Sehen und Handeln [Illustrated] 305005090X, 9783050050904

Sehen wird traditionell als passiver Prozess aufgefasst, der im Gehirn innere Bil-der entstehen lässt, welche die Wirkli

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German Pages 255 [256] Year 2011

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Sehen und Handeln [Illustrated]
 305005090X, 9783050050904

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Vo r w o r t

Im November 2009 stellte sich die Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung mit dem Symposium „Sehen und Handeln“ erstmals öffentlich vor. Dieses von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragene Unternehmen ist gemeinsam von John Michael Krois und dem Unterzeichner in der Überzeugung konzipiert worden, dass Körper und Bild nicht als Zulieferer und Ausdrucksträger des Denkens erachtet werden dürfen, sondern vielmehr als dessen Organe. Nach der Dominanz der Rezeptionstheorie und des Konstruktivismus schien es notwendig, aus historischer sowie systematischer Perspektive Kräfte zu bestimmen, die mehr sind als nur die Erfüllung von bewussten oder unbewussten Projektionen. Die aktive Qualität bildlicher Artefakte wurde im kunsthistorischen Begriff des Bildakts gefasst,1 während die körperliche Be dingung des Denkens und Handelns im philosophischen Begriff der Verkörperung eine Entsprechung gefunden hat.2 Beide stehen als Rahmen und Vektor des Denkens in einem unauflösbaren Bedingungs- und Austauschverhältnis, und darin widersprechen sie allen Vorstellungen, die das Denken als ein körperabstinentes, neoplatonisches Gehirntheater begreifen. Die kunsthistorischen Forschungskomplexe der Kolleg-Forschergruppe gelten der Aktivität des Bildes, des haptischen Sehens, der ethischen Bildinversion und dem „Bildwollen“. Sie sind mit den philosophischen Fragen nach den verschiedenen Varianten der Verkörperung verwoben. Insbesondere geht es um das visuelle Denken von Charles Sanders Peirce, die Symbolphilosophie Ernst Cassirers, die Verkörperungstheorie Edgar Winds sowie die ge-

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Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010. John Michael Krois, Bildkörper und Körperschema. Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen (Actus et Imago, Bd. II), Berlin 2011.

VIII

VORWORT

genwärtig mit Verve sich entfaltenden Theorien des Extended Mind sowie des Enaktivismus. Ein Symbol dieses Zusammenspiels von Kunstgeschichte und Philosophie ist Edgar Wind, insofern er Kunsthistoriker und Philosoph zugleich war. Schon als Forscher, der als Erster die visuelle Philosophie von Peirce im deutschen Sprachraum bekannt gemacht hat, ist Wind eine der Gallionsfiguren der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung. Er entstammt jenem Mit- und Ineinander von Kunstgeschichte, Kulturwissenschaft, Religionswissenschaft und Philosophie, das im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Hamburger Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg eine unnachahmliche Stringenz erhielt.3 Mit dieser Institution kann nicht konkurriert werden, aber als Anspruch ist sie ein Vorbild, und es war kein Zufall, dass der Nukleus dessen, was später die Kolleg-Forschergruppe werden sollte, bereits während des von John M. Krois und dem Unterzeichner im Jahr 1996 im Einstein-Forum organisierten Edgar Wind-Symposiums erörtert wurde.4 Das Symposium „Sehen und Handeln” war die Frucht der Einsichten, vor allem aber der Fragen, die sich seither entwickelt haben. Sie kreisen um zwei Problemfelder, welche die höchste Anstrengung der Phänomenerfassung und der Begriffsbildung verdienen: die Frage nach der Metaphysik der Artefakte und der körperlichen und ambientalen Definition des Denkens. In drei Sektionen, dem Enaktivismus, der Dynamik des Blickens und der Sicht auf die Dinge wurden diese Fragen gebündelt. In der Sektion zum Enaktivismus entwickelt John Michael Krois die Idee, dass sich in Bildern eine Körperlichkeit eingeschrieben hat, die über alle Perzeptionen erhaben ist; sie bewahren diese Qualität, selbst wenn sie, wie die Plakette der Voyager-Rakete, nie mehr auf ein menschliches Auge treffen werden. Die hier wirksame Kritik am Repräsentationsbegriff wird von Daniel D. Hutto bekräftigt und mit der radikal enaktivistischen These verbunden, dass Bedeutung allein aus der Interaktion mit der Umgebung realisiert werden könne. Alex Arteaga stellt sich dem Paradox, dass Bilder aus toter Materie bestehen und damit für sich bleiben, im Wechselspiel mit dem Betrachter aber mehr zeigen, als dieser zu projizieren vermag. Er entwickelt ein Modell der enaktivistischen Emergenz, das die Opposition von Realismus und Konstruktivismus zu überwinden sucht. Bettina Gockel fragt im Gegenzug nach dem körperlichen Sehen, das durch erduldete Blindheit oder erzwungene Dunkelheit

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Vgl. John Michael Krois, Einleitung, in: Edgar Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, hg. v. John Michael Krois/ Roberto Ohrt, Hamburg 2009, S. 9–40. Edgar Wind: Kunsthistoriker und Philosoph, hg. v. Horst Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John Michael Krois, Berlin 1998.



 

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XII

VORWORT

searcher who first made Peirce’s visual philosophy known in the Germanspeaking world, Wind is a figurehead of the Picture Act and Embodiment Collegium. He is rooted in that collaboration and intertwining among art history, cultural studies, religious studies, and philosophy that gained inimitable stringency in the Warburg Library for Cultural Studies in Hamburg in the first third of the 20th century.3 It is impossible to compete with this institution, but as a standard it remains a model, and it was no coincidence that the nucleus of what would later become the Collegium for the Advanced Study of Picture Act and Embodiment was already discussed during the Edgar Wind Symposium organized by the Einstein Forum in 1996.4 The symposium “Seeing and Acting” was the fruit of the insights, but above all of the questions that have since developed. They revolve around two fields of problems that deserve the greatest efforts to note phenomena and form concepts: the question of the metaphysics of the artifacts and the bodily and that of ambiental definition of thinking. These questions were grouped in three sections: Enactivism, The Dynamic of the Gaze, and The View of the Things. In the section on enactivism, John Michael Krois is developing the idea that pictures are inscribed with a corporeality that rises above all perception; they retain this quality even if, like the plaque carried by the Voyager rocket, they will never again encounter a human eye. The critique of the concept of representation effective here is reinforced by Daniel D. Hutto and tied to the radically enactivist thesis that meaning can only be realized in the context of interaction with the environment. Alex Arteaga confronts the paradox that pictures consist of inanimate matter and therefore remain within themselves, but in interplay with the viewer show more than the latter can project. He develops a model of enactivist emergence that seeks to overcome the opposition between realism and constructivism. In a counter move, Bettina Gockel asks about the corporeal seeing that, through endured blindness or forced darkness, allows exclusive access to the picture. Here, too, the question of the pictorial foundation of enactivism is central. Shaum Gallagher, in turn, develops from research on mirror neurons and visual empathizing the same phenomenon of bodily investment in pictorial experience. He calls for sharply distinguishing the latter from the perception of real bodies and situa-

3 4

John Michael Krois: Einleitung, in: Edgar Wind: Heilige Furcht und andere Schriften zum Verhältnis von Kunst und Philosophie, ed. by John Michael Krois/Roberto Ohrt, Hamburg 2009, p. 9–40. Edgar Wind. Kunsthistoriker und Philosoph, ed. by Horst Bredekamp/Bernhard Buschendorf/Freia Hartung/John Michael Krois, Berlin 1998.



 

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1. E N A K T I V I S M U S

E N AC T I V I S M A N D E M B O D I M E N T I N P I C T U R E AC T S The Chirality of Images

“If the right one don‘t get you, the left one will” M. Travis

1. The earliest philosophical theories of depiction were based on the concept of mimesis, the imitation of nature or of the ideal. Such imitation could only be imperfect, since copies could never attain the richness of nature or the perfection of the ideal. Most modern philosophical theories of depiction have taken a different approach, emphasizing what Ernst Gombrich called the “beholder’s share”.1 The stress was shifted from the objects depicted to human activities: “seeing-in” (R. Wollheim), “experiencing resemblance” (C. Peacocke), “symbolic interpretation” (N. Goodman), or the perceptual capacity to “recognize” (F. Schier, D. Lopes, J. Kulvicki, or L. Wiesing).2 The following concentrates on a third perspective, focusing on the pictures themselves. For example, Gottfried Boehm points out that the phenomenon of deixis, the fact that pictures 1 2

“[…] the contribution we make to any representation from the stock of images stored in our mind”. (Ernst H. Gombrich: The Image and the Eye. Further Studies in the Psychology of Pictorial Representation, London 1982, p. 145). Cf. Richard Wollheim: Art and Its Objects. An Introduction to Aesthetics, New York 1968; Christopher Peacocke: Depiction, in: The Philosophical Review 96 (1987), pp. 383–410; Nelson Goodman: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols, London 1969; Flint Schier: Deeper Into Pictures. An Essay on Pictorial Representation, Cambridge 1986; Dominic Lopes: Understanding Pictures, Oxford 1996; John Kulvicki: Image Structure, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 61 (2003), pp. 323–340; Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005. This led some to offset this overemphasis on the subject by recalling the importance of optics and the realistic dimension of depiction as representation; see John Hyman: The Objective Eye. Colour, Form and Reality in the Theory of Art, Chicago 2006.

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show something, is logically primary and necessary in order for them to be able to represent, or to show something to someone that might otherwise not be visible at all.3 Regarded in this way, pictures are active and able to lead to a variety of effects – cognitive, practical, or affective. In this perspective pictures as objects engender what Horst Bredekamp calls “picture acts”, which are a matter of what pictures do, not just what people do with pictures.4 Such picture-centered conceptions differ from the tendency among semioticians to compare pictures with conventional signs such as language that depend upon the knowledge of cultural codes.5 Of course, picture-oriented and subject-oriented conceptions are not necessarily at odds with one another.6 The philosopher Dominic Lopes claims that “pictures embody information enabling viewers to recognize their contents and their subjects. The recognition skills we bring to pictures depend on and extend the dynamic recognition skills exercised in ordinary perception”.7 The subject’s ability to recognize what is depicted is said to depend upon the fact that pictures “embody information”.8 But what is this “embodying” that pictures do? Lopes does not say. “Embodiment” is a key topic in contemporary cognitive science, referring to the fact that (natural or artificial) intelligence depends upon interaction with the environment. According to the theory of embodied cognition, computation alone is insufficient for intelligence; sensorimotor interaction with the world is necessary. This conception is termed “enactive” because it depends upon the ability to actively gain access to the world via skilled actions 3 4 5

6 7 8

Gottfried Boehm: Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: idem (Ed.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, p. 39. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010. Other theories comparable with the notions of deixis and Bildakt can be found, e.g., in Hans Belting: Körperbegriff und Kunstwerk im Wandel zur Abstraktion, in: idem (Ed.): Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998, pp. 22–36; Georges Didi-Huberman: Devant l’image. Question posée aux fins d’une histoire de l’art, Paris 1990; James Elkins: On Pictures and Words that Fail Them, Cambridge 1998. These have mainly come from art historians (J. Elkins, H. Belting, etc.). Lopes: Understanding Pictures (as fn. 2), p. 149. Lopes uses the term often without ever explicating it (ibid. “embodies” 9x: pp. 151, 152, 203, 224, 225; “re-embodies” p. 203; “embodying” 9x: pp. 125, 136, 159, 160, 165, 167, 168, 186, 201). The conception of “information” has two sides: the technical, engineering sense of Claude Shannon, which considers the signals in a channel without regard to semantic meaning, and the everyday notion of information as semantic content. Max Black once criticized the notion that pictures “embody information” because it mixes these two senses. Max Black: How Do Pictures Represent?, in: Art, Perception and Reality, ed. by Ernst H. Gombrich/Julian Hochberg/ Max Black, Baltimore, MD 1973, pp. 95–130.

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involving sensing and motor activity. The term “enactivism” was introduced into cognitive science in 1991 by Varela, Thompson and Rosch in their book The Embodied Mind in order to emphasize that “cognition is not the representation of a pregiven world by a pregiven mind”, but rather emerges from a history of actions that an organism in the world performs.9 On this conception, intelligent activity need not be conscious, and it isn’t, for example, in robotics, a field that has been revolutionized since the 1980s, when sensorimotor approaches were adopted as the basis of artificial intelligence.10 In this conception, roboticists do not create intelligence by programming it, but prepare its emergence by the way in which they combine sensor and motor systems physically as well as developing programs to network these systems.11 The fact that pictures “embody something” qualifies as an enactive process insofar as the picture itself is active.12 But this goes against common sense, which understands pictures to be products and not active. Yet this assumption overlooks facts. Much of the content in pictures arises without the deliberate intention of their makers.13 Here are four examples: First, at the purely physical level, all material objects are in constant molecular motion, and the materials used in a picture can possess unpredictable qualities that may emerge only over time as they age, changing a picture’s appearance.14 The expressive power of the motion picture DECASIA (USA 2002, Bill Morrison) depends upon the fact that it utilizes only footage from old films deteriorating from nitrate decay (figure 1). 9

10 11 12 13

14

Cf. Francisco J. Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch: The Embodied Mind. Cognitive Science and Human Experience, Cambridge, MA 1991, p. 9. This notion has a variety of precursors in the history of philosophy ranging from phenomenologists such as M. Merleau-Ponty to pragmatists such as J. Dewey. See Rodney Brooks: Cambrian Intelligence. The Early History of the New AI, Cambridge, MA et al. 1999. Planning for emergence is explained in Rolf Pfeifer/Josh Bongard: How the Body Shapes the Way We Think. A New View of Intelligence, Cambridge, MA 2007. See William J. T. Mitchell: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago 2005. Photography and to a greater degree imaging technology generate images by means of natural processes or artificial intelligence. Imaging dispenses even with light and optics. With the experimental turn in the philosophy of science a new conception of depiction has been adopted that emphasizes its independence from direct human intervention, although the instruments involved are the work of human agents. See Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines Konzepts, Frankfurt/M. 2009; Staffan Müller-Wille/ Hans-Jörg Rheinberger: Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt/M. 2009. James Elkins has pointed out a variety of these features, what he calls nonsemiotic elements in pictures. James Elkins: Marks, Traces, “Traits”, Contours, “Orli”, and “Splendores”. Nonsemiotic Elements in Pictures, in: Critical Inquiry 21 (1995), pp. 822–860.

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Figure 1 DECASIA. A SYMPHONY IN DECAY (USA 2002, Bill Morrison), still. Figure 2 BLOW UP (United Kingdom/Italy/USA 1966, Michelangelo Antonioni), still.

Second, in the case of photography and scientific images produced by instruments, information is naturally embodied without the results being predetermined by the one employing the camera or instrument. This fact provided the dramatic basis for Antonioni’s film BLOW UP (1966) when a photographer discovered that his picture captured the image of a body in a bush (figure 2). Third, the historical environment can enter into pictures without their makers’ being aware of it. Panofsky’s conception of “iconology” was premised upon the fact that pictures contain meanings that the artists were not

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conscious of, but which they betray to a viewer: the attitudes of a nation, a period, a social class, a religious or philosophical persuasion. Fourth, the gestalt form of pictures is structurally constituted so that their meaning as wholes is always more than that of the sum of their parts. As the philosopher Charles S. Peirce puts it: “[…] a great distinguishing property of the icon is that by the direct observation of it other truths concerning its object can be discovered than those which suffice to determine its [the icon’s] construction.”15 A picture can be manipulated and explored in order to learn more about what it shows than can be gathered from the study of any of its

Figure 3 Peter Paul Rubens: Seated Nude Youth, 1613, Black chalk, heightened with white chalk, on light gray paper, 50 × 29.9 cm, New York, Pierpont Morgan Library.

parts. This is what Frederik Stjernfelt has called the “diagrammatological” dimension of pictures.16 These examples do not suffice, however, to explain every enactive aspect of pictures. Perhaps the most remarkable feature of pictures is their expressive or affective character (figure 3): the fact that they seem to be animated and in

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Charles Sanders Peirce: That Categorical and Hypothetical Propositions Are One in Essence, With Some Connected Matters (c. 1895), in: idem: Collected Papers, ed. by Charles Hartshorne/Paul Weiss, vol. 2, Cambridge 1932, § 279. Frederik Stjernfelt: Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology, and Semiotics, Dordrecht 2007.

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Figure 4 Michelangelo Merisi da Caravaggio: The Incredulity of St Thomas, 1603, Oil on Canvas, 107 × 146 cm, Potsdam, Neues Palais.

some cases even have a visceral effect on the viewer.17 The expressive impact of pictures is fundamentally different from the fact that they can depict objects. Pictures do not so much represent emotions as elicit them in the body of the viewer. The most promising aspect of the attempt to create a neuroaesthetics18 has been its focus on the function of mirror neurons as a means to understand how pictures act to bring about feelings in the viewer.19 If there are neuron systems that initiate feelings of dynamic action in an organism 17

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The question of “How to Do Things with Pictures” leads to limitless considerations, but human purposes and institutions stand behind such actions as telling a joke with a cartoon, showing the way via a map, guiding assembly with a plan, keeping in memory by a keepsake, asserting authority by proxy, or revealing the unknown by microscope or telescope. “How to Do Things with Pictures” is the title of Chapter 9 in William J. T. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era, Cambridge, MA 1994, pp. 190–223. Vittorio Gallese/David Freedberg: Motion, Emotion and Empathy in Aesthetic Experience, in: Trends in Cognitive Science 11 (2007), pp. 197–203. A classic study of this is David Freedberg: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago et al. 1989. Quantitative evidence of the expressive power of pictures can be found in empirical studies of the relative effectiveness of verbal and pictorial warnings on cigarette packaging. Geoffrey T. Fong/ David Hammond/Sara C. Hitchman: The Impact of Pictures on the Effectiveness of Tobacco Warnings, in: Bulletin of the World Health Organisation 87 (2009), pp. 640–643.

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when exposed to them visually in others (figure 4), then this will be a major step towards understanding how this occurs in viewing pictures as well. But in order to understand how pictures are able to embody affective meaning, even neurology begins too high up. To understand how pictures are able to enactively produce their affective content it is necessary also to consider the pictures themselves and what distinguishes them from texts.

Figure 5 Chair, hands – examples for non-chiral and chiral objects.

The chief difference between texts and pictures is that the latter embodies meaning through chirality. In 1903 the British scientist Lord Kelvin introduced the term “chirality” as a designation for handedness, from the Greek “cheir” for “hand”. According to Kelvin something has chirality, “if its image in a plane mirror, ideally realized, cannot be brought to coincide with itself”.20 Chirality is not asymmetry.21 A right triangle can be asymmetrical and yet can be brought to coincide with itself in a mirror, as can a chair (figure 5). However, a helix or screw form cannot be, and so is chiral. There are right-handed and left-handed molecules, so-called “enantiomers”, but the most obvious examples of chirality are found in zoology, particularly the hand itself. It had always been assumed that natural laws were unaffected if a physical system were replaced by its mirror image. In 1956 this principle of parity was shown experimentally to not be preserved in physics. The discov-

20 21

Cf. Lord Kelvin William Thomson: Baltimore Lectures on Molecular Dynamics and the Wave Theory of Light, London 1904, p. 439. For an overview of chirality at all levels of natural processes see Georges Henry Wagnière: Chirality and the Universal Asymmetry, Zürich 2007.

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Figure 6 Spiral Galaxy NGC 1309, taken by the Hubble telescope. This pinwheel-shaped spiral galaxy was home to a supernova whose light reached Earth in 2002. Figure 7 Robert Smithson, Spiral Jetty, Great Salt Lake, Rozel Point, Utah, 1970.

ery that so-called “weak interactions” effect only particles with a left-handed spin meant that the results of an experiment would not be identical to the results of a mirror-image copy of the experimental apparatus. In 1957 the Nobel Prize in Physics was awarded for this discovery that chirality is real in particle physics,22 leading to the much quoted claim that the universe is chiral. 22

Professors Tsung Dao Lee and Chen Ning Yang received the Nobel Prize in Physics in 1957 for their theoretical work, published in: Question of Parity Conservation in Weak Interactions, in: Physical Review 104 (1956), pp. 254–258.

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Chiral forms can stand out in nature, as in the case of this spiral galaxy photographed with the Hubble space telescope (figure 6), and in man-made pictures, such as Robert Smithson’s “Spiral Jetty” (figure 7). But as a rule chirality goes unnoticed; faces are chiral, even if at first glance they might

Figure 8 Michelangelo Merisi da Caravaggio, Narcissus, about 1600, Oil on Canvas, 113 × 92 cm, Rome, Galleria Nazionale d´Arte Antica, Palazzo Barberini.

seem symmetrical. The face reflected in the water (figure 8) is different from the face others see. Human beings as a whole are chiral, the heart, for example, is on the left side. Neurologically considered, vision is chiral too: objects in the left visual field project to the right hemisphere of the brain, regardless of which eye is stimulated, and the reverse holds for objects in the right visual field. Experiments with pictures of faces have shown that definite aesthetic assessments accrue to particular right or left organizations. Two faces (figure 9),23 one smiling, one frowning, were split and united to create two 23

Chris McManus: Right Hand, Left Hand. The Origins of Asymmetry in Brains, Bodies, Atoms and Cultures, London 2002, p. 194.

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Figure 9 ‘Chimeric’ faces. Look directly at the nose of each face and say which individual looks happier.

mixed expressions, each half-smiling and half-frowning. Yet, one looks happier than the other for most people – if they are right-handed. The expression of the whole face derives primarily from the right half – which is seen on the left in our field of vision. This bias also applies to scenes, shapes, and other pictures.24 The chiral nature of pictures is best seen by comparing pictures with language. The difference comes to this: Language – by itself – cannot describe right and left, but pictures naturally possess the ability to exhibit chiral order. The proviso “by itself” is crucial, since written language makes use of pictorial means, so letters of the alphabet can be chiral, such as “E” in contrast to “I”, which is non-chiral.25 That language by itself cannot describe right and left became apparent in the 1960s when scientists began systematically searching for signs of extraterrestrial life by listening for radio signals from space.

2. This early research was called the “Ozma Project” by the project’s scientific director, Frank Drake, who took the name from a character in the children’s book “The Wizard of Oz”, who was able to hear far away sounds. The Ozma project led scientists to reflect on the nature of communication via radio sig24

25

See Jerre Levy: Cerebral Asymmetry and Aesthetic Experience, in: Beauty and the Brain. Biological Aspects of Aesthetics, ed. by Ingo Rentschler/Barbara Herzberger/ David Epstein, Basel 1988, pp. 219–242. Cf. Milton E. Brener: Faces. The Changing Look of Humankind, Lanham, MD 2000. Sybille Krämer: ‘Schriftbildlichkeit’ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift, in: Horst Bredekamp/Sybille Krämer (Ed.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003.

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nals. They were confronted by a philosophical-sounding question: What is possible to say in a radio message without assuming the same background knowledge for the sender and the receiver? This question led to the so-called Ozma problem, the problem of left and right, which is posed as follows:26 “Is there any way to communicate the meaning of ‘left’ by a language transmitted in the form of pulsating signals? By the terms of the problem we may say anything we please to our listeners, ask them to perform any experiment whatever, with one proviso: There is to be no asymmetric object or structure that we and they can observe in common.”27 Lacking such an object or structure in common that both can observe, a radio message could never make meaningful reference to left and right. The problem can be made clearer if we try to explain the meaning of the terms of the coordinates of situated embodiment: “up” and “down”, “front” and “back”, “in” and “out”, “left” and “right”. We can tell our listener to imagine a hole drilled into the centre of a sphere. An observer who emerged from this hole would have an up and down orientation: “up” being the direction away from the centre of the sphere, “down” the direction back into the hole. “Front” and “back” may be explained by reference to this observer, assuming that it is asymmetrical like a human being. But what about right and left? An observer on the surface of a perfectly spherical planet, even having named the direction of a turn as “left” and the other as “right”, finds no such direction on the sphere of the planet itself. Standing on a sphere we can rotate ourselves in a circle, always pointing in the direction we turn – say to the left – but we never come to the left on the surface of the sphere. The sphere is round and has no right or left direction. On earth, we make reference to landmarks or to the position of the sun, in order to obtain a perspective from which to distinguish right and left – and these objects are accessible to others as well. But when no such common outside reference point is provided – as can be the case of extraterrestrial communication – this is not possible. This would be the case for radio messages received at a distant planet without any common point of reference between sender and receiver. Language sent by pulsing radio signals cannot convey this information, but it can be done with pictures (figure 10). So when Frank Drake collaborated with Carl Sagan on the NASA Pioneer and Voyager projects, pictures and graphic means were chosen to com26 27

Gardner named it “The Ozma Problem” in: Martin Gardner: The Ambidextrous Universe. Mirror Asymmetry and Time-reversed Worlds, Harmondsworth 1991, p. 175. Martin Gardner: The Ozma Problem and the Fall of Parity, in: The Philosophy of Left and Right, ed. by James Van Cleve et al., Dordrecht et al. 1991 (The University of Western Ontario Series in Philosophy of Science 46), p. 77.

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Figure 10 The Pioneer plaque, designed by Carl Sagan and Frank Drake, artwork prepared by Linda Salzman Sagan, 1972. NASA image of Pioneer 10’s famed Pioneer plaque features a design engraved into a gold-anodized aluminum plate, 15,2 by 22,9 cm (6 by 9 inches), attached to the spacecraft’s antenna support struts to help shield it from erosion by interstellar dust.

municate with intelligent life on distant planets. There was no trouble communicating right and left in the images on the Pioneer Plaques, since they contain three dimensions accessible to both sender and receiver.28 But this trust in the ability of pictures to embody information has been called into question in a recent book on the philosophy of mind. Its author (Tim Crane) begins with comments about the Pioneer plaque, claiming that it would be impossible for this plaque’s finders to understand it at all. They would first have to understand that the markings on the plate were symbols – “that they 28

For brevity’s sake the later Voyager, with its similar “golden record” can be ignored. This included images that were meant to be displayed by means of an analogue player. After the initial image of a circle, to be used for calibration, (and also shown on the record itself) the first picture was meant to locate the earth’s location by means of an object – our galaxy’s nearest large neighbor: the andromeda galaxy – which Sagan said may be the only object that both we and the recipients could have seen firsthand. This image has the job, Sagan writes, of providing a check for the “handedness of all the pictures” (Carl Sagan/Frank D. Drake et al.: Murmurs of Earth. The Voyager Interstellar Record, New York 1978, p. 83). This photograph was aided by the inclusion of a graphic image that located our sun in relation to certain astronomical landmarks (pulsars), which was also displayed on the record’s back.

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Figure 11 Surface of Mars, Chryse Planitia, photographed by Viking 1. The computer edited picture appears on the display in the flight control center with the appendant metadata (Photo: Jet Propulsion Laboratory).

were intended to stand for things, and were not just random scratches on the plate, or mere decoration”.29 But the author rejects this possibility on the grounds that to depict means to represent one’s thoughts, and that the finders would not be in a position to know what was going on in the minds of those who made this plaque. This understanding of mind assumes that the pictorial object is not what counts, but mental activities and conventional symbolic codes. The attempt to communicate extra terrestrially by pictorial means, is therefore dismissed as “very humorous”. But leaving extraterrestrials out, the question is whether such an internalistic conception of mind is sufficient to explain depiction or if it does require an enactivistic, embodied approach. It would be impossible to avoid the Ozma problem by the use of pictures, if they were not capable on their own of producing awareness of left and right and its accompanying spatial orientations (front-back, in-out) in an observer. Having a picture in common would not help to make left and right apparent if understanding it depended upon knowing the thoughts of its makers and understanding the symbols they employed. Humans have and understand chiral organization. We have no trouble understanding a photograph from the surface of Mars (figure 11). Of course, it is displayed here to suit our 29

Tim Crane: The Mechanical Mind. A Philosophical Introduction to Minds, Machines, and Mental Representation, London 2003, p. 8.

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spatial orientation of up and down, which derives in part from gravitation, and which assists even young children in telling when a picture is upside down. But what about extraterrestrial receivers? The point is not the extent to which pictures need to be interpreted, but the extent to which they embody meanings in themselves. Do pictures themselves lead to certain effects – do they act to initiate any interpretation on their own? According to the theory of embodied cognition, what counts is the fact that the subjects who make these objects and those who view them are both embodied and situated, not what their inner thoughts are. More simply: pictorial meaning depends upon chirality.30 The images on board Pioneer 10 and 11 have a scale that is easily managed by humans, with the plates measuring 152 by 229 millimeters in size (6 by 9 inches).31 An interpreter would need to be able to have access to objects of such dimensions. The plates are tangible objects and need not be viewed as visual images, the images use raised lines that can be touched as well as seen. The NASA images were made on a human scale, but the Ozma Problem is not a matter of scale. It simply states that in order to be able to distinguish right and left, an object in common is needed to give the sender and receiver a spatial point of reference. Lacking this, it is not possible. This problem is avoided by depiction, because pictures possess spatial and chiral, not just sequential meaning. This spatial meaning can be perceived by any embodied intelligence. The interpreters’ own body schema, its bodily organization of space, with the orientations of front-back, in-out, up and down, provide a framework in which to differentiate right and left in the picture. Both the picture’s maker and its interpreter will have this embodied perspective, despite differences in scale. The chiral organization of the physical world is universal. The participation of pictures in this chiral organization makes extraterrestrial communication by pictures possible. For to understand an image requires perceptually

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Andy Clark: Being There, Cambridge, MA 1997. Cf. Chapter 1 on Uexküll. Cognitive scientists stress that every organism’s Umwelt varies with the features of its anatomical Bauplan and that because every species of organism has a specific sort of Bauplan, it also has a specific sort of Umwelt. On the images included with Voyager 1 and Voyager 2 see: http://voyager.jpl.nasa. gov/spacecraft/goldenrec.html (01. 11. 2010). “Each record is encased in a protective aluminum jacket, together with a cartridge and a needle. Instructions, in symbolic language, explain the origin of the spacecraft and indicate how the record is to be played. The 115 images are encoded in analog form.” It contained sounds, spoken greetings, music, and over a hundred photographs that can be displayed. Voyager’s golden record is 304 millimeters in diameter (12 inches).

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retracing and recognizing its form, and this is a kind of sensorimotor activity, not a purely mental process.

3. The graphics on the Pioneer plaque represent microscopic, macroscopic and intermediate spatial systems: the hydrogen atom at the upper left, the sun’s relationship to 14 known pulsars on the middle left and the intermediate range showing the humans. It assumes that an interpreter has access to the extremely small scale of a hydrogen atom, and that these pulsars will be accessible as objects via astronomical instruments from different locations in the universe. These assumptions are not concerned with thoughts, but with the accessibility of these very small and very large spatial objects. But finders inhabiting the spatial scale of the spacecraft would be more likely able to recognize what was on the same spatial scale as the object they discovered than what is so much larger or smaller. The pioneer plaques include depictions of the pioneer spacecraft itself. These provide a scale that shows the size of the humans depicted on it. If the finders can recognize the shape of the spacecraft in its depiction, (figure 12) then they will have a spatial referent for the forms of the human figures, even without having access to Sagan’s or Drake’s thoughts. It might be objected that this assumes extraterrestrial life forms will have “pictorial competence” like humans. But pictorial competence does not involve postulating the existence of an innate grammar, only that an intelligent organism has a body with motor- and sensory perception. The ability to

Figure 12 Pioneer spacecraft with mounted plaque.

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Figure 13 Line drawing of a person reclining made by a blind artist.

understand this plaque depends upon the interpreter having the physical means to obtain it as an object, and this entails having sensorimotor access to it. The plaque uses outline drawings, which are also tangible. Such tactile drawings are understandable even to the congenitally blind, who have been shown experimentally to be able to make such line drawings without instructions, given the proper utensils (figure 13). Even primates have proven in experiment to be able to recognize different persons or other primates in line drawings (figure 14). Still, a skeptic might object that aliens could have completely different systems of perception from us. But the point is not how they perceive, but that they perceive. Even terrestrial life forms possess senses that humans lack. Bats navigate the world by echo, as do blind fish in underground waters, and some animal species have wholly different senses, such as “electro perception” in Sharks, which permits them to sense even the minute electrical

Figure 14 Line drawings of people and primates recognized by primates (with kind permission of John M. Kennedy).

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current in the muscle contractions of distant animals swimming in the water. It would be anthropomorphic to assume that extraterrestrials must have senses like ours, but it would not be anthropomorphic to assume that they are embodied. They will therefore possess some sort of directionality: up and down, front and back, right and left. This organization is the stuff of depiction. Even abstract paintings such as Pollock’s drippings can be shown the “wrong way” on a slide projector.32 This is not an argument for the existence of extraterrestrials, but for the understandability of pictures, which derives from the fact that pictures embody meanings due to their own chiral form. Graphic forms such as inclusion, exclusion, opposition, and directionality and so on33 – sometimes referred to as “image-schemas” – are not just geometrical; they characterize the dynamic, situated organization of embodied, enactive intelligence. A picture can intrude upon intelligences in different ways precisely because it possesses such an organization. This makes pictures enactive, so that they are able to “embody information” even in an extraterrestrial setting. Pictures can divulge meanings as long as they survive, even if they possess more meanings than any interpreter will ever be able to determine. But this is true of terrestrial pictures as well.

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When a given picture is not chiral, such as a Monochrome painting, it none the less has an expressive quality, which also derives from embodiment, if not from chirality. “An image schema is a recurring, dynamic pattern of our perceptual interactions and motor programs that gives coherence and structure to our experience.” (Mark Johnson: The Body in the Mind, Chicago 1987, p. xiv).

Daniel D. Hutto

E N AC T I V I S M : W H Y B E R A D I C A L?

“Experience is intelligent or charged with meanings, a union of the precarious, novel, irregular with settled, assured and uniform – a union that also defines the artistic and the esthetic.” (John Dewey, Experience and Nature)

1. I nt ro duc t ion Art, at least great art, affects us deeply. It is cliché to observe that the best works of art challenge our standard expectations in surprising ways. Encounters with them educate our sensibilities through fresh encounters, again and again. Exploring and re-visiting their features and nuances is not a static process – not only are we shaped in the activity, even to engage in it requires the patient exercise of developed skills. In so engaging, our capacities for appreciation expand. This is precisely why works of art repay renewed attention. These brief and casual remarks are enough to remind us why it is hardly surprising that modern-day enactivism is an attractive option for thinking about the nature of artistic and aesthetic experience. A grounding assumption of all enactivist approaches is that experience is something active, dynamic and creative – something which goes beyond and cannot be understood reductively, in terms of merely passive responding to sensible qualities or sensory stimulations offered by objects, including those crafted by skilled hands. There are strong Deweyian overtones to contemporary enactivist accounts of the nature of experience. This suggests that there are interesting lines of research that might be pursued in examining whether the growing popularity of enactivist approaches ought to encourage a re-examination, if not revive the fortunes, of Dewey’s views on the nature of art.1 1

John Dewey: Experience and Nature, New York/Dover 1925; John Dewey: Art as Experience, London 1934.

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These introductory observations are offered solely as a gesture concerning the potential relevance of enactivist approaches for thinking about art experience. Hopefully they remind the reader of the rich heritage that this style of thinking about experience enjoys. I will not take this theme any further here. Rather my concern in this essay is to address some more fundamental questions about how best to understand the contemporary enactivist proposals about the nature of experience themselves. This work strikes me as a necessary prelude to any useful attempt to apply enactivist ideas in more specific domains, such as art experience. Ultimately, I propose that the most viable versions of enactivism require taking a radical, non-representationalist and non-cognitivist line. In what follows I demonstrate why this is so by, firstly, saying a word about the driving insights behind all enactivist approaches (section two); secondly, reviewing the particularities of Noë’s conservative version of enactivism about experience and identifying certain problems that attend it (section three); and, thirdly and finally, by showing why, if we are to adequately overcome those problems, we should adopt a more radical form of enactivism. Thankfully, I believe this is not only a possible, but a wholly compelling option (section four).

2. E nac t iv ism: t he d r iv i ng i nsig ht Enactivist approaches treat mentality as an emergent phenomenon that is constituted by, and thus to be understood in terms of, specifiable developing patterns of interaction between organisms (natural or artificial) and aspects of their environments. According to the original formulation, enactivism is committed to the idea that mentality is something that emerges from the autopoetic, self-organizing and self-creating activities of organisms. The activities in question are themselves thought of as essentially embedded and embodied interactions between organisms and their environments, interactions that occur and are themselves shaped in new ways over time.2

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Enactivism was originally conceived by Varela, Thompson and Rosch in their seminal book The Embodied Mind: Cognitive Science and Human Experience, Cambridge 1991. As Thompson describes it, the proposal was an attempt to connect a series of related ideas under one heading. Evan Thompson: Mind in Life: Biology, Phenomenology, and the Sciences of Mind, Cambridge 2007. These were: (1) that ‘autonomous agents actively generate and maintain themselves thereby enacting or bringing forth their own cognitive domains’; (2) that ‘the nervous system is an autonomous dynamic system … [it] does not process information in the computationalist sense but creates meaning’; (3) that ‘cognitive processes and structures emerge from recurrent sensorimotor patterns of perception and action’; (4) that ‘a cognitive being’s world is not a pre-specified, external realm represented inter-

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A major theme in all of the enactivist literature is that when it comes to understanding perceptual experience, focusing on sensory stimulation is not enough. Roberts captures this idea in a neat slogan: “Experiences are the outcome of more than a simple reception of sensory information.” 3 Accordingly, “To perceive is not merely to have sensory stimulation. It is to have sensory stimulation that one understands […]. Perceptual experience presents the world as being this way or that; to have experience, therefore, one must be able to appreciate how the experience presents things as being.”4 A range of considerations support this. Arguably, the phenomenology of experience involves grasping the perceptual presence of objects in the environment. But this cannot be accounted for solely in terms of raw stimulation and perturbation of sensory modalities. Thus, famously, the visual experience of a tomato before one as a three-dimensional object, taking up space voluminously, cannot be explained simply as what is, in old money, ‘given’ to the senses. For what is, strictly, encountered, in vision is only a partial, two-dimensional take of the tomato. Other, more strictly empirical findings also drive the same conclusion; the need to distinguish between sensing and experiencing. It has been shown that it is possible to be sensorially stimulated in normal ways, as post-operative cataract patients and those first learning to manipulate sensory substitution devices are, without being able to experience features or aspects of the surrounding environment in genuinely perceptual ways; i.e. in ways that allow for competent engagement with worldly offerings or that form the basis for genuinely perceptual reports. And there is neuroscientific evidence that points the same way too. McGann cites work by Freeman who recorded EEG patterns during rabbit olfaction, revealing that “the patterns of response of the bulb to a given stimulus have a lot more to do with the state of the bulb than they do with the actual sensory activity evoked by the stimulus […] [hence] activity on the sensory surfaces cannot strongly determine the activity of the bulb”.5 Essentially the same result was found for other sensory modalities – i.e. touch, audition and vision – in rabbits.6 From this it was conclu-

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nally in its brain’ and (5) that ‘experience is not an epiphenomenal side show’ (ibid., p. 15). Tom Roberts: Understanding ‘Sensorimotor’ Understanding, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 9 (2010), pp. 101–111, p. 102. Alva Noë: Action in Perception, Cambridge 2004, p. 180. Marek McGann: Perceptual Modalities: Modes of Presentation or Modes of Interaction?, in: Journal of Consciousness Studies 17 (2010), pp. 72–94, p. 78. Walter J. Freeman: The Physiology of Perception, in: Scientific American 264 (1991), pp. 78–85. See Walter J. Freeman/John M. Barrie: Chaotic Oscillations and the Genesis of Meaning in the Cerebral Cortex, in: Temporal Coding in the Brain, ed. by G. Buzsáki/R. Llinás/W. Singer/A. Berthoz/Y. Christen, Berlin 1994.

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ded that sensory information plays, at best an ‘attenuated’ role in what and how the perceptual cortex responds. This is consistent with a more general observation about the state of contemporary neuroscience – “the assumption widely held in the past and still cited today that the sensory, perceptive, and motor functions are housed in distinct and separate [brain] regions would appear to be an oversimplification”.7 Putting all of this together, there is a wealth of evidence that something must be added to sensory stimulation to yield full blown experience of worldly offerings, and to enable organisms to engage with them successfully. This is widely agreed. But there are different, and prima facie quite credible, stories about what exactly is added that makes the crucial difference. Traditional cognitivists propose that what needs adding is a conceptual template or schema; it is the application of concepts to experience that converts merely sensational, informational content into representational content proper – i. e. the sort of content that says how things stand in the world of the experience.8 This sort of idea is much in evidence, for example, in Marr’s famous three-stage account of how visual information on the retina, e.g. of edges and regions, is converted from a two-dimensional array into a three-dimensional representation of the world containing a distribution of objects.9 What marks out enactivist approaches, in the main, is that they lay stress not on the exercise of conceptual or representational capacities but instead on the history of organismic activity as providing the something extra. Thus what is necessary for experiencing, in addition to appropriate sensory stimulation, is the organism’s own “history and the history of various reinforcement contingencies”.10 This framework has proved popular; a great variety of enactivist proposals have now been advanced about many topics, including: consciousness, perception, intentionality, attention, memory, social cognition and self-consciousness. Drawing, inter alia, on insights from phenomenology, dynamical systems theory and robotics, proponents of enactivism ask us to invert the familiar explanatory strategies of orthodox cognitive science by supposing that “Abilities are prior to theories […]. Competence is prior to content […] [and that] knowing how is the paradigm cognitive state and it is prior to knowing that”.11 Enactivism is exciting precisely because it starts in a different place when thinking about mentality, by rejecting the 7 8 9 10 11

Giacomo Rizzolatti/Corrado Sinigaglia: Mirrors in the Brain: How Our Minds Share Actions and Emotions, Oxford 2006, p. 19. See Jerry A. Fodor: LOT 2: The Language of Thought Revisited, Oxford 2008. See David Marr: Vision. A Computational Investigation into the Human Representation and Processing of Visual Information, New York 1982. McGann: Perceptual Modalities (as fn. 5), p. 79. Fodor: LOT 2 (as fn. 8), p. 10.

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long established paradigm in cognitive science – a paradigm which openly boasts Cartesian credentials. That orthodox way of thinking insists on an absolutely sharp divide between the merely mindless, mechanical, dispositional or merely behavioural and the properly mental, representational, intentional and consciously experiential. Enactivists, of all stripes, deny that matters are so simple. In particular, they reject the idea of a single, clear-cut, and fundamentally representationalcomputational basis for all intelligent activity. This is replaced by an emphasis on a much more graduated story of how organisms become able to respond to and engage with relevant features of their environments in cognitively sensitive ways. These stretch from more basic forms of experiencing, on one end of the spectrum, to more genuinely symbolically-based thinking, at the other. Crucially, on this conception experiencing and thinking lie along the same continuum. Thus, as Noë stresses, “the line here is not sharp […] our relation to the world, through thought, and our relation to it through experience, differ not in kind but degree”.12 With this in mind, a major virtue of enactivist approaches to experience is that they allow us to escape what seems to be an irresistible choice between two unattractive options when it comes to thinking about the nature and basis of conscious experience. A familiar way of understanding phenomenal experience is to focus on the role played by intrinsic, non-relational phenomenal properties – i.e. qualia, e.g. the characteristic feel of particular sensations or feelings. Many analytic philosophers claim that it is our special acquaintance with such phenomenal properties that enlivens and lends colour to our lives. These special phenomenal properties, or qualia, might be properties of mental states or states of the world. Either way, for those who believe in such things, it is claimed that if we did not stand in relation to such properties, our responses would be phenomenally blank, cold and empty – no matter how sophisticated they might be. Without an appropriate relation to qualia we would be zombie-systems, even if we would be incapable of noticing this sad fact. This is because metaphysically speaking, qualia are imagined to be logically distinct from any and all of the cognitive activities by which cognitive systems relate to or access them. So conceived, this leaves open questions about whether phenomenal properties are physical or non-physical and where they might be located – e.g. inside heads or on the surface of external things. But what is really important is that, on this isolationist model, phenomenal qualities are in an important sense real features that exist mind-independently and which subjects only relate to under certain conditions, e. g., by means of a special kind of mental 12

Noë: Action in Perception (as fn. 4), p. 207.

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acquaintance. To think of phenomenal properties in this way is to imagine them to be, in an important sense, object-like possible relata – they are essentially phenomenally charged atoms that, when we are acquainted with them, convert otherwise cold-hearted, purely functionally-based responding into bona fide conscious experiencing. Object-based accounts of phenomenal properties and the metaphysics they inspire – whether construed in physicalist or dualist terms – generate a litany of well-known philosophical problems.13 Worse still, taking such accounts seriously not only sponsors an unattractive metaphysics; it threatens to systematically bedevil the prospects of studying consciousness scientifically – at least without radically revising the usual methods.14 Given this there are good reasons for preferring the general spirit of Dennett’s ‘fame in the brain’ approach – an approach that stresses the importance of, functionally identifiable, attention-grabbing features which enter into consciousness. Enactivists wholeheartedly endorse his credo that when it comes to understanding consciousness ‘handsome is what handsome does’ and that “matter matters only because of what matter can do”.15 Yet, crucially, most enactivists would reject the reductive intellectualism of Dennett’s multiple drafts theory, which equates being conscious to the exercise of certain narrative capacities. This is wholly possible if one is careful to distinguish Dennett’s heterophenomenological method (which can be regarded as a useful starting point for the study of phenomenal consciousness) from the details and peculiarities of his own early theoretical proposals about the nature of consciousness. An objectionable feature of Dennett’s theory is that producing patterns of behaviour identical to, say, those of yours or mine when we generate a stream of coherent utterances that are interpretable as saying how things seem to us, suffices for being conscious. Indeed, for him, to explain the capacity to produce such utterances just is to explain consciousness. Highlighting this aspect of Dennett’s account, many have complained that his theory leaves out what is critically important for understanding phenomenal consciousness – i.e. phenomenal qualities themselves. Such qualities, it is argued, must be logically independent from, and prior to, capacities for propositional believing and reportage. A similar verdict is passed on the offerings of close relatives of Dennett’s account – Higher Order Thought (HOT) theories of consciousness – for the very same reason. The problem for theories of both stripes, is that

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Dennett provides a useful catalogue: Daniel C. Dennett: Consciousness Explained, New York 1991. Daniel C. Dennett: Sweet Dreams: Philosophical Obstacles to a Science of Consciousness, Cambridge 2006. Ibid., p. 17.

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they are overly and unnecessarily intellectualist; they place too much emphasis on what might be regarded as sophisticated add-on extras or higher-order supplements, confusing these with the essential ingredients, the phenomenal experiences themselves that get expressed in certain kinds of cognitive and speech acts, such as explicit beliefs, reports and judgements. There are good reasons to suppose that perceptual experiencing is more biologically basic than the capacities for forming propositional beliefs, judgements or making reports.16 This is supported by the observation that perceptual experience is not primarily about the abstract recognition and identification of objects, but rather has a more perspectival nature, relating to the current situation of the organism in question. This has independently motivated the conjecture that conscious experiences must occur at an intermediate, and cognitively impenetrable level of perceptual processing; one that is neither very high nor very low.17 Crucially, responding appropriately to concerns about over-intellectualism does not, however, require beating a retreat and admitting the existence of non-relational, object-like phenomenal properties of our special mental acquaintance. Rather it requires recognizing that certain kinds of systematic, but non-intellectualist activity might lie at the heart of phenomenal experiencing. Enactivist approaches offer a plausible middle way for thinking about what this involves. Making conceptual space for such an account is the recognized cardinal virtue of enactivism.18 Enactivism allows us to acknowledge how a capacity for basic and more transitive forms of sensing might relate to fully fledged and more intransitive forms of experiencing. It also allows us to understand how, why and where these might have appeared in the natural order of things without incurring the sort of metaphysical trouble that ensues from positing the existence of qualia. The motivating enactivist insight is that various modes of phenomenal consciousness will only be properly understood if we focus on the ways in which creatures develop and deploy their capacities to actively sense and perceive. Understanding the difference between mere sensing and fully fledged experiencing is achieved by understanding how organisms come to respond in ever more refined and sensitive ways to what is afforded by their environments, i.e. by understanding the specific patterns of sensorimotor activity through which organisms (or other systems) interact with aspects of their

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Ned Block: Consciousness, Function, and Representation, in: Collected Papers Volume 1, Cambridge 2007. Ray S. Jackendoff: Consciousness and the Computational Mind, Cambridge 1987. See Andy Clark: Supersizing the Mind: Embodiment, Action, and Cognitive Extension, Oxford 2008, p. 169.

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environment. As such, enactivists are critical of endeavours to grasp the true or essential basis of what makes experience phenomenally conscious on a purely correlative basis – i.e. by pointing to what goes on inside the craniums of experiencers (a style of approach that is exemplified by the quest to identify the neural correlates of consciousness). Such attempts assume that phenomenal properties can be identified and isolated neatly enough so as to be lawfully associated with (or better identified as) signature brain activity of one kind or another – and that all other aspects of organismic responding are inessential for understanding what is experienced. Enactivist considerations reveal that even if such approaches could succeed in establishing the relevant correlations, the fruits of such projects would be explanatorily sour: ultimately they would tell us precious little about how or why experiences have the particular phenomenal characters that they do. By way of contrast, charting how specific patterns of sensorimotor interaction make a difference to having experiences with specific kinds of phenomenal character holds out precisely the kind of explanatory promise we require.

3. Some wor r ies ab out Conser vat ive E nac t iv ism The broad brush observations of the previous section reveal the points of agreement between enactivists; they underline what is so interesting and challenging about their programme. In particular, all enactivists sign up to the big idea that it is ways in which sentient beings develop to engage and interact with their environments that matters for their having of experiences and the character of the experiences that they have. However, despite agreeing about this, enactivists differ on the details of which interactions are relevant, how best to characterize and understand these, and what makes them possible. For example, the version of enactivism which has perhaps received the most attention at least in mainstream circles, the Sensorimotor Contingency Theory or Dynamic Sensorimotor Account appears to have strong cognitivist leanings.19 There are two key respects in which this is so. It (1) invokes the idea that experiencing is grounded in implicit, practical knowledge, and (2) the acceptance of the idea that perceptual experience is inherently contentful. Both sops to intellectualism are unnecessary and unhelpful. To expose why this is so, in what follows I focus mainly on Noë, treating his remarks as providing a more or less official statement of what I call Conservative Enactivism.20 It is conservative to the extent that it, unlike the more radical versions of enactivism, invokes representational notions. 19 20

See McGann: Perceptual Modalities (as fn. 5), p. 75. Noë: Action in Perception (as fn. 4).

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Defenders of Conservative Enactivism stress that to have phenomenal experiences requires possession and skilful deployment of relevant ‘knowledge’ of sensorimotor contingencies – where such knowledge is thought to be mediating.21 Essentially, on this view, experiencers must have implicit mastery of relevant laws concerning the structure of the various modalities and the ways that they respond to the attributes of specific types of objects. Trouble ensues when attempts are made to coherently and non-vacuously articulate what such knowledge consists in and how it can play the kind of mediating role assigned to it by this theory. It does not seem possible to tell a consistent story about this implicitly practical but nevertheless ‘mediating’ knowledge. This difficulty becomes transparent if one attends to the sorts of description that sensorimotor theorists are inclined to give when explicating the nature of the knowledge in question. They fall into talk of predictions and judgements made by perceivers, or their brains, that look decidedly like propositionally-based contentful judgements – i.e. instances of knowing that.22 If so, then the knowledge that makes experience possible is not ultimately a kind of practical know-how after all. Rather, even if it must be put to practical use, the knowledge in question must be grounded in a set of semantically evaluable subpersonal representations. That is surely one coherent way of making sense of Noë’s claim that “sensorimotor understanding is in fact the ground of your possession of dispositions to respond to the presented object”.23 Now it might be supposed that even if Conservative Enactivism breaks faith with the anti-representationalist focus of the original formulation and spirit of enactivism, this is a price well worth paying in order to make sense of how experience is grounded on ‘mediating’ knowledge. This will be especially attractive if it is also thought that it is only by appeal to such knowledge (or at least a set of beliefs) that would allow one to make sense of what needs to be added to sensory stimulation – i. e. expectations about sensorimotor contingencies – so as to yield full-blown perceptual experience. For, crucially, “the work of the enactive approach is done by perceivers’ expectations of the sensory effects of movement”.24 21 22

23 24

J. Kevin O’Regan/Alva Noë: A Sensorimotor Account of Vision and Visual Consciousness, in: Behavioral and Brain Sciences 24 (2001), pp. 939–1031; Noë: Action in Perception (as fn. 4). See Daniel D. Hutto: Knowing What?: Radical versus Conservative Enactivism, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 4 (2005), pp. 389–405; also Mark Rowlands: Understanding the ‘Active’ in ‘Enactive’, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 6 (2007), pp. 427–443. Noë: Action in Perception (as fn. 4), p. 88. Ibid., p. 119.

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Fair enough. But there are very serious technical problems in pursuing this sort of line. Ramsey’s work reveals that anyone who wishes to give an account of implicit (or embodied) know-how in representationalist terms would need to show how their proposal meets the ‘job description challenge’.25 Adequately meeting that challenge requires saying not only what determines the content of representational states or structures but also, critically, saying how the states or structures serve or function as representations in a larger system. Against this backdrop, Ramsey is critical of the popular tendency to regard states (or ensembles of states) that are only reliably caused by (or nomically depend upon) the occurrence of certain external features or those that dispositionally produce certain effects under specific conditions as representation. He classifies these sorts of theories as subscribing to what he designates, respectively, ‘receptor’ and ‘tacit’ notions of representation. These ideas come into play, on the one hand, when scientists speak of states or processes that serve as ‘detectors’ or ‘indicators’ of some external feature, or on the other hand, when they talk of a system or organism’s implicit or embodied knowhow as being responsible for generating certain reliable effects. Subjecting these accounts to a detailed analysis, Ramsey demonstrates that both the receptor and tacit notions of representation – those favored by the avant-garde of today’s cognitive science – systematically fail to meet the job description challenge. If he is right then a great deal of research in cognitive science, despite advertisements, really only posits, and only requires, the existence of reliable, on-line causal mediators or causal relays with certain, perhaps complex, dispositional capacities.26 But structures of these kinds, assuming they lack other special properties, simply cannot be thought of in terms of making use of bona fide representations. Hence, they are not knowledge-based where the knowledge in question is imagined to be stored in the form of rules and representations at the sub-personal level. In any case Noë doesn’t want to go this way.27 He is adamant that “sensorimotor knowledge is not propositional”.28 He insists that “the kind of sensorimotor knowledge whose possession enables you to grasp your spatial relation to things is practical and not theoretical”.29 But taking this line reveals

25 26

27 28 29

William M. Ramsey: Representation Reconsidered, Cambridge 2007. In an important sense, when many researchers invoke talk of representations they really lack a proper understanding of their own theoretical commitments. They are misled and confused because of their attachment to a certain way of talking rather than their true theoretical commitments. Noë: Action in Perception (as fn. 4). Ibid., p. 118. Ibid., p. 88.

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serious tensions in his overall account. Thus on the one hand, in line with this, we are told: It takes no thought or intellectual skill to know that to bring the item off to the left better into view, you must turn your head to the left […] [or] when you hear a sound as being on the left you don’t need to think about which way to turn your head in order to orientate toward the sound […] You do need to think about how to maneuver a couch to squeeze it through a small passage. But you do not need, in the same way, to think about how to maneuver your body to squeeze it through the doorway. Just perceiving the doorway as having certain spatial qualities is perceiving it as enabling, requiring, or permitting certain kinds of movements with respect to it.30 Noë insists that this account of (what is, in effect) perceiving affordances is not the mere exercise of behavioural dispositions but rather of knowing in an implicit practical way.31 But it is not clear how he can have his cake and eat it too on this issue. After all, it’s hard to square the claim that acts of perceiving of this variety involve ‘no thought or intellectual skill’ with the counter claim that “all perception is intrinsically thoughtful”.32 And there are other reasons for thinking that the appeal to mediating, implicit practical knowledge is not a live option; the most grievous stems from the fact that “the mere passive storage of sensorimotor knowledge cannot plausibly determine the contents of a given experience”.33 There are many places in which Noë speaks as if possession of the relevant knowledge would suffice for experiencing.34 But this cannot be right since experiencings are occurrent events. Merely possessing implicit, even if practical, knowledge of what to expect in certain sensorimotor explorations cannot be enough to explain how things actually appear to one on some occasion. For one might have or possess such knowledge yet fail to exercise it in performance – if so it could hardly make a relevant difference. To correct for this, it must be accepted that the knowledge in question is not only possessed, it must be exercised. But this cannot be a merely contingent matter. It must be exercised in order to yield experience. If so, this last requirement casts further doubt on the claim that we ought to understand 30 31 32 33 34

Ibid., p. 89, emphasis added. For a powerful, non-representationalist account of what perceiving affordances involves see Anthony Chemero: Radical Embodied Cognitive Science, Cambridge 2009. Noë: Action in Perception (as fn. 4), p. 3. Roberts: Understanding ‘Sensorimotor’ Understanding (as fn. 3), p. 104. See e.g. Noë: Action in Perception (as fn. 4), p. 2, p. 89.

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experience as being mediated by knowledge at all. For on this rendering when it comes to experiencing it is not possible for sensorimotor knowledge to be logically separate from its use. But if this is correct then it shows how distant what is being proposed is from standard cognitivist offerings. After all, when cognitivists speak of a knowledge-based competence they strongly distinguish the knowledge base from how it is deployed in performance. As Chomsky notes, a main reason for adopting this line is because it is believed that “the idea that knowledge is ability is […] entirely untenable”.35 In direct contrast to this, Noë insists, that in being practical it is logically impossible for the sensorimotor knowledge to exist in some way other than as informing particular performances. But whatever the attractions of this idea it is difficult to make sense of it in light of the other claims of Conservative Enactivism. For it cannot be the case that experiences are based or grounded in knowledge that is distinct from the actual, on-line and of the moment exercised tendencies of the organism. Of course, an organism’s current tendencies and expectations in dealing with some bit of the world can be explained by appeal to its history. But if that is all that is meant then it shows that to talk of ‘mediating knowledge’ when it comes to understanding perceptual experience is a red herring. Such talk really gestures at the fact that organisms with appropriate sensory stimulation will have experiences if they also have certain expectations. Accounting for such expectations requires nothing more than a historical, developmental account of how they came to be in place. A second major concern about Conservative Enactivism is its attachment to the idea that perceptual experience is essentially content-involving. Noë’s driving idea is that “mere sensory stimulation becomes experience with world-presenting content thanks to the perceiver’s possession [/exercise] of sensorimotor skills”.36 Thus, “to see one must have visual impressions that one understands”.37 In his bid to explicate the nature of this kind of understanding, Noë defends an essentially Kantian line, with a twist. Against those who argue that perceptual content is non-conceptual he defends a conceptualism.38 To illustrate the core idea with an example, he tells us that when we experience something as a cube “it is the concept cube that gives content to the experience”.39 It is standard in the mainstream cognitivist literature to conceive of concepts as discrete and meaningful thought contents – i. e. as mental repre-

35 36 37 38 39

Chomsky (1988), p. 9. Noë: Action in Perception (as fn. 4), p. 183. Ibid., p. 6. See ibid., p. 183. Ibid., p. 207.

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sentations.40 However, Noë adopts an unorthodox understanding of the nature of concepts. He tells us that “concepts are practical skills”.41 Thus the concept of a cube is an example of a concept based in primitive sensorimotor skills. This complicates things somewhat but it also raises some tricky questions, which once again show the difficulties in straddling a line between traditional cognitivist and more radical anti-representationalist approaches. For what reason is there to believe that (1) all experiencers of cubes are operating with the same general concept, or indeed that (2) individual experiencers operate with the same concept across cases, if we think of concepts as skills. The idea of our all sharing ‘the’ concept of cube makes sense if concepts are conceived of as mental representations. Such representations can get their identity conditions from having determinate, denotational type-specific content – e.g. as Fodor proposes (if such a story can be made to work). But if concepts are skills that can develop over time and are necessarily exercised in occasion-sensitive and possibly idiosyncratic ways, then we have – once again – a threat of collapse. There is no possibility of understanding the kind of concepts that matter to having experiences, conceived of as extendable skills, independently of how they are used on specific occasions. This provokes a deeper question: Why insist on concepts necessarily being in play in experience in the first place? Noë assumes that to see requires conceptualization of some kind, even if only of a low-level or primitive variety.42 But why assume this? Presumably because “perceptual experience presents things as being thus and such. It has content. It is directed toward, it is about the world”.43 Crucially, he says this because he is persuaded that “in perception you ‘entertain’ a judgeable content”.44 Doubtless some experiences involve conceiving, and even conceiving of things as being a certain way; i.e. of judging them to be thus and so. But it hardly follows that all experiences, even though they are world-directed, have this feature. Many philosophers are persuaded that at least certain types of experiences – perceptual experiences – are intrinsically contentful or, more strongly, that the phenomenal character of such experiences reduces to or is exhausted by their representational content. As Tye observes, the idea that perceptual experiences must be contentful is “most strongly motivated by the thought

40 41 42 43 44

See e.g. Michael Tye: Consciousness Revised: Materialism without Phenomenal Concepts, Cambridge 2009, p. 39–40. Noë: Action in Perception (as fn. 4), p. 199. Ibid. Ibid., p. 189. Ibid.

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that, in seeing objects, they look some way to us, together with the further thought that an object can look a certain way only if it is experienced as being that way. This in turn, seems to require that the object be represented as being that way”.45 Minimally, a state represents ‘as’ if it presents some portion of the world as being a certain (potentially) truth-evaluable way – for example as ‘being hot’ or as ‘being red’. All that is required for a mental state to possess content is for it to have specifiable correctness conditions. Ambitious versions of representational theories of consciousness hold that the phenomenal aspects of experience simply equate to taking features of the world to be a certain truth-evaluable way. Accordingly, what-it-is-like to be conscious boils down to representing how things might be (given that how the world seems to be and how it actually is may differ). Consequently, there can be no difference in phenomenal character without a corresponding difference in representational content; either because phenomenal character just is a kind of representational content or because it lawfully covaries with changes in such content. On the strongest variants of this sort of account the phenomenal character of token experiences is thought to be exhausted by its representational content; there is nothing more to having an experience than being in a mental state with a particular sort of content. Despite their appeal in some quarters, all versions of representationalism about experience face serious technical troubles.46 On the one hand, externalist variants give the wrong sort of account of content (by focusing too much on what is represented and not how it is represented). On the other hand, internalists (who – at first blush – correct for this) mistakenly try to account for this feature of experience in contentful terms, but are unable to provide an adequate explication of narrow content with which to ground their theories. There are good reasons for thinking that representationalism about experience, in even the weakest varieties, should be rejected across the board. Some will object to this. But the mere fact that the issue is up for debate means that the idea of representation is surely not built into the very idea of experiencing. Surely it is imaginable that the capacities for perceptual experience and representationally-based, contentful thought do not always and everywhere travel together. It is surely at least possible that sentient beings might experience aspects of the world in thoroughly non-contentful ways. The world

45 46

Tye: Consciousness Revised (as fn. 40), p. 88. For full discussion see Hutto: Mental Representation and Conscioudness, in: Encyclopedia of Consciosness, ed. by William Banks, vol. 2, Amsterdam 2009, pp. 19–32.

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may, of course, be at variance from the way it is presented as being: things are not always as they seem. But it does not follow that because certain creatures have the potential to make truth-evaluable judgements about the state of the world based on their experiences that aspects of the world are, always and everywhere, automatically presented in experience in truth-evaluable – i.e. contentful – ways. This can be so even if the creature in question is enjoying phenomenologically-rich, action-guiding, world-relating experiences. Acting, and anticipating actions, based on developed ways of responding to certain sensory encounters may be all that is required for perceptual experiencing. If so, it is not necessary for creatures to represent the world contentfully as being a certain way in order to experience it perceptually. In line with Akins’ idea that the senses are narcissistic, our basic capacities for experiencing the world may be logically distinct from, and more basic to, capacities for representing it semantically.47 Radical Enactivism holds that although the world is experienced a certain way, such experiencing is not intrinsically contentful. Experiences can incline or prompt explicitly contentful beliefs and judgements – but they are not in-themselves true or false. This goes against the popular view that perceptual experiences and judgements must share the same sort of content – i.e. truth-evaluable content. That view is attractive because it purports to explain how perceptions and judgements can stand in logical relation to one another, such as contradiction. Radical Enactivism holds that things can look a certain way to subjects without the way things look thereby possessing truth-evaluable content. Although this goes against strong intuitions, the position is defensible and has some prominent supporters. Notably, even McDowell now espouses it: “experiencing is not taking things to be so. In bringing our surroundings into view, experiences entitle us to take things to be so; whether we do is a further question”.48

47 48

Kathleen Akins: Of Sensory Systems and the ‘Aboutness’ of Mental States, in: Journal of Philosophy 113 (1996), pp. 337–372. John McDowell: Having the World in View: Essays on Kant, Hegel, and Sellars, Cambridge 2009, p. 269.

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4. P ush i ng a more rad ic a l l i ne Let us bring these threads together. As indicated above, one reason that a knowledge-based account might be seemingly attractive is that it offers a way of making sense of the putative role of expectations in determining the character of occurrent experiences. And it is clear that expectations are meant to play a crucial role in understanding what is added to sensory stimulation to yield experience according to enactivists. This is basically right. However, it is important to understand the nature and role of the expectations in question. Clark claims that it is not necessary to “appeal to predictions (or expectations) concerning the next sensory stimulation to directly and exhaustively explain (subpersonally) or even characterize (personally) perceptual experience”.49 Obviously, this seems right if the point is that we ought not to accept that phenomenality of experiencing must be grounded in, or requires the deployment, of implicitly represented knowledge or belief on the part of sentient beings. Organisms neither ‘make theoretical predictions’ about future experiences nor need their brains to ‘follow rules’ sub-personally in order for them to enjoy phenomenally charged experiences. There is no reason to believe in the existence of any such rules or principles. A fortiori they are not internally or externally represented, consulted, mastered or obeyed, or otherwise causally real and influential in driving and explaining the responses of organisms that matter to their experiencing. Nevertheless, it is possible to make sense of what does make the relevant difference as active, occasion-sensitive and task-specific expectations – i.e. as those which an organism literally embodies at a particular time. The facts of such embodiment are determined by the organism’s current attentional focus and goals in the light of its occurrent projects. For example, whether the tomato appears voluminous, in the sense of having a juicy interior or in the sense of being graspable and throwable, will depend on what the organism is up to at the time. This fixes the way in which it is actively poised to engage with the fruit. Such expectations unfold over time and against the backdrop of larger, goal-driven patterns of activity. In taking this line Radical Enactivism advances a much weaker and quite different proposal about the sort of expectations that matter to experience than that proposed by its Conservative cousin. According to Radical Enactivism embodied expectations depend upon the goal-driven patterns of interaction between sentient beings and aspects of their environment. In any given instance, what is experiencing and how it is experienced depend on the concrete and occurrent realization of some or other pattern of activity. Thus 49

Clark: Supersizing the Mind (as fn. 18), p. 175.

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Radical Enactivism claims that the character of experiences depend upon the exercise of certain inherited or learned abilities. Specifying the phenomenal character of any token experience therefore depends upon the particular goaldriven patterns that are occurrently instantiated in the way that sentient beings are interacting and engaging with aspects of the world. These are fixed by facts about their evolutionarily inherited sensory apparatus and, more importantly, by their ever-developing ways of responding to worldly offerings.50 As such there is a potentially revealing story to be told about precisely which patterns of interaction have, during the organism’s history of learning, been of primordial importance in helping shape its current abilities and ways of responding. But what matters, for our purposes, is that on the Radical Enactivist rendering we can make sense of the idea of experiencing as expectant without having to accept that the expectations in question are knowledgebased or that they result in experiences that are intrinsically contentful. Happily, some of the more recent accounts of enactivism have already begun to endorse this basic approach and herald its virtues. Thus McGann insists that “Sensorimotor skills […] are engaged (their use structured) in the context of goal-directed action.”51 Even more forcefully, he claims “interaction is always going to involve some aspect of goal-directed activity on the part of the perceiving agent. It is such activity that drives the exploration of the world in the first place, and gives value to the interaction”.52 Roberts also insists that sensorimotor understanding “is a matter of recognizing that certain possibilities can be employed in the service of goal-directed activity”.53 He stresses the need for a grasp of sensorimotor contingencies to be deployed “when it is poised to figure in the agent’s planning and action-selection […] [because this alone captures] the occurrent, active nature of its exercise”.54 Because goal-directed activity is a higher, organismic-level phenomenon, as Roberts notes, this sort of approach avoids commitment to a kind of hypersensitive sensorimotor chauvinism.55 For “A sensorimotor chauvinist […] is someone who holds, without compelling reason, that absolute sameness of perceptual experience requires absolute sameness of fine-grained sensorimo-

50 51 52 53 54 55

See Daniel D. Hutto: Unprincipled Engagements: Emotional Experience, Expression and Response, in: Radical Enactivism: Focus on the Philosophy of Daniel D. Hutto, ed. by R. Menary, Amsterdam/Philadelphia 2006, pp. 13–38. McGann: Perceptual Modalities (as fn. 5), p. 86. Ibid., p. 85, emphasis added. Roberts: Understanding ‘Sensorimotor’ Understanding (as fn. 3), p. 110. Ibid. Ibid., p. 107–108.

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tor profile.”56 Nothing in the formulation of Radical Enactivism commits it to the claim that every fine-grained detail of a specific sensorimotor activation matters to the phenomenal character of what is experienced. This is because it is only those patterns of sensorimotor engagement relating to goal-driven, world-involving activity – those that enable organisms to respond to salient affordances – that matter to experience.57 Although, this looks like good progress, we are not wholly out of the woods yet. For to adopt this type of account requires facing up to the central issue of what makes an action goal-directed or goal-driven and not merely a bit of purely behavioural ‘thrashing about’.58 One familiar answer is to hold that “the ability to think the kind of thoughts that have truth-values is, in the nature of the case, prior to the ability to plan a course of actions. The reason is perfectly transparent: Acting on plans (as opposed to, say, merely behaving reflexively or just thrashing about) requires being able to think about the world”.59 Accordingly, bona fide intelligent activity is distinguished because it involves and is explained by manipulation of representations of some kind or other. Following Brentano, Fodor60 tells us that “The mark of the mental is its intensionality (with an ‘s’) that’s to say that mental states have content; they are typically about things […] only what’s literally and unmetaphorically mental has content.” This is all well and good, but more is needed in order to provide a non-vacuous, non-circular account of how intentionality could be the mark of the mental. This, as Crane has recently admitted in response to a challenge by Nes, seems to require calling on the notion of representation to

56 57

58

59 60

Clark: Supersizing the Mind (as fn. 18), p. 177. Emphasizing action-oriented, affordance-based expectations of organisms as being what matters to perceptual experience provides a basis for arguing against Clark’s representationalist interpretation of the differential functionality of dorsal and ventral streams – the so-called dual stream models (ibid., p. 179–187). There is a way of understanding the evidence that is consistent with a radically enactivist reading. For the difference may not be that one stream has a representational function and the other not, but that one stream concerns the lower-level control and execution of movements which are below the threshold of organismic activity based on a rough-grained response to opportunities environmental surroundings appear to afford. As McGann notes: “Amidst all the hubbub about the role of action in the recent literature in Cognitive Science, something has been missing. That something is a clear description of how we should distinguish between behaviour and action across the whole range of cognitive functioning.” Marek McGann: Enactive Theorists do it on Purpose: Toward an Enactive Account of Goals and Goal Directedness, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences 6 (2007), pp. 463–483, p. 463. Fodor: LOT 2 (as fn. 8), p. 13. Jerry A. Fodor: Where is my mind?, London 2009.

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do foundational work.61 As Crane notes “It is the notion of representation, I think, that will distinguish intentionality from […] other phenomena.”62 If so then, it turns out that in order to explicate the notion of intentionality we must call on representations to do explanatorily important work. Thus to complete the story about what is definitive of mentality, and thereby goaldirected agency, we require a workable naturalized theory of representation (on the assumption that the representations in question are not linguistically based). My advice is, don’t hold your breath. Another option is to give up on the idea that we have only two choices – i.e. to adopt some form of cognitivism – and make it work – or adopt some form of behaviourism. There is another way. The trouble is that to follow Brentano’s lead on the nature of intentionality typically results in adopting a conception of basic intentionality that is modeled directly on the kind of semantic, truth conditional or referential content associated with mature folk psychological states of mind. This fuels standard assumptions about what is, in general, definitive of the kind of directedness associated with basic forms of intentionality – i.e. it is equated with a kind of non-derived, fully representational, psychosemantic content. It is a short step from this to the idea that intentionality must be understood in semantically contentful terms of the sort specified by standard representational theories of mind. It is by this route that many of today’s philosophers come to endorse what I will call the thesis of semantic intentionality on a priori grounds. Flanagan supplies us with a neat reminder of the standard connections between these ideas in discussing the central tenets of James’ philosophy of mind. The concept of intentionality is a medieval notion with philosophical roots in Aristotle and etymological roots in the Latin verb intendo, meaning ‘to aim at’ or ‘point toward’. The concept of intentionality was resurrected by and clarified by […] Franz Brentano […] Brentano distinguished between mental acts and mental contents. My belief that today is Monday has two components. There is my act of believing and there is the content of my belief, namely, that today is Monday […] Beliefs are not alone in having meaningful intentional content […] Language wears this fact on its sleeve. We say that people desire that [ ---- ], hope that [ ---- ], expect that [ ---- ], perceive that [ ---- ], and so on, where whatever fills the blank is the intentional content of the mental act. Intentionality refers to the widespread fact that mental acts have meaningful content […]. The fact that we are capable of having 61 62

Anders Nes: Are Only Mental Phenomena Intentional?, in: Analysis 68 (2008), pp. 205–215. Tim Crane: Reply to Nes, in: Analysis 68 (2008), pp. 215–218, p. 216.

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beliefs, desires, or opinions about non-existing things secures the thesis that the contents of mental states are mental representations, not the things themselves – since in the case of unicorns, ghosts, devils and our plans for the future there simply are no real things to be the contents of our mental states! On this interpretation, James, is an advocate of what Jerry Fodor calls the representational theory of mind.”63 Can we coherently challenge the universal scope of the thesis of semantic intentionality? I think we can, and should. Why? In making my case I’ll focus on the notions of encountering and registering, invoked by Apperly and Butterfill in another context.64 These psychological attitudes are significantly different from propositional attitudes such as seeing, perceiving and believing. Encountering is defined as “a relation between an individual, an object and a location, such that the relation obtains when the object is in the individual’s field”.65 A field is defined, simply, as a certain region of space around the individual. Building on this, registering is defined as a slightly more complex psychological relation that obtains between an individual, an object and a location. Accordingly, a creature registers when two conditions are satisfied: (1) they encounter the object at the location and (2) have not since encountered it elsewhere. Thus “Registration is like belief in that it has a correctness condition which may or may not obtain: a registration is correct when the object is in the location.”66 Nevertheless, because these mental states lack content of the standard propositional variety they are at best belief-like states – they are not beliefs per se. Registration is thought of as a psychological attitude lacking fullfledged mental content. Nevertheless it is assumed to have some kind of nonpropositional content that possesses correctness conditions. But unless we assume it has referential content instead (which, I take, is not what Apperly and Butterfill are suggesting) then it is difficult to make sense of this idea. On the face of it, it seems impossible for an attitude to both (a) lack truth conditional, propositional (or referential) content and yet (b) possess correctness conditions. Surely – as is widely assumed – it is the particular truth conditional (or referential) contents of mental states that determine whether and under what conditions such states are correct or incorrect. Representing some state of the world accurately or inaccurately requires comparing it against some stated 63 64 65 66

Owen Flanagan: The Science of the Mind, Cambridge 1991, p. 28, second and third emphases added. Ian A. Apperly/Stephen A. Butterfill: Do Humans have Two Systems to Track Beliefs and Belief-like States?, in: Psychological Review 116 (2009), pp. 953–970. Ibid., p. 962. Ian A. Apperly/Stephen A. Butterfill: unpublished ms. Minimal theory of mind.

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possible condition that it might be in. Ergo, any state of mind that lacks such determinate content is ipso facto non-representational. That is just another way of saying that it is not truth-conditional, not referential – i.e. that evaluations such as truth, correctness or accuracy do not apply to it. I contend that it is a mistake to suppose that registrations bear special kinds of mental content – i.e. that they should be thought of as discrete mental states that in and of themselves have or possess correctness conditions. This is to model such states of mind on isolated words or sentences in the heads of thinkers, however weakly. To be wholly free of this idea we ought to think of registrations not as mental states of this kind but as the goal-directed activity of an organism. Consider that in the style of David Attenborough we say of baby, Sheba or Rover that they are trying to do this or achieve that. Moreover, we say that they succeed or fail because of what they know, think, notice or ‘register’. But it is the activity itself, and not some sub-part of it, that we can coherently regard as being successful or not. Deciding if it is, or not, requires appeal to some set of norms that specifies the goal in question. For this we must make appeals to selectional history, individual learning or the norms of an established practice, and so on. In addition, whether or not a bit of goaldirected organismic activity succeeds, or not, depends on whether certain facts obtain. Well-designed organisms have many (and often quite complex) means of responding to natural signs of environmental correspondences that are important to them. Responding to such signs is meant to guide their behaviour with respect to the state of the world so they succeed in their activities. And, if they are well-built and conditions are normal, their activities non-accidentaly succeed often enough to fulfill their needs. All of this can be true without it being the case that some sub-part of the organismic system – e.g. an internal mental state – contentfully represents some part of the external world correctly or incorrectly by saying that it stands thus or so. Indeed, in very basic cases there is no principled basis for picking out one step or part of a much larger organismic response to some external natural sign as a discrete, contentful state of mind that represents some more distal state of affairs. In normal conditions it is the totality of an organism’s response that ensures the non-accidental success of its activities. As such it is the attitude of the whole organism engaged in such activities that exhibits intentional directedness. It is the response as a whole that targets certain aspects of the world and not some sub-part of the response. If so, it must be possible to be intentionally directed without having discrete mental states that possess any kind of mental content at all. I call such non-contentful but world-directed attitudes – intentional attitudes. They are to be contrasted with properly contentful, sententiallymediated propositional attitudes, such as truth-conditional beliefs and desires.

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The attitudes of the latter sort do possess semantic content and linguistic structure. Indeed, I have long held that our “ordinary concept of belief ranges over cases which, from the philosophical point of view, we should distinguish as instances of beliefs-as-propositional-attitudes and beliefs-as-intentional attitudes”.67 To have a content-involving thought, it is not enough for an organism to be merely intentionally directed at a situation or state of affairs, even in the sorts of complex and systematic ways intimated above. A creature could engage in many highly sophisticated activities while only having attitudes of an intentionally directed sort that are to be understood in purely non-intensional (with an ‘s’) terms. At the heart of Radical Enactivism is its non-intellectualist, non-representationalist account of basic cognition. Representational states of mind, as opposed to those of a merely functional variety, are distinguished (1) by possessing mental content (of some sort) and (2) by playing a special kind of functional role in the cognitive economy.68 For example, what distinguishes a representational explanation of some or other tracking ability from a non-representationalist one rests in the details of how and by what means the tracking is imagined to be accomplished. Representational and non-representational accounts offer different explanations of such abilities and they incur different theoretical costs. Representationalists who make appeal to the contentful properties of mental states in building their theories incur a heavy cost. It is a cost that I believe they can neither afford but nor is it one we need to incur in order to get what we need in order to understand basic goal-directed activity. Every form of cognitivism requires some version of the representational theory of mind to be true, even with respect to basic forms of mentality – but this is an expensive assumption. For naturalists, making good on it requires the articulation of a convincing theory of content. Yet there is every reason to doubt that this theoretical debt can be paid. A review of the situation strongly suggests that the required theory of content is not on the cards. Only a handful of representationalists have ever tried, in earnest, to pay their theoretical bills in full. The result has been a small clutch of well developed information-based naturalistic theories of content. Ultimately, they all fail. In response to this one might observe that “few researchers in cognitive science actually rely on an informational account of representation in their own work. Most adopt some or other variety of inferential or conceptual role semantics, according to which what a symbol represents depends (at least partly) upon the use that the rest of the cognitive system is apt to make of that 67 68

Daniel D. Hutto: The Presence of Mind, Amsterdam 1999, pp. 109–110. For a discussion see Ramsey: Representation Reconsidered (as fn. 25).

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ENACTIVISM : WHY BE R ADICAL?

symbol.69 This is probably wise since purely informational accounts of intentional content face notorious difficulties.70 There is an immediate worry with this strategy in that no one has yet explained how the imagined symbols, each standing for discrete concepts and which are meant to play the relevant conceptual roles, get their putative semantic properties. Unless this is done, “the semantic properties […] are assumed, not explained”.71 So, in effect, to go this way is to ask for a line of credit. I believe that this borrowing strategy will lead to a theoretical crisis in cognitive science to rival the economic crisis we currently face in the financial world. Continued borrowing is not the answer; it will only bankrupt future generations of researchers. And it is no good looking for a loan from the banks of Dretske, Fodor or Millikan to escape the problem; they have all collapsed. I suggest a different strategy – that of determining what can be legitimately done with the resources we are actually known to have. With important adjustments, there is much that can be salvaged from the best attempts to naturalize representational content. For example, although teleosemantic accounts fail to provide an adequate basis for naturalizing intensional (with an ‘s’) content they were proceeding along basically the right lines. Crucially, they provide the right tools for making sense of something more modest – i.e. responses involving intentionality (with a ‘t’). Despite initial optimism, many now doubt that attempts to naturalize semantic content can have any chance of success. Godfrey-Smith provides an astute assessment “there is a growing suspicion that we have been looking for the wrong kind of theory, in some big sense. Naturalistic treatments of semantic properties have somehow lost proper contact with the phenomena”.72 Nevertheless, he also acknowledges that the driving idea behind teleosemantics – that evolved structures can have a kind of ‘specificity’ or ‘directedness’ – is essentially correct; “there is an important kind of natural involvement relation that is picked out by selection-based concepts of function. But this relation is found in many cases that do not involve representation or anything close to it.”73 What should we make of this? To quote a famous Rolling Stones’

69 70 71 72 73

E.g. Ned Block: Advertisement for a Semantics for Psychology, in: Midwest Studies in Philosophy, 10/1 (1986), pp. 615–678. Peter Carruthers: Mindreading underlies Metacognition, in: Behavioral and Brain Sciences 32 (2009), pp. 121–182, pp. 170–171. Jerry A. Fodor: Fodor’s Guide to Mental Representation, in: The Future of Folk Psychology, ed. by J. Greenwood, Cambridge 1991, pp. 22–50, p. 46. Peter Godfrey-Smith: Mental Representation and Naturalism, in: Teleosemantics, ed. by G. Macdonald/D.Papineau, Oxford 2006, pp. 42–68, p. 42. Ibid., p. 60.

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lyric, “You can’t always get what you want, but if you try sometimes, you just might find, you get what you need”. In the place of teleosemantics we can put teleosemiotics. Teleosemiotics borrows what is best from teleosemantics and covariance accounts of information to provide a content-free naturalistic account of the determinate intentional directedness that organisms exhibit towards aspects of their environments.74 Yet unlike teleosemantics, it does not understand the most basic forms of directedness, such as registering, in semantic (contentful, representational) terms – they are not to be understood in terms of reference or truth conditions. In many cases organisms act successfully by making appropriate responses to objects or states of affairs in ways mediated by their sensitivity to natural signs. But this does not involve contentfully representing those objects or states of affairs. Undoubtedly, some mental states exhibit semantic intentionality. Such mental states are properly contentful. Nevertheless, plausibly, a great deal of sophisticated, world-directed cognition exhibits intentional directedness that is not contentful in the sense just discriminated. Teleosemiotics understands on-line perceptual responding as informationally sensitive but it denies that the notion of a purely informational, nonconceptual representing is coherent. It denies that ‘carrying information about’ X or registering X constitutes “a way of representing X without representing it as anything”.75 It is the experiential ways in which organisms come to respond to the world to which they are informational sensitive that lays the ground, in some cases, for genuinely contentful, representational thought. But the story about how the latter comes into being, when it does, is utterly unlike the standard proposals offered by traditional cognitive science.

5. Conc lusion Radical Enactivism explicitly rejects the idea that content, whether informational or representational, is an inevitable ingredient of basic mentality. In this, not only is it wholly in line with the spirit of the original and most philosophically challenging conception of enactivism, it is independently wellmotivated. Understanding basic cognitive capacities in a content-free way provides the right tools for resolving tensions in and answering persistent objections to other, more conservative, but ultimately highly problematic, enactivist proposals about the nature of experience.

74 75

Daniel D. Hutto: Folk Psychological Narratives: The Socio-Cultural Basis of Understanding Reasons, Cambridge 2008, ch. 3. Fodor: LOT 2 (as fn. 8), p. 182.

Alex Arteaga

DIE LEBEN DIGK EI T DES BILDES Ansätze einer enaktivistischen Begründung

Das Bild lebt. Dieses merkwürdige Diktum – merkwürdig, weil es nicht unbedingt mit dem gängigen Begriff von Leben übereinstimmt – wird zuerst intuitiv, aufgrund der besonderen Qualität der Erfahrung mit Bildern, formuliert. Das Bild – so der spontane Eindruck – verhält sich in seiner Interaktion mit dem Betrachter wie eine lebende Instanz. Diese Erfahrung bildet die Basis für die Kategorisierung des Bildes als lebend bzw. für die Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild1 in der nachträglichen Konzeptualisierung der besonderen Eigenschaften des Bildes, die in der Interaktion mit ihm unmittelbar festgestellt wurden. Der vorliegende Aufsatz stellt die Grundzüge eines Forschungsvorhabens dar, dessen Ziel darin besteht, eine theoretische Begründung der Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild zu formulieren. Dieser Text präsentiert die ersten Schritte dieses Forschungsvorhabens: die These, dass der enaktivistische Ansatz der Kognition einen effizienten theoretischen Rahmen für die Formulierung dieser Begründung bildet. Nach der Nennung der Zielsetzung und der Arbeitshypothesen werden diejenigen Aspekte des Enaktivismus vorgestellt, die für die Begründung der Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild relevant sind. Anschließend wird dieser theoretische Ansatz in seiner Relevanz für die Beschreibung der Interaktion mit 1

In diesem Text wird zwischen der Kategorisierung des Bildes als lebende Instanz und dem Zusprechen von Lebendigkeit zum Bild als zwei verwandte, jedoch grundsätzlich unterschiedliche theoretische Positionen differenziert. Während in der ersten ein Konzept von Leben angewandt werden muss, das erlauben soll, die Instanz „Bild“ als lebend zu bezeichnen, muss in der zweiten diese Voraussetzung nicht erfüllt werden. Es ist auf phänomenaler Ebene möglich, Lebendigkeit bzw. Lebhaftigkeit – (vgl. Thomas Khurana: Reflexives Leben: Biologie und Ästhetik um 1800. Über „Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit“, in: Texte zur Kunst (79), 2010, S. 177–182, S. 178) – einer nicht-lebenden Instanz zu attribuieren, ohne diese Attribution mit der Kompatibilität der Konzepte von Bild und Leben zu begründen.

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Bildern spezifiziert. Zum Schluss wird ein erster Versuch unternommen, diese Spezifizierung anhand eines konkreten Falls – der Emergenz des Bildes als Körper – beispielhaft darzustellen. Mit der hier formulierten Annährung wird gleichsam die Plausibilität des gesamten Projektes auf der Basis seiner initialen Formulierung zur Diskussion gestellt. Eine grundlegende These der Theorie des Bildaktes2 besteht darin, dass das Subjekt des Satzes „Das Bild lebt“ das physische Bild ist. Obwohl die Zuschreibung der Lebendigkeit zum Bild auf phänomenaler Ebene, d. h. im Bereich bewusster Erfahrung, stattfindet, ist das als Bild gestaltete und erkannte materielle Objekt3 die Instanz, welcher in diesem Kontext das Attribut „lebendig“ zugeschrieben werden soll. Die These der Lebendigkeit des physischen Bildes stützt sich jedoch in der Regel nicht auf eine theoretische Erklärung des Ursprungs dieser Zuschreibung. Stattdessen wird diese These im Rahmen der Interaktion mit dem Bild aus der Erfahrung seiner Aktion abgeleitet. Diese Ableitung kann folgendermaßen artikuliert werden: Da das Bild agiert, ist es lebendig. Das Agieren des Bildes wird wiederum aus der spezifischen Qualität der Erfahrung, die Betrachter in der Interaktion mit Bildern machen, deduziert. Derjenige, der mit einem Bild interagiert, tut es, als würde 2

3

Die Theorie des Bildaktes ist eine Handlungstheorie des Bildes, die im Rahmen der Kolleg-Forschergruppe Bildakt und Verkörperung der Humboldt Universität zu Berlin entwickelt wird. Für eine erste Formulierung dieser Theorie vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts, Berlin 2010. Für eine kurze Darstellung dieser Theorie vgl. Marion Lauschke, Bildakt, unter http://www.bildwissenschaft.org/ netzwerk/glossar/index.php/GIB_-_Glossar_der_Bildphilosophie:DFG-Netzwerk_ Bildphilosophie (08. 02. 2011). Mit den Formulierungen „physisches Bild“ und das als Bild gestaltete und erkannte materielle Objekt“ wird hier ein erster Versuch unternommen, Termini für die Artikulation der Differenzierung zu finden, die im Englischen durch die Wörter „picture“ und „image“ ausgedrückt wird. Während das erste Wort in der Regel den physischen Gegenstand bezeichnet, deutet das zweite auf eine phänomenale Instanz hin. Obwohl die von Husserl geprägten Begriffe „Bildträger“ und „Bildobjekt“ dieser Differenzierung zum Ausdruck verhelfen sollen und trotz der genealogischen Verwandtschaft zwischen diesen phänomenologisch geprägten Begriffen und den in diesem Aufsatz entwickelten Konzepten vom „physischem Bild“ und „Bild als Erfahrung“, werden die husserlschen Begriffe hier nicht verwendet. Die husserlsche Definition von Bildobjekt als „ein Erscheinendes, das nie existiert hat und nie existieren wird, das uns natürlich auch keinen Augenblick als Wirklichkeit gilt“ (Edmund Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, in: Husserliana, Bd. XXIII: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen, Den Haag/Boston/London 1980, S. I–108, S. 19) widerspricht gänzlich dem Konzept von Bild als Erfahrung, da dieses die Wirklichkeit beim Interagieren mit dem physischen Bild bildet. Für eine weitere Beschreibung der husserlschen Begriffe siehe Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Frankfurt/M. 2005.

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DIE LEBENDIGKEIT DES BILDES

er mit einem animierten Wesen und nicht mit einem toten Objekt interagieren. Das Bild lädt den Betrachter ein, es zwingt ihn sogar, sein Verhalten zu modifizieren, seine Fragestellungen, seine Meinungen, den Kurs seiner Gedanken, die Perspektive seiner Betrachtung, seiner Position und seiner Bewegung im Raum zu ändern. Das Bild liefert unerwartete Antworten auf Fragen, die vor der Bildbetrachtung nicht formuliert werden konnten. Diese interaktive Erfahrung, welche eine besondere Modalität der allgemeinen adaptiven Modifikation des Verhaltens in Interaktion mit der objekthaften Umgebung bildet, erweckt beim Betrachter den Eindruck, er würde mit einer ihm gleichen, mit einer lebendigen Instanz interagieren. Dies ist die Art von Interaktion, die zwischen dem Betrachter und dem Bild als Erfahrung stattfindet. Wenn aber der Betrachter nicht mit dem Bild als Erfahrung interagiert, sondern sich mit dem physischen, materiellen Objekt, das, wie später erklärt wird, eine der Bedingungen für seine Emergenz auf phänomenaler Ebene konstituiert, auseinandersetzt, kann er nichts anderes tun, als zu akzeptieren, dass das physische Bild tote Materie ist. Das Gegenteil zu behaupten würde dem gängigen Konzept von Leben – dem Konzept von Leben, mit dem ein Betrachter gewöhnlich operiert – zutiefst widersprechen. Hier wird das Paradox erkennbar, mit dem man konfrontiert ist: gestaltete bzw. geformte und dennoch tote Materie wirkt lebendig. Es gibt drei Möglichkeiten, dieses Paradox aufzulösen: erstens den Begriff „Leben“ metaphorisch zu benutzen: Obwohl man weiß, dass das physische Bild nicht lebt, bejaht man eben metaphorisch, dass das Bild lebt; zweitens den Begriff des Lebens umzudeuten, d. h. ihn so zu erweitern, dass das physische Bild als lebend kategorisiert werden kann; und drittens eine Begründung der Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild zu formulieren, die nicht in Widerspruch mit der Kategorisierung des physischen Bildes als tote Materie steht. Dies impliziert, eine plausible Argumentation zu entwickeln, die ermöglicht, einem nicht-lebenden Objekt Lebendigkeit zuzuschreiben. Letzteres ist die Option, die das Hauptziel des vorliegenden Forschungsvorhabens bildet: die Konzeption einer Begründung der Zuschreibung von Lebendigkeit zum physischen Bild. Die Kernidee dieser Begründung besteht darin, das physische Bild als konstitutiven Faktor des Lebensprozesses zu bestimmen. Im Rahmen der Entwicklung der Theorie des Bildaktes wird ebenso die zweite Option – die erweiternde Umdeutung des Lebenskonzeptes – berücksichtigt.4 Beide Möglichkeiten können als komplementäre theoretische Ent4

Vgl. Bredekamp: Theorie des Bildakts (wie Anm. 2), insbesondere das Kapitel VI. Als eine wichtige Grundlage der Argumentation von Bredekamp vgl. Charles Sanders Peirce: Reasoning and the Logic of Things. The Cambridge Conferences Lectures of 1898, hg. v. Kenneth Laine Ketner, Cambridge/Ma./London 1992.

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wicklungen zur Begründung der Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild auf der Grundlage der Kontinuität zwischen dem Physischen und dem Phänomenalen verstanden werden. Einerseits die Unterscheidung zwischen diesen beiden Ebenen als Beschreibungsmodalitäten – d. h. nicht als ontologische Kategorien – und andererseits die Konzeption ihres Verhältnisses als gegenseitig transformierende Zirkulation bilden fundamentale Aspekte für die Entwicklung des hier dargestellten Ansatzes.5 Ein zweites Ziel ist die Erklärung des Zusammenhangs der Zuschreibung von Lebendigkeit zum physischen Bild und seiner Form. Die Fragen, die hier zu beantworten sind, lauten: Hat die Form des physischen Bildes eine Funktion bezüglich der Attribution von Lebendigkeit? Und wenn ja, welche ist diese Funktion? Drei Hypothesen bilden die Grundlage für die Erfüllung des formulierten Forschungsvorhabens. Die erste Hypothese, die den allgemeinen theoretischen Rahmen der Forschung darstellt, lautet: Die Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild sowie der Zusammenhang zwischen dieser Zuschreibung und der Form des physischen Bildes können im Rahmen des Enaktivismus begründet werden. Die zweite Hypothese lautet: Der Kognitionsprozess – enaktivistisch dargelegt als sense-making – bildet die Basis für die Begründung der Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild. Die dritte Hypothese lautet: Die Form des physischen Bildes ist ein entscheidender Faktor für die Zuschreibung von Lebendigkeit zu diesem. Der Enaktivismus ist ein kognitionstheoretischer Ansatz, der 1991 von Francisco Varela, Evan Thompson und Eleanor Rosch in ihrem Buch The Embodied Mind formuliert wurde. Wie der Titel der deutschen Fassung zeigt – Der mittlere Weg der Erkenntnis –, bildet dieser Ansatz eine Alternative zu den großen kognitionstheoretischen Paradigmen: Realismus und Konstruktivismus. Der realistischen kognitionstheoretischen Auffassung nach sind Subjekt und Objekt zwei ontologische Kategorien bzw. zwei an sich existierende Instanzen, deren Existenz nicht voneinander abhängt – zwei gegebene Instanzen –, die primär durch den Erkenntnisprozess zueinander ins Verhältnis treten. Erkennen wird in diesem Kontext als Repräsentation, als Abbildung der Objekte im Inneren der Subjekte mittels deren Kognitionssystem verstanden. 5

Dieser Ansatz entspricht dem Ausgangspunkt von Varela, Thompson und Rosch in der Formulierung des Enaktivismus. Dieser Ausgangspunkt besteht aus der Definition der zweifachen Bedeutung von Verkörperung („double sense of embodiment“) als Zirkulation zwischen dem Körper als Erfahrung („body as lived, experiential structure“) und dem physischen Körper („body as physical structure“). Vgl. Francisco Varela/Evan Thompson/Eleanor Rosch: The Embodied Mind: Cognitive science and human experience, Cambridge/Ma. 1991, S. xv–xvi.

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Im enaktivistischen Kontext dagegen werden weder Subjekt noch Objekt ontologisch behandelt, sondern ausschließlich als aktive Bedingungen des Kognitionsprozesses aufgefasst. Dieser Prozess wird nicht als die Repräsentation bzw. Abbildung der Objekte im Inneren des Subjektes mittels des Kognitionssystems begriffen, sondern als ein Prozess von simultaner Emergenz bzw. Ko-Emergenz beider Instanzen als Sinn auf der Basis der formalen Kopplung beider.6 Der Enaktivismus ist dennoch kein Konstruktivismus. Für die Konstruktivisten sind die Objekte – die objektive Realität – das Ergebnis subjektiver Kognition. Während im Realismus das Objekt die vorrangige Kategorie ist und das Subjekt auf die Funktion eines passiven Abbildenden reduziert wird, wird im Konstruktivismus der Primat des Subjektes als Konstrukteur objektiver Realität postuliert. Der Enaktivismus bricht mit einem solchen Solipsismus, wie ihn der Konstruktivismus voraussetzt, indem er die Bestandteile der Umgebung einer lebenden Einheit als aktiv mitkonstituierende Instanzen in der Emergenz von Wirklichkeit deutet. Um einen einführenden Überblick über die Alternative zu diesen zwei Paradigmen, die der enaktivistische Ansatz bildet, in Bezug auf die erwähnten Arbeitshypothesen zu ermöglichen, erscheint es angebracht, die Theorie der Autopoiesis – eine der Grundlagen für die Konzeption des Enaktivismus – darzulegen. Die ursprüngliche Motivation des Begründers dieser Theorie – der chilenische Biologe Humberto Maturana – bestand in der Identifizierung von Kriterien, die ermöglichen sollten, das Lebende – eine lebende Einheit – als solches zu bezeichnen. Es ging Maturana nicht darum, das Lebende überhaupt als solches zu identifizieren. Wie im Falle der Interaktion mit dem Bild erfolgte bei Maturana diese Identifizierung des Lebenden oder zumindest der Lebendigkeit spontan: „We had to accept that we could recognize living systems when we encountered them.“7 Die konkreten Fragen, die Maturana Ende der 60er Jahre formulierte, lauten: What is proper to living systems that has its origin when they originated, and has remained invariant since then in the succession of their generations?“8 Diese Perspektive führte zur Bestimmung von Kriterien, die laut Maturana notwendig und hinreichend für die Bezeichnung einer Instanz als lebend sein sollten.

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In der ursprünglichen Formulierung der Theorie der Autopoiesis wird diese Kopplung „strukturelle Kopplung“ genannt (vgl. Humberto Maturana/Francisco Varela: Autopoiesis and Cognition: The realization of the living, Boston 1980). Hier wird der Terminus „Struktur“ durch „Form“ substituiert. Siehe dazu Anm. 12. Manturana/Varela: Autopoiesis and Cognition (wie Anm. 5), S. xviii. Ebd. S. xii.

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Maturana identifizierte drei Kriterien, die notwendig und hinreichend sind, um eine Einheit als lebend zu bezeichnen. Diese drei Kriterien, die hier in einer späteren Formulierung von Francisco Varela präsentiert werden, bilden den konzeptuellen Kern der Theorie der Autopoiesis. Eine lebende Einheit wird als eine autopoietische Einheit definiert, und die Kriterien für ihre Kategorisierung als solche wurden folgendermaßen zusammengefasst: „For a system to be autopoietic, (i) the system must have a semipermeable boundary; (ii) the boundary must be produced by a network of reactions that takes place within the boundary; and (iii) the network of reactions must include reactions that regenerate the components of the system.“9 Im Kontext des vorliegenden Aufsatzes ist es wichtig, eine allgemeine Vorstellung des Kognitionsmodells zu gewinnen, das nach der Bestimmung einer autopoietischen Einheit entwickelt wurde. Dafür ist es adäquat, eine Zelle – der paradigmatische Fall einer autopoietischen Einheit –, die sich in einer Umgebung befindet, als Beispiel zu nehmen. Der Beobachter dieser Zelle kann zwischen Zelle und Umgebung dank der zellularen Membran unterscheiden. Diese Membran hat aber nicht nur für den Beobachter eine Funktion, sondern selbstverständlich auch für die Zelle selbst. Für die Zelle hat die Membran, eben weil sie halbdurchlässig ist, eine doppelte Funktion: Sie bildet zwei Bedingungen für die physische Spezifizierung der eigenen Organisation der Zelle – ihre operational closure10: das Netzwerk von Prozessen, welche die Komponenten generieren und regenerieren, die diese Prozesse selbst hervorrufen –, indem sie einerseits den Raum für die Vergegenwärtigung dieser Organisation eingrenzt und andererseits den notwendigen Austausch mit der Umgebung der Zelle ermöglicht. Der Begriff „Organisation“ bezeichnet hier in formalen Begriffen die dynamischen Relationen zwischen den Komponenten einer Instanz. Die Zelle ist autonom,11 weil sie ihre eigene Organisation besitzt, aber sie ist dennoch von ihrer Umgebung nicht unabhängig. Ihre

9 10 11

Francisco Varela: El fenómeno de la vida, Santiago de Chile 2000, zit. n. Evan Thompson: Mind and Life: biology, phenomenology and the science of mind, Cambridge/Ma. 2007, S. 101. Vgl. Francisco Varela: Principles of Biological Autonomy, New York 1979; Francisco Varela: Patterns of life: intertwining identity and cognition, in: Brain and Cognition (34), S. 72–87 und Varela/Thompson/Rosch: The Embodied Mind (wie Anm. 5). Zum Verhältnis zwischen Autonomie und Autopoiesis siehe Evan Thompson/Mog Stapelton: Making Sense of Sense-Making: Reflections on Enactive and Extended Mind Theories, in: Topoi (28), 2008, S. 23–30. Obwohl die feine Differenzierung zwischen beiden Begriffen, so wie sie im zitierten Aufsatz formuliert wurde, entscheidend für eine genaue Beschreibung des Enaktivismus ist, werden sie im vorliegenden Text zugunsten der zur Darstellung des erwähnten Forschungsvorhaben angemessenen Einfachheit der Erklärung dieses kognitiven Ansatzes als Synonyme verwendet.

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Form12 wird ständig durch die Interaktion mit ihrer Umgebung aktualisiert. Der Unterschied zwischen Organisation und Form ist hier entscheidend. Während der Begriff der Organisation auf abstrakter phänomenaler Ebene bestimmt wird, d. h. als die Abstraktion der Betrachtung des dynamischen Verhältnisses zwischen den Komponenten einer Instanz, wird der Begriff der Form auf konkreter Ebene als die physische Vergegenwärtigung ihrer Organisation definiert. Während die Organisation der Zelle abstrakt, d. h. unabhängig von ihren gegenwärtigen physischen Bedingungen vorhanden ist, entsteht die Form der Zelle aus dem Zusammenwirken dieser Bedingungen. Die aktuelle Verfassung der Zelle, die gegenwärtige physische und topologische Spezifizierung ihrer Organisation, d. h. ihre aktuelle Form, emergiert aus der Interaktion zwischen ihrer eigenen, bereits vorhandenen Form und der Form ihrer Umgebung im Rahmen der Möglichkeiten, die durch ihre jeweilige Organisation bestimmt sind. Und genauso geschieht es mit der Umgebung: ihre aktuelle Form emergiert aus der Interaktion zwischen ihrer bereits vorhandenen Form und der Form der Zelle. Die jeweiligen Organisationen der Zelle und der Umgebung definieren ausschließlich die Domäne der möglichen Interaktionen zwischen den Formen beider Instanzen und bilden somit, im Zusammenwirken mit ihrer bereits vorhandenen Form und der aktuellen Form ihrer Umgebung, eine Bedingung ihres Formungsprozesses, d. h. eine Bedingung der physischen Vergegenwärtigung ihrer Organisation. Zelle und Umgebung in ihrer jeweiligen physischen Aktualität ko-emergieren aufgrund ihrer formalen Kopplung. Keine der beiden Instanzen ist in diesem Prozess vorrangig. Beide bilden gegenseitig die Bedingungen der Möglichkeit ihrer jeweiligen Aktualität. Dieser Prozess von simultaner Vergegenwärtigung der Organisation einer autopoietischen Einheit und ihrer Umgebung auf physischer Beschreibungsebene findet ihre strukturelle Entsprechung auf phänomenaler Ebene, d. h. auf die Art und Weise, wie jemandem seine Umgebung und er sich selbst erscheinen. Die Instanzen, die auf dieser Beschreibungsebene interagieren, sind nicht physischer bzw. biologischer, sondern mentaler Art: der Erfahrende als Selbst und seine Umgebung als Erfahrung. Da beide Instanzen im Verhältnis von reziprok adaptiver Kopplung stehen, bedingen sie sich auf dieser 12

Im Rahmen der Theorie der Autopoiesis wird der Begriff „Struktur“ verwendet, um das zu bezeichnen, was hier „Form“ genannt wird. Diese terminologische Substitution wird in der Spezifizierung dieses Modells für das Verhältnis zwischen Bild und Betrachter ermöglicht, dieselbe Bezeichnung für die Beschreibung des Bildes und seines Betrachters anzuwenden, und trägt somit dazu bei, beide Instanzen auf einer funktionalen Ebene als gleichwertig zu behandeln. Der terminologische Transfer findet hier zum ersten Mal in entgegengesetzter Richtung statt: von der Kunsttheorie zur Kognitionstheorie.

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Basis gegenseitig im Prozess ihrer simultanen Emergenz. Im Rahmen dieses Transformationsprozesses, d. h. in der Ko-Emergenz der phänomenalen Existenz der autopoietischen Einheit und seiner Umgebung aufgrund ihrer Interaktion findet die Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild statt: Der Bildbetrachter wird in seiner eigenen Erfahrung als Selbst transformierend konstituiert, indem er ein Bild, das genauso durch dieses Erfahren als Erfahrung transformierend konstituiert wird, erfährt. Aufgrund der zuerst intuitiven Feststellung dieser doppelten und simultanen Transformation in Interaktion mit dem Bild schreibt der Betrachter diesem Lebendigkeit zu. Der enaktivistische Ansatz postuliert, dass beide Betrachtungsebenen in einem Verhältnis von gegenseitig transformativer Kontinuität zueinander stehen. Die jeweilige Organisation und ihre physische und topologische Vergegenwärtigung – die Form – der autonomen Einheit und ihrer Umgebung bilden konstitutive Bedingungen ihrer simultanen Emergenz als Selbst und Umwelt. Genauso bilden das emergierende Selbst und seine Umwelt Bedingungen für die Vergegenwärtigung beider Instanzen auf physischer Ebene. Die Spezifizierung der autopoietischen Einheit und ihrer Umgebung, die auf zwei differenzierten Ebenen beschreibbar ist, lässt sich daher als singulärer Prozess deuten. Dieser Prozess ist der Lebensprozess, der, enaktivistisch formuliert, als Prozess von sense-making verstanden wird. Diese dynamische Kontinuität, die Thompson als „the deep continuity of life and mind“ bezeichnet und die in der Proposition von Varela „living is sense-making“ ihre dichteste Formulierung findet,13 bildet den Kern dieses kognitionstheoretischen Ansatzes und die Grundlage der hier angestrebten Begründung der Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild. „Sinn“ ist, enaktivistisch gedeutet, als die Richtung 14, in der sich die Vergegenwärtigung der Organisation einer autopoietischen Einheit und ihrer Umgebung sowohl auf physischer als auch auf phänomenaler Ebene ergibt, zu

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Der Zusammenhang dieser Formulierung mit der Theorie der Autopoiesis zeigt sich im folgendem Satz: „Varela had also [wie Jonas] in mind such existential continuity when he reformulates Maturana’s (1970) proposition, ‚living is a process of cognition‘ as the proposition, ‚living is sense-making‘“. Thompson: Mind in Life (wie Anm. 10), S. 157. Zitierte Werke: Humberto Maturana: Biology of Cognition, in Maturana/Varela: Autopoiesis and Cognition (wie Anm. 5), S. 2–58; Francisco Varela: Organism: a meshwork of selfless selves, in: Alfred I. Tauber: Organism and the Origin of Self, Dordrecht 1991, S. 79–107; Varela: Principles of Biological Autonomy (wie Anm. 11); Andreas Weber/Francisco Varela, Life after Kant: natural purposes and the autopoietic foundations of biological individuality, in: Phenomenology and the Cognitive Sciences (1), S. 97–125. Die semantische Nähe zwischen „Sinn“ und „Richtung“ drückt sich sowohl im Englischen (sense) als auch im Französischen (sens), im Spanischen (sentido) und Portugiesischen (sentido) besser als im Deutschen aus.

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verstehen. „Richtung“ bezeichnet hier die Tendenz der Transformation beider Instanzen und kann daher als vektorieller Aspekt dieser Transformation gedeutet werden. Der Vektor der transformativen Vergegenwärtigung von Einheit und Umgebung ist weder intrinsisch zu einer dieser Instanzen noch teleologisch determiniert. Er ergibt sich aus und in der interaktiven Adaptation zwischen beiden und ist folglich, wie bereits beschrieben, ausschließlich von ihrer jeweiligen Organisation und von der Plastizität ihrer vorhandenen Vergegenwärtigung bedingt. „Sinn“ ist demzufolge hier grundsätzlich nicht als eine begriffliche Instanz zu verstehen, sondern als die vektorielle, relationale Eigenschaft eines Prozesses, die sich aus dem Prozess selbst ergibt. Diese Eigenschaft konkretisiert sich in der Transformation der Einheit und der Umgebung; sie ist erst durch diese Konkretisierung erkennbar. Beispiele solcher Transformationen sind die Bewegung einer oder beider Instanzen, die Veränderung ihrer Form, die Prägung eines Begriffes oder die (Um)formung eines Bildes. Anhand der Realisation der Richtung der Transformation als die Transformation selbst15 erlangen beide Instanzen relationalen operativen Wert, d. h. Valenz – Richtung – für ihr weiteres Interagieren. Insofern beide Instanzen aus ihrer Interaktion emergieren, entsteht die Richtung der Transformation aus dem Transformationsprozess selbst. Die beispielhaft erwähnten Konkretisierungen des Transformationsprozesses sind folglich nicht objekthaft, sondern als temporär stabile Konfigurationen des Prozesses selbst zu verstehen, aus dem sie emergieren. Der Prozess von sense-making ist im engeren Sinn kein Produktionsprozess, da nichts aus dem Prozess selbst geführt 16 wird. Als Zeichen verwirklichter Richtung sind diese Konkretisierungen erkennbare Phänomene, die zeigen, wie es weitergeht. Sie sind daher Ausdruck der Dynamik des ganzen Transformationsprozesses, des Prozesses von sense-making, des Lebensprozesses. Sie sind Ausdruck ihrer Lebendigkeit. Diesem Modell nach lässt sich der Lebensprozess als simultane Vergegenwärtigung der lebenden Einheiten und ihrer Umgebung durch gegenseitige Anpassung zugleich auf physischer und phänomenaler Ebene verstehen. Leben 15

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Mit dieser Formulierung wird versucht, einen Ausdruck für die Gleichzeitigkeit der Entstehung der Richtung der Transformation und ihrer Realisierung zu finden. Wie oben beschrieben, entsteht die Richtung der Transformation aus der Transformation selbst und diese erfolgt in eine – seine – Richtung. Die Differenz zwischen dem Moment der Entstehung der Richtung der Transformation und dem Moment der Realisation der Transformation selbst ist ausschließlich begrifflicher Art, d. h. wird durch ihre begriffliche Erschließung generiert. Produzieren stammt aus dem lateinischen producere: nach außen führen. Dieser Argumentation zufolge sollte der Begriff „making“ nicht als eine produzierende Handlung interpretiert werden. Obwohl sie ihre klare Direktheit zum Teil dadurch verliert, könnte die Proposition von Varela „living is sense-making“ als „living is emergence of sense“ umformuliert werden.

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ist somit der kontinuierliche relationale Prozess von Transformation der aus ihrer anpassenden Kopplung emergierenden physischen und phänomenalen Vergegenwärtigung der jeweiligen Organisation von autopoietischen Einheiten und ihrer Umgebung. Um die verschiedenen Arten der Beteiligung der lebenden gegenüber nicht-lebenden Instanzen an diesem Prozess zu differenzieren, ist der Unterschied ihrer Organisationsmodalitäten von Bedeutung. Die lebenden Instanzen sind aufgrund ihrer autopoietischen Organisation als solche bestimmt. Die Organisation der nicht-lebenden Instanzen, die die Umgebung der ersten konstituieren, ist dagegen allopoietisch bzw. heteropoietisch.17 Dieser grundlegende Unterschied hat entscheidende Auswirkung auf die Art von Aktivität, die beide Typen von Instanzen im Prozess ihrer gegenseitigen Spezifizierung ausüben. Um dies zu erklären, muss eine weitere Charakteristik autopoietischer bzw. autonomer Einheiten eingeführt werden: „they are internally selfconstructive in such a way as to regulate actively their interaction with the environments.“18 Die Regulierung der Interaktion mit der Umgebung wird von Thompson und Stapelton zudem als die Definition einer eigenen Umwelt 19 konkretisiert und noch spezifischer als das Hervorbringen der eigenen Domäne von Bedeutung und Wert 20 gedeutet. Obwohl die autopoietische Organisation der lebenden Einheiten unabdingbare Voraussetzung für die Emergenz von Sinn ist, ist hierbei essentiell zu betonen, dass Sinn nicht die einseitige Kreation lebender Instanzen ist, sondern eben emergierendes Ergebnis ihrer Interaktion mit ihrer Umgebung. Wie bereits erklärt, ist die autopoietische Einheit aufgrund ihrer eigenen Organisation autonom, weil das Netzwerk ihrer eigenen konstitutiven Prozesse nicht nur sich selbst, sondern auch den Austauschprozess mit seiner Umgebung regulieren kann. Die autopoietische Einheit ist jedoch, wie ebenso erklärt, nicht unabhängig. Im Rahmen des notwendigen Austauschs mit ihrer Umgebung, welcher die Abhängigkeit zwischen beiden Instanzen schafft, bilden die Bestandteile dieser Umgebung innerhalb 17

18 19 20

Eine allopoietische Instanz wird hier im Sinne von Thompson als „[Something] that is produced by processes other than those that constitute its own operation“ definiert und eine heteropoietische Instanz als Allopoietic systems that arise in the realm of human design, such as cars and digital computers“. Vgl. Thompson: Mind and Life (wie Anm. 7), S. 98. Physische Bilder sind somit allopoietisch, wenn sie nicht von Menschen geschaffen sind, und heteropoietisch, wenn sie von Menschen produziert werden. Thompson und Stapelton: Making Sense of Sense-Making (wie Anm. 9), S. 24. An autonomous system is a system composed of processes that generate and sustain that system as a unity and thereby also define an environment for the system.“ (Ebd.). […] autonomous agents – beings that actively generate and sustain themselves, and thereby enact or bring forth their own domains of meaning and value“, (ebd. S. 23).

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DIE LEBENDIGKEIT DES BILDES

der Möglichkeitsdomäne, die ihre allopoietische bzw. heteropoietische Organisation hervorruft, ebenso aktive Bedingungen der Emergenz von Sinn. Sie sind somit als Bedingung aktiv im Prozess von sense-making beteiligt. Sinn ist der vektorielle Aspekt des Prozesses von Ko-Emergenz mehrerer Instanzen aufgrund ihrer Interaktion und nicht das Ergebnis der Aktion einer einzelnen Instanz. Wenn sense-making als Handlung verstanden wird, sollten die mit den lebenden Einheiten interagierenden Instanzen auch als Handelnde gedacht werden.21 Die allopoietische bzw. heteropoietische Instanzen agieren im Lebensprozess als Bedingungen des Agierens der autopoietischen Instanzen. Mit Blick auf das hier anvisierte Forschungsvorhaben, die Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild aufgrund der Interaktion zwischen Bild und Betrachter, erscheint es plausibel, das physische Bild als einen mit eigener Form versehenen Bestandteil der Umgebung eines Betrachters zu verstehen. Die Interaktion zwischen Bild und Betrachter lässt sich auf zwei miteinander konstitutiv verbundenen und sich simultan entwickelnden Ebenen beschreiben: einerseits als Interaktion zwischen dem Bild als Form und dem Betrachter als Körper und andererseits als Interaktion zwischen dem Bild als Erfahrung und dem Betrachter als Selbst. Wenn das Bild heteropoietische Organisation besitzt und sein Betrachter zugleich sein Gestalter ist, entspricht ihre Interaktion derjenigen zwischen Zelle und ihrer organischen Umgebung: Bild und Betrachter ko-emergieren als Form aus der Interaktion zwischen ihren emergierenden Formen. Die Instanzen, die in Interaktion treten, sind bereits Emergenzen dieser Interaktion. Auch in diesem Fall ist nicht von einer einseitigen Kreation durch die autopoietische Einheit – der Betrachter/Gestalter – zu sprechen, weil das Material des physischen Bildes als grundlegende Manifestation seiner eigenen Organisation seinen Formungsprozess, mitbestimmt. Unabhängig von der Art der Organisation des Bildes, d. h. unabhängig davon, ob dieses von seinem Betrachter mitgeformt wird oder nicht, ist in der Emergenz von Bild und Betrachter auf phänomenaler Ebene die Kontinuität zwischen dem Physischen und dem Phänomenalen festzustellen. Aus der gegenseitigen Anpassung zwischen physischem Bild und Betrachter als Körper und zugleich aus der anpassenden Kopplung zwischen dem als Erfahrung emergierenden Bild und dem als Selbst emergierenden Betrachter emergieren 21

Damit ist eine Erweiterung der Zuschreibung der Produktion von Sinn ausschließlich zum Agieren der lebenden Einheiten, die in der folgenden Formulierung von Thompson und Stapelton ausgedrückt wird, zugunsten des von Thompson selbst beschriebenen emergenten Charakters von Sinn vorgeschlagen: „Sense-making is behaviour or conduct in relation to environmental significance and valence, which the organism itself enacts or brings forth on the basis of its autonomy.“ Vgl. Thompson/Stapelton: Making Sense von Sense-Making (wie Anm. 12), S. 25.

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ALEX ARTEAGA

letztere simultan. Das Bild als Erfahrung ebenso wie das Selbst des Betrachters sind ihre eigenen aus ihrer gegenseitigen Interaktion, sowohl auf physischer als auch auf phänomenaler Ebene, emergierenden Prozesse von Emergenz. Diese generative – besser: transformative, denn es handelt sich hier um einen kontinuierlichen Prozess ohne identifizierbaren Anfang – Dynamik lässt sich mit dem folgenden Schema darstellen.

Auf der Grundlage dieser abstrakten Charakterisierung des Verhältnisses zwischen Bild und Betrachter auf physischer und phänomenologischer Ebene findet eine weitergehende Spezifizierung der dargelegten Hypothesen in drei aufeinander aufbauenden Schritten statt. Erstens: Der Grund der Zuschreibung von Lebendigkeit zum Bild ist in der intuitiven Feststellung seiner aktiven Teilnahme an der transformierenden Dynamik des Lebens zu finden. Dem Bild wird Lebendigkeit zugeschrieben, weil in der Interaktion mit ihm erkannt wird, dass das Bild konstitutiver Bestandteil des Lebensprozesses – als Prozess von sense-making verstanden – ist. Zweitens: Die Form des Bildes, als die Spezifizierung ihrer Organisation auf physischer Ebene bestimmt, ist für diese Dynamik als Bedingung konstituierend. Das aktive Konditionieren, welches das physische Bild anhand seiner Form in der Ko-Emergenz von Bild als Erfahrung und vom Betrachter als Selbst ausübt, ist der Bildakt. Folglich sollte der genaue Akt eines konkreten Bildes, d. h. sein Beitrag zur Emergenz eines konkreten Sinns als Bild und als Selbst seines Betrachters, auf Grund der Analyse der Form des physischen Bildes im Kontext seiner Emergenz als Sinn, d. h. nicht durch reine Formalanalyse begriffen werden können. Und drittens: das Konzept der Emergenz bildet die Basis für die Spezifizierung der Modalität von Aktion, die das physische Bild ausübt: das Konditionieren des laufenden Prozesses von Emergenz des Bildes und des Betrachters als Sinn, d. h. als temporäre Manifestation der Richtung seiner eigenen Emergenz. Folglich sind die Akte von Bild und Betrachter bezüglich ihrer Funktion im Prozess der Emergenz von Sinn gleichzusetzen: Beide bilden seine konstituierenden Bedingungen.

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DIE LEBENDIGKEIT DES BILDES

Das dargelegte Modell zur Begründung der Lebendigkeit des Bildes lässt sich anhand eines Beispiels konkreter darstellen. Dieses Beispiel soll dazu beitragen, die enaktivistischen Begriffe von „Sinn“ und „Sinnemergenz“ – sense und sense-making – zu verdeutlichen. Das zu diesem Zweck häufig verwendete Beispiel ist das des konsekutiven Einfügens zweier verschiedener Substanzen in die Umgebung einer freibeweglichen Bakterie.22 Im ersten Fall bewegt sich die Bakterie in die Richtung der eingefügten Substanz und im zweiten Fall in entgegengesetzter Richtung. In diesem Beispiel ist die adaptive Bewegung der Bakterie gegenüber den eingefügten Substanzen die Aktion, welche beide, sowohl die Bakterie als auch die eingefügten Substanzen, in ihrer Relation mit Sinn prägt. Die Richtung der Veränderung der relationalen Topologie der Bakterie transformiert die erste Substanz in „Nahrung“ und die Bakterie in „Verbraucher“ dieser Substanz und die zweite in „Gift“ und die Bakterie in ein mit dieser Substanz „inkompatibles“ Wesen. Präziser ausgedrückt: Die Veränderung der relationale Topologie der Bakterie jeweils in einer Richtung ist der Sinn der Bakterie und der Substanzen in ihrer Relation. Dieser Sinn, der sich auf physischer Ebene als gerichtete Bewegung beschreiben lässt, lässt sich auf phänomenaler Ebene – auf der Ebene der Beobachtung eines Betrachters – mit den Begriffen „Nahrung“, „Verbraucher“, „Gift“ und „inkompatibel“ beschreiben. Thompson und Stapelton fassen dieses Verfahren bezüglich der ersten Aktion der Bakterie prägnant zusammen: „The significance and valence of sugar are not intrinsic to the sugar molecules; they are relational features, tied to the bacteria as autonomous unities. Sugar has significance as food, but only in the milieu that the organism itself enacts through its autonomous dynamics.“23 Dies zeigt, dass „Sinn“ im enaktivistischen Kontext als die operativen, relationalen Eigenschaften interagierender Instanzen, d. h. als ihr funktionaler Wert für ihr gegenseitiges adaptives Agieren zu verstehen ist. Die Emergenz des Sinns „Körper“ aus der Interaktion eines Betrachters mit einem physischen Bild – was normalerweise als das „Bild eines Körpers“ oder als „Körperbild“ bezeichnet wird – lässt sich aufgrund dieses Modells erklären. Im Folgenden wird dieser Prozess anhand der Kombination einer narrativen Darstellung ihrer Entfaltung und einer Reihe von Bildern24 beschrieben. Das Zusammenwirken beider Medien soll zur Effizienz der Emergenz von Sinn des enaktivistischen Sinnbegriffs beitragen.

22 23 24

Vgl. ebd. S. 74 f. und 157 f. sowie Thompson/Stapelton: Making Sense of SenseMaking (wie Anm. 9), S. 24 f. Ebd. S. 25 (Hervorhebung im Original). Die Bilder sind Teil einer vom Autor im Musée Rodin realisierten Reihe fotografischer Aufnahmen.

Ein Körper bewegt sich in einem Raum. Die spezifi­ sche Bewegung dieses spezifischen Körpers in diesem spezifischen Raum ergibt sich als Manifestation der Anpassung des ersten zum zweiten aus der Interak­ tion zwischen beiden aufgrund ihrer formalen Kopp­ lung. Die Richtung dieser Bewegung, emergierend aus der Interaktion zwischen Körper und Raum, konstitu­ ier t den Sinn von Körper und Raum auf der physi­ schen Beschreibungsebene und bildet zugleich eine Bedingung der simultanen Emergenz dieses Körpers und dieses Raums auf phänomenaler Ebene. Der Kör­ per erkennt zugleich sich selbst als Selbst und den Raum als diesen spezifischen Raum – und weiter: die­ sen Raum z.B. funktional als „Ausstellungsraum“ –, in und mit dem er sich bewegt, aufgrund ihrer Interak­ tion auf physischer und phänomenaler Ebene. Dieser mehrschichtige, relationale Prozess von Sinnprägung ermöglicht diesem Körper, sich im Raum zu bewegen und zwar ohne zu stolpern, in der gewünschten Rich­ tung, zum gewählten Or t und kohärent mit seiner Ab­ sicht – z. B. ein Bild anzuschauen. Er ermöglicht ihm, sich in einer sinn­vollen Weise zu bewegen. Bewe­ gung, Körper und Raum stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingung: sie emergieren gleichzeitig, sie werden zugleich vergegenwär tigt und werden kontinuierlich dadurch zur aktuellen Bedingung eines reziproken Vergegenwär tigungsprozesses.

Der sich in diesem Zusammenhang bewegende Kör­ per begegnet einem Gegenstand als eine neue Spezi­ fizierung seiner Umgebung. Er begegnet dem, was man spontan das „Bild eines Körpers“ nennen würde. Der Körper begegnet diesem Gegenstand in seiner aktuel­ len physischen Spezifizierung, in seiner aktuellen Form. Der Körper in seiner Gegenwär tigkeit koppelt sich mit dieser Form und interagier t mit ihr. Aufgrund dieser Kopplung wird sie Bedingung seines Agierens und somit seiner Vergegenwär tigung. Die Form des Bildes konditionier t den ununterbrochenen Verge­ genwär tigungsprozess des mit ihr interagierenden Körpers – sie konditionier t seine Verkörperung –, und dieser Akt – der Bildakt – in Relation zu der aktiven Regulierung der inneren Aktivität des Körpers und seines Austauschs mit der Umgebung konditionier t zugleich die Richtung der simultan emergenten Verge­ genwär tigung des Körpers und des Bildes als Phäno­ men, d. h. die Emergenz des Körpers als Bildbetrachter und des Bildes als Körper in ihrer Aktualität. Der Vergegenwär tigungsprozess des Körpers – seine Verkörperung – folgt adaptativ den Formen des Bil­ des. Aus der Richtung dieser adaptiven Bewegung emergier t zugleich die phänomenale Vergegenwär ti­ gung von Körper und Bild wiederum in einer Richtung, mit einem Sinn.

Der Körper findet seine Entsprechung in der Form des Bildes, mit dem er interagier t. In seiner gegenüber dieser Form adaptiven Bewegung erkennt er seine eigene Bewegung. Die als physisches Bild formalisier te Körperbewegung begegnet der Bewegung des mit ihr interagierenden Körpers und aus der Erfahrung dieser formalen Kopplung emergier t das Bild als Körper – das Bild eines Körpers, ein Körper als Bild – als spe­ zifische phänomenologische Vergegenwär tigung des Bildes, als erkennbare Manifestation der Richtung sei­ nes Vergegenwär tigungsprozesses. Das physische Bild spiegelt den mit ihm interagieren­ den Körper jedoch nicht. Das physische Bild als Instru­ ment der Konditionierung seiner Interaktion mit dem ihm betrachtenden Körper trägt zu seiner eigenen Emergenz auf phänomenologischer Ebene als Körper bei. Der Körper bringt den Sinn „Körper“ als erkenn­ bare Manifestation der Richtung, die aus seiner Interaktion mit dem als Körper geformten physischen Bild emergier t, aufgrund der transformierenden Rela­ tion seiner eigenen Verkörperung mit dem Bildakt hervor.

Bettina Gockel

BILDER F Ü R BLIN DE – SEHEN U ND H A NDELN IN M ALEREI, FOTOGR A FIE U ND FILM Ein Versuch

Der folgende Beitrag untersucht die Annahme, dass eine aktive und aktivie­ rende Visualität der Bildkünste seit dem 18. Jahrhundert eine ästhetische Vor­ aussetzung in der Thematisierung des Sehens als einer zu erlernenden wie auch störanfälligen, verletzlichen Fähigkeit hat.1 Die Negation des Sehens in der Blindheit lässt sich als ein bildlicher Topos beschreiben, der Sehweisen des Bildes durchspielt und den Betrachter in die Position des Versehrten drängt, der seiner erlernten optischen, kognitiv verankerten und sozial konventionali­ sierten Sehfähigkeit beraubt wird. Inwieweit dadurch eine Aktivierung zum Handeln erreicht wird und werden soll, die quasi unausweichlich und para­ doxerweise vom Bild ausgeht, wird anhand von Werken der Malerei, der Foto­ grafie und des Films zu untersuchen sein. Versuchsweise sollen dabei auch Beispiele herangezogen werden, in denen die selbstreflexive Komponente des Bildes sich mit der an den Betrachter gerichteten Befragung, was Sehen und Wahrnehmung sind, zu einer existentiellen und ethischen Problematik ver­ bindet.

1

Vgl. zum Thema der Blindheit in der Kunst Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, hg. u. mit einem Nachwort verse­ hen v. Michael Wetzel, München 1997; Peter Bexte: Blinde Seher. Die Wahrneh­ mung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts. Mit einem Anhang zur Entdeckung des blinden Flecks im Jahre 1668, Dresden 1999; siehe auch Denis Diderot: Schriften zur Kunst, ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Bex­ te, Berlin/Hamburg 2005. Siehe zur Philosophie­ und Theoriegeschichte des Se­ hens Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997.

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BET TINA GOCKEL

Bild 1 Filmplakat, WAIT UNTIL DARK (USA 1967, Terence Young).

1. Kein Film hat über das Sehen von Bildern im Modus der Blindheit so entschie­ den nachgedacht wie WAIT UNTIL DARK von Terence Young. Der Film kam 1967 in die US­amerikanischen Kinos und gilt heute als Klassiker des Genres Psychothriller. Das Drehbuch von Robert Carrington und Jane Howard­Car­ rington beruht auf dem gleichnamigen Theaterstück von Frederick Knott. Die durch einen Unfall erblindete Susy Hendrix lebt als Freundin und Modell ei­ nes Fotografen in New York. In ihrem Überlebenskampf gegen eine Gruppe Krimineller erweist sich die Blinde als gefährdet und zugleich überlegen, was den Kern der Handlung ausmacht. Fotografie und Film werden indes nicht nur

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BILDER FÜR BLINDE

erzählerisch eingesetzt, sondern als visuelle Medien in ihrem Bezug auf Funktion und Inhalt des Sehens selbst thematisiert. Schon das Filmplakat (Bild 1) für den englischsprachigen Raum signalisiert das Generalthema die­

Bild 2

Still aus WAIT UNTIL DARK (USA 1967, Terence Young).

ses Films: Die Schnitte durch das Bild bzw. die Montage der Bildsequenzen sowie die immer kleiner und weniger lesbar werdende Schrift stören ein auf Bildwahrnehmung und Erkennen eingestelltes Sehen. Der Kampf zwischen dem Blindsein der Hauptprotagonistin, gespielt von Audrey Hepburn, und der Sehkraft ihres Peinigers, dargestellt von Alan Arkin, wird auch in Bildern ausgetragen, die den Sinn des Sehens grundsätzlich in Frage stellen. Mit einem Warnhinweis wurde das Publikum 1967 – auch zur Steigerung der Spannung – auf die visuelle Radikalität dieses Films vorbereitet: During the last eight minutes of this picture the theatre will be dark­ ened to the legal limit to heighten the terror of the breathtaking cli­ max, which takes place in nearly total darkness on the screen. If there are sections where smoking is permitted those patrons are respectfully requested not to jar the effect by lighting up during this sequence. And of course, no one will be seated at this time. In WAIT UNTIL DARK denkt indes nicht nur das Kino über sich selbst nach, wie Stefan Ripplinger in seinem aufschlussreichen und originellen Essay I can see now. Blindheit im Kino erkannt hat.2 Vielmehr entspinnt sich im Laufe 2

Vgl. Stefan Ripplinger: I can see now. Blindheit im Kino, hg. v. Rolf Aurich/Wolf­ gang Jacobson, Berlin 2008, S. 2: „Nicht das Schicksal der Blinden, nicht die Blind­ heit an sich, sondern ihr Verhältnis zum Sehen interessiert das Kino.“

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des zunächst ganz dem Plot unterworfenen Films die paradoxe Situation, dass vermeintliche Grundsätze von Visualität und Sehen visuell, anhand von Bil­ dern (oder vielmehr von Nicht­Bildern), untersucht werden. Bevor im letzten Teil des Films der Kinosaal in völlige Dunkelheit taucht, entledigt sich die Schlüsselszene des Films, in der Verdunklung und Lichtwerdung wie Waffen eingesetzt werden, endgültig des Plots zugunsten der Bilder, aber auch der sichtbar machenden Bilder zugunsten von Bildern der behinderten Sichtbarkeit, der Unschärfe und der Schwärze (Bild 2). Nur in diesen Bildern des Nicht­Sehens konnte und kann die Kunst über das Sehen nicht nur nachdenken. Vielmehr weist sie im Zuge konfrontativer Negation der Konvention und Erwartung einschlägige Klischees zurück, wie etwa, dass Sehen rein optischer Natur sei, oder dass Sehen als Erkenntnisweise meta­ physisch aufzuladen und daher grundsätzlich dem Nicht­Sehen gegenüber als überlegen zu begreifen sei. Unterschwellig wird so die Ästhetik und Evidenz des sichtbaren Bildes selbst in Frage gestellt, was sich in WAIT UNTIL DARK als eine existentielle Herausforderung erweist, mit der der Betrachter unver­ sehens zu kämpfen hat. Denn im Zuge dieser In­Frage­Stellung gerät seine eigene, doch so eindeutig scheinende Rolle als Rezipient unter Beschuss. Auf den Film und seine Bilder wird am Schluss des Beitrags zurückzu­ kommen sein. Zunächst sind die historischen Vorbedingungen des Themas zu klären.

2. Im 18. Jahrhundert wird die bildkünstlerische Untersuchung dessen, was Sehen sei, intensiver als je zuvor geführt.3 Mit dem Beginn öffentlicher Kunstaus­ stellungen und eines zunehmend anonymer werdenden Kunstpublikums ent­ steht eine differenzierte Debatte darüber, wie dieses neue Publikum eigent­ lich sieht (und sehen darf / sehen soll). Zugespitzt, bisweilen karikaturistisch wurde entweder das weitgehende Desinteresse am Bild (Bild 3) oder das ge­ naue Gegenteil, die nahsichtige Inspektion der Kunst bzw. ihrer Sujets, reflek­ tiert (Bild 4).4 Es ist die im frühen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts anzusie­ 3

4

Vgl. Gabriele Dürbeck/Bettina Gockel u. a. (Hg.): Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Sehen und Sichtweisen um 1800, Dresden 2001; Werner Busch (Hg.): Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und 19. Jahrhundert, München 2008. Siehe auch Michael Parmentier: Sehen Sehen. Ein bildungstheoretischer Versuch über Chardins L’enfant au toton, (Antrittsvorlesung, Humboldt­Univer­ sität zu Berlin), in: Hans­Georg Herrlitz/Christian Rittelmeyer (Hg.): Exakte Phantasie. Pädagogische Erkundungen bildender Wirkungen in Kunst und Kultur, Weinheim/München 1993, S. 105–121. Nähe und Distanz zum Bild – und damit Sehen und Wahrnehmung des Bildes – werden in der Geschichte der Kunst seit Vasari immer wieder unter verschiedenen

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BILDER FÜR BLINDE

Bild 3 Gabriel de Saint­Aubin: Le salon du Louvre en 1767, lavierte Federzeichnung, 24 × 46,9 cm, Paris, Privatsammlung. Bild 4 Gabriel de Saint­Aubin: Le salon du Louvre en 1769, Feder und Tusche, 18 × 24 cm, Privatsammlung.

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delnde Übergangszeit eines Ringens um die Öffentlichkeit der Kunst, um eine Disziplinierung des Sehens von Kunst, in der verstärkt die Natur des Sehens thematisiert wird. Das lässt sich am Zusammentreffen zweier philosophischer und künstlerischer Beiträge zur Frage des Sehens in London und in Paris im Jahr 1728 exemplarisch zeigen. In diesem Jahr veröffentlichte die Royal Society in ihren Philosophical Transactions einen bald in ganz Europa berühmten Fall eines von Geburt an blinden Jugendlichen.5 Dem Jungen wird der Star gestochen, und er beginnt das Sehen zu erlernen. Der Patient war die empirische und experimentelle Verkörperung dessen, was als „Molyneux­Problem“ in die Philosophie­ und Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist. Die einschlägige Studie dazu hat Marjorlein Degenaar vorgelegt.6 In der Kunstwissenschaft ist es Michael Baxandall, der auf die gesamte Debatte um Sehen und Wahrnehmung im 18. Jahrhundert und auf deren Relevanz für die Kunst zuerst hingewiesen hat.7 Pointiert formuliert, will Baxandall nachweisen, dass Maler optische Theorien umgesetzt hätten, eine Auffassung, die sich in der kunsthistori­ schen Forschung letztlich nicht hat durchsetzten können.8 Der für die Kunst

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8

Aspekten des Kunstverständnisses diskutiert. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird die nahsichtige Inspektion des Bildes und seiner Beschaffenheit ausdrücklich von Künstlern gutgeheißen, ja auch als Betrachtungsmodus eingefordert. Es han­ delt sich dabei um einen für die Geschichte der Sehweisen bildender Kunst auf­ schlussreichen historischen Umschlagpunkt. Was zuvor Künstlern und Kennern vorbehalten war, wird allmählich einem breiten Publikum zugebilligt. Die Karika­ tur verarbeitet diesen Prozess, indem sie Blicke und Gesten im Verhältnis zum Kunstwerk auslotet. Vgl. zu Vasari: Gottfried Boehm: Repräsentation. Präsenta­ tion. Präsenz. Auf den Spuren des homo pictor, in: ders.: Homo pictor, München 2001, S. 3–13, bes. S. 9 f. Siehe zur Darstellung des Kunstbetrachters Heinrich Sil­ vester/Johann Becker: Studien zur Ikonographie des Kunstbetrachters im 17., 18. und 19. Jahrhundert, Diss. RWTH Aachen 2005. William Cheselden: An Account of Some Observations Made by a Young Gentle­ man, Who Was Born Blind, or Lost His Sight so Early, That He Had no Remem­ brance of Ever Having Seen, and Was Couch’d between 13 and 14 Years of Age, in: Philosophical Transactions (1683–1775), Vol. 35 (1727–1728), S. 447–450. Siehe Marjolein Degenaar: Molyneux’s Problem. The Centuries of Discussion on the Perception of Forms, Dordrecht/Boston/London 1996 (International Archives of the History of Ideas 147), bes. Kapitel 2 bis 4. Siehe Michael Baxandall: Patterns of Intention. On the Historical Explanation of Pictures, New Haven u. a. 1986; siehe auch ders.: Attention, Hand and Brush. Con­ dillac and Chardin, in: Thomas Frangenberg/Robert Williams (Hg.): The Beholder. The Experience of Art in Early Modern Europe, Aldershot 2006, S. 183–194. Stattdessen sind Teilaspekte der für die Malerei relevanten Debatte über Optik und Farbe weiter erforscht worden. Siehe grundlegend John Gage: Colour and Culture. Practice and Meaning from Antiquity to Abstraction, London 1993, sowie Ulrike Boskamp: Primärfarben und Farbharmonie. Zur Farbe in der französischen Natur­ wissenschaft, Kunstliteratur und Malerei des 18. Jahrhunderts, Weimar 2009, und zu Chardin Carolin Meister: Das Stillleben als optisches Theater, in: Busch: Verfei­

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BILDER FÜR BLINDE

entscheidende naturphilosophische Ausgangspunkt einer bildwissenschaftli­ chen Fragestellung musste daher wieder aus dem Blickfeld der Forschung ge­ raten. So hatte Molyneux 1688 in einem Brief an John Locke folgendes theo­ retisches Problem aufgeworfen: Würde ein vom Blindsein Geheilter die Objekte sehend erkennen können, die er zuvor durch den Tastsinn kannte? Die Antwort experimenteller und philosophischer Adaptionen des Problems im frühen 18. Jahrhundert blieb: Nein. 1754 griff Etienne Bonnot de Condillac (1714–1780) den Londoner Fall in seinem Traité des sensations auf. Zuvor hatten Voltaire in den Éléments de la philosophie de Newton (1738) und Diderot im Lettre sur les aveugles à l‘usage de ceux qui voient (1749) Variationen dieses Falls diskutiert. Dass der junge englische Patient keineswegs die ihm durch den Tastsinn bekannten Objekte optisch erfassen kann, wurde interessanterweise an der Betrachtung eines Gemäldes bewiesen. Das gemalte Bild erscheint dem Heranwachsenden als zweidimensionale Fläche mit bunten Farben und damit genau als das, was das Bild vor jeder Sehkonvention und Seherfahrung tatsächlich ist.9 Erst Mo­ nate später werden – nach einem intensiven Training des Sehens – die Objek­ te in ihrer Gestalt, die Abstände zwischen den Objekten und die Räumlichkeit des Bildes für den Patienten erkennbar.10 Im selben Jahr als der erwähnte Fall des blinden Jungen in London verhandelt wurde, nahm die Académie royale de peinture et de sculpture Jean­ Baptiste Chardin in der niederen Gattungskategorie als peintre dans le talent des animaux et des fruits, also als Tier­ und Früchtemaler, auf. Eines der

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nertes Sehen (wie Anm. 3), S. 133–149. Im Unterschied zu Baxandall entwickelt Meister die wissenschaftshistorisch belegbare und für die zukünftige Forschung sicher wegweisende Überlegung, Chardins Gemälde entsprächen „optische[n] Ver­ suchsanordnungen“ (ebd. S. 136). Eben das lässt sich auch für die englische Bild­ kultur und Experimentalwissenschaft nachweisen; siehe dazu Bettina Gockel: Kunst und Politik der Farbe. Gainsboroughs Portraitmalerei, Berlin 1999, Kapitel III. Besonders aufschlussreich ist hierbei die Verwendung von Haushaltsgegen­ ständen für die populäre Vermittlung experimenteller Versuche. Siehe dazu Alfred Nordmann: Der Wissenschaftler als Medium der Natur, in: Die Erfindung der Na­ tur. Max Ernst, Paul Klee und das surreale Universum, Ausstellungskatalog. Sprengel­Museum, Hannover 1994, S. 60–66; und dazu Gockel: ebd. S. 136, Anm. 37. Siehe Cheselden: An Account of Some Observations Made by a Young Gentleman (wie Anm. 5), S. 449. Siehe zu den Quellen Bettina Gockel: Gemalte Sehweisen. Sehen in Kunst, Ästhe­ tik und Naturwissenschaft der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Dürbeck/ Gockel: Wahrnehmung der Natur (wie Anm. 3), S. 199–219, und Bexte: Blinde Seher (wie Anm. 1), S. 303–305.

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Bild 5 Jean­Baptiste Siméon Chardin: Der Rochen (La raie), 1726 –28, Öl/Lw, 114 × 146 cm, Paris, Louvre.

Aufnahmestücke für die Akademie war Der Rochen (La raie) (Bild 5).11 Das Gemälde, das vom Sujet her in der Tradition des niederländischen Fisch­ bzw. Küchenstilllebens steht,12 besticht durch eine in der Geschichte des Stilllebens neuartige, auf ein Zentrum gerichtete Komposition, in der der Rochen ein Dreieck beschreibt, das später in Chardins Korb mit Walderdbeeren (Le panier des fraises des bois) (1760/61) wieder aufgenommen wird. Die aufgrund 11

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Chardin stellte das Gemälde zusammen mit Le buffet aus. La raie ist von Schrift­ stellern und Künstlern der Moderne immer wieder studiert und kopiert worden. Auf die Rezeption des Gemäldes u. a. durch Proust, Cézanne und Matisse kann hier nicht eingegangen werden. Abraham von Beyeren und Pieter Bol liefern Vorbilder für Chardins La raie. Ein­ dringlich hat erstmals der Ausstellungskatalog: Jean Siméon Chardin 1699–1779. Werk. Herkunft. Wirkung, Ausstellungskatalog, (Hg. v. Staatliche Kunsthalle Karlsru­ he) Ostfildern­Ruit 1999, auf die Bedeutung der niederländischen Stilllebentradi­ tion für Chardin hingewiesen. Siehe Dietmar Lüdke: Chardin und die niederlän­ dische Malerei des 17. Jahrhunderts. Dargestellt an sieben Stillleben, in: ebd. S. 41–56. Siehe grundlegend zur Gattung des Stilllebens Eberhard König/Chris­ tiane Schön (Hg.): Stilleben, Geschichte der klassischen Bildgattungen, Bd. 5, Berlin 2003.

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BILDER FÜR BLINDE

ihrer geometrischen Einfassung umso auffälligere, beunruhigend lebendige Wirkung der Tiergestalt verdankt sich Chardins Malerei selbst: Transparente Farblagen, die bis auf den Malgrund durchblicken lassen, sind versetzt aufein­ andergeschichtet und wechseln sich mit opaken Partien ab; Farben heben in Hell und Dunkel an. Insgesamt entsteht der Eindruck, das tote Tier partizipie­ re an einem von Luft und Licht erfüllten Raum. Statt diese Wirkung zu ver­ balisieren, wie es später Marcel Proust tun sollte, der die nature morte Char­ dins als nature vivante ansprach,13 konzentrierte sich Diderot in seinen Lobeshymnen allein auf die angebliche Naturwahrheit der Kunst Chardins und auf das zeitgenössische Thema des Erlernens des Sehens.14 In seiner Sa­ lonkritik von 1763 lässt er ein Kind auftreten, das Maler werden will und das vor dem Rochen das Sehen – auch das Sehen der Natur – und damit die Male­ rei erlernen könne. „Ich würde [meinen Sohn]“, so schreibt Diderot, „mit dem Enthäuteten Rochen dieses Meisters beschäftigen. Der Gegenstand ist absto­ ßend, aber das ist das Fleisch des Fisches, das ist seine Haut, das ist sein Blut […] Treten Sie näher: alles verschwimmt, verflacht und verschwindet. Entfer­ nen Sie sich: alles erschafft und erzeugt sich wieder neu“.15 Es ist nur allzu 13

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Marcel Proust: Chardin, ou Le cœur des choses (ca. 1895), in: Le Figaro, 27. März 1954, S. 5. Siehe weiterführend Helen Osterman Borowitz: The Impact of Art on French Literature. From Scudéry to Proust, Newark, NY/London/Toronto 1985, Kapitel 9: „The The Watteau and Chardin of Marcel Proust“, “,, sowie Kazuyoshi Yoshi­ kawa: Proust et l’art pictural, mit einem Vorwort v. Jean­Yves Tadié, Paris 2010. Vgl. zu Diderot und Chardin: Hubertus Kohle: Ut pictura poesis non erit. Denis Diderots Kunstbegriff. Mit einem Exkurs zu J. B. S. Chardin, Studien zur Kunst­ geschichte, Bd. 52, Hildesheim/New York 1989, sowie Annette Geiger: Urbild und fotografischer Blick. Diderot, Chardin und die Vorgeschichte der Fotografie in der Malerei des 18. Jahrhunderts, München 2004. Denis Diderot: Ästhetische Schriften, Bd. 1, hg. v. Friedrich Bassenge, aus dem Französischen übers. v. Friedrich Bassenge/Theodor Lücke, Westberlin 1984, S. 454 (Salon 1763). Der Aspekt der bis in die Antike zurückreichenden Tradition der äs­ thetischen Verlebendigung des Bildes, den Proust gegenüber Diderot hervorkehrt, wäre hier noch weiter zu untersuchen. Vgl. Frank Fehrenbach: Kohäsion und Transgression. Zur Dialektik lebendiger Bilder, in: Ulrich Pfisterer/Anja Zimmer­ mann (Hg.): Animationen/Transgressionen. Das Kunstwerk als Lebewesen, (Ham­ burger Forschungen zur Kunstgeschichte IV), S. 1–40, hier S. 6: Die „ästhetische Animationskraft der Künstler [ist] als ekphrastischer Topos antiken Ursprungs. In der italienischen Renaissance wird Lebendigkeit zum verbreitesten Lobkriterium überhaupt“. Für die Koloritgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts sind indes die kunsttheoretischen Überlegungen von Roger de Piles bedeutender. De Piles be­ greift Farbe unter Rückbezug auf Rubens als Beseelung des Dargestellten, ohne dies jedoch je dem toten Gegenstand zuzubilligen. Vgl. zu de Piles Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 1987, 4. Kapitel, sowie Thomas Puttfarken: Roger de Piles’ Theory of Art, New Haven/London 1985. Eben in diesem Punkt geht Chardin über die Tradition wie auch über de Piles hinaus und sprengt damit die ästhetischen Regeln der Gattungshierarchie, ein As­ pekt, den Diderot bewusst beiseite lässt. Chardin hatte seinem Bewerbungsbild

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deutlich, dass das Sehen der Gemälde Chardins hier naturalisiert, das Bild selbst als Naturwahres angesprochen wird. Denn, so Diderot: „Um die Ge­ mälde der anderen zu betrachten, muß ich mir, so scheint es, andere Augen anschaffen. Um die Gemälde Chardins zu betrachten, brauche ich nur die Au­ gen zu behalten, die mir die Natur gegeben hat, und sie gut benutzen“.16 Steht man heute vor dem Gemälde im Louvre, erweist sich Diderots Anleitung zum Sehen des Bildes jedoch als falsch. Zumindest ist Diderots so unvermittelt, unwillkürlich wie inspiriert daher kommende Beschreibung des Bildes als eine beträchtliche und damit bedeutungsvolle Simplifizierung an­ zusehen. Nah vor dem Bild verschwimmt nämlich keineswegs das Ganze des Bildes. Vielmehr werden die Eingeweide des Rochens unscharf und flächig, während das Katzenjunge und der Karpfen plastisch wirken. Etwa drei Meter vom Bild entfernt treten sodann eher die den Rochen umgebenden Gegen­ stände in die Fläche zurück, wie auch der Rochen selbst mit der wie von Luft und Licht erfüllten Rückwand zu verschmelzen scheint. Plastisch hervor tre­ ten dagegen die Eingeweide und die zuvor flächig wirkende Tischdecke.17 In jedem Fall bleibt der Betrachtende – wenn man sich in die Fallgeschichte des blinden Jungen hineinversetzt – der noch im Prozess der Heilung vom Blind­ sein Begriffene. Denn an keinem Punkt der Bewegung vor dem Bilde entsteht eine stimmige, will heißen vollkommen illusionistische Raum­ und Objekt­ wahrnehmung. Was Chardin in La raie schon als bedeutungsstiftenden Effekt einsetz­ te – das Gemälde lässt sich in verschiedenen Abständen gerade aufgrund der Vielheit der gemalten Sehweisen inhaltlich unterschiedlich verstehen – ent­ wickelte er in weiteren Stillleben fast systematisch anhand unterschiedlicher Malweisen und Farbmaterialien weiter. Mal ist es (Bild 6) die schmelzende, mit viel Malmittel und Kreide versetzte Ölfarbe, deren weich zerfließende Konturen dazu animieren, eine Position vor dem Bild zu finden, in der die nah beieinander liegenden Tiere plastisch und konturiert erscheinen. Weil dies nicht gelingen will, sieht man im Zuge der eigenen körperlichen Bewegung

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einen bis an sein Lebensende reichenden Konflikt mit der Akademie implantiert, die ihm aufgrund seines geringen Status’ als Stilllebenmaler Ämter und Anerken­ nung vorenthalten sollte. Mit diesem Konflikt wollte Diderot, so lässt sich vermu­ ten, jene Sammler des Hochadels, denen er Chardins Gemälde zu empfehlen trach­ tete und für die er seine Besprechungen schrieb, nicht konfrontieren. Diderot: Ästhetische Schriften (wie Anm. 15), S. 453. Vgl. Baxandall: Attention, Hand and Brush (wie Anm. 7), der als Einziger ebenfalls diese Beobachtung zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung macht, in der er akribisch den Zusammenhang von Chardin und Condillac nachzuweisen versucht. Baxandalls Analyse hat in der Chardin­Forschung keinen Nachhall gefunden, weil sie das Verhältnis von Kunst und Naturphilosophie zu eng denkt, so als könne man in Chardins Bilder tatsächlich zeitgenössische Theorien umgesetzt sehen.

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Bild 6 Jean­Baptiste Siméon Chardin: Kaninchen, zwei Drosseln und einige Strohhalme auf einem Steintisch (Un lapin, deux passereaux et quelques brins de paille sur une table de pierre), um 1755, Öl/Lw, 38,5 × 45 cm, Paris, Musée de la Chasse et de la Nature.

Bild 7 Jean­Baptiste Siméon Chardin: Zwei Kaninchen mit Jagdta­ sche und Pulverdose (Lapins de garenne, auch: Retour de chasse), späte 1750er bis frühe 1760er Jahre, Öl/Lw, 50 × 56,6 cm, Amiens, Musée de Picardie.

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die toten Tiere in steter optischer Dynamik, so dass sie wie im friedlich durch­ atmeten Schlaf beinander zu liegen scheinen und dadurch auch eine Empfin­ dungsqualität erlangen. Ein anderes Mal ist es die trockene Körnigkeit der Farbmaterialmischung, die eine scharf fokussierte Sehweise der dargestellten Gegenstände erschwert (Bild 7). Anders als etwa in Rembrandts Einsatz grob­ körniger, mitunter mit Sand versetzter Farbe, die immer etwas bezeichnet, z.B. eine kostbare Brokatborte,18 ist diese porös erscheinende Oberfläche eine Faktur, die eine optische und nicht primär eine auf den Gegenstand bezogene Bedeutung hat.19 Das ist die Voraussetzung dafür, dass Sehen überhaupt als Thema des Bildes erkannt werden kann. Desorientierung der Wahrnehmung des Verhältnisses von Raum und Objekt wurde zu einer fast obsessiven Thematik der Stillleben Chardins, in denen die Abstände der Dinge voneinander, ihre Nähe und Ferne im Bild­ raum, sich zu keinem perspektivisch und plastisch logisch nachvollziehbaren Ganzen zusammenschließen wollen.20 Darüber hinaus ist der Effekt der im Bildraum nach links abrutschenden Gegenstände offensichtlich eine von Chardin in zahreichen Gemälden eingesetzte Bildstrategie, die Instabilität

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Vgl. zur Spezifik und historischen Bedeutung von Rembrandts Malweise: Ernst Weterning: Rembrandts Malweise. Technik im Dienste der Illusion, in: Rem­ brandt. Der Meister und seine Werkstatt. Gemälde, Ausst.­Kat. Staatliche Museen Preußische Kulturbesitz, Berlin 1991, S. 12–39, bes. S. 21. Eine umfassende Untersuchung dieses Phänomens hätte Restaurierungsergebnisse zu berücksichtigen, die jedoch nur verstreut vorliegen. Wegweisend ist der Ausstel­ lungskatalog: Die „Briefsieglerin“ von Jean­Siméon Chardin. Neue Einsichten in ein restauriertes Meisterwerk, Ausstellungskatalog, Stiftung Preussische Schlös­ ser und Gärten, Berlin­Brandenburg, Potsdam 2003, bes. S. 96 f., wo dargelegt wird, dass Retuschen und Übermalungen zum Ziel hatten, Chardins Malerei einer „Ver­ deutlichung und Vervollständigung“ (S. 96, rechte Spalte) zuzuführen. Aufschluss­ reich ist, dass die Vielheit der Farbnuancen und der optische Einbezug des Mal­ grundes offenbar als so provokativ empfunden wurden, dass Restauratoren dies ihrer ästhetischen Auffassung folgend korrigierten. Man darf bei aller Vorsicht davon ausgehen, dass die Berliner Ergebnisse für weitere Gemälde Chardins und deren Restaurierungsgeschichte relevant sein dürften. Insofern ist bei jeder Be­ schreibung der Farbwirkung und Raumauffassung eines Gemäldes von Chardin die Möglichkeit solcher gerade die optische Wirkung stabilisierender Eingriffe zu berücksichtigen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit Chardin sich mit seiner offenen Malweise bewusst in die italienische wie niederländische Tradition einer offenen und damit verlebendigenden Malweise als Modus stellte. Vgl. u. a. J. B. S. Chardin, Stillleben mit toten Kaninchen (Deux lapins morts avec gibecière, poire à poudre et orange), 1728, sign. u. dat. u. r., Öl auf Leinwand, 92 × 74 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Karlsruhe; siehe Abb. in Ausst.­Kat. Karls­ ruhe 1999, S. 91; ders., Stillleben mit totem Rebhuhn (Pedrix morte, compotier de prunes et panier des poires), sign. u. r., Öl auf Leinwand, 92 × 74 cm, Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe; siehe Abb. in Ausst.­Kat. Karlsruhe 1999, S. 93.

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Bild 8 Jean­Baptiste Siméon Chardin: Vorzeichnung zum Aushängeschild eines Wundarztes (La vinaigrette), 1720–22, Schwarzer Stift, weiß gehöht, 26,3 × 38,3 cm, Stockholm, Nationalmuseum.

und Verunsicherung des Sehens bewirkt.21 Nicht das Bild selbst, sondern die Unmöglichkeit, dieses als ein harmonisches Gefüge wahrnehmen zu können, musste von Zeitgenossen als Mangel erfahren werden.22 Dies wog umso schwerer, als kunsttheoretisch Harmonie zum Kriterium des ausgezeichneten Koloristen erhoben wurde. Die Farbharmonie aufeinander abgestimmter,

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Vgl. beispielsweise das in Anm. 20 letztgenannte Gemälde sowie J. B. S. Chardin, Toter Hase mit Pulverdose u. Jagdtasche (Lièvre mort avec gibecière et poire à poudre), Öl auf Leinwand, Musée du Louvre, Paris; siehe Abb. in: Marianne Roland Michel: Chardin, Paris 1994, S. 155. Ganz so beschrieb Condillac die schrittweisen Bemühungen des geheilten Blinden, Objekte als plastisch wahrnehmen und im Raum verorten zu können. Wenn dieser Mangel wirklich das Neue an Chardins Bildern gewesen ist, und eben nicht die sich quasi magisch als Illusion präsentierende, von Diderot als Naturwahrheit gefeierte Gegenständlichkeit des Bildes, dann benötigte Chardin die Fürsprache eines ge­ lehrten Kunstschriftstellers, der die Topoi der antiken Ekphrasis auf einen Gegen­ wartskünstler anzuwenden vermochte, dessen Provokationspotential zu über­ schreiben war. Vgl. zur Geschichte und Topik der Bildbeschreibung Gottfried Boehm/ Helmut Pfotenhauer (Hg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995. Siehe auch die Forschungen von James A. W. Heffernan: Speaking for Pictures. The Rhetoric of Art Criticism, in: Word & Image, 15/1 (Jan. – March 1999), S. 19–33.

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variationsreicher Farbtöne wird bei Chardin kompositorisch wie auch durch das Helldunkel, das Übergänge verunklärt, gleichsam in Unruhe versetzt.23 In dynamisierten, auf Diagonalen im Bild beruhenden Kompositionen deklinierte Chardin den Entzug von Stabilität durch und zwar schon ca. 1722, als er eine bislang in der Forschung nur als unbedeutend und missglückt an­ gesehene kleine Zeichnung (Bild 8) schuf, in der ein schwer beladener Kran­ kenwagen nach links absackt und wegzurutschen droht. Viele Beispiele, in denen Chardin die diagonale Ausrichtung als destabilisierendes Bildelement verwendet, gehören der Gattung des Jagdstilllebens an und stellen das tradier­ te Motiv der erlegten Jagdbeute in einen ambivalenten wirkungsästhetischen Zusammenhang von Stillstand und Bewegung, Tod und Leben. Mitunter mag man auch christliche Ikonographien als Folie wiedererkennen – man verglei­ che etwa Mattia Pretis Gemälde der Kreuzigung des Hl. Peter 24 mit Chardins Totem Hasen mit Pulverdose u. Jagdtasche.25 Bodo Vischer hat mit Blick auf Goyas schmales Stillleben­Œuvre derartige Bildgehalte aufgearbeitet, die in Chardins Werken einen wichtigen Ausgangspunkt finden würden.26 Weniger ein politischer als ein ethischer Inhalt, nämlich jene von Condillac wie auch von Rousseau diskutierte Empfindsamkeit und Leidensfähigkeit aller Kreatu­ ren, über die erst durch die optische Destabilisierung des Vertrauten reflek­ tiert werden kann, wäre so bildnerisch thematisiert. Die Permanenz einer Durchkreuzung von Sehkonventionen hätte so eine weitreichende Bedeutung erlangt, die den Betrachtenden zur Mitempfindung, oder wie es in der zeitge­ nössischen Moralphilosophie hieß, zum Mitleid als Grundlage von Moral und Wohlstand einer Gesellschaft animieren sollte.27 Ob man so weit gehen will

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Siehe zum Begriff der Harmonie u. a. bei Roger de Piles: Gockel: Kunst und Politik der Farbe (wie Anm. 8), S. 36, S. 42 sowie Kap. I. 3.: „Farbe und Licht“. Vgl. John Spike: Mattia Preti: catalogo ragionato dei dipinti, Florenz 1998, S. 116 f. Siehe Anm. 21. Vgl. Bodo Vischer: Goyas Stillleben. Das Auge der Natur, Petersberg 2005, bes. Kap. IX, S. 116 f. So Adam Smith, dessen Vorlesungen über Ethik in The Theory of Moral Sentiments (1759) veröffentlicht wurden. Siehe zum Versuch, den Begriff der „sympa­ thy“ in eine kunsthistorische Analyse einzubeziehen, Bettina Gockel: Bedeu­ tungsstiftende Bildtechniken. Gainsboroughs Druckgraphik im Licht von Adam Smiths ökonomischer, moralphilosophischer und sinnesphysiologischer Theorie, in: Busch: Verfeinertes Sehen (wie Anm. 3), S. 101–131, bes. S. 113–119. Grund­ sätzlich wird hier davon ausgegangen, dass Werke der bildenden Kunst derartige Gedanken nicht illustrierten, sondern an deren Hervorbringung aktiv beteiligt waren. Es geht also darum, den gedanklichen und diskursiven Zusammenhang, innerhalb dessen Chardins Bildkonstruktionen Bedeutung zuwachsen konnte, an­ satzweise zu erhellen.

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Bild 9 Jean­Baptiste Siméon Chardin: Korb mit Walderdbeeren (Le panier de fraises des bois), 1760, Öl/Lw, 38 × 46 cm, Paris, Privatsammlung.

oder nicht, ist nicht entscheidend. Jedenfalls hat Chardin sich vehement gegen die Stilllebentradition gerichtet, an die er von den Sujets her anschließt. In Wahrheit kommt es bei Chardin also – anders als Diderot suggeriert – zu einer permanenten Störung einer auf Illusion ausgerichteten Sehweise des Bildes wie auch von Sehkonventionen. Zweifach revoltierte Chardin damit gegen die Gattungshierarchie: Indem er den kunsttheoretischen und kunst­ kritischen Topos, ein Stilllebenmaler stelle nur die äußere Wirklichkeit dar, bildnerisch zurückwies, und indem er das Dargestellte verlebendigte, ja viel­ leicht seelenvoll wirken ließ, wie die Brüder Goncourt als Wiederentdecker Chardins im 19. Jahrhundert meinten. So schrieben diese Bewunderer der Kunst des Ancien Régime über Korb mit Walderdbeeren (Le panier des fraises des bois) (1760/61) (Bild 9), welches im Salon von 1761 präsentiert wurde: „Es gibt da ein Bild mit zwei Nelken: Es sieht aus wie ein krümeliges Durch­ einander von Weiß und Blau, als ob silberglänzende, reliefartige Emaillen ausgesät wären; dann trete man zurück und betrachte nochmals aufmerksam, und bald heben sich die Blumen von der Leinwand ab; […] In solchem Fall kann man sagen, daß Chardin geradezu das Wunderbare an den Dingen malt; […] mit ihrer Seele und ihrer Farbe gestaltet, scheinen sie sich von der Lein­ wand abzuheben und Leben anzunehmen durch eine ganz eigenartig wunder­

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bare optische Wirkung im Raume zwischen der Leinwand und dem Beschau­ er.“28 Diderot filterte dagegen aus den komplexen gemalten Seh­ und Emp­ findungs­, ja auch Verfremdungsweisen und Störungen des Sehens in Char­ dins Bildern, die für Chardin selbst weitreichende Bedeutungen als Künstler und Akademiemitglied hatten, gerade einmal eine heraus und ordnete sie zu­ rück in die bestehenden Erwartungen und Diskurse. Dazu gehörte, dass die Nah­ und Fernsicht des Bildes als Sehpraxis in den nunmehr öffentlichen Ausstellungen der Salons thematisiert, aber auch – wie schon erwähnt – kari­ kiert wurde. Dass Diderots Salonkritiken als eigenständiges literarisches Genre zu gelten haben und keineswegs den Sinngehalt der Gemälde, die er beschreibt, erschließen, dürfte eindeutig sein. Diese ästhetische und inhaltli­ che Eigenständigkeit gegenüber den Gegenständen, über die er schreibt, be­ tont er selbst oft genug, wenn er sein mangelhaftes Gedächtnis beklagt oder gar meint, das eine mit dem anderen Bild im Nachhinein möglicherweise zu verwechseln.29 Louis Michel van Loo hat Diderot entsprechend 1767 in einer zu dieser Zeit in ganz Europa nicht nur für Schriftsteller und Theoretiker, sondern auch für bildende Künstler geltenden Porträtformel des schöpferischen Genies dar­ gestellt.30 Die Bildbeschreibungen für Melchior Grimms Correspondance littéraire, die Diderot mitunter auf dem Landsitz des Baron d’Holbach verfasste, waren nicht an das anonyme Publikum, sondern an die Sammlerkreise des europäischen Hochadels adressiert.31 Das Erlernen des Sehens konnte diese aufgeklärte Elite zwar mit Blick auf den noch zu erziehenden künftigen Bür­ ger goutieren,32 ganz so wie dies auch in d’Holbachs Système de la Nature zum Ausdruck kommt. Doch nicht im Modus einer unaufhebbaren Störung des Sehens und einer damit einhergehenden In­Frage­Stellung der akademi­ schen Gattungsordnung und Bildtradition. So verschleierten Diderots Lobes­

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Edmond de Goncourt/Jules de Goncourt: Die Kunst des achtzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., München 1920, Bd. 1, S. 105. Vgl. Bexte: Denis Diderot (wie Anm. 1), S. 292–295 zu Diderots Selbstreflexion als Kritiker. Siehe Louis Michel van Loo: Denis Diderot, 1767, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Paris, Musée du Louvre. Vgl. Bexte: Denis Diderot (wie Anm. 1), S. 308 f. Siehe die überzeugende Analyse von James D. Herbert, der die Annahmen von Thomas Crow korrigiert, Chardins Genrebilder gäben Einblick in die Sozialge­ schichte des 18. Jahrhunderts. Herbert hebt hervor, dass Chardins Genrebilder, die Heranwachsende zeigen, utopische Bilder eines erst noch zu formierenden erziehe­ rischen und gesellschaftlichen Ideals waren. Siehe James D. Herbert: A Picture of Chardin’s Making, in: Eighteenth­Century Studies, 34/2 (Winter 2001), S. 251–274.

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Bild 10 Jean Baptiste Siméon Chardin: Selbstbildnis an der Staffelei (Autoportrait, dit au chevalet), 1778–1779, Pastell auf blauem Papier, 40,5 × 32,5 cm, Paris, Louvre.

hymnen auf den „große[n] Zauberer“33 und Magier Chardin die in dessen Bildern angelegte Vielheit der Sehweisen. Sind auch in den Salonkritiken selbst vergleichbar multiple Perspektiven und implizite Adressaten angelegt, wird das dem Maler nicht zugebilligt – und es ist sogar möglich, dass Chardin mit dieser Darstellung einverstanden war, sicherte sie ihm doch eine erlesene Klientel. Wie wenig es Chardin indes um die Naturwahrheit zu tun war, soll abschließend angesichts seines Selbstbildnis an der Staffelei (Autoportrait, dit au chevalet) (Bild 10) gezeigt werden. Diderot hatte in anderem Zusam­ menhang dem Betrachter empfohlen, ein Gemälde durch eine Brille zu be­ trachten – beispielsweise durch einen Kneifer oder Zwicker, so dass sich das 33

Diderot: Ästhetische Schriften (wie Anm. 15), S. 539.

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Bild ohne Rahmen wie die Aussicht auf die Natur selbst ausnähme.34 Chardin suggeriert dem Betrachter jedoch das genaue Gegenteil. Die Ränder der Brille zirkeln zwei Flächen so vor den Augen des Betrachters aus, dass sie den Blick auf zwei abstrakte, zweidimensionale Flächen freigeben, deren Oberflächen die Textur und Materialität der Pastellkreide zeigen. Entsprechend wird die Kreide zum demonstrativen Bildgegenstand – ganz anders als in zwei weite­ ren Selbstporträts Chardins in Pastell.35 So wird die Brille für den Betrachter gleichsam zum Hilfsmittel einer „Aussicht“ auf das Gemachtsein des Bildes, das sich erst in der Nahsicht erschließt. Chardins eigene Alterssehschwäche kann so zur rezeptionsästhetischen Formel des Bildes werden, das als Bild er­ kannt und betrachtet werden will. Die Aufmerksamkeit für das Bild als Bild sichert sich Chardin einmal mehr durch die visuelle Unvereinbarkeit von zweidimensionaler Bildfläche und suggestiver Dreidimensionalität, durch die Präsenz unterschiedlicher Modi der Visualität, die sich nicht ohne weiteres optisch zusammenschließen lassen. So bleibt der vollplastisch wirkende Kopf mit dem elaborierten Kopftuch in Diskrepanz zu den abstrakten gerahmten Flächen. Das Sehen des Bildes als gemachtes Bild, das offenkundig nur in der Störung des Sehvorgangs oder sogar in einer Regression des Sehenden ermög­ licht wird, sollte für die frühe Fotografie ein wichtiger Aspekt ihrer Selbstbe­ stimmung und Durchsetzungsstrategie werden.

3. Einer der herausragenden Protagonisten der frühen Fotografie, William Hen­ ry Fox Talbot, hat bekanntlich in mehreren Heften das erste Handbuch zur Fotografie publiziert, The Pencil of Nature.36 Der Tafel II (Bild 11) aus diesem Werk, einer Boulevard­Ansicht in Paris, gab er das bei, was man zunächst als 34 35

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Siehe Bexte: Denis Diderot (wie Anm. 1), S. 90 f. Vgl. J. B. S. Chardin: Selbstportrait mit Brille (Autoportrait, dit Chardin aux bé­ sicles), 1771, Pastell auf grau­blauem Papier, 46 × 38 cm, Musée du Louvre, Paris. Siehe Abb. in Pierre Rosenberg/ Renaud Temperini: Chardin, Paris 1999, S. 160. Vgl. ders.: Selbstportrait, (Autoportrait, dit Portrait de Chardin à l’abat­jour vert), 1775, Pastell auf grau­blauem Papier, 46 × 38 cm, Musée du Louvre, Paris. Siehe ebd. S. 163. Vgl. u. a. Henry Fox Talbot: The Pencil of Nature, [London 1844], Faksimile­ ausgabe, Budapest 1998; Larry J. Schaaf: Anniversary Facsimile of H. Fox Talbot’s „The Pencil of Nature“, New York 1989. Zwei originale Ausgaben befinden sich im National Media Museum (bis 2006: National Museum of Photography, Film and Television) in Bradford. Ich danke der dortigen Kuratorin, Ruth Kitchin sowie Co­ lin Harding, Roger Taylor, Kelley Wilder und Anne Hammond für sehr hilfreiche Diskussionen und Hinweise. Im Folgenden geht es darum, exemplarisch ein Argu­ ment über die wissenschaftlichen Umgangsweisen mit den Werken der frühen Fo­

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genaue Beschreibung begreifen will, die in ihrer Ausführlichkeit in der neue­ ren Literatur zu Talbot als außergewöhnlich überzeugend verstanden wird: He [Talbot] chose this photograph as the second image in his seminal book, The Pencil of Nature, and his observations on it are some of the most complete and satisfying that he ever put into print: ‚This view was taken from one of the upper windows of the Hotel Douvres, situated at the corner of the Rue de la Paix. The spectator is looking to the North­ east. The time is the afternoon. The sun is just quitting the range of the buildings adorned with columns: its façade is already in the shade, but a single shutter standing open projects far enough forward to catch a gleam of sunshine. The weather is hot and dusty, and they have just been watering the road, which has produced two broad bands of shade upon it, which unite in the foreground, because, the road being par­ tially under repair (as is seen from the two wheelbarrows, &c. &c.), the watering machines have been compelled to cross to the other side. By the roadside a row of cittadines and cabriolets are waiting, and a single carriage stands in the distance a long way to the right. A whole forest of chimneys borders the horizon: for, the instrument chronicles what­ ever it sees, and certainly would delinate a chimney­pot or a chimney­ sweeper with the same impartiality as it would the Apollo of Belver­ dere. The view is taken from a considerable height, as appears easily by tografie zu entwickeln, und auf ausstehende Forschungsfragen hinzuweisen. Ant­ worten und Ergebnisse stehen hingegen noch aus. Die Forschungsliteratur über Talbot lässt sich methodisch in vier Kategorien ein­ teilen, für die folgende Autoren und eine jeweils exemplarische Publikation ge­ nannt seien: 1. Die Grundlagenforschung von Larry J. Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot, Princeton/Oxford 2000, und von Roger Taylor: Impressed by Light. British Photographs from Paper Negatives, 1840–1860, Ausst.­ Kat. The Metropolitan Museum of Art, New York 2007; 2. Der ideengeschichtliche Ansatz von Ann McCauley: Talbot‘s Rouen Window: Romanticism, Naturphiloso­ phie, and the Invention of Photography, in: History of Photography, 26/2, (Som­ mer 2002), S. 124–131; 3. Der wissenschaftstheoretische und bildwissenschaftliche Ansatz von Peter Geimer: Photographie und was sie nicht gewesen ist. Photogenic drawings 1834–1844, in: Dürbeck/Gockel: Wahrnehmung der Natur (wie Anm. 3), S. 135–149; 4. Der literatur­ und sprachwissenschaftliche Ansatz von Hubertus von Amelunxen: Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot. Mit einem Text von Michael Gray, übers. v. Sebastian Wohlfeil, Berlin 1989. Schaaf hat auf das im Folgenden zu erörternde Problem der Variabilität der Aufnahmen Talbots für den Pencil of Nature hingewiesen und den Reproduktionen in Amelunxens Publikation eine zu große Uniformität attestiert (Schaaf: The Photographic Art, S. 259). Amelunxen erläutert hingegen sein Ziel, durch Neuabzüge eine „weitgehende Rekonstruktion des vorliegenden Bildmateri­ als“ vorlegen zu wollen und weist darauf hin, dass viele der originalen Abzüge verblasst sind. (Amelunxen, Die aufgehobene Zeit, Editorische Notiz, o. S.)

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observing the house on the right hand; the eye being necessarily on a level with that part of the building on which the horizontal lines or courses of stone appear parallel to the margin of the picture.37 Vorweggenommen sei, dass hier etwas beschrieben wird, was gesehen (und imaginiert) werden soll und was zugleich als die Summe bezüglich all der Abzüge zu begreifen ist, die Talbot herstellte bzw. herstellen ließ, während bekanntlich keine Ausgabe des Pencil of Nature eine für alle Abzüge gleich­ mäßige Qualität gewährleisten konnte.38 Ebenso wie mitunter nach wie vor Fotografie als Abbild der Realität begriffen wird, werden auch deren Beschrei­ bungen häufig als Versprachlichungen einer mit der außerbildlichen Wirk­ lichkeit identischen Bilddarstellung akzeptiert, ohne dass diese Texte an der Geschichte der Ekphrasis und ohne dass sie an der Geschichte der frühen Fotografie und ihrer noch nicht vorhandenden Maßstäbe des Bildhaften ge­

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Zit. nach Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), S. 160. Was dabei unter „Qualität“ zu verstehen ist, muss jeweils historisch rekonstruiert werden und verändert sich im Laufe der Geschichte der Fotografie. Sicher hat es immer den Anspruch der Detailgenauigkeit gegeben, mit der sich auch Talbot aus­ einanderzusetzen hatte. Heutige Betrachter sind mitunter irritiert, dass Zeitge­ nossen Talbots relativ häufig die Mängel seines Verfahrens – besonders gegenüber der Daguerreotypie – hervorheben, während in der heutigen Wahrnehmung viele von Talbots Aufahmen, auch jene vor Erfindung des Kollodiumverfahrens, überra­ schend gut, ja brilliant anmuten. Diese Diskrepanz erklärt sich zumindest teilwei­ se, wenn die heute gut erhalten erscheinenden Exemplare der Aufnahmen Talbots für den Pencil of Nature neben Produkte der damaligen Druckgraphik gehalten werden. Erst dann wird deutlich, dass in der Druckgraphik eine Detailgenauigkeit zum Ausdruck kam, die die Maßstäbe der Fotografie mitbestimmt haben dürfte und neben der Talbots Kalotypien tatsächlich Schwächen zeigten. Heutzutage wird der ästhetische Maßstab u. a. durch die hochdetailgenauen Fotografien der Düssel­ dorfer Schule gesetzt, die sich einerseits als Fortsetzung des Bildschärfe­Primats der frühen Fotografie begreifen lässt, andererseits wie der Gegenpol zu einer ver­ gleichsweise schwachen Leistung der im Alltag benutzten elektronischen Bild­ medien mit mangelnder Tiefenschärfe zu verstehen ist. Vgl. Stefan Gronert: The Düsseldorf School of Photography, London 2009. In diesem Kontext der Gegen­ wartserfahrung von Visualität wird derzeit eine u. a. von Colin Harding, Bradford, mitbetreute neue Faksimileausgabe von Talbots Pencil of Nature publiziert, für die die „besten“ Aufnahmen verwendet wurden. Damit setzt sich ein heutiger ästhe­ tischer Maßstab durch, der den historischen Materialien zwar nicht entspricht, aber wohl als Idealbild, das auch Talbot vorgeschwebt haben muss, zu legitimieren ist. Die Originale sprechen hingegen, bei allem Einbezug ihrer Veränderung in­ nerhalb von über hundert Jahren, eine andere Sprache, nämlich die einer Variabi­ lität und Heterogenität, die Talbot nicht als Schwäche, sondern als Stärke seines Mediums begreifen und vermitteln wollte.

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Bild 11 William Henry Fox Talbot: Boulevard des Capucines, 1843, Kalotypie, 16,1 × 21,3 cm (Bildgröße) auf 18,1 × 22,6 cm (Papiergröße), Courtesy of Hans P. Kraus, Jr., Inc., Privatsammlung.

messen würden.39 Entsprechend werden die ersten zeitgenössischen Reaktio­ nen auf Talbots Aufnahme als positive, wortwörtlich zu nehmende Rezensio­ nen zitiert, ohne sie auf ihre inhaltliche Verfasstheit hin zu prüfen.40 So lässt sich etwa der Kommentar der Literary Gazette vom 29. Juni 1844 mit der Empfehlung, die Helldunkel­Effekte von Talbots Straßen­ und Stadt(!)­Auf­ nahme sollten sich Landschaftsmaler ansehen, als eine Strategie ästhetischer Integration eines Bildmediums verstehen, für dessen Sehen und Wahrneh­ 39

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Ausnahmen bestätigen die Regel. So arbeitet Peter Geimer die Diskrepanz zwi­ schen Beschreibung und Fotografie anhand von Barthes’ Überlegungen und dessen Plan einer Präsentation von Fotografie als „nicht­verbale[m] Material“ (Barthes) grundsätzlich heraus: Siehe Peter Geimer: „Ich werde bei dieser Präsentation weit­ gehend abwesend sein.“ Roland Barthes am Nullpunkt der Fotografie, in: Fotoge­ schichte, Heft 114 (2009), S. 21–30, hier bes. S. 27–29. The Literary Gazette, no. 1432 (29 June 1844); zit. nach Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), S. 160: „[…] the effects of light and shade are remarkable, and well deserving the attention of the landscape­painter“.

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mung erst noch Standards zu etablieren waren.41 Der Rezensent, der zunächst die heute selbst in verblichenen Aufnahmen der Boulevardansicht minutiös erkennbare Kaminreihe am Horizont lobt, weicht in einen alternativen ästhe­ tischen Modus und Maßstab einer anderen Bildgattung aus, um auch die amorphen dunklen und hellen Massen der Strasse und des rechten Mittel­ grundes erfassen zu können, die u. a. durch die Bewegung von Passanten und die Problematik einer aus großer Entfernung detailgenauen Erfassung von Laubwerk hervorgerufen sind. Das Bild erfordert mithin verschiedene Seh­ weisen, da sich seine Bestandteile zu keinem in Vor­, Mittel­ und Hinter­ grund klar gegliederten Bildraum zusammenschließen lassen und überdies bestimmte Gegenstände detailgenau, andere hingegen als helle und dunkle Massen erscheinen. Wenn man heute Reproduktionen in der einschlägigen Talbot­Litera­ tur heranzieht, oder auch Faksimileausgaben, so stößt man auf heterogene Aufnahmen, oft auch ein und desselben Motivs. Für die Kenner der Materie mag das unerheblich sein, können sie doch Talbots Text in der Regel an we­ nigstens einem von ihnen konsultierten Original messen. Für die Mehrheit der Leserschaft entsteht so jedoch ein Problem, das der Erläuterung bedarf. Manche der Reproduktionen zeigen Bilder mit verschwommenen Partien, die nicht wirklich zu Talbots hochdetailgenauer Beschreibung passen wollen – und es gehört zu einer der immer wieder bemühten Überraschungsmomente der Talbot­Forschung, dass das „beste“ Portrait Talbots eine Daguerreotypie ist.42 Tatsächlich hat man es mit einer Bildproduktion und ­überlieferung zu tun, die komplexer kaum sein könnte und die Frage, in welchem ästhetischen und epistemologischen Verhältnis Bild und Text im Pencil of Nature stehen, ebenso schwierig wie aufschlussreich erscheinen lässt. Amelunxen spricht etwa von einem „spielerischen Verhältnis“ der Texte zu den Fotografien und davon, dass die Texte „dem photographischen Bild den erinnerten Blick“ zu­

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Ohne die Kunsttheorie und Kunstpraxis des Helldunkels im 18. Jahrhundert ist das selbstverständlich nicht zu begreifen. Hinzu kommt, dass die ästhetischen Maß­ stäbe, die für die frühe Fotografie noch zu entwickeln waren, aus der mehrgleisigen und sich insbesondere im 18. Jahrhundert ausdifferenzierenden Geschichte der Druckgraphik und der in ihr enthaltenen unterschiedlichen ästhetischen Maßstä­ be und Werte entstehen. Man denke etwa an die auf Details ausgerichtete Punk­ tiertechnik, die für die massenhafte Reproduktion von Portraitgemälden einge­ setzt (und wegen ihres Mangels an „Lebendigkeit“ von Malern kritisiert) wurde und sich markant von den malerischen Effekten der Aquatintaradierung und des Mezzotinto unterschied. Darüber hinaus dürften spezifische Helldunkeleffekte der frühen Fotografie aus der Geschichte des Aquarells zu verstehen sein, inbesondere dann, wenn Fotografen wie Calvert Jones selbst in diesem Medium praktizierten. Siehe Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), S. 12. Die Daguerreotypie wurde ca. 1842 von Richard Beards Atelier angefertigt.

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Bild 12 William Henry Fox Talbot: Boulevard des Capucines, 1843, Kalotypie, 16,9 × 20,1 cm, vormals London, Sammlung Science Museum.

schreiben.43 Für den Autor steht im Mittelpunkt des Text­Bild­Verhältnisses, dass Talbot nicht die Fotografie beschreibt, sondern „seinen Blick, seinen Ort und seine Zeit“,44 um dem Betrachter den Blick auf das Vergangene zu gewäh­ ren. Man könnte die starke Heterogenität der Aufnahmen wie auch die heute recht groß erscheinende Diskrepanz zwischen Text und Bild zunächst mit dem Umstand erklären, dass manche Kalotypien Talbots (ganz oder teil­ weise) verblichen sind – viele, vielleicht sogar die meisten erhaltenen origina­ len Positive sind es gewiss.45 Umso wichtiger scheint es, sich die Praktiken heutiger Reproduktion und die dazu gelieferten Bildinformationen klar zu machen, für die es in der Forschungsliteratur kaum Standards gibt, an die sich

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Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36), S. 42, S. 44. Ebd. S. 46. Mitunter ist dabei nicht das gesamte Bild betroffen, sondern nur Ränder und Teile des Bildes, was man etwa auch anhand der Fotografien von Robert Fenton studie­ ren kann.

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alle Autoren halten würden. So muss etwa die vormals im Science Museum, London, aufbewahrte Aufnahme des Boulevard46 als verblichen gelten (Bild 12). Sie zeigt einen Ausschnitt der Situation des Boulevards und wird eine weitere Aufnahme des bekannten Motivs aus dem Pencil of Nature sein. Das Bild wird mitunter als Originalaufnahme Talbots reproduziert, ohne dass erwähnt wird, dass es zu Talbots Zeiten wahrscheinlich ganz anders ausgesehen haben wird.47 Die den Originalen vielleicht am ehesten entsprechende Aufnahme dieses in der Geschichte der frühen Fotografie wohl berühmtesten Motivs dürfte der von Amelunxen publizierte Neuabzug vom originalen Papiernega­ tiv sein.48 Der Einwurf, damit entferne sich die Reproduktion doppelt vom Original, dürfte schwer von der Hand zu weisen sein. Doch selbst wenn – wie heute üblich – ein Scan bzw. eine Reproduktionsvorlage von einem gut erhal­ tenen Abzug Talbots angefertigt wird, kann man davon ausgehen, dass durch Bildmanipulation das Bild schärfer und im Ton verändert erscheinen wird. Diese Praxis ist im Hinblick auf die frühe Fotografie deshalb so bemerkens­ wert, weil sie den Blick auf die schon damalige heterogene Bildproduktion verstellt, die ihre deutlichste Pointe in dem desaströsen Unternehmen Talbots für das Art-Union Monthly Journal of the Fine Arts and the Arts, Decorative, Ornamental fand. In dessen Ausgabe von 1846 sollte in jedem Heft jeweils eine originale Talbotypie eingefügt werden, weshalb Talbots Assistent Nico­ laas Henneman tausende von Abzügen in kurzer Zeit anzufertigen hatte. Larry Schaaf beschreibt anschaulich die Probleme dieses Unternehmens: Since each print had to spend some time in the sun under the negative, Henneman pressed every available negative into service, leading to a great variety in different copies of the journal. […] The final effect of this effort was costly to WHFT [William Henry Fox Talbot], both in out of pocket expenses and in reputation. The production of so many prints in such a short time span with the approach of winter suffered

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Vgl. Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36,) S. 113. Die Bildlegende bei Amelunxen lautet: „Paris, Boulevard des Capucines, 1843, (16,9 × 20,1 cm), (Samm­ lung Science Museum)“. Vgl. Kunsthistorische Arbeitsblätter, Juli/August 2003, S. 93, Abb. 4. Die Aufnah­ me ist wiederum Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36) entnommen. Amelunxens Information (siehe seine „Editorische Notiz“), dass das Bild über ein Ektachrome­Zwischendia reproduziert wurde, und dass es sich um eine verbliche­ ne Aufnahme handelt, ist hier verloren gegangen. Möglicherweise handelt es sich um eine Laxheit der Bildredaktion für den ansonsten erhellenden Beitrag von Rolf Sachsse: Die Erfindung der Fotografie, in: Kunsthistorische Arbeitsblätter, Juli/Au­ gust 2003, S. 85–100. Siehe Abb. Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36), S. 43.

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from a paucity of sunshine and Henneman’s inability to supply (and afford) sufficient warm water for adequate washing. Many of the prints began fading almost straight away, and this fiasco was one of the fac­ tors that led WHFT to abandon printing with silver in favour of his photographic engraving and later photoglyphic engraving, both ex­ pressed through time­tested printer’s ink.49 Die Unwägbarkeiten des Verfahrens bestanden nicht nur in den vielen kaum kontrollierbaren Faktoren (Intensität und Stabilität des Sonnenlichts, Reak­ tion der Chemikalien, Beschaffenheit des Papiers), sondern auch in den hand­ werklichen Eingriffen. Das Aufstreichen der lichtempfindlichen Substanz, das Baden des Negativs in Wachs bzw. das Aufstreichen von Wachs (manche Pa­ piernegative sind nur auf einer Seite gewachst) usw. bedeuteten, dass die Fer­ tigkeiten der Handhabung für das Aussehen des Endprodukts mit entschei­ dend waren. Mit Blick auf Talbots photogenische Zeichnungen hat Peter Geimer darauf hingewiesen, dass Talbot gerade die Involvierung der Hand in den Bildherstellungsprozess in seinen Texten ausblendete, um diesen als ma­ gisch ansprechen zu können.50 Das Bild als Zauberei wie als Naturprodukt und nicht zuletzt auch immer wieder der Verweis sowohl auf die Fotografie 49

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Schaafs Erläuterung ist nach der von ihm und seinem Team erstellten Edition der Briefe Talbots zitiert, die online abrufbar ist (DeMontfort University Leicester). Siehe den Brief vom 22.12.1845, Anm. 66. In seinem Buch „The Photographic Art of William Henry Fox Talbot““ (wie Anm. 36), zieht der Autor folgende Konse­ quenz aus dem heterogenen Bildmaterial: „Each of the prints and negatives that follow represents a real and unique object, fairly reproduced in its present state. Negatives dominate the earlier section because that is what Talbot most commonly produced at first. They are included at intervals throughout the selection, partly as a reminder of the negative/positive nature of his invention, but more importantly because they are beautiful and significant objects in and of themselves. Several of the most widely admired images by Talbot were reluctantly left out because no adequate prints of them are known to have survived; they are known today through older or highly enhanced reproductions. […] In trying to fairly represent Talbot’s work, the critical months of the first half of 1840 presented the most painful difficulties.“ [Hervorh. B.G.] (Ebd. S. 33). Siehe Geimer: Photographie und was sie nicht gewesen ist (wie Anm. 36), S. 143: „Talbots Vorgehen, alles Handwerkliche und Hergestellte aus seiner Beschreibung der photogenischen Zeichnung auszuschließen, hat ihn an einen Punkt geführt, an dem photochemische Aufzeichnung nur noch als Zauber, Wunder und Magie adressierbar ist“. Geimer legt dar, wie widersprüchlich Talbot argumentiert, einer­ seits die Autonomie des Verfahrens naturalisiert, andererseits seine eigenen Hand­ lungen als Experimentator genau beschreibt, um nicht zuletzt seine Patentansprü­ che zu untermauern. Hier seien, so Geimer im Rückgriff auf Latour, letztlich verschiedene Agenten im Spiel: Es „zeigt sich ein Ensemble aus humanen und nicht­humanen Agenten, die immer schon vermittelt, miteinander verschränkt, aufeinander bezogen sind“. (Ebd. S. 145)

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als Produkt der Wissenschaft wie als Kunst lassen ein umfassendes Rezep­ tionsnetzwerk ästhetischer und inhaltlicher Komplexität für das neue Verfah­ ren entstehen, das dem zeitgenössischen Profil des umfassend gebildeten und sowohl in den Wissenschaften wie in den Künsten aktiven Gentlemans ent­ sprach.51 Indem Talbot sein Verfahren derart vielseitig konstruiert, gelingt es ihm in seinem einführenden Text, die Schwächen bzw. „imperfections“ des Verfahrens anzusprechen und diese sogleich ästhetisch aufzuwerten. So ruft er hinsichtlich der unterschiedlichen unbunten Farbtöne der Abzüge den für die Ästhetik des picturesque zentralen Begriff der „variety“ auf und meint, verschiedene „persons of taste“ hätten sich nicht entscheiden können, welcher Ton für eine zukünftig uniforme Darstellung vorbildlich sein solle.52 „Varie­ ty“ und „taste“ integrieren die Aufnahmen in die Ästhetik der bildenden Kunst, ja genauer noch der Landschaftszeichnung und ­malerei, für die Wil­ liam Gilpin neben der Ästhetik des Schönen und Erhabenen nicht nur neue Maßstäbe des Bildes und des Geschmacks gesetzt hatte.53 Vielmehr hatte diese ästhetische Kategorie erstmals den Blick auf das Gemachtsein des Bildes len­ ken wollen und so die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die zufällig ent­ standenen unbunten Farbtöne von Talbots Abzügen – nicht das, was sie dar­ stellen mochten – nun als besonders geschmackvoll gelten konnten. Nach Talbots ausführlichen Darlegungen der wissenschaftlichen Begründung sei­ nes Verfahrens aus der Praxis des Experiments, schließt er demnach, bevor die ersten Talbotypien für den Leser zu sehen sind, mit einer Bemerkung, die an die Kennerschaft des Auges appelliert und gerade nicht die Abbildqualität, sondern den ästhetischen Eigenwert bildlicher Tonalität in den Blick rückt.

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Damit hatte Talbot die Grundlage dafür gelegt, dass sein Verfahren auch nach der Entdeckung des Kollodium­Verfahrens als Gentleman­Kunst weiter betrieben wurde. Roger Taylor hat auf diese anhaltende Verwendung der Talbotypie hinge­ wiesen. Siehe Taylor: Impressed by Light (wie Anm. 36), S. 69 f. „These tints, however, might undoubtedly be brought nearer to uniformity, if any great advantage appeared likely to result: but, several persons of taste having been consulted on the point, viz. which tint on the whole deserved a preference, it was found that their opinions offered nothing approaching to unanimity, and there­ fore, as the process presents us spontaneously with a variety of shades of colour, it was thought best to admit whichever appeared pleasing to the eye, without aiming at an uniformity which is hardly attainable. And with these brief observations I commend the pictures to the indulgence of the Gentle Reader.“ H. Fox Talbot: The Pencil of Nature, London 1844, S. 12 f. Siehe Original Inv. Nr. 1990­5036­11349 Kodak Coll. (Kodak no. 1171), Rare books, Box 15, NMeM, Bradford. Siehe William Gilpin: Three Essays on Picturesque Beauty, on Picturesque Travel, and on Sketching Landscape (1794), Neudruck: Farnborough 1972. Aus der umfang­ reichen Forschungsliteratur zum picturesque sei auf Stephen Copley/Pater Garsise (Hg.): The Politics of the Picturesque. Literatur, Landscape and Aesthetics since 1770, Cambridge/New York/Melbourne 1994, verwiesen.

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4. Interessant ist nun, dass man bei der Durchsicht der entweder neu abgezoge­ nen Aufnahmen wie auch der erhaltenen originalen Positive bemerken kann, dass Talbot insgesamt in seinem fotografischen Œuvre – über die Auswahl für den Pencil of Nature hinausgehend – sehr häufig kleinteiliges Buschwerk, Ra­ senflächen, grobkörnige Oberflächen von Fassaden, kleinteilig strukturiertes Mauerwerk, gepflasterte Straßen im Vordergrund, ja auch Ruinen kalotypier­ te, wie eine Aufnahme zeigt, in der die arrangierte ländliche Szene mit Män­ nern, Frauen und Obstkörben eingerahmt wird von dem üppigen Blatt­ und Blütenwerk an der Fassade und dem gepflegten, jeden Grashalm zur Schau tragenden englischen Rasen.54 Weitere Beispiele zeigen berühmte Komposi­ tionen mit Spaten, Besen und Rechen vor einem Blütenmeer, in das sich das Auge des Betrachters gleichsam gärtnerisch hineinarbeitet, um von der Foto­ grafie nicht mehr lassen zu können,55 oder eine nahsichtige Komposition aus Buschwerk und ruinösem Mauerwerk, das so fotografiert ist, dass nicht die Objekte, sondern allein deren visuelle Qualitäten bestechen.56 Für Ansichten von Architekturen wie in High Street Oxford 57 wählte Talbot häufig im Vor­ dergrund Motive, die solche kleinteiligen Texturen zur Geltung brachten. Das Laubwerk und die Pflasterung der Straße sind hier für das Zeigen der Leis­ tung der Fotografie ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, als das touristisch bekannte Motiv der High Street in Oxford. Frappierend ist auch die ursprüng­ lich für den Pencil of Nature vorgesehene Aufnahme „Nelson’s Column un­ der Construction, Trafalgar Square, London“58, die den leicht diagonal in den Bildvordergrund gesetzten Bauzaun mit beschrifteten Plakaten zeigt, um de­ ren Lesbarkeit es Talbot geht.59 Vor der Bedeutung dieser Details rückt die Nelson­Säule nach rechts aus der Bildmitte, während das Denkmal für George IV. und St. Martin­in­the­Fields im linken Hintergrund zu einer helldunklen Masse verschmelzen und alsbald zu verschwinden drohen. Vielleicht wäre es nicht übertrieben zu sagen, dass Talbot hier die Bedeutung seines neuen Me­ diums und dessen visuelle Stärken über die Würde historischer Monumente setzt. Die „construction“ der Nelson­Säule könnte auch als „deconstruction“ 54 55 56 57 58 59

Siehe Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36), S. 79: „Die Obsthändler, Lacock Abbey, 1842, (17,2 × 21,2 cm)“. Siehe ebd. S. 81: „Spaten, Besen und Rechen, ca. 1842/43, (15,9 × 20,2 cm)“. Siehe ebd. S. 94: „Ruine, Ort und Datum unbekannt, (18,8 × 15,2 cm)“. Siehe Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), Pl. 60. Vgl. auch Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36), S. 116. Siehe Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), Pl. 81. Siehe dazu auch die Aufnahme vom Place du Carousel, 1843, Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36), S. 105.

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verstanden werden, die einem modernen Sehen Platz zu machen hat, das das Sehen der Werbung im öffentlichen Raum und das Sehen der Fotografie prio­ risiert. Und dieses neue Sehen sollte auch – bei aller Instruktion über das, was Sehen und Wahrnehmen sein können – das Spielerische und Vergnügliche der Betrachtung erlauben, eine Sehweise, die die akademische Tradition für eben­ so verpönt hielt, wie die Hüter des Establishments sich vom Anschlagen der Entertainment­Plakate am ehrwürdigen Trafalgar Square schockiert zeigten. Nicht zuletzt lässt sich Talbots Fokussierung auf kleinteilig struktu­ rierte Oberflächen in zwei nahsichtig die Fassaden des Boulevard des Capuci­ nes in Augenschein nehmenden Aufnahmen nachvollziehen.60 Das vormalig in der Sammlung des Science Museums, London, heute im National Media Museum, Bradford, befindliche Bild61 zeigt sich als eine Aufnahme, die detail­ genauer und bildschärfer ist als die andere.62 Diese beiden Aufnahmen lassen nachvollziehen, wie unterschiedlich Talbots Ergebnisse ausfallen konnten bzw. wie unterschiedlich sie überliefert sein können. Und es wird auch klar, dass keineswegs alle originalen Positive unbedingt verblichen sein müssen. Die Aufnahme „The Ancient Vestry“ – The Reverend Calvert R. Jones in the Cloisters, Lacock Abbey63 (Bild 13) – eine der beeindruckendsten, die Talbot geschaffen hat und die für den Pencil of Nature vorgesehen war – scheint vollends deutlich zu machen, dass Talbot sehr häufig Motive mit Oberflächen­ qualitäten wählte, die im Unterschied zu gleichförmigen Flächen die Leistun­ gen seines Mediums hervorzukehren vermochten: Strukturen, die eine Viel­ falt von Helldunkel­Wechseln erzeugten, fand Talbot vor allem anderen in den Oberflächen der Natur (besonders eindrücklich und möglicherweise von weitreichenderer Bedeutung auch in der Aufnahme von Buchen und Eichen),64 um die Schwächen der Kalotypie in mimetische Stärken der Detailgenauig­ keit verwandeln zu können.

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Siehe die schöne und instruktive Gegenüberstellung von Amelunxen: Die aufge­ hobene Zeit (wie Anm. 36), S. 108f.: „Paris, Boulevard des Capucines, 1843 (?), (16,2 × 20,7 cm)“; „Paris, Boulevard des Capucines, Mai 1843, (17,9 × 22,3 cm)“. Ebd. S. 109. Ebd. S. 108. Siehe Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), Pl. 100, S. 232 f. Siehe die drei Buchen in Scene in a Wood, abgebildet in Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), Pl. 57. Das Motiv der Buchen und Buchenwälder ließe sich hinsichtlich der Ästhetik des picturesque und der Land­ schaftsdarstellung in England um 1800 weiter verfolgen. Schaaf geht darüber hin­ aus auf etymologische Aspekte ein, die Talbot interessiert haben könnten. Vgl. zu Eichen und Seen als bevorzugte Motive Talbots: ebd. Pl. 50, S. 132.

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Bild 13 William Henry Fox Talbot: „The Ancient Vestry“ – The Reverend Calvert R. Jones in the Cloisters, Lacock Abbey, wahrscheinlich 9. September 1845, Kalotypie, 16,6 × 20,6 cm (Bildgröße) auf 19,8 × 25,5 cm (Papiergröße), New York, The Metropolitan Museum of Art, The Rubel Collection.

Im Vergleich mit einer Aufnahme von Calvert Jones ist schließlich er­ sichtlich, wie dieser Unschärfen und Verschwommenheit produziert,65 wo Talbots Bild das plastisch und detailreich erscheinende Laubwerk ins Bild rückt. Auch mit dieser Motivwahl stand Talbot in der Tradition des picturesque, jener Kategorie, die Kleinteiligkeit, Unregelmäßigkeit sowie roh und strukturiert aussehende Oberflächen und spezifische view-points ästhetisch goutieren ließ. In Talbots Briefen finden sich denn auch Landschafts­ und Ar­ chitekturbeschreibungen, die den Begriffen und Werten der Ästhetik des picturesque entsprechen.66 Besonders aufschlussreich an dem Bezug zwischen Gilpin’scher Ästhetik und Talbots Aufnahmen ist jedoch nicht allein die Mo­ tivik, sondern die Tatsache, dass, wie, Eckhard Lobsien formuliert hat, diese neuen Qualitäten des Bildes auf die „Anatomie der tatsächlichen Wahrneh­ 65 66

Siehe Amelunxen: Die aufgehobene Zeit (wie Anm. 36), S. 126: „Reverend Calvert Jones oder Kit Talbot, Cambridge ca. 1843/44, (16,1 × 21,1 cm)“. Siehe z. B. Talbots Briefe (wie Anm. 49) vom 28. 2. 1834 und vom 16. 7. 1843.

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mung“67 abzielten. Das heißt, der Betrachter sollte auf den Prozess von Sehen und Wahrnehmung mittels des Bildes aufmerksam werden, ja sich die Erfah­ rung klar machen, wie aus einem optischen Sinneseindruck ein Bild entsteht.68 Auf diese Weise rückte das Bild als etwas Prozesshaftes, als etwas, an dem der Betrachter notwendigerweise beteiligt ist, in das er involviert ist, in den Blick. Man könnte daher sagen: Das genaue Sehen der Details und die Wir­ kung ihrer ästhetischen Qualität lenkte von den Schwächen der Bilder ab, wie sie viele Zeitgenossen artikulierten, die die Talbotypie mit der Daguerreoty­ pie verglichen und ihre Maßstäbe wirklichkeitsgetreuer Darstellung aus der Zeichnung und Druckgraphik entwickelt hatten. Diese Strategie Talbots fand in dem Paradebild des „Pencil of Natur“, der Boulevardansicht, mit der sich Talbot in direkte Konkurrenz zu Daguerre begab (und damit motivisch und kompositionell festgelegt war), eine besondere Herausforderung. Liest man Talbots Text zu der berühmten Tafel II seines „Pencil of Nature“,69 muss man eingestehen, dass einiges beschrieben wird, was entweder gar nicht oder nur unter großer Anstrengung zu sehen ist. Wo der Blick in den Dunkelheiten versickern oder sich von abrupten Helligkeiten abwenden will, gibt Talbot Zielgenauigkeit des Sehens vor: Indem man nach dem geöffneten Fensterla­ den sucht, der an dem im Schatten liegenden Gebäude noch Licht einfängt, hat man einen Ankerpunkt im Helldunkel dieses Bildes gefunden. Die Beschaf­ fenheit der Straße sieht aus, als hätte sich dort ein Fehler bei der Entwicklung des Bild eingeschlichen, so wie dies etwa in der Aufnahme der High Street in Oxford der Fall ist,70 aber nein, Talbot klärt auf, dass es sich um zwei dunkle Streifen handelt, die von einem Wagen stammen, der kurz zuvor Wasser auf die Straße gespritzt habe und einer Baustelle habe ausweichen müssen. Tal­ 67 68

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Eckhard Lobsien: Landschaft als Zeichen. Zur Semiotik des Schönen, Erhabenen und Pittoresken, in: Landschaft, hg. v. Manfred Smuda, Frankfurt/M. 1986, S. 159– 177, hier S. 171. Siehe z. B. Gilpins folgende Ausführungen: „[…], the smoothness of the lake is more in reality, than in appearance. Were it spread upon the canvas in one simple hue, it would certainly be a dull, fatiguing object. But to the eye it appears broken by the shades of various kinds; by the undulations of the water; or by reflections from all the rough objects in their neighbourhood“. Zit. n.: Gilpins: Three Essays on Picturesque Beauty, on Picturesque Travel, and on Sketching Landscape (wie Anm. 53), S. 22. Siehe Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), The waxed negative survives, exhibiting the three defect spots in the fore­ Pl. 64: „The ground typically observed in published prints; there are several prints known that are not mounted in copies of ‚The Pencil of Nature‘“ S. 160. Siehe Schaaf: The Photographic Art of William Henry Fox Talbot (wie Anm. 36), S. 152: „The streaks [im Vordergrund der Aufnahme der High Street] are actually flow lines of chemicals in the original negative, a mechanical defect in no way fatal to the effect of the image.“

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bots erzählende Beschreibung seines Bildes ist sicher auch, wie Amelunxen hervorhebt, das erinnerte Bild des Fotografen und mag darüber hinaus in direkter Konkurrenz zur gestellten Aufnahme Daguerres als Authentizitäts­ beweis intendiert gewesen sein. Sie ist aber darüber hinaus auch der Versuch, eine Bildlogik zu etablieren, die ein neues Sehen dieses Mediums voraussetzt. Im Bildakt soll das erschaffen werden, was Talbot beschreibt, und das gelingt ihm auch. Indem Talbot eine Seh­ und Imaginationsanleitung gibt, wird das Bild nicht als mangelhaft erfahren. Vielmehr fügt sich tatsächlich die inner­ bildliche Heterogenität von hellen, mitteltonigen bis dunklen Flächen, die von strukturierten und gegenständlich genau erkennbaren Partien abgelöst wer­ den, zu einem Ganzen zusammen, das der Betrachter als seine eigene Leis­ tung anzuerkennen beginnt, je mehr er sich auf die Eigenheiten des Bildes einlässt und dabei notwendigerweise Sehgewohnheiten wie tradierte Erwar­ tungen an das, was ein Bild sei, aufzugeben und neu zu ordnen bereit ist. Auf diese Weise triumphiert die Fotografie als neues Bildmedium über den Be­ trachter, der sich einem ebenso überraschend neuen wie irritierenden Bild aussetzen muss, das Gewohntes in Frage stellt statt selbst in Frage gestellt zu werden. Talbot etabliert so mittels seines einführenden Textes wie durch die Bildbeschreibung eine vielfältige Strategie der Sehanleitung, die das gleich­ sam anfängliche Sehen von Helldunkel und Form vor jeder Bedeutungszu­ schreibung betrifft wie auch das Sehen der Aufnahme als in sich stimmige Gesamtkomposition einfordert, die letztlich auf einer Erzählung beruht, die das hervorkehrt, was gerade nicht zu sehen ist. Diese nicht zu sehenden Ele­ mente der Beschreibung verfugen gleichsam die zu sehenden Bildelemente, die sich in ihrer Heterogenität optisch nicht zusammenfügen lassen. Unaus­ weichlich ist dabei, dass der Leser und Betrachter in der Spannung zwischen Text und Bild seiner eigenen Seh­ und Wahrnehmungsleistung gewahr wird und der historische Betrachter im Zuge dessen ein damals neues Bildmedium zu sehen und zu goutieren lernte. Talbots raffiniert angelegtes Bild­Textver­ hältnis steht damit in der Tradition einer den Betrachter aktivierenden Sehan­ leitung, der, wie oben die Erörterung von Diderots Salonbesprechungen zei­ gen sollte, eine Intentionaliät eignet, die jeweils zu rekonstruieren ist. Ein Element der Zielsetzung derartiger Texte ist die Thematisierung des Sehens selbst, die mit Blick auf den eingangs erwähnten Film WAIT UNTIL DARK im oben schon zitierten Warnhinweis enthalten ist. Wie in diesem Film die Sehanleitung paradoxerweise als Zwang umgesetzt wird, sich auf die Kondi­ tion des Erblindens einzulassen, um so eine Handlung mittels der Ästhetik der Bilder zu erwirken, soll abschließend dargelegt werden.

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Timecode 1:38:47 Bild 14 Stills aus WAIT UNTIL DARK (USA 1967, Terence Young).

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5. Sehkonventionen und Erwartungen an eine visuell nachvollziehbare Hand­ lung werden im Laufe von WAIT UNTIL DARK immer stärker auf die Probe gestellt. Nachdem die Blinde die Lampe des Entwicklungslabors zerschlagen hat, ist sie die Überlegene; der Zuschauer und der Killer sind indes hilflos im Dunkeln Tappende. Im Stakkato der letzten Szenen werden die Zuschauer ab­ wechselnd mit den um ihr Leben, aber auch um das Primat des Sehens Kämp­ fenden konfrontiert: Hepburn, die vor dem Zuschauer buchstäblich in die Knie geht, und der sterbende, blutüberströmte Psychopath, dessen sehende Augen ihn vor ihrer Messerattacke nicht haben schützen können (Bild 14). Der Killer ist nun tödliche Bedrohung und Sterbender zugleich. In dem Maße, wie sich beide – die Blinde und der Sehende – im Wechsel der Bilder immer ebenbürtiger werden, wird der Zuschauer in eine Entscheidungssituation zwi­ schen Sehen und Erblinden getrieben. Will der Kinogänger sehen um jeden Preis, oder kann er sich zurücknehmen, ja ganz Verzicht leisten, damit die Heldin überleben kann? Hinter den Kühlschrank kriechend und kauernd, richtet sie ihren verzweifelten Ruf „Where is it? Where is it?“ an den Zu­ schauer. Gemeint ist der Stecker des Kühlschranks – die letzte Lichtquelle, die erlöschen muss. Als endlich völlige Dunkelheit einkehrt, bleibt zunächst unklar, wie die Szene ausgehen wird (Bild 15). In Konfrontation mit dem schwarzen Bild und im Dunkel des Kinosaals muss der Betrachter mit sich selbst ringen – un­ ter Ausschaltung des Sehens und in der körperlichen Empfindung der Orien­ tierungslosigkeit. Auf diese Weise wird seine innere Beteiligung signifikant gesteigert, ja man kann die Radikalität dieses Films darin sehen, dass er nicht allein Sehlust, Neugier und Erschauern, sondern in einer pathetischen Wen­

Timecode 1:39:12 Bild 15 Stills aus WAIT UNTIL DARK (USA 1967, Terence Young).

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dung eine wache Humanität zu aktivieren sucht. Damit kehrt der Film zu der ursprünglichen, im 18. Jahrhundert sich so intensiv entfaltenden Debatte zu­ rück, was Sehen eigentlich sei. Der Betrachter hat sich entschieden zu erblin­ den und sei es nur für wenige Minuten. Seine illusionistische Sehsucht ist gebrochen und macht den Weg frei für ein Happy End, das das ästhetische Happy End einer sich selbst bewussten Bildkunst ist, die mittels ihrer aktivie­ renden Ästhetik – nicht mittels moralisierender Bilderzählungen – in die Dimension ethischer Reflexion vorzudringen weiß.

Shaun Gallagher

A EST H ET ICS A N D K I NA EST H ET ICS1

Recent neuroscientific research on “mirror neurons” (MNs), neurons activated both when we engage in intentional action and when we observe the intentional actions of others, has initiated an ongoing debate in regard to questions about social cognition.2 On one view, MNs are said to constitute simulations through which we are able to understand the actions, or even the mental states, of others.3 On an alternative view, MNs are an integral part of an enactive perceptual system that contributes to our intersubjective interactions.4

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My research on this project was supported by a research grant as Visiting Researcher at the Centre de Recherche en Epistémelogie Appliquée, École Polytechnique, Paris (2009–2010). My thanks to Dorothée Legrand for critical discussion of an earlier draft. E.g. Shaun Gallagher: Simulation trouble. Social Neuroscience 2/3 (2007), pp. 353– 65; Shaun Gallagher: Neural simulation and social cognition, in: Mirror Neuron Systems: The Role of Mirroring Processes in Social Cognition, ed. by Jaime A. Pineda, Totowa 2008, pp. 355–71; Vittorio Gallese: Before and below ‘theory of mind’: embodied simulation and the neural correlates of social cognition, Philosophical Transactions of the Royal Society, B-Biological Sciences 362/1480 (2007), pp. 659– 669; Alvin I. Goldman: Simulating minds: The philosophy, psychology and neuroscience of mindreading, Oxford 2006; Mitchell Herschbach: Folk psychological and phenomenological accounts of social perception, Philosophical Explorations 11 (2008), pp. 223–235; P. Jacob: The direct perception model of empathy. Paper presented at the DISCOS International Conference on Intersubjectivity and the Self, Budapest, 18 June 2010; Dan Zahavi/Shaun Gallagher: The (in)visibility of others: A reply to Herschbach, Philosophical Explorations 11/3 (2008), pp. 237–43. Vittorio Gallese: The ‘shared manifold’ hypothesis: from mirror neurons to empathy, Journal of Consciousness Studies 8(2001), pp. 33–50; Vittorio Gallese: ‘Being like me’: Self-other identity, mirror neurons and empathy, in: Perspectives on Imitation I, ed. by Susan Hurley/Nick Chater, Cambridge 2005, pp. 101–118; Gallese: Before and below ‘theory of mind’ (as fn. 2); Goldman: Simulating minds (as fn. 2). Gallagher: Simulation trouble (as fn. 2); Gallagher: Neural simulation and social cognition (as fn. 2).

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SHAUN GALL AGHER

David Freedberg and Vittorio Gallese have proposed to extend this research to the study of art and aesthetic experience.5 This particular application follows a tradition that originated at the beginning of the 20th century with the German philosopher Theodor Lipps. Lipps discussed the concept of Ein­ fühlung, which he equated with the Greek term empatheia.6 He attributed our capacity for empathy to a sensory-motor mirroring, an involuntary, “kinesthetic” inner imitation of the observed vital activity expressed by another person. For Lipps, our kinaesthetic imitation also informs our experience of art. Seeing an artwork initiates a sense of empathy in the perceiver. Extending this idea to MNs, Freedberg and Gallese write: [A] crucial element of esthetic response consists of the activation of embodied mechanisms encompassing the simulation of actions, emotions and corporeal sensation, and […] these mechanisms are universal.7 The category “embodied mechanisms” includes both MNs and “canonical neurons” (CNs). The latter are specific neurons that get activated when either I reach and grasp a tool or instrument, or I simply see the tool or instrument. According to Freedberg and Gallese, when we empathically engage with a work of art, we have “a sense of inward imitation of the observed actions of others in pictures and sculptures”, or of possible uses of represented objects.8 MNs and CNs are activated so that viewers “might find themselves automatically simulating the emotional expression, the movement or even the implied movement within the representation”.9 This is also the case for architecture and abstract paintings. Simulation occurs not only in response to figurative works but also in response to the experience of architectural forms, such as a twisted Romanesque column. With abstract paintings such as those by Jackson Pollock viewers often experience a sense of bodily involvement with the movements that are implied by the physical traces – in brushmarks or paint drippings – of the creative actions of the producer of the work.10

5 6 7 8 9 10

David Freedberg/Vittorio Gallese: Motion, emotion and empathy in esthetic experience. Trends in Cognitive Sciences 11/5 (2007), pp. 197–203. Theodor Lipps: Einfühlung, innere Nachahmung und Organempfindung. Archiv für die Gesamte Psychologie, Bd. I, 2. Teil, Leipzig 1903. Freedberg/ Gallese: Motion, emotion and empathy in esthetic experience (as fn. 5), p. 197. Ibid. Ibid. Ibid.

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I have three worries, reservations, or objections in regard to the claims made by Freedberg and Gallese. But first let me say that I am not a mirrorneuron skeptic. Despite recent questions raised about the existence of MNs in humans,11 there is good evidence to show that something like a mirror system does play a role in human social cognition and understanding of actions.12 In addition, there is some evidence for MN activation when we view images. For example, when subjects view still photos of dynamic actions vs static poses, there is more activation in MN areas: ventral premotor and inferior parietal cortices but also the dorsal premotor, SMA, middle cingulate, somatosensory, superior parietal, middle temporal cortices and the cerebellum.13 Accordingly, there is good reason to accept the idea that there is MN and CN activation in humans in the case of viewing a painting, sculpture, and perhaps even architecture. Nonetheless, my three worrisome issues still remain. First, Freedberg and Gallese do not account for the fact that our reactions to images and artistic representations of actions and objects are different from our reactions to real actions and objects. Here, by ‘real’ actions and objects I simply mean ‘real’ in the ordinary sense that would contrast with images or artistic representations. Second, as I will argue, simulation is the wrong model for explaining the activation of MNs and CNs. And third, if the Freedberg-Gallese account is right, then either it diminishes art or it diminishes the MN account of social cognition.

11

12

13

Ilan Dinstein/Thomas Cibu/Marlene Behrmann/David J. Heeger: A mirror up to nature. Current Biology 18/1 (2008), pp. R13–R18; Gregory Hickok: Eight problems for the mirror neuron theory of action understanding in monkeys and humans, Journal of Cognitive Neuroscience 21/7 (2009), pp. 1129–1243. See e.g., Trevor T.-J. Chong/Ross Cunnington/Mark A. Williams/Nancy Kanwisher/Jason B. Mattingley: fMRI adaptation reveals mirror neurons in human inferior parietal cortex, Current Biology 18/20 (2008), pp. 1576–1580; Valeria Gazzola/Christian Keysers: The observation and execution of actions share motor and somatosensory voxels in all tested subjects: single-subject analyses of unsmoothed fMRI data, Cereb Cortex 19/6 (2009), pp. 1239–1255; Roy Mukamel/Arne D. Ekstrom/ Jonas Kaplan/ Marco Iacoboni/Itzhak Fried: Single-Neuron Responses in Humans during Execution and Observation of Actions. Current Biology [Epub ahead of print] (2010). Valeria Gazzola/Christian Keysers: The observation and execution of actions share motor and somatosensory voxels in all tested subjects: single-subject analyses of unsmoothed fMRI data, Cereb Cortex (2008), bhn 181; Alice Mado Proverbio/Federica Riva/Alberto Zani: Observation of static pictures of dynamic actions enhances the activity of movement-related brain areas, PLoS ONE 4 (5) e5389 (2009), pp. 1–8.

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1. D i f ferenc e One might think that the Freedberg-Gallese story could easily work for photographic images, photo or digital graphic realism, or trompe l’oeil painting. Still, there is definitely something different between an actual encounter with real people and things and an encounter with these hyper-realistic art forms since the latter are still representations rather than actually present things or people. If my CNs do get activated when I observe an image of a hammer, and if my MNs do get activated when I observe an image of a person, there must still be some important differences in the complex neural activations that are involved since the image of the hammer or the person is not something I can interact with in the same way that I can interact with a real hammer or real person. What Husserl calls the “I can” is different. For example, presented with an image of a hammer, I can’t pick up the hammer and use it as I would a real hammer. Presented with a portrait, I can’t interact with the ‘person’ in the painting in the same way that I can interact with a real person. Would my emotional response to the image of a tiger be the same as it would be if I confronted a real tiger? One way to put this is to say the hammer offers an affordance for hammering; the image of a hammer does not. A person offers the affordance of social interaction; the image of a person does not. A landscape offers a set of affordances or non-affordances of physical movement; a landscape painting does not. The image or artwork offers a different set of affordances – not hammering, not social interaction, not physical movement – but what? I’ll return to this question.

2. Si mu lat ion? Freedberg and Gallese equate MN and CN activation to a subpersonal simulation of the perceived action or affordance. In the context of social cognition, I’ve argued against the simulationist interpretation of MNs.14 In that context, the concept of simulation is derived from the simulation theory (ST) of social cognition. According to ST, I understand another person’s mental states through a process in which I put myself in the other person’s shoes and run a simulation of what I would think if I were in such a situation. Here, for example, is Alvin Goldman’s description of simulation.

14

Gallagher: Simulation trouble (as fn. 2); Gallagher: Neural simulation and social cognition (as fn. 2).

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AESTHETICS AND KINAESTHETICS

First, the attributor creates in herself pretend states intended to match those of the target. In other words, the attributor attempts to put herself in the target’s ‘mental shoes’. The second step is to feed these initial pretend states [e.g., beliefs] into some mechanism of the attributor’s own psychology […] and allow that mechanism to operate on the pretend states so as to generate one or more new states [e.g., decisions]. Third, the attributor assigns the output state to the target […] [e.g., we infer or project the decision to the other’s mind].15 The neuroscience of MNs has been cited as empirical evidence to support ST, and to suggest that the simulation of another person’s action may take place as a sub-personal automatic response to observing that action.16 Gallese captures it clearly in his claim that activation of mirror neurons involves “automatic, implicit, and nonreflexive simulation mechanisms […]”.17 Gallese refers to his model as the “shared manifold hypothesis” and distinguishes between three levels:18 The phenomenological level is the one responsible for the sense of similarity that we experience anytime we confront ourselves with other human beings. It could be defined also as the empathic level. The functional level can be characterized in terms of simulation routines, as if processes enabling models of others to be created. The subpersonal level is instantiated as the result of the activity of a series of mirror matching neural circuits. The general idea that MNs involve simulation seems to be the consensus view. Indeed, the use of the term ‘simulation’ is becoming the standard way of referring to mirror system activation. Thus, for example, Marc Jeannerod and Elisabeth Pacherie write: As far as the understanding of action is concerned, we regard simulation as the default procedure […]. We also believe that simulation is the root form of interpersonal mentalization and that it is best conceived as

15 16 17 18

Alvin I. Goldman: Imitation, mind reading, and simulation, in: Susan Hurley/Nick Chater (eds.): Perspectives on Imitation II, Cambridge, MA 2005, pp. 79–93, pp. 80–81. Gallese: The ‘shared manifold’ hypothesis (as fn. 3); Vittorio Gallese/Alvin I. Goldman: Mirror neurons and the simulation theory of mindreading. Trends in Cognitive Sciences 2 (1998), pp. 493–501. Gallese: ‘Being like me’ (as fn. 3), p. 117; also see Gallese: Before and below ‘theory of mind’ (as fn. 2). Gallese: The ‘shared manifold’ hypothesis (as fn. 3), p. 45.

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a hybrid of explicit and implicit processes, with subpersonal neural simulation serving as a basis for explicit mental simulation.19 Jean Decety and Julie Grèzes, citing Rizzolatti’s position, put it this way: By automatically matching the agent’s observed action onto its own motor repertoire without executing it, the firing of mirror neurons in the observer brain simulates the agent’s observed action and thereby contributes to the understanding of the perceived action.20 Goldman defends a “low-level” form of simulation that is “simple, primitive, automatic, and largely below the level of consciousness”,21 and the prototype for which is “the mirroring type of simulation process”.22 Neural simulation has also been cited as an explanation of how we grasp emotions and pain in others.23 Oberman and Ramachandran use the idea of a dysfunction of “simulator neurons” as a way to explain autism.24 There are, however, a number of problems involved with the claim that MNs are simulator neurons. First, there is a definitional problem. ST defines simulation as something that involves both pretense and instrumental con­ trol (where the subject actually controls the simulation routine). Clearly, however, sub-personal MN processes do not involve pretense or instrumental control. In regard to the latter, the experiencing subject does not manipulate or control the activated brain areas, in fact we have no instrumental access to neuronal activation. Indeed, in social cognition these neuronal systems do not take the initiative; they do not activate themselves. Rather, they are activated 19

20 21 22 23

24

Marc Jeannerod/Elisabeth Pacherie: Agency, simulation, and self-identification, Mind and Language 19/2 (2004), pp. 113–146, p. 129; see Marc Jeannerod: Neural simulation of action: A unifying mechanism for motor cognition, Neuroimage 14 (2001), pp. 103–109; Marc Jeannerod: The mechanism of self-recognition in humans. Behavioural Brain Research 142 (2003), pp. 1–15. Jean Decety/Julie Grèzes: The power of simulation: Imagining one’s own and other’s behavior, Brain Research 1079 (2006), pp. 4–14, p. 6. Goldman: Simulating minds (as fn. 2), p. 113. Ibid., p. 147. Alessio Avenanti/Salvatore Maria Aglioti: The sensorimotor side of empathy for pain, in: Psychoanalysis and Neuroscience, ed. by Mauro Mancia, Milan 2006, pp. 235–256; Ilaria Minio-Paluello/Alessio Avenanti/Salvatore Maria Aglioti: Social Neuroscience 1/3–4 (2006), pp. 320–333; Vittorio Gallese/Morris N. Eagle/ Paolo Migone: Intentional attunement: Mirror neurons and neural underpinnings of interpersonal relations, Journal of the American Psychoanalytic Association 55/1 (2007), pp. 131–176. Lindsay M. Oberman/Vilayanur S. Ramachandran: The simulating social mind: The role of mirror neuron system and simulation in the social and communicative deficits of Autism Spectrum Disorders, Psychological Bulletin 133/2 (2007), pp. 310–327.

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by the other person’s action. The other person has an effect on us and elicits this activation. We do not initiate activation of MNs; it’s the other who does this to us via a perceptual elicitation.25 In regard to pretense, there is no pretense in sub-personal mirror processes. What these neurons register cannot involve pretense in the way required by ST. Since MNs are activated both when I engage in intentional action and when I see you engage in intentional action, the mirror system is said to be neutral with respect to the agent; no first- or third-person specification is involved in MN activation.26 In that case, it is not possible for them to register my intentions as pretending to be your intentions; there is no “as if” of the sort required by ST because there is no ‘I’ or ‘you’ represented. Even if MNs were not neutral with respect to the agent (that is, even if MNs involved some implicit or temporal characteristics that would specify the agent) that would still not be enough to satisfy a condition of pretense. Just such worries have motivated some theorists to give up this strong definition of simulation. Goldman, for example, offers a more liberal and minimal definition of simulation.27 He defends what I’ll call the matching hypo­ thesis: simulation is minimally a form of matching. [We] do not regard the creation of pretend states, or the deployment of cognitive equipment to process such states, as essential to the generic idea of simulation. The general idea of simulation is that the simulating process should be similar, in relevant respects, to the simulated process […]. In the case of successful simulation, the experienced state matches that of the target. This minimal condition for simulation is satisfied [in the neural model].28 This shift in definition, however, does not solve the problem, since there is good behavioral and neurological evidence that MN activation is not equivalent to matching. Here, without going into extensive arguments let me simply point out some of the neuroscientific evidence.29 Dinstein, Gardner et al. have shown that in certain parts of the brain where MNs have been shown to exist

25 26

27 28 29

Gallagher: Neural simulation and social cognition (as fn. 2). Gallese: ‘Being like me’ (as fn. 3); Susan L. Hurley: Active perception and perceiving action: The shared circuits model, in: Tamar Szabo Gendler/John Hawthorne (eds.): Perceptual Experience, New York 2005; Jeannerod/Pacherie: Agency, simulation, and self-identification (as fn. 19). Goldman: Simulating minds (as fn. 2). Alvin I. Goldman/Chandra Sekhar Sripada: Simulationist models of face-based emotion recognition, Cognition 94 (2005), pp. 193–213, p. 208. See Gallagher: Neural simulation and social cognition (as fn. 2) for these arguments.

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– specifically anterior intraparietal sulcus (aIPS) – areas activated for prod­ ucing a particular hand action are not activated for perceiving that hand action in another.30 Using a paradigm based on the game Paper-Scissors-Rock, they had subjects make specific hand gestures and view the images of another person matching hand gesture. While the hand gestures matched, the brain states did not: “distinctly different fMRI response patterns were generated by executed and observed movements in [anterior intraparietal sulcus] […] aIPS exhibits movement-selective responses during both observation and execution of movement, but […] the representations of observed and executed movements are fundamentally different from one another.”31 This lack of matching should not be a surprise, based on the known neuroscientific details about MNs. Of MNs activated by a single type of observed action, that action is not necessarily the same action defined by the motor properties of the neuron. Approximately 60% of mirror neurons are “broadly congruent”, which means there may be some relation between the observed action(s) and their associated executed action, but not an exact match. Only about one-third of mirror neurons show a one-to-one congruence. MN activation, thus, does not necessarily involve a precise match between motor system execution and observed action, but may be involved in “logically related” actions or in anticipating future action.32 Activation of the broadly congruent mirror neurons may represent a complementary action rather than a similar action.33 This interpretation also fits with the anticipatory nature of MNs which are activated prior to the completion of action.34

30 31 32

33 34

Ilan Dinstein/Justin L. Gardner/Mehrdad Jazayeri/David J. Heeger: Executed and observed movements have different distributed representations in human aIPS, The Journal of Neuroscience 28/44 (2008), pp. 11231–11239. Ibid., p. 11237. Gergely Csibra: Mirror neurons and action observation. Is simulation involved? at ESF Interdisciplines. http://www.interdisciplines.org/mirror/papers/ (2005); Marco Iacoboni/Istvan Molnar-Szakacs/Vittorio Gallese/Giovanni Buccino/John C. Mazziotta/Giacomo Rizzolatti: Grasping the intentions of others with one’s own mirror neuron system. PLoS Biology 3/79 (2005), pp. 1–7. Roger D. Newman-Norlund/Matthijs L. Noordzij/Rund G.J. Meulenbroek/Harold Bekkering: Exploring the brain basis of joint attention: Co-ordination of actions, goals and intentions, Social Neuroscience 2/1 (2007), pp. 48–65, p. 55. Gergely Csibra: The function of motor mirroring during action observation. Paper presented at the DISCOS International Conference on Intersubjectivity and the Self, Budapest, 17 June 2010.

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These neuroscientific facts point in the direction of an alternative interpretation, that is, an enactive interpretation of MN and CN activation. On the enactive view, our engaged understanding of the world (whether pragmatic or intersubjective) is based not on simulation or matching what we see, but on enactive perceptual and interactive processes. Accordingly, MN and CN activations are part of action-oriented perceptual processes that prime or prepare the system for action and response: CN activation in the perceptual process is for action, MN specifically for intersubjective interaction. Action understanding (my understanding of your action) is not a passive, observational event; it’s an understanding of what I can do in response to your action. Action perception does not elicit a simulation or matching state, but a preparation for response. I perceive the other’s action as something to which I can respond – a social affordance. This is enactive perception, which does not require that I put myself in the other person’s shoes; it’s perception for interaction – rather than simulation. A recent empirical study by Caggiano et al. supports this interpreta35 tion. Rhesus monkeys were presented with a display of action in two different conditions: in one case, in peripersonal space (that is, reachable space) and in the other case, in extrapersonal space, which they could not reach without locomotive movement. Brain imaging showed differential activation of MNs in premotor cortex for peripersonal space vs extrapersonal space. As the authors suggest: A portion of these spatially selective mirror neurons […] encode space in operational terms, changing their properties according to the possibility that the monkey will interact with the object. These results suggest that a set of mirror neurons encodes the observed motor acts not only for action understanding, but also to analyze such acts in terms of features that are relevant to generating appropriate behaviors.36 On the enactive view one might go further to suggest that action understanding is precisely in the form of understanding the features of that action that are relevant to appropriate responses. This is not simulation. I do not anticipate interaction by replicating the other agent’s state, but by enactively responding to the possibilities that the other’s actions afford. If the enactive interpretation is correct, then it suggests why our reactions to images and artistic representations of actions and objects are different 35 36

Vittorio Caggiano/Leonardo Fogassi/Giacomo Rizzolatti/Peter Their/Antonio Casile: Mirror neurons differentially encode the peripersonal and extrapersonal space of monkeys, Science 324 (2009), pp. 403–406. Ibid., p. 403.

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from our reactions to real actions and objects. The difference is a difference in the way we can and do enactively respond to, e.g., the artistic representation vs the presence of a real person, corresponding to differences in the actions that the artwork vs the real person affords.

3. D i m i n ish ment of a r t or so c ia l c og n it ion The Freedberg-Gallese account motivates a third worry: If their account were right, and specifically, if they were right in their claim that MN activation for art generates the same kind of empathy as found in social cognition, then either it diminishes art or it diminishes the MN account of social cognition. On the one hand, if our reactions to artistic representations were summarized by MN/CN activation (considered as empathic simulation or matching), it suggests that aesthetic experience is not different from our everyday experience of persons and objects. On the other hand, if activation of the mirror system in response to others were the same as in the case of observing images and artistic representations, or especially of seeing the qualitative aspects of brush strokes, architectural features, etc., then MN activation would not be specific to intersubjective interaction, a claim that Gallese and others have consistently been defending. Doesn’t the fact that art affords something different than that afforded by objects and people, suggest that neuronal processes involved in these different kinds of engagement are different, and each special in their own way? Since I can’t pick up the hammer represented in the painting; since I can’t interact with the person portrayed in the painting, I experience the work of art in the mode of an anticipatory kinaesthetics that I can never fulfill or satisfy in the way that I may be able to satisfy if the hammer or the person is present. In this respect, one might say that the work of art falls short of actuality, or, perhaps more positively, the work of art transcends actuality in that it presents me with enactive possibilities that remain only possibilities that cannot be actualized37 – without going through some further process – that is, without moving outside of the representational frame, e.g., by finding the actual person portrayed in the painting and interacting with her. My embodied-enactive perception of art involves the kinaesthetic-anticipatory response to a non-realizable (non-practical, non-interactionable) affordance. It seems appropriate to think that this non-realizability is somehow registered/recognized in the motor system. That is, it seems possible that 37

Also, of course, it presents me with other possibilities that could be actualized with the physical art piece itself, as distinguished from the artwork. E.g., I could remove it from its current place and put it someplace else; I could purchase or sell it, etc.

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the non-realizability implicit (or explicit) in art registers in the motor system and generates a feeling different from our encounter with tools or others – not a priming for action or interaction, but for an experience of the purely possible or maybe even the impossible. This kind of affordance short circuits – it does so in a way that comes back to me and makes me aware of my possibilities, and does so in a way that disrupts my ordinary engagements. This is a positive accomplishment of art.

4. A n enac t ive phenomenolog ic a l aest he t ic s The enactive approach outlined here is consistent with several traditional phenomenological approaches to aesthetics. Consider first the embodied approach to aesthetic experience taken by Merleau-Ponty, who Freedberg and Gallese themselves cite. As Merleau-Ponty says in his essay on Cezanne, We live in the midst of man-made objects, among tools, in houses, streets, cities, and most of the time we see them only through the human actions which put them to use. We become used to thinking that all of this exists necessarily and unshakably. Cezanne’s painting suspends these habits of thought and reveals the base of inhuman nature upon which man has installed himself. This is why Cezanne’s people are strange, as if viewed by a creature of another species.38 To the extent that art suspends our habits of thought, it differentiates itself from our everyday encounters – with others or with worldly things. It reveals something different in a way that shakes and challenges our everyday attitudes. The Heideggerian analysis suggests a similar way of thinking. Heidegger understands art, not as something ready-to-hand (an instrument to be used – which involves our primary and everyday way of being-in-the-world), and not as something present-at-hand (an object for cognition – a derivative way of regarding the world, mistaken as primary by philosophers like Descartes). Rather, Heidegger regards art as something revelatory of being – and specifically, we could say, revelatory of being-in-the-world itself – that is, revealing of our own possibilities – as well as, perhaps, impossibilities.39 Consider further the view taken by Husserl in his notion of anticipatory kinaesthetics for perception. Husserl emphasized the importance of kinaesthesia for embodied perception, and noted especially the kinaesthesia linked to extra-ocular movements as one’s eyes scan the world.40 Such kinaesthetic 38 39 40

Maurice Merleau-Ponty: Sense and non-Sense, Evanston, IL 1964, pp. 15–16. Martin Heidegger: Basic Writings, 2nd edition, ed. by David F. Krell, New York 1993. Edmund Husserl: Ding und Raum. Husserliana 16, Den Haag 1973.

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Fig. 1

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Yarbus’s scan patterns.

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response – or in neuroscientific terms, motor resonance – is reflective of the “I can” – that is, of my possibilities for action. The aesthetic kinaesthetic response, however, would be different from our everyday kinaesthetic response, precisely because the “I can” would be different for artistic works than for other people or things. Husserl’s phenomenological considerations anticipated, in a certain way, Yarbus’s experiments on saccadic eye movements, and together they suggest a possible empirical study.41 Yarbus presented subjects with a painting that shows six women and the arrival of a male visitor; subjects are then asked to do certain tasks. View the picture at will Estimate the material circumstances of the family in the picture Judge the age of the people in the painting Guess what the people had been doing prior to the arrival of the visitor Remember the clothing worn Remember the position of the objects in the room Estimate how long it had been since the visitor was last seen by the people in the painting. In response to each question there was a typical visual scan pattern (fig. 1). The eyes scanned different patterns in the painting depending on the task. We would expect the different scan patterns to be accompanied by different kinaesthetic patterns. Using a similar experimental paradigm Holsanova showed subjects an image (fig. 2) and simply asked them to tell a story about it.42 Holsanova showed that eye scan patterns of subjects viewing the painting vary in correlation to the different narrative descriptions of the scene. Where their eyes go, there goes the story. Their viewing is dynamic and enactive – they see the picture in terms of actions – and as they narrate it, they anticipate lines of action that are not depicted; they see possibilities that are only potential in the image itself. Saccades and scan paths anticipate the items mentioned in the narrative – narrative follows the scan paths. Again, the supposition is that kinaesthetic patterns – motor patterns – the activation of the motor system – enactively correlate with the scan paths – not just following them or simulating or matching what is there on the canvas, but anticipating the possible lines of comprehensible narratives. Anticipatory kinaesthesia is 41 42

Alfred L. Yarbus: Eye Movements and Vision, New York 1967. Jana Holsanova: Dynamics of picture viewing and picture description, in: Visual thought. The depictive space of the mind, ed. by Liliana Albertazzi, Amsterdam 2006, pp. 233–254.

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Fig. 2

A motif from Nordqvist 1990.

not simply the shadow of movement – it can be the foreshadowing of movement. To show that our perception of the artwork is not enactively equivalent to our perception of other persons or objects, one might introduce a further condition into Holsanova’s study: Use a scenario similar to the Holsanova study, where the narrative is based on an image. Use a quasi-theatrical setting with live models, real people with whom one could potentially interact, arranged in the same way as represented in the image. The hypothesis: comparative analysis of the scan paths (and patterns of kinaesthesia/motor system resonance) would show differences between the image and the live setting even for similar narratives. One reason for the hypothetical difference is that real people stare back; they see us, or potentially see us, unlike people represented in images. Just that, and perhaps even just their presence, has an effect that is different from non-seeing images, and calls forth a response (and a motor resonance) on our part that is correspondingly different.

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5. Conc lusions I have argued that our reactions to images and artistic representations of people and actions and objects are not of the same order as our reactions to real people, actions and objects. Freedberg and Gallese fail to account for this difference. Aesthetic experiences offer affordances that short-circuit in a way that comes back to the perceiving agent, disrupting ordinary engagements, and creating possibilities that are not realizable in current or established frameworks. We gain this insight if we take an enactive view and give up the simulationist interpretation of mirror/canonical neuronal activation. And if we do, we find phenomenological support for a view of aesthetic experience that is also open to empirical verification.

I I . DY N A M I K D E S B L I C K E N S

Helmut Pape

W I R KÖN N E N N U R GEMEINSA M SEHEN1 Die Verschränkung der Blicke als Modell humanen Sehens

1. E i n leit u ng D ie Fr a ge stel lu ng: I nw ie f er n i st S ehe n nu r ge me i n s a m mög l ic h? Sehen scheint häufig ein gänzlich individuelles, ja einsames Geschäft zu sein. Jeder von uns blickt gelegentlich allein auf eine Landschaft, auf ein Bild, erblickt einen Menschen oder blickt auf einen Monitor. Um etwas sehen zu können, muss der einsam Blickende sich nicht austauschen: Er oder sie erblickt doch für sich bereits alles, was es zu sehen gibt. Es spricht also viel für die zum Titel konträre These: Jeder von uns kann beanspruchen, er oder sie wisse oder erfahre bereits für sich selbst, was man gesehen habe. Was braucht es da den oder die Andere, damit Sehen gelingt? Doch diese Beschreibung des Sehens als solistischer Akt ist nur beschränkt zutreffend; sie berücksichtigt nicht, was Sehen erst möglich macht, und bleibt auf der Oberfläche momentan ausgeführter individueller Blicke und Seherfahrungen stehen. Denn ebenso ist richtig: Sehen leistet eine komplexe Orientierung und einen Umgang mit der Umwelt. Nicht erst das kenntnisgeleitete Sehen z. B. von Bildern und Skulpturen kann nur gelingen, weil Sehen eine kulturell geformte Leistung ist, die Menschen nur in kulturellen Gemeinschaften erwerben können. Nicht erst mit dem: „Schau mal Kind, diese wunderschöne Kirche“, sondern mit jeder Lenkung visueller Aufmerksamkeit hat jeder von uns in der Kindheit von anderen Menschen sehen gelernt und lernt als Erwachsener weiter. Der einsamste Blick, z. B. eines Robinson auf die Bäume seiner Insel, ist in diesem Sinne nur als kulturgemeinschaftlicher Blick möglich. Es ist diese kulturelle 1

Ich danke Guido Löhrer, Universität Erfurt, Christian Strub, Freie Universität Berlin, und Rainer Marten für Hinweise und Korrekturen einer Vorfassung dieses Aufsatzes.

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aber auch die historisch-zeitgenossenschaftliche Gemeinschaft der Sehenden, die den einsam Blickenden darin beeinflusst, welche Objekte er auf welche Weise visuell erfasst. Diese Einsicht ist wahr, aber so trivial, dass ihr kaum jemand widersprechen wird. Deshalb soll sie uns als Ausgangspunkt dienen, um eine interessantere Frage zu formulieren: Wie wirken in gemeinschaftlichen Situationen das spontane visuelle Reagieren und das gezielte visuelle Handeln mit gemeinschaftlichem Sehen zusammen, sodass dadurch menschliches Sehen von Dingen, Objekten und Szenen erst möglich wird? Wie können wir die menschliche Gemeinschaft der Sehenden denken? In einer Antwort auf diese Frage werde ich in diesem Aufsatz einige Gedanken von Rainer Marten als eine visuelle Anthropologie verstehen. Aus Martens Ansatz folgt, dass die Nähe der offenen, einander spiegelnden Blicke eine Gemeinschaftlichkeit des Sehens herstellt, die zur menschlichen Lebensform gehört. Damit werde ich dann abschließend Peirce‘ Semiotik und Logik der visuellen Dialoge kontrastieren, die visuelle Gemeinschaft durch das Objekt erklärt.

2. R a i ner Ma r ten u nd d ie v isuel le A nt h rop olog ie der Begeg nu ng der Bl ic ke z w isc hen z wei Mensc hen „Wie i n e i ne m Spiegel“: E i ne Fr a ge u nd e i ne A nt wor t In welchem Sinne hat Rainer Marten recht, wenn er behauptet, dass Sehen nur gemeinsam möglich ist? Marten gibt auf diese Frage eine naheliegende Antwort: Was Menschen nur gemeinsam sehen können, ist der Blick eines Menschen, der den Blick eines anderen Menschen sieht: Das offene Erblicken des Blicks eines anderen Menschen. Entscheidend ist die Erfahrung der Wechselseitigkeit und Spontanität der Blicke. Einander als Nächste so zu erblicken ist etwas, was nicht von dem einen gezielt herbeigeführt werden kann, sondern geschieht beiden: Der eine Blick wird im Moment der Nähe vom Anderen als Blick in seine Augen gesehen und als solcher erwidert. Jemand fängt meinen Blick auf, „hält ihm stand“, indem er oder sie zurückblickt. Wenn der Andere meinen Blick auffängt und mir ebenso offen und unverwandt in die Augen sieht, so sehe ich seinen Blick in meine Augen. Jeder Sehende kennt diese Erfahrung: In den seltenen Momenten, in denen wir offen einander in die Augen sehen, sind wir durch dieses Sehen verbunden: Im augenblicklichen Akt der Begegnung des offenen Blicks erleben Menschen einander als wahrgenommen und als angenommen. Die mitmenschlich bindende Kraft von Blicken, die anerkennend einbezieht oder, wenn sie verweigert wird, durch „Übersehen“ ausgrenzt, ist eine leibliche,

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spontane Erfahrung, die in ihrem Vollzug aufgeht. Sie formt, im doppelten Sinne im Augenblick, eine Ordnung der zwischenmenschlichen Gegenwart durch Gegenwärtigkeit im Sehen. Doch kann man nur in einem engen Sinne von einer Moral des anerkennenden Blicks sprechen.2 Denn die „Moral der Blicke“ kann nichts direkt fordern. Der spontane Tausch der Blicke gelingt nur unabhängig von weiteren moralischen Bestimmungen und moralisch auffälliger Anerkennungsbeziehungen. Menschliches Sein ist nicht ohne das Gelingen der Nähe des miteinander geteilten Lebens denkbar. Wer einem Anderen offen in die Augen blickt, lässt sich auf ihn ein: Die so verschränkten Blicke sind bereits gemeinschaftliches menschliches Leben. Weil wir das nicht immer wollen und manchmal nicht können, gehen wir nicht auf alle Blicke ein und halten nicht allen Blicken stand. Deshalb werden auch meinem Blick die Augen einiger anderer ausweichen, wieder andere sich aber öffnen und meinen Blick erwidern. Wie selbstverständlich und unbemerkt auch immer: Der Austausch der Blicke schafft mitmenschliche Offenheit und Intimität. Der Blick in die Augen des Anderen macht den Blickenden und sein Gegenüber füreinander als Selbst erfahrbar. Menschen, die einander erfahren, finden sich in der Beziehung zu anderen im Menschlichen vor: Im anderen gewinnen sie Halt für die Position des eigenen Lebens. Jedes Selbst wird dadurch ausgebildet, stabilisiert und weiterentwickelt: Das Selbst ist Produkt auch der visuellen Lebensteilung und geht mit sich selbst und seinen Einstellungen in andere Austauschbeziehungen ein. Deshalb ist z. B. Robinsons Blick auf Freitag und auf die Szenerie seiner Insel der Blick eines Engländers des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Eben genauso wie ihn Daniel Defoe (1661– 1731) als Zeitgenosse der englischen Kultur seiner Zeit beschreiben konnte. Martens visuelle Anthropologie versteht die spiegelnde Verschränkung des einander Erblickens nicht fundamentalistisch oder reduktionistisch. Vielmehr charakterisiert er die Blickbeziehung exemplarisch als eine charakteristische Weise menschlicher Lebensteilung. Doch ist menschliches Sein dadurch nicht notwendig an den Austausch der Blicke gebunden: Auch durch die anderen Sinne sind Formen der Lebensteilung herstellbar. So bedarf es in manchen Lebenssituationen, z. B. in der Kindheit, der Liebe und bei Krankheit, oft wechselseitiger Berührungen, Laute und Sprache, damit die Teilung menschlichen Lebens gelingt. Das Sehen ist jedoch für visuell befähigte Menschen die direkteste und umfassendste Möglichkeit, Nähe und Gemeinsamkeit zu konstituieren: Das Herstellen der Wechselseitigkeit der Blicke zwischen

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So hat Axel Honneth in einigen seiner Arbeiten, wie z. B. in Axel Honneth: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt/M. 2003, die moralische Bedeutung des anerkennenden Blicks gewürdigt.

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einem Selbst und einem Anderen ist eine in den meisten Lebenssituationen verfügbare Lebens- und Handlungsmöglichkeit. Es geht nicht darum, den Austausch der Blicke empirisch, etwa soziologisch oder psychologisch, zu beschreiben, sondern es geht um die Bedeutung der Blickbeziehung als anthropologisches Merkmal, das den Menschen durch eine Lebenspraxis auszeichnet. Entscheidende Bedeutung kommt aber der Wechselseitigkeit in diesem Prozess des blickenden Handelns zu, was Marten mit der Metapher des Spiegelns beschreibt: „Menschen spiegeln sich: je der Eine im Anderen. Ohne das fänden sie nicht zueinander und zu sich selbst. Sich im Anderen zu sehen, heißt vor allem, im eigenen Leben und Handeln selbsthaft Halt zu gewinnen. Noch der weiteste Ausgriff des menschlichen Blicks wird vom spiegelnden Anderen aufgefangen und ‚beendet‘.“3 Das Spiegeln im Auge des Anderen lässt sich auch von seinen Objekten, den Seelen her, ontologisch auffassen. Dies liegt nahe, wenn man die Seele mit den physischen Bedingungen des Sehens verknüpft: Das Auge erlaubt dann ein physikalisches Spiegeln der Blicke, wobei die Augen als „Seelenspiegel“ fungieren: Insofern das Auge des Anderen als eine Flüssigkeitsoberfläche spiegelt, wirft es das Bild des Gesichts und des Auges des anderen zurück. D. h. jedes andere Auge, das auf es blickt, kann sich unter günstigen Bedingungen in ihm spiegeln. Diese naturalen Bedingungen des Spiegels schließt Martens Ineinander der Blicke zwar nicht aus, doch die phänomenologische Geschlossenheit und Genauigkeit seiner visuellen Anthropologie verwirft die Verknüpfung mit einer Ontologie des Geistes. Der Ansatz des ‚Einanders der Blicke‘ bringt nur eine implizite Prozessontologie mit: Es sind die Relationen der spontanen Praxis einer Wechselseitigkeit und Öffnung der Blicke füreinander, die entscheidend sind. Dies wird deutlich, wenn wir das Einander der Blicke mit Platos Metapher vom Auge als Spiegel der Seele vergleichen. Plato fragt im Dialog Alkibiades: Zwei Menschen, die einander in die Augen blicken, was erkennen die? Die Spiegelung im Auge des je anderen wird bei Platon zum Modell des Verstehens des eigenen wie des anderen Geistes oder Seele, weil sich der eine im physischen Spiegelbild im Auge des anderen erkennt: „Sokrates (S.): […] Ist nun nicht unser Auge, mit dem wir sehen, selbst so eine Art Spiegel? – Alkibiades (A.): Allerdings. – S.: Du hast doch also bemerkt, dass das Antlitz dessen, der in das Auge eines anderen schaut, sich in dem gegenüberstehenden Auge wie in einem Spiegel abgebildet zeigt […]. Das Auge braucht also nur in ein anderes Auge und zwar in den edelsten und eigentlich wirksamen Teil desselben (d.i. in die Pupille) zu schauen, um sich selbst zu

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Rainer Marten: Der menschliche Mensch. Abschied vom utopischen Denken, Paderborn 1988, S. 7.

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sehen. […] Muß also nicht […] auch die Seele, wenn sie sich selbst erkennen will, in die Seele blicken und vor allem in den Teil derselben, dem ihre beste Kraft, die Weisheit, angehört? Und dazu auch in ein anderes, nämlich in das, mit dem dieses gleichartig ist?“4 Für Plato kann eine Seele eine andere Seele nur deshalb spiegeln, weil das physische Bild auf dem Auge des Anderen als Seele erkannt wird. Die Gleichheit des ontologischen Status ist dabei vorausgesetzt. Denn nur eine andere Seele kann fähig sein, physisch auf dem spiegelnden Auge das Bild einer anderen Seele zu erkennen. Die eigenen Augen und die des anderen Menschen treten nur in eine reziproke und symmetrische Beziehung, die den ontologischen Status der Seelen zugänglich macht. Martens visuelle Anthropologie bezieht die Eigenschaft der Wechselseitigkeit des Prozesses des Spiegelns zwischen dem einen Auge und dem anderen mit ein. Anders als bei Plato ist die Spiegelung einander findender Augen kein erkenntnistheoretisches Mittel, um die bereits vorausgesetzte Existenz zweier Seelen zu erkennen. Der Eine und der Andere vollziehen vielmehr einen endlichen, wechselseitigen und offenen Prozess, durch den sich erst jeder als Selbst in und durch diese Beziehung bestimmt. Die Existenz des Selbst wie des Anderen ist Ergebnis dieses Prozesses und nicht seine Bedingung. Die Augen des anderen werden auch nicht als Gegenstand und nicht als Seelenmanifestation erblickt, wie Platos’ Sokrates dies behauptet.

D ie ge me i n s a me G ege nwa r t von Me n s c he n i m E i n a nder der Bl ic ke Den Prozess der Begegnung der Blicke als menschliche Nähe zu erleben, ist keine Erfahrung neben vielen anderen. Sie ist nicht nur Erfahrung, sondern eine spontane Weise menschliches Lebendigsein zu vollziehen. Durch die Nähe von Blick und Gegenblick – Berührung und Berührungsantwort – wird Menschlichkeit vollzogen. Was leistet dieses Ineinander der Blicke, dass wir dadurch uns selbst und den anderen nicht gegenständlich, sondern wechselseitig, gar als anderes menschliches Selbst einbeziehen? Welchen Bezug dazu hat die Befähigung jedes individuell Sehenden, Objekte als Einzeldinge zu erblicken? Wie ist dies als gemeinschaftlich erworbene Befähigung erklärbar? Denn dass dies so verständlich gemacht werden muss, folgt aus der These von dem nur gemeinsam möglichen Sehen. Philosophisch sollte verständlich wer-

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Platon: Alkibiades, in: Plato: Sämtliche Dialoge, Band III, hg. v. Otto Apelt, 132 St. /133 St., Hamburg 41987, S. 207.

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den, wie das gegenständliche Sehen als eine spontane, praktische Fähigkeit durch die Verschränkung der Blicke möglich wird.5 Was leistet die Situation des Ineinander der Blicke für die diese Frage? Wir sahen: In ihr bestimmt sich das „Blick- und Selbstverhältnis des Menschen“.6 Wie kann nun aus dem wechselseitigen Blick- und Selbstverhältnis eine Bedingung werden, die das Sehen einzelner Gegenstände als ein gemeinsames bestimmt? Dazu benötigen wir einen Zusammenhang, der durch die Bedingungen des Einander-Sehens begründet, wie das gemeinsame Sehen von Objekten (Einzeldingen, Szenen) möglich wird. Es wäre also dies darzulegen: Dass die Erfahrung der miteinander verschränkten Blicke die Voraussetzung dafür ist, dass Menschen als ‚selbsthafte‘ Individuen in der Lage sind, Einzeldinge, Objekte und Szenen als Einzeldinge zu erblicken. Zu einer ersten Teilantwort führt eine begriffliche Besonderheit der visuellen Charakterisierung menschlichen Daseins. Dieser Ansatz verwendet nur phänomenologische und praktische Begriffe, die Beziehungen, Menschen und Dinge auszeichnen – Menschen, die einander nahe sind, schaffen füreinander durch den endlichen, wechselseitigen Blicktausch eine Zeit und einen Raum der Beziehungen. Nur in dieser Endlichkeit des Lebens werden sie praktisch und spontan füreinander als Menschen erfahrbar. Dies „Einander der Blicke“ bezeichnet Marten als Urszene.7 Damit ist keine psychologische Eigenschaft oder Argument gemeint, sondern die Weise, wie Blicke in menschliches Handeln eingehen können. Das Ineinander der Blicke ist deshalb die „Urszene“, weil es spontan durch ihr Zustandekommen gelingt, menschliches Dasein als Beziehung zueinander zu leben: Der Augen-Blick als Gesicht-zu-Gesicht und Auge-in-Auge, wie er die Urszene des Menschen ist, hat den Charakter des offenen Blicks. Im unverwandten Augen-Blick erblicken Menschen einander, ohne dass sich Gesichter und Mienen zeigen. Selbst die Augen haben kein besonderes Aussehen […]. Sie sind rein und unverwandt ineinander gewendet – ohne Diener eines geistigen und psychischen Selbst, ohne Äußeres zu einem Inneren, Instrument zu einem höheren und tieferen Zweck zu sein. Der unverwandte Augen-Blick vollendet sich im Wechselspiel des offenen Blicks einander begegnender Augen. Was an diesem

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Wie das gegenständliche Sehen durch gemeinsame Wahrnehmungen oder gemeinsames Sehen begründet oder ermöglicht wird, hat Rainer Marten in keinem seiner Bücher thematisiert. Marten: Der menschliche Mensch (wie Anm. 3), S. 26. Ebd., S. 23 f.

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Blick die Offenheit bestimmt ist das sich öffnende und zugleich eröffnende Selbst.8 Das wechselseitige Tauschen von Blicken zwischen Menschen ist eine selbstverständliche Praxis. Die kognitive Minimalität dieser Praxis der verschränkten Blicke ist aber ihre Stärke und ermöglicht die große Flexibilität und Leichtgängigkeit ihres Gebrauchs: Das ist ihre praktische Ökonomie, deren einfach zu erfüllende Anforderungen das Gelingen des offenen Erblickens als alltägliche Praxis sichert. Die Eigenschaftslosigkeit von Gesicht und Auge im Wechselblick erlaubt den flexiblen Charakter des Tausches der Blicke. Wegen dieses Minimalismus ist die Kopplung von Einfachheit des (fast) immer herstellbaren – aber nur selten gewünschten – nahen Einander der Wechselblicke. Die Eigenschaftslosigkeit von Gesicht und Auge in der Blickhandlung ist entscheidend: Was so entsteht, ist die Näherung an eine intime Austauschbeziehung zwischen Menschen. Doch es kommt unabdingbar nur auf das in der reziproken Blickhandlung verkörperte Beziehungsgeschehen des Sich-Öffnen der Blicke an. So muss im Alltag zunächst dafür das spezielle, absichtsvolle Blicken überwunden werden. Was dann aber in der schmalen Praxis der spontanen Blickbegegnung gelingt, ist ein Eingehen auf den Anderen und das Angenommen-Werden durch den Anderen im Augenblick der visuellen Begegnung. Mit dem Minimalismus hängt auch zusammen, dass der andere nicht als Gegenstand, auch nicht als spiegelndes Auge und in keiner Weise „nur“ als Objekt gesehen wird, sondern als der Andere, der sich auf die Wechselseitigkeit der Beziehung in der Gegenwart des Blick-Geschehens einlässt. Als Paradigma menschlichen Lebens markiert die Urszene deshalb, dass Menschen nicht anders können, als in der Nähe zueinander zu handeln: In ihr wird die körperliche Gegenwart des einen, die eigene räumliche und zeitliche Endlichkeit, mit der Nähe des Anderen zur Endlichkeit und Öffentlichkeit (Marten) menschlicher Begegnung. Sie ist ebenso unmittelbar im Blick gespiegelt und wird so gelebt, wie sie erfahren wird. Die Urszenenerfahrung ist nicht vom Vollziehen oder Akzeptieren einer Überzeugung oder eines Arguments abhängig, dass etwas der Fall ist. Vielmehr ist mit ihr menschliches Leben als ein in Beziehung-Sein zu Anderen bereits gelungen. Man könnte sagen: So sind Menschen eben, dass sie des erwiderten Blicks in die Augen des Anderen bedürfen.9 So gestattet das Einander der Blicke nicht nur, dass Menschen sich

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Ebd., S. 27. Für den Status der Urszene gibt es eine wahrnehmungspsychologische Entsprechung: Menschen, die ein Porträt, ein Foto oder ein Gemälde betrachten, blicken zunächst auf die Augen, bevor sie andere Teile des Gesichts – Mund, Nase, Ohren, Haare – betrachten.

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als Selbst erfahren, sondern ihnen gelingt dies, weil sie dadurch zu gemeinsamer Praxis, zum Handeln miteinander, gekommen sind: In der Begegnung mit den Augen des Anderen finden die eigenen zu sich selbst: sie verlieren sich nicht, sondern gewinnen Halt und erfahren zugleich Einhalt. Die Augen des Einen, wie sie so in denen des Anderen ihr Gegenüber finden, stoßen nicht auf einen artfremden Widerstand (‚Gegenstand‘). Ihr Blick verdankt es vielmehr dem Gegenblick, nicht unendlich und selbstverloren zu sein, sondern Gegenwart zu bilden und zu teilen. Im einander Begegnen der Blicke, wie es zu denken ist, hat das reine Wechselspiel der Augenpaare statt. Die geteilte Gegenwart in der Begegnung der Blicke ist ein Indiz geglückter und sich bewährender Endlichkeit.10

3. D ie Pra x is der L eb enstei lu ng a ls Bed i ng u ng f ü r den Bl ic k au f d ie D i nge In der Urszene gelingt menschliches Dasein auf einer verhaltensökologisch minimalen Basis: Auf die Bindung an Eigenschaften der Blickenden wird verzichtet. Kann ein so karges gemeinsames Gelingen im Einander-Erblicken dann noch etwas zum Gegenstandssehen beitragen? Gegen die Bedeutung des Einanders der Blicke könnte eingewendet werden, dass es an viel zu spezielle Bedingungen gebunden ist: Zwei Menschen, die einander in die Augen blicken, das ist eine auf die unmittelbare Gegenwart der Begegnung von Angesicht zu Angesicht beschränkte Situation. Man trifft auf Menschen, die genau dieses Ineinander der Blicke nicht ertragen können, die ihm gezielt ausweichen, weil es ihrer „Blickkultur“ widerspricht und sie es schamvoll und unbedingt vermeiden wollen. Gegenwärtig multimedial und virtuell zugängliche Realitäten unterstreichen diesen Einwand: Im Zeitalter der Fernbeziehungen, von Telefon, EMail und vielfältig medialisierter Erfahrung finden unvermittelte Begegnungen immer seltener statt. Verlieren sie nicht deshalb ständig an Bedeutung, werden durch immer weiter vermittelte Medienbeziehungen ersetzt? Kann dann noch, wie die Konzeption des Einander der Blicke dies verlangt, es für gelingendes menschliches Leben und für die Ausbildung des Selbst unabdingbar sein, dass der eine dem Blick des anderen in offener Wechselseitigkeit direkt begegnet? Wer so argumentiert, verkennt die begründende Befähigung lebensteiliger Nähe zwischen Menschen. Erst auf ihrer Basis wird der Einfluss me10

Marten: Der menschliche Mensch (wie Anm. 3), S. 27.

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dial vermittelter Erfahrung wirksam. Denn in der Erfahrung von geteilter Nähe entwickeln und erhalten Menschen mit anderen Menschen ihre Lebensfähigkeit. Kurzum, menschliches Dasein ist nur im Zusammenhang der Praxis gemeinsamer menschlicher Handlungsweisen11 möglich. Die Erfahrung von Vermittlung und Medialisierung bedarf der direkten Begegnung als Ausgangspunkt. Mit der These, dass Sehen nur gemeinsam möglich ist, versuchen wir, das Sehen von gemeinschaftlichen Praktiken her verständlich zu machen, die sich zwischen Menschen abspielen. Sie sollten deshalb auch von einer anti-individuellen Perspektive her erklärbar sein, die außerhalb des Bewusstseins und der Köpfe der Menschen liegt – wie dies z. B. Alva Noës Titel seines Buchs Out of Our Heads formuliert.12 Menschliche Praxis wird nur verständlich, wenn wir zeigen können, wie der spontane Vollzug sinnlichen Handelns – des Sehens, Berührens, Hörens – auch von der Koordination und Gegenwart der Handelnden füreinander bestimmt ist. Diesen Zusammenhang zwischen Gegenwärtigkeit praktischer Beziehungen in der Handlungssituation und Wahrnehmung erfasst Martens Konzeption des Einanders der Blicke keineswegs mit einer überspezialisierten oder eingeschränkten Konzeption. Vielmehr entspricht sie der Pluralität menschlicher Existenz im koordinierten Handeln, deren Ontologie und Verlaufsstruktur sie angemessen erfasst. Sie ist wesentlich allgemeiner angelegt als Sartres berühmte Konzeption des Blicks in die Augen des Anderen. In Der menschliche Mensch hat Marten – in dem Abschnitt „‚Regard-regardé‘ und ‚regard-regardand‘“ (S. 29–31) – gezeigt, dass Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts eine besondere Form des Einander-Erblickens als „primäres Verhältnis“, ja „Urverhältnis“ versteht: Sartres Konzeption des Erblickens des Blicks stellt zwischen dem Ich und dem Anderen ein Bewusstsein des „Erfasst-“ und „Bedrängt-Werdens“ her.

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So auch Ludwig Wittgenstein: Die gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssytem, mittels dessen wir uns eine fremde Sprache deuten. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1971, S. 107, § 206. In Action in Perception, Cambridge 2004 und in Out of Our Heads. Why You are not Your Brain, and other Lessons from the Biology of Consciousness, New York 2009 hat Alva Noë eine externe, praxisbezogene Konzeption von Geist und Wahrnehmung entwickelt, die zu Recht als bahnbrechender Beitrag des Enaktivismus zur Philosophie des Geistes gelobt wird. Doch Noë entwickelt seine Argumentation, ohne dass er den Beitrag der Beziehungen und Abstimmung zwischen Menschen auf das handelnde Wahrnehmen berücksichtigt. In diesem Punkt liefert Martens visuelle Phänomenologie der verschränkten Blicke mehr als eine anthropologische Rahmentheorie: Sie ergänzt den individualistischen Enaktivismus Alva Noës um die entscheidende Komponente des zwischenmenschlichen Wahrnehmungshandelns.

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Für Sartre ist dies aber ein Beobachten des Blicks des anderen auf mich. Ein wechselseitiges Ineinander der Blicke, durch das menschliches Leben miteinander gelingend handelnd vollzogen wird, kommt dabei nicht zustande. Der Blick des einen wird von dem Blick des anderen ertappt, der sich gegen das Erblicktwerden zur Wehr setzt. Der so beim Anblicken Ertappte wiederum schämt sich und empfindet seinen von dem anderen Menschen gesehenen Blick als Schuld. Das Beobachten des mich erblickenden Anderen entfernt mich vom Anderen. Denn es geht dabei nur, wie Marten bemerkt, um „ein Verhältnis von erblicktem Blick des Ich und erblickendem Blick des anderen, das sich genau nicht als das des Augenblicks der Begegnung, Spiegelung und Zuneigung darstellt“.13 Eine nur miteinander gelingende Praxis des Lebens kann auf diese Weise nicht zustande kommen. Im Gegenteil, die Einsamkeit des Subjekts vertieft der erblickte Blick. Sartres Konzeption des Blicks beschreibt also die spezielle Situation des ertappten Voyeurs. Sie erklärt nicht, wie menschliche Lebensteilung gelingen kann. Dagegen macht das Einander der Blicke verständlich, dass Menschen durch Blicke erfolgreich in eine (fortsetzbare) Beziehung zueinander treten. Das schlägt sich in den Erfahrungen im Austausch der Blicke nieder: Die spontan einander spiegelnden Blicke, Gesten, Berührungen stellen die Teilung des lebenszeitlichen Augenblicks her.14 Durch das Eingehen von solchen Beziehungen entsteht auch eine allgemeine Befähigung, nämlich die, auch in anderen Fällen gelingend Beziehungen zu etwas als einem Anderen herstellen zu können. Diese Befähigung kann uns deshalb auch zum Sehen von Gegenständen als Einzeldinge befähigen. Im Einander der Blicke wird also das Erfassen von Alterität gelernt: In dem Gelingen der praktischen Beziehung im Einander der Blicke kann auch die Fähigkeit zur Beziehung auf Gegenstände als Einzeldinge erworben werden. Die praktische Fähigkeit zur Selbstfindung im Ineinander der Blicke kann demnach eine allgemeine Bedingung für das Eingehen einer praktischen Beziehung zu Gegenständen als einzelnen werden. Wir können die Leistung der gemeinsamen Blicke in den beiden folgenden Thesen zusammenfassen:

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Marten: Der menschliche Mensch (wie Anm. 3), S. 29. Marten beansprucht für die Urszene keine Exklusivität: Die Spiegelung der Blicke ist nicht das einzige, sehr wohl aber das paradigmatische Verhältnis der praktischen Erfahrung zwischen Menschen, das Alterität zugänglich macht: „Das Sichspiegeln des Menschen, das nicht im anderen Menschen als Spiegel seine Grenze hat, sondern das alles Menschliche in Betracht zieht, in dem der Mensch sich selbst zu sehen vermag, ist kein bloßes Plaisir, kein Weltverhalten, das, je nachdem, auch zur Disposition stehen könnte. In der Urszene wird zwar der Grund des lebensbefähigenden praktischen Selbstbewußtseins gelegt, aber es erwächst niemals aus ihr allein.“ (Ebd., S. 46).

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i. These: Das Ineinander der Blicke ist eine Lebensweise, die ein praktisches Verhältnis des Lebensvollzugs und der Selbstfindung herstellt. Die einander Erblickenden können, wenn sie sich im Blick auf die Situation einlassen, eine doppelte Erfahrung machen: Ihnen gelingt es, im unverwandten Augen-Blick den anderen und sich selbst im gemeinsam geteilten Leben zu finden. Sie sind, wie Marten formuliert, im Augen-Blick „einander zugeneigt“. Und eben dies macht das Einander des Augen-Blicks zur gemeinsam gelingenden Lebenspraxis. Die durch Blicke geschaffene Lebenspraxis ist ein Handeln, das bereits einen sozialen Status hat. ii. These: Das Ineinander der Blicke ist eine Weise des Selbstseins, in der Sinnlichkeit und Zuneigung zum Teil eines gelingend geteilten Lebens werden. Indem jemand an dem praktischen Verhältnis der Zuneigung im Wechselspiel der Blicke teilhat, ist er in der dadurch erfüllten Zeit und dem Raum des gemeinsamen Lebens eingelassen. Deshalb gilt: „In der Bestimmung reinen einander Zuneigens und Zugeneigtseins der selbstoffenen Augen vollendet sich der idealtypische Entwurf des unverwandten Augen-Blicks.“15 Die Begegnung im offen wechselseitigen Augen-Blick findet in der Gegenwart des Lebens der Beteiligten statt und ist damit ein praktisches Verhältnis, das im Vollzug durch und für die Beteiligten entsteht. Das Sehen von Gegenständen ist ebenfalls ein Zugang, der in einem praktischen Verhältnis zu etwas ›als Anderem‘ besteht. Daraus ergibt sich für das Gegenstandssehen: Die Fähigkeit, sehend eine Beziehung zu einem einzelnen Objekt herzustellen, beruht darauf, dass das Selbst bereits fähig ist, sich auf andere Menschen als Andere zu beziehen. Die Erfahrung des Einander der Blicke kann danach auch eine für das Gegenstandssehen entscheidende Befähigung ausbilden. Sie ist folgendermaßen charakterisierbar: Alterität & Gegenständlichkeit: Wir sehen ein Gegenüber als Einzelding, weil wir bereits befähigt sind, uns selbst und Andere im offenen Blicke zu finden. Damit haben wir eine praktisch zwischenmenschliche Bedingung gemeinsamen gegenständlichen Sehens formuliert. Wir wollen dies die Bedingung der Fähigkeit zur Alterität nennen. Weitere Bedingungen sind nötig und sie ergeben sich daraus, dass jede menschliche Gemeinschaft ihren Mitgliedern für das Sehen eine spezifische Prägung vermittelt. Kulturelle Präferenzen, Werte und Inhalte sowie ein Stil der Praxis des Sehens werden von einer Gesellschaft und ihren Subkulturen tradiert. Diese kulturell prägenden Bedingungen treten zu der Alteritätsfähigkeit hinzu, sodass dadurch eine ge15

Ebd., S. 28.

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meinsam geteilte Kultur gegenständlichen Sehens beschreibbar ist. Diesen Zusammenhang beider Arten von Bedingungen, von Sehkultur und Kompetenz zur Alterität, führt Marten denn auch genau dort an, wo er das Sehen von Gegenständen und Szenen in einer Abhandlung zu dem Thema Wahrnehmung und Begriff beschreiben will: Etwas wahrnehmen kann nur ein Gemeinschaftswesen. Anders gesagt: Nur weil es sozialisiert und kulturalisiert ist, kann es wahrnehmen. Sehe ich das Tyrrhenische Meer, dann bin ich nicht nur nicht allein, weil ich mit ihm eine Partnerschaft eingegangen bin, sondern weil ich damit meine Gesellschaftlichkeit und Kulturalität aktiviert habe.16 Fassen wir zusammen: Das gemeinschaftlich erworbene Selbst und die Fähigkeit zu praktischen Selbstverhältnissen ermöglicht es mir, den erblickten Dingen ihre Andersheit zu verleihen. Mein Sehen eines Dings oder einer Szene wird zum Sehen eines Gegenstands als einem bestimmten Anderen, weil ich aufgrund meiner „sozialisierten“ Fähigkeit zur Alterität – eben durch das Einander der Blicke – allgemein befähigt bin, etwas anderes als Partner zuzulassen. Doch ebenso ist meine kulturelle Sozialisation gefragt, damit der Gegenstand für mich zu jenem bestimmten Gegenstand wird, als der er in der Gemeinschaft, die mich prägte, gesehen werden kann. Dann kann ich mit den Augen der anderen wissend sehen.17 So trete ich z. B. mit dem visuellen Angebot eines Meeres vor mir in einen Austausch des Erblickens und genauer Hinblickens, z. B. auf seine Farbe, die Gestalt der Wellen. Die ästhetische Alterität wird zu einer partnerschaftlichen, die in der Alterität der sichtbaren Dinge verkörpert ist: Sie machen mir ein Angebot, fordern mich auf, von mir gesehen zu werden. Die Gemeinschaft der ineinander verschränkten Blicke schreibt aber den Beteiligten keinen bewussten Gebrauch von Begriffen, das Fällen von Urteilen oder das Haben von Meinungen über das Blickgeschehen zu, sondern legt nur Neigungen, Präferenzen und Verhaltensweisen des Umgehens miteinander und mit den Gegenständen fest.

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Rainer Marten: Wahrnehmung und Begriff, in: Wahrnehmung und Begriff, hg. v. Wilfried Gruhn/Hartmut Möller, Kassel 2000, S. 13–34. Dies schließt ein, dass es, abhängig von der jeweiligen kulturellen Prägung und biologischen Ausstattung, ganz unterschiedliche Sorten von Gegenständen geben kann.

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4. Absc h luss, Abg leic h u nd Ausbl ic k Zwe i Mo del le, z we i Eb e ne n: A bg r e n z u ng e n , The m at i sier u nge n u nd of f e ne Fr a ge n Ob es vernünftig, angemessen oder sogar geboten ist, einem Menschen im offenen, zugeneigten Blick gegenwärtig zu begegnen, ist eine Frage, die jeder von uns je nach Interesse, Absicht und Bedürfnis entscheidet. Doch erst dann kann sie sich als Frage nach einer Entscheidung einstellen, wenn wir bereits fraglos und selbstverständlich uns selbst und den anderen im Einander der Blicke erfahren haben. Erst auf dieser Basis können wir bewusst aus guten Gründen entscheiden, einem anderen Menschen im offenen Blick zu begegnen oder auch nicht. Der Gebrauch von Vernunft ist dann, wie Marten insistiert, lebensdienlich zu nennen: Vernunft gewinnt ihren Sinn, indem sie sich den Anforderungen des miteinander gelebten Lebens stellt. Fassen wir den Gang der Überlegungen zusammen, so können wir die folgenden beiden Ergebnisse festhalten. Es zeigte sich, dass zwei Befähigungen erforderlich sind, durch welche die Gemeinschaftlichkeit und das Sehen der Einzelnen verbunden sind: 1. Ergebnis: Die Erfahrung der Urszene des Selbst und des Anderen im Einander der Blicke ermöglicht Menschen praktische – handelnd erschlossene – visuelle Beziehungen von sich aus und damit selbsthaft herzustellen. 2. Ergebnis: Die kulturelle und soziale Prägung jedes Menschen stellt qualitative und wertende Strukturen (Präferenzen, selektive Filter) für das Sehen bereit, sodass das Sehen und Erblicken von visuellen Teilen der Umgebung als Gegenstände ausgerichtet und für den lebensdienlichen Gebrauch der Vernunft zugänglich wird. Jenseits dieser beiden allgemeinen Ergebnisse ist einiges ungeklärt. Wenn jeder einzelne von uns zum gemeinsamen Sehen kultiviert und sozialisiert ist, dann ist jeder von uns die Verkörperung der Gemeinschaft der Sehenden, die ihn prägte. Doch wie vollzieht sich der Alltag des Sehens zwischen den Angehörigen einer Gemeinschaft des Sehens? Wie geschieht es z. B., dass wir uns ein Objekt – also ein Bild, einen Gegenstand, eine Szene oder auch einen Gegenstandsbereich – so zusammen zum gemeinsamen Thema machen können, dass dieses Objekt zum Bezugspunkt von weiteren, auch einander widerstreitenden Interpretationen werden kann? Kann es Blickdialoge geben, die nicht nur das gemeinsame Erfassen von Objekten gestatten, sondern auch zu einem gemeinsamen oder je individuellen Urteil über das gemeinsame Objekt führen? Zur Beantwortung dieser Fragen, die auf den Ablauf von visuell basierten Prozessen der Kooperation und Erkenntnis zielen, bedarf es einer ganz

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anders gelagerten Theorie. Sie führt uns zu der visuellen Logik, Semiotik und Erkenntnistheorie, die Charles S. Peirce formal in der Logik der Existential Graphs dargestellt hat. Der Erkenntniswert einer graphischen Logik wie der Existential Graphs (EG) ist die Möglichkeit der formalen Darstellung von Prozessen, durch die Menschen etwas gemeinsam wahrnehmen und daraus folgern können. Die EG gestatten deshalb eine Erklärung des folgernden Denkens durch visuelle, dialogische Handlungen. Dabei spielt die situative Bedeutung von indexikalischen Zeichen, deren Gebrauch Bedeutungen fixiert, eine entscheidende Rolle.

Pe i r c e‘ E n a k t iv i smu s: S ehe n a l s i nde x i k a l i s c h gele ite te s H a ndel n Eine wirksame, aber unausgesprochene Einsicht der Peirce‘schen Semiotik und Erkenntnistheorie lautet, dass Bedeutungen und Objekte im Dialog der Blicke zwischen Personen festgelegt, bestimmt und interpretiert werden. Diese Einsicht ist entscheidend für die visuelle Logik der EG und macht sie zu einer Logik des visuell-dialogischen Handelns. Wir werden deshalb die Semiotik visuell-dialogischen Handelns unabhängig von der Graphenlogik und mittels der Semiotik indexikalischer Zeichen kennenlernen. Die Peirce‘sche Konzeption visueller, handlungsorientierender Indexikalität beschreibt, wie gezieltes Sehen, Handeln und Interpretieren durch den dialogischen Austausch von Zeichen aufeinander bezogen sind. Peirce hat damit bereits entscheidende Elemente einer enaktivistischen Theorie des Sehens formuliert. Anders als im modernen Enaktivismus geht es dabei um einen Dialog, der durch visuelles Handeln zwischen Personen semantisch entschieden wird: Getauschte Blicke und visuell geleitete Handlungen kooperierender Personen entscheiden über die Wahrheit von Aussagen. Alva Noë beschreibt in Action in Perception18 dagegen eine individualistisch konzipierte Beziehung zwischen Sehen und Handeln, wenn er schreibt: „Vision is a mode of exploration of the environment drawing on implicit understanding of sensorimotor regularities. To model vision correctly, then, we must model it not as something that takes place inside the animal’s brain, but as something that directly involves not only the brain but also the animate body and the world.“19 Für Alva Noës enaktivistische Auffassung des Sehens ist die Wechselwirkung und Koordination zwischen den sehenden und handelnden Subjekten nicht der Erwähnung wert. Die geteilten Verständnisse, die Bedingung kooperativer Handlungen sind, bestimmen auch das individuelle Sehen. Peirce analysiert 18 19

Alva Noë: Action in Perception, Cambridge, MA 2004. Ebd., S. 29 f.

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diesen Zusammenhang anhand der Bedeutung indexikalischer Zeichen: Denn diese müssen von ihren Interpreten erfasst und in komplexe Handlungsfolgen miteinander umgesetzt werden. Denn die Bedeutung von indexikalischen Zeichen besteht darin, dass Interpretieren, Sehen und Handeln zwischen Personen abgeglichen und koordiniert wird. Dies wird besser verständlich, wenn wir vom Begriff des Index ausgehen. Ein Index in der Peirce‘schen Semiotik ist jedes Zeichen (Aussage, Wort, nicht-sprachliches Zeichen), das sein Objekt bezeichnet, weil es in einer faktisch realisierten (räumlich-zeitlichen, kausalen, performativen) Beziehung zu ihm steht und vom Interpreten in dieser Beziehung stehend verstanden wird. Indices können aber auch als Spuren der Realität ihrer Objekte interpretiert werden, sodass die physische und interpretative Bedeutung verkörperter Eigenschaften zusammengehören.20 Die konkrete, situative Bedeutung natürlicher Sprachen ist von ihrem Gebrauch abhängig. Die zeitliche und räumliche Identifikation von Situationen im Sprachprozess ist dabei an die situativen Äußerungen und Wahrnehmungen, z. B. an visuelle Akte, gebunden. Aussagen erhalten eine bestimmte situative Bedeutung, wenn sie indexikalisch so verwendet werden, dass wahrnehmbare Objekte als indiziert interpretiert werden. Die Bedeutung der indexikalischen Aussage, z. B. von „Hier ist es schön schattig“, besteht darin, dass ihre Äußerung in einer Situation in Relation zu ihr das in der indexikalischen Aussage enthaltene Ikon – „…ist schön schattig“ – situativ erreichbare Information vermittelt. Durch den indexikalischen Situationsbezug die Anwendbarkeit eines Prädikats (Bildes, Vorstellung, Handlungsanweisung) zu behaupten, ist die konkrete Bedeutung jeder Aussage. Diese indexikalische Spezifikation, die sich auch auf den prädikativen Gehalt erstreckt, beschreibt Peirce, wenn er sagt, dass der „Lebensfunke jeder Aussage, das besondere Aussageelement der Aussage, eine indexikalische Aussage ist, ein Index, der ein Ikon einschließt“.21 Dieser indexikalische „Lebensfunke“ von Aussagen spezifiziert Bedeutung durch Handlungen. Dies kann auch so geschehen, dass erst die entscheidbare Bedeutung einer Aussage hergestellt wird. Peirce erläutert dies anhand des folgenden Beispiels: „Zwei Männer treffen sich auf einer Landstraße. Der eine sagt zum anderen, „das Haus brennt“. „Welches Haus?“ „Nun, das Haus, das eine Meile zu meiner Rechten liegt.“ Schreiben wir nun diese Aussage auf und zeigen wir sie irgendjemanden in einem benachbarten Dorf, so wird sich erweisen, dass die Spra20 21

Siehe dazu auch Helmut Pape: Searching For Traces. Towards a Peircean Account of an Indexical Methodology for the Humanities, in: Transactions of the C. S. Peirce Society, Vol. 44 (2008), S. 1–25. Übersetzt vom Verf., Charles S. Peirce: The New Elements of Mathematics by Charles S. Peirce, 4 Bde. in 5 Teilbdn., hg. v. Carolyn Eisele, Den Haag/Paris, Bd. 4, S. 214.

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che allein das Haus nicht festlegt. Aber die angesprochene Person sieht, wo der Sprecher steht, sie erkennt seine rechte Seite […] schätzt eine Meile ab […] und sieht, wenn sie dorthin schaut, ein Haus.“22 Das Verstehen der indexikalischen Äußerung ist auf die Wahrnehmungen und das Handeln des Hörers angewiesen: Der Hörer konstruiert durch sein suchendes Blicken die Bedeutung des indexikalischen Symbols „das Haus“ in der Verwendungssituation. Die indexikalische Äußerung veranlasst somit ein visuelles Handeln. Die dadurch ermöglichten visuellen Erfahrungen des Hörers ermöglichen es ihm zu beurteilen, ob die Behauptung des Sprechers zutrifft. Es ist somit das vom Sprecher indexikalisch veranlasste Handeln des Interpreten der Aussage, das die Bedeutung der Aussage „Das Haus brennt“ beurteilbar macht. Natürlich sind das Schauen in eine bestimmte Richtung und das Abschätzen der Entfernung nicht die einzigen erforderlichen Wahrnehmungshandlungen. Es wäre z. B. auch möglich, dass die Interpreten ihre Lage, Körperhaltung, Standort usw. verändern müssen, um den Sinn des indexikalischen Satzes zu erfahren. In vielen dieser Fälle wird das visuell orientierte Interpretieren gezielt Handlungen verknüpfen. Weil es um ein interpretativ-sprachliches Handeln als Reaktion auf gezielte visuelle Wahrnehmungen geht, wird aber aufgrund der visuellen Handlungserfahrung des Interpreten die Zustimmung oder Ablehnung einer Aussage wie „Das Haus brennt“ eindeutig entscheidbar.23 Peirce hat damit eine enaktivistische Erklärung der Rolle des interpretierenden Blickens in der Semantik indexikalischer Zeichen geliefert: Der indexikalisch gezielte Vollzug von Handlungen erfolgt durch Blicke, die der Hörer gezielt ausführt: Es sollen die „richtigen“ Beziehungen zwischen Situationen erfasst werden, welche die Bedeutung einer indexikalischen Aussage aufzeigen oder widerlegen. So sind die Verstehensbedingungen von Indices mit epistemischen Handlungen des Blickens und sich Bewegens in Erfahrungssituationen verknüpft. Sie sind deshalb notwendig mit dem erfolgreichen 22 23

Übersetzt vom Verf., Charles S. Peirce: Collected Papers of Charles Sanders Peirce Bd. I–VI, hg. v. Charles Hartshorne/Paul Weiss, Cambridge, MA, 1931–35, Bd. 3, § 419 im Folgenden in der Dezimalnotation zitiert, d.h. als CP 3.419. Handlungen sind semantisch ausschlaggebend, um einen Situationsbezug herzustellen, der die Bedeutung festlegt und die Wahrheit einer indexikalischen Aussage entscheidet. Peirce spricht von „Zwang“, um dies zu betonen: „Weil Zwang etwas ist, das wesentlich hic et nunc besteht, kann der Anlaß des Zwangs für den Hörer nur dadurch dargestellt werden, daß man ihn eine Erfahrung desselben Anlasses zu machen nötigt. Folglich ist es nötig, daß es ein Zeichen gibt, das dynamisch auf die Aufmerksamkeit des Hörers einwirkt und ihn zu einem besonderen Objekt oder Anlaß hinführt. Ein solches Zeichen nenne ich einen Index.“ Charles S. Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 1, hg. v. Christian Kloesel/Helmut Pape, Frankfurt/M. 1986, S. 244.

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kommunikativen Austausch verknüpft. Andererseits können dann indexikalische Aussagen eines Autors als Aufforderungen zu indexikalisch geleiteten visuellen und motorischen Handlungen der Interpreten beschrieben werden.

Pe i r c e‘ g r aph i s c he L og i k : E i n for m a le s Mo del l de s D i a log s v i suel ler I nter pr e t at ione n Die EG sind die einzige vollständige Aussagen- und Prädikatenlogik, in der logische Beziehungen durch visuelle Formen und Operationen graphisch dargestellt werden.24 Die Äquivalenz mit den üblichen algebraischen Logiken hat zuerst 1964 J. J. Zeman in The Graphical Logic of C. S. Peirce. Doctoral Dissertation, University of Chicago nachgewiesen.25 Die EG liefert aber auch eine intuitiv eingängige visuelle Pragmatik, Syntax und Semantik,26 da sie so aufgebaut ist, dass ihre Syntax direkt mit der visuellen Semantik und Pragmatik verknüpft ist. Dies wird dadurch möglich, dass sie in einem visuellen Dialog eingeführt wird. Unter einem „visuellen Dialog“ ist dabei folgendes zu verstehen: Ein Benutzer dieser Logik kann nur werden, wer Denken und Sehen handelnd miteinander verknüpft. Deshalb legt Peirce als erstes fest, dass eine relevante visuelle Situation zwischen zwei Menschen, die sich über ein logi24

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Siehe dazu Robert Burch: A Tarski-Style Semantics for Peirce’s Beta Graphs, in: Jacqueline Brunning/Paul Forster: The Rule of Reason. The Philosophy of Charles Sanders Peirce, Toronto/Buffalo/London 1997, S. 81–95. Eine teilweise informelle, aber umfassendere Darstellung der verschiedenen Logiksysteme der EG, u.a. als eine vollständige Logik 1. Stufe, als Modal- und Metalogik, liefert Don D. Roberts: The Existential Graphs of Charles Sanders Peirce, The Hague/Paris 1973. Eine knappe Darstellung des Aufbaus der EG gibt Roberts in dem Aufsatz: The Existential Graphs, in: Computers & Mathematics with Applications 23 (1992), No. 6–9, S. 639–663. Entscheidungsprobleme der EG diskutiert Roberts in dem Aufsatz A Decision Method for Existential Graphs, der in dem wichtigen Sammelband: Studies in the Logic of Charles Sanders Peirce, hg. v. Nathan Houser/Don D. Roberts/ James Van Evra, Bloomington, IN 1997, S. 387–401 veröffentlicht wurde. Für die Rezeption in der heutigen Logik und Sprachphilosophie der analytischen Richtung ist das Buch von Sun-Joo Shin: The Iconic Logic of Peirce’s Graphs, Cambridge, MA/London 2002 und die Arbeiten von Herrn Pietarinen, der Hintikkas modelltheoretische Logik für die Interpretation der EG fruchtbar macht (Athiko V. Pietarinen: Signs of Logic. Peircean Themes on the Philosophy of Language, Games, and Communication, Dordrecht 2006), wichtig. Diese bisher nicht veröffentlichte Dissertation ist inzwischen in einer Online-Version zugänglich: http://www.clas.ufl.edu/users/jzeman/graphicallogic/index.htm. Zeman hat auch Peirce’ weiterführende graphische Experimente mit einer Logik der Färbungen (tinctures) untersucht. Näheres hierzu liefern sowohl die Texte als auch meine Einleitung zum dritten Band Charles S. Peirce, Semiotische Schriften, Frankfurt/M. 1993, die sich mit der EG als Situationslogik und ihrer Semantik beschäftigen, aber auch auf die modallogischen Weiterungen dieses Systems eingehen.

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sches Diagramm verständigen wollen, nur dann entstehen kann, wenn sie sich vorab auf Konventionen einigen, in denen beschrieben wird, wie und womit in der Logik der EG zeichnend gehandelt und interpretiert wird. Folglich legt die 1. Konvention der graphischen Logik deshalb nur die Beziehung fest, welche die Verständnisse zweier Personen zueinander haben müssen, die ein Bild oder Diagramm zusammen logisch interpretieren wollen: „Konvention Nr. 1. Für diese Konventionen gilt, dass unterstellt wird, dass sie wechselseitige Verständigungen zwischen zwei Personen sind: Einem Graphisten, der die Aussagen gemäß dem Darstellungssystem der Existential Graphs formuliert und einem Interpreten, der diese Aussagen interpretiert und sie [die Konventionen] widerspruchslos annimmt.“ (CP 4.395, 1903)27 Diese 1. Konvention fordert, dass es wechselseitig gültige Vorverständigungen geben muss, die den Eintritt in den Dialog über die Diagramme erst ermöglichen. Denn die Voraussetzung für jeden visuellen Dialog und deshalb der erste logische Schritt der Explikation durch die EG lautet, dass festgelegt wird, wer mit wem über welches Thema spricht (andere solche Festlegungen begründen je andere Dialoge mit anderen Partnern, Objekten etc.). Diese erste Übereinkunft legt fest, dass erst dann eine logische Interpretation eines Diagramms beginnen kann, wenn ein wechselseitiges Verstehen des Autors mit dem Interpreten bereits besteht. Die expliziten Konventionen machen nur einige relevante Verständnisse explizit. Bis zu diesem Punkt entspricht die Konzeption der EG weitgehend Martens visueller Anthropologie. Denn Marten fasst geteilte praktische Vorverständnisse über das Primat des Gelingens: Das Ineinander der Blicke ist als praktische Lebensteilung ein Vollzug menschlichen Lebens, der in alle anderen Begegnungs- und Austauschformen zwischen Menschen eingeht. Die Ausführung eines visuellen Dialogs wird über die Beziehung zwischen den einander antwortenden Handlungen bestimmt: Der eine, in der Rolle des Autors, der „Graphist“, schlägt vor, zeichnet den Graphen, der andere, der „Interpret“, interpretiert das vorgelegte Diagramm, fügt ihm z. B. etwas hinzu. Beide Rollen sind rein funktional und werden zwischen den Beteiligten ständig getauscht. Eine gültige Folgerung in der graphischen Logik kann nur dadurch konstruiert werden, dass der Interpret das sieht und interpretiert, was visuell von beiden gemeinsam erfasst werden kann. Denn das logisch zu erfassende 27

„Convention No. 1. These Conventions are supposed to be mutual understandings between two persons: a Graphist, who expresses propositions according to the system of expression called that of Existential Graphs, and an Interpreter, who interprets those propositions and accepts them without dispute.“

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Objekt oder der Gegenstandbereich ist visuell und syntaktisch als Zeichen gegenwärtig. In den Vorüberlegungen zur 1. Konvention heißt es deshalb auch: „Das Diagramm muss offensichtlich also etwas sein, was wir sehen und über das wir nachdenken können. Nun erscheint das, was wir sehen, als auf einem Blatt ausgedehnt.“ (CP 4.430, 1904) Damit ist die zweidimensionale Fläche als Syntax der EG eingeführt: Die Syntax und Semantik der Fläche: Das gemeinsam erblickte Zeichen ist ein leeres Blatt, das Autor und Interpret „im Blick“ haben. D. h. dieses Blatt ist jenes gemeinsame Objekt, das zum Bezugspunkt aller weiteren logisch-graphischen Operationen dient: Das unbeschriebene Blatt, auf das Autor und Interpret blicken, begrenzt den visuellen Zeichenbereich, auf den Graphist und Interpret sich einlassen sollen. Das unbeschriebene Blatt wird durch das einzige Axiom der EG als das syntaktisch erste und semantisch grundlegende visuelle Zeichen der EG eingeführt. Es muss dies das pragmatisch erste Ergebnis des Dialogs zwischen Graphist und Interpret sein. Damit können wir erklären, wie durch dieses erste Axiom die visuelle Semantik der EG begründet wird. Eine semantische Interpretation des Blatts geschieht dadurch, dass sich Graphist und Interpret einig sind, dass sich dieses Blatt hier, – wobei jede gemeinsam wahrnehmbare eindeutige begrenzte Fläche geeignet ist – als visuelles Symbol auf dasselbe

Bild 1

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Diskursuniversum bezieht. Deshalb taugt z. B. auch das Rechteck in Bild 1 als ein semantisches Symbol (Bild 1). Jede beliebig geformte, abgegrenzte Fläche kann als Behauptungsblatt visuell jene semantische Beziehung ikonisch symbolisieren, die zwischen Autor und Interpret vor der Interpretation des Diagramms zum Gegenstandsbereich vereinbart wurde. Z. B. einigen sich beide, dass das Blatt für alle Sachverhalte und Beziehungen steht, die im Gegenstandsbereich erfüllt sind. Dies wäre z. B. die Entscheidung „Wir wollen jetzt über das Leben der Hollywood Schauspieler und Entertainer sprechen.“ Das Blatt ist noch leer; es ist unbeschrieben. Die visuelle Semantik ist aber mit der Syntax des Blatts verknüpft: Denn es ist vereinbart, dass bereits das nackte, unbeschriebene Blatt als ein visuelles (ikonisches) Symbol für den Zusammenhang aller Objekte im vereinbarten Gegenstandsbereich, den Autor und Interpret kennen, ist. Das Behauptungsblatt (Bb) wird auch als Darstellung der Selbstverständlichkeiten und Annahmen interpretiert, welche die Dialogpartner miteinander teilen. Peirce schreibt deshalb über das Bb: „Es kann als Ausdruck von all dem angesehen werden, was zwischen Graphisten und Interpreten richtig verstanden sein muss, bevor letzterer verstehen kann, was er von dem Graphen erwarten soll. Es muss einen Interpreten geben.“28 Als zweidimensionale Fläche kann das unbeschriebene Blatt syntaktisch den Einschluss von etwas durch eine umfassendere Beziehung nicht nur symbolisieren, sondern schließt alles faktisch visuell ein, was auf dem Blatt eingetragen wird. Das Bb ist in dieser Hinsicht eine visuelle Verkörperung oder ein Ikon des Einschlusses von Objekten in einem Bereich in umfassenderen Relationen zu anderen Objekten. Schon das leere Blatt ist somit semantisch ein visuelles und logisches Symbol.29

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„It may be considered as the expression of whatever must be well-understood between the graphist and the interpreter of the graph before the latter can understand what to expect of the graph. There must be an interpreter […].“ (CP 4.431, ca. 1904). „[…] die Kontinuität des Phemischen Blattes ist in jenen Bereichen, denen, da nichts eingetragen ist, keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, das bestmögliche Ikon der Kontinuität des Diskursuniversums, wo es nur allgemeine Aufmerksamkeit als eben dieses Universum findet, d.h. der Kontinuität erfahrungshafter Erscheinung des Universums, relativ zu jeglichen Objekten, die als ihm zugehörig dargestellt werden. […] die betreffende Kontinuität [muss] notwendigerweise das Gemeinsam-Sein (co-being) in einem Universum darstellen, worunter die Kontinuität einer Umgebung (environment) zu verstehen ist.“ (Vom Verf. übersetzt, MS 300, 1908. Alle mit MS gekennzeichnete Zahlenangaben beziehen sich auf die Nummerierung der Mikrofilmausgabe des handschriftlichen Nachlasses von Charles Sanders Peirce in Richard S. Robin: Annotated Catalogue of the Papers of Charles S. Peirce, Cambridge, MA, 1967).

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In den EG verkörpert das Blatt für Autor und Interpret die logischen Beziehungen zwischen Aussagen visuell. Beide Dialogpartner können einander mittels des Eintragens und Umformens der Diagramme logische Folgerungen aus dem gemeinsam Sichtbaren des Blatts vorführen. Das ist auch der Grund, warum das Blatt der EG von Peirce „sheet of assertion“, also Behauptungsblatt, genannt wird. Die Darstellung logischer Beziehungen in der EG ergeben sich aus der Rolle des Bbes als eines gemeinsamen Anblicks im Dialog der Blicke: 1. Jedes Eintragen einer Aussage, z. B. des Satzes „Frank Sinatra ist tot“, auf dieses Blatt ist die Behauptung, dass diese Aussage in dem durch das Blatt symbolisierten Universum wahr ist. 2. Sind zwei Aussagen, z. B. „Frank Sinatra ist tot“ und „Henry Fonda lebt“, auf demselben Bb eingetragen, so ist dies die Behauptung, dass beide Aussagen zusammen wahr sind. Das gemeinsame Eintragen auf dem Bb ist das ikonisch-logische Zeichen einer Konjunktion, die semantisch durch ihre Beziehung zum Bb dargestellt wird. 3. Die Negation einer Aussage oder der Konjunktion zweier Aussagen kann ikonisch durch eine visuelle Operation des Ausschließens ausgedrückt werden. Z. B. durch das Einkreisen einer Aussage mit einer geschlossenen Linie. So eingeschlossen würde eine Aussage visuell aus dem Zusammenhang aller Behauptungen ausgegrenzt, die für den Gegenstandsbereich gelten, den das Bb symbolisiert. Mit Negation und Konjunktion lassen sich alle anderen wahrheitswertdefiniten logischen Verknüpfungen zwischen Aussagen auf dem Bb in den EG ausdrücken. Daraus folgt, dass die EG das nachliefert, was wir an Martens visueller Anthropologie des Ineinanders des wechselseitigen Erblickens vermisst hatten: Ein semiotisch-visuelles Modell dafür, wie sich durch die Interpretation der dialogischen Abfolge der Blicke eine gemeinsame Verständigung über die jeweiligen gemeinsamen Objekte aufbauen lässt.

Zwe i Mo del le i m Verg le ic h: Ver s c h r ä n k te Bl ic ke vs. v i suel le D i a loge Wir haben zwei Modelle gemeinsamen Sehens kennengelernt: Rainer Martens Ineinander der Blicke ist ein nur Menschen miteinander gelingender Blick des einen in die Augen des anderen. Peirce’ Dialogpartner blicken nicht einander an, aber sie blicken gemeinsam und aufgrund von expliziten Verständigungen auf das, was ihnen vorliegt und was sie handelnd erkennen oder durchdenken wollen. Peirce führt die Konzeption der visuellen Gemeinschaft der dialogisch interpretierten Situationen oder Bilder dadurch in eine andere Richtung, dass er z. B. in der Graphenlogik die dialogisch anhand der Fläche

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erreichte Teilung der visuellen Wahrnehmung so versteht, dass sie den Unterschied zwischen Autor und Interpret im Zeichen aufhebt. Die dialogische Kommunikation geht dann in eine Art von Kommunion über. Autor und Interpret verschmelzen miteinander im Denken des von beiden geteilten Zeichens, obgleich der Verlauf des Interpretationsprozesses ihnen getrennte Positionen zuweist: „Wenn wir zulassen, dass verbundene Zeichen einen QuasiGeist haben, kann man außerdem auch behaupten, dass es keine isolierten Zeichen gibt. Weiterhin erfordern Zeichen zumindest zwei Quasi-Geister. Einen Quasi-Autor und einen Quasi-Interpreten, und obgleich diese beiden im Zeichen selbst identisch (at one) sind (i. e. ein Geist sind), müssen sie trotzdem verschieden sein. Im Zeichen sind sie sozusagen verschmolzen. Folglich ist es keine Tatsache der menschlichen Psychologie, sondern eine Notwendigkeit der Logik, dass jede logische Evolution des Denkens dialogisch sein muß.“ (CP 4.551, ca. 1905) Peirce geht es um eine Identität des Geistes von Menschen, die sich momentan, im Prozess der Interpretation, herstellt. Ähnliches gilt für die handelnd bestimmte Bedeutung des indexikalischen Satzes „Das Haus brennt“: Sie brachte den Hörer allein aufgrund seiner indexikalisch-visuell bestimmten Erfahrung „in Übereinstimmung“ (at one) mit dem, was der Sprecher behauptet hatte. Die Kraft der Übereinstimmung im visuellen, indexikalisch-handelnd ausgetragenen Dialog ist so wirksam, dass die kontingenten Eigenheiten von Personen durch die visuelle geteilte Erfahrung im Zeichen überlagert wird. Doch diese prozessuale Identität der Subjekte bleibt an den dialogischen Austausch visuell vergemeinschafteter Zeichen gebunden. In der visuellen Anthropologie Martens ist die Alterität nicht einmal im Augenblick des gemeinsamen Erfassens eines visuellen Objekts oder Zeichens aufhebbar. Marten sagt explizit „es gibt keinen Handlungs-‚raum‘, der nicht durch eigenheitliche Parteiung markiert wäre“,30 sodass im Einander der Blicke Personen auch im Augenblick der Teilung des Sichtbaren niemals „verschmelzen“. Der Semiotik und Logik der EG geht es aber darum, dass Autor und Interpret in der logischen Identität des indexikalisch eingebetteten Bildes, das als ikonisches Zeichen wirksam ist, eine gemeinsame Identität im Augenblick des Austausches herstellen, auch wenn sie durch ihren Beitrag zu diesem Prozess unterschieden sind. Die Beziehung auf gemeinsame Objekte kann nur insofern als gesichert gelten, als Autor und Interpret sich dieser Identität handelnd und interpretierend versichern. Was aber die EG als ein formales Modell des visuellen Dialogs nicht liefert, ist eine umfassende, über die Interpretation von Zeichen hinausgehende Berücksichtigung der praktischen Fähigkeit von Menschen, sich auf die 30

Marten: Der menschliche Mensch (wie Anm. 3), S. 40.

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Alterität anderer Menschen wie anderer Objekte einzulassen. Eben dies machte die Marten‘sche Urszene und seine These vom Erwerb der Befähigung zur Alterität verständlich: Die Teilung von Lebenszeit wird durch das Einander der spiegelnden Blicke erklärbar, weil damit die Befähigung zur Praxis einer gemeinschaftlich geteilten Lebensweise vollzogen ist. Die Leistung der graphischen Logik der EG, ihre formale Darstellung der Weise, wie Menschen denkend zusammen etwas gemeinsam wahrnehmen, ist Ausdruck einer enaktivistischen Auffassung visueller Handlungen, die durch die Semantik indexikalischer Zeichen beschrieben wird. Doch erst durch die Einbettung in ein umfassenderes Verständnis menschlicher Lebensteilung wird die Unersetzbarkeit kooperativer visueller Handlungen als Lebensform verständlich. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass die graphische Logik der EG, in dem sie Rationalität als einen logischen Dialog des Herstellens von Diagrammen fasst, die logische Seite visueller Lebensteilung nicht auch auf intuitive und fruchtbare Weise beschreibt. Denn die EG belegen, dass es durch ein visuelles Zeichensystem möglich ist, formallogische Beziehungen zwischen Aussagen auf visuellen Formen menschlicher Lebensteilung zu gründen. Martens visuelle Anthropologie und Peirce‘ Logik der Bilder sind insofern komplementäre Elemente eines Bildes von Visualität als Erkenntnis- und Lebensform.

Frank Fehrenbach

DER F ÜRST DER SINNE Macht und Ohnmacht des Sehens in der Italienischen Renaissance

1. H iera rc h ie der Si n ne Für Leonardo da Vinci stand fest: Zugunsten des Auges, des principe dei sensi 1, würde jeder Mensch seine anderen Sinne eintauschen. Fristet ein Blinder nicht sein Dasein, als wäre er aus der Welt gejagt worden (cacciato dal mondo)?2 Dieses vernichtende Urteil hatte Folgen für die Hierarchie der Künste. Von der wertneutralen Feststellung des Simonides, eines Dichters um 500 v. Chr., wo­ nach Malerei eine stumme Dichtung, Poesie aber blinde Malerei sei, blieb wenig übrig.3 Das Gehör, vor allem in der neuplatonischen Tradition als sprach­ vermittelnde porta mentis 4 nobilitiert, kann dem Blinden nicht helfen, sich in

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2 3

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Libro di Pittura § 6 und 28; vgl. § 16 (signore de’ sensi). Ich beschränke mich in den Fußnoten auf die notwendigsten Nachweise; bei klassischen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Autoren mit kanonischer Zitation entfallen Hinweise auf mo­ derne Editionen. Eine ausführliche Diskussion von Leonardos Kunst­ und Wahr­ nehmungstheorie findet sich in meinem Buch: Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilosophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübingen 1997, bes. Teil 1 und 3. Vgl. Monica Azzolini: In praise of art. Text and context of Leonardo’s Paragone and its critique of the arts and sciences, in: Renaissance studies 19/4 (2005), S. 487–510, sowie den Kommentar von Claire J. Farago: Leonardo da Vinci’s ‚Paragone‘. A Critical Interpretation with a New Edition of the Text of the ‚Codex Urbinas‘, Leiden 1992. Libro di Pittura § 15a. Vgl. Rensselaer W. Lee: Ut Pictura Poesis: The Humanist Theory of Painting, in: The Art Bulletin 22/4 (1940), S. 197–269, S. 197; Gabriele K. Sprigrath: Das Dictum des Simonides. Der Vergleich von Dichtung und Malerei, in: Poetica 36/3–4 (2004), S. 243–280. Vgl. Libro di Pittura § 16: Der Taubstumme lebt glücklich (lieto), weil er sich mithilfe des disegno verständigen kann (im Gegensatz zum Blinden). Vgl. etwa Thomas v. Cantimprés Enzykolpädie: De natura rerum I, viii (De auri­ bus).

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FR ANK FEHRENBACH

der Welt zurecht zu finden.5 Von der wahren Schönheit und Vielgestalt der Welt bleibt er ausgeschlossen; sie besteht für Leonardo in den sichtbaren Oberflächen der Körper (la quale consiste nella superfitie de’ corpi).6 Gebär­ den, Gesten können dem Taubstummen die fehlende Sprache ersetzen; umge­ kehrt gilt: Die unhintergehbare Bildhaftigkeit der Sprache, ihre Abhängigkeit vom Sichtbaren verdoppelt in tragischer Weise die Weltlosigkeit des spre­ chenden Blinden.7 Präzision oder Wahrheitsgehalt und Unmittelbarkeit des Sehens wer­ den von keinem der anderen Sinne erreicht. Die Fernsinne unterscheiden sich schon durch ihre Übertragungsmedien, Licht und Luft; das Licht garantiert geradlinige Verbindungen, während die Luft unvorhersehbare und häufig täuschende Wege (linee tortuose e riflesse) zwischen Ding und Gehör produ­ ziert.8 Was weiß der Geruchssinn schon über die Position seiner Objekte im Raum? Beim Schmecken und Tasten schließlich kollabiert der räumliche Ab­ stand und damit der Unterschied zwischen Rezeptionsstelle und Sinnesobjekt. Punktuelle Wahrnehmung der Dinge und Selbstwahrnehmung werden un­ unterscheidbar. Leonardos Hierarchie der Sinne setzt die räumliche Distanz zwischen Sinnesorgan und Wahrnehmungsobjekt voraus. Sein Augenlob blickt auf eine lange Tradition zurück. Im Timaios wurden die „lichtvollen Augen“ von den Göttern vor allen anderen Sinnesor­ ganen erschaffen.9 Platon meint, dass allein die Sehkraft den „größten Ge­ winn“ für die Menschen gebracht habe: Durch die Betrachtung der Kreisläufe von Sternen und Planeten, von Tag und Nacht wurde „die Zahl erzeugt und der Begriff der Zeit sowie die Untersuchungen über die Natur des Alls“. Das Sehen war so anamnetische Grundlage der Philosophie selbst, „als welches ein größeres Gut weder kam noch jemals kommen wird dem sterblichen Ge­ schlecht als Geschenk von den Göttern“.10 In der Ordnung des Sichtbaren ge­ wahrt das Denken sich selbst und das Bild seiner eigenen Vollkommenheit. Die Betrachtung der Gestirne zeigt die „Kreisläufe der Vernunft am Him­ mel“, die das Denken der Menschen nachahmt.11

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Vgl. Libro di Pittura § 16. Ebd. § 24. Vgl. ebd. § 27 (la poesia, che solo s’astende in buggiadre fintioni de l’opere humane); § 32 (un composto bugiardo). Ebd. § 11. Timaios 45b. Ebd. 47ab. Ebd. 47bc. – Zur Wirkungsgeschichte des Timaios vgl. jetzt Thomas Leinkauf: Aspekte und Perspektiven der Präsenz des Timaios in Renaissance und Früher Neuzeit, in: Carlos Steel (Hg.): Platons Timaios als Grundlage der Kosmologie in Spätantike, Mittelalter und Renaissance, Löwen 2005, S. 363–386.

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DER FÜRST DER SINNE

Damit war eine entscheidende Grundlage für die europäische Sinnes­ bewertung etabliert. Das Sehen, der ordnungshafte Sinn, generiert Zahl und Zeit. Sehen und Mathematik verschwistern sich. Gleich zu Beginn seiner Me­ taphysik betont Aristoteles die Gleichung zwischen Wissensdurst und unse­ rer „Liebe zu den Sinneswahrnehmungen“, jenseits aller Nützlichkeitserwä­ gungen.12 Der Müßige erfreut sich vor allem am Sehen. Wohin das führt, lehren die Priester des alten Ägyptens, welche die Mathematik erfanden, weil man ihnen „gestattete […] Muße zu pflegen“.13 Aristoteles betont die Differenzierungsleistung des Sehens. Der Tast­ sinn ist zwar die notwendige Grundlage des tierischen Überlebens, aber we­ gen seiner Theorieförmigkeit gebührt dem Sehen der Primat. Aristoteles gibt „dem Sehen […] vor allem anderen den Vorzug“, weil „dieser Sinn uns am meisten befähigt zu erkennen und uns viele Unterschiede klarmacht“.14 Das Sehen ist einfach schärfer (acerrimus) als alle anderen Sinne, meint Cicero15; ein Argument, das Augustinus relativiert und zugleich bestätigt. Adler und Geier, erst recht Dämonen sehen viel genauer als die Augen des Menschen, aber durch seinen Bezug zur spirituellen, feinstofflichen Natur des Lichts ist das Sehen eben doch der edelste Sinn.16 Augustinus wiederholt, dass Sehen und Hören, wie er ergänzt, die einzigen Sinne sind, welche Zahlen und über­ haupt die Ordnung der Schöpfung wahrzunehmen vermögen.17 Durch die neuplatonische und patristische Metaphysik des Lichts über­ dauerten solche Vorstellungen im Mittelalter.18 Seit dem 13. Jahrhundert wurde dann mit der Rezeption der arabischen Optik wieder die Präzision (cer­ tezza) des Sehens gefeiert.19 Aber auch seine Schnelligkeit, die an Instantane­ ität, reine Präsenz grenzt. Schon Augustinus staunt über die „wunderbare Schnelligkeit“ (mira celeritate), mit der imagines wahrgenommen werden.20 Für Ibn­al­Haytham verbreitet sich das Licht in durchsichtigen Körpern „in schnellstmöglicher Bewegung“,21 eine Formulierung, die dann von Lorenzo 12 13 14 15 16 17 18

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Metaphysik 980a. Ebd. 981b. – Vgl. David Summers: The Judgment of Sense. Renaissance Naturalism 2 and the Rise of Aesthetics, Cambridge 1990, S. 56 f. Metaphysik 980a. Vgl. De anima 3, 435b. De oratore, III, xl, 161 (sensus […] oculorum, qui est sensus acerrimus). De Genesi ad litteram, XII, S. 16, 32; 17, 34; De Civitate Dei VIII, S. 15. Vgl. etwa De ordine II, 32; Summers: The Judgement of Sense (wie Anm. 13), S. 68. Vgl. etwa Wolfgang Beierwaltes: Die Metaphysik des Lichtes in der Philosophie Plotins, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 15 (1961), S. 334–62; Dieter Bremer: Hinweise zum griechischen Ursprung und zur europäischen Geschichte der Lichtmetaphysik, in: Archiv für Begriffsgeschichte 17 (1973), S. 7–22. Vgl. etwa Dante, Convivio, II, 3 und 13. Zu diesem aristotelischen Rangkriterium vgl. Farago: Leonardo da Vinci’s ‚Paragone‘ (wie Anm.1), S. 65 f. Confessiones X, 9. De aspectibus VII, 19.

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FR ANK FEHRENBACH

Ghiberti im dritten seiner volkssprachlichen Commentarii übernommen wird: per moto velocissimo.22 Ghiberti formuliert aber auch schön den anti­ metaphysischen Vorbehalt: „Die Bewegung [des Lichts] ist plötzlich, beinahe instantan“ (moto subito è: quasi in uno istante).23 Weil jede Bewegung durch die resistentia des Mediums abgebremst wird, ist auch das Licht eben nur äußerst schnell.

2. A k t ives Sehen Ibn­al­Haytham entwickelte eine für das Verhältnis von Sinnlichkeit und Sinn folgenreiche Wahrnehmungstheorie.24 Mit seiner impliziten Ablehnung einer aktiven Emanation von Sehgeistern wurde das Auge zunächst als passi­ ves Rezeptionsorgan definiert. Die franziskanischen Optiker des 13. und 14. Jahr­ hunderts entwickelten Alhazens Theorie weiter. Im Rückgriff auf Aristoteles wurde der Sehvorgang auf die sukzessive Affizierung des Mediums und da­ mit auf die Ausbreitung von Gegenstands­Abbildern (spetie, simulacra) zu­ rückgeführt.25 In diesem Verständnis ist der transparente Raum, sobald er vom Licht aktiviert wird, ein Gefäß für die Abbilder, die von jeder materiellen Oberfläche emittieren. Aber die Neuinterpretation des Sehens war keine radi­ kale; noch immer hielten sich Reste der älteren Vorstellung einer radialen Aussendung von Sinnesenergie. Aktive und passive Elemente der Wahrneh­ mung überlagerten sich. Was diese Synthese für die Transformation der Bild­ theorie und, wichtiger, Bildpraxis am Übergang zum 14. Jahrhundert bedeu­ tete, harrt noch der genaueren Untersuchung.26 22 23 24

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Commentarii III, 37. Ebd. III, 3. – Vgl. David C. Lindberg: Medieval Latin Theories of the Speed of Light, in: Roemer et la vitesse de la lumière (Centre national de recherche scientifique, Collection d’histoire des sciences 3), hg. v. René Taton, Paris 1978, S. 53–56. Vgl. Abdelhamid I. Sabra: The Optics of Ibn al­Haytham. Books I–II, On Direct Vision, London 1989 und die Fortführung seines Pionierwerks durch Mark Smith: Alhacen on the principles of reflection. A critical edition, with English translation and commentary, of books 4 and 5 of Alhacen’s De aspectibus, 2 Bde., Philadelphia 2006; ders.: Alhacen on image­formation and distortion in mirrors: a critical edi­ tion, with English translation and commentary, of book 6 of Alhacen’s De aspecti­ bus, 2 Bde., Philadelphia 2008. Vgl. David C. Lindberg: Roger Bacon’s Philosophy of Nature. A Critical Edition, with English Translation, Introduction, and Notes, of ‚De multiplicatione specierum‘ and ‚De speculis comburentibus‘, Oxford 1983; ders.: Auge und Licht im Mittelalter, Frankfurt/M. 1987; Patrice Koelsch Loose: Roger Bacon on Percep­ tion: A Reconstruction and Critical Analysis of the Theory of Visual Perception expounded in the ‚Opus Majus‘, Ph. D. Diss. Ohio State University 1979. Der Sachverhalt wird leider übergangen in Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine west­östliche Geschichte des Blicks, München 2008; siehe dazu die Rezension von Frank Büttner, in: Kunstchronik 62/2 (2009), S. 82–89.

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Leon Battista Alberti, einer der Revolutionäre des europäischen Bild­ begriffs und Gesetzgeber der Linearperspektive, bietet ein gutes Beispiel für die Beharrlichkeit von Vorstellungen, welche Sehen als aktiven Prozess der Weltaneignung verstanden. Sein unerschöpflich reicher kleiner Malereitrak­ tat von 1435 will noch nicht, wie die Malereitheorien des 16. Jahrhunderts, auf Wahrnehmungslehre ganz verzichten, auch wenn er die Entscheidung über die Richtung der Sehstrahlen für eine Angelegenheit der Naturphilosophen hält.27 Warum erscheinen die wie Häute über Volumen gespannten Oberflä­ chen der Objekte für jeden Betrachter verschieden? Weil ihre geradlinige Ver­ bindung mit verschiedenen Augen an unterschiedlichen Stellen im Raum unterschiedliche Strahlungskonstellationen hervorruft.28 Alberti differenziert dabei zwischen drei verschiedenen Klassen von Sehstrahlen. Ihr Ursprung liegt im Auge – handelt es sich hierbei um bloße Metaphorik? „Eben diese Strahlen nun erspannen sich zwischen dem Auge und der gesehenen Fläche, und aus eigener Kraft (vis) und mit einer bestimm­ ten wundersamen Feinheit (subtilitas) hängen sie, blitzschnell, miteinander zusammen, wobei sie die Luft und ähnliche feine und lichtdurchlässige Kör­ per durchdringen (penetrantes), bis sie etwas Dichtes oder Undurchsichtiges verletzen (offendant); auf diesem Ort schlagen sie mit ihren Spitzen ein (feri­ re) und haften zutiefst fest.“29 Wie man sieht, verwandelt Alberti den klassi­ schen Topos der Liebesdichtung, wonach die Augen scharfe Pfeile aussenden und ihre Beute nicht mehr loslassen, in einen allgemeinen optischen Tatbe­ stand.30 Aber in seiner Differenzierung der unterschiedlichen radii bereichert Alberti die Analogie doch maßgeblich. Für die Gegenstandserfassung ist ein bestimmter Sehstrahlentypus zuständig; er ergreift die Kontur des Objekts wie mit Zähnen (dentatim) und umgibt den Gegenstand wie mit einem Kä­ fig.31 Farbe und Textur des Gegenstands werden von „mittleren“ Strahlen erfasst; sie sind „schwach“, weil sie mit der Entfernung „ermüden“, während sie die Luft „durcheilen“. Dies sind „furchtsame“ Strahlen, die, wie das Cha­ 27 28 29 30

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De pictura I, 5. Ebd. Ebd. Vgl. Robert Klein: „Spirito peregrino“. Der Gedanke als pilgernder Geist, in: Ge­ stalt und Gedanke. Zur Kunst und Theorie der Renaissance, hg. v. Horst Günther, Berlin 1996, S. 15–49, bes. S. 35; Ioan P. Couliano: Eros and Magic in the Renais­ sance, Chicago/London 1987, bes. S. 55–57; Jack M. Greenstein: On Alberti’s „Sign“. Vision and composition in quattrocento painting, in: The Art Bulletin 79 (1997), S. 669–698. De pictura I, 7. Zum klassischen Hintergrund der Jagdmetaphorik vgl. Carl Joach­ im Classen: Untersuchungen zu Platons Jagdbildern, Berlin 1960. (Ich danke Wolf­ gang Carl, Florenz, für diesen Hinweis).

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mäleon, wenn es von Jägern erschreckt wird, die Farbe ihrer Umgebung an­ nehmen. Wo sie „gebrochen“ werden (im Auge, aber implizit auch schon an der „Glasoberfläche“ des perspektivischen Bildes, zwischen fiktivem Objekt und Betrachter), setzen diese mittleren Strahlen die Farbe ihres Gegenstandes frei.32 Wem gehorchen die Jagdhunde bzw. Jäger und die proteushaften Assi­ milationsmeister, die äußeren und die inneren Sehstrahlen? Niemand ande­ rem als dem dux radiorum […] ac princeps, dem „Fürsten der Strahlen“, dem singulären mittleren Sehstrahl, der schärfer (acerrimum) und lebendiger (vi­ vacissimum) als alle anderen wahrnimmt.33 Um ihn scharen sich, wie um ih­ ren Herrn, Fängerstrahlen und Anpasserstrahlen als „vereinte Menge“ (unica quadam congressione). Von der Stellung des Zentralstrahls zum Objekt hängt dessen gesamte Erscheinung ab; der Zentralstrahl legt die Welt auf einen As­ pekt fest. Das Sehen ist ganz offensichtlich Eroberung, Stillstellung, Gefan­ gennahme, dirigiert vom einzigen Zentralstrahl. Die unwesentlicheren Far­ ben und Texturen, kurz, die kosmetische Oberfläche der Dinge, wird „ängstlichen“ und „schwachen“ Boten überlassen, deren totale Wandelbarkeit implizit einen Geschlechterkontrast zur Virilität der Jäger und ihres Fürsten darstellt.34 Sehen bedeutet hier aktive Eroberung durch den schnellsten der Sinne. Was das Auge erjagt, ist die in der Natur zufällig verteilte und seltene Schön­ heit der Dinge.35 Auf pfeilschnellen Schwingen durcheilt das Auge die Räume. Die Frage, die Alberti seinem Emblem, dem geflügelten Auge (Bild 1), beigibt: quid tum (was dann? was folgt?) hat viele mögliche Antworten.36 Eine davon wäre: Was folgt, ist ein Bild, das die kostbare Beute des Sehens dauerhaft fi­ xiert. Jeder Sehakt ist damit ein Eingriff, ein Raubzug, eine Einverleibung, nicht bloß passive Rezeption auf dem „beseelten Spiegel“, speculum anima­ 32 33 34

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De pictura I, 7. Ebd. I, 8. Ironischerweise vergleicht Cristoforo Landino seinen universal gebildeten Freund Alberti nach dessen Tod selbst statt mit einem Löwen mit einem Chamäleon, das beständig die Farben zu wechseln vermag; vgl. Anthony Grafton: Leon Battista Alberti: Master Builder of the Italian Renaissance, London u.a. 2002, S. 109. Zu den Geschlechterstereotypen vgl. Carla Freccero: Economy, Woman and Renaissance discourse, in: Refiguring Woman. Perspectives on Gender and the Italian Renais­ sance, hg. v. Marilyn Migiel/Juliana Schiesari, Ithaka/London 1991, S. 192–208; Philip L. Sohm: Gendered style in Italian art criticism from Michelangelo to Mal­ vasia, in: Renaissance Quarterly, 48 (1995), S. 759–808; Patricia Berrahou Phillippy: Painting women. Cosmetics, canvases, and early modern culture, Baltimore 2006. Vgl. Alberti: De pictura III, 55; De re aedificatoria IX, 8. Dazu umfassend Ulrich Pfisterer: „Soweit die Flügel meines Auges tragen“. Leon Battista Albertis Imprese und Selbstbildnis, in: Mitteilungen des Kunsthistori­ schen Institutes in Florenz, 42, 1998 (1999), S. 205–251.

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Bild 1 Leon Battista Alberti: Geflügeltes Auge mit dem Motto „Quid tum“, 1438, Tuschezeichnung, Libri della famiglia, Florenz, Biblioteca Nazionale Centrale Cod. II.IV.38.

tum, der Augenoberfläche.37 Oder, wie Alberti die Analogie der Pfeile im Ma­ lereitraktat weiterführt: Man muß wissen, worauf man zielt, bevor man den Bogen spannt.38 Schon die an die Emission von Sehstrahlen glaubende Optik des Mit­ telalters war vom Verdacht geprägt, dass dem sinnlichen Vorgang ein Sinn eingeschrieben ist. Augustinus ist dafür erneut der maßgebliche Gewährs­ mann. Seine von Kunsthistorikern häufig missverstandene Lehre von den ge­ nera visionum bezeugt, dass dem Sinnesorgan immer schon eine eigene Intel­ ligenz zukommt. Augustins Erkenntnismodell wird vor allem im zwölften und abschließenden Buch des Genesiskommentars entfaltet, in dem es zu­ nächst um den mystischen raptus des Apostels Paulus im zweiten Brief an die Korinther (12, 2­4) geht. Im Anschluss an Platon (z. B. Theaitet, 184 ff.) beschreibt auch Augus­ tinus eine Hierarchie zwischen Sinnen und Geist, bei der mentalen Operatio­ nen potentielle Unabhängigkeit von sinnlichen Wahrnehmungen zugestan­

37 38

Vgl. David Summers: Vision, reflection, and desire in western painting, Chapel Hill, NC 2007. De pictura I, 23.

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den wird.39 Ein wichtiges vermittelndes Zwischenglied ist dabei die fantasia, die als visio spiritualis zwischen visio corporalis und visio intellectualis an­ gesiedelt ist; das meint also den weiten Bereich des bildhaften Verstehens. In diesem Modell kommt nun zwar die Unabhängigkeit der höheren Erkennt­ nisebenen von den jeweils niedrigeren zum Ausdruck, zugleich aber auch ge­ rade durch die Abhängigkeit der niedrigeren von den höheren visiones eine tiefgreifende Durchdringung von Sinneswahrnehmung und Rationalität. Mit anderen Worten: Die hierarchische Struktur der augustinischen Psychologie impliziert eine Asymmetrie der Erkenntnisstufen, die unverse­ hens Kognitionsleistungen bereits auf der Ebene der „körperlichen“ Sinnes­ wahrnehmung konzediert: „Es gibt daher kein körperliches Sehen, bei dem nicht zugleich ein spirituelles Sehen stattfindet“ (non potest itaque fieri visio corporalis, nisi etiam spiritualis simul fiat).40 Dabei fällt auf, dass Augustinus unter der visio spiritualis einen Katalog des Imaginären subsumiert, von dem sich auch das bildlose geistige Sehen (visio intellectualis) kaum mehr abtren­ nen lässt. „Spirituelles“ Sehen webt so ins „physische“ Sehen stets Bilderflu­ ten hinein, die von der Erinnerung an Gesehenes über freie Vorstellungen (Phantasie) bis hin zur Ekstase reichen, in der das Verstehen gänzlich aus dem Körper gerissen wird.41 Diese Imprägnierung des körperlichen Sehens mit „Sinn“, mit Kognitionsleistungen (und implizit: die totale Ausbreitung des Bildhaften bis weit in den Bereich des „Geistigen“) hat maßgeblichen Anteil an der Aufwertung der Optik (Physiologie des Auges und Geometrie des Lichts) im Lauf des Spätmittelalters. Leonardo formuliert um 1508 vielsagend: „Das Auge sieht schon, auch wenn es noch nicht genau erkennt“ (vede l’occhio, ancora che non cognosca).42 Darin macht sich die wohl einflussreichste These Ibn­al­Haythams bemerk­ bar, die Unterscheidung zwischen halbbewusstem undeutlichem und bewuss­ tem, scharfem Sehen. Alhazen differenziert zwischen einer undifferenzierten Wahrnehmung des gesamten Sehfeldes (aspectus simplex) und einem unter­ scheidenden, in Beziehung setzenden Sehen von Details (intuitio). Die für die Wahrnehmung von Formen, Anzahl, Ruhe und Bewegung, aber auch Schönheit zuständige intuitio beruht aber auf nichts anderem als auf der Bewegung des 39 40

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Vgl. etwa De Genesi ad litteram XII, 24, 51. Vgl. Terry L. Miethe: Augustine and Sense Knowledge, in: ders.: Augustinian Bibliography 1970–1980, Westport, CT 1982, S. 171–183. De Genesi ad litteram XII 24, 51. – Ich folge hier im Wesentlichen der Argumenta­ tion von Margaret Miles: Vision: The Eye of the Body and the Eye of the Mind in Saint Augustine’s ‚De trinitate‘ and ‚Confessions‘, in: Journal of Religion 63/2 (1983), S. 125–42. Vgl. De Genesi ad litteram XII 26, 54. Ms D, fol. 8 verso.

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ungebrochenen Zentralstrahls; Albertis „Fürst der Strahlen“. Erst durch die rasche Bewegung der Augachsen wird das Wahrnehmungsfeld strukturiert, werden Einzelformen isoliert und gegenständliche Relationen – intentiones – erfasst. In Friedrich Risners lateinischer editio princeps von Alhazens De aspectibus (1572) lautet der entscheidende Passus: „Die Erfassung (compre­ hensio) der wahren Form der gesehenen Dinge geschieht nur durch intuitio, und intuitio, durch welche die Form des gesehenen Dinges festgestellt wird (certificabitur), findet nur durch die Bewegung der Sehachse statt.“43 Die nor­ malerweise kaum wahrnehmbar rasche Bewegung des Auges, die besonders beim Lesen auffällt, ermöglicht eine virtus distinctiva, die von den kogniti­ ven Instanzen des Gehirns weiter fortgeführt wird. Grenzziehungen sind aber schwierig, was der Florentiner Goldschmied Lorenzo Ghiberti beklagen wird: „Diese einzelnen intentiones sind aber nicht gut erforscht; die Gelehr­ ten thematisieren sie kaum.“44 Leonardos radikales Projekt einer Verkörperung des Geistes zieht dar­ aus die Konsequenzen: Es sind nicht etwa die rationalen Instanzen im Schädel­ inneren, die den Zentralstrahl in Bewegung versetzen, sondern die neben dem Zentralstrahl liegenden razzi visivi selbst. Der für deutliches Sehen zu­ ständige zentrale Bereich des Sehfeldes nimmt sukzessiv signifikante Teile des Sehfeldes in den Blick, und diese Sukzession ist nicht (nur) ein rational gesteuerter Vorgang, sondern verläuft zumeist autonom, als Bewegungsim­ puls, der von den „schwächeren“ peripheren Bereichen des Sehfelds auf das stärkere, differenziertere Zentrum ausgeübt wird.45 Das Auge ist ein in vielfacher Hinsicht stets ein bewegtes, handelndes Organ. Die notwendige, äußerst schnelle Beweglichkeit der Augachsen wird auch von Dürer hervorgehoben: „Item all Ding, das unter dem Gesicht ist, mag auf einmol ganz miteinander nit gesehen werden, als b kann a d nit auf einmol vollkummlichen gesehen werden, es lauf vorüber c k, wiebohl es schnell geschen mag von Wendung des Gesichts.“46 Ein Komplementaritäts­ verhältnis zwischen der Optik des ersten Eindrucks (aspetto) und dem durch velocissimo movimento dell’occhio ermöglichten „bewussten Sehen“ (consi­ 43

44 45 46

De aspectibus II, 65. Vgl. Graziella Federici­Vescovini: Le Questioni di Perspectiva di Biagio Pelacani di Parma, in: Rinascimento, XII, 1961, S. 163–243 (bes. S. 185– 187). Zum Schema aspectus­intuitio auch Saleh B. Omar: Ibn al­Haytham‘s Optics: A Study of the Origins of Experimental Science, Minneapolis/Chicago 1977. „Queste intentioni particulari non sono ricercate, non sono dimostrate da’dotti particularmente.“ Commentarii III, 9. Vgl. dazu ausführlicher Frank Fehrenbach: Der oszillierende Blick. ‚Sfumato‘ und die Optik des späten Leonardo, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 65/4 (2002), S. 522–544. Unterweisung der Messung; Entwurf von ca. 1508/9; zit. n. Albrecht Dürer, Schrif­ ten und Briefe, hg. v. Ernst Ullmann, Leipzig 1989. S. 239 (Hervorhebung F.F.).

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derato vedere; prospetto) betonte auch Daniele Barbaro (Pratica della Per­ spettiva, 1569). Der naive Begriff des bloß rezeptiven Sehens wird hier durch­ weg problematisch. Unser Gesichtsfeld ist beispielsweise für Barbaro nur deshalb so ausgedehnt, weil wir normalerweise die raschen Bewegungen des Auges übersehen. Barbaro übernimmt auch eine von Alhazen antizipierte These, wonach die Augen schon deshalb fortwährend in Bewegung sein müs­ sen, weil nur so die Leere zwischen den (diskontinuierlich gedachten) razzi des Sehens überbrückt werden könne. Das Sehfeld ist eigentlich ein Diskontinuum, erscheint aber stets zusammenhängend wegen der Bewegung der Augen.47 Die autonome Rotation der Sehachse läßt sich gut mit Leonardos Un­ tersuchungen der Pupillenveränderung und mit seinen späten Überlegungen zur Körpermotorik verbinden. Schon in den frühen optischen Texten Leonar­ dos spielt die Reaktionsfähigkeit der Pupille gegenüber Helligkeitsschwan­ kungen eine bedeutsame Rolle. Um 1503 stellt Leonardo fest: „Jede Pupille verändert sich fortwährend.“48 Dies beruht auf der ständigen Veränderung der Lichtverhältnisse, auf die das Auge mit Verzögerung reagiert. Da die Pu­ pillenadaption Zeit benötigt, verstärken sich aber zunächst die Kontraste zwi­ schen Hell und Dunkel. Wenn das Auge vom Hellen ins Dunkle kommt, er­ scheint dieses noch dunkler, als es „an sich“ ist – und umgekehrt. Dies widerspricht der eigentlichen Aufgabe der Pupillenanpassung: dem Schutz vor der „Kraft“ von Licht und Schatten.49 In seiner der Zeit unter­ worfenen körperlichen Beweglichkeit übersteigert das Auge die natürlichen Kontraste zunächst und ist damit der Intensität des Sichtbaren stärker ausge­ setzt als ein unveränderliches Organ, welches jedoch geringere Sensibilität und deshalb reduzierte Wahrnehmung natürlicher Variabilität besitzen wür­ de. Das Auge erfasst spontan Kräfterelationen innerhalb des Wahrnehmungs­ feldes und übermittelt sie einer eigens von Leonardo „erfundenen“ neurona­ len Instanz im Schädelinnern, der sogenannten imprensiva, die terminologisch auf Impression und Impetus gleichermaßen zurückgehen dürfte.50 Das Auge, ein pathetisches Organ, „übertreibt“ den Antagonismus der Wirklichkeit fortwährend; es produziert sinnliche Dramen und inszeniert den Anprall der Bilder. Man sieht, auch in ihrer aktuellen neurophysiologischen Variante be­ erbt Wahrnehmungspsychologie die Optik des Mittelalters und der Renais­ sance. 47 48 49 50

Vgl. Thomas Frangenberg: The Image and the Moving Eye: Jean Pélerin (Viator) to Guidobaldo del Monte, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 49 (1986), S. 150–171 (bes. S. 157 und S. 162). Codex Madrid 2, fol. 25 verso. Vgl. ebd. fol. 25 recto. Siehe dazu Martin Kemp: ‚Il concetto dell’anima‘ in Leonardo’s Early Skull Stud­ ies, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 34 (1971), S. 115–134.

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3. D ie Oh n mac ht des Sehens In einer Reihe von Passagen für seinen geplanten Malereitraktat betont Leo­ nardo, dass ein Gemälde, im Gegensatz zur Dichtung, spontan und simultan von Menschen aller Zeiten und aller Regionen verstanden wird.51 Diese Un­ mittelbarkeit geht jedoch einher mit der spontanen Aktivierung der anderen Sinne, ja des ganzen Körpers. Ältestes Paradigma ist die erotische Anzie­ hungskraft des Artefakts, ein Thema, gegenüber dem – neben Werbung und Propaganda – bildwissenschaftliche und bildkritische Projekte immer noch eine denkwürdige Scheu zeigen. Als König Matthias von Ungarn ein panegy­ risches Gedicht und ein gemaltes Portrait della sua innamorata überreicht bekommt, greifen seine Hände von allein nach dem Bildnis: „Meine Hände haben ganz spontan (da lor medesimo) dem würdigeren Sinn dienen wollen, und das ist nicht das Gehör.“52 Wer das lebendige Bildnis einer bellezza be­ trachtet, heißt es an anderer Stelle, wird in den Strudel synästhetischer Attrak­ tion gezogen; das Sehen ergreift den ganzen Körper: „[A]lle Sinne wollen sie, ge­ meinsam mit dem Auge, besitzen, ja es scheint, als wären sie mit dem Auge im Kampf. Es scheint, als wollte sie der Mund für sich als Körper haben, als würde das Ohr Gefallen daran finden, von ihrer Schönheit zu hören, als wür­ de sie der Tastsinn durch alle Poren durchdringen (penetrare) wollen, und als würde auch die Nase jene Luft einatmen wollen, die beständig von ihr ausge­ atmet wird.“53 Wo aber das Kunstwerk, die Sinne des Betrachters selbst wie neu bele­ bend, ins Leben überzutreten scheint, bleibt es zuletzt doch tot, und das Sehen begegnet seiner eigenen doppelten Ohnmacht. Doppelte Ohnmacht, weil ihm statt des faktischen Kunstobjekts ein unverfügbares Anderes gegenübertritt, das sich der Polarität lebendig­tot beharrlich zu entziehen scheint, und weil das eigentümliche Leben des Kunstwerks selbst auf einer negativen Ästhetik beruht – dem Erblinden des Betrachters oder dem Einschluss des Unsichtba­ ren. Leonardos Doppelargument besagt, dass erstens das Auge keine Körper­ grenzen sieht, weil es diese Körpergrenzen an sich nicht gibt (Albertis Jagd­ hunde verlieren ihren Biss), und dass zweitens das „Nichts“, das die Körper trennt, sein Äquivalent in der Unausgedehntheit der Sehstrahlen und der Sehstrahlenkreuzung im Augeninnern besitzt. Die Welt besteht nur noch aus dem materiellen Kontinuum der Dinge, in welche das „Nichts“ Grenzen zieht.

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Vgl. Libro di Pittura § 7, 13, 20, 32. Ebd. § 27. Ebd. § 23.

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Implizit beruht die sehende Aneignung der Welt nur noch auf dem Kontinu­ um der „mittleren“, bei Alberti fürs Kosmetische zuständigen Strahlen.54 Die Lebendigkeit der Kunst beruht auf diesem Nicht­Sehen; ihr male­ risches Äquivalent hat bei Leonardo einen Namen: sfumato. Zwei in kurzem Abstand publizierte Passagen späterer Autoren belegen den Sachverhalt. Ich zitiere zunächst die spätere von 1556; sie findet sich in Daniele Barbaros Vi­ truvkommentar: „Man mache die Umrisse süß und sfumati, so dass man ahnt, was man nicht sieht (che ancho s’intenda, quel che non si vede), oder besser: dass das Auge meint, dasjenige zu sehen, was es nicht sieht (l’occhio pensi di vedere, quelle che egli non vede); ein süßestes Verwehen, eine Zartheit am Horizont unseres Sehvermögens (vista nostra), die ist, und nicht ist.“55 In der Einführung in den dritten Teil von Vasaris Vitenwerk von 1550 erscheint dies als Definition der Lebendigkeit, als jene Übergänglichkeit, die der lebendigen Wirklichkeit selbst eignet: „jene anmutige und süsse Leichtig­ keit, die zwischen ‚Du siehst‘ und ‚Du siehst nicht‘ erscheint, wie es der Fall ist beim Fleisch und den lebendigen Dingen“.56 Sfumato ist aber nur ein Aspekt der Verwebung von Sehen und Nicht­ Sehen. Als ästhetische Kategorie macht die Paradoxie – vorbereitet durch Petrarca und Alberti – wenig später Karriere als substantiviertes „Ich weiss nicht, was (genau)“ (non so che; je ne sais quoi)57, aber auch als Macht der emer­ genten Form (Michelangelos non­finito) oder gesteigertes chiaroscuro und tonale Angleichung der venezianischen Malerei. Wo das Sehen an seine Grenze stößt und sich der süßen oder schauerlichen Ungewissheit überlässt, ob denn das Kunstwerk wirklich tot ist, eröffnet sich aber ein Raum der sinn­ lichen Imagination, bei dem sich das faszinierte Auge selbst nicht mehr zu trauen scheint. Ludovico Dolce bringt dies 1557 auf den Punkt: „Fabio: Ge­ mälde guter Meister sprechen, beinahe als wären sie lebendig. – Aretino: Dies ist einer gewissen Imagination des Betrachters geschuldet und wird hervorge­

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Vgl. dazu ausführlich Fehrenbach: Der oszillierende Blick (wie Anm. 45). „[…] fare i contorni di modo dolci, et sfumati, che ancho s’intenda, quel che non si vede, anzi che l’occhio pensi di vedere, quello che egli non vede, che è un fuggir dolcissimo, una tenerezza nell’orizonte della vista nostra, che è, et non è […]“, zit. n. Daniele Barbaro (Hg.): I Dieci Libri dell’Architettura, VII (Della ragione di di­ pingere negli edifici), Venedig 1556, S. 5. „[…] quella facilità graziosa e dolce che apparisce fra ‘l vedi e non vedi, come fanno la carne e le cose vive“. Zit. n. Giorgio Vasari: Le Vite de’più eccellenti pittori, scul­ tori e architettori, hg. v. Rosanna Bettarini/Paola Barocchi, Bd. IV, Florenz 1976, S. 5. Vgl. Erich Köhler: Je ne sais quoi, in: Joachim Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wör­ terbuch der Philosophie, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, S. 640–644; Paolo D’Angelo/ Stefano Velotti (Hg.): Il ‚non so che‘. Storia di una idea estetica, Palermo 1997; Richard Scholar: The Je­ne­sais­quoi in Early Modern Europe. Encounters with a certain something, Oxford 2005.

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Bild 2 Giovanni Agostino da Lodi: Maria mit Kind und den Hll. Joseph und Lucia (Detail), um 1500/1505, Pappelholz, 56,5 × 74,4 cm, Berlin, Gemäldegalerie.

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rufen durch verschiedene Haltungen, die diesem Effekt dienen; [Lebendigkeit ist] nicht Wirkung oder Eigenschaft des Gemalten.“58 Zugleich und als kunst­ volles Paradox erinnert der venezianische Polyhistor daran, dass von einem Bereich des tatsächlich Unbelebten eigentlich keine Rede sein kann: „Das co­ lorito ermöglicht jene Farbtöne, mit denen die Natur die beseelten und die unbeseelten Dinge unterschiedlich malt (wenn man so sagen darf). Beseelte: wie etwa die Menschen und die wilden Tiere; unbeseelte, wie die Steine, Kräu­ ter, Pflanzen und ähnliches, auch wenn diese je nach ihrer Art beseelt sind, da sie an jener Seelenkraft Anteil haben, welche vegetativa genannt wird, und diese Seelenkraft macht dauerhaft und hält im Dasein.“59 Die Lebendigkeit der Malerei hat somit grundsätzlich Anteil an jener kohäsi­ ven Kraft, die – gut aristotelisch – die ganze Welt zusammenhält.60 Aber das scheinbar blickende, atmende, ja sprechende und bewegte Werk konfrontiert das Auge mit einem Phantasma, bei dem Sehen und Nicht­Sehen ununter­ scheidbar werden (Bild 2).61 Jenseits seiner neurologischen Grundlagen62 er­ öffnet dieses „ohnmächtige“ Sehen an den Grenzen des Sehens damit einen Imaginationsraum, in dem sich andere Bilder zu Wort melden, aber auch Kon­ texte, aktuelle Wahrnehmungssituationen in ihrem sozialen Vollzug, Erwar­ tungen, kollektive Wertzuschreibungen, die Rhetorik der Beschreibung. Jäger und Gejagtes vertauschen fortwährend lustvoll ihre Plätze. Wieder einmal erweist sich die Abdankung des Tyrannen nicht nur als Glück der Untertanen, sondern auch als Selbstbefreiung von der Bürde der Macht. 58

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„Fab.: […] che le figure dipinte da buoni Maestri parlano, quasi a paragon delle vive. – Aret.: Questa è certa imaginatione di chi mira, causata da diverse attitudini, che a cio servono, e non effetto o proprietà della Pittura“ Dialogo della Pittura […] in­ titolato L’Aretino (1557), zit. n. Mark W. Roskill: Dolce’s „Aretino“ and Venetian Art Theory of the Cinquecento, New York 1968, S. 98. „Aret.: […] Il colorito serve a quelle tinte, con lequali la Natura dipinge (che così si puo dire) diversamente le cose animate & inanimate. Animate: come sono gl’huomini e gli animali bruti; inanimate, come i sassi, l’herbe, le piante, e cose tali: benche queste ancora siano nella spetie loro animate, essendo ellene partecipi di quell’anima, che è detta vegetative: la quale la perpetua e mantiene. Ma ragionerò da Pittore, e non da Filosofo. – Fab.: A me parete l’uno e l’altro.“ Ebd. S. 116 f. Vgl. Gad Freudenthal: Aristotle’s Theory of Material Substance. Heat and Pneuma, Form and Soul, Oxford 1995. Dazu ausführlicher: Frank Fehrenbach: Calor nativus – Color vitale. Prolegomena zu einer Ästhetik des ‚Lebendigen Bildes‘ in der frü­ hen Neuzeit, in: Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, Berlin/München 2003, S. 151–170. Dies wird von späteren Autoren als „Lüge“ gegeißelt, etwa bei Sforza Pallavicino; dazu ausführlich Maarten Delbeke: The pope, the bust, the sculptor, and the fly, in: Bulletin de l’Institut Historique Belge de Rome, 70 (2000), S. 179–223. Dazu instruktiv: Margaret Livingstone: Vision and Art, New York 2002, S. 68–73.

Eva Schürmann

U N EN DL IC H ES I M EN DL IC H EN Über einige Gemeinsamkeiten des Gesichter- und des Bildersehens

1. Sehen a ls Pra x is 1 Das zentrale Problem der langen Konzeptionsgeschichte dessen, was sehen heißt, beruht im Wesentlichen auf einem disjunkten Denken in den Kategorien von Subjekt und Objekt. Unter diesen Prämissen wurde der Sehsinn abwechselnd als produktives Theorievermögen geadelt oder als illusionsgefährdete Sinnlichkeit herabgesetzt. Beiden Auffassungen liegt indessen dasselbe epistemische Modell zugrunde, dem zufolge ein Subjekt ein Objekt bildet oder abbildet – mal mit dem Akzent auf dem konstruktiven Charakter des Vorgangs, mal unter Betonung seiner rezeptiven Seite. Alle Schwierigkeiten eines weltlosen Solipsismus respektive eines vermittlungsvergessenen Realismus sind dadurch quasi vorprogrammiert. Dazwischen gibt es jedoch einen dritten Weg. Analog zu den sprechakttheoretischen Erörterungen der letzten Jahrzehnte, die gelehrt haben, Sprechen als Handeln zu begreifen, ist auch das Sehen als sozialwirksame Tätigkeit zu qualifizieren. So wie das Sprechen als performative Aktivität beachtet worden ist, werde ich im Folgenden das Sehen als einen Vollzug, in dem und durch den die Welt erscheint, entwickeln. Zur genaueren Bestimmung dieses Vollzugs, der gleichzeitig instrumentelle und mediale2 Züge trägt, steht seit Aristoteles der Begriff Praxis zur Verfügung. 1 2

Die nachfolgenden Überlegungen finden sich größtenteils in meinem Buch: Sehen als Praxis, Frankfurt/M. 2008, ausführlich entwickelt. Vor allem Punkt 4 wurde für die Eröffnungstagung der Berliner Kolleg-Forschergruppe neu geschrieben. Deshalb kann man den Tätigkeitscharakter des Wahrnehmens auch mit der Terminologie von Medium und Medialität beschreiben: Als nützliches Instrument zum Zwecke der Orientierung hat visuelle Wahrnehmung den Charakter eines Mediums, während sie zugleich eine Vermittlungsdimension von ungegenständlicher Qualität ist. Näheres dazu Verf.: Die Medialität von Medien. Online-Publikation: http:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-44857.

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Praxis ist der Oberbegriff einer Handlungssphäre, die poetisch und praktisch profiliert ist, d.h. instrumentell und selbstzweckhaft. Versteht man Sehen als Praxis können ganz verschiedene Qualitäten in den Blick kommen: Neben den nützlichen Eigenschaften kann auch der kommunikative Charakter des Gesichtssinnes beschrieben werden, etwa wenn mit warnenden Blicken ganz konkret etwas getan wird, aber auch die selbstzweckhafte Verfassung zerstreuten Schauens, bei dem zwischen Prozess und Resultat nicht mehr unterschieden werden kann. Zudem ist mit dem Begriff Praxis zugleich die Einbindung des Wahrnehmungshandelns in Lebensformen, Weltbilder und soziale Gepflogenheiten bezeichnet. Praktisches Handeln ist stets in Kontexte und kulturelle Horizonte eingebettet. Die Gesamtheit historisch und gesellschaftlich, öffentlich und institutionell anerkannter Üblichkeiten, herrschender Überzeugungen, Interessen und Geltungsansprüche bildet den Praxiskontext der sozial geteilten Wahrnehmungswelt. Damit ist zugleich eine interdependente Vernetzungsstruktur von Handelnden und Handlungszusammenhängen angedeutet. Handelnde, Sprechende und Wahrnehmende sind demzufolge Teile eines Geflechtes von Rahmenbedingungen, die nicht nach Art eindeutig prädizierbarer Objekte vorliegen, sondern die durch die Lebensformen einer Kultur und Epoche, durch den Sprachgebrauch einer Interessengemeinschaft und durch soziale Normen und Standards einer Gesellschaft geprägt werden. Die Praxis stellt ein Beziehungsgewebe zwischenmenschlicher Aktivitäten dar, deren wesentliches Charakteristikum darin besteht, dass Sinnfälligkeit gemeinsam, d.h. intersubjektiv und interaktiv, kooperativ oder konfligierend ausgehandelt und hervorgebracht wird. Der Praxisbegriff vermittelt auch zwischen dem unhintergehbar individuellen Charakter des Sehens aus je unvertretbarer Perspektive und den intersubjektiv geteilten Wahrnehmungen. Damit wird erklärlich, warum Sehen einerseits ein probates Mittel der Orientierung und Informationsaufnahme darstellt, während es doch zugleich eine persönlichkeitsspezifische Form individuierter Welterschließung ist. Schließlich vermittelt er im Streit um die Frage nach dem Verhältnis des Visuellen zum Mentalen, das heißt zum Wissen, Meinen und Überzeugtsein. Als Bewusstseinsleistung ist Sehen eng mit Prozessen des Vorstellens oder Urteilens, mit affektiven Dispositionen des Hoffens oder Befürchtens und mit zeitlichen Hinsichtnahmen des Erinnerns und Erwartens vernetzt, was nicht zu erklären wäre, wenn es ein physiologisch determinierter Vorgang wäre. Sehen ist gleichsam nach innen und nach außen geöffnet, wenngleich solche Terminologie nicht geeignet ist, die Art und Weise dieser Öffnung und beider Zusammenhang zu erfassen. Doch es ist mit Bewusstseinsprozessen verknüpft, während es sich zugleich auf etwas richtet, das nicht Bewusst-

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sein ist. Damit ist es ähnlich rätselhaft gelagert wie die Relation von Physischem und Psychischem bzw. von Gehirn und Geist. Intern ist es das Verhältnis von Sinnlichkeit und Bedeutung, Sehen und Denken, das in Frage steht, extern dasjenige von Geist und Welt, Subjekt und Objekt. Das eine Problem ist das von Geist und Natur, das andere das von Geist und Welt. Eine Segmentierung des Sehgeschehens in eine physiologische und eine mentalen Ebene verliert jedoch aus dem Blick, welche tatsächliche Einheit Responsivität und Interpretativität des Sehens bilden. Um etwa sehen zu können, dass meine Tochter zufrieden ist, reicht es nicht hin, im Sinnlichen Auffindbares zu konstatieren. Gleichwohl handelt es sich um eine Form tatsächlichen Sehens und nicht etwa um Hören oder um Träumen. Die Heiterkeit im Gesicht des Kindes sind sinnlich vernehmbare Eigenschaften seines Sichtbarseins. Um etwas Derartiges erklären zu können, muss man annehmen, dass Sehen und Einsehen einen Konnex bilden, der nicht nur metaphorisch hergestellt wird, sondern wörtlich zu nehmen ist. Der Praxisbegriff vermittelt folglich zwischen fundamentalen Gegensätzen: Als eine in Praxis eingebundene Tätigkeit lässt Sehen sich in seiner ganzen Vielschichtigkeit beschreiben.

2. Gesic hter erbl ic ken Ist Sehen also immer schon ein Handeln in Kontexten, ist das interpersonelle Sehen wie es sich im Anblick eines Gesichts realisiert, doch eine besondere Form des Wahrnehmungshandelns. Wenn jemand einen anderen anblickt, handelt es sich um ein Sehen, das vom Gegenstandssehen aus prinzipiellen Gründen abweicht. Die für solche Situationen charakteristische Gleichzeitigkeit von sehendem Sichtbarsein, die Ansprache- und Aufforderungs-Dimension, der Begegnungscharakter – all dies macht interpersonales Sehen zu einem Sonderfall visuellen Wahrnehmens. Der Blick ist ein performativer Akt, der etwas gründet oder zerstört, anfangen oder enden lässt, dem erblickten Ich eine bestimmte Form zuweist und ihm andere Gestaltmöglichkeiten raubt. Er ist das zugleich sinnliche und mentale Geschehen einer Begegnung von ichbildender Macht. Nicht nur durchdringen gesellschaftliche und weltanschauliche Normen die Wahrnehmungspraxis, indem sie beeinflussen, was wie gesehen werden kann, vielmehr spielt soziales Sichtbarsein eine entscheidende Rolle bei der Genese eines Selbstbewusstseins. Die Gleichzeitigkeit von Sehen und Gesehenwerden, wie sie auch für den Blick in den Spiegel charakteristisch ist, konstituiert eine Selbstrelation des Ich. Gleichsam als ein aktiv reflektierender Spiegel fungiert der Blick des bzw. der anderen und begründet eine Selbstrelation des gesehenen Ich; erst im Blicken und durch die Blicke des und der anderen, kann sich

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ein Selbstbild bilden. In diesem Sinne, nämlich in Korrelation zu Blickakten, scheint es mir im Übrigen sinnvoll, den Terminus Bildakt zu gebrauchen: Die Bilder, die ein Ich durch soziales Sichtbarsein und Gesehenwerden herausbildet, sind in dem Maße aktförmig, in dem sie performativ und prozessual ausgehandelte Selbst- und Weltbilder hervorbringen. Die allgemeine Struktur der Identitätskonstitution durch soziale Visibilität hat entwicklungspsychologische und genderspezifische, sozialisations- und machttheoretische Seiten. Ob es sich um gesellschaftliche Sozialisierungen im Sinne konditionierender Normen handelt oder um den sprichwörtlich bohrenden Blick, der noch im Rücken des Erblickten spürbar ist, macht in Bezug auf die ichbildende Konstitutionsleistung jedoch keinen prinzipiellen Unterschied. Ein Anblick kann uns bewegen oder wie ein Schlag treffen, der Blick mag vergegenständlichend, begehrlich, uninteressiert oder bedrohlich sein, stets ist er das performative Geschehen, durch das ein Bild gebildet wird – vom Ich, dem anderen und der Situation. Im Anblick eines Angesichts reflektieren die Augen der anderen, was jemand ihnen vermeintlich oder tatsächlich ist, in ihren Mienen und Reaktionen spiegelt sich seine Subjektivität als gesehene wider oder wird zur Objektivität vereindeutigt. Intersubjektiv reicht die Macht des Sehens und Gesehenwerdens von Akten normativer Identitätszuschreibung bis zum Anerkennen. Bei all dem ist der Blick nicht nur Mittel oder Medium der Kommunikation, sondern ein anthropologisches Existential: Im Blick, der dem Blick des anderen begegnet, verortet etwa Helmuth Plessner die Exzentrizität menschlichen Seins, also jene anthropologische Existenzbedingung, die darin besteht, dass der Mensch nur er selbst sein kann, indem er sich von sich unterscheidet: „Der Mensch verfügt über den Sinn für die ‚Reziprozität der Perspektiven‘, d. h. im Anderen ‚sich‘ zu sehen, den Sinn für Spiegelbildlichkeit, kraft seiner zu sich aufgebrochenen Ichhaftigkeit.“3 Die Fähigkeit, sich selbst mit den Augen der anderen zu sehen, ist grundlegend für soziale Identitätsbildung: „So wie der Mensch sich sieht, wird er; darin besteht seine Freiheit“,4 freilich auch seine Determinierbarkeit durch die Blicke der anderen. Das Geschehen kann Züge eines Kampfes tragen, der Blick den Charakter eines Herrschaftsinstrumentes annehmen. Immer jedoch, im Guten wie im Schlechten, ist es erst im und durch die Blicke des und der anderen, dass sich ein Selbstbild bilden kann. Das Selbst wird sich durch sein Sichtbarsein für andere gegeben und kann sich eben dadurch auch verlieren. 3 4

Helmuth Plessner: Trieb und Leidenschaft, in: ders: Mit anderen Augen, Stuttgart 1982, S. 110–123, S. 114. Ders.: Über Menschenverachtung, in: Gesammelte Schriften Bd. VIII, Frankfurt/M. 1983, S. 105–116, S. 116.

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Der Tendenz nach verhalten Blicke sich zum Sehen wie Handlungen zum Handeln und Sprechakte zum Sprechen. Das heißt, dass der Blick eher ein punktueller, zielorientierter, adressierter Akt ist, der instrumentell eingesetzt werden kann, während das Sehen seiner Tendenz nach den selbstzweckhaften, unabschließbaren Charakter des Handelns und Sprechens hat. Doch ist der übliche Sprachgebrauch hier keine präzise Begrifflichkeit, denn freilich kann man auch von ziellos schweifenden Blicken reden, wie umgekehrt das interesse-geleitete Sehen zu einem greifbaren Ergebnis führen und ein Ende außerhalb seiner selbst, nämlich bei der angestrebten Information haben kann. Im Nahhorizont zwischenmenschlicher Begegnung findet der Blick jedenfalls seine pointierteste Form als Geschehen einer kommunikativen Begegnung und ist vom Fernhorizont des Überblicks oder vom internalisierten Blick, der gar nicht mehr körperlich anwesend sein muss, um dennoch antizipiert werden zu können, zu unterscheiden. Jean Paul Sartre hat die identitäts-konstituierende Macht des Blicks besonders zugespitzt formuliert. Nach Sartre bedeutet Sichtbarsein zunächst eine Form des gegenständlichen Gegebenseins für andere, welches er als Selbstverlust begreift. Das Subjekt büßt ihm zufolge seinen Subjektstatus im Blick der anderen ein: Gesehenwerden ist demnach die „Enthüllung meines Objektseins für den Anderen […] und die Anwesenheit seines Subjektseins“5 für mich. Er profiliert den Blick damit als Einbruch eines machtvoll-entmächtigenden Ereignisses ins Selbstsein des Subjekts. Das Selbst verliert sich in seiner Selbstgewissheit und findet sich in einer Form wieder, die ihm der erblickende Andere zuweist. Hatte Sartre 1940, d. h. drei Jahre vor L’être et le néant, in L’Imaginaire noch eine strikte Trennbarkeit von Wahrnehmung und Imagination behauptet, stößt er im Blickgeschehen auf eine Fähigkeit, die ohne Beteiligung der Einbildungskraft nicht zu erklären ist: Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihre Perspektiven imaginär vorwegzunehmen. Der Voyeur, der im Blickkapitel von L’être et le néant Sartres Beispiel für ertapptes Sichtbarsein ist, mag tatsächlich entdeckt werden oder nur die herannahenden Schritte einer Person hören, welche ihn das Entdecktwerden befürchten lassen, der Effekt des Verlustes ungestörten Für-Sich-Seins ist der nämliche. Wenn folglich bereits der imaginierte Blick des anderen hinreicht, um ein Selbst zu verstören, bedeutet das, dass Unsichtbares im Sinne eines Vorgestellten oder Imaginären am Wahrnehmen konstitutiv beteiligt sein muss. Folglich ist die Imagination genau jenes Ingredienz der Perzeption, das Kant in ihr gesehen hatte, was Sartre jedoch in L’Imaginaire geleugnet hatte. 5

Jean-Paul Sartre: Der Blick, in: ders.: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962, S. 463. Original: L’être et le néant, Paris 1943.

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Dass Sichtbares und Vorgestelltes, Gesehenes und Imaginiertes sich mischen, schließt er dort kategorisch aus. Und daran hält er in seiner Blicktheorie fest: Wir können „nicht gleichzeitig wahrnehmen und imaginieren, es kann nur das eine oder das andere sein“.6 Gleichsam gegen seine konzeptionellen Interessen taucht aber im Blickgeschehen eine zugleich wahrnehmbare und die Wahrnehmung überschreitende Kraft auf, die Sartre mit der durch nichts gedeckten terminologischen Trennung von Auge und Blick eingrenzen will. Als Blickender sei der andere nicht wahrnehmbar, was ich sehen könne, seien nur seine Augen. Die Augen will er damit für eine physiologische Rezeptionstätigkeit reservieren, den Blick für das sozial wirksame Geschehen. „Sobald ich zum Blick hinblicke, verschwindet er, ich sehe nur noch Augen.“7 Tatsächlich wird die Erfahrung, dass man einem anderen ins Gesicht sieht, ohne seine Augenfarbe wahrzunehmen, oder dass man umgekehrt seine Augenfarbe feststellt und dabei das Gesicht verschwindet, den meisten geläufig sein. Desungeachtet bleibt aber zu fragen, ob der Blick nicht gerade in der Anerkenntnis meines Erblicktwerdens sehr wohl sicht- und wahrnehmbar ist. Lacan jedenfalls vertritt diese Auffassung gegen Sartre: „Es stimmt nicht, daß wenn ich unter dem Blick bin […], ich ihn nicht als Blick sehe. Vorrangig Maler haben diesen Blick als solchen in der Maske erfaßt.“8 Es sei ein imaginierter Blick, so Lacan, den ich wirklich sehe, wenn ich mich als erblickt erfahre.

3. Bl ic k u nd I mag i nat ion Dieser Dissens, und damit komme ich zu den Gemeinsamkeiten des Personenund des Darstellungssehens, ähnelt signifikant demjenigen zwischen Richard Wollheim und Ernst Gombrich über die Frage, ob das Sehen des Bildgegenstandes mit dem Sehen des im Bild dargestellten Gegenstandes gleichzeitig oder abwechselnd stattfindet.9 Ähnlich wie einer inspizierenden Aufmerksamkeit auf die Farbe der Augen deren Ausdrucksqualität entgehen muss, verliert auch die taxierende Wahrnehmung des pastosen Farbauftrags das Gesamtgeschehen des Dargestellten notwendig aus dem Blick. Einmal richtet sich die Wahrnehmung auf ein Endliches, nämlich auf das begrenzte Bildfeld in seiner Materialität bzw. auf die Augen in ihrer physischen Beschaffenheit,

6 7 8 9

Ebd. S. 467. Ebd. S. 664. Jacques Lacan: Seminar XI. Vom Blick als Objekt Klein a, in: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Weinheim 1987, S. 90. Ernst H. Gombrich: Art and Illusion, Princeton 1960, S. 6.

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das andere Mal auf das prinzipiell unendliche, weil unausdeutbare, vielschichtige10 Ausdrucksgeschehen, das im Endlichen erscheint. Um diesen Überstieg des Ausdrucks über die Bedingungen seines Erscheinens überhaupt verstehen zu können, muss man voraussetzen, dass sich etwas Unsichtbares ins Sichtbare einmischt. Nur wenn und weil man Imaginäres wirklich erblicken kann, kann das Erblickte etwas sein, das die Endlichkeit einer Bildfläche respektive eines Augen-Blicks transzendiert. Es ist dieses Strukturmoment des Überstiegs, das das Sehen eines Gesichts und das Sehen eines Kunstbildes gleichermaßen charakterisiert. Bei beiden taucht im Endlichen ein Unendliches und im Sichtbaren ein Unsichtbares auf, nämlich etwas Imaginiertes in der Physiognomie des Gesichtes oder im Trägermedium des Bildes. Um dieses sehen zu können – und wie sonst könnten wir davon wissen oder darüber reden – muss das Sehen selbst über das Sichtbare hinausreichen. „Wenn es“, wie Vincent Descombes schreibt, „für uns Unbeobachtbares geben soll, so müssen wir eine Erfahrung bezeichnen können, in der das Bewußtsein das verspürt, was sich ihm als Unbeobachtbares präsentiert, eine Erfahrung, ohne die wir nicht wissen, wovon wir sprechen.“11 Wenn die Augen nur Augen sähen, könnte von keinem Blick, d.h. weder von einem beschämenden, noch von einem imaginierten überhaupt die Rede sein. Das Blickgeschehen ist ein sinnliches Sehen, das sich zugleich selbst überschreitet, indem es sich auf etwas Unsichtbares hin öffnet. Ohne eine Qualität des Imaginierens im Sehen würden Gesichter und Bilder wahrgenommen wie Tische und Stühle, d.h. ohne jede „twofoldness“ und ohne jeden Überschuss. Wie es zur Eigenart des Bildes gehört, eine sinnlich perzipierbare Gestalt zu sein und zu haben, gehört es zur Spezifik eines Gesichtes, physiognomische Gegebenheit und verkörpertes Ausdrucksgeschehen zu sein. Dass Sartres Argumentation an genau diesem Punkt inkonsistent wird, belegt im Übrigen die Fallen des Subjekt-Objekt-Denkens. Es zeigt sich daran, wie entscheidend es ist, den Tätigkeitscharakter des Sehens als Nexus von Responsivität und Interpretativität ernst zu nehmen. Sartre braucht das Konzept einer basalen Augenleistung, um seine Theorie der Imagination als eines freien, d.h. von physisch vorhandener Sichtbarkeit unbeeinflussten Vermögens aufrecht halten zu können. Wenn die Imagination in seiner Theorie des Blickgeschehens dennoch eine Rolle spielen kann, dann weil der Blick nicht mehr der ‚reinen Perzeption’ zuzurechnen sein soll. Die Konzeption einer ‚reinen Perzeption’ ist jedoch ein naturalistischer Reduktionismus, mit dem Sartre sich im performativen Selbstwiderspruch zu seinen Ausführungen 10 11

Zu diesem Begriff und seiner Symptomatik vgl. die Überlegungen von Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, München 1991, S. 137–165. Vgl. Vincent Descombes: Das Selbe und das Andere, Frankfurt/M. 1981, S. 82.

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bezüglich der ethischen Brisanz körperlichen Sichtbarseins befindet. Dass Wahrnehmung sich nicht in einer Bestandsaufnahme materialer Vorhandenheit erschöpfen kann, zeigt seine Analyse also gleichsam contre cœur. Mit der Trennung von Auge und Blick kann nicht erklärt werden, wieso es genau die Art imaginären Sehens geben kann – nämlich ein Wahrnehmen unter den Einflüssen des Erwartens und Befürchtens –, das er in seiner Blicktheorie beansprucht, obwohl er es in seiner Theorie der Imagination bestreitet. Dass es indessen für das Sehen des Blicks des Begriffs eines ‚imaginierenden Sehens‘12 bedarf, genau wie für das Sehen eines Bildraumes, wird noch einmal deutlich, wenn man sich die ungreifbare Prozessualität der Blickdimension klar macht. Rudolf Bernet schreibt, dass der Blick deshalb ein „Sehendes mit einem blinden Fleck“ sei, weil er als ein bewegtes Relationsphänomen zwischen dem Selbst und dem anderen angesiedelt sei, quasi unterwegs von einem zum anderen; ein „Phänomen auf dem Wege, seine Erscheinung ist in Bewegung“.13 Die Unterscheidung von ‚Auge‘ und ‚Blick ‘ im Sinne eines ‚reinen Sehens‘ hier und einer Deutungsleistung dort ist ebenso unhaltbar wie die Trennung von körperlicher und sozialer Sichtbarkeit. Wenn Sartres Voyeur vor Scham errötet oder vor Zorn erbleicht, wird man dies schwerlich als ‚rein körperliche‘ Reaktion bezeichnen dürfen. Vielmehr äußern sich psychische Dispositionen im Körper, denn wie anders sollten sie sonst überhaupt zum Thema werden können. So reduktionistisch die Annahme eines rein physiologischen Sehens ist, so wenig können Personen einander ‚rein physisch‘ sichtbar sein. Eben dies aber hängt konstitutionslogisch mit dem Praxischarakter des Sehens zusammen. Weil Sehen als kontextgebundenes Handeln im Zwischenraum von Subjekt und Objekt, Geist und Welt, Responsivität und Konstruktivität angesiedelt ist, kann es diese Bewegung des Sehens über das Sichtbare hinaus geben. Durch den performativen Vollzug einzelner, besonderer Wahrnehmungsakte gibt es den Überstieg über Rezeptivität und Kausalität hinaus zur Freiheit des Anderssehens.

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Michael Podro hat das beschrieben, als er, gegen Goodmans semiotisches Bildverständnis gewendet, schrieb, „imaginierendes Vorstellen und Sehen“ dürften beim Darstellungssehen nicht voneinander getrennt werden. Vgl. ders.: Vom Erkennen in der Malerei, München 2002. Rudolf Bernet: Das Phänomen und das Unsichtbare, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1/1998, S. 15–30, S. 18.

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Bild 1 Kasimir Malewitsch, Schwarzes Quadrat, 1915, Öl/Lw, 79 cm × 79 cm, Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie.

4. Bi ld u nd Bl ic k Imaginierendes Sehen und Gesehenwerden, wie es in Blickbezügen wirksam ist, ist also dasjenige Element, das das Gesichter- und das Bildersehen vergleichbar macht, denn es stellt in beiden Fällen ein Geschehen dar, durch das das sinnlich Verkörperte auf etwas hin überschritten wird, das perzeptiv und fiktiv zugleich ist. Wie im Gesichtsfeld der schwer fassliche Ausdruck, erscheint im materialen Medium der künstlerischen Darstellung ein imaginäres Geschehen von prinzipiell unabschließbarer Deutungsoffenheit. Bild und Blick ist gemeinsam, dass sie einen Anblick bieten, dessen Ansprachecharakter den Erblickenden nicht in anonymer Verborgenheit belässt. Der Anblick eines Kunstbildes ermöglicht die Erfahrung des Adressiertwerdens, ohne dass es sich dabei notwendig um ein Porträt handeln müsste. Würde man in eine detaillierte Bildanalyse und -erfahrung einsteigen, könnte man wahrscheinlich zeigen, dass auch Malewitsch’ Schwarzes Quadrat (Bild 1) in seiner Fron-

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Bild 2 Peter Paul Rubens, Rubens und Isabella Brant in der Geißblattlaube, um 1609, Öl/Lw, 179 × 136 cm, München, Alte Pinakothek.

talität eine vergleichbare Sog- und Ausstrahlungskraft hat. Für den Ansprachecharakter des Bildes ist es nicht nötig, dass der Betrachter angeblickt wird. Das Bild ist das, worauf der Blick trifft, aber es ist auch das, was den Blick selbst formiert. „The object stares back“14, hat James Elkins das Phänomen beschrieben. 14

James Elkins: The object stares back, New York 1996.

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Bild 3 Rembrandt van Rijn, Die „Judenbraut“ (Isaak und Rebekka), um 1666, Öl/Lw, 121,5 × 166,5 cm, Amsterdam, Rijksmuseum.

Freilich ist der Blick aus dem Bild eine besonders pointierte Form der Ansprache. Aus guten Gründen hat Hegel das Fehlen des Augen-Blicks bei den Götterskulpturen Griechenlands als ‚Innerlichkeitslosigkeit‘ kritisiert und den Blick, der uns aus der Malerei der italienischen Renaissance und des niederländischen Barock heraus anschaut, als typisch für die neuzeitliche Subjektivität gekennzeichnet. In unserem Zusammenhang interessiert aber vor allem, dass und wie mit dem Blick aus dem Bild – freilich nicht nur durch diesen – die Bildebene transzendiert wird. Eine vergleichende Betrachtung zweier Paarbildnisse von Rembrandt und Rubens (Bild 2: Rubens’ Selbstbildnis mit seiner Frau um 1609, und Bild 3: Rembrandts sog. jüdische Braut um 1666) soll das erweisen. Während die Darstellung der versonnenen, wenn nicht verlorenen Blicke bei Rembrandt die Dargestellten gleichsam bei sich bleiben lässt, richtet sich der Blick der Dargestellten bei Rubens auf jene dritte Stelle, die erst der Maler und sodann die Bildbetrachter einnehmen. Dadurch kommt in mindestens zweifacher Hinsicht ein Repräsentationsbewusstsein ins Bild. Zum einen ganz konkret, indem die Dargestellten ein repräsentatives Bildnis von sich besitzen und ausstellen wollen. Zum anderen aber wird dadurch, dass die Bildfiguren

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scheinbar um ihr Dargestelltwerden wissen, eine Repräsentationsebene mitthematisch, die bei den Rembrandt’schen Bildfiguren nicht interessiert. Begibt das eine Paar sich in seiner Selbstdarstellung auf die Repräsentationsebene, scheint das andere gleichgültig gegen sein Gezeigt- und Gesehenwerden. Der Blick aus dem Bild fungiert wie eine Brücke, die die Differenz zwischen dem Gezeigten und dem Sehenden überbrückt und ein imaginäres Kontinuum zwischen Deixis und Aisthesis stiftet. Er ist es, der den Bildrahmen überschreitet und öffnet für einen kommunikativen Austausch zwischen inner- und außerbildlicher Wirklichkeit. Auf diese Weise trennt die Bildgrenze ebenso wie sie verbindet, und sie ist Voraussetzung des Sichtreffens und Sichtrennens zugleich. Während das Bild, das solche Blickverbindungen nicht herstellt, durch seine Rahmung nach innen eingeschlossen und nach außen abgegrenzt wird, wird der Rahmen selbst durch den Blick aus dem Bild überschritten. Das Gezeigte wird dadurch jedoch auf merkwürdige Weise opak – vergleichbar einer Fensterscheibe, die durch Lichtspiegelungen undurchsichtig wird und den eigenen Blick zurückwirft, anstatt ihn auf eine Aussicht freizugeben. Das Bild vollzieht damit seinerseits eine Art Aspektwechsel. In den Kategorien, die Michael Fried der französischen Malerei des 18. Jahrhundert entlehnt hat, ändert die Darstellung in dem Maße ihren theatralischen Charakter, in welchem die dargestellten Figuren, nicht von dem, was sie tun und sind, absorbiert erscheinen.15 Während Rembrandts Brautleute absorbiert erscheinen, haben sich Rubens Bildfiguren auf eine Bühne begeben, auf der sie ihre soziale Sichtbarkeit und ihr Gesehenwerden zur Schau stellen. Entscheidend daran ist der mehrdimensionale Überstieg, der über das Sichtbare hinaus dadurch geschieht: Ein Überstieg des Bildraumes in den Raum des Malers und der Betrachterin. Ein Überstieg der Zeit aus dem Jahre 1606 ins 21. Jahrhundert. Ein Überstieg aus dem endlichen tableau in die Unendlichkeit der Imagination. Letzteres freilich ist kein Charakteristikum des Blicks allein, sondern ließe sich auch an der jüdischen Braut aufweisen. Denn es ist nicht nur der Blick aus dem Bild, sondern ebenso der Blick auf ein Bild, der sich ein imaginäres und imaginiertes Geschehen von prinzipiell unabschließbarer Deutungsoffenheit erschließt. Zum Abschluss möchte ich noch gern an ein früheres Plädoyer zum Begriff „Bildakt“ anknüpfen: Ich habe bereits an anderer Stelle16 dafür argumentiert, die Tätigkeiten des Zeigens und Erscheinens als Bildakte auf der Ebene des „Images“ zu begreifen. „Image“ ist dasjenige deutungsoffene Bild15 16

Michael Fried: Absorption and theatricality, Berkeley 1980. Verf.: Die Bildlichkeit des Bildes. Bildhandeln am Beispiel des Begriffs Weltbild, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 195–211.

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geschehen, das unter den endlichen Bedingungen eines materiellen tableau erscheint. Es ist freilich nur dadurch und dann unendlich, wenn es eine Bildrezeption gibt, die sich auf die Deutungsoffenheit einlässt bzw. eine Deutung vollzieht. Insofern sind Bildakte auf interpretierende Bildwahrnehmungen angewiesen. Im Interpretationshandeln eines Rezipienten realisiert sich die Darstellung zu einem Bildakt, der durch die Einbildungskraft gleichsam in Bewegung gehalten wird. Dies gilt im besonderen Maße für reflexive Kunstbilder, die nicht nur Gesehenes zeigen, sondern Strukturmomente ihres Gesehenwerdens und Sichtbarseins selbst mitzeigen.

I I I . D I E S I C HT AU F D I E D I N G E

Claus Zittel

LU DW I K F LEC K U N D DE R ST I LBEGR I F F I N D E N N AT U RW I S S E N S C H A F T E N 1 Stil als wissenschaftshistorische, epistemologische und ästhetische Kategorie

1. E i n leit u ng Im Jahre 1933 sandte ein unbekannter jüdischer Mikrobiologe aus dem fernen polnischen Lwów ein schmales Manuskript von ca. 100 Seiten an den Philoso­ phen und Physiker Moritz Schlick, um ihn, den berühmten Begründer des „Wiener Kreises“, um Hilfe bei der Publikation zu bitten. Das Werk trug den provokanten Titel: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen

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Zum Stilbegriff bei Fleck vgl.: Erich Hörl: Arbeiten am Flußbett der Gedanken. Bemerkungen zur historischen Epistemologie des Begriffes ‚Denkstil‘, in: Michael Hampe (Hg.): Technik und Praxis, 2004, S. 46–63, unter: http://www.phil.ethz.ch/ education/technik_praxis.de.html (05. 08. 2010); Anna Wessely: ‚Style‘ from the History of Art to the History of Science, in: Science in Context 4/2 (1991), S. 265– 278; Christiane Pankow: Stil als wissenschaftshistoriographische Kategorie. Zur Konzeption des wissenschaftlichen Denkstils bei Ludwik Fleck, in: Klaus Robering (Hg.): ‚Stil‘ in den Wissenschaften, Münster 2007, S. 117–135; Allan Janik: Notes on the Origins of Fleck‚s Concept of ‚Denkstil‘, in: Maria Carla Galavotti (Hg.): Cambridge and Vienna. Frank P. Ramsey and the Vienna Circle (Vienna Circle Institute Yearbook 12), Dordrecht 2006, S. 179–188; Ian Hacking: ‚Style‘ for His­ torians and Philosophers, in: Studies in History and Philosophy of Science 23 (1992), S. 1–20; ders.: Styles of Scientific Reasoning, in: John Rajchman /Cornel West (Hg.): Post­Analytic Philosophy, New York 1985, S. 145–165. Babette Babich: From Fleck’s Denkstil to Kuhn’s Paradigm: Conceptual Schemes and Incommen­ surability, in: International Studies in the Philosophy of Science 17/1 (2003), S. 75–92; dies.: Paradigms and Thought Styles: Incommensurability and its Cold War Discontents from Kuhn’s Harvard to Fleck’s Unsung Lvov, in: Social Epistemology 17 (2003), S. 97–107; Kenneth Rochel de Camargo: The Thought Style of Physicians. Strategies for Keeping up with Medical Knowledge, in: Social Studies of Science 32/5–6, (2002), S. 827–855; Gerd Buchdahl: Styles of scientific thinking, in: Fabio Bevilacqua/ P. J. Kennedy (Hg.): Proceedings of the International Conference on Using History of Physics in Innovatory Physics Education, Pavia 1983, S. 106–127.

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CL AUS ZIT TEL

Tatsache. „Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“. Sein Autor war Ludwik Fleck (1896–1961). In seinem Begleitschreiben betonte Fleck, nie seien zuvor „ernstliche Untersuchungen angestellt worden, ob das Mit­ teilen eines Wissens, seine Wanderung von Mensch zu Mensch, vom Zeit­ schriftenaufsatz zum Handbuch nicht prinzipiell mit […] besonders ge­ richteter Transformation verbunden ist“. Und obwohl Forscher ihre Erkenntnisse doch vor allem aus Büchern bezögen, wisse man nicht „wie weit ein Wissensbestand den Erkenntnisakt beeinflusst“. Endlich fänden „sich auch in der historischen Entwicklung des Wissens einige merkwür­ dige allgemeine Erscheinungen, wie z. B. die besondere stilmäßige Geschlos­ senheit jeweiliger Wissenssysteme, die eine erkenntnistheoretische Unter­ suchung fordern“.2 Was Fleck hier skizzierte, war das Programm einer Revolution in der Wissenschaftstheorie, das darauf abzielte, nicht nur die äußeren Umstände der Wissensproduktion, sondern auch die Gehalte, Problemstellungen, Über­ prüfungs­ und Rechtfertigungsverfahren der Wissenschaften als prinzipiell stilbedingt aufzuweisen. Es gebe keine feststehenden Tatsachen, die nur aufge­

2

Zum Thema Stil in der Wissenschaft allgemein: Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissen­ schaftlichen Diskurselements, Frankfurt/M. 1986; Manfred Frank: Stil in der Philosophie, Stuttgart 1992; Lorenz Dittmann: Stil, Symbol, Struktur: Studien zu Kategorien der Kunstgeschichte, München 1967; Lorraine Daston/Michael Otte (Hg.): Style in Science, in: Science in Context 4 (1991), S. 223–447; Michael Otte: Style as a Historical Category, in: Science in Context, 4/2 (1991), S. 233–264; Alistair C. Crombie: Styles of Scientific Thinking in the European Tradition, London 1994; Hans­Martin Gauger: Wissenschaft als Stil, in: Merkur 34 (1980), S. 365–374. Marga Vicedo: Scientific Styles: Toward some Common Ground in the History, Philosophy, and Sociology of Science, in: Perspectives on Science 3 (1995), S. 231– 254; Carlo Ginzburg: Stil. Einschließung und Ausschließung, in: ders.: Holzaugen. Über Nähe und Distanz, Berlin 1999, S. 168–211; Jean Gayon: On the Uses of the Category Style in the History of Science, in: Philosophy and Rhetoric, 32/2 (1999), S. 233–246; Burghard Weiss: Image ou réalité? Styles de pensée en physique vers 1800, in: Archives des Sciences Genève 44 (1991), S. 153–162; ders.: „Stil“. Eine vereinheitlichende Kategorie in Kunst, Naturwissenschaft und Technik? in: Eber­ hard Knobloch (Hg.): Wissenschaft – Technik – Kunst, Wiesbaden 1997, S. 147–163; C. Ulises Moulines: Der Stil in der Wissenschaftstheorie, in: Jakob Steinbrenner/ Ulrich Winko (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissen­ schaften, Paderborn 1997, S. 41–59; Arnold Davidson: Styles of Reasoning: From the History of Art to the Epistemology of Science, in: ders: The Emergence of Sexuality: Historical Epistemology and the Formation of Concepts, Boston 2002; Greg Myers: Scientific Speculation and Literary Style in a Molecular Genetics Article, in: Science in Context, 4/2 (1991), S. 321–346. Weiterführende Hinweise in der Auswahlbibliographie von Lutz Danneberg unter: http://fheh.org/images/ fheh/material/disziplin­schule­stil­v02.pdf (05. 08. 2010). Ludwik Fleck: Brief an Moritz Schlick, in: Ludwik Fleck: Denkstile und Tatsachen [DT], hg. v. Sylwia Werner/Claus Zittel, Berlin 2010, S. 562 f.

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funden und gedeutet werden müssen, auch hingen die Tatsachen nicht ledi­ glich von unseren Beschreibungen ab, sondern die Tatsachen selbst entstehen und verändern sich – sie haben eine Geschichte und ein spezifisch kulturelles Gepräge. Nicht nur was als eine Tatsache gilt, sondern was eine Tatsache ist, darüber entscheide der jeweilige Denkstil lokaler Denkkollektive. Schlick konnte nicht helfen, Flecks Buch erschien 1935 in der Schweiz3 und erlebte seither eine erstaunliche Karriere. Heute zählt es unbestritten zu den wirkmächtigsten Klassikern der Wissenschaftstheorie und ist ein Mei­ lenstein nicht nur für die historische, sondern auch systematische Untersu­ chung der Frage, wie Denken, Sehen und Handeln in einem einheitlichen the­ oretischen Entwurf eingefangen werden können. Denn Flecks Denkstilkonzept kommt aus dem Herzen der Naturwissenschaft und bedient sich zugleich ei­ nes Leitbegriffs, der unverblümt die Nähe des Ästhetischen sucht. Nach ihrem Erscheinen hatte Flecks Schrift eine erste erstaunlich brei­ te Rezeption erlebt, diese wurde jedoch durch die Naziherrschaft abgeschnit­ ten.4 In den achtziger Jahren wurde dann durch die Suhrkamp­Editionen von Thomas Schnelle eine zweite Phase der Fleckrezeption in Gang gesetzt.5 Diese zweite Phase war jedoch einseitig geprägt von der Diskussion darüber, inwie­ weit Fleck die dominierende Wissenschaftstheorie des 20. Jahrhunderts, die Paradigmen­Theorie von Thomas Kuhn, vorweggenommen und beeinflusst habe, denn Kuhn hatte sich auf Fleck in einer Fußnote berufen.Die heutige Aufnahme der Ideen Flecks vollzieht sich jedoch auf einer viel breiteren Basis und geht quer durch die Disziplinen. Eigentlich ist Fleck nur bei den Philoso­ phen noch nicht recht angekommen. Flecks Theorien sind endlich aus Kuhns langem Schatten herausgetreten und werden nun als eigenständige Position innerhalb der Wissenschaftstheorie anerkannt und es wird nicht mehr lange dauern, bis Kuhns Paradigmentheorie nurmehr zur Fußnote einer allgemei­ nen Fleckrenaissance geworden sein wird.6 3 4

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Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. „Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv“, Basel 1935. Die verbreitete Ansicht, dass Fleck zu Lebzeiten keinerlei Resonanz gefunden habe, ist falsch, wie 19 überwiegend positive Rezensionen aus 9 verschiedenen Ländern, unterschiedlichen Disziplinen und verschiedenen Organen, von medizinischen Fachzeitschriften bis hin zu Kulturmagazinen aus den Federn von überwiegend prominenten Fachgelehrten, bezeugen. Vgl. dazu in Kürze: Johannes Fehr: „[…] die Kunst, eine demokratische Wirklichkeit zu formen […]“ – Wissenschaftsphilosophie in finsteren Zeiten, erscheint in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 2010. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [EET], Frankfurt/M. 1980; ders.: Erfahrung und Tatsache, Frankfurt/M. 1983. Weit mehr als Kuhn verstand es Fleck, Wissenschaftstheorie und Kulturtheorie miteinander zu verbinden und die Wissenschaftstheorie aus dem engen Kreis der „scientific community“ herauszulösen. Wo Kuhn großzügig Epochen abzirkelt, geben Flecks Schriften der heutigen Kulturtheorie der Wissenschaften eine prak­

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Auffallend ist jedoch, dass viele der zahlreichen Wissenschaftsfor­ scher, die heute mit Flecks Begriffen arbeiten, kaum je die diesen zugrunde liegende methodische Konzeption rekonstruieren. Eine genaue Textexegese findet selten statt. Es wird mehr mit ihm als über ihn gearbeitet. Daher kommt es, dass auch ein forschungsstrategisch so zentraler Begriff wie der des Denk­ stils weitgehend unbekümmert verwendet wird, obgleich er doch, wenn man ihn sich genauer ansieht, sehr sonderbar und nicht leicht einzufangen ist. Die Interpretation von Flecks Werk steht allerdings mit Blick auf die Quellenlage vor einigen Schwierigkeiten, der Nachlass ist vom israelischen Geheimdienst beschlagnahmt, viele Publikationen liegen nur in polnischer Sprache vor, die Rezeption fußt vor allem auf seinem Hauptwerk, dieses ist eine Patchworkarbeit, in der Fleck Material aus mehreren polnischen Texten montiert und sich dabei selbst frei übersetzt.7 Fleck zitiert nachlässig, oft aus dem Gedächtnis und ohne Angaben von Quellen, seine Terminologie ist un­ einheitlich, selbst in ein und demselben Text und seine Auffassungen, etwa über den Denkstil, wandeln sich mit den Jahren teils erheblich. Bevor ich mich Flecks „Lehre vom Denkstil“ zuwende, möchte ich da­ her einige grundsätzliche Überlegungen zu diesem Begriff und seiner Ge­ schichte vorausschicken, vor deren Hintergrund sich Flecks eigentümliches Stilverständnis später deutlicher profilieren lassen wird.

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tikable Methodologie und ein begriffliches Instrumentarium mit beachtlicher Beschreibungsgenauigkeit für besondere Wissenskulturen an die Hand. Zudem befeuern das gegenwärtig starke Interesse an der Rolle von Bildern und Instru­ menten in den Naturwissenschaften, die neuen Einsichten in Bezug auf die Bedeutung von Emotionen in der Erkenntnistheorie sowie der Trend zu interdis­ ziplinären Forschungsfragen, durch die Natur­ und Geisteswissenschaften einan­ der näher rücken, die Wirkung Flecks. Für Kuhn sind des Weiteren Abbildungen „bestenfalls Nebenprodukte wissenschaftlicher Tätigkeit“ und können „nach Veröffentlichung des Forschungsergebnisses […] sogar wieder vernichtet werden“. Thomas Kuhn: Die Entstehung des Neuen, Frankfurt/M. 1978, S. 448; ders.: Com­ ment on the Relations of Science and Art, in: ders.: The Essential Tension: Selected Studies in Scientific Tradition and Change, Chicago 1977, S. 340–351. Die englischen, italienischen und französischen Fleck­Ausgaben basieren auf den deutschen Texten, sind also teils Übersetzungen von Übersetzungen. Insbesondere der Leitbegriff ‚Denkstil‘ (Style myslowe), ´ welcher den ganzen Haushalt des Den­ kens oder des Geistes einbegreift, wird mit ‚thought style‘ unglücklich übersetzt und lässt an das deutsche Pendant: Gedankenstil (als Gegenbegriff zu ‚Gefühlsstil‘) denken. ‚Style of thinking‘ wäre adäquater, wobei zu berücksichtigen ist, dass Fleck, wie im Folgenden gezeigt wird, nicht nur das Denken im Sinne hat. ‚Styles of reasoning‘, wie Hacking: ‚Style‘ for Historians and Philosophers (wie Anm. 1) vorschlägt, akzentuiert über Gebühr die Rolle der Vernunft. Vgl. Ludwik Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact, hg. v. Thaddeus J. Trenn/Robert K. Merton, Chicago/London 1979; ders.: Genèse et développement d‘un fait scien­ tifique, Paris 2005; ders.: Genesi e sviluppo di un fatto scientifico, Bologna 1983.

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2. St i l u nd Ged a n ke. Zu r Gesc h ic hte des Den k st i lb eg r i f f s vor Flec k „Stil und Gedanke“, – so lautete der Titel eines berühmten Vortrags von Ar­ nold Schönberg aus dem Jahre 1930,8 – Stil oder Gedanke hätte er eigentlich lauten müssen, denn Stil stand für Schönberg für die Fessel der Tradition, gegen das sich der autonome Gedanke der Neuen Musik behaupten müsse („Stile herrschen, Gedanken siegen“). Auch wenn Schönberg nur den musika­ lischen Gedanken im Sinne hatte, so macht seine Gegenüberstellung doch klar, dass das uns allen heute so geläufig über die Zunge schlüpfende Kompo­ situm ‚Denkstil‘ keineswegs selbstverständlich Zusammengehörendes ver­ bindet.Der Terminus ‚Denkstil‘ ist eine vergleichsweise junge Prägung, die sich so noch nicht einmal bei Nietzsche9 finden lässt und frappanterweise erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts auftaucht. Oft begegnet man der Behauptung, dass Karl Mannheim10 als erster den Stilbegriff auf die (Geistes­)Wissenschaften bezogen und dabei den Aus­ 8 9

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Arnold Schönberg: Neue und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke, Prager Vortrag am 22. 10. 1930, in: Arnold Schönberg: Stil und Gedanke, Gesammelte Schriften Band I, Frankfurt/ M. 1976, S. 25–34. Nietzsche fordert zwar, man solle sein Leben wie ein Kunstwerk gestalten, ihm also Stil verleihen, und mit dem Stil auch die Gedanken verbessern, doch verlangt letzteres primär ein Feilen an der Sprache: „Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! – Wer dies nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen!“, Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumensch­ liches II, Der Wanderer und sein Schatten Nr. 131, in: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], Bd. 2, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München/New York 1980, S. 610. Immerhin macht Nietzsche gelegentlich wei­ tergehende Bemerkungen, etwa wenn er die Zeit zwischen Leibniz und Scho­ penhauer „mit ihrem Zopf und Begriffsspinngewebe“ als eine „Art Barokko im Reiche der Philosophie“ (KSA 12, S. 69) bezeichnet und somit eine philosophische Epoche mit einem kunsthistorischen Stilbegriff charakterisiert. Vgl.: „Zur Soziologie des Wissens kann eine solche systematisch ideengeschichtliche Vorarbeit nur werden, wenn das Verankertsein dieser geistigen Standorte und der verschiedenen ‚Denkstile‘ in das dahinterstehende historisch­sozial determinierte Sein zur Frage wird.“ Karl Mannheim: Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925), S. 577–652, hier S. 641; vgl. aber auch bereits: Karl Mannheim: Beiträge zur Theorie der Welt­ anschauungsinterpretation, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte 1 (1921/22), Wien 1923, S. 236–274. Mannheim zielt mit seinem Denkstilbegriff auf eine formale Analyse von Denkformen, mit denen dann Weltanschauungen und Erlebniss­ zusammenhänge korreliert werden. Theorie und Praxis der Naturwissenschaften werden ausgespart. Sein Denkstilbegriff steht eher in der Tradition von Unter­ suchungen zur Psychologie der Weltanschauungen, die allgemeine Typologisie­ rungen von Denkarten in quasi­transzendentaler Absicht vornahmen, wie etwa Problemdenker­Systemdenker, synthetischer oder impressionistischer Denkstil. Wie ich später zeigen werde, hat Fleck mit diesen apriori­Weltanschauungsbrillen

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druck ‚Denkstil‘ geprägt habe. Man müsse daher eine Kryptorezeption von Seiten Flecks annehmen,11 in deren Folge auch die Naturwissenschaften nach Stilkriterien bestimmt wurden. Systematische Ähnlichkeiten zwischen Mann­ heim und Fleck sind jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung auszumachen, eine konkrete Mannheimrezeption durch Fleck ist schon gar nicht nachzuwei­ sen, zudem könnten eher andere Autoren als Pioniere für den Begriffstransfer ins Spiel gebracht werden. Beispielsweise hatte früher bereits Cassirer den Denkstilbegriff in die Wissenschaftsgeschichte eingeführt.12 Mannheim entwickelte seinen Stilbegriff im Briefwechsel mit Panofs­ ky. Auch Cassirer und Olschki13 gehören zum Umfeld der Warburgschule, in diesen Fällen ist der Bezug zur Kunstgeschichte offensichtlich. Zuerst vermu­ tete ich daher, dass auch Fleck einen kunsthistorischen Stilbegriff aufgriff. Mittlerweile meine ich jedoch, dass es bei den Gegnern Flecks eine direkte Übernahme kunstgeschichtlicher Stilkonzeptionen gegeben hatte, Fleck aber seine Theorie in Opposition zu solchen Transfers von Modellen und Begrif­ fen entwickelt hat. Schnell nämlich lässt sich feststellen, dass der Stilbegriff in den frühen 20er Jahren von ganz unterschiedlichen Strömungen aufge­ nommen und anverwandelt wurde, Fleck also nur einer unter vielen war, die hier vermeintlich mitzogen. Ausgangspunkt waren dabei meist die Stil­Theo­ rien Riegls14 und Wölfflins. Wölfflin hatte in seinen Buch Kunstgeschichtliche

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nichts gemein. Zu Mannheim: Amalia Barboza: Kunst und Wissen. Die Stilanalyse in der Soziologie Karl Mannheims, Konstanz 2005. Yehuda Elkana: Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt/M. 1986; Rainer Egloff: Lei­ denschaft und Beziehungsprobleme: Ludwik Fleck und die Soziologie, in: Bozena Choluj/Jan C. Joerden (Hg.): Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissens­ produktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis,Frankfurt/M. 2007, S. 79–93; Alexander Schütz: Das Problem der Wahrheit wissenschaftlicher Tatsachen, in: ebd., S. 139–149; Thaddeus J. Trenn: Descriptive analysis, in: Trenn/Merton: Ludwik Fleck (wie Anm. 7), S. 154–165, 168. Babich: From Flecks Denkstil (wie Anm. 1), S. 76; Wessely: „Style“ (wie Anm. 1), S. 271. Vgl. Ernst Cassirer: Lessings Denkstil [1917], in: Gerhard Bauer/Sibylle Bauer (Hg.): Gotthold Ephraim Lessing, Darmstadt 1968, S. 54–73; ders.: Die Begriffsform im mythischen Denken, Leipzig 1922. Im Vorwort zum ersten Band seiner Philo­ sophie der symbolischen Formen (1923), S. 10, spricht Cassirer z. B. mit Blick auf Kants Wirklichkeitsverständnis bereits von „einer Art Stilgesetz des Denkens“. Bereits 1910 wurde Avicenna von Franz Strunz als „genialer Darsteller im Form­ und Denkstil“ gerühmt. Franz Strunz: Geschichte der Naturwissenschaften im Mittelalter, Stuttgart 1910, S. 51. Vgl. Leonardo Olschki: Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Lite­ ratur. III. Band: Galilei und seine Zeit, Halle 1927, S. 219. Dort heißt es: „Und so schuf er (Galilei) einen wissenschaftlichen Stil, indem er Dinge selbst sprechen ließ.“ Alois Riegl: Stilfragen: Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik, Berlin 1893.

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Grundbegriffe Stile als Formen des Sehens bestimmt und dadurch der Kunst­ geschichte ein formales Analyseraster offeriert, das es erlauben sollte, diese als allgemeine Gesetzeswissenschaft zu behandeln. Wölfflin arbeitete katego­ riale Grundformen heraus: das Lineare und das Malerische, das Flächenhafte und Tiefenhafte, die geschlossene und offene Form, Vielheit und Einheit, ab­ solute und relative Klarheit, denen jeweils Epochen zugeordnet wurden, in denen dann eine Sehform dominierte. Um einzelne Stile zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, muss man Kunstwerke vergleichen. Auch ein Denkstil bezeichnet einen Raum möglicher Vergleiche, scheint jedoch das Problem des Stils von der materialen Gestalt eines Werkes in die psycholo­ gisch­mentale Verfasstheit eines Subjektes oder einer Gruppe zu verlagern. Von Wölfflins Projekt einer „Kunstgeschichte ohne Namen“15 aus gedacht, wären dann Denkstile ebenfalls als individuell oder allgemeinpsychologisch, anthropologisch oder transzendentalphilosophisch fassbare, kognitive Muster zu beschreiben – und tatsächlich entstanden solche Konzepte, etwa bei Hans Leisegang oder Karl Jaspers, Husserl16 und Cassirer und später in den einfluss­ reichen Wissenschaftstheorien von Alistair Crombie und Ian Hacking unter den Titeln: Styles of Scientific Thinking und Styles of reasoning.17 15

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Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilent­ wicklung in der neueren Kunst, München 1917, S. VII. Bei genauer Betrachtung erweist sich die Frage nach dem Transfer zwischen Philosophie und Kunstgeschichte jedoch als verwickelt: Schon der Titel von Wölfflins Buch spielt an auf Formu­ lierungen in Cassirers 1910 erschienenem Buch: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Cassirer bezeichnet dort mit „wissenschaftlichen Grundbegriffen […] ein Grundsystem letzter allgemeiner Be­ griffe und Voraussetzungen“, mit welchem eine Epoche „die Mannigfaltigkeit des Stoffes, den ihr Erfahrung und Beobachtung bieten, meistert und zur Einheit zusammenfügt“. Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Band I, Berlin 21911, S. V. Sowohl für die Erkenntnis als auch für die künstlerische Darstellung konstituieren diese Grundbegriffe die Form des Gegenstandes, welche Cassirer als „geistige Auffassungsweise“ bestimmt, da sie einem Gegenstand „eine bestimmte Bedeutung, einen eigentümlichen Ge­ halt“ gebe. Cassirer versteht seine Grundbegriffe daher als intellektuelle „Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen“ (ebd., S. 3), mit deren Hilfe sich einzelne historische Erscheinungen zusammenfassen lassen, wobei immer mitzureflektieren sei, dass die Grundbegriffe, „unter denen wir den geschichtlichen Prozess betrachten, selbst veränderlich und wandelbar sind“ (ebd., S. 16). Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1919; Hans Leisegang: Denkformen, Berlin/Leipzig 1928. Auch Husserl konstatiert in der Krisisschrift: „Dinge und Geschehnisse“ seien „durch die invariante Form der anschaulichen Welt ‚apriori‘ gebunden“ (II9b S. 31). Hacking: ‚Style‘ for Historians and Philosophers (wie Anm. 1); Alistair Cameron Crombie: Styles of Scientific Thinking in the European Tradition, 3 Bände, London 1994. Crombies vergleichende historische Anthropologie des (europäischen)

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Nun ist bekanntlich auch in der Kunstgeschichte der Stilbegriff viel­ deutig, was sich allein schon an der Paradoxie zeigt, dass Stil zum einen als formalästhetischer Epochenbegriff eingesetzt wird, wie z. B. Barockstil, um normativ oder deskriptiv ein einheitliches und konstantes Formprinzip in ver­ schiedenen Künsten zu benennen, zum anderen genieästhetisch, um einzelne Künstler oder Kunstwerke durch ihren Individualstil zu charakterisieren. Un­ erklärt bleibt z. B. auch, warum in einer bestimmten Zeit ein bestimmter Stil z. B. als klar empfunden wurde. Verkompliziert wird die Sache noch dadurch, dass die Epochenstilkunstgeschichte seit ihren Anfängen unter Dauerkritik stand, da aufgrund zahlreicher individualstilbedingter Abweichungen und Ausnahmen sowie der jeweils unterschiedlichen kulturellen und sozialen Rolle der einzelnen Kunstformen zu einer gegebenen Zeit weder die großen Einheitssynthesen von Etikettenfanatikern überzeugten noch die Abfolge von Stilepochen, die von Wilhelm Pinder früh als „Gänsemarsch der Stile“ ver­ spottet und mit der Formel „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zugunsten eines konsequenten Stilpluralismus verabschiedet wurde.18 Diese Kritik hat allerdings nicht verhindert, dass der Epochenstilbegriff in seiner unproble­ matisierten Form in anderen Disziplinen schnell aufgegriffen wurde, z. B. in der Psychologie, Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften,19 Philosophie20

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Denkens unterscheidet sechs Stilarten: 1. Postulieren nach mathematischem Vorbild; 2. Experimentieren; 3. die hypothetische Konstruktion analogischer Mo­ delle; 4. Taxonomie; 5. Statistik; 6. historische Genese. Nach Crombie entwickeln sich die Stile nacheinander, wobei jeder einmal ausgebildete Stil erhalten bleibt, alle Stile gibt es folglich noch heute und stehen frei zur Wahl. Stil ist bei Crombie nahezu gleichbedeutend mit Methode. Wilhelm Pinder: Das Problem der Generationen in der Kunstgeschichte, Berlin 1926. Siehe dazu: Lorenz Dittmann: Stil, Symbol, Struktur: Studien zu Kategorien der Kunstgeschichte, München 1967; Josef Adolf Schmoll, gen. Eisenwerth: Stilpluralismus statt Einheitszwang: zur Kritik der Stilepochen­Kunstgeschichte, in: Martin Gosebruch (Hg.): Argo. Festschrift für Kurt Badt, Köln 1970, S. 77–95. Zur Problematik des Stilbegriffs und Möglichkeiten denselben zu retten, siehe: Horst Bredekamp: Bildbeschreibungen. Eine Stilgeschichte technischer Bilder? Ein Interview mit Horst Bredekamp, in: Horst Bredekamp/Birgit Schneider/Vera Dünkel (Hg.): Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissen­ schaftlicher Bilder, Berlin 2008, S. 36–47. Heinrich Bechtel: Wirtschaftsstil des deutschen Spätmittelalters. Der Ausdruck der Lebensform in Wirtschaft, Gesellschaftsaufbau und Kunst von 1350 bis um 1500, München 1930; ders.: Kunstgeschichte als Erkenntnisquelle für den Wirt­ schaftsgeist des Spätmittelalters, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Ver­ waltung und Volkswirtschaft 51 (1927), S. 45–68. Erich Rothacker: Geschichtsphilosophie, Oldenburg 1934 (Handbuch der Philosophie, hg. v. Alfred Baeumler, Manfred Schröter, 4 Bände, 4. Band: Staat und Geschichte, Abschnitt F); ders. Kulturen als Lebensstile, in: Zeitschrift für Deutsche Bildung 10 (1934), S. 177–182; auch in ders., Mensch und Geschichte. Alte und neue Vorträge und Aufsätze. Berlin 1944, S. 43–53. Vgl. auch: Karl Groos: Der

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und der Wissenschaftstheorie der 20er Jahre. Insbesondere die Geistes­ und entstehenden Kulturwissenschaften unternahmen es, große synthetische Darstellungen der geistigen Einheit eines Gesamtschaffens einer Epoche zu geben – etwa in der Lebensphilosophischen Strömung Wilhelm Dilthey, Karl Joël21 oder Georg Simmel. Völkerpsychologische Ansätze und Weltanschau­ ungstypologien traten hinzu, kulturmorphologische Ganzheiten wurden in den Blick genommen, Kulturstile beschrieben, „Stilmenschengruppen“ un­ terschieden.22 Diese Kulturstile mutierten rasch zu National­ oder gar Rassen­ stilen23 und sind in Gestalt von Nationalstilen heute noch lebendig. All dies geschah im Namen einer „Befreiung“ von der sogenannten „naturwissen­ schaftlichen Begriffsbildung“ und arbeitete mit starken Unterstellungen wie „Daseinsgesetzen“ oder „Urphänomenen“.24 Die Stilgeschichte begann, so scheint es, in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts immer mehr mit Geis­ tesgeschichte zusammenzufallen. Mit dem Stilbegriff drangen aber historisch und sozial vergleichende Ansätze auch in die naturwissenschaftliche Erkenntnistheorie ein. Forderun­ gen nach größeren systematischen Vergleichen verschiedener Einzelwissen­ schaften kamen auf. Pierre Duhem hatte begonnen, wissenschaftliche Aus­

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Aufbau der Systeme. Eine formale Einführung in die Philosophie, Leipzig 1924, S. VII; Carl Gebhardt: Rembrandt und Spinoza. Stilgeschichtliche Betrachtungen zum Barockproblem, in: Kant­Studien 32 (1927), S. 161–181. Ohne Riegl zu erwäh­ nen, wird der Begriff des Stilwollens von Gebhardt als Stileinheiten hervorbringende Kategorie benutzt, die Vergleiche zwischen Architektur, Bildender Kunst und Phi­ losophie ermöglichen; dann aber wird vorgeschlagen, das Problem des Stilwandels als Folge von „Blutmischung und Rassenverschmelzung“ zu verstehen (S. 161). Stilbegriff und Rasse werden verknüpft, bei Gebhard indes nicht mit dem Ziel der Ausgrenzung, sondern im Glauben an die Fruchtbarkeit einer produktiven Vermi­ schung von Rassen. Die Leitlinien gewinnt Gebhard bei Wölfflin, den er ausgiebig zitiert. Der Dilthey­Schüler Hermann Nohl – Stil und Weltanschauung (Jena 1929) – versucht Weltanschauungen zu typologisieren (dualistische, pantheistische und naturalistische) und dann mit Kunststilen zu korrelieren, aber nicht so, dass die Philosophie stilgemäß beschrieben würde, sondern umgekehrt werden Kunststile weltanschaulich gedeutet. Karl Joël: Wandlungen der Weltanschauung, 2 Bände, Tübingen 1928–1934. Gustav Plessow: Gotische Tektonik im Wortkunstwerk, München 1931, S. 58. Vgl. z. B.: Hans Friedrich Karl Günther: Rasse und Stil. Gedanken über ihre Be­ ziehungen im Leben und in der Geistesgeschichte der europäischen Völker, insbe­ sondere des deutschen Volkes, München 1926. Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich, München 1922. Zur Rezeption: Gerhard Kluge: Stilgeschichte als Geistesgeschichte. Die Rezeption der Wölfflinschen Grundbegriffe in der Deutschen Literaturwissenschaft, in: Neophilologus 61/4 (1977), S. 575–586; Marcel Lepper: Typologie, Stilpsychologie, Kunstwollen. Zur Erfindung des ‚Barock‘ (1900–1933), in: Arcadia 42/1 (2006), S. 14–28.

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prägungen des Nationalgeistes verschiedener Länder zu unterscheiden,25 Kurt Lewin entwarf 1926 auf gestaltpsychologischer Grundlage das Programm ei­ ner vergleichenden Wissenschaftslehre, die Psychologie und Biologie zusam­ menführt, und Erwin Schrödinger behauptete gar in seinem Vortrag: Ist die Naturwissenschaft milieubedingt? (1931), man könne: „auf allen Gebieten der Kultur gemeinsame weltanschauliche Züge und, noch viel zahlreicher, ge­ meinsame stilistische Züge vorfinden, in der Politik, der Kunst, in der Wissenschaft“.26 Selbst bei Carnap fanden sich zuvor bereits ähnliche Formu­ lierungen.27 Richard Müller­Freienfels forderte schließlich 1936, man solle 25 26

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Vgl. Pierre Maurice Marie Duhem: Sozein ta phainomena: essai sur la notion de théorie physique de Platon à Galilée, Paris 1908; ders.: La Science Allemande, Paris 1915. Erwin Schrödinger: Über Indeterminismus in der Physik ­ Ist die Naturwissenschaft milieubedingt? Zwei Vorträge zur Kritik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, Leipzig 1932; ins Polnische übers. v. E. Poznanski: Zagadnienia wspólczesnej nauki – Indeterminizm. Wpływ s´rodowiska na nauki przyrodnicze, Warschau 1933. Auch abgedruckt in: Karl von Mayenn (Hg.): Quantenmechanik und Weimarer Republik, Braunschweig, Wiesbaden 1994, S. 295–333. Kurt Lewin: Idee und Aufgabe einer vergleichenden Wissenschaftslehre Erfurt 1926; ders.: Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie und Psychologie, Erkenntnis 1 (1931), S. 421–466. Lewin erkennt hier zwar stilis­ tische Unterschiede zwischen der aristotelischen und galileischen Denkweise an, befindet indes dennoch: „Wenn man aber weniger den ‚Stil‘ der jeweils benutzten Begriffe, als ihre tatsächliche Funktion für das Erkennen der Welt ins Auge fasst, so erscheinen diese Unterschiede mehr sekundärer Natur, nur als formale Auswirkungen einer tiefer liegenden sachlichen Verschiedenheit der Auffassung über die Zusammenhänge in der Welt und die Aufgabe der Forschung“ (ebd., S. 424). „Auch wir haben ‚Bedürfnisse des Gemütes‘ in der Philosophie; aber die gehen auf Klarheit der Begriffe, Sauberkeit der Methoden, Verantwortlichkeit der Thesen, Leistung durch Zusammenarbeit, in die das Individuum sich einordnet. Wir können uns nicht verhehlen, dass die Strömungen auf philosophisch­metaphysischem und religiösem Gebiet, die sich gegen eine solche Einstellung wehren, gerade heute wieder einen starken Einfluß ausüben. Was gibt uns trotzdem die Zuversicht, mit unserem Ruf nach Klarheit, nach metaphysikfreier Wissenschaft durchzudringen? Das ist die Einsicht, oder, um es vorsichtiger zu sagen, der Glaube, dass jene entgegenstehenden Mächte der Vergangenheit angehören. Wir spüren eine innere Verwandtschaft der Haltung, die unserer philosophischen Arbeit zugrundeliegt, mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebensgebieten auswirkt; wir spüren diese Haltung in den Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen: des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, der Erziehung, der äußeren Ordnungen im Großen. Hier überall spüren wir dieselbe Grundhaltung, denselben Stil des Denkens und Schaffens [Herv. v. Verf.]. Es ist die Gesinnung, die überall auf Klarheit geht und doch dabei die nie ganz durchschaubare Verflechtung des Lebens anerkennt, die auf Sorgfalt und Einzel­ gestaltung geht und zugleich auf Großlinigkeit im Ganzen, auf Verbundenheit der Menschen und zugleich auf freie Entfaltung des Einzelnen. Der Glaube, dass dieser

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„die Geschichte der Wissenschaften als Stilgeschichte und als Geschichte der wissenschaftlichen Stile anlegen“.28 Eine Binnendifferenzierung verschiede­ ner Stile innerhalb einzelner Natur­Wissenschaften gab es nicht, bis auf die, allerdings wichtige Ausnahme von Oswald Spenglers Untergang des Abend­ landes,29 einem Werk, das bekanntlich jedoch ebenfalls auf große Synthesen abzielt. Der Stilbegriff bot sich offenbar als neue einheitsstiftende Kategorie an, um auf die neue Erfahrung pluraler Wirklichkeiten zu reagieren, die durch die allgemeine Naturalisierung und Historisierung des Denkens, Wis­ sens und Erkennens vorbereitet worden war. Die sogenannte Krise des Histo­ rismus und in den Naturwissenschaften die Quantenphysik hatten traditio­ nelle Gewissheiten untergraben, Ende des 19. Jahrhunderts waren bereits durch Durkheims Wissenssoziologie bislang als gewiss geltende apriorische Kategorien relativiert und mit einem Zeitindex versehen worden. Freud und Nietzsche hatten vorgeführt, dass vermeintlich einfache elementare geistige Operationen sich plötzlich als hochkomplex erweisen und sich aus verschiede­

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Gesinnung die Zukunft gehört, trägt unsere Arbeit.“ – Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1928, S. XX. Dazu siehe: Gereon Wolters: Styles in Philosophy: The Case of Carnap, in: Steve Awodey/Carsten Klein (Hg.): Carnap Brought Home: The View From Jena, Chicago 2004, S. 25–39. Richard Müller­Freienfels: Die Psychologie der Wissenschaften, Leipzig 1936, S. 68. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [1919], München 1961: „Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt. Wir finden einen indischen, arabischen, antiken, abend­ ländischen Typus des mathematischen Denkens und damit Typus einer Zahl, jeder von Grund auf etwas Eigenes und Einziges, jeder Ausdruck eines anderen Welt­ gefühls, jeder Symbol von einer auch wissenschaftlich genau begrenzten Gül­ tigkeit, Prinzip einer Ordnung des Gewordenen, in der sich das tiefste Wesen einer einzigen und keiner anderen Seele spiegelt, derjenigen, welche Mittelpunkt gerade dieser und keiner anderen Kultur ist. Es gibt demnach mehr als eine Mathematik […] und je nach Kultur unterschiedliche Stile der Mathematik“ (ebd., S. 79 f.). Offenbar stand bei Spengler Wölfflins Modell Pate, bei dessen Übertragung auf die Kulturgeschichtliche sich die Mathematik in eine Kunst verwandelt, deren „Reich der Zahlen“ neben dem „Reich der Töne, Linien und Farben“ zum „Abbild der Welt­ form“ erklärt und deren „ Formensprache mit derjenigen der benachbarten großen Künste“ als verwandt erkannt wurde (ebd., S. 82 f.). „Mathematik ist also auch eine Kunst. Sie hat ihre Stile und Stilperioden. Sie ist nicht […] der Substanz nach unveränderlich, sondern wie jede Kunst von Epoche zu Epoche unvermerkten Wandlungen unterworfen“ (ebd., S. 83). Spenglers „vergleichende Morphologie der Erkenntnisformen“ (ebd., S. 83) ist jedoch grundsätzlich verschieden von Flecks vergleichender Denkstilforschung. Allan Janik behauptet gleichwohl, Spengler sei die Quelle für Flecks Denkstilkonzept. Siehe: Allan Janik: Notes on the Origins of Fleck‘s Concept of „Denkstil“, in: Galavotti: Cambridge and Vienna (wie Anm. 1), S. 179–188.

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nen bewusstseinsexternen Quellen speisen. Der Stilbegriff kam dem entge­ gen, insofern er unterschiedliche und sogar miteinander inkommensurable Repräsentationsformen von Wirklichkeit als gleichberechtigt zu beschreiben erlaubte. Der Terminus ‚Denkstil‘ ist allerdings ein weicherer Begriff als andere Kandidaten, die die Organisation oder Funktion des Denkens beschreiben, wie Denkstruktur, Denkform, Denkmuster, Denkart, Denksystem, Begriffs­ schema oder Diskurs. Solche konstant robusten Denkstrukturen lassen sich hingegen als im kollektiven oder individuellen Geist verankerte apriorische Formen begreifen, die die Erkenntnisweisen und Erkenntnisinhalte festlegen. Solange man Stil als bloße Einkleidung eines Gedankens versteht, den man besser oder schlechter auch anders ausdrücken könnte, ist der Denkstil­ begriff philosophisch unproblematisch. Wenn jedoch der weiche Stilbegriff ein konstitutives Element für den philosophischen oder wissenschaftlichen Gedanken sein soll und nicht nur dessen Einkleidung, stellen sich Fragen ein: Ist Stil eine beschreibende oder erklärende Kategorie? Soll und kann ‚stilge­ mäß‘ ‚logisch‘ ersetzen? Wäre dann Logik gar eine Unterkategorie des Stils? Welche Rolle spielen Sehen und Handeln für ein stilgebundenes Denken? Werden Geltungsansprüche wissenschaftlicher Sätze auf die Unverbindlich­ keit ästhetischer Urteile heruntergeschraubt? Stehen verschiedene wissen­ schaftliche Positionen unverbindlich und gleichberechtigt nebeneinander wie verschiedene Stilformen? Wird Wissenschaft zur Kunst?30 Anhand einer der ersten Erwähnungen des Terminus ‚Denkstil‘ über­ haupt, lässt sich seine Problematik auf den Punkt bringen. In Edgar Zilsels philosophischer Habilitationsschrift Die Geniereligion von 1918 insistiert der Autor just des Stils wegen auf dem Unterschied von Naturwissenschaft und Kunst: Die Kunst sei „einer Aristokratie von Idealen untertan […] das logi­ sche Ideal der Wahrheit herrscht [hingegen] als Monarch. Auch die Wahrheit ist wohl nur ein formales und stilistisches Ideal“, doch müssten Wissenschaft und Philosophie der Wirklichkeit Rechnung tragen, welche sie nicht abän­ dern, nur erkennen können: „Diese Wirklichkeit ist kein so völlig plastischer Ton wie das Material der Kunst und kann nicht in durchaus beliebigen Stilen logisch geformt werden.“ Es seien daher „also etwa Rationalismus und Empi­ rismus nicht zwei gleichberechtigte Gedankenstile, die neben­ oder nachein­ ander bestehen können wie Gotik und Barock, sondern ihr Widerstreit muss 30

Siehe weiterführend zu dieser Diskussion: Paul Feyerabend: Wissenschaft als Kunst, Frankfurt/M. 1984; Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frank­ furt/ M. 1998, S. 38–58; Manfred Frank: Stil in der Philosophie, Stuttgart 1992; Jakob Steinbrenner: Kunst oder Philosophie, eine Stilfrage?, in: Kjell S. Johan­ nessen/Tore Nordenstam (Hg.): Culture and Value, Kirchberg am Wechsel 1995, S. 269–275.

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durch einen Sieg oder einen Kompromiss entschieden werden“.31 Die Natur­ wissenschaften werden als stilfreie Bastionen der Wahrheit verteidigt. Zilsel, der später dem Wiener Kreis zugehören wird, vertritt eine Auffassung, die Fleck als charakteristischen Fehler, „fast aller soziologisch und humanistisch gebildeten Denker“ verspottete, da sie „allzu großen Respekt, eine Art religiö­ ser Hochachtung vor naturwissenschaftlichen Tatsachen“ bezeuge (EET, S. 65).

3. D ie E nt w ic k lu ng von Flec k s Den k st i l­Kon ze pt D ie Den k st i l leh re Die bisherigen Ausführungen zum Denkstil erbrachten eher verwirrende Re­ sultate. Erwartungsvoll wird man sich daher nun der einzigen Theorie zu­ wenden, die expressis verbis als „Denkstillehre“ auftritt. Gleich im ersten Satz seiner ersten wissenschaftstheoretischen Publikation aus dem Jahr 1927, Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens, behauptet Fleck, dass das ärztliche Wissen „zum Entstehen eines besonderen Stils geführt“ habe. Fleck meint hier jedoch noch, dass sich das ärztliche Denken, gerade weil es einen eigenen Stil habe, von den härteren Naturwissenschaften unterschei­ de, die keinen Stil hätten.32 Denn nur in der Medizin kämen „viele von der Logik nicht fassbaren Imponderabilien ins Spiel“, die es erlaubten, vermöge einer „spezifischen Intuition“ den Verlauf der Forschung „vorherzufühlen“ und in dessen Entwicklungsetappen einen „spezifischen Denkstil“ auszuma­ chen. Ärztliches Denken habe also Stil, weil es nicht logisch­deduktiv vorge­ hen kann, weshalb „je schlechter ein Arzt ist, um so ‚logischer‘ seine Therapie ist“ (DT, S. 45). Zwei Jahre später, in seinem Aufsatz: Zur Krise der Wirklichkeit, wagt sich Fleck, ermutigt von neueren Entwicklungen in der Quantenphysik, be­ reits weiter und dehnt den an der Medizin gewonnenen, regionalen Denkstil­ begriff auch auf die anderen Naturwissenschaften aus und vollzieht so einen Übergang von einer Erkenntnistheorie aus medizinspezifischer Perspektive zu einer allgemeinen Theorie des Erkennens, die nun neben der individuellen Intuition auch Stil im Sinne kultureller Tradierung in Anschlag bringt (DT, 31 32

Edgar Zilsel: Die Geniereligion [1918], Frankfurt/M. 1990, S. 96 f. Die Sonderrolle der Medizin resultiere daraus, dass sie gerade keine normalen, durchschnittlichen Fälle behandle, sondern abweichende Phänomene studiere. Sie suche daher vor allem mit Hilfe der Statistik nach Gesetzen für nicht gesetzmäßige Phänomene (DT, S. 42) und der dadurch sehr weit getriebene Abstraktionsprozess schaffe Gattungsbegriffe, deren „Fiktivität bedeutend größer als in irgendeinem anderen Wissensbereich ist“. Zudem könne man Krankheitseinheiten nur in ihren Verlaufsstadien studieren.

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S. 52 f.). Dieser Text ist Flecks relativistischster und radikal konstruktivis­ tischster Beitrag zur Wissenschaftstheorie, und hier wird der Stilbegriff auf alle Wissenschaften angewandt, um einem konsequenten Pluralismus der Wirklichkeiten zu huldigen. „Jedes denkende Individuum“ habe „als Mitglied irgendeiner Gesellschaft seine eigene Wirklichkeit, in der und nach der es lebt. Jeder Mensch besitzt sogar viele, zum Teil einander widersprechende Wirklichkeiten: die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens, eine berufliche, eine religiöse, eine politische und eine kleine wissenschaftliche Wirklichkeit“. Ent­ sprechend habe „jedes Wissen […] einen eigenen Gedankenstil mit seiner spe­ zifischen Tradition und Erziehung“ (DT, S. 54). In diesem Aufsatz begreift Fleck allerdings den Denkstil sowohl als Personalstil großer Forscher als auch als allgemeine Stiltradition.33 Erst die intensivere Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte eines besonderen Testverfahrens zur Diagnose der Syphilis, der sog. Wassermannreaktion, bringt ihn dazu, stärker die Rolle von Forscherkollektiven zu untersuchen und erst dann, also in den frühen dreißiger Jahren, führt Fleck dafür den Termi­ nus „Denkkollektiv“ ein, und gemeinsam mit diesem Begriff reift auch seine Auffassung von Denkstil. Die hierfür einschlägigen Texte sind ein großer Aufsatz zur Geschich­ te der Wassermannreaktion und das bereits erwähnte Hauptwerk. Dieses be­ steht aus zwei Hauptteilen und Fleck verfolgt entsprechend einen doppelten Ansatz: nämlich 1. einen entwicklungsgeschichtlichen und 2. einen synchro­ nen wissenssoziologischen. Auf den ersten Blick will das nicht recht zueinan­ der zu passen: So scheint Fleck im ersten Teil, wenn er die Geschichte des Syphilisbegriffs von der anfänglichen Konzeption einer Lustseuche bis hin zu modernen Krankheits­Vorstellungen nachzeichnet, eine ideengeschichtliche Untersuchung durchzuführen, die eine über verschiedene Epochen und sozi­ ale Kontexte sich ziehende Gedankenlinie herauspräpariert – im zweiten Teil wird indes die Entwicklung eines serologischen Testes in einen lokalen sozia­ len Kontext rekonstruiert. Im ersten Teil behandelt er entsprechend einen lan­ gen Zeitraum von ca. 500 Jahren, im zweiten betrachtet er in Nahaufnahme die Entstehung der Wassermannreaktion von 1906–1932. Moderne Anhänger Flecks folgen ihm häufig nur im Hinblick auf den zweiten Ansatz, dochfür Fleck laufen synchrone und diachrone Untersuchun­ gen zusammen, will er doch zeigen, dass bei der lokalen Formierung eines Denkstils lange Traditionen von Begriffen und Praktiken subkutan mit im Spiel sind und permanent transformiert werden. Die diachronen Gedanken­ 33

„War die Individualität stark genug und hatte sie nicht nur Pfadfinder – sondern auch Anführereigenschaften, dann wird ihr Stil allgemein und wird in den Bestand der Wissenschaften aufgenommen“ (DT, S. 57).

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linien verknoten sich gleichsam mit synchronen Netzen, werden zum Aus­ gangspunkt neuer Linien, neuer Verknotungen, die wiederum die alte Linie verändern, „immer neue Knoten entstehen und die alten Knoten verschieben sich gegenseitig. Ein Netzwerk in fortwährender Fluktuation: es heißt Wirk­ lichkeit oder Wahrheit“ (EET, S. 105). Es gibt für Fleck daher keine radikalen Brüche oder Paradigmenwechsel, was den Vorteil mit sich bringt, dass er Kon­ tinuitäten nicht verleugnen muss, zugleich aber durch sein Transformations­ konzept die Differenzen zwischen Denkstilen herausarbeiten kann. Fleck ist ein Denker der Differenz und der Fluktuanz, aber nicht einer der epistemi­ schen Brüche. Wie muss man sich das vorstellen? Flecks Paradebeispiel ist die Syphi­ lis, diese galt von Beginn an als entehrende Krankheit, die mit dem Gepräge der Sünde belastet war und die das Blut vergiftete.Eine solche spezifisch emo­ tional geprägte Vorstellung nennt Fleck eine Präidee. Solche Präideen sind keine Archetypen, sondern nur allgemeine vage Grundvorstellungen, die der Entwicklung eines Forschungsfeldes eine ungefähre Richtung vorgeben, wie z. B. die Idee des Elements oder die des Atoms. Die ursprüngliche Idee kann sich komplett wandeln, aber dennoch weiter Einfluss behalten, etwa indem sie als mythische Vorstellung im Kollektiv der Syphilisforscher herumspukt und deren Forschung in die Richtung lenkt, im Blut nach Erregern zu suchen und sie dann glauben macht, es sei Ihnen tatsächlich der Nachweis gelungen. Hin­ zu kommt, dass weil die Syphilis als Lustseuche in der europäischen Kultur eine besondere ethische Färbung hat, entsprechend die Forschung sich stärker auf sie als auf andere nicht minder schlimme Seuchen konzentriert und viel leichter Forschungsgelder auftreiben kann (EET, S. 102). Fleck interessiert hier u. a. zweierlei: 1. Wie aus irrigen Annahmen und falschen Methoden dennoch ein Resultat hervorgebracht wurde. 2. Wie im Nachhinein in den Lehrbüchern und sogar in den Erinnerungen der beteilig­ ten Forscher die chaotische Entdeckungsgeschichte als logische Abfolge kons­ truiert wird.34 Dass Forschung theoriegeladen und vorurteilsbehaftet ist, ist 34

Flecks Darstellung ist jetzt dezidiert als Kritik am wissenschaftshistorischen Geniekult angelegt. Seine erklärten Ziele sind „zu beweisen, dass 1) eine Gemein­ schaft, ein bestimmtes Denkkollektiv und nicht ein einzelnes Individuum der Autor dieser (wie auch der vorherigen) Zeitperiode gewesen ist. August Wasser­ mannwar – wie alle Individuen bei allen anderen erfolgreichen wissenschaftlichen Entdeckungen – nur eine Person, die dieses Kollektiv vertrat. 2) Das aber, was dieses engere Kollektiv absichtlich angestrebt hatte, war jedoch völlig verschieden von dem, was es letztlich erreichte. 3) Die Triebkraft der Erkenntnis bildete – auch hier – nicht irgendwelche rationalen Motive, sondern jene spezifische soziale Stimmung gegenüber der Syphilis […]. Letztendlich triumphierte also genau diese Stimmung, nicht jedoch die bewusste Idee, die Wassermann und seine Mitarbeiter zuvor gehabt hatten. 4) Noch während man dabei war, die ersehnte Blutprobe zu

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ein alter Hut, den sich auch logische Empiristen aufsetzten. Im Unterschied dazu lassen sich Fleck zufolge die irrationalen Faktoren, das Unbestimmte, das Unbewusste, die sozialen Zwänge, die das Entdecken, Prüfen und Rechtferti­ gen von Wissen determinieren, nicht durch Korrekturverfahren nachträglich herausfiltern, sondern werden als nicht­eliminierbare denkstiltransformie­ rende Größen mit epistemologischer Funktion einsichtig.

D a s D e n k kol lek t iv Für Fleck ist das Denkkollektiv der eigentliche wissens­ und stilgeschichtliche Protagonist, er nennt es eine „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedan­ kenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ und „Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissens­ bestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstils“ (EET, S. 54 f.). Flecks Begriff des Kollektivs ist gewöhnungsbedürftig. Die Interaktion zwi­ schen Menschen, eine gemeinsame Praxis, konstituiert sofort eine zunächst unspezifische Gruppe. Auch ein einzelner Mensch kann, wenn er mit sich selbst diskutiert, ein Kollektiv bilden. Treten zwei verfeindete Kollektive in Interaktion, bilden sie, selbst wenn sie sich bekämpfen, ein neues Kollektiv auf anderer Ebene. Es kommt also nur darauf an, dass es einen Denkverkehr gibt, und nicht darauf, ob man sich wechselseitig versteht. Verständigung sei „grundsätzlich nur innerhalb eines Kollektivs möglich, zwischen verwandten Gemeinschaften“ kommt es bereits zu Komplikationen, da die Worte beim Transfer ihre Bedeutung ändern, die Begriffe eine andere „Stilfärbung“ erhal­ ten, die Sätze einen „anderen Sinn, die Anschauungen einen anderen Wert“. Bereits im intrakollektiven Denkverkehr läuft die Kommunikation nach dem Prinzip der stillen Post. „Das, was ich ausdrücke, ist immer anders als das, was ich denke. Das, was verstanden wird, ist auch immer verschieden von dem, was ich gesagt habe“ (DT, S. 198). Sind die Gruppen weit entfernt, kann die Transformation eines Gedankens „in seiner völligen Vernichtung“ (DT, S. 267) bestehen. Entscheidend sei daher zu erkennen, dass der Gedanken­Kreislauf nie ohne Transformation stattfindet und dass es verschiedene Phasen gibt, in denen ein Denkstil offener oder geschlossener auftritt – wird der Denkver­ verwirklichen und zu veranschaulichen, vollzog sich damit zugleich eine spezi­ fische Entwicklung eines Denkstils, der den wissenschaftlichen Begriff und die wissenschaftliche Technik letztlich so bestimmte und veränderte, dass die ersten Versuche Wassermanns und seiner Mitarbeiter unverständlich und unreprodu­ zierbar wurden. Und sogar diejenigen Personen, die selbst daran gearbeitet hatten, hörten schließlich auf, ihre ersten Arbeiten zu verstehen.“ Fleck: Wie entstand die Bordet­Wassermann­Reaktion und wie entsteht eine wissenschaftliche Entdeckung im allgemeinen? [Übersetzt von Sylwia Werner], in DT, S. 181–210, hier S. 190 f.

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kehr verstetigt, erhält er durch Wiederholung eine bestimmte Form. Die ge­ meinschaftsinterne Wanderung eines Gedankens verstärkt diesen, das erzeugt eine kollektive Stimmung der Selbstbestätigung, ein besonderer Denkstil formt sich aus, wird fixiert und schließt die Gruppe ab. Allgemeine Kollektive, wie etwa das einer Nation, lassen sich nicht recht abzirkeln, denn die Mitglie­ der einer Nation haben keinen spezifischen Denkstil gemeinsam, dazu müss­ ten alle Mitglieder einer Nation miteinander in Denkverkehr stehen und die Nation zudem Träger des Kulturellen sein; auch ist es Fleck zufolge aus glei­ chem Grunde unsinnig, eine Rasse als Kollektiv zu definieren. Es gibt in sei­ nen Augen keine nationalen bzw. rassen­, klassen­ oder generationsspezifi­ schen Denkstile (EET, S. 141).35

St i l u nd St i m mu ng Nur die Mitglieder des eigenen Kollektivs sind in der Lage, spezifische Stilfär­ bungen herauszufühlen (DT, S. 286). Wissenschaftliche Termini entfalteten einen „eigentümlichen Stilzauber“, der ihnen eine sakramentale Kraft verlei­ he (DT, S. 285 f.). Diejenigen, die diesem „Denkzauber“ erliegen, bilden eine Gemeinschaft, es kommt zur „Stimmungskameradschaft“ (ebd.). Die Stim­ mung ist der Kitt des Kollektivs, sie erzeugt eine Bereitschaft zum gerichteten Wahrnehmen, Bewerten und Anwenden des Wahrgenommen, sie ist die Triebkraft denkstilgemäßen kollektiven Handelns. Dieser Stil beschränkt sich folglich keineswegs auf das Denken, sondern schließt das Wahrnehmen sowie die Praktiken und Instrumente eines Kollektivs mit ein. Sei ein Denkstil erst einmal etabliert, werde er tradiert und dies nicht durch bessere Argumente, sondern durch Dressur und Initiationsriten, wie 35

Just die Untersuchung nationaler Denkstile hat jedoch in jüngerer Zeit zur Kon­ junktur von Flecks Ideen beigetragen. Vgl. z. B. Jane Maienschein: Epistemic styles in German and American Embryology, in: Science in Context 4,2 (1991), S. 407–27; Johan Galtung: Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft, in: Alois Wierlacher (Hg.): Das Fremde und das Eigene: Prolegomena zu einer interkultu­ rellen Germanistik, München 1985, S. 151–196; Malcolm Nicolson: National Styles, Divergent Classifications: A Comparative Case Study From the History of French and American Plant Ecology, in: Knowledge and Society 8 (1989), S. 139–186; Nathan Reingold: The Peculiarities of the Americans or Are There National Styles in the Sciences?, in: Science in Context 4,2 (1991), S. 347–366; Jonathan Harwood: Styles of Scientific Thought: the German Genetic Community 1900–1933, Chicago 1993; David Crowley: Finding Poland in the Margins: The Case of the Zakopane, in: Style Journal of Design History, 14, 2 (2001), S. 105–116; Olga Amsterdamska: Achieving Disbelief: Thought Styles, Microbial Variation, and American and Britain Epidemology, 1900–1940, in: Studies in History and Philosophy of Science, 35 (2004), S. 483–507.

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man sie z. B. in gewissen akademischen Ritualen antreffe. Fremde Denkstile werden agitiert. Ein solcher „Versand eines Gedankens“ heiße „Propaganda“ (DT, S. 286). Fleck, dessen Formulierungen hier an Wittgenstein36 erinnern, zitiert zur Verdeutlichung den Soziologen Ludwik Gumplowicz: „Der größte Irrtum der individualistischen Psychologie ist die Annahme, der Mensch den­ ke […] was im Menschen denkt, das ist gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft. Die Quelle seines Denkens liegt gar nicht in ihm, sondern in der sozialen Umwelt, in der er lebt, in der sozialen Atmosphäre, in der er at­ met und er kann gar nicht anders denken als so, wie es aus den in seinem Hirn sich konzentrierenden Einflüssen der ihn umgebenden sozialen Umwelt mit Notwendigkeit sich ergibt“ (EET, S. 63).37 Damit es zum Denkstilwandel kommt, muss die Stimmung nachhaltig gestört werden, etwa durch immanente Transformationen oder Einflüsse fremder Stile. Diese sorgen für eine „Zeit der Unruhe“ (DT, S. 229–232, 330),38 in welcher dann neue Gedanken eingeführt werden können. Wanderungen von Gedanken gibt es innerhalb des Denkkollektivs vom esoterischen Kreis zum exoterischen Kreis der Laien, dort werden sie zu Tatsachenwissen und kehren dann als solche zurück (vgl. DT, S. 199–201, 287–293). Ist ein Denkstil exoterisch geworden, so ist unterdessen derjenige des esoterischen Forscher­ kollektivs, das ihn ursprünglich hervorgebracht hatte, längst zu einem ande­ ren Stil mutiert. Wir sind nun an einem Punkt angelangt, an dem wir ein Zwischenfazit ziehen können: Auch wenn Fleck um zu variieren gelegentlich Ausdrücke wie „Denksystem“ und „Denkstruktur“ als vermeintliche Synonyme gebraucht, sind für ihn Denkstile immer dann, wenn er diese eingehender beschreibt, weder Methoden noch Denkformen; sie bezeichnen keine Epochen oder Welt­ 36

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„Wieviel von dem, was wir tun, besteht darin, den Stil des Denkens zu ändern, und wieviel von dem, was ich tue, besteht darin, den Stil des Denkens zu ändern, und wieviel tue ich, um andere zu überzeugen, ihren Denkstil zu ändern. In einem gewissen Sinn mache ich Propaganda für einen Denkstil und gegen einen anderen. Ich verabscheue den anderen ehrlich. Außerdem versuche ich zu sagen, was ich denke.“ Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, Frankfurt/M. 1970, S. 44. Fleck zitiert aus: Ludwik Gumplowicz: Grundriss der Soziologie, Wien 1905, S. 269. Wilhelm Jerusalem: Die soziale Bedingtheit des Denkens und der Denkformen, in: Max Scheler et. al. (Hg.): Versuche zu einer Soziologie des Wissens, München 1924, S. 182–207; und Lucien Levy­Bruhl: Das Denken der Naturvölker, hg. u. übers. v. Wilhelm Jerusalem, Wien/Leipzig 1921. Hier präludiert offensichtlich Thomas Kuhns Krisentheorem der Erklärung von Paradigmenwechsel, jedoch muss Fleck nicht wie Kuhn auf das wenig plausible religiöse Modell der Bekehrung zurückgreifen, um den Überzeugungswechsel zu beschreiben. Vgl. dazu: Kristian Köchy: Zur Funktion des Bildes in den Biowis­ senschaften, in: Stefan Majetschak (Hg.): Bild­Zeichen. Perspektiven einer Wis­ senschaft vom Bild, Paderborn 2005, S. 215–239.

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anschauungen und charakterisieren auch keine sozialen Gruppen, sondern Vorgänge: Zirkulationen von Ideen und soziale Praktiken und die aus ihnen resultierende unbewusste stilgemäße Konditionierung von Wahrnehmung, Denken und Handeln der Forscher, die allerdings ständige Transformationen erfährt. Soziale Interaktionen erschaffen einen Denkstil und: Der Denkstil schafft das Kollektiv und die Mentalität, als deren Emanation er später er­ scheint. Je häufiger und dichter der Denkverkehr, desto regelmäßiger wird er und desto deutlicher tritt ein besonderer Stil hervor, der aber von jedem Mit­ glied des Denkkollektivs je anders verstanden wird bzw. erfahren wird. Es kann in einer Epoche verschiedene, einander widersprechende Denkstile ge­ ben und ein Individuum kann Träger mehrerer nicht zueinander passender Denkstile sein. Einen personalen Denkstil, wie z. B. den ‚Denkstil Galileis‘ kann es dem gemäß nicht geben, ebenso wenig wie allgemeine invariante Sti­ le, wie etwa bei Husserl den universalen Kausalstil. Und: es gibt kein stilloses Denken, Handeln und Beobachten.

St i l i m Spiel Zuweilen bietet Fleck Beispiele an, die manche von uns mühelos nachvollzie­ hen werden. So meint er, dass „das Individuum […] dem einzelnen Fußball­ spieler vergleichbar, das Denkkollektiv der auf Zusammenarbeit eingedrillten Fußballmannschaft, das Erkennen dem Spielverlaufe“ vergleichbar sei. Und schließt daraufhin folgendermaßen: „Vermag und darf man diesen Verlauf nur vom Standpunkte einzelner Fußstösse aus untersuchen? Man verlöre al­ len Sinn des Spiels“ (EET, S. 62, 129). Fußball­Freundinnen und ­Freunde werden nun folgern: Die Art und Weise, wie der Ball in einer eingespielten Mannschaft zirkuliert, bildet durch stetiges Wiederholen von Spielzügen den Stil aus, der nur sichtbar ist, solange im Spiel Bewegung herrscht. Das heißt, ein Denkstil ist wie der Stil einer Fußballmannschaft transitorisch, er existiert nur während der Aktion, ist nur als Handlung sichtbar. Steht das Spiel still, erkennt man nichts. Analog dazu kreisen in einem Forscherkollektiv Ideen wie Bälle und richten das Denken, Sehen und Handeln aus und formen im günstigen Fall einen gemeinsamen Stil oder es kommt zur Mutation von Substilen. Wird ein neuer Spieler einge­ wechselt, modifizieren dessen besondere Eigenschaften den Stil der Mann­ schaft, der zudem abhängt und geformt wird vom Spiel des Gegners und von den äußeren Umständen. Fixiert man einen solchen Stil in Lehrbüchern, kann er wieder auf Mannschaften zurückwirken, die fußballerische Avantgarde hat indes ihre Stile bereits verändert.

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4. Erken nt n isst i le: Sehen u nd Ha ndel n Trotz der Akzentuierung des Denkens im Terminus Denkstil wird nun klar, dass dieser immer auch aus selektivem, ja gestaltendem Sehen und gerichte­ tem Handeln von Kollektiven besteht.39 Fleck arbeitet nun an vielen Stellen en detail eine regelrechte Phänomenologie und Psychologie des wissenschaftli­ chen Sehens und Handelns aus, die zu verfolgen sich lohnt, weil Fleck mit ihr beispielhaft vorführt, was genau unter „einem Denken mit dem Auge“ ver­ standen werden kann. Grundsätzlich unterscheidet Fleck drei Etappen des Er­ kenntnisverlaufes: „Eine Entdeckung erscheint zuerst als ein schwaches Widerstands­ aviso, das die sich im schöpferischen Chaos der Gedanken abwechseln­ den Denkoszillationen hemmt. Aus diesem Aviso entsteht auf dem Weg des sozialen, stilisierenden Kreisens der Gedanken ein beweisba­ rer, d. h. ein Gedanke, der sich im Stilsystem unterbringen läßt. Die weitere Entwicklung verändert ihn in einen – im Rahmen des Stils – selbstverständlichen Gedanken, in eine spezifische, unmittelbar er­ kennbare Gestalt, in einen ‚Gegenstand‘, demgegenüber sich die Mit­ glieder des Kollektivs wie gegenüber einer außerhalb existierenden, von ihnen unabhängigen Tatsache verhalten müssen. So sieht die Evo­ lution dessen aus, was wir ‚wirklich‘ nennen“ (DT, S. 227). In der ersten Phase zeige sich beim Beobachten von Laborpräparaten zunächst ein „Chaos widersprüchlicher, einander abwechselnder Bilder“. Das bis dahin feststehende Bild zerfalle „in Kleckse, die sich zu verschiedenen, widersprüch­ lichen Gestalten formen. […] Von der Stimmungsspannung des Forschers“ hänge „ab, ob ihm die neue Gestalt als symbolische grelle Vision erscheint, oder auch als schwaches Aviso eines Widerstands, der die ungebundene, fast willkürliche Auswahl unter den sich abwechselnden Bildern bremst“ (DT, S. 232).40 Diese Gestalt muss dann von Unwichtigem separiert und stabilisiert werden, indem man eine Denkbereitschaft schafft und Menschen dazu er­ 39

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„Denkstil […] ist bestimmter Denkzwang und noch mehr: die Gesamtheit geistiger Bereitschaften, das Bereitsein für solches und nicht anderes Sehen und Handeln. Die Abhängigkeit der wissenschaftlichen Tatsache vom Denkstil ist evident“ (EET, S. 85). Flecks Konzept des Widerstandsaviso erinnert an Wittgensteins Spaten, der sich plötzlich zurückbiegt, wenn er auf den harten Fels der Wirklichkeit trifft. Philoso­ phische Untersuchungen § 217. „‚Wie kann ich einer Regel folgen?‘ – wenn das nicht eine Frage nach den Ursachen ist, so ist es eine nach der Rechtfertigung da­ für, dass ich so nach ihr handle. Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ‚So handle ich eben.‘“ Auch Fleck beschreibt hier ein

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zieht (DT, S. 232). Wenn dies gelungen ist, werde die Gestalt unmittelbar als evident wie „eine vom Menschen unabhängige, einzige, ewige Wahrheit“ (ebd.) wahrgenommen. Die „Wahrheit“ ist also Effekt des Stils und nicht, wie bei Riegl oder Mannheim, der Stil Ausdruck des Kunstwollens.41 Ohne solche oder ähnliche ontologische Hypostasen auszukommen, ist ein großer Vorzug der Konzeption Flecks. Ein Sehen, wie es Fleck beschreibt, vollzieht sich unter Aufbietung aller körperlichen und geistigen Vermögen des Forschers: „Die erste stilverworrene Beobachtung gleicht einem Gefühlschaos: Staunen, Suchen nach Ähnlichkeiten, Probieren, Zurückziehen; Hoff­ nung und Enttäuschung. Gefühl, Wille und Verstand arbeiten als un­ teilbare Einheit. Der Forscher tastet: alles weicht zurück, nirgends ein fester Halt. Alles wird als artifizielle, willensmäßige eigene Wirkung empfunden: jede Formulierung zerfliesst bei der nächsten Probe. Er sucht den Widerstand, den Denkzwang, dem gegenüber er sich passiv fühlen kann. Aus Erinnerung und Erziehung melden sich Helfer […] die Gesamtheit der körperlichen und geistigen Ahnen, aller Freunde und Feinde. Sie fördern und hemmen“ (EET, S. 124). Fleck hebt hervor, dass wir die Sprache einsetzen müssen, um überhaupt erst den Beobachtungsgegenstand als solchen in den Blick bekommen zu können, der also keineswegs bereits in bestimmter Gestalt vorliegt und dann „neutral“ beschrieben werden könnte. Es gebe keine einfachen Beobachtungen, die durch Protokollsätze erfasst werden könnten, erst recht nicht könnten diese Protokollsätze dann als Fundament für den Aufbau der Wissenschaften die­ nen, wie es Carnap vorschwebte. Die Worte reichen einerseits nie zu, um das jeweilige Beobachtungserlebnis adäquat einzufangen, andererseits bedarf man ihrer, um die Beobachtung so zu stilisieren, dass man überhaupt etwas er­ kennt. Zunächst muss man dazu eine Reihe suggestiver Fragen stellen wie z. B.: Was ist hier Vordergrund, was Hintergrund? Ist es „eine Sammlung dunkler Striche auf hellem Hintergrund, […] irgendeine zufällig aus jenen Strichen gefügte Figur, z. B. eine zerklüftete Insel? (Sind die Striche in ihrer ganzen Länge gleich stark? Sind sie gerade? Färben sie sich homogen? Liegen sie parallel? usw.)“ (DT, S. 216 f.). Beobachte man ein mikroskopischesPräpa­ rat, etwa mit „Diphtheriebacillen“, so habe man:

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„grundloses grundloses Handeln“, “,, doch der harte Fels erweist sich bei ihm seinerseits als Kon­ strukt (Vgl. EET, S. 124, 129). Zu den damaligen Diskussionen um das „Kunstwollen“ siehe: Joan Hart: Erwin Panofsky and Karl Mannheim: A Dialogue on Interpretation, in: Critical Inquiry, 19, 3 (1993), S. 534–566.

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„[…] (wie es scheinen könnte) nur eine Anzahl gefärbter kleiner Stri­ che von besonderer Form, Struktur und Lagerung vor sich, die zusam­ men ein charakteristisches Bild geben. Vergeblich wäre die Bemühung, mit bloßen Worten das Charakteristische des Bildes zu beschreiben, das der Fachmann sofort sieht, das vom Laien aber zunächst nicht er­ kannt wird. Diesen muss man erst vorbereiten: durch Gleichnisse, die ihm bekannte Figuren enthalten und durch Vergleiche mit anderen mikroskopischen Bildern, schließlich durch Gewöhnung an das Zuord­ nen entsprechender fach­traditioneller Worte; man muss eine gerichte­ te Bereitschaft für das Wahrnehmen dieser besonderen Gestalt erwe­ cken, die die Wissenschaft schuf.“ (DT, S. 250 f.)

St i l i sier u ng du r c h Ap p a r ate Mit der Entwicklung eines Denkstils entwickelt sich eine stilgemäße Wirk­ lichkeit, „Sehen“ heißt für Fleck „im entsprechenden Moment das Bild nach­ zubilden, das die Denkgemeinschaft, zu der man gehört, geschaffen hat“ (DT, S. 323). Eine Beobachtung wird jedoch nicht allein durch Sprache stilgemäß determiniert, sondern auch Instrumente und Apparate treten zu dieser in Wechselwirkung hinzu und zwingen gemeinsam mit den Beschreibungen dem Beobachter einen bestimmten Seh­Stil auf. So würde jemand, der mit dem Mikroskop nicht vertraut ist, „über­ haupt kein Bild sehen, er wird nicht ins Okular schauen, nicht das Licht erfas­ sen, nicht das Präparat einstellen. Der Suggestion der Form des Mikroskops unterworfen, sucht das Auge den Untersuchungsgegenstand auf dem Tisch, er richtet den Spiegel auf sich und schaut in ihn hinein. Wenn er weiß, dass man in das Okular schauen soll, sieht er die eigenen Wimpern, akkomodiert auf die Oberfläche des Okulars, blickt schräg und sieht die dunkle Innenwand des Tubus oder schließlich ‚einen hellen Kreis auf dunklem Hintergrund‘“ (DT, S. 217). Fleck zufolge erfordere das wissenschaftliche Gerät ein „besonderes Studium“, da es „als Verwirklichung gewisser Ergebnisse des bestimmten Denkstils, das Denken automatisch in die Bahnen dieses Stils richtet. Messge­ räte zwingen, einen solchen Einheitsbegriff zu verwenden, für den sie gebaut worden sind, mehr noch, sie zwingen, solche Begriffe anzuwenden, aus denen sie hervorgegangen sind“ (DT, S. 297). Das Fernrohr mache es z. B. unmög­ lich, in den Wolken „‚phantastische‘ d. h. dem Wissenschaftlichen stilfremde Gestalten zu sehen, d.h. es richtet auf den wissenschaftlichen Stil aus, genau­ so wie geschmolzenes Wachs, ein Kartenspiel oder andere ähnliche Werkzeu­ ge die Wahrsager auf ihren Denkstil ausrichten. Indem wir inmitten von Ge­ räten und Einrichtungen leben, die sich aus dem heutigen wissenschaftlichen

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Bild 1

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Mikroskopbilder von Streptokokkenvariationen.

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Denkstil herleiten, empfangen wir ständig ‚objektive‘ Anstöße, so und nicht anders zu denken. Daher rührt die Überzeugung von der vom Menschen un­ abhängigen, „sachlichen“ Bedeutung dieses Stils und die Überzeugung von der ‚sachlichen‘ Natur der Erzeugnisse dieses Stils“ (ebd.).42 Flecks Beispiele für wissenschaftliche Beobachtungen stammen zu­ meist aus dem Bereich der Mikrobiologie, die besten beziehen sich auf die Schwierigkeiten bei der Beobachtung von Diphteriebazillen und des Bakteri­ ums Proteus. Fleck gibt, wenn er Abbildungen von Mikroskopbildern seinen Texten beifügt, jeweils genau an, mit welchen unterschiedlichen Methoden ein Bild aufgenommen wurde, macht Angaben zum Typ und zur Brennweite des Objektivs, der Färbetechnik, benennt Zeitpunkt und Alter der Bakterien­ kultur. (Bild 1)43 Zudem bringt er viele einzelne Bilder mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden, die einander zwar ergänzen, sich aber nicht zu einem stimmigen Gesamtbild fusionieren lassen, das dann als solches das „wahre Abbild“ des Streptokokkus wäre. Wie sieht also das Bakterium aus?44 42

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Flecks mit konkreter Forschungspraxis gesättigte Beschreibungen lassen Hackings Gegenposition als philosophischen Wunschtraum erscheinen. Vgl. Ian Hacking: Do We See Through a Microscope? in: Pacific Philosophical Quarterly 62 (1981), S. 305–322; sowie ders.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996, S. 318: „Man braucht zwar Theorie, um ein Mikroskop zu ver­ fertigen, aber man braucht keine Theorie, um es zu benutzen.“ Vielmehr könne man zwischen künstlichen Effekten und der „wirklichen Struktur“ des Beobach­ teten unterscheiden lernen. Abbildungen sind entnommen aus Ludwik Fleck/Olga Elster: Zur Variabilität der Streptokokken, in: DT, S. 126–171. Von Abbildungen zu erwarten, dass sie mimetisch Wirklichkeit widergäben, ist Fleck zufolge nicht allein im Bereich der Mikroskopie­Bilder illusionär, sondern auch angesichts makroskopischer Bilder. Betrachte man „älteste anatomische Abbildungen, so drängt sich uns zunächst deren schematischer und primitiv symbolischer Charakter auf: wir sehen Schemen in konventionell­uniformer Hal­ tung, die Organe sind symbolisch angedeutet, wie z. B. der kreisförmige Gang in der Brusthöhle, der den Zirkulationsweg des Pneuma in der Brust darstellen soll, oder darunter rechts die schematische 5lappige Leber. Vor uns liegen also Sinn­ bilder, die wohl die zeitgenössische Auffassung, nicht aber die naturgetreue Form – wie sie unserer Auffassung entspricht – zur Darstellung bringen. Wenn z. B. Darmwindungen dargestellt werden, so sehen wir nicht eine bestimmte Zahl in bestimmte Weise gelagerter Abschnitte, sondern schneckenartige Linien, die die Windungen symbolisieren.“ DT, S. 242. Naturgetreue Abbildungen in einem objek­ tiven Sinne gebe es daher prinzipiell nicht, der Denkstil erschafft die Wirklichkeit nicht anders als andere Produkte der Kultur (DT, S. 301) und nur innerhalb eines Denkstils ist es möglich, von einer naturalistischen Darstellung zu sprechen. Die Kluft zwischen Natur und Kultur verschwindet, „Wahrheit“ ist dann nichts weiter als „eine aktuelle Etappe der Veränderungen eines Denkstils“ (DT, S. 301). Vgl. dazu auch die Zeichnungen in Schauen, Sehen, Wissen (DT, S. 390–413). Dort beruft sich Fleck sehr unbestimmt auf Lehren der „Psychologie“ über das Gestalt­ sehen (ebd., S. 392). Ebenso in EET, S. 121 ff. Bislang war nicht herauszufinden,

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Wissenschaftliche Bilder stilisieren die Beobachtung fiktiver Entitäten so, dass diese dann als tatsächliche Objekte erscheinen. Die zuerst in Fachzeit­ schriften und später in Schulbüchern publizierten Bilder führen schließlich dazu, dass die Forscher zu glauben beginnen, ein Bazillus sehe tatsächlich so aus – ihr mit viel Aufwand manipuliertes Bild wird zur Tatsache. Was Fleck indes unerwähnt lässt, ist, dass es um 1930 eine intensive Debatte innerhalb der Serologie etwa um die Photogramme Pijpers gab, der gefärbte Bakterien zwischen einen lichtempfindlichen Film und eine Licht­ quelle gebracht und so Bilder von Bakterien mit peritricher und polarer Begei­ ßelung produziert und veröffentlicht hatte.45 Klar war allen, dass nur durch die künstliche Zurichtung und Einfärbung der Präparate überhaupt etwas sichtbar gemacht werden könne, daher geriet man ins Zweifeln, ob die Gei­ ßeln, die die Bilder zeigten, nur Kunstprodukte des Präparationsverfahrens seien. Fleck kannte diese Diskussionen sehr genau, er fasste sie sogar in Sam­ melreferaten für Fachkongresse zusammen.46 Nicht das Studium der Kunstli­ teratur leitete Fleck also an, sondern hier, im bakteriologischen Labor, lässt sich gleichsam in vitro beobachten, wie Fleck aus den forschungspraktischen Zwängen und den Diskussionen um das richtige Sehen, Abbilden und Be­ schreiben seine Seh­ und Denkstile vergleichende Erkenntnistheorie heraus­ destillierte. In deren Licht zeigt sich: „Beobachten, Erkennen, ist immer ein Abtasten, also wörtlich ein Umformen des Erkenntnisgegenstandes. – Das ist die tägliche Praxis der Wissenschaft“ (DT, S. 59). „Jede neue Beobachtung ist Experiment“ (DT, S. 220). Nun können wir Flecks frühere Denkstildefini­ tion auf dieser neuen Grundlage reformulieren und erweitern: Sehen ist nicht

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woher genau seine Beispiele stammen. Thomas Schnelle: Ludwik Fleck – Leben und Denken. Zur Entstehung und Entwicklung des soziologischen Denkstils in der Wissenschaftsphilosophie, Freiburg, S. 152–158 vermutet, dass Fleck sich an die Grazer Schule der Gestaltpsychologie von Alexius Meinong und Christian von Ehrenfels anlehnt, da diese durch Twardowski in Lemberg präsent gewesen war. Der einzige konkrete Hinweis jedoch, den Fleck gibt, findet sich in ETT, S. 39, Fußnote 4 und nennt ein Sammelreferat von Wolfgang Metzger, der Arbeiten zur Gestalttheorie in der Musikpsychologie Erich von Hornbostels vorstellt: Wolfgang Metzger: Psychologische Mitteilungen, in: Die Naturwissenschaften 45 (1929), S. 843–848. Hornbostel, den Fleck auch in Das Problem einer Theorie des Erken­ nens erwähnt, zählte zur Berliner Schule der Gestalttheorie um Max Wertheimer und Wolfgang Köhler. Vgl. dazu: Käthe Pietschmann: Über die Begeißelung der Bakterien, in: Archiv für Mikrobiologie 12 (1942), S. 377–472. Ludwik Fleck: Zusammenfassung des Referats und der Diskussion: „Problem obserwacji naukowej“, in: Sprawozdanie z działalno´sci Towarzystwa Filozoficznego i Psychologicznego w Lublinie w latach 1945–1947 oraz uzupełnienie za r. 1948, Lublin 1948, S. 49–51. Übersetzt von Sylwia Werner in: DT, S. 534–537.

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nur ein gemeinschaftliches gestaltendes Sehen, sondern – zuallererst – ein via kollektives Handeln schöpferisches, Wirklichkeit erschaffendes Sehen.

5. Wissensc ha f t a ls Ku nst: Fle c k ver sus Bi l i k ie w ic z Den letzten Schliff bekam Flecks Denkstilkonzept jedoch erst 1939, im Rah­ men seiner Kontroverse mit dem ebenfalls aus Lemberg stammenden Psycho­ logen, Philosophen und Wissenschaftshistoriker Bilikiewicz (1901–1980).47 Bilikiewicz gehörte zur Schule des damals führenden Medizinhistorikers Henry Sigerist und hatte einige Jahre zuvor ein Buch in deutscher Sprache veröffentlicht, das auf den ersten Blick Flecks These von der kulturellen Ab­ hängigkeit der Wissenschaft zu bestätigen schien: Die Embryologie im Zeit­ alter des Barock und des Rokoko (Leipzig 1932). Bilikiewicz beruft sich hierin explizit auf Karl Joël und Wölfflin, wenn er auf dem Weg über den Stilver­ gleich sich anschickt, Epochen einheitlich zu charakterisieren und Analogien zwischen verschiedenen Kulturbereichen aufzuweisen. Wie sein Lehrer Sige­ rist48 zählt er zu den ersten, die den kunsthistorischen Stilbegriff auf die Wis­ senschaftsgeschichte anwenden. Fleck nutzt die Gelegenheit zur Kontroverse, um seine Denkstiltheorie durch eine scharfe Kritik an Bilikiewicz zu profilieren. Zentraler Streitpunkt der Diskussion, die in vier teils längeren Aufsätzen in der transdisziplinären Zeitschrift Przegl˛ad Współczesny ausgefochten wird, ist – der Stilbegriff: Da­ her kann auch ein anderes Motiv für Flecks Attacke vermutet werden: Sein Hauptwerk war zuvor auch von Naziseite positiv besprochen worden, bemän­

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Ludwik Fleck: Nauka a s´rodowisko [Wissenschaft und Umwelt, übersetzt von Sylwia Werner, in: DT, S. 327–339], in: Przegl˛ad Współczesny, 18 (1939), S. 8–9, S. 149–156; Tadeusz Bilikiewicz: Uwagi nad artykułem Ludwika Flecka „Nauka a s´rodowisko“ [Bemerkungen zum Artikel von Ludwik Fleck „Wissenschaft und Umwelt“, übersetzt von Sylwia Werner,in: DT, S. 340–352], in: Przegl˛ad Współ­ czesny (1939), S. 157–167; Ludwik Fleck: Odpowied z´ na uwagi Tadeusza Bilikiewcza [Antwort auf die Bemerkungen von Tadeusz Bilikiewicz, übersetzt von Sylwia Werner,in: DT, S. 353–360], in: Przegl˛ad Współczesny, 18 (1939), S. 168–174; Tadeusz Bilikiewicz: Odpowied z´ na replik˛e Ludwika Flecka [Antwort auf die Replik von Ludwik Fleck, übersetzt von Sylwia Werner, in DT, S. 361 f.], in: Przegl˛ad Współczesny, (1939), S. 8 f., S. 175 f. Die Adaption von Wölfflins Stilepochen, aber auch Einflüsse von Spenglers Kulturmorphologie, sind präsent in Henry Sigerists Aufsatz: William Harveys Stellung in der europäischen Geistesgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 19 (1928), S. 158–168. Ich danke Lutz Danneberg für diesen Hinweis.

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gelt wurde nur, dass er die Rasse als stilbildenden Faktor vernachlässigt habe.49 Flecks Denkstiltheorie war eingeholt worden von jenem im 19. Jahrhundert aus der Verbindung von Geschichte, Anthropologie und Biologie zusam­ mengebrauten Gemisch aus Nationalcharakter, Stil und Rasse. Abgrenzungen und Differenzierungen wurden nötig: Bilikiewicz‘ Buch lud dazu ein. Bilikiewicz wollte zeigen, dass in der Zeit des Barock die Kämpfe zwi­ schen Präformismus und Epigenetik und des Vitalismus mit dem Mechanis­ mus jeweils ihren politischen, künstlerischen, philosophischen und kulturel­ len Hintergrund hatten, der auf die Wissenschaft epochenspezifischen Einfluss nimmt. So hätten just als sich mit dem Sturz des Absolutismus die Ideen von individueller Freiheit ausbreiteten, in der Embryologie die Animalkulisten das unabhängige Eigenleben der Spermien entdeckt. Stilvergleiche fördern zuhauf weitere Parallelen zutage, etwa einen Zusammenhang zwischen der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung von Frauen und dem Aufkommen der Ovulisten in der Embryologie. Bilikiewicz konstatierte z. B., Buffon sei „in Bezug auf die Zuerkennung der Gleichberechtigung von Geschlechtern so weit gegangen , dass er meinte, weibliche Spermien entdeckt zu haben“.50 Flecks Kritik fällt harsch aus: Bilikiewicz‘ Beobachtungen seien nichts als „eine Quelle oberflächlicher Floskeln“ über die Nicht­Existenz „vorausset­ zungsloser Wissenschaft“, diese aber seien gerade in der jetzigen Zeit gefähr­ lich, da zuerst ein politisches Lager „aus der Tatsache der soziologischen, ge­ meinschaftlichen Natur des Erkennens […] die politische Parole eines sozialen klassenbedingten Wissens gemacht“ habe und dann die gegnerische politi­ sche Richtung den National­ und den Rassengeist“ erfand, „um durch die Epochen einen weltanschaulichen Mythos weiterzuspinnen“ (DT, S. 329). Mit anderen Worten, Fleck wirft Bilikiewicz vor, dieser liefere der Politik ein Pro­ gramm für Demagogie, er wolle „eine Planwirtschaft für das Denken“ (ebd.) einführen, die zu jeder Umwelt das passende Wissen vorschreibe. Und – plötz­ lich habe man dann eine linke oder rechte oder proletarische Chemie. Fleck wendet seine Kritik dann ins Methodische und dehnt sie dabei auch auf einen Text aus, den er früher häufig als positive Bestätigung seiner Theorien angeführt hatte, auf den bereits erwähnten Vortrag Schrödingers:

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Vgl. dazu Fehr: „[…] die Kunst, eine demokratische Wirklichkeit zu formen […]“ (wie Anm. 4) und Claus Zittel: Die Entstehung und Entwicklung von Ludwik Flecks vergleichender ‚Erkenntnistheorie‘, in: Bo˙zena Chołuj/Jan C. Joerden (Hg.): Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion: Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, Bern 2007, S. 439–473. Tadeusz Bilikiewicz: Die Embryologie im Zeitalter des Barock und des Rokoko, Leipzig 1932, S. 116.

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Ist die Naturwissenschaft milieubedingt?51 Fleck sieht sich mittlerweile genö­ tigt, ausdrücklich davor zu warnen, seine Wissenschaft der Denkstile mit der ästhetischen Wissenschaftsauffassung der neuen Wissenschaftlergeneration zu verwechseln, die bereits relativistisch zu denken begonnen hätte: Es sei Unsinn,52 auf der Basis artistischer Eindrücke und intuitiver Ver­ mutungen Stilanalogien zwischen Bereichen und Vorgängen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, zu erfinden. Bilikiewicz nutze den Stilbe­ griff, um pauschal simultane Gemeinsamkeiten von Wissenschaft und Politik herauszustellen. Fleck zufolge sollten aber gerade einzelne Denkstile in ihrer Entwicklung und ihrer Differenz zueinander betrachtet werden. Die „Intui­ tion“ wird für Fleck im Unterschied zu Bilikiewicz also zum distinkten Er­ fassen einzelner Denkstile eingesetzt und nicht für das Konstruieren von Analogien zwischen Kultur und Wissenschaft. Bilikiewicz versteht Flecks Punkt nicht und hält ihm vor, die metaphy­ sischen Folgen seiner Position zu verkennen, diese seien just am Stilbegriff abzulesen, den Fleck zweifellos „nicht in seiner üblichen Bedeutung“ gebrau­ che, da er ihn nicht nur auf die Form, sondern auch auf die Materie des Schaf­

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Schrödinger hatte provokativ die Verwandtschaft zwischen moderner Physik und bestimmten Eigenschaften gegenwärtiger Kunst (Die reine Sachlichkeit) oder besonderen Eigenschaften (des) gesellschaftlichen Lebens (Methodik der Massen­ beherrschung teils durch rationelle Organisation, teils durch fabrikmäßige Vervielfältigung; Die statistische Methode e in Charakterzug unserer Zeit usw.) behauptet. Vgl. DT, S. 324. „[…] ein solcher – eher künstlerischer und literarischer als wissenschaftlicher Ansatz, der von den Autoren hauptsächlich verfolgt wird und der auf einem intuitiven Erfühlen von Gemeinsamkeiten und Zusammenhängen beruht (Schrödinger: glatte Flächen in der Architektur – leere, unausgefüllte Bereiche in der Wissenschaft; Bilikiewicz: Kampf zwischen Verstand und Gefühl im Leben – Kampf des Mechanismus mit dem Vitalismus in der Wissenschaft […] eigne sich noch nicht für die Forschung. Zu viel Literarisches und Beliebiges ist darin: Aus einem schönen Text herausgerissene Sätze überzeugen, kalt betrachtet, nieman­ den“ (DT, S. 330). Was Fleck missfällt ist also gerade das Übertragen von allge­ meinen Epochenbegriffen auf die Wissenschaftsgeschichte sowie das mit diesem Übertragen einhergehende intuitive Erschauen von Gemeinsamkeiten. Die Historiker überschätzten, so Fleck, sowohl „die Bedeutung der einzelnen Epochen“ als auch „die aus der historischen Perspektive erblickten Gemeinsamkeiten“, dies fällt um so leichter, weil man eine Epoche anhand einiger repräsentativer Indivi­ duen definiert. Weit realer bewerten wir die Geschichte des Geisteslebens, wenn wir einzelne Denkgemeinschaften und ihre Entwicklung, Wechselwirkung, Gegenwirkung und Mitwirkung durch die Epochen untersuchen. Die gegenwärtige Wissenschaft sei auf vielen Gebieten eine bereits veraltete Synthese oder ein ungelöster Autorenstreit. Sie wird nicht transparenter, sondern uneinheitlicher und verwickelter, wobei sich dieser Prozess nach unbekannten Gesetzen vollzöge, es sei daher ‚leichter sich im Wald zu orientieren‘ als in der Botanik“ (DT, S. 333).

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fens beziehe (DT, S. 342).53 Die Konsequenz sei, „dass es unmöglich ist, ein allgemeines Wahrheitskriterium festzulegen“. Daraus resultiere „ein unbe­ zweifelbarer kognitiver Relativismus, der verschiedenen Bildern der Wirk­ lichkeit, die aus unterschiedlichen Denkstilen erwuchsen, die gleiche Wich­ tigkeit zugesteht – sogar dann, wenn diese Bilder widersprüchlich sind“ (ebd.). Bilikiewicz verbreitet sich dann über charakteristische Stil­Muster, die sich in diversen Kulturbereichen ähnlich manifestieren, und erklärt, dass es Staffelungen gebe, wie z. B. Chopins Stil, der mit einem polnischen, dieser mit einem slawischen und der wieder mit einem europäischen Stil zusammen­ stimme. Er habe zeigen wollen, dass „das Schaffen auf den anderen Gebieten, die der ästhetisierende Gedanke scheinbar nicht erreicht, auch nach einem bestimmten Stil gestaltet wird […] den wir aus der Kunst kennen“. Er habe daher die Herrschaft des Stils „in Form von Mode, […] in den wissenschaftli­ chen Theorien, Hypothesen, Forschungsinteressen auf dem Gebiet der Em­ bryologie aufzuzeigen“ (DT, S. 344) versucht. Nicht wenige Fleckforscher würden wohl meinen, hier spräche Fleck, doch dies eben ist ein Vorgehen im Geiste Wölfflins! Hier, bei Bilikiewicz, findet offenbar auf beispielhafte Weise die Übertragung des kunstgeschichtli­ chen Stilkonzeptes statt, das in Bilikiewiczs Augen ein Naturwissenschaftler wie Fleck nicht recht verstehen könne. Und in diese Traditionslinie wären auch manche spätere Epistemologen zu stellen, die den Stilbegriff auf die Wis­ senschaften anwenden, wie z. B. Crombie, Feyerabend oder Hacking. Bilikiewicz kanzelt Fleck nun ab, dessen Ausführungen seien „nicht humanistischer, sondern philosophisch­naturwissenschaftlicher Natur“. Als Historiker bliebe Fleck Dilettant, der „in keinem Augenblick aufhört, ein Na­ turwissenschaftler zu sein“. Schaffen im Bereich der Wissenschaft sei eben kein Schaffen, „sondern nur und ausschließlich ein Nachschaffen […] zwi­ schen der Kultur und der ‚Natur‘ bliebe eine unüberwindliche Kluft“ (DT, S. 348).54 53

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Bilikiewicz meint hier, Flecks „‚Stil‘ [bedeute] soviel wie eine Einstellung, ein Standpunkt, eine Erkenntnisdisposition, eine Denkbereitschaft, – dies alles wird dank erworbener Kenntnisse und neu geschaffener Begriffe hervorgebracht und ermöglicht. Bei einem solchen Inhalt und einem solchem Umfang des Stilbegriffs können wir erst verstehen, warum für Fleck die Theorie des Erkennens einfach eine Wissenschaft über die Denkstile und ihre historische sowie soziologische Entwicklung ist.“ (DT, S. 342). Bilikiewicz führt aus: „Im Bereich der Kultur, z. B. der Kunst, ‚darf‘ man straflos, ohne jegliche Kontrolle seitens der Wirklichkeit schöpferisch tätig sein, man darf sich irren. Nur Theorien, Vermutungen, Formulierungen, Konstruktionen und Hypothesen können veränderlich sein und scheinen manchmal, sogar wenn zwi­ schen ihnen Widersprüche auftreten, angesichts eines vermeintlichen wirklichen Sachverhalts gleich wichtig zu sein. Haben widersprüchliche Theorien, die neben­

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Die Kontroverse läuft unter umgekehrten Vorzeichen als in den späte­ ren science wars. Der Historiker pocht hier noch auf die Härte der Tatsachen, der Naturwissenschaftler löst sie historisch und erkenntnistheoretisch auf. Fleck jedoch gibt sich nicht geschlagen. Zunächst weist er den Meta­ physikvorwurf zurück, ontologische Aussagen hält er überhaupt für sinnlos (DT, S. 353). Aus der Theorie der Denkstile resultiere deshalb „auch kein ko­ gnitiver Relativismus“. „Die Wahrheit“ als eine aktuelle Etappe der Denkstil­ umwandlung ist immer nur die eine: Sie ist durch den Stil restlos determi­ niert. Die Verschiedenheit der Wirklichkeitsbilder ist einfach eine Folge der Verschiedenheit der Erkenntnisobjekte in verschiedenen Denkstilen. „Ich be­ haupte nicht“, so Fleck weiter, „dass ‚dieselbe Aussage‘ für A wahr, für B da­ gegen unwahr sein kann. Wenn A und B die Teilnehmer des gleichen Stils sind, ist die Aussage für beide entweder wahr oder falsch. Wenn sie unter­ schiedliche Denkstile besitzen, gibt es dann eben keine ‚dieselbe Aussage‘, denn für einen von ihnen ist dann die Aussage des Anderen unverständlich oder sie wird von ihm anders verstanden (DT, S. 354)“. Was ich früher bereits für Flecks vergleichende Erkenntnistheorie fest­ gestellt habe,55 gilt auch für Flecks Epistemologie des Stils, sie ist nicht relati­ vistisch sondern relationistisch. Sätze, die in einem Stil zweifelsfreie Tatsa­ chen ausdrückten, blieben daher für andere Stile ohne Sinn. Fleck führt als Exempla für Fremdheit Zahlbegriffe in außereuropäischen Denkstilen an, Beispiele, wie man sie von Whorf und Sapir, aber auch von Malinowski, Levy­ Bruhl, Cushing und Radcliffe­Brown kennt, etwa dass manche Stämme keine

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einander oder nacheinander aus verschiedenen Denkstilen erblühten, die gleiche Wichtigkeit, so ist dies immer nur ein Ausdruck der Unzulänglichkeit des mensch­ lichen Erkenntnisvermögens Ich muss jedoch betonen, dass es ja sowohl in Joëls, Wölf[f]lins wie auch in meinen Untersuchungen um historische Studien ging. Wenn die Konzeptionen dieser Art einen Eindruck machen, eher künstlerisch, literarisch, intuitiv und subjektiv als wissenschaftlich aufgefasst zu sein, kommt das nur daher, dass wir uns in einem Gebiet mit außergewöhnlich schwer feststell­ baren Tatsachen bewegen. Das Erfassen der Beziehungen, die zwischen den einzelnen Gebilden ein und desselben Stils stattfinden, ist keineswegs so einfach, wie dies aus manchen Bemerkungen Flecks hervorzugehen scheint. Es kann z. B. keine Rede davon sein, in die historische Forschung dieses Typs eine solche Exakt­ heit einzuführen, die die ‚besonderen Gesetze der Soziologie des Denkens und der Denkentwicklung‘ unbedingt verlangen würden. Die Ähnlichkeit verschiedener Gebilde des gleichen Stils resultiert aus unglaublich komplizierten psychologischen Prozessen. Wir können zwar annehmen, dass diese Prozesse nach gewissen exakten Gesetzen ablaufen, in denen das soziologische Moment eine beachtliche Rolle spielt. Doch von einer solchen Annahme bis zum Entdecken der Ursachen und Mechanismen der gegenseitigen Beeinflussung der Menschen, ist es noch sehr weit“ (DT, S. 348). Vgl. Zittel: Die Entstehung und Entwicklung von Ludwik Flecks vergleichender ‚Erkenntnistheorie‘ (wie Anm. 49).

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„allgemeine Bezeichnung ‚Pferd‘ haben, sondern dutzende Bezeichnungen für verschiedene Pferde“ (DT; S. 356). Offenbar im Bestreben, nicht als Na­ turwissenschaftler weiter abgekanzelt zu werden, begeht Fleck hier den stra­ tegischen Fehler, keine Beispiele aus der Laborpraxis anzuführen, sondern nur solche, die Denkstildifferenzen anhand von Unterschieden in Grammatik und Wortschatz verdeutlichen. Was indes das Verhältnis der Wissenschaft zu der Kunst betrifft, sei der Unterschied zwischen Nachschaffen und Schaffen „nur scheinbar“ oder nur ein quantitativer. Ein Forscher transponiere ebenso wie der Künstler seine Erlebnisse in ein traditionelles Material nach traditio­ nellen Methoden, nur seien „seine Methoden und sein Material noch mehr mit einer spezifischen (wissenschaftlichen) Tradition verbunden“, die die Zei­ chen und ihre Verwendungsweise detaillierter festgelegt hat. Das Kollektiv der Wissenschaft […] besitze lediglich eine viel größere soziale Dichte als das Kollektiv der Kunst. Die Widerstände, die den Forscher in seinem freien Schaffen hemmen, jener „harte Boden der Wirklichkeit“, den er während sei­ ner Arbeit spürt, resultieren Fleck zufolge aus dieser großen Dichte und nicht aus einer ominösen Natur selbst (DT, S. 358).56 Je herausragender die Position eines Forschers ist, je weniger Kollektive ihn umgeben, desto mehr gleicht sich sein Schaffen dem künstlerischen Schaffen an. Das wissenschaftliche Schaffen ist selbstverständlich nie individuell frei, weil es an andere Wissen­ schaftsgebiete anknüpft; es bedarf der Erziehung und der Ausbildung, d. h. es knüpft auch an die Wissenschaftsgeschichte an. Zusammenfassend kann nun Flecks Position schärfer konturiert wer­ den. 1. Intuitiv erschaute Analogien zwischen Denkstilen weist er zurück, hier werde Ungleiches gleichgesetzt. Für Fleck gibt es keine allgemeinen Dis­ kursregeln, die alle Bereiche der Kultur und Gesellschaft gleichzeitig organi­ sieren. Seine vergleichende Denkstilforschung zielt darauf ab, die Besonder­ heiten einzelner Denkstile hervorzuheben und die Differenzen zu anderen Denkstilen zu beschreiben, und nicht darauf, eine allgemeine Metatheorie aufzustellen für Denkstile oder Ordnungen der Dinge einer Epoche. Solche Großthesen nivellieren gerade die Besonderheiten und es bliebe aus Flecks Sicht z. B. schleierhaft, aufgrund welcher strukturbildender Prinzipien alle 56

Bilikiewicz geht in einer knappen letzten Antwort auf Flecks Argumente nicht mehr ein, sondern er bekräftigt nur nocheinmal seine eigene Sicht. Man kann Bilikiewicz nicht dafür verantwortlich machen, dass die Rezeption von Flecks Werk gleich darauf abriss, doch dass auch nach dem 2. Weltkrieg das wissen­ schaftstheoretische Werk Flecks in Polen nahezu vollständig ignoriert wurde und es auch heute noch weitgehend unbekannt ist, hängt gewiss auch damit zusammen, dass so einflussreiche Historiker wie Bilikiewicz und überhaupt das philosophische Establishment die Reserven dem philosophierenden Mikrobiologen gegenüber nie aufgaben.

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Menschen der Renaissance nach Ähnlichkeiten denken sollten und im Zeital­ ter der klassische Episteme repräsentational? Denkstile der Wissenschaft und der Kunst sind vergleichbar, beide bestehen aus Relationsnetzen, das der Wis­ senschaft ist nur enger geknüpft, beide schaffen sich ihre Wirklichkeiten, und in diesem Sinne kann Wissenschaft als Kunst begriffen werden. Denkstile haben keinen logisch systematischen Aufbau, man kann sie also nicht rational rekonstruieren, korrigieren, vervollständigen. Sie sind auch keine Weltan­ schauungen, sondern Motoren der Weltanschauungsproduktion (vgl. DT, S. 416).

Fle c k s St i l Wie gesehen, ist Flecks Denkstilkonzept aus einer ganz spezifischen kollekti­ ven Praxis heraus entstanden, die dieses wiederum ebenfalls auf spezifische Weise prägt und einfärbt. Offenbar passt sich Flecks Stilbegriff der ärztlichen Praxis an und wird selbst stilgemäß ins Naturalistische transformiert. Anders formuliert: aus Flecks spezifischer medizinischer Praxis schält sich ein mit besonderen Metaphern und Bildern gesättigter Stilbegriff heraus. Fleck nennt den Stil einen Organismus, der sich logischer Analyse prinzipiell entziehe, und ein Denkkollektiv seinen Träger (DT, S. 287). Ein Denkkollektiv trägt also einen Stil, ganz so als ob es einen Erreger trage. Einen Organismus wieder­ um, das stellt er an anderer Stelle klar, dürfe man aus Sicht der Physiologie heute nicht mehr als in sich abgeschlossene, selbständige Einheit mit fixen Grenzen“ verstehen (EET, S. 82), sondern als harmonische Lebenseinheit ver­ schiedener Organismen, die eine Art Staat bilden. Die alten Vorstellungen der Immunologie, die mit den Kampf­Bildern des Eindringens von Fremdkörpern und ihrer Abwehr durch Antikörper operieren, passten nicht zum fortge­ schrittenen medizinischen Denkstil, der den Körper als kollektive Lebens­ form erkennt, in dem immer eine Vielzahl an Migranten leben. Man sollte bei einer Erkrankung eher „von einer Revolution innerhalb einer komplexen Le­ benseinheit“ sprechen (EET, S. 82). Entsprechend beschreibt Fleck Wandlungen des Denkstils als ihnen immanente organische Veränderungen. „Wissenschaften […] wachsen wie le­ bende Organismen“ (DT, S. 370). Urideen fungieren als „Keime“, aus denen sich dann Gedankenlinien entwickeln, deren Evolution durch Begriffs­Muta­ tionen57 (EET, S. 38) voranschreitet. Kulturen veränderten sich wie sich vari­ 57

„Die Umwandlung der Physik und ihres Denkstiles durch Relativitätstheorie [… gleicht] solchen Mutationen. Mit einem Male wurde uns unklar, was Art, was Individuum sein soll, wie breit der Begriff des Lebenscyklus zu fassen sei. Was noch vor einigen Jahren als Naturerscheinung galt, erscheint uns heute als

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ierende Bakterienkulturen während Zeiten der Unruhe (DT, S. 134, 229–232, 330). Überhaupt komme es in einzelnen Forschungsfeldern, etwa bei der Un­ tersuchung von Diphteriebazillen, zu einer „Evolution der Beobachtungen“, mit der sich dann gleichzeitig „eine parallele Evolution der Begriffe“ vollzie­ he, durch die so etwas wie ein Diphteriebazillus erst entstehe (DT, S. 226). Flecks Beobachtungen des Streptokokkus „wuchsen auf dieser psychologi­ schen Grundlage“ (EET, S. 116) Begriffe haben ein „stilbedingte Aura“ (DT, S. 331), (– auch Aura ist ein medizinischer Fachterminus für ein subjektives Wahrnehmungsfeld). Da ein Mensch verschiedenen Kollektiven zugleich an­ gehört, sei er (jetzt kommen Begriffe aus der Seuchenhygiene) „Träger der Einflüsse eines Kollektivs auf das andere“, in ihm kreuzen sich also sonst von­ einander „sorgfältig isolierte“ Denkkollektive, wodurch Elemente von einem zum anderen Stil „übertragen“ werden, wo sie sich assimilieren oder für Ver­ änderungen sorgen, analog zu einer Infektion (DT, S. 289). Denkstile zirkulieren, – die omnipräsente Kreislaufmetaphorik ent­ lehnt Fleck ebenfalls der Medizin. Wenn Fleck Beispiele für Denkstile an­ führt, so nennt er dies „Proben anschauen“ (EET, S. 166). Diese werden wie die Laborprobe unter dem Mikroskop so lange hin und her gewendet, bis eine stilisierte Gestalt erscheint. Der kulturelle Vorteil der vergleichenden Denk­ stilforschung sei, dass man durch sie vermeide, als „verbohrter Fanatiker des eigenen Stils“ andere Stile zu bekämpfen, da man die Mechanismen der Stil­ propaganda durchschaue und sich so gegen diese „immunisiert“ (DT, S. 301).

Verg le ic he nde D e n k st i l for s c hu ng Abschließend möchte ich rasch noch auf die Frage zurückkommen, welche Folgen es hat, wenn der Stilbegriff in die naturwissenschaftliche Erkenntnis­ theorie Einzug hält. Zieht Flecks Denkstillehre klassische antirelativistische Einwände nach sich, wie z. B.: dass er mit seiner vergleichenden Denkstilfor­ schung den Anspruch erhebe, fremde und vergangene Denkstile adäquat re­ konstruieren und verstehen zu können und muss er dazu nicht eine basale universelle Rationalität implizit voraussetzen?58 Bei genauerer Betrachtung wird indes deutlich, dass Flecks verglei­ chende Denkstilforschung nicht auf eine Typologisierung unterschiedlicher Denkstile aus ist, sondern diejenigen Denkzwänge transparent machen will,

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Komplex von Artefakten. Wir werden bald nicht aussagen können, ob die […] Lehre richtig oder unrichtig sei: aus der Unklarheit heutiger Situation werden neue Begriffe […] entstehen“ (EET, S. 38). Vgl. dazu ausführlich: Zittel: Die Entstehung und Entwicklung von Ludwik Flecks vergleichender ‚Erkenntnistheorie‘ (wie Anm. 49).

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aufgrund derer die Mitglieder eines anderen Denkstils Ansichten für evident halten, die einem selbst als unsinnig vorkommen. Flecks Vergleichen ver­ schiedener Standpunkte zielt nicht auf ein objektives oder synthetisches Ge­ samtbild, sondern führt zu einem Nebeneinander von widersprechenden, nicht zusammenstimmenden Bildern, ähnlich wie man es anhand der Strep­ tokokkenbilder sehen konnte. Klecksographien der Geschichte. In Flecks Augen gibt es daher keine besseren oder schlechteren episte­ mischen Kontexte, um diese Unterscheidung vornehmen zu können, müsste man in der Tat eine basale universale Rationalität unterstellen, diese gebe es nur qua Verabsolutierung des Wissensideals und der Basisintuitionen eines partikularen Denkstils. Für Fleck wäre dies ein Beispiel von Denkstilfanatis­ mus. Nun haben wir gesehen, dass nach Fleck ein Denkstil auch in den Na­ turwissenschaften, einem Kunstwerk vergleichbar, von außerlogischen Fak­ toren mitkonstitutiert ist. Nicht­propositional fassbare Komponenten wie Färbung und Aura eines Begriffs, Atmosphäre, Fühlen, Stimmung und Ge­ staltsehen sind denkstilformierende Faktoren und durch den so konstitiuerten Stil wird kollektiver Zwang ausgeübt. Dadurch werden die jeweiligen Denk­ stile tatsächlich untereinander inkommensurabel und die Verstehensmög­ lichkeiten entweder stark eingeschränkt oder gar dispensiert. Fleck will aber gerade mit seiner Denkstiltheorie erklären, warum Menschen sich verständi­ gen und nicht verstehen. Er interessiert sich nicht für die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens, sondern für die Bedingungen der Wirklichkeit des permanenten Missverstehens. Fleck selbst meint, man könne nur vermu­ ten, wie ein anderer Denkstil organisiert ist, und erhebt keinen Verstehensan­ spruch, sondern will lediglich heuristische Modelle anbieten, die es erlauben, fremde Denkstile nicht nur als Kuriosa zu sehen oder so systematisch zu re­ konstruieren, dass von ihnen nichts mehr übrig bleibt, sondern sie in ihrer Besonderheit zu erfassen. Folglich sei nicht die Aufgabe zu überlegen, wie man alte Begriffe in moderne Terminologie übersetzt, sondern wie man ein Gefühl für die Färbungen und Stimmungen fremder Begriffe eines anderen Denkstils bekommt.59 Da wir aber nicht die Teilnehmerperspektive, sondern nur eine Beobachterperspektive zu den fremden Denkstilen einnehmen kön­ nen, wird dies nie vollkommen gelingen. Kurzum, es geht darum, sich auf die Fremdheit anderer Denkstile einzulassen und zu versuchen, die Gründe für 59

„Die Stil­bedingte Aura von Begriffen unterliegt dem Wandel, ihr folgen die Veränderungen der Anschauungen. Daher muss man zuerst die Aura der Begriffe untersuchen, ihre Stilfärbung, die sich im sprachlichen Gebrauch beim Verwenden bestimmter Worte, insbesondere ihrer metaphorischen Verwendung, widerspiegelt. Dies erst eröffnet den Weg zum Erforschen eines Denkstils in einer gegebenen Epoche“ (DT, S. 331).

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FLECK UND DER STILBEGRIFF IN DEN NATURWISSENSCHAF TEN

ihre unaufhebbare Fremdheit anzugeben. In den Worten Flecks: „Wer vor et­ was Neuem steht, etwa einem futuristischen Bild, fremdartiger Landschaft, oder auch zum ersten Male vor dem Mikroskop, ‚weiss nicht was er sehen soll‘. Er sucht nach Ähnlichkeiten mit dem Bekannten, übersieht eben das Neue, Unvergleichliche, Spezifische. Auch er muss erst sehen lernen.“ (DT, S. 53).

Bild 1

David Parkins, Nature, Nr. 459 (June 2009), Titelseite.

Horst Bredekamp

I N DER T I EF E DI E K Ü NST L IC H K EI T Das Prinzip der bildaktiven Disjunktion

H i nab z u den Müt ter n Im Juni des Jahres 2009 widmete sich die Zeitschrift Nature den jüngsten Entwicklungen der Mikroskopie.1 Das eindrucksvolle Titelblatt zeigt ein Auge, das in den nach rechts unten gerichteten Tubus eines Mikroskops blickt (Bild 1). Die weite Öffnung des Sehorgans scheint anzudeuten, dass der Blick durch das Instrument Perplexion, wenn nicht Entsetzen, in jedem Fall aber ein Gebannt-Sein erzeugt. Dieser emotiven Botschaft widerspricht die neutrale, aller Visuskritik Hohn sprechenden Sicherheit des Titels: SEEING IS ACHIEVING, SEHEN IST ERLANGEN. Durch das Versprechen von New miracles, Neuer Wunder, aber verbündet sich der Untertitel mit dem Auge, dessen glitzernde Sterne offenbar diese Wunder reflektieren. In seiner Widersprüchlichkeit ist das Titelblatt ein Meisterwerk des Designs. Der zugehörige Leitartikel schlägt einen großen Bogen von Robert Hookes Micrographia bis hin zu jüngsten Verfahren der Elektronenmikroskopie, um mit seiner Quintessenz dem Titel eklatant zu widersprechen: „Je tiefer immer die nicht-optischen Mikroskope in die einstmals unsichtbare Welt dringen, umso mehr werden die Betrachter von der Wirklichkeit entfernt.“2 Das hier angesprochene Grundproblem ist keineswegs neu.3 Johann Wolfgang von Goethe hat ihm im Faust II eine unnachahmliche Szene gewidmet. Mephisto ist nicht leicht zu erschüttern, aber er berichtet schaudernd, dass Faust tief hinab ins Innere der Erde müsse, „zu den Müttern“. Mächtiger 1 2 3

David Parkins, in: Nature, Nr. 459 (June 2009), Titelseite. „As non-optical microscopes probe ever deeper into the once invisible world, viewers are further and further removed from reality.“ Patricia Fara: A microscopic reality tale, in: Nature, Nr. 459 (June 2009), S. 642–644, hier: 644. Vgl. die Kritik des Repräsentationsbegriffs durch Ian Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart 1996, S. 223–246.

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als der Teufel hausen sie „im tiefsten, allertiefsten Grund“, „umschwebt von Bildern aller Kreatur“.4 Vor nichts graust Mephisto mehr.5 Hinab geht es seit gut vier Jahrhunderten mit Hilfe der Mikroskopie. Was diese zu finden vermochte, bewegt sich bis heute auf der Grenze zwischen Grauen und Erhabenheit. Schaudernd schreckt der Mensch vor dem Innenleben des Organischen zurück, und gebannt begegnet er der Größe des Allerkleinsten. Dieser Pendelschlag ist das Produkt dessen, dass er kontinuierlich bezweifelt, was er sieht. Denn je tiefer er dringt, desto fremder wird ihm, was er erkennt, weil mit diesem Vorstoß die autonomen Aktivitäten der Bilder wachsen. Goethes „Mütter“, groß und grauenhaft in ihrer Macht, werden von den Bildern der Wesen und Dinge proteushaft umgeben. Es ist die Zwittersphäre von Natur und Bild, die im Leitartikel von Nature als Problemzone benannt wird. In ihr, wie im Folgenden zu zeigen versucht wird, wird die Forschung bildaktiv gesteuert.

Feder ico Cesis Bienen Die Geschichte der Erkundung der Welt des Kleinsten ist in ihren Ursprüngen ebenso dunkel wie die des Teleskops. Gesichert ist, dass das Mikroskop bereits kurz nach 1600 in der römischen Accademia dei Lincei, der „Akademie der Luchse“, eingesetzt wurde. Die Forschungen konzentrierten sich auf die Biene, weil dieses Insekt zum Wappen Papst Urbans VIII. gehörte. Die erste Wiedergabe dessen, was durch ein Mikroskop zu erkennen war, erfolgte durch einen Kupferstich des deutschen Stechers Matthias Greuter, auf dem drei Bienen von zwei päpstlichen Lorbeerzweigen und einem Lobgedicht gerahmt werden (Bild 2). Es wurde dem Papst vor Weihnachten des Jahres 1625 von der Accademia dei Lincei als Geschenk übergeben.6 Nicht ohne Stolz wurde das vergrößerte päpstliche Wappentier im Jahre 1630 in einem Stich festgehalten, der das Insekt von unten, von der Seite und von oben sowie auch seine einzelnen Gliedmaßen zeigt (Bild 3).7 Durch seine erstmalige Darstellung einzelner Gliedmaßen handelt es sich um eine der spektakulärsten Darstellungen der

4 5 6 7

Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Eine Tragödie, Der Tragödie Zweiter Teil, 1. Akt, 6284–6289, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Ernst Beutler, München/Zürich 1977, Bd. 5, S. 340. Ebd. Verse 6264–6265, S. 339 f. Enrica Schettini Piazza: Katalog Nr. 303, in: Barock im Vatikan. Kunst und Kultur im Rom der Päpste II. 1572–1676, hg. v. d. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Leipzig 2005, S. 470 f. Francesco Stelluti: Persio, tradotto in verso sciolto e dichiarato, Rom 1630, S. 52.

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Bild 2 Matthias Greuter: Durch das Mikroskop betrachtete Bienen, 1625, Kupferstich, Drucker: Giacomo Mascardi.

Bild 3 Matthäus Greuter nach einer Zeichnung von Francesco Fontana: Kupferstich, in: Stelluti, Persio tradotto, 1630, S. 52.

Mikroskopiegeschichte.8 Als Galilei seine antijesuitische Kampfschrift Saggiatore veröffentlichte, widmeten die Luchse dieses Werk dem neu gewählten Papst, auf den sie all ihre Hoffnung setzten.9 Das erste Objekt der systematischen Mikroskopie war das Wappentier des Papstes, weil die Forschungen darauf abzielten, Urban VIII. zum Bienenkönig der neuen Naturwissenschaften zu machen.

8 9

David Freedberg: The Eye of the Lynx. Galileo, his Friends, and the Beginnings of Modern Natural History, Chicago/London 2002, S. 190 f. Galileo Galilei: Il Saggiatore, Rom 1623, Titelseite. Vgl. hierzu: Freedberg: The Eye of the Lynx (wie Anm. 8), S. 151–194; vgl. Horst Bredekamp: Luchse, Bienen und Delphine: Galilei in Rom. Galileis Reise von 1611, in: Barock im Vatikan. Kunst und Kultur im Rom der Päpste II. 1572–1676, hg. v. d. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Leipzig 2005, S. 449–461, und Volker Remmert: Widmung, Welterklärung und Wissenschaftslegitimierung. Titelbilder und ihre Funktionen in der Wissenschaftlichen Revolution, Wiesbaden 2005, S. 63 f.

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Bild 4 Anonym nach Zeichnung von Robert Hooke: Stachel der Biene, 1665, Radierung.

Rober t Hookes A l koholtropfen Die weiteren Bildprägungen der Mikroskopie kamen aus der ungeteilten Fülle der Welt des Kleinsten, ohne dass es höfische Vorgaben gegeben hätte.10 Als Robert Hooke im Jahr 1665 die Micrographia veröffentlichte, zeigte auch er überwiegend stark vergrößerte Darstellungen kleiner und kleinster Insekten sowie deren Teilorgane, die von einem unbekannten Stecher nach seinen Zeichnungen radiert wurden.11 Im Vergleich zu der im Jahre 1630 publizier10

11

Zur Geschichte der Mikroskopie: Svetlana Alpers: The Art of Describing. Dutch Art in the Seventeenth Century, Chicago 1983, S. 73 ff.; Engelhard Weigl: Instrumente der Neuzeit. Die Entdeckung der modernen Wirklichkeit, Stuttgart 1990; Catherine Wilson: The Invisible World. Early Modern Philosophy and the Invention of the Microscope, Princeton 1995; Joachim Rienitz: Historisch-physikalische Entwicklungslinien optischer Instrumente. Von der Magie zur Partiellen Kohärenz, Tübingen 1999; Jutta Schickore: The microscope and the eye: A history of reflections, 1740–1870, Chicago 2007. Zu Hooke: Rob Iliffe: Material doubts: Hooke, artisan culture and the exchange of information in 1670s London, in: The British Journal of the History of Science, Bd. 28 (1995), S. 285–318; Horst Bredekamp: Die Erkenntniskraft der Linie bei Galilei, Hobbes und Hooke, in: RE-VISIONEN. Zur Aktualität von Kunstgeschichte, hg. v. Barbara Hüttel/Richard Hüttel/Jeanette Kohl, Berlin 2002, S. 145–160; Jim Ben-

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Bild 5 Anonym nach Zeichnung von Robert Hooke: Laus, 1665, Radierung.

Bild 6 Anonym nach Zeichnung von Robert Hooke: Ameise, 1665, Radierung.

ten Anatomie der Biene bedeutet Hookes Hervorhebung des Bienenstachels erneut einen markanten Einschnitt (Bild 4).12 Das Mikroskop lieferte den Zeitgenossen den Beweis, dass diese „kleinen widerlichen Lebewesen wie Fliegen und Motten, die wir gebrandmarkt haben mit verächtlichen Namen, indem wir sie als Ungeziefer bezeichnen, ebenso gestaltet sind wie größere und bemerkenswerte Lebewesen wie zum Beispiel Vögel“.13 Hieraus ergab sich für Hooke der Zwang zur akkuraten Wiedergabe von zuvor als unwürdig erachteten Lebewesen wie etwa der Laus (Bild 5). Idealiter sollten die Darstellungen restlos mit dem Objekt zusam-

12 13

nett/Michael Cooper/Michael Hunter/Lisa Jardine: London’s Leonardo. The Life and Work of Robert Hooke, London 2003. Robert Hooke: Micrographia: or some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnificant Glasses with Observations and Inquiries thereupon, London 1665, Schem. XVI, S. 162/163. „[…] so that we see that the Wisdom and Providence of the All-wise Creator, is no less shewn in these small despicable creatures, Flies and Moths, which we have branded with a name of ignominy, calling the Vermine, then in those greater and more remarkable animate bodies, Birds.“ Ebd. S. 198.

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menfallen, um dem Schöpfer in seinen „most mysterious designs“ nahezukommen.14 Umso mehr kam es darauf an, die Schwierigkeiten beim Mikroskopieren zu überwinden. Hooke hat beschrieben, dass etwa eine Ameise nicht untersucht werden konnte, weil ihre Beine nur um den Preis stillzustellen waren, dass sie beschädigt wurden (Bild 6).15 Um durch das Mikroskop betrachtet und visualisiert zu werden, musste das Insekt entweder zergliedert oder bewegungslos gemacht werden. Hooke kam daher auf die Idee, einen Tropfen Weingeist auf die Insekten fallen zu lassen, um sie für Stunden zu paralysieren.16 Damit aber wurden sie zu tableaux vivants, wie sie seit dem fünfzehnten Jahrhundert durch Stillstellung menschlicher Körper aufgeführt worden waren.17 Bevor es zum Objekt der Untersuchung werden konnte, musste das Insekt in ein solches Lebendes Bild überführt werden. Wie die lebenden Bilder durch lebendige Körper gebildet wurden, näherte sich auch das Naturobjekt seiner Bildwerdung dadurch an, dass es auf Zeit bewegungslos verharrte.

Der Eigenlauf der Mi k rofotograf ien Hookes Hoffnung auf eine unverstellte Darstellung des Objekts im Bild schien sich mit Erfindung der Fotografie erfüllen zu können. Für Joseph von Gerlach, den Pionier der naturwissenschaftlichen Fotografie, machte die Technik der Mikroaufnahmen den Tiefenblick zu einer Selbstrepräsentation des Objekts. „Das fotografische Bild“, so Gerlach, sei „nicht allein eine Illustration, sondern in erster Linie ein Beweisstück, gewissermaßen ein Dokument […], an dessen Glaubwürdigkeit auch nicht der geringste Zweifel haften darf“.18 Für Gerlach war die Subjektivität des Betrachters durch die Fotografie in eine störungsfreie Selbstdarstellung des Objekts verwandelt. Um die durch das Licht gegebene Vergrößerungsschwelle zu überwinden, hat Gerlach daher nicht die Objekte selbst, sondern deren Fotografien vergrößert. So zeigt die obere Aufnahme eine 4500fache Vergrößerung des Pleurosigma angulatum, während das untere Punktraster dasselbe Präparat in 27000facher Vergröße-

14 15 16 17 18

Hooke: Micrographia (wie Anm. 12), S. 336. Ebd. S. 204/205. Ebd. S. 203. Philine Helas: Lebende Bilder in der italienischen Festkultur des 15. Jahrhunderts, Berlin 1999. Joseph von Gerlach: Die Photographie als Hülfsmittel mikroskopischer Forschung, Leipzig 1863, Einleitung; zit. v.: Dieter Gerlach (Hg.): Die Anfänge der histologischen Färbung und der Mikrophotographie: Joseph von Gerlach als Wegbereiter, Thun/Frankfurt/M. 1998, S. 107.

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Bild 7 Joseph von Gerlach: Durch Vergrößerung hergestellte Mikrofotografien. Unten Vergrößerung der oberen Aufnahme, 8750fache Vergrößerung, 1863.

rung durch wiederholte Neuaufnahme wiedergibt (Bild 7).19 Die Fotografie hatte die Natur ersetzt, und was in den Publikationen als Natur erschien, war das Produkt eines closed circuit von Kunstprodukten.20

5. E lek t ronen m i k roskopie u nd das Sk ulpt ieren des Objekts Aber auch diese Technik blieb an das Licht gebunden, das mit seiner Wellenlänge von 200 Nanometern eine unüberwindbare Schwelle bot. Da das Mikroskop auf dem Einfall des Lichts beruht, konnte die theoretisch kleinste Maßeinheit der Vergrößerung nicht größer sein als die Ausdehnung der Lichtwelle.

19

20

Sigmund Theodor Stein: Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung. Handbuch der Anwendung des Lichtes und der Photographie in der Natur- und Heilkunde, in den graphischen Künsten und dem Baufache, im Kriegwesen und bei der Gerichtspflege, Leipzig 1877, S. 369 f., 467, Taf. X. Vgl. zum Einsatz dieses Verfahrens durch Robert Koch: Horst Bredekamp: Bild, Beschleunigung und das Gebot der Hermeneutik, in: Weltwissen. 300 Jahre Wissenschaften in Berlin. Ausst.Kat., hg. v. Jochen Hennig/Udo Andraschke, München 2010, S. 50–57, hier: S. 52 f. Zu dieser Technik: Olaf Breidbach: Representation of the Microcosm. The Claim for Objectivity in 19th Century Scientific Microphotography, in: Journal of the History of Biology, Nr. 35 (2002), S. 221–250.

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Bild 8 Mit Goldfilm überzogene Fliege, präpariert für die Elektronenmikroskopie, Fotografie, vor 2002.

Als jedoch erkannt worden war, dass die Strahlen der Elektronen ähnliche Eigenschaften wie das Licht, aber eine weitaus geringere Wellenbreite aufweisen, entstand die Idee, mithilfe der Elektronenstrahlung in bislang unbekannte Bereiche der Auflösung vorzustoßen.21 Ernst Ruska hat 1931 in Berlin ein Elektronenmikroskop erfunden, bei dem Strahlen in einer Elektronenkanone in Richtung auf das zu untersuchende Objekt gelenkt werden.22 Innerhalb dieser Kanone können die Elektronenstrahlen durch variable Linsen geformt werden, die eine ähnliche Funktion aufweisen wie die Glaslinsen im Lichtmikroskop.23 Diese äußerst komplizierte Technik benötigt ein Vakuum, damit die Teilchen nicht mit Staubresten und Gasmolekülen kollidieren. Sodann muss das Untersuchungsobjekt fixiert werden, um nicht durch den Strahlenbeschuss aus seiner Lage gebracht zu werden. Vor allem aber, und dies betrifft alle organischen Objekte, müssen die zu untersuchenden Gegenstände elektrisch leitend sein, und sie dürfen kein Wasser aufweisen. Wenn organische Gegen21 22 23

Cyrus C. M. Mody: Crafting the Tools of Knowledge: The Invention, Spread, and Commercialization of Probe Microscope, Diss. an der Cornell University 2004. Bredekamp: Bild, Beschleunigung und das Gebot der Hermeneutik (wie Anm. 19), S. 50–57. Bei dem Rasterelektronenmikroskop wird ein feiner Elektronenstrahl im Rasterverfahren über die Oberfläche des Objekts geschickt. Daneben existiert das Ruhebildmikroskop, bei dem ein breiter, konstanter Elektronenstrahl auf das Objekt gelenkt wird.

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Bild 9 Anonym, Oberitalien: Zwei Eidechsen, 2. Hälfte 16. Jahrhundert, Bronze, Venedig, Museo Correr, Nr. XI, 249.

stände in das Hochvakuum gelegt werden, verdampft ihr inneres Wasser, so dass es zu Schrumpfungen und Verschrumpelungen der Oberfläche kommt, und es muss verhindert werden, dass in ihnen enthaltenes Wasser entweichen kann.24 Bevor die Objekte bestrahlt werden, wird ihnen daher eine feine Schicht aus Gold oder Kohlenstoff aufgestäubt, um diesen Prozess zu verhindern (Bild 8). Mit dieser Vergoldung aber werden die Untersuchungsgegenstände zu Produkten der Goldschmiedekunst, noch bevor sie zum Objekt der Mikroskopie gemacht werden. Auf ähnliche Weise wurden im 16. Jahrhundert täuschend naturechte Bronzegüsse gefertigt, bei denen die Tiere durch Gift paralysiert, dann in besonders lebendige Stellungen gebracht, betäubt, durch Bronze übergossen und ausgebrannt wurden (Bild 9).25 Während die zu untersuchenden Lebewesen durch Hooke in Lebende Bilder verwandelt wurden, bevor sie unter das Mikroskop gelangten, werden sie für die Elektronenmikroskopie nach dem Modell manieristischer Bronzegüsse in Skulpturen verwandelt, um unter dem Strahlenbeschuss der Vakuumkanone bestehen zu können. Ihre Bezeichnung als Artefakte verdeutlicht ihre Differenz zu natür24 25

Zu den Komplikationen dieses Vorganges: Olaf Breidbach: Schattenbilder: Zur elektronenmikroskopischen Photographie in den Biowissenschaften, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 28 (2005), S. 160–171, S. 162, S. 167. Herbert Beck/Peter C. Bol (Hg.): Natur und Antike in der Renaissance, Ausst.-Kat., Frankfurt/M. 1985, Kat. Nr. 275, S. 542; vgl. allgemein: Andrea Klier: Fixierte Natur. Naturabguß und Effigies im 16. Jahrhundert, Berlin 2004.

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Bild 10

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Schamlaus auf einem Haar, Kalender, Firma Eye of Science, 2002, Fotografie.

lichen Organismen. Bevor diese untersucht werden, transmutieren sie in Präparate.26 Die Artefakte bilden in ihrer Künstlichkeit insofern eine neue Gattung, als ihre Bildwerdung zum Überleben als imago führt. Hier zeigt sich in seiner elementaren Geltung, was als Prinzip der Disjunktion bezeichnet werden kann. Dieses beruht darauf, dass die zu Artefakten gestalteten Organismen umso natürlicher wirken, je stärker sie künstlich geprägt wurden.27 Dies zeigt sich etwa bei einer präparierten und mit Metall überdampften Schamlaus, die auf zwei Haare gesetzt wurde, als würde sie diese zur Fortbewegung nutzen (Bild 10).28 Hierin hat sie nicht nur in Hookes Micrographia, sondern 26 27 28

Wenn ein Objekt zum Artefakt geworden ist, müssen die Messergebnisse rückgerechnet werden, um das natürliche Objekt zu erreichen. Dies ist ein höchst komplizierter, nur annäherungsweise zum Erfolg führender Vorgang. Horst Bredekamp/Angela Fischel/Birgit Schneider/Gabriele Werner: Bildwelten des Wissens, in: Bilder in Prozessen. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. I (2003), Nr. 1, S. 9–20, S. 15. Stefan Ditzen: Etappen einer Bildgeschichte des Mikroskops. An der Grenze des Sichtbaren, Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2002, S. 84.

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Bild 11 Serie von Darstellungen der Laus, zusammengestellt von Stefan Ditzen.

auch in Johann Jakob Scheuchzers Physica sacra (Bild 11) Vorfahren.29 Diese Tradition der Bilder lässt erkennen, bis zu welchem Ausmaß jedes einzelne Bild die Genealogie seiner selbst weitertreibt. Die Evolution der Natur setzt sich dadurch fort, dass im ikonischen Kreis der Artefakte neue Bildgemeinschaften entstehen. Der im Werk Hookes publizierte Fliegenkopf hat seinen ungeheuren Eindruck bis heute bewahrt (Bild 12).30 Wie um das Prinzip in aller Deutlichkeit zu betonen, fügt die Farbgebung ihre psychedelischen Ge-

29

30

Stefan Ditzen: Kunstformen instrumenteller Sichtbarkeit. Etappen einer Bildgeschichte des Mikroskops, Aachen 2008, S. 173, S. 229. Zu den Quellen: Hooke: Micrographia (wie Anm. 12), Schem. XXXV, S. 210 f.; Philippo Bonanni: Observationes circa viventia, que in rebus non viventibus reperiuntur. Cum Micrographia curiosa, Rom 1691, Abb. 55; Louis Joblot: Observations d’histoire naturelle, faites avec le microscope […], Paris 1754, Taf. II; Johann Jakob Scheuchzer: Kupfer-Bibel In welcher die Physica sacra, Oder Geheiligte Natur-Wissenschaft: derer in Heil. Schrift vorkommende Natürlichen Sachen deutlich erklärt und bewährt, Augsburg 1731–35, 1731, Taf. CXXVIII. Hooke: Micrographia (wie Anm. 12), Schem. XXIV, zwischen S. 174/175.

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Bild 12 Anonym nach Zeichnung von Robert Hooke: Kopf der Fliege, 1665, Radierung. Bild 13 Fliegenkopf, vor 2002, Rastermikroskopaufnahme, durch Falschfarben verändert.

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staltungsmöglichkeiten hinzu (Bild 13).31 Das artifiziell als lebendig dargestellte Naturgebilde ist erkennbar in ein Kunstprodukt verwandelt, und fast bedauert man, dass dieses Wesen nur als Bild existiert.

Die Landschaften der Raster t unnel-Mi k roskopie Das Prinzip der Disjunktion gilt stärker noch für die Rastertunnelmikroskopie, die nicht allein mehr Mikroskopie, sondern zugleich auch Modellbildung ist. Ihre komplexe Technik bewegt eine atomfeine Spitze gegen eine Oberfläche, um dort die Spannung des Tunnelstromes zu messen. Dieser kommt zu Stande, wenn ein den Strom nicht leitendes Element so schmal ist, dass dennoch Strom fließt, der extrem empfindlich auf Schwankungen reagiert.32 Das erste von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer gefertigte Modell zeigt eine Reihe von parallel geführten Linien, welche die Spannungsveränderungen bei gleichbleibendem Strom verdeutlichen (Bild 14).33 Die übereinander gelegten Linien schließen sich zu einer scheinbar bewegten Fläche, die in jeweils ondulierenden Wellenformen nach rechts hin zu steigen scheint. Was zu sehen ist, sind nichts als Spannungsschwankungen; worauf sie beruhen, kann zunächst nur angenommen werden. Die in der Grafik gezeigten Linien sind von Binnig und Rohrer dann mit Papier, Pappe und Kleber in ein Papiermodell überführt worden (Bild 15).34 Natürlich besaß diese handwerklich geschaffene Skulptur eine eigene Physis, die untrüglich suggerierte, dass die Tunnelstrommessungen tatsächlich eine Oberfläche erfasst hatten. Vor allem aber war es die durch eine tief gestellte Lampe erreichte Schattenbildung, die den Eindruck von Landschaften verstärkte. Das Bild machte Furore. Das Verfahren wurde durch den Doktoranden Markus Ringger so weit perfektioniert, dass jede Visualisierung mikroskopischer Ergebnisse an perspektivische Darstellungen von Hügeln, Felsen und Schluchten erinnert.35 Auf 31 32

33

34 35

Zur Farbgebung am Beispiel der Medizin: Jochen Hennig: Farbeinsatz in der medizinischen Visualisierung, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 4 (2006), Nr. 1, S. 9–16. Mody: Crafting the Tools of Knowledge (wie Anm. 21), Jochen Hennig: Vom Experiment zur Utopie: Bilder in der Nanotechnologie, in: Instrumente des Sehens. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 2 (2004) Nr. 2, S. 9–18. Jochen Hennig, Bildtradition und Differenz. Visuelle Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft am Beispiel der Rastertunnelmikroskopie, in: Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, hg. v. Horst Bredekamp/Birgit Schneider/Vera Dünkel, Berlin 2008, S. 86–95, hier: S. 89. Ebd. S. 86, Abb. 1. Ebd. S. 90, Abb. 4, 5.

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Bild 14 Gerd Binnig und Heinrich Rohrer: Pseudodreidimensionaler Ausdruck einer rastertunnelmikroskopischen Silizium-Untersuchung, 18. 10. 1982.

Bild 15 Gerd Binnig: Papiermodell einer rastertunnelmikroskopischen Silizium-Untersuchung, 1982.

diese Weise wurde die Rastertunnelmikroskopie als bildgebendes Verfahren verstanden, das die inneren Landschaften der Dinge sichtbar machen würde. Zahllose Simulationen dieser Art bedeckten in den letzten 20 Jahren die Titelbilder von naturwissenschaftlichen Journalen.36 Selbstverständlich gibt es in den Regionen, die durch das Rastertunnelmikroskop erfasst werden, weder Farben noch Schatten, so dass die Darstellungen Fiktionen bieten.37 Hier zeigt 36 37

Ebd. S. 91, Abb. 6. Hennig: Bildtradition und Differenz (wie Anm. 23), S. 89, Abb. 2.

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sich das Disjunktionsprinzip in seiner suggestivsten Form: Je natürlicher das Dargestellte wirkt, desto künstlicher ist es zum Bild der Sache selbst gemacht worden. Indem die Nadelspitze des Rastertunnelmikroskops bei einer Berührung der Atome diese auch zu versetzen vermochte, entstand die Idee, mithilfe des Mikroskops die Gestalt des Analysierten zu verwandeln: „Shaping the World Atom by Atom“. Das Mittel der Analyse ist auf diese Weise zum Akteur der zu analysierenden Sache geworden, und hierin berührt es die Sphäre der synthetischen Biologie.

St i mu lat ionsbi lder Die Stimulated Emission Depletion (STED; Stimulierte Emissions-Absonderung) leistet eine noch tiefer vordringende Form der Mikroskopie. Einer der Vorteile gegenüber dem Elektronenmikroskop liegt darin, dass die Gegenstände nicht in einem Vakuum untersucht werden, so dass Aufnahmen vom lebenden Objekt gemacht werden können (Bild 16).38 Das prekäre Verhältnis

Bild 16 Durch die Stimulated Emission Depletion gewonnene Darstellung eines Neurons.

zwischen Bild und Objekt ist hier nochmals verschärft, weil die Künstlichkeit des Naturobjekts erneut gesteigert wurde. Das Mikroskop arbeitet mit Fluoreszenzfarbstoffen, die in der Lage sind, durch Aufnahme von Photonen mit höherer Energie angeregt zu werden. Wenn sie diese Photonen wieder abstoßen, wird Licht frei, so dass sich eine Fluoreszenz ereignet. Das STED-Verfahren beruht auf der Möglichkeit, 38

Alison Abbott: The glorious Resolution, in: Nature, Nr. 459 (June 2009), S. 638 f., hier: S. 638.

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Bild 17 Die Qualle Hydromeduse Aequorea victoria, Fotografie. Bild 18 Biolumineszenz-Erscheinung der Hydromeduse Aequorea victoria.

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diese Abstrahlung durch willentliche Stimulierung zu steuern, um bis dato unvorstellbar kleine Oberflächen durch Fluoreszenz zu erhalten.39 Das solcherart hergestellte Bild eines Neurons, dessen Tentakeln erstmals in der wiedergegebenen Konkretion sichtbar gemacht wurden, ist in einem der erwähnten Artikel in der Zeitschrift Nature in Anspielung auf die Glorious Revolution als Glorious Resolution beschrieben worden.40 Die Alliteration von Revolution und Resolution verdeutlicht auf sprachgewitzte Weise das verblüffende Phänomen, dass ein diesem Verfahren unterzogenes Objekt längst nicht mehr dasjenige ist, welches untersucht werden sollte. Es ist revolutioniert, um zur resolution werden zu können. Diese Umwälzung liegt in der Verwandlung eines Organismus in das lebende Bild seiner selbst: „Die wunderbare Sache bei dem visuellen Denken liegt darin, dass es so einfach ist, groß zu denken. Und dies ist genau, was Forscher tun sollten, wenn sie sich vorwärts bewegen.“41

8. Die grüne Qualle Welche Suggestivkraft im Verfahren des STED verborgen sein kann, verdeutlicht ein Vorgang, der dieser auf Fluoreszenz basierten Untersuchungsmethode vorausging. Er handelte von der im Nordpazifik beheimateten Qualle Hydromeduse Aequorea victoria. Mit ihren Fangarmen, die mit Nesselzellen ausgestattet sind, vermag sie ihre Beute zu fangen (Bild 17). Sie gehört zu jenen Seetieren, die durch Bioluminesenz im Wasser eine Art von Licht erzeugen (Bild 18). Dieser Effekt war lange unerforscht, bis das Prinzip in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts nachgewiesen werden konnte. Es handelt sich um denselben Vorgang wie bei der STED- Mikroskopie: Durch Stimulierung nimmt ein Teil der Qualle Energie auf, um diese bei der Rückkehr zum ersten Status wieder abzugeben und blaues Licht auszusenden. Dieses Blaulicht wird nun zur Anregungsquelle für das GFP, das Green-Fluorescent-Protein, das sich ebenfalls in dieser Qualle befindet. Es wird durch die Aufnahme des blauen Lichts angeregt, diese Energiezufuhr 39

40 41

Diese Möglichkeit wird genutzt, um kontrastarme Zellbestandteile erkennbar zu machen. Dem zu untersuchenden lebenden Stoff wird ein fluoreszierendes Molekül einverleibt, so dass dieser einen Wirt bekommt, der an Stelle des Objekts selbst die Funktion eines Leuchtfeuers übernimmt. Der Indikator wächst dem zu Indizierenden wie etwa dem Neuron als der kleinsten Einheit des Nervensystems an. Vgl. zu den folgenden Schritten ebd. sowie: Stefan W. Heller und Eva Rittweger, Light from the dark, in: Nature, Nr. 461, 2009, S. 1069 f. Ebd. S. 638. „The wonderful thing about thinking visually is that it is so easy to think big. And that‘s exactly what researchers should do as they move ahead.“ Microscopic Marvels, Editorial s. a., in: Nature, Nr. 459 (June 2009), S. 615.

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HORST BREDEK AMP

fluoreszierend wieder abzustoßen. Durch Energieumwandlung findet in der Qualle eine Verwandlung von blauem in ein hell aufleuchtendes grünes Licht statt. Anfang der 1990er Jahre stellte sich heraus, dass dieses Protein unter UV-Bestrahlung auch in anderen Organismen den gleichen Effekt des Aufleuchtens erbrachte. Damit erhielt das GFB eine ungeheure Bedeutung.42 Diese Meduse, der das Prinzip der Biofluoreszenz so beispielhaft abgewonnen werden konnte, dass es auch in anderen Organismen einsetzbar wurde, erschien als „Grüne Meduse“ auf den Titelblättern von Wissenschaftsjournalen wie Trends in Genetics, um dort jene Farbe anzunehmen, welche sie an sich nur am Rande und dann auch nur in der Phase der Fluoreszenz abgibt.43 In dieser Form erreichte sie eine beträchtliche Berühmtheit als eine Art Ikone des biologisch erzeugten Lichts. Mit ihrer grünen Farbe erhielt sie Kultstatus, obwohl sie in dieser farbigen Form Fiktion ist.44 Damit aber zeigt sie nochmals, dass Organismen, bevor sie zum Objekt der Analyse werden, seit den Zeiten Hookes nicht mehr jene Organismen sind, wie sie in der Natur vorkommen. Vielmehr sind es durchweg veränderte biologische Organismen, welche präpariert worden sind, um den Untersuchungsmitteln angemessen zur Verfügung zu stehen. Keinesfalls sollen die eindrucksvollen Versuche, bislang unsichtbare Formen der Natur sichtbar zu machen, in Frage gestellt werden. Das Beispiel der Hydromeduse Aequorea Victoria, die im selben Jahr Einzug in die molekulare Biologie hielt, als Gottfried Boehm den Iconic turn zu einem der prägnantesten Merkmale der letzten Epoche machte,45 sollte lediglich zeigen, wie genau Goethe die schwebenden Bilder in ihrem Doppelcharakter beschrieben hat. Es geht um die Sensibilisierung für jenes Disjunktionsprinzip der Naturwissenschaft, das ein Beispiel jenes Phänomens darstellt, das wir als Bildakt zu erschließen versuchen. Umso tiefer der Blick in die bislang unbekannten Sphären dringt, desto stärker wird das betrachtete Objekt zum Bild. Die Künstlichkeit besteht darin, dass dieses Objekt von sich aus jenen Bildern entgegenkommt, die doch produziert werden sollen. Das Beispiel der Meduse zeigt auf extreme Weise, dass in der Bilderwelt selbst eine aktive Kraft steckt, welche sich die Natur nach ihrem eigenen Antlitz gestaltet.

42 43 44 45

Hierzu und zum Folgenden: Klaus Schwamborn: Farben als Proteine: Wie aus Bildern neue Organismen werden, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Farbstrategien, Bd. 4 (2006), Nr. 1, S. 17–24. Trends in Genetics. DNA, Differentiation & Development, Bd. 11, 1995, Nr. 6, in: Schwamborn: Farben als Proteine (wie Anm. 42), S. 21, Abb. 5. Ebd. S. 24. Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild? (hg. v.: dems.), München 1994, S. 11–38, hier: S. 21.

Sybille Krämer

D I AG R A M M AT I S C H E I NSK R I P T ION E N: Ü BE R E I N H A N DW E R K DES GE IST ES

„[…] die einfache Linie und ihre Weiterbildung in rein geometrische Gesetzmäßigkeiten musste für den durch Unklarheit und Verworrenheit der Erscheinungen beunruhigten Menschen die größte Beglückungsmöglichkeit bieten.“ (Wilhelm Worringer) „Draw a distinction.“ (George Spencer Brown) „So geschmeidig, so schwerelos und so ungewiß der Strich auch sein mag, er verweist immer auf eine Kraft, eine Richtung; er ist ein energon, eine Arbeit, die die Spur ihres Triebs und ihrer Verausgabung aufzeigt.“ (Roland Barthes) „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen.“ (Immanuel Kant) „Die graphische Linie ist durch ihren Gegensatz zur Fläche bestimmt; dieser Gegensatz hat bei ihr nicht etwa nur visuelle, sondern metaphysische Bedeutung. Es ist nämlich die graphische Linie dem Untergrund zugeordnet […] eine Zeichnung, die ihren Untergrund restlos bedecken würde, (würde) aufhören, eine solche zu sein.“ (Walter Benjamin) „Im Moment der ursprünglichen Bahnung, wo die ziehend-zeichnende Macht des Zugs wirkt, in dem Augenblick, wo die Spitze an der Spitze der Hand (des Leibes überhaupt) sich im Kontakt mit der Oberfläche vorwärtsbewegt, wird die Einschreibung des Einschreibbaren nicht gesehen.“ (Jacques Derrida) „Schließlich kam die endgültige Klärung der Bedeutung der Linie – einerseits ihrer Grenz- und Randfunktion, andererseits ihrer Rolle als Hauptfaktor beim Aufbau jeglichen Organismus im Leben, sozusagen als Skelett (oder Grundgerüst, Gerippe, System) […] Die Linie ist

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Durchquerung und Richtung, Bewegung, Zusammenstoß, Grenze, Befestigung, Verbindung, Durchtrennung.“ (Alexander Rodtschenko) „Es sind Zeichnungen und diagrammatische Linien, die auf der Grenze zwischen Gedanken und Materialisierung eine eigene, keiner anderen Äußerungsform zukommende Suggestivkraft entwickeln […] die Zeichnung (verkörpert) als erste Spur des Körpers auf dem Papier das Denken in seiner höchstmöglichen Unmittelbarkeit.“ (Horst Bredekamp)

1. Eine signifikante Gruppe von visuellen Darstellungen – wir nennen sie hier ‚das Diagrammatische‘ oder einfach auch ‚Inskriptionen‘ – vereinigt diskursive und ikonische Merkmale: Es sind dies graphische Artefakte, deren facettenreiche Domäne sich von Schriften bzw. Notationen über Tabellen, Graphen, Diagramme bis hin zu den Karten erstreckt. So verschiedenartig auch die Phänomene dieses Spektrums sich präsentieren, gibt es doch so etwas wie einen ‚kleinsten gemeinsamen Nenner‘: Es besteht im Graphismus der Lineatur, hervorgegangen aus der Interaktion von Punkt, Strich und Fläche und angesiedelt jenseits des Bildes wie diesseits der Sprache. Dieser Graphismus ist ästhetisch und epistemisch folgenreich. Wir wollen uns auf die epistemische Bedeutung von Inskriptionen beschränken.1 Zwei Vorannahmen grundieren unsere Erkundung der erkenntnistechnischen Rolle von Inskriptionen: Da ist einmal eine kulturanthropologische Annahme; sie ist inspiriert durch den Paläontologen André Leroi-Gourhan,2 und besagt: Die Fähigkeit zum Graphismus und seiner Nutzung im Rahmen praktischer und theoretischer Orientierung ist unserem Sprachvermögen zur Seite zu stellen und diesem – zumin1

2

Die kognitiven Dimensionen von Diagrammen betonen: Michael Anderson/Bernd Meyer/Oliver Patrick (Hg.): Diagrammatic Representation and Reasoning, Berlin 2001; Steffen Bogen/Felix Thürlemann: Jenseits der Opposition von Text und Bild. Überlegungen zu einer Theorie des Diagramms und des Diagrammatischen, in: Alexander Patschovsky (Hg.): Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, Ostfildern 2003, S. 1–22; Gilles Châtelet: Figuring Space: Philosophy, Mathematics and Physics, Dordrecht 2000; Andreas Gormans: Imaginationen des Unsichtbaren. Zur Gattungstheorie des wissenschaftlichen Diagramms, in: Hans Holländer (Hg.): Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 51–71; Michael May: Diagrammatisches Denken. Zur Deutung logischer Diagramme als Vorstellungsschemata bei Lakoff und Peirce, in: Zeitschrift für Semiotik 17 (3–4), 1995, S. 285– 302. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1980.

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dest in kognitiver Hinsicht – durchaus ebenbürtig. Des Weiteren leitet uns eine erkenntnistheoretische Annahme, die von einer grundständigen Exteriorität des Geistes ausgeht und unseren Geist – anders als das Gehirn – keineswegs ‚im Kopf‘ lokalisiert:3 Geist entfaltet sich in der Interaktion von Auge, Hand und Hirn, insofern höherstufige mentale Tätigkeiten auf symbolische und technische Denkzeuge unabdingbar angewiesen sind.

2. Die Untersuchung des epistemisch bedeutsamen Graphismus sei ‚Diagrammatologie‘ genannt.4 Fünf Gedanken bilden deren Rahmen: (1) Topologische, genauer: topographische Ordnungen werden als eine Logik des Zeigens eingesetzt, um gerade nicht-räumliche, unanschauliche Zusammenhänge auf einer Fläche zur Anschauung zu bringen und dadurch auch evident zu machen. (2) Es wird nicht nur ein Darstellungs- und Anschauungsraum geschaffen, vielmehr auch ein Raum des Experimentierens, Explorierens und Operierens mit ‚Wissens-gegenständen‘. Abstrakte Entitäten werden kognitiv handhabbar gemacht. Das Diagrammatische dient also nicht nur der Präsentation von Wissen, vielmehr auch seiner Produktion im Wechselspiel von Konfiguration und Rekonfiguration. (3) Der erkenntnistechnische Kunstgriff besteht darin, dass die artifizielle, flächige Räumlichkeit des Diagrammatischen ein Doppelleben aufweist: Sie ist zugleich Realfläche und Idealebene, konkrete Inskription und abstrakter Sachverhalt. Daher ist das Diagrammatische überaus geeignet, die Vermittlung zwischen Anschauung und Denken, aber auch zwischen Plan und Realisierung herzustellen. (4) Inskriptionen zeigen Relationen, sind also ‚Strukturbilder‘ und präferieren dabei Räumlichkeit als ein Ordnungsmuster. Gleichwohl ist die Zeitlichkeit und damit die Prozessualität ein unabdingbares Inkrement des Diagrammatischen. Das gilt sowohl historisch, insofern Inskriptionen stets innerhalb einer Kette von Umschriften/Übersetzungen fungieren, wie auch systematisch, insofern ein Gutteil des Diagrammatischen auf 3

4

Beispielhaft: Andy Clark: Pressing the Flesh: Exploring a Tension in the study of the embodied, embedded mind, in: Philosophy and Phenomenological Research 76 (1), 2008, S. 37–59; Andy Clark/David Chalmers: The Extended Mind, in: Analysis 58 (1), 1998, S. 7–19. Dieser Begriff mit etwas anderer Bedeutung auch bei: Frederik Stjernfelt: Diagrammatology: An Investigation on the Borderline of Phenomenology, Ontology and Semiotics, Dordrecht 2007; verwendet hat ihn erstmals: William John Thomas Mitchell: Diagrammatology, in: Critical Inquiry 7 (2), 1981, S. 622–633; außerdem: Sybille Krämer: Operative Bildlichkeit. Von der ‚Grammatologie‘ zu einer ‚Diagrammatologie‘? Reflexionen über erkennendes Sehen, in: Martina Hessler/Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 94–123.

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eine aktive, operative Einbeziehung des Rezipienten angelegt ist. (5) Philosophie und Erkenntnistheorie sind – explizit und implizit – durchwoben von diagrammatischen Konfigurationen5 und unser Vernunftkonzept weist noch kaum entborgene diagrammatische Züge auf. Überdies stehen die ‚Weltbildfunktion‘ der Philosophie und die ‚Weltaufzeichnungsfunktion‘ der Kartographie in einem sublimen Zusammenhang impliziter (Philosophie) und expliziter (Kartographie) diagrammatischer Anordnungen. Dies sei nun anhand von Platons Liniengleichnis und Ptolemaios‘ Geographie beispielhaft erläutert.

3. In der Politeia (509 d –511 e) entwickelt Platon das sogenannte ‚Liniengleichnis‘, mit dem Sokrates die ontologische Struktur der Welt gemäß einer UrbildAbbildbeziehung gliedert und diese dem jeweiligen Grad ihrer Erkennbarkeit korrespondieren lässt: Man solle eine Linie ziehen und in zwei ungleiche Abschnitte teilen, so dass der kleinere Abschnitt das Sichtbare, der größere das Denkbare darstelle. Sodann seien diese beiden Abschnitte noch einmal in demselben Verhältnis zu unterteilen. So entsteht eine lineare, viergliedrige Aufteilung unterschiedlicher Seinsbereiche, die zugleich eine Stufenfolge im Erkennen verkörpert. (Bild 1) Im untersten Bereich des Sichtbaren sind die Bilder, Schatten und Spiegelungen angesiedelt, denen der epistemische Zustand eikasia, also Mutmaßung, entspricht. Der nächste Teil des Sichtbaren umschließt die Originale zu diesen Abbildern, die Dinge, Pflanzen und Lebewesen mit der ihnen entsprechenden Erkenntnisaktivität pistis, dem Glauben. Beide zusammen bilden die Domäne der doxa, also der Meinung. Im dritten Abschnitt, mit dem der Bereich des Denkbaren und damit der episteme, des Wissens, einsetzt, sind die Allgemeinbegriffe und mathematischen Gegenstände angesiedelt. Die Erkenntnisform ist hier die dianoia, das rationale Denken. Diese Erkenntnisform ist dadurch ausgezeichnet, dass – beispielhaft bei den Mathematikern – sichtbare Gegenstände als Abbilder unsichtbarer Ideen behandelt werden. Im vierten Abschnitt schließlich geht es um die Ideen als dem wahrhaft Seienden, die mit der noesis, der reinen Vernunfttätigkeit und höchsten Form des Erkennens verbunden sind. Diagrammatologisch aufschlussreich sind am Liniengleichnis mehrere Aspekte.

5

Sehr früh dazu: Petra Gehring/Thomas Keutner/Jörg F. Maas/Wolfgang Maria Ueding: Diagrammatik und Philosophie, Amsterdam 1992.

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Bild 1

(1) Bildlichkeit als ontologisches Prinzip: Abbildbarkeit und damit auch Bildhaftigkeit ist der Kern von Platons Ontologie, verstanden als eine Lehre von dem, was real ist: Selbst die höchste Seinsstufe – die Ideen – sind als Urbilder, damit als Vorlagen für Abbildungen eingeführt. Im Gegenzug zur immer wieder beschworenen Bilderfeindlichkeit Platons ist festzuhalten, dass Bildlichkeit (als Urbild-Abbildrelation) das innere Organisationsprinzip der platonischen Ontologie und Epistemologie ‚bildet‘. (2) Differenz von Sichtbarem und Denkbarem und ihre Überbrückung: Platon unterscheidet kategorisch zwischen dem Wahrnehmbaren und dem

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Denkbaren, und das Liniengleichnis ist Inauguration dieser für das abendländische Philosophieren zentralen Unterscheidung. Zugleich aber wird diese Differenz anhand der Unterteilung einer homogenen Linie erläutert, womit die Vergleichbarkeit und ‚innere Verwandtschaft‘ beider Seins- und Erkenntnisbereiche visuell angelegt und konstituiert ist. Überdies identifiziert und diagnostiziert das Liniengleichnis einen Bereich epistemischer Tätigkeit – die dianoia, wie sie für Mathematik und Wissenschaften charakteristisch sei –, in der diese Differenz absichtsvoll überbrückt wird, da die Mathematiker die sinnlichen Körper als Abbilder von Unsinnlichem einsetzen, behandeln und erkennen. Aristoteles selbst hat diese Gegenstände bei Platon, auf die sich das mathematische Tun richtet, ohne bei Ihnen zu verharren, als ‚intermediär‘, als ‚dazwischenliegend‘ gekennzeichnet.6 Dianoia, die wissenschaftliche Verstandestätigkeit ist – um es modern auszudrücken – als eine medial vermittelte zu begreifen: Selbst der Mathematiker bedarf der sinnlichen Repräsentation zum Verständnis seiner noetischen Gegenstände.7 Entscheidend ist, dass die beim Erkennen eingesetzten sinnlichen Körper nicht das Endstadium sind, sondern zu überschreiten sind hin auf ein Unsinnliches und nur noch Denkbares. In der Ermöglichung dieser Denkbewegung besteht die Brückenfunktion der ‚Zwischenwelt‘ der dritten Stufe.8 (3) Spatialität des Denkens: Für Platon ist die Erkenntnistätigkeit durch eine implizite Spatialität charakterisiert. Sie ist ein Weg.9 Das Denken bekommt damit eine Richtung, und diese ist als ein Aufstieg, als eine Stufenfolge charakterisierbar. Daher bildet das Höhlengleichnis im nächsten Buch der Politeia, welches nicht abstrakte Linien, sondern eine konkrete Höhlensituation evoziert, eine Fortsetzung des Liniengleichnisses mit anderen Mitteln:10 denn hier wird Erkenntnis als ein Aufstieg aus der Höhle hin zum Tageslicht imaginiert. Dieser inhärenten Spatialität der platonischen Episteme korrespondiert der methodische Sachverhalt, dass Platon im Akt einer Selbstanwendung

6 7 8 9

10

Aristoteles, Metaphysik I, 987b, S. 14 ff.: „Ferner erklärt er [Platon – SK], daß außer dem Sinnlichen und den Ideen die mathematischen Dinge existierten, als zwischen ihnen liegend, unterschieden vom Sinnlichen […] [und] von den Ideen.“ Dazu: Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert, Berlin/New York 1991, S. 53 ff. Zu dieser Interpretation des Liniengleichnisses und der darin eingeschlossenen Erkenntnisbewegung: James Anastasios Natopoulos: Movement in the Divided Line of Plato’s Republic, in: Harvard Studies in Classical Philology 47, 1936, S. 57–83. Die Rolle des Weges als Metapher für die Denkbewegung hat auch die kognitive Semantik hervorgehoben: George Lakoff: Cognitive Semantics, in: Umberto Eco/ Marco Santambrogio/Patrizia Violi (Hg.): Meaning and Mental Representations, Bloomington (IN) 1988; Mark Johnson: The Body in the Mind: The bodily Basis of Meaning, Imagination and Reason, Chicago 1987. Platon, Politeia, VII, 514 –519.

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des von ihm gelieferten ontologisch-erkenntnistheoretischen Ansatzes Linienkonfigurationen, also eine diagrammatische Inskription, zur Visualisierung seiner eigenen philosophischen Überzeugung einsetzt.11 Dabei fungiert das visuelle Aufzeigen – das zeigt das Beispiel der Linie – in Vertretung einer diskursiven, philosophischen Argumentation. Das Liniengleichnis liefert so etwas wie ein Strukturbild, wenn nicht gar: eine Kartographie der platonischen Ontologie, indem es diese nicht nur aufzeichnet, sondern durch sukzessive Operationen an der Linie ontologische Einsichten hervorgehen lässt. Räumlichen Eigenschaften der Linienkonfiguration (größer/kleiner, näher/ ferner, unten/oben) wächst eine ontologische und epistemologische Bedeutsamkeit zu, die nur anhand dessen, was sich den Augen zeigt, zu erschließen ist.

4. Während Platon seine Seinslehre und damit verbunden das Feld epistemischer Begriffe kartographiert, entfaltet der alexandrinische Mathematiker, Astronom und Geograph Ptolemaios (ca.100–175 n.Chr.) eine Kartographie der gesamten seiner Zeit bekannten Oikumene. In seinem geographischen Werk Handbuch der Geographie (Geografike)12 synthetisiert er Reiseberichte, astronomische Beobachtungen, Vorläuferkarten, mathematische Berechnungen. Worauf es uns nun ankommt ist, dass dieses Werk nur in seinem kleineren und letzten Teil tatsächlich gezeichnete Karten enthält: Es geht dabei um eine Erdkarte sowie 26 Karten einzelner Länder. Die anderen Teile bergen eine detaillierte Beschreibung seiner neu erfundenen Projektionsmethode sowie – und das ist der größte Teil – einen Ortskatalog, in dem nahezu 8000 Örtlichkeiten (Städte, Flüsse, Berge) mit Hilfe von Breiten- und Längengraden identifiziert und tabellarisiert werden. Theoretisch besehen ist das Werk eine Zusammenführung und vor allem: Vereinheitlichung des geographischen Wissens seiner Zeit und zwar im Medium diagrammatischer Repräsentationen mithilfe mehrerer Formate wie Beschreibung, mathematische Konstruktionsanleitung, Tabelle, gezeichnete Karte. Praktisch jedoch versteht Ptolemaios – und darauf weist er expressis verbis hin13 – seine Geografike als eine Konstruktionsanleitung zum eigenhändigen Visualisieren individueller Kar-

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Instruktiv hier auch der Einsatz geometrischer Diagramme: Menon 82b–84c und 86e–87a, Theaitet 147c–148d, Politikos 266b. Ptolemaios: Handbuch der Geographie, hg. v. Alfred Stückelberger/Gerd Graßhoff, Basel 2006. Ptolemaios 2006 (wie Anm. 12), S. 105.

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ten, da technische Reproduktionsverfahren nicht zur Verfügung standen, das Abzeichnen von Karten jedoch Verfälschungen produziere und potenziere. Drei Leistungen sind am geographischen Werk bemerkenswert:14 (1) Erstmals werden auf der Grundlage eines einheitlichen Koordinatensystems die ca. 8000 Orte mit quantifizierten Längen und Breitengraden in Gestalt einer schriftlichen Tabelle angegeben. Kraft dieses Koordinatensystem aus Längen- und Breiten wurden alle geographisch relevanten Örtlichkeiten bezüglich ihrer Lage einheitlich beschrieben und visuell in ein Verhältnis gesetzt. Das allerdings war nur möglich, insofern Ptolemaios Daten ganz unterschiedlicher Natur zu Rate zog und untereinander verglich: Das sind einerseits Reiseberichte, andererseits Messungen von Längen- und Breitengraden mit

Bild 2 Gewöhnliche und modifizierte Kegelprojektion nach der Konstruktionsanleitung von Ptolemaios (1. und 2. sog. ptolemäische Projektion).

14

Dazu: Alfred Stückelberger: Der geographische Atlas des Ptolemaios, ein oft verkanntes Meisterwerk, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins. Gesellschaft für Landeskunde, Bd. 149 (1), 2004; Alfred Stückelberger/Gerd Graßhoff: Einleitung, in: Stückelberger/Graßhoff 2006 (wie Anm. 12), S. 9–47.

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Hilfe der Schattenlinie des Gnomons, der als Skiotheron in der antiken Landvermessung15 – es gab noch keine mobilen Uhren! – eingesetzt wurde. (2) Überdies entwickelt Ptolemaios eine neuartige Projektionsmethode für die flache Abbildung dreidimensionaler Gebilde in Gestalt gradliniger und gekrümmter Kegelprojektionen. (Bild 2) Zwar war die Zylinderprojektion bei seinem Vorgänger Eratosthenes (3. Jh. v. Chr.) schon bekannt, doch diese Projektionsart verzerrt die Flächen in Äquatornähe gravierend. Eingedenk dieses Problems schlägt Ptolemaios Kegelprojektionen vor, welche Proportionen auf einer Kugeloberfläche weit getreuer in der Ebene wiedergeben können. Überdies präsentiert er zwei Arten von Kegelprojektionen, eine mit geraden und eine mit gekrümmten Meridianen; die letztere trägt der Kugeloberflächen noch genauer Rechnung. (3) Schließlich gibt er die bekannte Oikumene als Weltkarte wie auch in Form einzelner Karten wieder. Charakteristisch für seine Karten ist dabei die ‚Vogelflugperspektive‘, die eine Erscheinung der Erde als Oberfläche und damit den Blick eines externen Beobachters bzw. eines göttlichen Auges imitiert, welcher Menschenaugen gerade verschlossen blieb. Dieses Kartenwerk mit Koordinatenangaben auf den Rändern und Berücksichtigung der Längengradproportionen blieb maßstabsetzend und unübertroffen bis ins 16. Jahrhundert, in dem die Entdeckung neuer Kontinente auch neue Weltkarten nötig machte. Ptolemaios hat also nicht nur den bewohnten Raum in der damals bekannten Form vereinheitlichend kartographiert; er hat überdies ‚Räumlichkeit‘ als universelles Darstellungsmittel visueller Konfiguration erkannt, ihre diagrammatische Pluralität (als Beschreibung, Liste, Tabelle, geometrische Zeichnung, Karte) realisiert und damit ihrer wechselseitige Übersetzbarkeit erkannt und vollzogen.

5. Wir sehen also: Am Beginn der Entfaltung des ‚abendländischen Geistes‘ findet sich ein bemerkenswerter kartographischer Impuls, dessen Kern nicht nur die strukturierende Verzeichnung eines unübersichtlichen realen oder theoretischen Terrains ist, sondern der Einsatz von räumlichen Relationen als eine visuelle ‚Sprache‘. Räumlichkeit wird zu einem Medium der Darstellung von Wissen. Sowohl im Liniengleichnis Platons wie auch in der Fülle der ‚durchquerten‘ diagrammatischen Inskriptionen in Ptolemaios‘ Geografike fungiert 15

Eberhard Knobloch/Dieter Lelgemann/Andreas Kleineberg: Zum antiken astrogeodätischen Messinstrument Skiotherikos Gnomon, in: Zeitschrift für Geodäsie, Geoinformation und Landmanagement 130, 2005, S. 238–247.

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die Linie – im Verein mit der Fläche, der sie sich einschreibt – als ein Erkenntnismedium. Um diese Erkenntniskraft der Linie ein Stück weit auszuloten, wollen wir mit den folgenden – jetzt wieder systematischen – Überlegungen die ‚Eigenlogik‘ diagrammatischer Inskriptionen näher betrachten. Was also heißt es, dass die graphische Zwischenwelt flächiger Inskriptionen einen explorativen Bewegungsraum eröffnen kann für das Orientieren im praktischen wie im theoretischen Tun. Mindestens sechs Attribute charakterisieren die materialen, kulturtechnischen und aisthetischen Aspekte, welche für die epistemische Rolle diagrammatischer Inskriptionen grundlegend sind. (1) Topographische Flächen sind Körper, die als Oberflächen ohne Tiefe behandelt werden. Eine Fläche ist somit ein Ausgedehntes ohne Tiefendimension. Sowenig der empirische Punkt tatsächlich ohne Dimension ist, obwohl der mathematische Punkt genau dies fordert, sowenig auch die mit dem Strich gezogene Linie nur eine Dimension hat, obwohl die mathematische Gerade genau so definiert ist – sowenig auch ist eine Fläche tatsächlich zweidimensional. Doch Oberflächen gelten uns als Flächen genau dann, wenn sie Bilder oder Inskriptionen zur Erscheinung kommen lassen. Diese Sonderräumlichkeit artifizieller Zweidimensionalität ist für die Evolution unserer geistigen Vermögen von kaum zu überschätzender Bedeutung. So vertraut ist uns der Umstand, dass wir es allüberall mit bebilderten und inskribierten Flächen zu tun haben, dass uns die kulturtechnische Leistung, die der Einsatz solcher Medien verkörpert, kaum mehr bewusst wird.16 (2) Simultaneität: Die topographische Fläche bietet in der zweidimensionalen Anordnung das Gezeigte gleichzeitig dar. Anders als im sequentiellen Nacheinander von Hör- und Tasteindrücken zehrt das Sehen von der Ordnungsform des simultanen Nebeneinander.17 Indem Verschiedenartiges sich nahezu einem Blick darbietet, wird Überblick, aber auch Vergleich möglich: So können Ähnlichkeit und Unterschied, Relation, Proportion und Muster hervortreten. Kraft der visuellen Ordnungsform des Nebeneinanders, homogenisieren Diagramme Ungleichartiges und machen es dadurch überhaupt erst vergleichbar. (3) Hybridität: Diagramme sind ‚Bilder‘, die – unter anderem – Behauptungen aufstellen. Sagen und Zeigen, Diskursives und Ikonisches verbinden sich dabei. Allerdings gilt zu bedenken, dass die kategorische Disjunktivität zwischen ‚reinem Bild‘ und ‚reiner Sprache‘ nur terminologisch, keineswegs aber 16 17

Anders jedoch: David Summers: Real Spaces: World Art History and the Rise of Western Modernism, London 2003, S. 343–430. Zur epistemischen Rolle der Simultaneität: Hans Jonas: Der Adel des Sehens, in: Ralf Konersmann (Hg.): Kritik des Sehens, Leipzig 1997, S. 247–271.

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phänomenal gilt: Was wir als Begriffe ‚Bild‘ und ‚Sprache‘ definitiv unterscheiden können (und auch müssen), tritt in der Mannigfaltigkeit des Phänomenalen meist in Mischungsverhältnissen auf. Ein solches Mischungsverhältnis verkörpert auch das Diagrammatische. Doch das, was das Diagrammatische leistet, findet weder im Bild noch in der Sprache ein Vorbild. Fragt man sich nun, wie sprachliche und bildliche Aspekte am Diagrammatischen selbst zu unterscheiden sind, so bietet sich folgende Zuordnung an: Die ‚diagrammatische Diskursivität‘ bezieht sich auf Gesichtspunkte wie Syntaktizität, Referentialität und Propositionalität; die ‚diagrammatische Ikonizität‘ dagegen orientiert auf die Zweidimensionalität, Sichtbarkeit und Homomorphie. (4) Ähnlichkeit: Während es zum guten Ton von Bildtheorien gehört, das Kriterium der ‚Ähnlichkeit‘ als bildtheoretisch bedeutsamen Terminus ad acta zu legen,18 kann die epistemische Rolle des Diagrammatischen nur im Horizont einer Strukturähnlichkeit angemessen erfasst werden, die allerdings in höchst unterschiedlichen Formen auftreten kann: Denken wir nur an das Verhältnis zwischen Figur und Formel des Kreises oder an dasjenige einer dreidimensionalen Landschaft und ihrer zweidimensionalen kartographischen Projektion. Eine homomorphe Relation ist jedoch trotz visuell verschiedenartiger Erscheinungsweise in beiden Fällen gegeben. Die Ähnlichkeit im Sinne einer Strukturähnlichkeit als wichtiges Konzept im Rahmen der Diagrammatologie zu rehabilitieren, impliziert also notwendig, Ähnlichkeit als ‚transnaturale Ähnlichkeit‘ zu verstehen. (5) Referentialität: Anders als Kunstbilder, die erst einmal auf sich selbst referieren, ist für diagrammatische Artefakte eine Fremdreferenz wesentlich. Etwas wird gezeigt. Diagrammatische Inskriptionen sind Transkriptionen,19 sie sind das Resultat eines Übertragungsprozesses, sind also Übersetzungsmanuale. Allerdings ist ein Akt von Transkription, Übertragung oder Übersetzung komplex: Denn er ist gebunden an eine Projektionsmethode, an Formatierung, Skalierungen, an Maßstäbe oder Koordinatensysteme etc. Wir müssen die diagrammatische Transkribierung somit als eine Transfiguration verstehen, so dass das, was übertragen wird, im Akt der Übertragung eine Formveränderung erfährt, die es geboten sein lässt, dieser Transfiguration schöpferischen Charakter zuzusprechen.20 So wie schon der schlichte Strich zugleich 18 19 20

Exemplarisch: Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/M. 1997. Der Begriff der Transkription wird ausgelotet bei: Ludwig Jäger: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hg.): Transkribieren, München 2002, S. 19–41. Der Begriff der Transfiguration ist näher entfaltet in: Sybille Krämer: Übertragen als Transfiguration oder: Wie ist die Kreativität von Medien erklärbar?, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (2010/2).

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Spur einer Geste wie auch freier Entwurf ist, gehen Übertragung und Hervorbringung im Diagrammatischen Hand in Hand: Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. (6) Operativität: Im Unterschied zum unvertretbar ‚auratischen‘ Bild im Sinne eines emphatischen Kunstwerkes kommen Schriften, Diagramme und Karten zumeist unspektakulär und alltäglich zum Einsatz. Diagrammatische Inskriptionen sind Allerweltvorkommnisse; sie werden ‚gebraucht‘. An die Stelle der Distanz des Blicks, der eines Abstandes zum Erblickten bedarf, um überhaupt in Augenschein nehmen zu können, ist das Diagrammatische zumeist im Nahraum des Leibes situiert und Auge und Hand gleichermaßen zugänglich. Diese Zugänglichkeit weist einen kognitiven und kommunikativen Aspekt auf. In kognitiver Hinsicht stiftet die inskribierte Fläche einen Operationsraum, der es ermöglicht, dass mit dem Aufgezeichneten hantiert und experimentiert wird, dass Unsinnliches auf diese Weise beobachtbar, analysierbar und reflektierbar wird. In kommunikativer Hinsicht ist die überaus mobile, handliche Übertragbarkeit, Reproduzierbarkeit, Kombinierbarkeit von Sachverhalten eröffnet,21 die im Zuge dieser Übertragungs- und Zirkulationsmotorik gleichwohl – als Inskriptionsschema – unverändert gehalten werden können. (7) Unselbstständigkeit: Keine Linie interpretiert sich selbst: Ein und dasselbe Diagramm kann Unterschiedliches repräsentieren und bedeuten, wie umgekehrt ein- und derselbe Sachverhalt in verschiedenen Diagrammen visualisiert werden kann.22 Gerade die unspektakuläre Einbettung inskribierter Flächen in unsere Lebenswelt impliziert, dass Inskriptionen zu verstehen bedeutet, die Kontexte ihres Gebrauches und dessen explizite wie auch ‚stummen‘ Konventionen in Rechnung zu stellen. Das Diagrammatische ist situiert, ob im Zusammenhang des Textes, in welchem es vorkommt, oder als Teil von Praktiken. Es wundert nicht, dass das Diagrammatische zumeist auftritt als Teil einer Kaskade von Übertragungen und Umschriften.23

21 22 23

Dazu: Bruno Latour: Drawing things together, in: Michael Lynch/Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge 1990, S. 19–68. Dazu: Christoph Lüthy/Alexis Smets: Words, Lines, Diagrams, Images: Towards a History of Scientific imagery, in: Early Science and Medicine 14, 2009, S. 398–439. Bruno Latour: Der Pedologenfaden von Boa Vista. Eine photo-philosophische Montage, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 213– 264.

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DIAGR AMMATISCHE INSKRIPTIONEN

6. Fassen wir zusammen: Keineswegs nahtlos schließt unsere Skizze zur Diagrammatik an den ‚iconic turn‘24 an, mit dem das Bild sich ein Stück weit in der Erbfolge der Sprache als archimedischer Punkt von Kultur, Erfahrung und Wissen situiert. Denn wir treten mit der Idee des Graphismus gleichsam ‚hinter‘ das Bild zurück. Mit der einer Fläche inskribierten Linienkonfiguration haben wir die Springquelle sowohl der ästhetischen – und dann in Grafik und Bild resultierenden – wie der epistemischen – und dann in den Spielarten des Diagrammatischen resultierenden – Einzeichnung einschließlich aller Wechselwirkungen und gegenseitigen Durchdringungen beider Aspekte. Steffen Bogen hat diese Doppelnatur der Linie anhand der Gegenüberstellung der Ursprungslegende der ‚schönen Künste‘ einerseits und der antiken Horizontalsonnenuhren als frühe Orientierungswerkzeuge andererseits kongenial rekonstruiert und interpretiert.25 Und er hat dabei zu Recht betont, dass Bilder – jedenfalls in der abendländischen Kunsttradition – dem Betrachten dienen, das Diagrammatische jedoch dem Handeln. Dieses Handeln ist ein Stück weit ein ‚Denkhandeln‘ und die dabei eingesetzten Inskriptionen sind ‚Denkzeuge‘. Der dabei aufgespannte Sonderraum inskribierter Flächigkeit gibt Gedankenbewegungen Raum; insbesondere spielt die Lineatur darin eine intermediäre Rolle zwischen Empirie und Theorie und führt so Anschauung und Denken zusammen. So verdankt sich die Erkenntniskraft der Linie26 dem Wechselverhältnis von Spurbildung und Entwurf, von Übertragung und Kreation.27 Alles das sind Facetten des Diagrammatischen, hier verstanden als ein ‚Handwerk des Geistes‘. Bewirkt die Erfindung und der Einsatz inskribierter Flächen für die Mobilität und das Leistungspotenzial des Geistes das, was das Rad für die Mobilität und die Leistungskraft von Körpern eröffnet hat?

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Zum ‚iconic‘ bzw. ‚pictorial turn‘: William John Thomas Mitchell: The Pictorial Turn, in: Art Forum 30 (7), 1992, S. 89–94; Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 11–38. Steffen Bogen: Schattenriss und Sonnenuhr. Überlegungen zu einer kunsthistorischen Diagrammatik, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 68 (2), 2005, S. 153–176. Horst Bredekamp: Die Erkenntniskraft der Linie bei Galilei, Hobbes und Hooke, in: Barbara Hüttel (Hg.): Re-Visionen. Zur Aktualität von Kunstgeschichte, Berlin 2002, S. 145–160. Eine Anthropologie der Linie im Spannungsfeld von Spur und Faden entwickelt Tim Ingold: Lines: A Brief History, London/New York 2007.

Bi ld nac hweise

Enactivism and Embodiment in Picture Acts Fig. 1: http://www.decasia.com/stills/dvd/decasia.still2.jpg (15. 07. 2011). Fig. 2: http://sessaocoruja.files.wordpress.com/2008/08/blowuparthurevanscourtesyphilippegarner512.jpg (15. 07. 2011). Fig. 3: Klaus Albrecht Schröder/Heinz Wildauer (Hg.): Peter Paul Rubens, Ostfildern, Ruit 2004, S. 253. Fig. 4: Alfred Moir: Caravaggio, New York 1982, S. 111. Fig. 5: http://wps.prenhall.com/wps/media/objec ts/340/348272/Instructor_Resources/Chapter_05/Text_Images/FG05_01.JPG (15. 07. 2011). Fig. 6: http://esamultimedia.esa.int/images/hubble/heic0506a_H.jpg (15. 07. 2011) Fig. 7: Lisa Phillips: The American Century: Art & Culture, New York 1999, S. 209. Fig. 8: Kohn T. Spike (Hg.): Caravaggio, New York/ London 2001, S. 225, fig. 70. Fig. 9: Chris McManus: Right Hand, Left Hand. The Origins of Asymetry in Brains, Bodies, Atoms and Cultures, London 2002, S. 194, fig. 8.15. Fig. 10: Photograph by NASA Ames Research Center (NASA-ARC). Fig. 11: John Noble Wilford: Mars – Unser geheimnisvoller Nachbar. Vom antiken Mythos zur bemannten Mission, Basel/Boston/Berlin 1992, S. 160–161. Fig. 12: http://dayton.hq.nasa.gov/IMAGES/LARGE/GPN-2000-001621.jpg (15. 07. 2011). Fig. 13: With kind permission of John M. Kennedy. Fig. 14: With kind permission of John M. Kennedy. Bilder für Blinde – Sehen und Handeln in Malerei, Fotografie und Film Bild 1: Filmplakat, Wait until Dark, (USA 1967, Terence Young). Bild 2: Still aus Wait until Dark, (USA 1967, Terence Young). Bild 3: Gabriel de Saint-Aubin. 1724-1780. Ausstellungskatalog, (Hg. Colin B. Bailey et al.), Paris 2008, fig. 1, S. 272. Bild 4: Emile Dacier: Gabriel de Saint-Aubin. Catalogue raisonné, Paris 1929-1931, S. XXXI. Bild 5: © RMN – © JeanGilles Berizzi Bild 6: © RMN – Droits réservés Bild 7: © RMN – © Agence Bulloz Bild 8: (Abbildung nach digitaler Vorlage, Nationalmuseum, Stockholm) Bild 9: © RMN – RenéGabriel Ojéda Bild 10: © RMN – © Jean-Gilles Berizzi. Bild 11: Larry J. Schaaf: The photographic art of William Henry Fox Talbot, Princeton 2000, S. 161. Bild 12: Hubertus von Amelunxen: Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, Berlin 1989, S. 113. Bild 13: Larry J. Schaaf: The photographic art of William

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BILDNACHWEISE

Henry Fox Talbot, Princeton 2000, S. 233. Bild 14: Stills aus Wait until Dark, (USA 1967, Terence Young). Bild 15: Stills aus Wait until Dark, (USA 1967, Terence Young). Aesthetics and Kinaesthetics Bild 1: Alfred L. Yarbus: Eye Movement and Vision, 1967, S. 174. Bild 2: Sven Nordquist: Aufruhr im Gemüsebeet, Hamburg 1991. Der Fürst der Sinne Bild 1: Rykwert, Joseph/Engel, Anne (Hrsg.): Leon Battista Alberti, Electa Milano 1994, S. 21, Abb. 4. Bild 2: Berlin, Gemäldegalerie, Foto: Frank Fehrenbach. Unendliches im Endlichen Bild 1: Larissa A. Shadowa: Malewitsch. Kasimir Malewitsch und sein Kreis, München: Schirmer/Mosel 1982, Taf. 37. Bild 2: Feghelm, Dagmar / Kerstin, Markus: Rubens. Bilder der Liebe, München/Berlin/London 2005, S. 27. Bild 3: Slive, S.: Dutch Painting 1600–1800, New Haven/London: Yale University Press 1996, Abb. 97. Ludwik Fleck und der Stilbegriff in den Naturwissenschaften Bild 1: Ludwik Fleck: Zur Variabilität der Streptokokken, in: Ders.: Denkstile und Tatsachen, hg. v. Sylwia Werner/Claus Zittel, Berlin 2010, Tafel 1 und 2. In der Tiefe die Künstlichkeit Bild 1: Nature 459 (June 2009), Titelseite. Bild 2: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (Hg): Barock, Kunst und Kultur im Vatikan im Rom der Päpste 1572–1676, Ausst.-Kat., Leipzig 2005, S. 470. Bild 3: Francesco Stelluti: Persio, tradotto in verso sciolto e dichiarato, Rom 1630, S. 52. Bild 4: Robert Hooke: Micrographia: or some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnificant Glasses with Observations and Inquiries thereupon, London 1665, Schem. XVI, S. 162/163. Bild 5: Robert Hooke: Micrographia: or some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnificant Glasses with Observations and Inquiries thereupon, London 1665, Schem. XXXV, S. 210/ 211. Bild 6: Robert Hooke: Micrographia: or some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnificant Glasses with Observations and Inquiries thereupon, London 1665, Schem. XXXII, S. 204/205. Bild 7: Horst Bredekamp/Angela Fischel/Birgit Schneider/ Gabriele Werner: Bildwelten des Wissens, in: Bilder in Prozessen. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. I (2003), Nr. 1, S. 9–20, S. 14. Vormals publiziert in Sigmund Theodor Stein: Das Licht im Dienste wissenschaftlicher Forschung. Handbuch der Anwendung des Lichtes und der Photographie in der Natur- und Heilkunde, in den graphischen Künsten und dem Baufache, im Kriegwesen und bei der Gerichtspflege, Leipzig 1877. Bild 8: Internet, Herkunft unbekannt. Bild 9: Herbert Beck/Peter C. Bol (Hg.): Natur und Antike in der Renaissance, Ausst.-Kat., Frankfurt/M. 1985, Kat. Nr. 275, S. 542. Bild 10: Stefan Ditzen: Etappen einer Bildgeschichte des Mikroskops. An der Grenze des

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BILDNACHWEISE

Sichtbaren, Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2002, S. 84. Bild 11: Stefan Ditzen: Etappen einer Bildgeschichte des Mikroskops. An der Grenze des Sichtbaren, Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2002, S. 137. Bild 12: Robert Hooke: Micrographia: or some Physiological Descriptions of Minute Bodies made by Magnificant Glasses with Observations and Inquiries thereupon, London 1665, Schem. XXIV, S. 174/175. Bild 13: Internet, Herkunft unbekannt, vor 2002. Bild 14: Jochen Hennig: Bildtradition und Differenz. Visuelle Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft am Beispiel der Rastertunnelmikroskopie, in: Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, hg. v. Horst Bredekamp/Birgit Schneider/Vera Dünkel, Berlin 2008, S. 86–95, S. 89. Bild 15: Jochen Hennig: Bildtradition und Differenz. Visuelle Erkenntnisgewinnung in der Wissenschaft am Beispiel der Rastertunnelmikroskopie, in: Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, hg. v. Horst Bredekamp/Birgit Schneider/Vera Dünkel, Berlin 2008, S. 86–95, hier: S. 89. Bild 16: Alison Abbott: The glorious Resolution, in: Nature 459 (June 2009), S. 638f., S. 638. Bild 17: Klaus Schwamborn: Farben als Proteine. Wie aus Bildern neue Organismen werden, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Farbstrategien, Bd. 4 (2006), Nr. 1, S. 17–24, S. 18. Bild 18: Klaus Schwamborn: Farben als Proteine. Wie aus Bildern neue Organismen werden, in: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Farbstrategien, Bd. 4 (2006), Nr. 1, S. 17–24, S. 19. Diagrammatische Inskriptionen: Über ein Handwerk des Geistes Bild 1: Archiv der Autorin. Bild 2: Alfred Stückelberger: Der geographische Atlas des Ptolemaios, ein oft verkanntes Meisterwerk, in: Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins. Gesellschaft für Lansdeskunde, Bd. 149 (1), 2004, S. 34.