern nur an sich denken. »Und wir Kinder immer vergessen werden.« Und bei allen hat das Verhältnis zur Mutter unter der Enthüllung gelitten. An seinem Fall sei hingegen untypisch, dass sein biologischer Vater daran interessiert ist, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Sowohl zu ihm als auch zu seinen beiden Halbbrüdern hat Tobias inzwischen regelmäßig Kontakt, was ihn sehr freut. Selbst die Frau seines biologischen Vaters, die ihm zu Beginn als Symbol der Untreue ihres Mannes eher skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, habe sich ihm nun angenähert, erzählt er der Runde. Dabei habe Tobias’ Sohn geholfen – das einzige Enkelkind in der Familie. Befreit vom Ballast der Vater-Sohn-Beziehung hat Tobias versucht, die Beziehung zu seinem sozialen Vater noch einmal ganz neu zu gestalten. Womöglich, mutmaßte Tobias eine Zeit lang, hatte sein Vater immer geahnt, dass er nicht Tobias’ Erzeuger war und sich deshalb so distanziert verhalten. »Dadurch, dass er nicht mehr mein Vater war, war das, was er für mich getan hat, mehr wert, und das, was mir fehlte, wog weniger schwer«, erklärt Tobias. »Das hat meinen Groll reduziert und Verständnis für ihn erzeugt, fast Mitleid.« Eigentlich gute Voraussetzungen für einen Neustart. Er schickte seinem sozialen Vater einen langen und sehr persönlichen Brief, in dem er auch die Episode damals am Busbahnhof schilderte. »Ich habe geschrieben, dass ich seine Zuneigung nie gespürt habe.«

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Doch der Vater konnte nicht über seinen Schatten springen. Auf den emotionalen Brief seines Sohns antwortete er bloß mit einer Mail. Tobias’ Vorwürfe hätten ihn verwundert, stand darin, und dass darüber noch mal persönlich zu sprechen sei – was dann nicht besonders ergiebig war. Generell aber ändere sich durch die Enthüllung nichts für ihn, und er wünsche sich, dass zwischen den beiden alles so bleibe, wie es ist. »Das konnte ich bejahen«, sagt Tobias ironisch, »denn das bisschen Beziehung schaffe ich locker.« Weil Tobias mit seinem sozialen Vater über solche Dinge nicht reden kann, hat er mit seiner Mutter über die Hypothese gesprochen, dass ihr Mann gespürt habe, nicht Tobias’ Vater zu sein. Die Mutter erzählt, er habe das ihr gegenüber abgestritten, Tobias immer als seinen Sohn betrachtet. Tobias kann sich das durchaus vorstellen. Zwar ist er deutlich größer als sein Vater, aber beide haben volles, dunkles Haar. Inzwischen geht er davon aus, dass sein sozialer Vater auch zu einem biologischen Kind keine liebevollere Bindung hätte aufbauen können. Dass er einfach so ist: emotional unterkühlt, auf seine Arbeit als Professor und seine vielen Leistungen und Verpflichtungen fokussiert. Wenn Tobias zuhause anruft und sein Vater rangeht, sprechen die beiden oft kurz, bevor er ihn an die Mutter weitergibt. »Da sage ich dann manchmal: Schau mal, jetzt fängst du schon wieder an, vom deutsch-­ japanischen Freundschaftsverein zu erzählen. Ich würde lieber etwas von dir erfahren. Und dass du fragst, wie es dem Baby geht«, schildert Tobias den Ton in diesen Telefonaten. »Dann hat er das ein paarmal pflichtbewusst gemacht, und dann hörte das auch wieder auf.« Mittlerweile werfe er das seinem Vater aber nicht mehr

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vor. »Ich bin ihm gegenüber milde geworden, fast mitleidig, habe nicht mehr so diese Erwartungen.« Für Tobias ist das eine gute Entwicklung. »Meine Bilanz insgesamt ist sehr positiv«, sagt er über die Zeit seit dem Vaterschaftstest. »Ich hab’ plötzlich zwei Brüder, gestern hab’ ich erst den einen besucht. Ich erkenne mich in denen wieder, die signalisieren mir, dass ich dazugehöre, das ist phänomenal«, erzählt er. Vor allem aber sei er glücklich mit seiner Freundin und seinem knapp einjährigen Sohn und will sich mehr auf seine eigene Familie konzentrieren, sein eigenes Leben führen. »Es ist schön, wenn man ein gutes Verhältnis hat zu den Eltern«, sagt Tobias, »aber ich glaube, es ist nicht maßgeblich für ein glückliches Leben.« Und glücklich ist Tobias. Er hat jetzt zwei Familien, und in beiden habe jedes Mitglied seine Berechtigung. Auch sein schwieriger sozialer Vater und die Ehefrau seines biologischen Vaters. »Und auch das Verhältnis zu meiner Mutter wird sich sicherlich noch mal verbessern«, glaubt Tobias. Als er mir ein paar Monate später noch mal schreibt, ist das schon in gewisser Weise der Fall. Er habe inzwischen verstanden, dass es ihr wirklich leidtue und sie wisse, wie viel sie kaputt gemacht habe. Seine Mutter, schreibt Tobias, sei immer »die Beste« gewesen, habe immer überall auftauchen dürfen, ohne, dass ihm das unangenehm gewesen wäre. Seit er von ihrer Lebenslüge weiß, fallen ihm auf einmal all die Marotten negativ auf, die ihn früher nie gestört haben. Womöglich, schreibt Tobias, habe er auch erst durch diese Krise die normale Distanz zu ihr aufgebaut, die andere sonst zwischen 14 und 21 zu ihrer Mutter entwickeln und die in seinem Alter schon längst wieder eine neue gemeinsame Ebene gefunden haben. Die müsse er mit

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seiner Mutter nun erst noch finden. Die Mail klingt versöhnlich und optimistisch, was die Mutter betrifft. Von seinem leiblichen Vater hingegen ist Tobias etwas enttäuscht und der Kontakt zu seinen Brüdern ist deutlich zurückgegangen. Beendet ist das Thema für Tobias also noch lange nicht. Zum Abschied von der Zoom-Runde sagte er, das sei ja alles nie abgeschlossen und es lohne sich immer, eine weitere Facette des Themas zu betrachten oder einen neuen Gedanken zu formulieren. Beim nächsten Mal, schlug er vor, könne man vielleicht das Thema Scham vertiefen. Denn die liege ja der Heimlichtuerei und damit den familiären Zerrüttungen zugrunde.

Was sagen Fachleute zu zu Scheidungs-, Stiefund Kuckuckskindern? Sabine Walper weiß, warum sich Kuckuckskinder oft von der Mutter entfremden und Matthias Franz, wie schädlich eine Trennung der Eltern für Kinder sein kann. Jede einzelne Person, mit der ich für dieses Buch gesprochen habe, war mir sympathisch. Was mir an Felix und Tobias besonders gefallen hat: Sie gehören zu einer Generation von Männern, die es nicht uncool finden, Verletzlichkeit zu zeigen, über ihre Gefühle zu sprechen, Schwächen einzugestehen. Beide können den Wunsch nach einer herzlicheren, intimeren Beziehung zum Vater offen formulieren. Beide haben Therapieerfahrung und können vermutlich auch deshalb freimütig und analytisch über ihr Seelenleben sprechen. Tobias wird mit seinem Sohn sicher die innige Beziehung haben,

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die er mit seinem Vater nie hatte. Und wenn Felix mal Kinder hat, gilt das für ihn auch. Er ist außerdem auf eine lockere, selbstverständliche Art und Weise politisch korrekt und inklusiv, nutzt Formulierungen wie »wenn man eine Freundin hat – oder einen Freund«, was mir angenehm aufgefallen ist und gut ins Bild dieser Offenheit und Verletzlichkeit passt. Beide haben Väter, die ihren Rollen nicht wirklich gerecht werden konnten. Felix’ Vater verhielt sich immer eher wie ein Kumpel, lud an den wenigen Wochenenden, die er mit seinen Kindern hatte, noch kinderlose Freunde ein. Als Felix mir erzählte, dass er mit zwei Kindern einen Kuchen mit Eierlikör-Topping backte, musste ich fast lachen, so absurd und symptomatisch erschien mir das. Während diese Unreife wohl ein persönlicher Charakterzug von Felix’ Vater ist, erscheinen mir andere Züge typisch für einen Scheidungsvater, der kein kon­stantes Interesse an seinem Kind zeigt, ihm keine beständige Beziehung anbietet. Hier scheint die Entfremdung vom Vater schon mit der Trennung der Eltern angelegt. Tobias’ Vater hingegen ist weit davon entfernt, ein kumpelhaftes Verhältnis zu seinem Sohn zu haben. Mit seiner förmlichen, altmodischen Art hält er den Sohn auf Abstand. Eine herzliche Vater-Sohn-Beziehung hatten die beiden nie. Tobias’ Eltern sind bis heute zusammen. Er selbst aber ist sozusagen aus einer temporären Trennung der Eltern entstanden, einem Seitensprung, weshalb ich auch seine Geschichte in dieses Kapitel aufgenommen habe. Während die beiden zu ihren Müttern eine gute beziehungsweise sehr gute Beziehung haben, fühlt sich Laura von beiden Eltern und den Stiefeltern entfrem-

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det – eine sehr belastende Familiensituation. Diese Belastung merkt man Laura an. Das erste Telefonat mit ihr hat mich etwas überfordert, weil sie teils so geredet hat, als müsste ich das, was sie mir erzählt, schon wissen. Womöglich wollte sie aber auch einfach schnell viel loswerden. Während sich bei Felix und Tobias ein paar Wochen nach unserem ersten Gespräch jeweils ein wenig verändert hatte – bei Tobias im Verhältnis zur Mutter, bei ­Felix im Verhältnis zum Vater –, bleibt Lauras ­Geschichte durch den Kontaktabbruch seit Jahren unverändert. Während Felix und Tobias mal unnachgiebiger und mal liebevoller auf ihre Eltern schauen, ist die Distanzierung bei Laura konstant. Sie ist von all meinen ­Gesprächspartnern vermutlich diejenige Person, die am stärksten von ihrer Familie entfremdet ist. Liegt das womöglich an der Stiefkind-Konstellation? Darauf deutet die eingangs erwähnte Studie der Soziologen Becker und Hank hin, die zeigte, dass besonders Familien von Entfremdung betroffen sind, in denen nach einer elterlichen Trennung ein Stiefelternteil hinzugekommen ist. Dass es viele Fälle von Entfremdung nach Trennung der Eltern gibt, legen auch die verfügbaren Zahlen nahe: Mehr als jede dritte Ehe wird geschieden und in jeder zweiten davon gibt es Kinder. Allerdings kommt inzwischen jedes dritte Kind bei nichtverheirateten Eltern auf die Welt, und diese Trennungen werden von der amtlichen Statistik nicht erfasst. Das gilt auch für Stief- und »Fortsetzungsfamilien«. Vor ein paar Jahren schätzte das Bundesfamilienministerium den Anteil von Stieffamilien auf sieben bis 13 Prozent aller Haushalte, in denen Kinder unter 18 Jahren leben.

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Seltener sind Kuckuckskinder: Nur rund jedes hundertste Kind wird nicht vom eigentlichen Partner der Mutter gezeugt. Wobei – was heißt nur? Jede Schule besuchen demnach ein halbes Dutzend Kuckucks­ kinder. Natürlich ist das nur eine Schätzung – Grundlage sind Erhebungen zum Beispiel der Universität Löwen in Belgien, bei denen DNA-Proben mit historischen Stammbäumen abgeglichen wurden – um es genau zu wissen, müsste man ja bei jedem Neugeborenen einen Vaterschaftstest machen. Wenn Felix sagt, er wisse, dass die meisten Kinder nach der Trennung der Eltern bei der Mutter bleiben, so hat er Recht. Auch heute noch ist das so. Von den Alleinerziehenden in Deutschland waren 2017 laut ­Mikrozensus 88 Prozent Mütter und nur zwölf Prozent Väter. Weil Beziehungen immer gleichberechtigter sind, das traditionelle Ernährermodell zurückgeht und die Erziehung immer mehr das Kind und seine Bedürf­ nisse in den Mittelpunkt stellt, hatten Fachleute erwartet, dass der Anteil alleinerziehender Väter zunehmen würde. Tatsächlich ist er aber im Lauf der Jahrzehnte erstaunlich stabil geblieben. Sabine Walper, Pädagogik-Professorin und Direk­ torin des Deutschen Jugendinstituts in München, weiß, dass sich trotzdem einiges getan hat. Geteiltes Sorgerecht sei heute der Normalfall, Väter blieben eher »im Boot«. Sie sagt aber auch: »Im Durchschnitt ist die Beziehung zum getrennt lebenden Vater weniger eng als die zur Mutter oder zum Vater in nicht getrennten Familien.« Das habe manchmal emotionale Gründe, weil Kinder sich nach der Trennung der Eltern aufseiten der Mutter positionierten. Manchmal auch ganz praktische: Eine gute Vater-Kind-Beziehung sei auf ein

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Mindestmaß an Kontakten angewiesen. In Fällen, in denen wie bei Felix ein Elternteil nach der Trennung in eine andere Stadt ziehe, sei das schwierig. Vor allem, wenn die Eltern sich wie bei Laura sehr schlecht verstünden, erschwere das eine gute Beziehung zwischen Vater und Kind. Oft sei dann aber auch die Beziehung zur Mutter überschattet. Neben räumlicher Nähe, haben Untersuchungen gezeigt, führt zum Beispiel auch ein höheres Alter des Kindes bei der Trennung der Eltern zu mehr Kontakt zwischen Vater und Kind. Bessere Chancen für eine gute Vater-Kind-Beziehung bestehen auch dort, wo Eltern entschlossen sind, gemeinsam fürs Kind da zu sein – selbst dann, wenn das zu Konflikten zwischen ihnen führt. Eine neue Partnerschaft des Vaters erhöht interessanterweise die Gefahr eines kompletten ­Kontaktabbruchs, hat aber keinen Einfluss auf die Kontakthäufigkeit – so lange dieser eben nicht abgebrochen wird. Dass Felix und Laura die Trennung der Eltern heute noch beschäftigt, ist keine Ausnahme: Nur etwa jedes fünfte Paar schafft es, sich im Guten zu trennen und weiter wertschätzend miteinander umzugehen. Und je mehr und je heftiger sich die Eltern streiten, umso schlechter geht es den Kindern. Sie nehmen aber nicht nur unmittelbar Schaden. Studien haben gezeigt: Auch als Jugendliche hatten sie noch häufiger psychische Beeinträchtigungen als Gleichaltrige aus intakten Familien. Matthias Franz, Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum der Universität Düsseldorf und Psychoanalytiker, erklärt das so: Kleinkinder seien in gewisser Weise »größenwahnsinnig – und phantasieren sich als den all-

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mächtigen Mittelpunkt der Welt«. Sie glaubten etwa, sie müssten sich etwas nur stark genug wünschen, damit es in Erfüllung gehe. Trennten sich die Eltern unter heftigem Streit, fühlten sie sich deshalb verantwortlich und das bereite ihnen Ängste und Schuldgefühle. Dabei stellten unbewältigte Schuldgefühle einerseits den Ausgangspunkt für depressive Entwicklungen und ­Problemverhalten dar, andererseits ermöglichten sie dem Kind sich einzubilden, die Situation unter Kon­ trolle zu haben, was zur Rollenumkehr oder Parentifizierung führe. Diese für die Kinder sehr belastende und auf die Dauer überfordernde »pseudoautonome Notreifung« diene der Abwehr von kindlichen Trennungsängsten und Gefühlen völliger Hilflosigkeit. Kinder versuchten früh – schon bei sich anbahnenden Konflikten – die Eltern zu unterstützen. »Diese kindlichen Manöver werden von den ja häufig selbst bedürftigen Eltern oft nicht wahrgenommen. Aber sie können zu einer Beschädigung des kindlichen Selbstwertgefühls und zu einer Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung führen.« Denn eine hochkonflikthafte Trennung vermittele Kindern, dass den Eltern die eigenen Streitereien wichtiger seien als sie und ihre emotionalen Bedürfnisse. Franz war selbst schon vor etwa dreißig Jahren an einer Studie beteiligt, die zeigte, dass Kriegskinder, die in den ersten sechs Lebensjahren ohne Vater aufgewachsen waren, noch sechzig Jahre später ein höheres Risiko für Depressionen und andere psychische Beeinträchtigungen hatten. »Heute wissen wir, dass Väter entscheidende Beiträge zur Entwicklung ihrer Kinder leisten – wenn sie da sind und um ihre Wichtigkeit wissen«, sagt er. Franz arbeitet auch als Arzt und Therapeut und erlebt, wie es Menschen geht, die auf den Vater

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verzichten mussten. »Ich erlebe die kindliche Trauer fünfzigjähriger Männer auf der Couch, die zum ersten Mal bitterlich weinen, weil ihnen der Vater gefehlt hat.« Und wie ergeht es Trennungskindern, die in einer Patchworkfamilie mit einem neuen sozialen Elternteil leben und dessen biologische Eltern sich weiterhin heftig streiten? Deren Risiko, bis zum mittleren Lebensalter an einer Depression zu erkranken, liege bei fast sechzig Prozent – vierzig Prozentpunkte höher als bei Kindern aus intakten Familien, berichtet Franz. Patchworkfamilien bezeichnet er als »extrem ambitioniertes Projekt«. Kinder in Stief- oder Patchwork­ familien hätten bereits eine Bindung zu einem anderen Elternteil und seien diesem Elternteil, der »richtigen« Mutter oder dem »richtigen« Vater, treu. »Das kann zu erheblichen Spannungen innerhalb der neuen Familie führen.« Zum Fall von Laura sagt er: »Das ist genau so, wie es nicht sein sollte: Das Kind wird als Munition verwendet. Eltern blockieren wechselseitig Entwicklungswünsche des Kindes aus ihren Verletzungen heraus – anstatt sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen.« Aus seiner Arbeit weiß Franz, dass professionelle Hilfe wie das von ihm konzipierte Bindungstraining wir2 einen großen Unterschied machen kann. In den Sitzungen wird etwa die Eltern-Kind-Bindung gestärkt und versucht, den Konflikt zwischen dem früheren Paar von seiner gemeinsamen Verantwortung als Eltern zu trennen. Nach einem halben Jahr wöchentlicher Sitzungen litten die Eltern seltener an Ängsten und depressiven Verstimmungen, die Kinder zeigten weniger Verhaltensauffälligkeiten. Und wie steht es um Kuckuckskinder? Studien zu Kindern, die erst als Erwachsene erfuhren, dass sie

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­adoptiert wurden oder aus einer Samenspende hervorgingen, zeigen, wie sehr die Betroffenen darunter leiden. Sie fühlen sich betrogen, jeglicher Sicherheit beraubt, in einer falschen Identität gefangen. Auch Kuckucks­ kinder kennen diese Gefühle. Sabine Walper sagt, dass sie in Befragungen oft von einem Gefühl der Fremdheit berichteten, noch bevor die Familiensituation aufgedeckt wird. »Vermutlich spielen genetische Faktoren schon auch eine Rolle. Zwischen Eltern und Kindern gibt es ja in Kleinigkeiten oft große Übereinstimmungen: wie man lacht, sich bewegt«, sagt sie. Wer da keinerlei Ähnlichkeiten zum Vater erkenne, fühle sich ihm gegenüber mitunter fremd. Erfahre ein Kuckuckskind den Grund dieses Fremdheitsgefühls, müsse sich die Entfremdung nicht unbedingt verschärfen. »Oft empfinden Kuckucks­kinder dann auch Solidarität und Dankbarkeit gegenüber dem sozialen Vater, der sie angenommen hat, für sie gesorgt hat und der ja auch betrogen worden ist.« Es komme dann wie bei Tobias oft eher zur Entfremdung von der Mutter, weil das Vertrauensverhältnis zu ihr nach Jahren der Unwahrheit einen Bruch erleide. Das gelte umso mehr, je später das Kind die Wahrheit erfahre. Auch, weil dann zum Zeitpunkt der Offen­barung schon über Jahre ein Geheimnis über der ­Familie schwebte. Hier, aber auch bei Trennungskindern und allen anderen Familienkonflikten gilt offenbar: Was nicht angesprochen und versöhnt wird, rumort immer weiter.

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VII AUSBLICK

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Was bleibt? Zwei Wochen vor dem Abgabetermin für dieses Buch war ich auf einem Familientreffen, das mein Vater organisiert hatte. Seine unmittelbare Familie ist klein – neben meiner Mutter, meiner Schwester und mir hat er nur einen Bruder, der eine Frau, ein Kind und ein Enkelkind hat. Seine Eltern und deren Geschwister sind verstorben. Es leben allerdings in Deutschland und der Welt verstreut mehr als ein Dutzend Cousins und Cousinen meines Vaters, die wiederum Kinder und Enkel­kinder haben. Mit diesem mir bisher völlig unbekannten Teil der Familie, zu dem auch mein Vater kaum Kontakt hat, fand ich mich nun ein Wochenende lang in einem Veranstaltungshotel im Rheingau wieder. Draußen war es kalt, in dem Besprechungsraum, in dem wir zusammensaßen, gemütlich warm. Wir bestellten Pizza beim Italiener gegenüber und tranken dazu Wein aus der Region. Bald waren die Wangen meiner Verwandten von Wein und Wärme gerötet. Sie begannen zu singen und Reden zu den großen Themen zu schwingen: Familie, Zugehörigkeit, Gott. Zur Familie meiner Mutter gehören Juristen, Verleger und Ökonominnen, allesamt gebürtige Schwaben. Familientreffen sind da immer eine geordnete und durchorganisierte Sache. Die Feuerbachs, das wurde mir schnell klar, sind ganz anders. Eine anfängliche Vorstellungsrunde kam nicht weiter als bis zum Dritten in der Reihe – schon begannen meine Verwandten, wild durcheinander Anekdoten zu erzählen. Ihre Namen fand ich trotzdem irgendwann heraus, ihre Berufe nur teilweise – ein Taxifahrer, eine Feinkosthändlerin und ein Landwirt waren dabei. Es dauerte nicht lan-

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ge, bis die ersten von ihren Erinnerungen zu Tränen gerührt waren – in der Familie meiner Mutter unvorstellbar. Für mich war es spannend und berührend zu sehen, was diesen Teil meiner Verwandtschaft ausmacht und woher meine Schwester und ich unsere emotionale Seite haben. Mein Blick auf dieses Treffen war aber nicht nur persönlich, sondern irgendwie auch professionell, war ich doch in den vorangegangenen Monaten quasi eine Fachfrau für Familiendynamiken geworden. Die Vorfahren meines Großvaters waren Anfang des 19. Jahrhunderts nach Ungarn ausgewandert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie von dort vertrieben. Meine Verwandten erzählten, wie sehr mein Großvater immer an seiner Heimat hing. Sie erzählten, dass er und seine Geschwister auf den Familienfesten immer Ungarisch miteinander sprachen, obwohl ihre Kinder kein Wort verstanden. Die Kinder erbten diese innere Zerrissenheit ein Stück weit – mein Vater etwa war Zeit seines Lebens auf der Suche nach seinen Wurzeln, reiste oft nach Ungarn, versuchte, die Muttersprache seines Vaters zu lernen. Da musste ich an Abeba, Baran und Aynur denken. Die Cousins und Cousinen meines Vaters sprachen darüber, dass mein Opa die Kunstschule besucht und immer viel gemalt hat, seinen Lebensunterhalt aber als hart schuftender Bäcker verdiente und die Trauer darüber und über den Verlust der Heimat in zu viel Alkohol ertränkte. Manchmal verschwand er tagelang und bei seiner Rückkehr beschimpfte ihn meine Oma, zog ihm einmal gar eine Flasche über den Kopf. Mein Vater konnte das schon früh nicht mehr ertragen und zog bereits mit 15 Jahren aus.

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Da musste ich an Barans Vater denken, den Inge­ nieur, der sein Geld als Taxifahrer verdient und an ­Debora, die unter den heftigen Streitereien der Eltern und der Aggressivität der Mutter litt. Eine Cousine meines Vaters erinnerte sich bei dem Treffen daran, dass das Wohnzimmer meiner Groß­eltern damals nur durch eine Schwingtür vom Gastraum des Cafés getrennt war und manchmal, wenn die Familie zu Abend aß, ein Gast mit einer Flasche Bier im Wohnzimmer stand und am Gespräch teilnahm. Da musste ich an Ferdinand denken und an die fehlende Privatheit im Pfarrhaus. Trotz seiner schwierigen Kindheit verspürt mein Vater bis heute eine tiefe Liebe zu seinen Eltern. Ich bin mit Porträts der beiden groß geworden, die mein Opa gezeichnet hatte und die mein Vater über seinem Ehebett aufhängte. Dieser innere Widerspruch klang nach den vielen Gesprächen ganz anders in mir nach, als das ein Jahr zuvor der Fall gewesen wäre. Das war eine schöne Erfahrung. Gleichzeitig war ich irritiert von der starken Religiosität einer Cousine meines Vaters und der heftigen Kritik an der deutschen Corona-Politik durch einen Cousin von ihm, der in Schweden lebt – und musste natürlich an Julia, Timur und Maren denken. Meine Gesprächspartner der vergangenen Monate waren plötzlich emotional auf einem Familienfest im Rheingau präsent – eine besondere Erfahrung. Was hat das zu bedeuten? Sicherlich, dass die Geschichten, die ich in diesem Buch versammelt habe, ganz und gar nicht exotisch sind, sondern sich in vielen Familien so ähnlich wiederfinden – auch in meiner eigenen. Natürlich sind diese Geschichten spannend,

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berührend, teils auch heftig. Sie sind aber auch in gewisser Weise alltäglich: die Eltern, die AfD wählen, der von der Mutter getrennte Vater, der es nicht schafft, den Kontakt zu seinen Kindern zu halten, die Bildungsaufsteigerin, die sich von der Lebenswelt der Eltern, ihren Essensvorlieben und Gesprächsthemen entfernt. Es ging mir darum, solche »normalen« Fälle von Entfremdung nachzuvollziehen, bei denen ein einigermaßen rationaler Grund für den Bruch in der Familie vorliegt – unterschiedliche Werte etwa. Und zu sehen, wie die Betroffenen damit umgehen. Denn bei all diesen Themen ist eine Verständigung zumindest denkbar. Und es sind Fälle, in denen sich sicherlich viele Leserinnen und Leser wiederfinden können, die sie dazu anregen, die eigene Familiengeschichte mit dem Gelesenen abzugleichen, sich selbst und die eigenen Erfahrungen und Enttäuschungen mit den Eltern noch einmal zu beleuchten. Dass auch ich selbst ganz am Ende meiner Recherche so viele Anknüpfungspunkte in meiner Familie finden konnte, war eine besondere persönliche Wendung, die ich so gar nicht erwartet hatte. Bei denjenigen Menschen, bei denen ich mich nach einem ersten Gespräch dagegen entschied, ihre Geschichte aufzuschreiben, sah ich hingegen keinerlei Überschneidungen. Sie haben oft Traumata aus ihrer Kindheit davongetragen, Missbrauch, Vernachlässigung und emotionale Manipulation durch ihre Eltern erfahren. Bei ihnen war klar, dass Kontaktabbruch die einzige Lösung ist. Das Gleiche gilt für Kinder von Eltern, die sich völlig im Glauben an Verschwörungs­ theorien verloren haben: Auch hier ist keine Verständigung mehr möglich, weil kein geteiltes Weltbild, keine gemeinsame Sprache mehr besteht. Über diese Men-

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schen zu schreiben, wäre womöglich auch spannend gewesen, sicherlich aber emotional fordernder. Ich hätte mich immer wieder gefragt, ob ich ihnen mit journalistischer Neugier gerecht werden kann oder es nicht eher eine psychotherapeutische Ausbildung bräuchte, um sie zu verstehen. Vor allem aber denke ich, dass diese Schicksale mit dem Begriff der Entfremdung nur unzureichend beschrieben sind. Das heißt nicht, dass nicht auch die Eltern der Menschen, die in diesem Buch vorkommen, ungelöste Konflikte haben, teils auch psychologischer Art. Die Mütter von Can und Julia haben wohl Depressionen, Lauras Eltern scheinen narzisstisch veranlagt, Deboras Schilderungen des Verhaltens ihrer Mutter klingen so, als litte sie an Borderline – einer Persönlichkeitsstörung, die sich in Impulsivität, instabilen Beziehungen und gestörter Selbstwahrnehmung ausdrückt. Und auch der ewig junggebliebene Vater von Felix, der seine Familie und damit auch viel Verantwortung zurückließ, als ­Felix erst zweieinhalb war, scheint mir Probleme zu haben. Das Gleiche gilt für die Mutter von Tobias, die dachte, die Frage, wer der Vater ihres Sohnes ist, über Jahrzehnte einfach ausblenden zu können. Und das Verhalten von Marens Vater, der in einer Kleinstadt ohne Ausländer das Tor im Gartenzaun abschließt, um sich vor »den Fremden« zu schützen und aus demselben Grund einen Waffenschein macht, wirkt paranoid. Selbst bei den Eltern von Ferdinand scheint mir nicht alles im Reinen zu sein: Andere behandeln sie mit christlicher Nächstenliebe und geben ihren Problemen viel Raum, die eigenen Kinder aber kommen zu kurz. All diese Eltern haben also Themen, die sie für sich selbst nicht gelöst haben, was die Beziehung zu den

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Kindern belastet. Es handelt sich aber – mit Ausnahme vielleicht von Debora und Laura – nicht um schwer traumatisierende Eltern-Kind-Beziehungen.  Traumata werden oft zwischen den Generationen weitergegeben. Bei den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, besteht hingegen Hoffnung, dass sie mit ihren Kindern – sofern sie welche wollen – nicht in dieselben Dynamiken geraten werden. Denn viele von ihnen haben die Probleme der Eltern und die Schäden, die sie dadurch davongetragen haben, erkannt und machen eine Therapie: Peter, Debora, Can, Julia, Laura, Felix und Tobias haben Therapieerfahrung. Sie sind dabei, die Bürden zu überwinden, die ihre Eltern ihnen auferlegt haben. Laura formulierte das mir gegenüber auch genauso: Sie mache eine Therapie, um nicht so zu werden wie ihre Eltern. Andere, wie Aynur und Baran, denken über eine Therapie nach. Schaden würde das sicherlich nicht. Wer weiß, ob Barans Prokrastinieren nicht ein unbewusster Widerstand gegen den Druck vom Vater ist? Und ob Aynur die Enttäuschung, die sie empfindet, mit professioneller Hilfe überwinden könnte? Eine Freundin sagte mir mal, nur halb im Scherz, sie sei für eine verpflichtende Therapie für alle Menschen, die Kinder bekommen wollen. Damit jeder und jede erst mal die eigenen Probleme löst, bevor sie auf die nächste Generation übertragen werden. Sonst kann es zu ungewollten Wiederholungen kommen. Jemand wie Felix würde ohne Therapie womöglich daran scheitern, ein fürsorglicher, verlässlicher Vater zu sein, weil er es nie anders gelernt hat und in bekannte Muster verfallen würde. Was bleibt außerdem nach all diesen Gesprächen, all diesen Geschichten entfremdeter Kinder? Was habe

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ich von meinen Gesprächspartnern gelernt? Definitiv so viel: Die Beziehung zu den eigenen Eltern ist ein emotionales Thema, das sich ständig weiterentwickelt. Oft beurteilten meine Gesprächspartner die Beziehung zu den Eltern im Abstand von einigen Wochen noch einmal ganz anders. Dieser subjektive Eindruck lässt sich auch mit Zahlen belegen: Die in der Einleitung zitierte Studie mit 10.000 Erwachsenen zwischen 18 und 45 Jahren hat gezeigt, dass sich im Zehnjahreszeitraum der Erhebung in 62 Prozent der Fälle die Kinder ihrer Mutter wieder annäherten und in 44 Prozent der Fälle ihrem Vater. Die Beziehung zu den eigenen Eltern ist immer im Fluss. Sie wird mit dem Auszug aus dem Elternhaus nicht statisch. Offene Fragen gären auch danach weiter und kommen oft dann noch mal besonders hoch, wenn es an die eigene Familienplanung geht. Lisa war schwanger, als wir zum ersten Mal telefoniert haben, und hatte bei unserem Treffen ihr Neugeborenes dabei. Tobias war wenige Monate vor unserem ersten Gespräch Vater geworden, und Debora erzählte mir gegen Ende meiner Recherche, dass sie schwanger sei. Bei David hat seine Vaterschaft den Konflikt zum Vater verschärft, Maren hält den Kontakt zu ihren Eltern auch für ihre Kinder aufrecht. Wer selbst eine Familie gründet, denkt offenbar noch einmal intensiver über die Beziehung zu den eigenen Eltern nach. Lange galt die Jugend als das Alter, in dem Kinder sich gegenüber ihren Eltern positionieren, abgrenzen und eine eigene Identität entwickeln. Das scheint mir heute so nicht mehr zu stimmen. Diesen Eindruck bestätigte auch die Pädagogik-Professorin Sabine Walper. »Das Thema ›Wer bin ich‹ und ›Wo stehe ich‹ ist im Jugendalter auf jeden Fall wichtig, aber um eine emotio-

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nale Ablösung von den Eltern geht es dabei in der Regel nicht«, sagte sie mir im Gespräch. »Vielleicht war das zu Zeiten autoritärer Erziehung anders, aber vielleicht unterschätzen wir auch die Verbundenheit der Generationen – und überschätzen den Fokus Jugendlicher auf ihre Eltern.« Natürlich gebe es Autonomiekämpfe in der Jugend, um Fragen wie: Wie lange darf ich weggehen, was darf ich anziehen? »Aber die wirkliche Auseinandersetzung damit, wie die eigene Kindheit war, was man mitgenommen hat an Beziehungen und Erfahrungen, das wird tatsächlich oft erst im frühen Erwachsenenalter klar, wenn man auszieht, mehr Distanz da ist.« Dann werde häufig noch mal die Beziehung zur Herkunftsfamilie sortiert. Was bleibt noch? Natürlich habe ich am Ende dieses Projekts noch einmal über all die Geschichten und Schicksale nachgedacht. Und mich gefragt, ob man die verschiedenen Entfremdungsgründe – Politik, Migrationserfahrung, Trennung der Eltern – irgendwie hierarchisieren kann. Sind politische Meinungsverschiedenheiten vielleicht nicht so schlimm, solange alle Beteiligten ein faktenbasiertes Weltbild haben? Geht Religion irgendwie tiefer als Politik? Diese Überlegungen haben mich nicht wirklich weitergeführt. Letztlich hat jedes dieser Themen seine ganz eigene Schwere. Und oft sind sie bloß Vehikel für eine ohnehin schlechte Beziehung. Auch wenn die Namen der Kapitel in diesem Buch den Anschein erwecken, gibt es sicherlich nie den einen Grund der Entfremdung. Und eine starke Beziehung kann viel mehr Differenzen aushalten, als eine ohnehin schwache oder problembehaftete. Darauf kommt es vermutlich sowieso an: wie gut die Beziehung war, bevor es zur Entfremdung kam. War

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sie in der Kindheit wirklich gut, wie bei Maren, dann besteht wohl Hoffnung auf eine Wiederannäherung. War sie schon in der Kindheit instabil, teils sogar traumatisierend, wie bei Laura und Debora, eher nicht. Bei den beiden ist die Beziehung zu den Eltern auch deshalb so schlecht, weil sie sich nicht auf sie verlassen können und konnten. Selbst Abeba, die nicht einmal dieselbe Sprache spricht wie ihre Mutter, in einer völlig anderen Welt lebt, sagt, im Zweifelsfall könne sie auf die Mutter zählen. Das gibt ihr ein Gefühl von Halt und Stabilität im Leben, das Laura und Debora fehlt – und das beide hoffentlich in anderen Beziehungen finden. Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, stellen ihre Eltern und deren Verhalten – mit guten Gründen – infrage. Daraus entstehen Spannungen. Wie gehen die Eltern mit dieser Kritik um? Tobias’ Mutter und Davids Vater zum Beispiel ziemlich gut: Sie hat sich aufrichtig bei ihm für ihr Verhalten entschuldigt, er stellt sich den Vorwürfen des Sohns, versucht sie nachzuvollziehen. Darin, dass sie die Kritik annehmen und reflektieren können, liegt schon ein Lösungsansatz. Auch andere Eltern kommen ihren Kindern entgegen. Die von Julia gehen an Weihnachten nicht in die Kirche, um Zeit mit ihr und ihren Brüdern zu verbringen. Cans Mutter kommt ihm zumindest ein wenig entgegen, wenn sie fragt »Was habt ihr am Wochenende gemacht?« und damit seinen Lebenspartner einschließt. Lauras Vater hingegen fing an sie zu beschimpfen, als sie ihn einmal für sein selbstbezogenes Verhalten kritisierte. Bei meinen Gesprächspartnern mit Migrations­ hintergrund, vor allem bei Amila, Abeba und Baran, aber auch bei Aynur, Can und Timur, stellt sich die Lage noch einmal etwas anders dar. Hier fordern die Kinder

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die Eltern oft allein durch ihre Lebensgestaltung he­ raus, und die müssen schauen, inwieweit sie mitziehen können, etwa dabei, einen deutschen Partner, eine wilde Ehe, Atheismus oder Kinderlosigkeit zu akzeptieren. Die Konflikte scheinen mir hier aber weniger lautstark ausgefochten zu werden, was in den Herkunftskulturen dieser Familien begründet liegen könnte. Durch die Migration der Eltern haben die Kinder Möglichkeiten, die dann zu Konflikten führen. Hier liegt eine große individuelle und gesellschaftliche Aufgabe: Die zweite und dritte Generation der Einwanderer will sich in die Aufnahmegesellschaft integrieren, ohne sich von der Kultur der Eltern ganz zu entfremden. Und nicht nur im Falle der eingewanderten Familien bilden sich gesellschaftliche Umbrüche im Konflikt zwischen den Generationen ab. Ist es nicht auch eine gesellschaftliche Aufgabe, den Klimawandel anzuerkennen und zu bekämpfen? Sich von der buchstabengetreuen Auslegung von Religion zu befreien, bis zu einer gewissen Grenze Toleranz für politisch Andersdenkende zu entwickeln? Auch das ist etwas, was am Ende meiner Recherche und dieses Buchs bleibt: All diese Entfremdungsgründe sind in gewisser Weise ein Spiegel der Stellen, an denen es in der Gesellschaft gerade knirscht. Denn diese Themen sind aufgetaucht, als ich in sozialen Netzwerken und über Mailverteiler ganz allgemein formuliert nach Menschen gesucht habe, die sich von ihren Eltern entfremdet haben. Erst nach dem ersten Dutzend Zuschriften habe ich angefangen, nach wiederkehrenden Motiven wie Politik, Bildung oder Migration zu suchen. Offenbar sind es diese Themen, die in der Gesellschaft virulent sind und bei denen sich gerade Um-

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brüche vollziehen. Aus diesen Umbrüchen folgen teils angespannte Familienverhältnisse. Man kann es aber auch anders betrachten: Im positiven Sinne bilden die erwachsenen Kinder, mit denen ich gesprochen habe, eine gesellschaftliche Avantgarde, die bei diesen Umbruchthemen die eigenen Eltern herausfordert und voranbringt – und damit letztlich zu gesellschaftlichem Wandel beiträgt. Und auch das ist positiv: Je besser die Beziehungen innerhalb der Familien, umso höher erscheint die Chance, dass dieser Wandel gelingt. Zuvor hatte ich mich gefragt, ob mir wohl Menschen aus Ostdeutschland schreiben würden, die in den Westen gezogen sind oder umgekehrt. Dass ich keine Zuschrift dieser Art bekommen habe, kann natürlich nicht als Beweis dafür gelten, dass die »Wende« mitsamt ihren Brüchen und Verletzungen, ihren Gewinnern und Verlierern, kein Thema mehr ist in Deutschland. Aber offenbar gibt es viel mehr Menschen mit Eltern aus dem Ausland, die sich von einem solchen Aufruf angesprochen fühlen und die ein Bedürfnis empfinden, ihre Geschichte zu erzählen und öffentlich zu machen, als mit Menschen aus der früheren DDR. Gerade sie waren es, die mir sagten, wie gut sie es fänden, dass es ein Buch gebe, das solche Geschichten versammelt. Auch andere Themen, die etwa in den sozialen Medien sehr präsent sind, begegneten mir nicht. Wenn Eltern den Kindern Globuli geben, wird das offenbar erst zum Problem, wenn andere Dinge dazu kommen: ein Glauben nicht nur an Alternativmedizin, sondern auch an Verschwörungserzählungen etwa. Auch die heftigen Debatten zwischen alten und neuen Feministinnen begegneten mir nicht – etwa um die Frage, ob echter Feminismus Transfrauen ohne Wenn und Aber einschließen

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muss oder ob eine Feministin befürchten darf, dass der Abschied vom biologischen Geschlecht in letzter Konsequenz den Abschied von Quoten und Schutzräumen für Frauen bedeutet. Stattdessen kontaktierten mich Menschen, die sich über die Religion von ihren Eltern entfremdet haben – ein Thema, das mir im Gegensatz zu heftigen Vorwürfen der neuen gegenüber den alten Feministinnen im Alltag kaum begegnet. Mir hat das mal wieder gezeigt, dass ich als in Berlin aufgewachsene Tochter einer nicht religiösen Mutter und eines Vaters, der jung aus der katholischen Kirche austrat und sich dem Buddhismus zuwandte, nicht zu schnell von mir auf andere schließen sollte. Religion ist noch ein Thema – auch, aber nicht nur in migrantischen Familien. Zwischen jungen Erwachsenen und ihren Eltern knallt es heute also bei ähnlichen Themen wie vor fünfzig Jahren: Politik, Bildung, Religion. Und bei neuen Themen: Vor fünfzig Jahren hatten die sogenannten Gastarbeiter noch keine im Aufnahmeland geborenen Kinder, mit denen es zu Debatten um die Herkunfts­ kultur kommen konnte. Und auch, dass Töchter und vor allem auch Söhne eine engere, emotionalere Beziehung zum Vater einfordern, selbst wenn der nicht mehr mit der Mutter zusammen ist, war vor fünfzig Jahren sicherlich noch kein weit verbreitetes Phänomen. Aber es ist eines, das mir Hoffnung macht. Weil es zeigt, dass Familien enger zusammenrücken, eine Trennung der Eltern keinen abwesenden Vater mehr bedeuten muss, dass starre Geschlechterrollen sich auflösen und Männer viel selbstverständlicher als früher über Gefühle sprechen. Und zwar nicht nur die aus bestimmten Milieus wie dem der Studenten­bewegung,

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sondern auch solche, die Musiker sind oder Berater beim Arbeitsamt. Das kann eigentlich nur Gutes bedeuten für die Eltern-Kind-Beziehungen künftiger Generationen. Während ich diese Zeilen schreibe, schwirrt mir ein wenig der Kopf. Womöglich liegt das daran, dass ich gerade ziemlich erkältet bin. Oder aber es kommt von so viel allgemeiner Gesellschafts­analyse. Das wäre kein Wunder, bin ich doch nun, ganz am Ende dieses Buchs, wieder da angekommen, wo meine Überlegungen begonnen hatten: beim großen Ganzen.

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Dank Ich danke meinen Eltern Johannes Feuerbach und Corinna Cramer-Feuerbach und meiner Schwester Nele Feuerbach, die mir mit ihrem psychologischen Sachverstand weitergeholfen haben. Vor allem möchte ich mich bei meiner Mutter bedanken, die mich in langen Telefonaten und persönlichen Gesprächen bei meinen Berlin-Besuchen dabei unterstützt hat, die Dynamiken zwischen meinen Gesprächspartnerinnen und ihren Eltern zu verstehen. Meiner Schulfreundin Juliane Hamacher und ihrem Mann Stephan danke ich für den juristischen Rat. Ich danke meinem früheren Ressortleiter Alfons Kaiser, der das ganze Buch Korrektur gelesen und (hoffentlich) jeden noch so winzigen Fehler entdeckt hat. Auch meinen Kolleginnen und Freundinnen Aylin Güler, Anna-Lena Ripperger und Elena Witzeck möchte ich danken; Aylin dafür, dass sie mir Gesprächspartner vermittelt hat, Lena für ihre Anmerkungen und Elena für die gemeinsame inspirierte und inspirierende Schreibwoche am Bodensee. Selbstverständlich gilt mein Dank all den Menschen, die im Zuge meiner Recherche mit mir gesprochen haben. Ganz besonders möchte ich mich bei meinem Freund Georg Wendt bedanken. Er hat mich nicht nur mit Ideen, Kontakten, dem Austausch über einzelne Kapitel und das gesamte Buch unterstützt, sondern ist vor allem meinen Selbstzweifeln mit der richtigen Mischung aus Ironie, Geduld und lieben Worten begegnet.

Dank

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