Sehen als Erfahrung 9783495823729, 9783495491416

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Sehen als Erfahrung
 9783495823729, 9783495491416

Table of contents :
Cover
Inhalt
Einleitung
Eva Schürmann: Die Modalität des Hinschauens.
I. Intentionalität des Wahrnehmens
Die Art und Weise der Bezugnahme
Buchstäbliche Metaphern
II. Das Wie der Gegebenheitsweise bei Husserl
Intentionalität und Repräsentationalität
Vergegenwärtigung des Abwesenden
III. Intentionalität des Darstellens
Verfahrensweisen des Geistes
Manfred Sommer: Kleiner Versuch über die Intentionalität des Gesichtsfelds
Leibhaftes Gesichtsfeld
Relief
Ebnung
Plane Gesichtsfeldmitte
Blatt–Feld–Deckung
Intentionale Äquivalenz
Bildwahrnehmung
Karl Mertens: Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie
1. Das ›Dass‹ des Sehens
2. Das ›Was‹ des Sehens
3. Das ›Wie‹ des Sehens
4. Das phänomenologische Sehen
Herbert Kalthoff / Christiane Schürkmann: Verweisungen
Sehen
Betrachten
Verstehen
Schlussbemerkung
Karl-Heinz Lembeck: Hören und Sehen
I.
II.
III.
Gernot Böhme: Skulpturen sehen.
1. Kurze Geschichte der Laokoon-Gruppe
2. Die Laokoon-Debatte der Goethe-Zeit
3. Rezeptionsästhetik als Didaktik
Markus Heuft: Photographie jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹
I. Das Fotografierte und das Gesehene
II. Jenseits des entscheidenden Augenblicks
a. Hiroshi Sugimoto, Theaters
b. Michael Wesely
c. Jacob Felländer, I Want to Live Close to You
d. Abelardo Morell, Camera obscura
e. David Hockneys Joiners
III. Unaufdringliche Bilder
Ina Katharina Uphoff: »Sehen lernen!« – Konzeptionen des »Sehens« im Diskursfeld der künstlerischen Erziehung
I.
II. Die ästhetische Wende: Kultur des Sehens
III. Das »neue Sehen«
IV. Erfahrungsfelder des Sehens: Der künstlerischer Schulwandschmuck
V. Schluss
Reinold Schmücker: Sehstörungen und Sehhilfen. Eine Miszelle zur Philosophie des Sehens
I.
II.
III.
IV.
Christian Bermes: Opakes Sehen.
I.
II.
III.
IV.
Andreas Dörpinghaus: Die Erziehung des Blicks – Technologien des Sehens
I. Genealogie einer visuellen Subjektivität
II. Der unbewusste Schluss und die Parzellierung der Sinne
III. Technologien des Sehens
IV. Statt eines Schlusses: Ethik des Blicks
Ralf Konersmann: Die Augen der Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens
1. Hegels Traum
2. Ansprüche der Kritik
3. Genese des Intellektualismus
4. Rehabilitation des Augensinns
5. Zweideutigkeit des Zuspruchs
6. Zweideutigkeit der Kritik
Abbildungsverzeichnis

Citation preview

Andreas Dörpinghaus Karl-Heinz Lembeck (Hg.)

Sehen als Erfahrung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495823729

.

B

Andreas Dörpinghaus / Karl-Heinz Lembeck (Hg.) Sehen als Erfahrung

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Andreas Dörpinghaus Karl-Heinz Lembeck (Hg.)

Sehen als Erfahrung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Andreas Dörpinghaus / Karl-Heinz Lembeck (eds.) Seeing as experience The sense of sight is understood as the primary sense of opening up the world, so that the metaphor of seeing even enters into the theory of judgement, when speaking about ›insight‹ as a quality of knowledge or proof of truth. But at the same time in the history of thought there is an increasing mistrust of the mere and deceptive appearance of ordinary things – this antagonism is the guiding principle of a colloquium on ›seeing as experience‹. The following contributions resulting from this colloquium ask questions about receptive and constitutive aspects of seeing, about its representational or constructive performance, about social and bodily preconditions as well as general ontic conditions of the visible.

The Editors: Andreas Dörpinghaus holds the chair of systematic educational science at the Julius-Maximilians-University of Würzburg. His research focuses on the philosophy of education and the history of education and culture. Karl-Heinz Lembeck holds the chair of theoretical philosophy at the University of Würzburg. His research focuses on phenomenological and transcendental epistemology and philosophy of culture.

https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Andreas Dörpinghaus / Karl-Heinz Lembeck (Hg.) Sehen als Erfahrung Dass der Gesichtssinn als primärer Sinn der Welterschließung verstanden wird, so dass die Metapher des Sehens sogar in die Urteilstheorie eingeht, wenn dort etwa von ›Einsicht‹ als Erkenntnisqualität und gar als Ausweis von Wahrheit die Rede ist; dass aber zugleich in der Geschichte des Denkens zunehmend Misstrauen gegenüber der bloßen und tendenziell trügerischen Erscheinung der Weltdinge geschürt wird – dieser Antagonismus ist Leitfaden eines Kolloquiums über das ›Sehen als Erfahrung‹, dem die hier vorgelegten Beiträge folgen. Sie stellen Fragen nach rezeptiven wie konstitutiven Aspekten des Sehens, nach seinen Repräsentations- wie Konstruktionsleistungen, nach seinen sozialen und leiblichen Voraussetzungen ebenso wie nach den ontischen Bedingungen des Sichtbaren.

Die Herausgeber: Andreas Dörpinghaus ist Inhaber des Lehrstuhls für systematische Bildungswissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Gebiet der Bildungsphilosophie sowie der Bildungs- und Kulturgeschichte. Karl-Heinz Lembeck ist Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Philosophie an der Universität Würzburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Gebiet phänomenologischer und transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie und Kulturphilosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Human Dynamics Centre der Fakultät für Humanwissenschaften der Universität Würzburg

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: © Julius Paulsen – Sonnenuntergang Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49141-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82372-9

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Inhalt

Andreas Dörpinghaus / Karl-Heinz Lembeck: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Schürmann: Die Modalität des Hinschauens. Intentionalität als qualitative Formgebung

. . . . . . . . . . .

Manfred Sommer: Kleiner Versuch über die Intentionalität des Gesichtsfelds

9

17

. . .

33

Karl Mertens: Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie . . . . . . . . . . . . . . .

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Herbert Kalthoff / Christiane Schürkmann: Verweisungen. Sehen – Betrachten – Verstehen

. . . . . . . .

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. . . . . . . . .

70

Gernot Böhme: Skulpturen sehen. Über Anfänge der Rezeptionsästhetik am Beispiel von Goethes Schrift Laokoon . . . . . . . . . . . . . .

87

Markus Heuft: Photographie jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹ . . . .

100

Ina Katharina Uphoff: Konzeptionen des ›Sehens‹ im Diskursfeld der künstlerischen Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Karl-Heinz Lembeck: Hören und Sehen. Ein Rehabilitationsversuch

7 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Inhalt

Reinold Schmücker: Sehstörungen und Sehhilfen. Eine Miszelle zur Philosophie des Sehens . . . . . . . . . . . .

141

Christian Bermes: Opakes Sehen. Eine ästhetische Kritik der Transparenz . . . . .

153

Andreas Dörpinghaus: Die Erziehung des Blicks – Technologien des Sehens. Zur Genealogie visueller Subjektivität . . . . . . . . . . . . .

162

Ralf Konersmann: Die Augen der Philosophen. Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Einleitung

Bedeutung und Darstellung des Sehens als epistemologischer Zugang zur Wirklichkeit, als kulturelle soziale Handlung, als ästhetischer Selbst- und Weltbezug oder als Signatur des Sichtbaren beziehungsweise Unsichtbaren stehen im Zentrum der Frage, wie uns Sehen als eine Erfahrung gegeben ist. Das Sehen selbst fungiert in der Regel selbstverständlich, gibt darin kaum Rätsel auf. Widmet man sich allerdings den Fragen, was Sehen bedeutet, welche Phänomene es umfasst und welche Folgen es für das menschliche Dasein hat, wird sehr schnell deutlich, dass es nicht reduzierbar ist auf eine sinnliche Mechanik, dass es vielmehr die Grunddimensionen unseres leiblichen Zur-Welt-seins umfasst. Kurzum: Die Signifikanz des Sehens rückt als selbstreflexiver Gegenstand in den Fokus der Betrachtung. Die hier vorgelegte Aufsatzsammlung geht zurück auf ein interdisziplinäres Symposion, das im September 2018 gemeinsam von Vertretern der Institute für Pädagogik und für Philosophie an der Universität Würzburg ausgerichtet wurde. 1 Das Thema dieses Symposions ebenso wie dieses Buches mag nur auf den ersten Blick irritierend vage wirken: Sehen als Erfahrung. Als Problemtitel verdankt er sich zunächst einer eher zufälligen Koinzidenz von Interessen aus doch unterschiedlichen Perspektiven, in erster Linie den Perspektiven von Pädagogik und Philosophie, dann aber auch dem von beiden Seiten geteilten systematischen Interesse an einer im eminenten Sinne als ›Erfahrungswissenschaft‹ verstandenen Phänomenologie. Alle beteiligten Aspekte referieren dabei mehr oder weniger direkt auf jene Pointe, die seinerzeit schon Husserl betont, wenn er die Phänomeno-

Die Herausgeber bedanken sich bei dieser Gelegenheit für die großzügige finanzielle Unterstützung sowohl der Tagung als auch für die Übernahme der Druckkosten dieses Bandes beim Human Dynamics Centre der Fakultät für Humanwissenschaften an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.

1

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Einleitung

logie als »echten« Positivismus kennzeichnet, 2 insofern es darin um ein Ernstmachen mit der begründungstheoretischen Bedeutung, aber auch den Grenzen originären Erlebens geht. Ob solche Ursprünglichkeit in eminenter Weise vor allem im Sehen gegeben ist, wie Husserls eigene Bevorzugung visueller Phänomene vor anderen sinnlichen Vollzügen zu suggerieren scheint, inwiefern hier also eine eminente Art von Erfahrung angesprochen ist, oder ob solches Sehen im Kontext breiterer Wahrnehmungsvollzüge nur eine von vielen konstitutiven Quellen der Erfahrungswelt darstellt, mag hier vorerst unentschieden bleiben. Zu vermuten ist aber, dass das, was Sehen eben auch meint, etwas anderes ist, als nur die Kurzform intentionaler Auffassung von Wahrnehmungsgegenständen, die ihren Seinssinn aus Urteilsvollzügen schöpfen; vielmehr erscheint es auch als soziale Praxis leiblicher Vollzüge eines ästhetischen Zur-Welt-seins. Den Darstellungen und Reflexionen des eigenen, aber auch fremden Blicks kommen von der Antike bis in die Gegenwart große Bedeutung zu. Während das Faktum des Sehens lange Zeit nahezu ausschließlich im Kontext der Optik und der Naturwissenschaften interessiert, rückt es spätestens im 18. Jahrhundert und in der Folge in das Interesse des menschlichen Erfahrungshorizontes. Bereits in der Renaissance kündigt sich der Blick der Moderne an, wird doch vor allem die Kunst zum Ort der Austragung dessen, was Sehen je bedeutet. Das Sehen wird zu einer Hinwendung des Menschen zur Welt, zur Kunst und zur Wissenschaft, es erfasst alle menschlichen Selbst-, Welt- und Sozialverhältnisse in konstitutiver Weise. Sehen gilt als Erfahrung gerade nicht nur als eine passive Aufnahme von Wirklichkeit, als eine bloße Gegenstandskonstitution, sondern immer auch als eine Tätigkeit, die ihrerseits durch Konventionen konfiguriert ist, darin aber in der ästhetischen Dimension schlichtweg nicht aufgeht. Als Erfahrung ist Sehen ein historisches Produkt, zugleich aber auch ein ästhetisches Widerfahrnis. Unterschiedliche kulturelle Praktiken und Technologien des Sehens erzeugen das Sichtbare und Nichtsichtbare, über die visuelle Wahrnehmung wird der Blick allerdings stets gebrochen, irritiert oder unterlaufen. Das Sehen hält eine bestimmte Sichtweise fest, ohne seine fungierende leibliche Perspektivität des Blicks explizieren zu können. So ist der Blick eine Ein-

Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) (Husserliana III/1), Den Haag 1976, 45.

2

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Einleitung

übung in das Sehen, die das Gesehene als unter der Blick-Gestalt einer Ordnung identifiziert. Aber eben diese Ordnungen werden über das Sehen als Erfahrung vakant, ihrer Selbstverständlichkeit beraubt, der Blick wird freigesetzt, öffnet sich für Welt. In dieser spannungsreichen Erfahrungsdimension können Geschichte und Topiken des Sehens, wie sie in dem vorliegenden Band zur Darstellung kommen, als Artikulationen von Subjektivität gelten, ihrer leiblichen Fundierung, aber eben auch ihrer Modellierung. Dass der Gesichtssinn dabei einerseits als primärer Sinn der Welterschließung verstanden wird, so dass die Metapher des Sehens auch in die Urteilstheorie eingeht, wenn dort etwa von ›Einsicht‹ als Erkenntnisqualität und gar als Ausweis von Wahrheit die Rede ist; dass aber zugleich in der Geschichte des Denkens zunehmend Misstrauen gegenüber der bloßen und tendenziell trügerischen Erscheinung der Weltdinge geschürt wird – dieser Antagonismus mag also als ein möglicher Leitfaden eines Kolloquiums über das ›Sehen als Erfahrung‹ angenommen werden, der verschiedene Lesarten eröffnet. Die vielleicht am nächsten liegende Lesart dieses Titels besagt, dass das Sehen selbst eben eine Art von Erfahrung darstellt. Das ist prima vista die wohl auch am wenigsten aufregende Auslegung, die gleichwohl offen bleibt hinsichtlich dessen, was einer hier mit Erfahrung meint. Sollte empirische Erkenntnis damit gemeint sein, wären wir schon bei Kant, und wir würden das Sehen als eine von mehreren Säulen des Vernunftgebrauchs verstehen. Möglich, dass das wahr ist; wahrscheinlicher aber ist, dass wir das Sehen als ästhetisches Zur-Welt-sein damit noch unterschätzen. Die Herausgeber dieses Bandes neigen dazu, wie bereits viele vor ihnen, diesem letzteren Verdacht zu folgen. Allerdings fordert ein solcher Verdacht dann unbedingt Antworten auf die Fragen, was das Sehen denn mehr sein müsse, damit es als ästhetisches Zur-Welt-sein bezeichnet werden kann, sowie darauf, was solch ästhetisches Zur-Welt-sein eigentlich besagt. Einige Antworten darauf können vielleicht in den hier gegebenen Vorschlägen gefunden werden. Eine andere und womöglich spannendere Lesart der Rede vom Sehen als Erfahrung könnte die Erfahrung des Sehens selbst, im objektiven Sinn des Genitivs, meinen. Wie erfährt man aber das Sehen in einem originären Sinne? Als Gegenstand der Physiologie etwa oder der Optik? Oder kann man es unmittelbarer erfahren; kann man es gar seinerseits sehen? Wenn letzteres der Fall wäre, wäre diese Erfahrung womöglich als eine Art transzendentale Erfahrung zu 11 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Einleitung

verstehen, in der das Sehen nicht nur irgendetwas, sondern sich selbst samt seiner eigenen Möglichkeitsbedingungen zur Kenntnis bringt. Beide Lesarten sind also nur zwei bereits recht verschiedene, aber gewiss noch nicht die einzig möglichen Weisen, den hier gewählten Titel zu verstehen. Die hier vorgelegten Aufsätze liefern darüber hinaus ein Spektrum weiterer Auslegungen, denen aber eben gemeinsam ist, dass sie das Sehen vom bloßen Wahrnehmen unterscheiden und es nicht nur als dessen zentralen Aspekt auffassen. Stattdessen werden hier gewissermaßen ›Fundamentalperspektiven‹ auf das Sehen erprobt. Zum Inhalt des Bandes im Einzelnen: In ihrem Beitrag über die »Modalität des Hinschauens« diskutiert Eva Schürmann die These, dass bildliche Darstellungen sich als eine externalisierte Form von Intentionalität verstehen lassen und dass umgekehrt Intentionalität, als Strukturmoment des Bewusstseins, als eine inner-mentale Darstellung zu lesen sei. Bildliche Darstellungen können deshalb als gezeigte Vorstellungen gelten, in denen Sichtweisen ihrerseits sichtbar gemacht werden. Dem liegt nicht zuletzt die Idee zugrunde, dass alle Formen verstehender Weltwahrnehmung notwendig mit der sinnlichen Auffassung anheben und auf diese zurückweisen – weshalb die besagte Rede von der ›Einsicht‹ als qualifizierter Erkenntnismodus eben nicht nur metaphorisch zu deuten ist, sondern durchaus buchstäblich. Manfred Sommer liefert mit seinem »kleinen Versuch über die Intentionalität des Gesichtsfelds« eine quasi mikroskopische, dabei jedoch eminent phänomenologisch gehaltene Beschreibung eines in den einschlägigen Modellen der Wahrnehmungsphilosophie ansonsten eher vernachlässigten Phänomenbestandes: eben der Struktur des Gesichtsfeldes als der uns vielleicht präsentesten Form des Sehgeschehens. Seine deskriptiven Analysen betonen dabei einen charakteristischen Aspekt des Wahrnehmungssubjekts, das zwar notwendig leiblich organisiert ist, ohne dass dieser Leib jedoch auch immer schon ein körperliches Pendant hätte. Das, was wir unser Gesichtsfeld nennen, erweist sich somit als eine Art entkörperlichte Leibform unserer Sehfähigkeit. Das Thema verfehlt Karl Mertens – nur auf den ersten Blick. Denn sein Weg, sich dem Sehen zu nähern, wählt den Rekurs über dessen Negation – »Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie« –, um die fragliche Sache dabei umso pointierter zu erschließen; zumal das 12 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Einleitung

›Nicht‹ dem Sehen augenscheinlich selbst inhärent ist, da es im Vollzug gerade um diesen Vollzug nicht ›weiß‹ : das Wie des Sehens bleibt dem Sehenden selbst verborgen. Den Leitfaden der Darstellung bilden darum vor allem solche Phänomene, die das ›Nicht‹ als Horizont des Sehens dergestalt thematisieren, dass sie mit der Aufforderung einhergehen, das Nicht-Sehen in ein Sehen zu überführen. Wo schließlich diese Analysen fruchtbar sind, da vermögen sie nicht zuletzt den Charakter der Phänomenologie selbst zu dokumentieren – als Kunst, Nicht-Gesehenes – und damit eben auch das Sehen selbst – sichtbar zu machen. Herbert Kalthoff und Christiane Schürkmann diskutieren in ihrem Aufsatz »Verweisungen« den leiblichen Sehsinn vor allem als sowohl gerichteten wie reziproken sozialen Sinn: das Sehen also als gerichtet auf Gesehenes (und Gesehene) sowie als selbst dabei Sichtbares (Sichtbare) für andere. Am Leitfaden einer Graduierung des Sehens – über die Schritte Sehen, Betrachten und Verstehen – wird das Sehen als eine Praxis diskutiert, die eben notwendig in beide Richtungen zugleich – in Richtung der Außenreferenz wie der Selbstreferenz – verweist und derart auch Bedingungen einer ihm eigenen Reflexivität erfüllt, die den Sehenden nicht nur als Akteur, sondern auch als Produkt eben seines Sehens verstehen lehrt. Die Konkurrenz des Gesichtssinns zum Gehör liefert den semantischen Rahmen der Ausführungen von Karl-Heinz Lembecks Beitrag übers »Hören und Sehen«, wobei der Schlüssel für die Frage nach Vergleichbarkeit und prinzipieller Verschiedenheit beider Sinne in der Diskussion um die Möglichkeit ihrer ästhetischen Selbstreferenz gesucht wird. Im Verlauf dieser Diskussion entwickelt sich die zentrale These, wonach das Sehen, im Unterschied zum Hören, insbesondere in der gegenstandslosen Malerei seiner eigenen Möglichkeitsbedingungen, d. h. der transzendentalen Bedingungen von Sichtbarkeit, ansichtig zu werden vermag. Gernot Böhmes Beitrag »Skulpturen sehen« handelt über Goethes Schrift Laokoon und versteht den besprochenen Text dabei entschieden als Goethes Versuch einer Hinleitung zur Kunst, genauer: als Versuch einer Anleitung, im Angesicht der Skulptur der LaokoonGruppe selbst Seh-Erfahrungen zu machen. Goethe wird also gewissermaßen als Pionier der Rezeptions-Ästhetik gelesen, wobei das Besondere dessen, was er über die Laokoon-Gruppe zu sagen weiß, sich einer bereits phänomenologisch zu nennenden Einstellung verdankt. Wie die Malerei oder die Bildhauerei, so ist natürlich auch die 13 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Einleitung

Photographie in besonderer Weise geeignet, als ›Schule des Sehens‹ zu fungieren; und das nicht selten gewissermaßen zufällig. Der Aufsatz von Markus Heuft legt sein Augenmerk auf jene Seite der künstlerischen Photographie, die zu betonen sucht, was dem Photographen in der Praxis oftmals nur widerfährt: dass er etwas sichtbar macht, was sichtbar zu machen gar nicht intendiert war, was also jenseits des dokumentarischen Realismus liegt. Ein solches »Jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹« wird anhand ausgesuchter Protagonisten moderner Photographie und ihrer exemplarischen Werke vorgestellt und diskutiert. Die technische Transzendierung des zu dokumentierenden Augenblicks unterminiert dabei den vermeintlich anschaulichen Realismus des Sehsinns in gelegentlich frappierender Weise. Unter dem Titel »Sehen lernen!« beschreibt Ina Katharina Uphoff die Indienstnahme des sehenden Auges im Rahmen besonders der künstlerischen Erziehung. Ein Blick auf die Geschichte dieser Versuche in den letzten 200 Jahren zeigt bemerkenswerte Parallelen zu jeweils zeitgenössisch prominenten Formen des Weltverständnisses: etwa die Ausrichtung des Zeichenunterrichts an geometrischen Konstruktionsregeln im 19. Jahrhundert. Die Anschauung der Welt wird hier wissenschaftlich-systematisch zurechtgerückt, um dergestalt vor allem dem Erkenntnisgewinn zu dienen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts formiert sich demgegenüber – auch pädagogisch – ein »neues Sehen«. Die ästhetische Erziehung des Auges tritt nun an die Stelle der geometrischen. Nicht nur die Befähigung zu ästhetischem Genuss, sondern auch das Heranführen an die Kunst als Kulturgestalt gelten nun als erklärte Ziele schulischer Bildung. Die Pädagogik des Sehens im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert kann demnach als besonders augenfälliger Ausdruck kulturjustierender Entwicklungen gewertet werden. Anhand von Beispielen künstlerischen Schulwandschmucks werden schließlich Umsetzungsversuche solcher volkserzieherischer Ambitionen ihrerseits anschaulich gemacht. Dass solche Praxis des Sehens auch gestört sein kann, hat natürlich ebenfalls mit ihrer leiblichen Verortung zu tun. Reinhold Schmücker beschreibt in seinem Beitrag über »Sehstörungen und Sehhilfen« einschlägige pathologische Formen solcher Defizite, aber eben auch Techniken ihrer Kompensation. Dies geschieht sowohl aus der Perspektive des Mediziners wie des Optikers (und sogar des Patienten), dabei aber stets mit Blick auf philosophische Einsichten, die sich aus besagten Phänomenbeständen gewinnen lassen. Dazu gehört 14 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Einleitung

dann vor allem die Erkenntnis, dass das Sehen offenbar weniger eine konstruktiv-schöpferische, als eine passive Form von Praxis darstellt (und somit nicht als Handlung im eminenten Sinn zu beschreiben ist). Denn die diskutierten Kompensationsformen von Sehstörungen sind zumeist auf den Ausgleich eines Defizits ausgerichtet, das verhindert, dass sich für uns jenes unwillkürliche Ereignis einstellt, das wir eben »Sehen« nennen. Auf den ersten Blick ist die Rede von Transparenz im Kontext einer Diskussion ums Sehen nicht eben selbsterklärend: gilt doch als transparent vor allem solches, was man gerade nicht sehen kann, sondern durch das man eben hindurchsieht. Christian Bermes’ Beitrag zur ästhetischen »Kritik der Transparenz« weiß jedoch überzeugend von einer Verschiebung der Bedeutung des Transparenzbegriffs zu berichten, der inzwischen nur noch das allseits Präsente und die Oberfläche zu meinen scheint, auf welcher ein möglicherweise ansonsten Verdecktes offen zutage tritt (und treten soll). Wo solche Verschiebung, die sich als exemplarischer Ausdruck von Versuchen umfassenden Verfügbar-Machens der Welt lesen lässt, einer ästhetischen Kritik bedarf, da kann diese mit Merleau-Ponty geliefert werden. Denn dessen Phänomenologie der Wahrnehmung darf geradezu als Plädoyer für die Akzeptanz der Opazität unserer Wahrnehmungswelt gelesen werden: Das leibliche Sehen muss verstanden werden als ein Umgang mit dem Undurchsichtigen, nicht aber als Versuch, es zu beseitigen. Der Aufsatz »Erziehung des Blicks, Technologien des Sehens« von Andreas Dörpinghaus verfolgt zunächst die Entdeckungsgeschichte des Leibes, der sieht und zugleich gesehen wird, wie sie sich in der Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts vollzieht. In dieser Genealogie etabliert sich eine Subjektivität, die vornehmlich als »visuelle Subjektivität« verstanden werden muss. Diese Geschichte wird insbesondere mit Blick auf optische, anthropologische und physiologische Entwicklungen rekonstruiert, und es zeigt sich dabei, wie das Sehen schließlich zum Dispositiv gerät, in welchem sich unterschiedlichste Wissensformen vereinen, um letztlich mit dem Konzept der Sichtbarkeit eine neue Rationalitätsform auszubilden. Als solche wird Sichtbarkeit, so die Diagnose, zunehmend zu einer machtstrategisch einsetzbaren Größe, der unabhängig von sichtbaren Weltsachverhalten eine eigene ontologische Qualität zugesprochen wird. Die mit der Lenkung des Blicks auf Sichtbarkeit als solche vermeintlich gewonnene ›Freiheit‹ von der Präsenz der Dinge wird bis heute ge15 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Einleitung

nutzt, die Welt ideologisch zu konfigurieren. Eine Philosophie des Sehens, die solche Verhältnisse aufzuklären vermöchte, hätte daher nicht zuletzt ethische Bedeutung. Bei dem abschließenden Beitrag »Die Augen des Philosophen« von Ralf Konersmann handelt es sich um die teilweise überarbeitete und gekürzte Version eines älteren Textes des Verfassers. 3 Seine ebenso detail- wie aufschlussreiche Rekonstruktion der Konjunkturgeschichte des Sehens orientiert sich an der Dialektik von Krise und Triumph, von Kritik und Auszeichnung. Ob in der antiken theoría, aller Sinnenferne zum Trotz, der Gesichtssinn dominant bleibt oder ob stattdessen in der christlichen Bilderskepsis das Hören prominent wird, ob sich im frühen 19. Jahrhundert das Urteil der Vernunft gegen die augenscheinliche Evidenz behauptet oder ob einhundert Jahre später (nicht nur in phänomenologischen Kontexten) eine Rehabilitation des Authentizitätsanspruchs des Sehens vollzogen wird – immer ist die Geschichte des Sehens bereits von einer Kritik des Sehens durchsetzt. Und eben davon profitiert zuletzt auch das Sehen selber: In permanenter Rechtfertigungsnot wird ihm schließlich ein ihm wesentlicher Charakterzug anschaulich – offenkundig und unvermeidlich in Erfahrungskontexten kultureller wie historischer Art verstrickt zu bleiben.

Zuerst erschienen in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 1997, 9–46.

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Eva Schürmann

Die Modalität des Hinschauens. Intentionalität als qualitative Formgebung Die Dinge sahen anders aus, sobald sie sie angeblickt hatte. Hans Jonas über Hannah Arendt 1

Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegungen ist die Beobachtung, dass die metaphorische Rede vom Sehen ernst und wörtlich zu nehmen ist. Ich behaupte, dass es buchstäblich stimmig ist, wenn wir von Prozessen des Einsehens und Verstehens in Begriffen visueller Wahrnehmung reden, wie wir es tun, wenn wir sagen: ›I can see what you mean‹, ›ich sehe das anders‹, ›voyons, qu’est-il y a le cas‹ etc. Mit Wittgenstein könnte man sagen, wenn wir auf den Sprachgebrauch schauen – was zugegebenermaßen auch heißt, auf ihn zu hören, aber das zeigt nur, dass mein Gedanke auch auf diese Form des Wahrnehmens auszuweiten wäre –, erkennen wir eine so tiefe Verschränkung des sinnlich Vernehmbaren mit dem Mentalen, dass die Zergliederung dieses Zusammenhangs das Nachdenken darüber in die Irre führt. Einmal getrennt, bringt man die Teile nicht wieder zusammen. Wenn Hans Jonas am Grab von Hannah Arendt sagt, dass die Dinge anders aussahen, nachdem sie sie angeblickt hatte, mag das zwar eine metaphorische façon de parler sein. Doch gemeint ist allemal eine Form der Weltwahrnehmung, die mit dem realen sinnlichen Vernehmen ihren Anfang nimmt und darauf zurückwirkt. Die metaphorische Rede bildet das ab und ist insofern nicht nur nicht ornamental, sondern geradezu präzise. Die Intelligibilität des Gesichtssinnes basiert auf dem systematischen Konnex zwischen sinnlicher Wahrnehmung und weiteren mentalen Bewusstseinsleistungen. Sicher kann man analytisch trennen zwischen der Physiologie des Auges, neuronaler Reizverarbeitung und mentalen Zuständen, etwa der Überzeugung oder des Wissens (wie immer diese aus den neuronalen Prozessen emergieren Hans Jonas’ Grabrede auf Hannah Arendt, zitiert nach Christian Wiese (Christian Wiese, Hans Jonas – »Zusammen Philosoph und Jude«, Frankfurt a. M. 2003, 114.

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Eva Schürmann

mögen). Aber dabei handelt es sich eben um eine Analyse, das heißt, um die Zerlegung eines Ganzen in künstlich isolierte Bestandteile, noch dazu aus drittpersonaler Perspektive. Gehen wir hingegen von dem aus, was wir tun, wenn wir wahrnehmen, ist in diesem Akt 2 kein Zustand retinaler Reizaufnahme sinnlichen Rohmaterials zu fixieren, 3 sondern nur das sinnliche Auffassen, das untrennbar zu Eindrücken, Überzeugungen oder Urteilen führt. Begreift man Sehen aus dieser Einheit sinnlichen und mentalen Weltbezugs, hat das Folgen für das Verständnis der Intentionalität des Bewusstseins. Dessen Ausrichtung hängt dann nämlich ebenso stark von optischen Perspektiven ab wie von epistemischer Perspektivität. 4 So wie uns ein räumlicher Standpunkt das von dort aus wahrgenommene Objekt eben nur von einer bestimmten Seite oder Ansicht zeigt, erkennen wir auch im epistemischen Gegenstandsbezug nur jeweilig begrenzte Aspekte. Daraus folgen weder ein beliebiger Relativismus noch ein illusionärer Anschein; es bedeutet lediglich die profunde Relationalität von Erkennendem und Erkanntem. Irreführend wird der Vergleich optischer und epistemischer Perspektiven allerdings da, wo wir von intentionalen Prozessen nach dem Modell eines Kameraschwenks auf schlechthin Vorhandenes denken. Bereits die optische Perspektive enthält konstruktive Anteile, die den Gegenstand nicht einfach abbilden, sondern auch konstituieren. Vollends ist die Fähigkeit des Geistes, sich auf etwas zu richten, wie ich im Folgenden darlegen werde, keine neutrale Ausrichtung auf

Ich habe diesen Handlungscharakter ausführlich erläutert in: Eva Schürmann, Sehen als Praxis, Frankfurt 2008, 67 ff. Im Unterschied zu intentionalen Zuständen, etwa des Glaubens oder Überzeugtseins, tut man etwas, wenn man sieht. Der Vollzugscharakter besteht darin, dass man durch das Wahrnehmbare nicht monokausal zu einer bestimmten Sinneserfahrung determiniert wird, sondern Aspekte des Wahrnehmbaren realisiert, indem man sie bemerkt. 3 Im Gegenteil zeigen gerade die interessanten Fälle von Blindsichtigkeit, dass eine funktionierende Retina noch lange nicht zu visuellen Erlebnissen und erkennender Gegenstandswahrnehmung führt, wenn eine Störung im Gehirn vorliegt. Obwohl die Personen sich in der Welt orientieren können, erfahren sie sich als blind. Vgl. bspw. Petra Stoerig, Blindsehen, in: Karnath, Thier (Hg.), Kognitive Neurowissenschaften, Heidelberg 2003, 97–103. 4 Der Perspektivismus hat zurecht wieder Konjunktur. Neuere Erörterungen finden sich in Christoph Asmuth, Quentin Landenne (Hg.), Perspektivität als Grundstruktur der Erkenntnis, Würzburg 2018; sowie Herbert von Sass (Hg.), Perspektivismus, Hamburg 2019 und Jörg Volbers (Hg.), Allgemeine Zeitschrift für Philosophie. Perspektivität. Heft 44.3/2019. 2

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Die Modalität des Hinschauens

etwas, das eindeutig gegeben wäre, sondern ein Modus geistiger Bezugnahme, der das Aufgefasste spezifisch einformt. Wenn wir Bewusstsein als tätige Verfahrensweise und relationalen Bestimmung denken, wird deutlich, dass seine Intentionalität in operativen und responsiven Prozessen der Gegenstandskonstitution bestehen. Unter Rekurs auf Husserl werde ich einen solchen Intentionalitätsbegriff entfalten, um darüber hinaus zu zeigen, dass das, was für Akte des Sehens gilt, überdies auf Akte des Darstellens auszuweiten ist. Auch bei dem, was wir – sei es sprachlich oder bildlich – darstellen, zeigen oder artikulieren, handelt es sich um intentionale Akte. Und auch hier gebrauchen wir zurecht und mit guten Gründen unersetzliche Metaphern 5 für Weisen geistigen Weltbezugs, wenn wir beispielsweise sagen, etwas stelle sich jemandem so dar, wenn er diese oder jene Ansicht vertrete oder von einem Standpunkt aus urteile. Meine These lautet, dass Darstellungen eine Form externalisierter Intentionalität sind und Intentionalität als Strukturmoment des Bewusstseins eine inner-mentale Darstellung ist. 6

I.

Intentionalität des Wahrnehmens

Intentionalität in-formiert im ursprünglichen Wortsinn, das heißt, sie besteht in einer Bewusstseinsbewegung auf etwas, das erst in der Bewegung und durch diese hindurch eine bestimmte Form erhält. Im Falle intentionaler Vorstellungsakte muss das Vorgestellte noch nicht einmal existieren, geschweige denn genauso, wie es vorgestellt wird. Im Falle von intentionalen Wahrnehmungsakten jedoch, das heißt in der in sinnlichen Erfahrungen des Sehens, Hörens und Fühlens wirksamen Intentionalität, wird das Wahrgenommene in einer bestimmten Form realisiert, die es von sich aus nahelegt und die folglich trotz produktiver Anteile keineswegs nur konstruiert wird. Denken wir etwa an Wittgensteins Beispiel für das Aspektsehen: Hase und Ente sind gleichermaßen real sichtbare Gestalten, aber wir realisieren je-

Hans Blumenbergs griffige Formel von der »logischen Verlegenheit«, für die Metaphern ein Indiz sind, wird uns weiter unten noch beschäftigen. Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt a. M. 1999, 10. 6 Es handelt sich hierbei um einen kurzen Auszug aus meinem Buch. Eva Schürmann, Vorstellen und Darstellen. Szenen einer medienanthropologischen Theorie des Geistes, Paderborn 2018. 5

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weils nur diesen oder jenen Aspekt bzw. können zwischen ihnen hin und her wechseln. Geistiger Weltbezug hat es gewissermaßen beständig mit Kippfiguren zu tun, indem mal dieser, mal jener Aspekt die Aufmerksamkeit anzieht. Jedesmal wird dabei freilich etwas-alsetwas in den Blick genommen, indem anderes abgeblendet wird oder unbemerkt bleibt. Intentionalität hängt also auf spezifische Weise mit der Perspektivität des Auffassens und dem Aspektcharakter des Aufgefassten zusammen.

Die Art und Weise der Bezugnahme Auf welche Weise Intentionalität jedoch noch darüber hinaus geht, indem sie eine dritte Qualität des Gegenstandsbezugs darstellt, möchte ich nun mit Hilfe eines theatralischen Beispiels erörtern, das ich für instruktiv halte: Der Dramatiker Heiner Müller hat in einer Nachdichtung über einen antiken Helden, der sich als Sieger einer Schlacht um Rom verdient machte, die zugespitzte Version eines Konfliktes thematisiert: Der Held ist zugleich ein Mörder, denn der Sieger über Alba hat in einer Übersprungshandlung seine Schwester ermordet, die um den Besiegten trauerte. Die eine Tat soll mit Lorbeer gekrönt werden, die andere mit Enthauptung geahndet. Der Horatier Müllers wird tatsächlich als Gekrönter hingerichtet, und es wird entschieden, dass seiner künftig nicht gedacht werden dürfe, ohne stets beides, Ruhm und Verbrechen, zugleich zu benennen: »Wie soll der Horatier genannt werden der Nachwelt? […] Er soll genannt werden der Sieger über Alba Er soll genannt werden der Mörder seiner Schwester Mit einem Atem sein Verdienst und seine Schuld.« 7

Denn die Schuld löscht das Verdienst nicht aus. Wer oder was der Horatier ist, ist auf dramatische Weise aspektisch. Das Beispiel zeigt deutlich, dass Aspekte nicht einfach gegebene Facetten sind. Ob ich auf jemanden oder etwas als dieses oder jenes, Sieger oder Mörder, Bezug nehme, verlangt unter Umständen dramatische Gewichtungen und Entscheidungen. Wer jeweils nur den Sieger oder nur den Mörder betrachtet Heiner Müller, »Der Horatier«, in: Hörnigk (Hg.), Werke 4, Die Stücke 2, Frankfurt a. M. 2001, 73–86, hier: 84.

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(oder der Nachwelt von ihm berichtet), schaut woanders hin, nämlich auf andere Aspektgestalten des Horatiers. Wer ihn hingegen entweder vom Standpunkt des Opfers oder des verteidigten Volkes schilderte, schaut von woanders auf denselben Gegenstand. Wir kennen diese Unterscheidung aus der Erzähltheorie, die mit den Begriffen Fokalisation und Perspektive zwei verschiedene Verfahrensweisen beschreibt, mit denen das Erzählte unterschiedlich in den Blick genommen und gezeigt werden kann: Im Fall der Fokalisation werden andere Ausschnitte einer Geschichte oder eines Gegenstandes betrachtet, im Fall der Perspektive wird ein und derselbe Ausschnitt aus unterschiedlichen Blickwinkeln geschildert. Doch die dritte Dimension, auf die ich hinaus möchte, besteht überdies im Modus der intentionalen Bezugnahme: die Art und Weise des Wahrnehmens und Auffassens ist eine weitere Dimension des Gegenstandsbezugs, denn wer den Horatier nun etwa bewunderte, weil er siegte, oder verachtete, weil er mordete, würde jeweils anders hinschauen, das heißt, er richtet sich mit anderer Grundhaltung auf den Gegenstand aus. Hierin erst kommt die Qualität der Intentionalität zum Tragen, denn aus welcher Perspektive welcher Aspekt in den Blick genommen wird, sagt noch nichts über die Art und Weise der Bezugnahme. Ein und derselbe Aspekt kann nicht nur von verschiedenen Standpunkten, sondern auch auf verschiedene Weise betrachtet werden. Dabei werden sowohl der Gegenstandsaspekt als auch der Standpunkt, von dem aus perspektiviert wird, durch Auffassungsweisen überformt, ohne damit deckungsgleich zu sein. Das Woanders-Hinschauen und das Von-Woanders-Hinschauen fokussieren objektseitig andere Aspekte aus unterschiedlichen Subjekt-Standpunkten. Aber erst das Anders-Hinschauen bedeutet eine qualitative Ein- und Umformung des wahrgenommenen Gegenstands. Aus dieser Variabilität des Wahrnehmens (im perzeptiven wie im mentalen Sinn) erhellt sich, warum es vom Wahrgenommenen völlig unterschiedliche Versionen aus völlig verschiedenen Gründen geben kann, die dennoch alle zutreffend sein können. Der Horatier ist wirklich ein Sieger und wirklich ein Mörder, keine der Geschichten, die man über diesen oder jenen Aspekt erzählte, wäre gelogen, illusorisch oder falsch. Aber wer nur vom Sieger berichtete, erzählte gewissermaßen genauso schlecht wie derjenige, der nur den Mörder beschriebe, jedenfalls würde jede der beiden Darstellungen vereinseitigen und durch Auslassung verkürzen. 21 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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Die Besonderheit des Geistes bzw. Bewusstseins 8 besteht nicht darin, Bewusstsein von etwas objektiv Vorhandenem sein zu können, also von etwas, das es eben einfachhin gibt, sondern darin, sich auf etwas zu beziehen und ihm dabei erst eigentlich eine spezifische Form zu geben. Dabei muss das so Konstituierte nicht notwendig raumzeitlich gegenwärtig sein. In der Erinnerung richtet der Geist sich auf Vergangenes, in der Erwartung auf Zukünftiges, in der Vorstellung auf Fiktives oder Imaginäres. Und die Tatsache, dass all diese Akte geistiger Bezugnahme sehr wohl einen repräsentationalen Gehalt haben, also nicht gänzlich leer sind, ist Grund für die anhaltenden Debatten zwischen Realismus und Konstruktivismus: Etwas Wirkliches muss vorausgesetzt werden, wenn von Weltbezug die Rede sein können soll, und doch ist dieses Wirkliche erst realisiert, wenn ein Bewusstsein sich einformend und perspektivisch darauf richtet. Nun, in der visuellen Wahrnehmung richtet es sich auf raumzeitlich Anwesendes. Doch das bedeutet nicht, dass sich die Wahrnehmung zur sichtbaren Wirklichkeit verhielte wie ein neutrales Registrieren eindeutiger Fakten oder dass sie kausal determiniert wäre durch ein physisch Gegebenes. Vielmehr spielen auch hier Erwartung und Erinnerung, Gelerntes und Ersehntes, Überzeugungen und Vorverständnisse eine Rolle – deswegen qualifiziert Kant Einbildungskraft als Ingredienz der Wahrnehmung. Und dieses Hineinspielen bedingt, dass das wahrnehmende Bewusstsein ebenso wie das vorstellende oder erinnernde Bewusstsein seine Gegenstände intentional überformt. Geistige Akte bestehen also in der Vergegenwärtigung von etwas, das ›als es selbst‹ auf merkwürdige Weise abwesend ist. Weder muss es physisch in der raumzeitlichen Gegenwart eines Bewusstseinsinhabers vorhanden sein, noch muss es überhaupt existieren, wie etwa literarische Gestalten, Homers Götter etc. Es erfordert somit eine genauere Betrachtung dessen, was man mit den Ausdrücken ›ist gegeben‹ oder ›es gibt‹ sinnvollerweise meinen kann. Denn was da ist oder nicht, ist nicht mit bloßer, selbst-identischer ontischer Vorhandenheit zu verwechseln. Vielmehr ist es eine paradoxale Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit, die die Welt-Ausrichtung Ich benutze hier beide Begriffe synonym, weil mein Thema ebenso allgemein in die Philosophie des Geistes gehört, wie es ein Beitrag zur Bewusstseinstheorie im Besonderen ist.

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des Geistes im Allgemeinen und die Wahrnehmungsakte im Besonderen charakterisieren. Die Gerichtetheit des Bewusstseins bedeutet somit eine qualitative Formung des Gegenstandsbezugs, das Wie des Hinschauens. Erst die Art und Weise der Bezugnahme konstituiert den Gegenstand als diesen und keinen anderen. Zudem hängt, wie und als-was ich etwas wahrnehme, seinerseits von kollektiven und individuellen Vorstellungsrahmen ab, kulturell und historisch wandelbaren Weltbildern, sozialen Wahrnehmungskonventionen, normativen Hintergrundüberzeugungen oder Erfahrungshorizonten. Diese sind anordnend und perspektivierend am Wahrnehmen beteiligt. Intentionalität als Modus der Ausrichtung stellt neben der Perspektivität des Wahrnehmens und der Aspekthaftigkeit des Wahrgenommenen einen dritten Faktor der Objektbeziehung dar. Zusammen erklären diese Faktoren die Variabilität des Sehens, also den Umstand, dass das Sichtbare den Sehenden nicht eindeutig zu etwas determiniert, sondern eher motiviert, was jeweils realisiert, übersehen oder bemerkt wird, so dass alle in einem Raum befindlichen Personen individuell verschiedene Wahrnehmungen haben.

Buchstäbliche Metaphern Es ist die Intentionalität des Wahrnehmens, die bedingt, dass es in einem buchstäblichen Sinne richtig ist, dem Sehen Intelligibilität und Sinnlichkeit zugleich zuzusprechen. Das ganze Wortfeld des Visuellen zeigt, dass mentales und sinnliches Vernehmen in ununterbrochenem Austausch stehen: Wenn ich jemandem beispielsweise am Gesichtsausdruck ansehe, dass er etwas sagen will, sehe und erkenne ich zugleich; welche Sicht man auf die Dinge einnimmt, hängt davon ab, wie sehr man sie überschaut, was man überhaupt nicht sieht bzw. wovon man ab-sieht. Jemand wirft mir einen buchstäblich sprechenden Blick zu, der zu sagen scheint: ›Sieh dich vor!‹ Wollte man das alles nur als übertragene Redeweise disqualifizieren, würde man die Unhintergehbarkeit ihrer Metaphorizität verkennen. Vor allem aber müsste man sagen können, wie sich das Bezeichnete denn begrifflich klarer darstellen ließe. Von den beschriebenen Vorgängen lässt sich jedoch nicht mit Bestimmtheit eingrenzen, was an den damit verbundenen Tätigkeiten des Schauens, Blickens oder Beobachtens im engeren Sinne sinnlich ist. Sinnfällige Worte wie ›Einblick‹ oder ›Ge23 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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sichtspunkt‹ sind keine blumige Ausdrucksweise von etwas, das sich auch unverblümt sagen ließe. Zwar kann es Einzelfälle eines vornehmlich metaphorischen Sprachgebrauchs vom Sehen geben: Um zu »sehen«, was jemand meint, muss mir nicht notwendig etwas Sichtbares vor Augen stehen etc. Gleichwohl mag der Gesprächspartner durchaus etwas gezeigt und dargelegt haben, was ich zuvor nicht bemerkte. Jedenfalls aber sind die vergleichsweise eindeutigen Fälle von Metaphorizität gegenüber den vielschichtigen Vernetzungen des Aisthetischen und des Mentalen eher die Ausnahme als die Regel. Colin McGinn kommt deshalb sogar zu dem Schluss, dass es buchstäblich wahr sei, von einem »geistigen Auge« 9 zu sprechen. Die Metaphorizität der Sprache im Allgemeinen und des Sprechens über so etwas Ungegenständliches, Prozessuales und Merkwürdiges wie das Bewusstsein im Besonderen es ist, wie wir durch Blumenberg wissen könnten, häufig keineswegs Mangel an Klarheit, sondern Symptom einer Problemlage. »Echte Metaphern« 10 sind »kalkulierte Regelverstöße«, 11 das heißt, sie werden bewusst in Kauf genommen, wo und weil eindeutigere Bestimmungen aus guten Gründen fehlen. 12 Es handelt sich nicht einfach um elliptische Ausdrücke, verkürzte Vergleiche und prinzipiell Übersetzbares. In Husserls Bewusstseinsanalyse, der wir uns nun zuwenden, ist die Metapher der Anschauung vielmehr, wie insbesondere Karl Mertens dargelegt hat, 13 ebenso fundamental wie prägnant. »I shall argue, that […] the phrase ›the mind’s eye‹ is not metaphorical. It is literally true that we see with our mind.« (Colin McGinn, Mindsight, Cambridge 2004, 42.) 10 Im Sinne Josef Königs, der echte und bloße Metaphern unterscheidet, welche tatsächlich nur blumige Ausdrucksweisen seien: Josef König, Bemerkungen zur Metapher, in: Ders., Kleine Schriften, Freiburg 1994, 156–176. 11 Nelson Goodman spricht von ›calculated category-mistake‹ in: Languages of art, Indianapolis 1976. 12 Stellvertretend für sehr viele Studien zur Unersetzlichkeit von Metaphern, vgl. beispielsweise: Christian Lotz, Mitmachende Spiegelleiber. Anmerkungen zur Phänomenologie der konkreten Intersubjektivität bei Husserl, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 56, 1 (2002), 72–95 oder Ralf Konersmann, Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts, Frankfurt a. M. 1991. Ferner: Christian Strub, Kalkulierte Absurditäten, Freiburg 1991. 13 Karl Mertens, Leitmetaphern in Husserls Analyse des Bewusstseins, in: Manfred Frank/Niels Weidtmann (Hg.), Husserl und die Philosophie des Geistes, Berlin 2010, 156–177. Mertens zeigt, dass Husserl sein phänomenologisches Projekt selbst verkennt, wenn er die Metaphorik seiner Sprache für äußerlich hält und systematisch marginalisiert. 9

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II.

Das Wie der Gegebenheitsweise bei Husserl

Husserls phänomenologische Unterscheidung zwischen dem Gegenstand und der Art seines Gegebenseins in der Erfahrung trägt dazu bei, die intentionale Struktur des Bewusstseins zu erklären und verstehen. Wenn Husserls Terminologie auch zuweilen der Grund für gewisse Rezeptionsbarrieren sein mag, so ist es doch die in den Logischen Untersuchungen eingeführte Rede von Akt-Materie und AktQualität, die hilft, die Differenzierung zwischen der »Sache selbst« und dem »Auffassungssinn« der Bezugnahme besser zu verstehen. Zugleich sind es allerdings die Tücken der Grammatik, die das Denken in Aporien verwickeln: Denn die sprachliche Unterstellung einer ›Sache selbst‹ klingt verdächtig nach einem Ding an sich, das wir immer wieder unterstellen müssen, ohne es greifen zu können. Doch gehen wir der Reihe nach vor: Die Aktmaterie unterscheidet sich analytisch von der Aktqualität wie der Gegenstand von seiner qualitativen Wahrnehmung, als dem, was ich das Wie des Auffassens nannte. Deswegen kann ein und derselbe Gegenstand variabel aufgefasst werden. Als was er intendiert wird, nennt Husserl seinen Auffassungssinn: »An der Materie des Aktes liegt es, daß der Gegenstand dem Akte als dieser und kein anderer gilt, sie ist gewissermaßen der die Qualität fundierende […] Sinn der gegenständlichen Auffassung (oder kurzweg der Auffassungssinn)«. 14

Die »Eigenschaft von Erlebnissen, ›Bewusstsein von etwas zu sein‹«, 15 macht ihren repräsentationalen Gehalt aus, also das, worauf sie sich beziehen und wovon sie Bewusstsein sind. Die Unterscheidung zwischen der Art der Bezugnahme und dem repräsentationalen Gehalt erklärt, warum identische Gegenstände völlig unterschiedlich zu Bewusstsein kommen können. Unter Repräsentation wird sehr viel Verschiedenes verstanden, ich werde deshalb im dritten Abschnitt lieber mit dem deutschen Wort Darstellung fortfahren. Zunächst aber ist festzuhalten, dass es die Differenz zwischen intentionalem und repräsentationalem Bezug ist, die, wie ich zeigen werde, eine paradoxale Gleichzeitigkeit anwesender Abwesenheit des Gegenstandes bedingt: Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Zweiter Band – I. Teil (Husserliana XIX/I), Den Haag 1984, 430. 15 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch (Husserliana III/1), Den Haag 1976, 188. 14

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Er ist vergegenwärtigt, aber als-etwas, und was er sonst noch ist, bleibt abgeschattet.

Intentionalität und Repräsentationalität Weil man sich auf denselben Gegenstand in unterschiedlicher Weise beziehen kann, hatte Frege zwischen Sinn und Bedeutung unterschieden. Die Bedeutung des Ausdrucks ›Sieger von Jena‹ ist dieselbe wie die des Ausdrucks ›der Besiegte von Waterloo‹, nämlich Napoléon, aber ihr Sinn ist verschieden. 16 Zwei singuläre Termini können von ein und demselben Gegenstand in unterschiedlicher Weise handeln. Dieser terminologischen Unterscheidung folgt Husserl zwar nicht, 17 aber er gebraucht sie der Sache nach. Sie ist systematisch notwendig; ebenso benötigt sie etwa John Searle, wiewohl er seine eigene Intentionalitätstheorie als explizit unphänomenologisch 18 begreift, während er Husserl aber tatsächlich viel näher ist, als er meint, wenn er schreibt: »Intentionale Zustände haben immer Aspektgestalten, weil Repräsentation immer aspektisch ist.« 19 Denn das Bewusstsein kann sich eben immer wieder neu und anders auf ein und denselben Gegenstand beziehen. Ob ich beispielsweise den Regen als Fahrradfahrer befürchte oder als Gärtnerin erhoffe, macht für den repräsentationalen Gehalt keinen Unterschied, jedoch für die Art der intentionalen Ausrichtung, also die Aktqualität, einen Unterschied ums Ganze. Das ist wichtig, weil erst hieraus der Eindruck resultiert, als ob es das, worauf sich Bewusstsein richtet, notwendig ›draußen in der

Gottlob Frege, Briefwechsel mit D. Hilbert, E. Husserl, B. Russell sowie ausgewählte Einzelbriefe Freges, hg. von Gottfried Gabriel, Hamburg 1980, 116. 17 »Bedeutung gilt uns ferner als gleichbedeutend mit Sinn.« Husserl, Logische Untersuchungen II/1 (Husserliana XIX/I), a. a. O., 58. 18 Husserl ist für die Philosophie des Geistes so grundlegend, dass nur verfeindete Theorieschulen das leugnen können. Interessante Beiträge dazu versammeln Manfred Frank/Niels Weidtmann (Hg.), Husserl und die Philosophie des Geistes, a. a. O. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden phänomenologischer und analytischer Bewusstseinsphilosophie, vgl. auch Thomas Szanto, Bewusstsein, Intentionalität und mentale Repräsentation. Husserl und die analytische Philosophie des Geistes, Berlin 2012; zu Husserl und Dennett, vgl. Thomas Rolf, Erlebnis und Repräsentation. Eine anthropologische Untersuchung, Berlin 2006. 19 John R. Searle, Geist. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 2007, 179. 16

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Welt‹ gäbe, aber es ist nur eine Eigenschaft des intentionalen Sichauf-etwas-als-etwas-Ausrichtens, und nichts garantiert, dass es dieses Etwas auch gibt, schon gar nicht ›an sich‹. Es ist dem Geist ohne weiteres möglich, sich intentional auf Abwesendes oder Fiktives zu richten, und obwohl man den Bewusstseinsakt analytisch von seinem Gegenstand trennen kann, der Gegenstand also ›wirklich‹ im Sinne eines reellen Bewusstseinserlebnisses etwas ist, das so oder anders intendiert werden kann, muss es den Gegenstand keineswegs wirklich geben. »Stelle ich den Gott Jupiter vor, so ist dieser Gott […] in meinem Akte ›immanent gegenwärtig‹, […] das heißt, ich habe ein gewisses Vorstellungserlebnis, […]. Man mag dieses intentionale Erlebnis in deskriptiver Analyse zergliedern, wie man will, so etwas wie der Gott Jupiter kann man darin natürlich nicht finden; der ›immanente‹, ›mentale‹ Gegenstand gehört also nicht zum deskripten (reellen) Bestande des Erlebnisses, er ist also in Wahrheit gar nicht immanent oder mental. Er ist freilich auch nicht extra mentem, er ist überhaupt nicht. Aber das hindert nicht, daß jenes Den-GottJupiter-Vorstellen wirklich ist«. 20

Wirklich ist es im Sinne eines bewussten Erlebnisses, das sich phänomenologisch gar nicht ändert, wenn das Bewusstsein sich auf einen existierenden Gegenstand richtet: »Jupiter stelle ich nicht anders vor als Bismarck.« 21 Insofern ist »die Sache selbst« auf paradoxe Weise zugleich anwesend als auch abwesend. Diese merkwürdige Struktur des Bewusstseins erkennt Husserl nun auch in seinen Repräsentationen und Manifestationen wieder, nämlich in Bildern. In seinen Ausführungen zum Bildbewusstsein unterscheidet Husserl ebenfalls den Auffassungsakt von der Auffassungsweise sowie vom Auffassungsgegenstand. 22 Denn Bilder weisen dieselbe Selbstdifferenz bzw. Selbstverdoppelung auf wie das Bewusstsein, sie sind Bilder von etwas, indem sie etwas-als-etwas (re-) präsentieren, das als es selbst auf merkwürdige Weise abwesend ist.

Husserl, Logische Untersuchungen II/1 (Husserliana XIX/I), a. a. O., 386. Ebd., 387. 22 Von dem sich der Auffassungsinhalt noch einmal so unterscheidet wie der repräsentationale Gegenstand vom intendierten. 20 21

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Vergegenwärtigung des Abwesenden »Das Bild macht die Sache vorstellig, ist aber nicht sie selbst.« 23 Dies gilt im Übrigen räumlich wie zeitlich: »Wir sehen im Bild ein NichtJetzt im Jetzt.« 24 Nur die Vögel des Zeuxis halten die gemalten Trauben für wirkliche Trauben; Bildwahrnehmung besteht gerade im Bewusstsein ihrer Gemaltheit, das heißt ihrer physischen Abwesenheit. Dasselbe gilt aber genauso für fotografische oder mentale Bilder, denn auch der fotografierte Gegenstand mag selbst schon lange nicht mehr existieren bzw. sah in der Realität anders aus, und ebenso ist der mental aufgefasste Gegenstand, wie wir sahen, nicht als er selbst wirklich. Bilder (und Analoges gilt auch für Sätze, aber darum ist es hier nicht zu tun) sind Darstellungsformate, die folglich auf demselben Unterschied zwischen dem Akt einer intentionalen Bezugnahme und dem dadurch gemeinten Gegenstand beruhen, wie er auch die mentale Bezugnahme charakterisiert. Wie das Bewusstsein stets Bewusstsein von etwas ist (und sei es von sich selbst), handelt 25 auch die Darstellung (mitunter selbstreflexiv 26) von etwas, das sie als-etwas, auf eine bestimmte Weise, von einer Perspektive und in einem Aspekt darstellt. Wir stoßen in Darstellungen somit auf dieselbe intentionale Struktur wie im Bewusstsein, beide sind analog beschaffen, weil sie auf derselben Differenz zwischen einem Was und einem Wie basieren. Dies ist der Grund für meine nun auszuführende These, dass Darstellungen eine Form externalisierter Intentionalität sind und Intentionalität als Strukturbestimmung des Bewusstseins gleichsam eine interne Darstellung ist.

Edmund Husserl, Phantasie, Bidbewußtsein, Erinnerung, Husserliana XXII, Den Haag 1980, 18. 24 Ebd. 47. 25 Aus der Kunsttheorie kennen wir für dieses Strukturmoment des Mentalen, das eben zugleich eine Eigenschaft jeder Darstellung ist, den Begriff aboutness. Vgl. Arthur C. Danto, Philosophie und Kunst, in: Ders., Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt a. M. 1993, 91–141, hier: 13 ff. 26 Im Selbstbewusstsein ist der Vorstellende zugleich der Vorgestellte und die Differenz von beiden; analog dazu ist im reflexiven Kunstwerk die Darstellung zugleich in ihrer Her- und Dargestelltheit mitthematisiert. 23

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III. Intentionalität des Darstellens Während der Repräsentationsbegriff oft als Abbildung missverstanden wird, kann der Begriff Darstellen als Oberbegriff für verschiedene Weisen artikulierten Sagens und Zeigens, für Tätigkeiten des Formgebens, Anordnens, Vergegenwärtigens und Ausdruckverleihens verwendet werden. Als deutsche Übersetzung des griechischen Terminus μιμησις und des lateinischen repraesentatio bezeichnet der Begriff Darstellung weder hauptsächlich noch ausschließlich stellvertretenden Zeichen- oder Symbol-Gebrauch, sondern steht ebenso für Tätigkeiten der performativen Verkörperung (beispielsweise der Schauspielkunst) oder der Aneignung. Auch Mimesis meinte noch niemals einfach nur die kopistische Abbildung eines objektiv Vorhandenen, sondern ebenso die poietische Hervorbringung und Anverwandlung. 27 Auch der Doppelsinn des lateinischen repraesentatio für eine mentale Vorstellung wie auch für eine medial-artikulierte Darstellung kommt nicht von ungefähr und hat seinen guten Grund: Darstellungen haben gewissermaßen eine Selbst-Seite und eine Welt-Seite, das heißt, sie beginnen mit intrinsischen Vorstellungen im Sinne von Bewusstseinsoperationen des Auffassens, und sie werden externalisiert in der Auseinandersetzung mit Materialien und Medien, seien diese sprachlich oder bildlich, körperlich oder technisch. Wie die Vorstellung bezeichnet auch die Darstellung sowohl den Akt als auch sein Resultat. Deshalb sind sie auch aus erstpersonaler wie aus drittpersonaler Perspektive beschreibbar. Bei Kant ist die Vorstellung ein Gattungsbegriff, der durchaus auch im Sinne von Auffassung und Ansicht gebraucht wird. Vorstellungen werden explizit, indem sie versprachlicht, verbildlicht und ausgedrückt werden, und Darstellungen stellen Vorgestelltes dar, indem sie notwendig eine gewisse Sicht auf das Dargestellte mit sich führen und es auf eine bestimmte Weise vergegenwärtigen. Um es pointiert zu sagen, sind Darstellungen gezeigte Vorstellungen, sie machen Wahrnehmungen wahrnehmbar und Sichtweisen sehbar.

Viel dazu in den beiden Bänden von Gunter Gebauer, Christoph Wulf, Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Hamburg 1998. Sowie Martin Thurner, Gunter Gebauer, José Murillo, Mimetische Weltzugänge. Soziales Handeln – Rituale und Spiele – ästhetische Produktionen, Stuttgart 2003.

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Auch treffen wir hier dieselben Selbstdifferenzen zwischen Vorstellendem und Vorgestelltem wie zwischen Darstellendem (Medium oder Subjekt) und Dargestelltem (Thema oder Sujet) wieder. Denn Intentionalität ist ebenso eine Eigenschaft des Bewusstseins wie des Wahrnehmens und des Darstellens, es handelt sich jeweils um gleichermaßen aspektische und perspektivierende Akte, die sich auf etwas richten, das sie dadurch zugleich formieren. Geistige Tätigkeiten haben also, meiner Rekonstruktion nach, darstellungsanalogen Charakter, sie vollziehen sich in Prozessen der wechselseitigen Überformungen von Wahrnehmungen und Vorstellungen, indem sie etwas-als-etwas auffassen und in Medien und Materialien artikulieren. Wahrnehmen und Darstellen bilden tätige Verfahrensweisen des Geistes, mit denen dieser sich auf die Welt bezieht. Die strukturelle Isomorphie besteht darin, dass Dargestelltes und Darstellendes sich voneinander genauso unterscheiden und einander zugleich enthalten wie Gegenstand und Bewusstsein.

Verfahrensweisen des Geistes Tätigkeiten des Vor- und Darstellens sind in einem buchstäblichen – und das heißt erneut, nicht bloß metaphorischen Sinn – Verfahrensweisen des Geistes, die in der Vergegenwärtigung von Abwesendem bestehen. Denn auch Darstellungen vergegenwärtigen etwas, das sie selbst nicht sind; das Foto der Schauspielerin ist nicht diese selbst, der Körper des Schauspielers ist physisch genauso sichtbar wie die durch ihn verkörperte Figur, René Magrittes gemalte Pfeife ist keine wirkliche Pfeife etc. All diese Darstellungen überbrücken einen Abstand von Darstellung und Dargestelltem. Wie der Geist sich auf etwas richtet, das er nicht selbst ist, bezieht die Vorstellung sich auf Fiktives oder Wahrgenommenes, die Darstellung auf Vergangenes oder Zukünftiges etc. Diese Strukturmerkmale teilen Darstellungen im Allgemeinen mit dem Bewusstsein und künstlerische Darstellungen im Besonderen mit dem Selbstbewusstsein. Das Gegenstandsbewusstsein richtet sich auf etwas, das sich von ihm unterscheidet, das Selbstbewusstsein auf sich selbst, aber auf sich selbst als anderes. Es ist deshalb wörtlich zu nehmen, wenn jemand sagt, ›etwas stelle sich ihm so oder so dar‹, er beschreibt damit eine Selbstrelation, in der etwas sich ihm zeigt oder erscheint, welches er auf spezifische Weise sieht und vernimmt. Gerade darin kommt die intentionale und 30 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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perspektivische Natur geistiger Selbst- und Weltverhältnisse zum Ausdruck. Intentionalität ist somit das Formierungsprinzip geistiger Auffassungsweisen und ihr Gehalt ist das, worüber das Bewusstsein ist und wovon eine Darstellung handelt. Darstellungen stehen somit an den Schnittstellen von GeistSelbst-Relationen wie auch von Geist-Welt-Relationen. Für meine These von der Darstellungsnatur des Geistes ist festzuhalten, dass sich der Geist zur Welt verhält, wenn er sich zu sich verhält und umgekehrt, dass er sich selbst nicht los wird, wenn er sich auf die Welt richtet. Darstellungen enthalten ›die Sache selbst‹ nicht in einem ontologisch-essentialistischen Sinne. Vielmehr haben wir die ganze Konstellation von Selbst und Welt, von Gegenstand-im-Bewusstsein und Gegenstand-in-der-Welt, von Auffassungsakt (Darstellung), Auffassungsgegenstand (Dargestelltem) und aspektischer Auffassungsweise (Darstellendem) prozess-ontologisch zu bedenken. Die Sache selbst kann nie bedeuten, dass das Ganze ›so wie es ist‹ sich unvermittelt zeigt, vielmehr erscheint es notwendig als-etwas für jemanden, nämlich aspektisch, perspektivisch und intentional. Deswegen ist der Geist alles andere als ein Behälter, den es gegenständlich gäbe, sondern vielmehr ein Medium, in dem und durch das Selbst und Welt sich miteinander im prozessualen Austausch befinden. Weder sind Wahrnehmung und Darstellung durch ihre Gegenstände zu einer eindeutigen Vergegenwärtigung gezwungen – sonst könnten wir uns wahrnehmend niemals täuschen und alle Darstellungen eines Sachverhalts wären gleich – noch bringen sie ihre Gegenstände in einem physischen Sinn hervor, sondern sie konstituieren Auffassungsweisen. Dabei überformen sich Wahrnehmungseindrücke beständig durch Vorstellungen oder Erwartungen, Gegenwärtiges durch Vergangenes, Wirkliches durch Mögliches. Jeder Akt geistigen Auffassens ist folglich auf jene Momente hin zu befragen, die wir bei unserem Horatier-Beispiel unterschieden: Wer (oder was) wird wie (und auf welche Weise) aus welcher Perspektive und in welchem Aspekt (als-was) wahrgenommen, gezeigt oder aufgefasst? Sowohl das Wahrgenommene (das mental Aufgefasste) als auch das Dargestellte (das medial wahrnehmbar Gemachte) sind durch die intentionale Struktur charakterisiert, indem etwas-als-etwas von jemandem in einer bestimmten Hinsicht auf eine bestimmte Weise dargestellt wird. Darstellungen sind folglich, wie ich hoffe, gezeigt zu haben, eine Form externalisierter Intentionalität, und Intentionalität ist eine be31 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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wusstseinsimmanente Darstellung. Sollte es sich dabei um Metaphern handeln, dann sind sie unersetzlich, um zu erklären, wie der Geist es macht, wenn er sich zur Welt verhält.

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Kleiner Versuch über die Intentionalität des Gesichtsfelds

Leibhaftes Gesichtsfeld Die Philosophie der Wahrnehmung hat sich zwar extensiv mit dem Sehen, dem Raum und dem räumlichen Sehen befasst, auch Themen wie die Freiheit der Standpunktwahl und Bedingtheit der subjektiven Perspektive traktiert – dabei aber das Gesichtsfeld selbst nur nebenher mitlaufen lassen. Einer der Gründe für diese traditionelle Nichtbeachtung ist, dass das Gesichtsfeld – anders als etwa die Hand – immer dann als leibfremd erscheinen muss, wenn man den Leib als Körper auffasst. Das ist er natürlich auch. Die Dinge um uns haben ja offenkundig eine Gemeinschaft mit den physischen Gliedern des Leibes. Ich kann spüren, was mich umgibt, weil ich mit meinem Leib zugleich als Ding unter Dingen anwesend bin, materiell ihresgleichen. Bei der Hand ist das evident. Insofern ist mein Leib ein Körper, der freilich auch als physischer seiner Lebendigkeit und Empfindsamkeit nicht verlustig geht. Der Leib ist aber nicht nur Körper. Es gibt auch körperlose Leibhaftigkeit und Leibzugehörigkeit. Das sieht man am Gesichtsfeld. Es ist wesentlich an den Leibkörper gebunden, ohne körperlich mit ihm verbunden zu sein. Völlig undenkbar ist ein Gesichtsfeld ohne den Leib des Subjekts, das in diesem Feld präsent hat, was es sieht. Insofern sind beide, die Hand und das Gesichtsfeld, Glieder des Leibes, wenngleich auf unterschiedliche Art.

Relief Was ist das Gesichtsfeld? Ich versuche, mich einer Antwort in zwei Schritten zu nähern, von denen jeder darin besteht, eine Einladung abzulehnen. Ich beginne mit der leichter fasslichen: Jedes Ding zeigt sich uns unmittelbar immer nur einseitig, aspekthaft; es ist en face 33 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Manfred Sommer

präsent. Das Ding lädt uns aber durch die Seite, die es uns präsentiert, zu kinästhetischen Verläufen ein; es will uns dazu motivieren, seinen Hinweisen und Anregungen zu folgen, damit wir immer neue Facetten von ihm zeitweilig zu Vorderseiten machen. Wir können uns dieser Einladung aber auch verweigern; wir ignorieren die Verweisungen auf andere Ansichten und lassen es beim ruhigen einseitigen Anblick bewenden. Wir reduzieren das ganze Objekt auf einen visuellen Aspekt. Das alles nun aber im Plural! Wir sehen dann statt der vielen Dinge, die uns umgeben, nur noch all ihre uns zugewandten Seiten, also gewölbte oder vertiefte, ebene oder wellige Flächen von unterschiedlicher Farbe. All diese Aspekte grenzen fugenlos aneinander und schließen sich zusammen zu einem vielgestaltigen und buntscheckigen Relief. Auch Undingliches (wie Berge, Seen, Himmel) kann mit seiner wahrgenommenen Fläche, als ob sie Aspekt wäre, in diese oberflächliche Restwirklichkeit eingehen.

Ebnung Die zweite Art von Einladung, die nicht anzunehmen uns dem Gesichtsfeld näherbringt, ist viel subtiler. Es gibt im aktuell Gesehenen selbst noch eine Art Binnenintentionalität: Jede noch so kleine Stelle eines Aspekts legt uns unmerklich nahe, sie mit den anderen ihresgleichen zusammenzusehen. Und wir tun es, wenn wir wach sind, instantan und permanent. – Ich nehme ein arg simples Beispiel: einen roten Ball. Dieser objektiv gleichmäßig rote Ball zeigt sich uns, wie schon gesagt, aspekthaft; überdies aber erscheint das Rot an den verschiedenen Stellen der uns zugewandten Seite jeweils anders: zu den Rändern hin weniger deutlich, weniger präsent, weniger ›ich bin’s‹ als an der uns etwas näheren Kuppe. Jede diese Farbabschattungen verweist auf ihre Nachbarn und, so vielfach vermittelt, auf alle. Und aus der Zusammenschau der gerade so und nicht anders erscheinenden Farbnuancen und Übergänge ergeben sich für das Auge erst die Rundung und die Flächentextur des Aspekts (der dann, wie gesagt, seinerseits zur Anschauung weiterer Aspekte einlädt …). Verweigern wir uns den Mikro-Invitationen der different erscheinenden Farbstellen, so können diese ihre Leistung, uns eine räumliche Gestalt erblicken zu lassen, nicht mehr erbringen. Die perzeptiven Farbabstufungen indes bleiben als so erscheinende einfach da. 34 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Kleiner Versuch über die Intentionalität des Gesichtsfelds

Was bedeutet nun diese zweite Weigerung für das, was sich aus der ersten ergeben hat? Das farbige Relief wird auf ein Niveau reduziert. Übrig bleibt ein planes Farbenmuster, dem jegliche Gegenständlichkeit abhanden gekommen ist. Auch ein Farbfoto zeigt ja, dass alles Voluminös-Gegenständliche auf eine plane Fläche heruntergebracht werden kann. Für unsere Betrachtung hilft aber noch eher der Vergleich mit denjenigen Fotos, bei denen man auf den ersten Blick gar nicht erkennen kann, was da eigentlich zu sehen sein soll. In Kinderzeitschriften, aber nicht bloß in diesen, gibt es unter der Rubrik ›Was ist das?‹ gelegentlich Fotos zu sehen, bei denen die Dinge so verfremdet dargestellt werden, dass man anfangs nur eigentümlich geformte farbige Flecken und Linien wahrnimmt; erst wenn man durch Herumprobieren herausgefunden hat, wozu diese einladen oder auffordern, ist man auch imstande – und zwar schlagartig –, den abgebildeten Gegenstand zu identifizieren. Das fortwährende Unbehagen am Anblick der flächigen Farbflecken und die Lust am instantanen Übergang zur Erkenntnis des Gegenstandes sind affektive Indizien dafür, dass die phänomenologische Theorie der intentionalen Einladungen angemessen beschreibt, wie die Dingwahrnehmung in sich verfasst ist.

Plane Gesichtsfeldmitte Das Gesichtsfeld ist die leibgebundene, leiblich organisierte und vor uns aufgespannte Fassung unserer Sehfähigkeit. Augenärztliche Messapparaturen mit ihren Idealisierungen hier beiseitegelassen, zeigt dieses Feld eine eigentümliche Flächigkeit. Es ist weder ein ebenes Areal noch eine konkave Hemisphäre, hat aber von beiden etwas. Die mittlere Partie des Gesichtsfelds – der größere und wichtigere Teil des Ganzen – ist nahezu eben, während es sich zur Peripherie nach hinten ins zunehmend Verschwommene wegkrümmt. Wenn wir uns weigern, den intentionalen Einladungen oder Aufforderungen von Farberscheinungen nachzukommen, dann reduzieren wir die Dinge zuerst auf ihre sichtbaren Vorderseiten und danach das visuelle Relief, das sich ergeben hat, auf eine Fläche aus Farbflecken. Das Gesichtsfeld ist nichts anderes als diese Fläche selbst, aber ohne die immer wechselnden Inhalte, die sich da einfinden. Es ist die aller Inhalte ledige, aber ihrer bedürftige, für sie empfängliche und auch immer von ihnen besetzte und verdeckte reine Form unse35 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Manfred Sommer

rer Anschauungen. Nur aus der Art, wie sie verdeckt wird, wissen wir etwas über sie, weil sie den Modus dieser Verdeckung selber bestimmt.

Blatt-Feld-Deckung Nun ist aber offenkundig, dass eine Sorte von Dingen so gut wie gar nicht betroffen ist von dieser Reduktion auf das Flächige, weil sie selbst schon flächig sind: die dünnen rechteckigen Papiere, Kartons, Leinwände, auf denen Bilder zu sehen sind. Nehmen wir das Blatt Papier! Mit der mittleren Region des Gesichtsfelds hat es ebene Flächigkeit gemein. Und wenn richtig positioniert, liegt es mit seinem reinen Weiß und seiner ganzen Extension auf dem unsichtbaren Gesichtsfeld auf: beide Flächen sind parallel zueinander und unmittelbar aufeinander. Die uns selbstverständlich gewordenen Bewegungen, mit denen wir dafür sorgen, dass uns das Blatt ruhig und frontal gegenüberliegt, dienen immer der Herstellung dieser Parallelität und Kontiguität von Blattfläche und Gesichtsfeld. Mit der gemeinsamen Flächigkeit sind weitere Gemeinsamkeiten verbunden. Was dem Papier sein Weiß, ist dem Gesichtsfeld seine Leere. Beide sind sie inhaltsbedürftig und empfangsbereit: das macht ihre Rezeptivität aus. Beide unterwerfen alles ihrem Rezeptionsmodus. Beide ordnen alle Inhalte exklusiv nebeneinander. Gemeinsam ist dem Gesichtsfeld und dem Blatt außerdem, dass sie von dem, was sie empfangen haben, verdeckt werden: das Gesichtsfeld immer ganz, das Blatt oft nur partiell. Gerade wenn das Blatt völlig leer ist, kann sich in seinem Weiß der ebene mittlere Teil des unsichtbaren Gesichtsfelds zu sichtbarer Darstellung bringen. Das frontal gesehene Blatt wird zum Repräsentanten unseres Gesichtsfelds, das uns nie als es selbst präsent sein kann. So stehen wir mit dem Blatt als unserem Gegenüber – uns selbst gegenüber, der visuellen Dimension unseres leiblichen Selbst.

Intentionale Äquivalenz Zwei, drei Sachverhalte, die in eine viel umfassendere Theorie der Bildwahrnehmung hineingehören, können uns diese feldäquivalente Funktion des Blatts verdeutlichen. Ich nehme dazu mein simples Ball36 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Kleiner Versuch über die Intentionalität des Gesichtsfelds

Beispiel noch einmal auf (und verschweige weiterhin allerlei relevante, bisweilen entscheidende Faktoren wie kulturspezifische Dispositionen, sedimentierte Erfahrung, reale Licht- und Schattenverhältnisse …). Wenn ein Stück meines Gesichtsfelds von einem kreisrunden roten Fleck bedeckt wird; und wenn dieses Rot nicht homogen ist, sondern sich abstuft: dann habe ich eine nuanciert farbige Erscheinung gegenwärtig. Bloße Erscheinung deshalb, weil auf dem Gesichtsfeld natürlich keine Farbstoffe, die sich eventuell auch abkratzen ließen, vorkommen können. Wenn ich nun die intentionalen Einladungen, die diese runde Farberscheinung ausspricht, schrittweise annehme, kann ich Verschiedenes wahrnehmen: (1) eine Scheibe (vom Typus Bierdeckel), die von innen nach außen kontinuierlich abgestuft mit unterschiedlich roter Farbe angestrichen ist; (2) eine gleichmäßig rot angestrichene Halbkugel; (3) eine ebenso homogen rote Kugel (vom Typus Ball). Nur wenn und solange wir beide, ich selbst und das noch unidentifizierte Ding, in Ruhe verharren – bei aisthesis ohne kinesis –, kann ich die Sachlage in der Schwebe halten. (Es sei denn, andere Faktoren schaffen Eindeutigkeit.) Sobald ich mich nur ein bisschen bewege, kommt Bewegung in die Sache: ein kinästhetischer Prozess hebt an, und es wird evident, welches von den drei möglichen Dingen das wirkliche ist, weil die soeben neu erschienenen Aspekte eine von meinen Naherwartungen erfüllt und die anderen enttäuscht. – Soviel zur Intentionalität des Gesichtsfelds in der Wahrnehmung.

Bildwahrnehmung Nun zum wahrgenommenen Blatt! Ist es mir frontal gegenüber, so führt die intime Blatt-Feld-Deckung dazu, dass es mir nicht als Aspekt eines Dings erscheint. Vielmehr partizipiert das Blatt an der Fähigkeit des Gesichtsfelds, an allen Erscheinungen intentionale Einladungen freizusetzen. Was bedeutet das für einen abgestuft roten Fleck auf einem Blatt Papier? Ungeachtet dessen, dass er als Pigment existiert, ist er als Erscheinung gesehen. Und so gehen von ihm dieselben Einladungen oder Verweisungen aus wie von einer rund-roten Erscheinung, die ein Stückchen des Gesichtsfelds unmittelbar bedeckt.

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Manfred Sommer

Nun sind es aber deren vier. Was sehe ich: (1) eine rote Scheibe oder (2) eine rote Halbkugel oder (3) einen roten Ball – oder aber (4) einen roten Fleck auf einem Blatt Papier? Die leiseste Bewegung würde die Sache klären. Das Blatt würde in seiner Dinghaftigkeit bemerkbar. Ist es erst einmal als physisches Ding wahrgenommen, dann mit ihm auch der Fleck auf ihm – als materieller Fleck auf ihm. Ist es diese mit-gegenwärtige vierte Möglichkeit, die mir jede der drei anderen Wahrnehmungen zu Bildwahrnehmungen macht? Und ist diese Fleck-auf-Papier-Wahrnehmung dazu fähig, weil in ihr die Intentionalität des Gesichtsfelds selbst unmittelbar die gegenständliche Auffassung bestimmt? Haben wir ein entsprechendes Foto vor Augen, so konstatieren wir bisweilen ganz unbefangen: »Das ist ein roter Ball« – um uns dann rasch zur Ordnung zu rufen: »Äh, ich meine, das ist das Bild eines roten Balls.« Da bringt sich – grundierend, begleitend, intermittierend? – die Intentionalität des Gesichtsfelds selbst zur Geltung. Jedenfalls scheint sie diejenige Instanz zu sein, der das gesehene Blatt seine Fähigkeit verdankt, alles ihm Aufgetragene zu einem Äquivalent dessen zu machen, was auch unmittelbar auf dem Gesichtsfeld hätte erscheinen können. Es genügt eben nicht, zu verdeutlichen, worin die Differenz zwischen einem Ding und seinem Bild besteht; man muss auch verstehen, warum die Differenz von Dingwahrnehmung und Bildbewusstsein so auffällig labil ist.

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Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie

Was erfahren wir über das Sehen, wenn wir uns mit dem Nicht-Sehen befassen? Das Kuriose dieser Frage verdeckt leicht die in ihr zum Ausdruck kommende philosophische Einsicht in die bestimmende Kraft der Negation. Zu sagen, was etwas nicht ist, ist gerade dort, wo der Gegenstand hochgradig abstrakt ist, ein entscheidender Fortschritt auf dem Weg zur Erfassung der jeweils fraglichen Sache. Wenn man diesen Gedanken systematisch ausreizt, gerät man schnell ins metaphysisch-spekulative Fahrwasser der Spinoza von Hegel zugeschriebenen These »omnis determinatio est negatio«. 1 Der Rekurs auf die Negation bewährt sich aber auch in der Sphäre konkreter sinnlicher Erfahrung, d. h. dort, wo es keinen Mangel an positiver Bestimmtheit zu geben scheint. Der folgende Versuch einer kleinen Typologie des Nicht-Sehens möchte diese Idee verdeutlichen. Um die folgenden Ausführungen ein wenig zu ordnen, mache ich eine weitere spekulative Anleihe, indem ich die Möglichkeiten des Nicht-Sehens in analoger Weise klassifiziere wie Leibniz den Satz vom zureichenden Grunde, der besagt, dass es einen letzten Grund dafür gibt, dass, was und wie etwas ist, d. h. warum etwas ist und nicht vielmehr nichts, warum es dieses ist und nicht ein anderes und warum es auf diese Weise und nicht eine andere existiert. 2 ÜberVgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I (Theorie-Werkausgabe 5), Frankfurt a. M. 1969, 121; ders., Wissenschaft der Logik II (Theorie-Werkausgabe 6), Frankfurt a. M. 1969, 195; vgl. auch ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) (Theorie-Werkausgabe 8), Frankfurt a. M. 1970, 196. Zur unterschiedlichen Bedeutung und Funktion des Satzes bei Spinoza und Hegel vgl. Robert Stern, ›Determination is Negation‹ : The Adventures of a Doctrine from Spinoza to Hegel to the British Idealists, in: Hegel Bulletin 37 (2016), 29–52. 2 Bei Leibniz ist diese Trias allerdings in einer Doppelfrage versteckt. Denn in der berühmten Frage ›warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?‹ impliziert das DassSein bereits ein Was-Sein. Anders gesagt: Dem ›nichts‹ steht ein ›etwas‹ gegenüber, das zugleich als ›dieses‹ aufgefasst wird. Ergänzend wird dann lediglich nach dem 1

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tragen wir die Unterscheidung zwischen Dass-Sein, Was-Sein und Wie-Sein auf die Dimensionen des Sehens bzw. Nicht-Sehens, können wir sagen: Wer sieht, sieht erstens überhaupt etwas – das heißt: eine Person, die sieht, sieht nicht nichts; zweitens sieht jemand dieses – und nicht ein anderes; und drittens sieht jemand, der sieht, immer auf eine bestimmte Weise – und nicht auf eine andere. Das Dass des Sehens knüpft dabei das Sehen an bestimmte basale, im Wesentlichen sensorische Voraussetzungen. Das Was des Sehens bestimmt den Gegenstand des Sehens. Und das Wie des Sehens betrifft die Situationen, Kontexte und Interessen, die entscheidend zur Artikulation unseres Sehfeldes beitragen. Nun ist das Nicht-Sehen in den genannten Hinsichten des Dass, Was und Wie in seiner Negativität für den Sehenden in der Regel nicht thematisch. Schon dass er sieht, ist für den, der sieht, kein Thema, sondern eine Selbstverständlichkeit, geschweige denn, dass er ein Bewusstsein dafür hätte, dass er nicht nichts sieht. Ihn interessiert vielmehr schlicht das, was er sieht (z. B. der Pflaumenbaum im Garten oder auch, dass dieser massiv von Schädlingen befallen ist). Das Wie seines Sehens (etwa das die Sicht bestimmende Interesse desjenigen, der im Herbst auf eine reiche Pflaumenernte hofft) ist für den Sehenden wiederum so selbstverständlich, dass es ihm als Wie seines Sehens und vor allem als unterschieden von anderen Weisen des Sehens überhaupt nicht erscheint. – Wie lässt sich vor diesem Hintergrund

Wie-Sein gefragt, d. h. danach, warum etwas so ist und nicht anders. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Theodizee I (Philosophische Schriften II.1), Darmstadt 2013, § 44, 272 f. Hier bestimmt Leibniz den Satz vom zureichenden Grunde als Prinzip, das a priori begründet, »weshalb etwas eher existiert als nicht existiert und weshalb etwas gerade so als in einer ganz anderen Weise existiert«. Vgl. Principes de la nature et de la grace (Philosophische Schriften I), Darmstadt 2013, § 7, 426 f., wonach das Prinzip des zureichenden Grundes besagt, »daß nichts geschieht, ohne daß es dem, der die Dinge genügend kennt, möglich wäre, einen Grund anzugeben, der zureicht um zu bestimmen, warum es so und nicht anders ist. Ist dieses Prinzip einmal gesetzt, so wird die erste Frage sein, die man berechtigt ist zu stellen: warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Denn das Nichts ist einfacher und leichter als etwas. Angenommen, die Dinge müssen existieren, so muss man darüber hinaus den Grund angeben können, warum sie so existieren müssen, nicht anders.« Vgl. auch Monadologie § 32 (Philosophische Schriften I), a. a. O., 452 f. Zur zweifachen Richtung von Leibniz’ Frage nach dem zureichenden Grund vgl. auch Hubertus Busche, Die letzte Warum-Frage. Ihre zweifache Gestalt und ihre Beantwortung bei Leibniz, in: Daniel Schubbe, Jens Lemanski, Rico Hauswald (Hg.), Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, Hamburg 2013, 115–158.

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Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie

das Phänomen des Nicht-Sehens thematisieren? Es ist die Leitidee der folgenden Ausführungen, dass das Nicht-Sehen vor allem dort zum Thema wird, wo es sich vom Sehen anderer unterscheidet, die das im Vergleich zu ihrem Sehen nicht-Gesehene thematisieren, kritisieren und häufig auch vorwerfen, nicht selten in Verbindung mit der Aufforderung, das Nicht-Sehen in ein Sehen zu überführen. Diese Überlegungen möchte ich methodisch im Folgenden nutzen, indem ich versuche, mit Hilfe der Klassifikation sinnvoller Seh-Aufforderungen an jemanden, der in bestimmten Hinsichten nicht sieht, eine kleine Typologie des Nicht-Sehens zu entwickeln. Dabei werden zwei Annahmen hinsichtlich des Sehens und Nicht-Sehens gemacht. Erstens: Nicht-Sehen und Sehen sind vor allem in sozialen Zusammenhängen thematisch, d. h. dort, wo verschiedene Sichten von Sehenden aufeinandertreffen und kritisch kommuniziert werden. Zweitens: Sehen ist eine Praxis; untersuchen wir nämlich Sehen im Kontext der Frage, auf welche Weise Nicht-Sehende zum Sehen aufgefordert werden können, wird Sehen wesentlich als eine von jemandem zu verantwortende Tätigkeit aufgefasst. 3 In Anlehnung an die oben skizzierte Trias von Dass, Was und Wie möchte ich das Nicht-Sehen in drei Abschnitten erörtern. Schließen werde ich mit einem Ausblick auf die Bedeutung des NichtSehens im Rahmen der phänomenologischen Philosophie, die sich gemäß ihrem Selbstverständnis als eine auf einem spezifischen Sehen beruhende philosophische Einstellung und Methode versteht.

Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen in Eva Schürmann, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a. M. 2008. Zum Gedanken, dass der Bezug auf Normen für die Bestimmung von Handlungen als Handlungen konstitutiv ist vgl. auch Karl Mertens, Soziale Dimensionen der Normativität. Perspektiven einer phänomenologischen Analyse handlungskonstitutiver und sozialer Normen, in: Dieter Lohmar, Dirk Fonfara (Hg.), Soziale Erfahrung (Phänomenologische Forschungen 2013), Hamburg 2013, 145–164. Ein Sonderfall der an jemanden adressierten Sehforderung ist die von Lambert Wiesing untersuchte Praxis des auf ein Sehenlassen zielenden Zeigens (Lambert Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt a. M. 2013). Gemäß der von Wiesing herausgestellten viergliedrigen Struktur von Zeigendem, Zeigemittel, Gezeigtem und Adressaten des Zeigens (»Wer zeigt wem was womit?«, a. a. O., 14) fordert der Zeigende explizit oder implizit stets jemanden, dem etwas gezeigt wird, zu einem bestimmten Sehen auf.

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1.

Das ›Dass‹ des Sehens

Beginnen wir mit Selbstverständlichem: Jedes Sehen setzt trivialerweise ein Sehen-Können voraus, d. h. ein Vermögen, das die Bedingung der Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmungen von der Art des Sehens ist. Sehen-Können ist eine sensorische Disposition oder Fähigkeit. Sie ist an bestimmte anatomische und physiologische Voraussetzungen gebunden, ohne darauf reduzierbar zu sein. Das entsprechende Nicht-Sehen meint dann das Nicht-Sehen-Können als prinzipielle Unfähigkeit zu sehen, eine den Sehsinn betreffende Privation oder Steresis (Beraubung): die Blindheit. Sie ist die Folge eines sensorischen bzw. anatomisch-physiologischen Defektes, der dazu führt, dass eine Person, die zu einer Spezies gehört, die die Sehfähigkeit im Allgemeinen besitzt, nicht sehen kann. 4 Systematisch ist hier dreierlei hervorzuheben: Erstens ist das an dieser Stelle relevante Nicht-Sehen auf die prinzipielle speziesspezifische Fähigkeit des Sehens bezogen. Zweitens verweist die Möglichkeit der Blindheit auf die Tatsache, dass die Fähigkeit zu sehen notwendig an bestimmte sensorische und anatomisch-physiologische Bedingungen geknüpft ist. Sehen lässt sich daher nicht in abstracto denken. Drittens ist diese aus dem Nicht-Sehen gewonnene Bestimmtheit des Sehens auch für unsere Kommunikation über das Sehen bzw. Nicht-Sehen relevant. Denn solches Nicht-Sehen lässt sich immer nur feststellen. Weitere, das Sehen betreffende Forderungen an jemanden, der nicht sieht, weil er im genannten Sinne nicht sehen kann, erübrigen sich. Nur wer grundsätzlich sehen kann, kann zum Terminologisch ist die Rede vom Nicht-Sehen in diesem Falle nicht ganz glücklich. Denn gemeint ist der konträre Gegensatz zum Sehen-Können, das Nicht-Sehen-Können im Sinne der Blindheit, und nicht bloß der kontradiktorische, durch einfache Verneinung gebildete Gegensatz. Während die Prädikate ›ist des Sehens fähig‹ und ›ist blind‹ zwar nie zugleich und in derselben Hinsicht auf dasselbe grammatische Subjekt bezogen sein können (d. h. es ist nicht möglich, dass entsprechende Sätze zugleich wahr sind), können sie sehr wohl zugleich falsch sein – etwa dann, wenn nicht von sinnlich begabten Lebewesen die Rede ist. Demgegenüber gilt für den kontradiktorischen Gegensatz, also die logische Gegenüberstellung der Prädikate ›sieht‹ und ›sieht nicht‹ bzw. ›kann sehen‹ und ›kann nicht sehen‹, dass entsprechende Sätze, ganz gleich, auf welches Subjekt diese Prädikate bezogen werden, nicht nur nicht zugleich wahr, sondern auch nicht zugleich falsch sein können. Denn ›sieht nicht‹ oder ›ist nicht in der Lage zu sehen‹ kann man nicht nur von Blinden, sondern von unendlich vielem prädizieren. In diesem Sinne können z. B. auch Bücher nicht sehen; mitnichten sind sie deswegen jedoch blind.

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Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie

Adressaten von Aufforderungen werden, etwas, das er nicht sieht, zu sehen. Es gilt demnach auch bezüglich des Sehens das (oft Kant zugeschriebene, wenn auch nicht von ihm expliziert formulierte) Diktum, dass jedes Sollen ein entsprechendes Können voraussetzt. Die Weisen, in denen ein Sehen eingefordert werden kann, sind allerdings sehr verschieden. Eine erste derartige Forderung begegnet uns bereits auf der Ebene des Sehens überhaupt – dort nämlich, wo wir jemanden, der des Sehens prinzipiell fähig ist, aber gerade nicht sieht, dazu auffordern, überhaupt zu sehen. Konkret: Solange eine Person die Augen geschlossen hat, kann sie nichts sehen; aber sie kann sinnvollerweise gebeten werden, die Augen zu öffnen. Jemand weckt z. B. einen anderen mit den Worten: »Augen auf! Es ist heller Tag!« Denken wir uns den Fall so, dass die Person nicht geweckt wird, um eine anstehende Aufgabe zu erledigen und in diesem Zusammenhang dann auch Bestimmtes zu sehen, sondern dass sie lediglich in den Tag geholt werden soll, um sich dabei unter anderem auch für das Sehen überhaupt zu öffnen. Solche Fälle zeigen, dass für das Sehen außer dem Sehen-Können auch eine unspezifizierte Bereitschaft zu sehen – und zunächst ganz trivial im Sinne der Öffnung der Augen – erforderlich ist, der gegenüber das Nicht-Sehen aufgrund geschlossener Augen als fehlende Seh-Bereitschaft zu verstehen ist. 5 Allerdings ist jedes Sehen stets die Wahrnehmung eines geordneten Sehfeldes. Selbst eine unspezifische Aufforderung zur Sehbereitschaft kann daher nicht als ein inhaltsloses Sehen überhaupt realisiert werden, sondern nur als ein Sehen von etwas. Szenarien, die sich als Beispiele für solche Weckungen im wörtlichen und übertragenen Sinne skizzieren lassen, sind demnach in der Regel auch keine Einforderungen bloßer Sehbereitschaft überhaupt, sondern werden thematisch als Bereitschaft, in einer bestimmten Situation etwas Bestimmtes zu sehen. Die Patientin im Krankenzimmer wird etwa gebeten, die Augen zu öffnen, weil Besuch gekommen ist. 6 Damit komme ich zum nächsten Punkt. Es scheint sinnvoll, die Bereitschaft zu sehen vom eigentlichen Sehen-Wollen, von dem später noch die Rede sein wird, zu unterscheiden, insofern mit der Sehbereitschaft nur die Einstellung auf Sehen überhaupt und nicht die willentliche Lenkung auf ein bestimmtes Ziel des Sehens (also ein eigentliches Sehen-Wollen) gemeint ist. 6 In der Schwierigkeit einer sauberen Trennung zwischen der Aufforderung zu einer Sehbereitschaft überhaupt und der Aufforderung, etwas Bestimmtes zu sehen, spiegelt sich in gewisser Weise das Problem der Übergängigkeit zwischen den Aspekten des Dass- und des Was-Seins in Leibniz’ Prinzip des zureichenden Grundes. Dass und 5

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2.

Das ›Was‹ des Sehens

Sehen ist stets Sehen von diesem oder jenem. Wer etwas sieht, sieht notwendigerweise anderes nicht. Das hier relevante Nicht-Sehen hat unterschiedlichen Charakter: Folgen wir dem soeben eingeführten Distinktionsschema, dann können wir wiederum unterscheiden zwischen einem Nicht-Sehen von etwas Bestimmtem, das ein prinzipielles Unvermögen bezeichnet und nur festzustellen ist, und einem solchen, das zwar faktisch, nicht aber prinzipiell besteht, und bei dem korrektiv ein entsprechendes Sehen eingefordert werden kann. Zum Ersten gehören alle Limitationen, die in der organischen Disposition des Sehenden liegen: Kurzsichtigkeit etwa oder auch die Unfähigkeit, bestimmte farbliche Differenzen wie die zwischen grün und rot zu unterscheiden. Es hat schlicht keinen Sinn, den Kurzsichtigen aufzufordern, etwas zu sehen, das er aufgrund seiner Kurzsichtigkeit nicht sehen kann. Darüber hinaus und noch grundlegender aber gibt es auch spezieseigentümliche Grenzen der Sehfähigkeit. So haben Menschen ein eingeschränktes Gesichtsfeld, eine limitierte Fernsicht und ein sprunghaftes Augenmerk; d. h. sie können ihre Umgebung nicht rundum zugleich wahrnehmen, sehen weit entfernte Gegenstände nicht scharf und wechseln ständig den Fokus ihres Blicks. 7 Seh-Aufforderungen, die solchem Nicht-Sehen entgegengerichtet wären, wären von Anfang an sinnlos. Der zweite Fall des Nicht-Sehens hängt ebenfalls mit der Leiblichkeit des Sehenden zusammen, betrifft aber eine Begrenzung anderer Art: Jede Sehende ist aufgrund ihrer Leiblichkeit notwendig an einen Standort gebunden, von dem aus sie sieht. Sehen erfolgt insofern stets von einer Perspektive. Damit verbunden sind perspektivisch-situative Unmöglichkeiten des Sehens, die aber prinzipiell bei einem entsprechenden Wechsel des Standortes oder mit Hilfe bestimmter enthüllender Tätigkeiten überwindbar sind. Es geht demnach um ein Nichtsehen von etwas, das tatsächlich nicht und in keiner Weise gesehen wird, weil es verdeckt, verstellt, verhüllt usw. ist, obwohl es – mit Hilfe entsprechender Bewegungen und Tätigkeiten – durchaus gesehen werden könnte und das zu sehen

Was sind offenbar miteinander eng verwoben – im Feld abstrakter Spekulationen über das Prinzip des zureichenden Grundes ebenso wie in der Anwendung auf den konkreten Fall der Diskussion von Sehen und Nicht-Sehen. 7 Manfred Sommer, Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen, Frankfurt a. M. 2002, 33 ff.

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Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie

prinzipiell gefordert werden kann – wie etwa die Rückseite des Brunnens, vor dem jemand steht. 8 Sinnvollerweise wird eine solche Aufforderung zum Standortwechsel allerdings kaum erfolgen, wenn es sich bei dem Nicht-Sichtbaren um etwas handelt, das aufgrund großer, nicht leicht zu überwindender Entfernung nicht gesehen werden kann. Dass wir z. B. jetzt nicht leibhaft den Eiffelturm sehen können, ist nicht nur trivialerweise wahr, sondern als Hinweis im pragmatischen Kontext alltäglicher Kommunikation völlig unangebracht, da wir den Eiffelturm nicht durch eine hier und jetzt mögliche, geschweige denn zumutbare Bewegung sichtbar machen können. Anders steht es mit dem Nichtsehen der Rückseite einer Sache oder von solchem, das uns durch andere Objekte verdeckt ist. Rückseiten und Verdecktes sind, obwohl zunächst nicht sichtbar, sinnvollerweise als zu Sehendes ins Spiel zu bringen, weil sie in unseren Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten durchaus mitzählen. Das kennen Eltern, die in die Suchangelegenheiten kleinerer und größerer Kinder involviert werden, nur allzu gut. Es reicht eben nicht, von seinem Standpunkt aus festzustellen: »Das sehe ich nicht.« Wer eine Sache sucht, muss vielmehr auch mal hinter einen Gegenstand schauen, eine Türe öffnen usw. Und dazu kann er oder sie aufgefordert werden. Neben der Sehfähigkeit und der Sehbereitschaft machen solche und ähnliche Fälle der Verweigerung und die ihnen entgegen gerichteten Aufforderungen, in denen Nicht-Sehende zu einem Sehen angehalten werden, deutlich, dass das Auf die damit zusammenhängenden Formen des Sichtbarmachens des Unsichtbaren ist Manfred Sommer ausführlich eingegangen (a. a. O., 17 ff.). Die zuvor unterschiedenen Typen des organisch und perspektivisch bedingten Nicht-Sehens hängen in vielen Fällen miteinander zusammen. So kann etwa die fehlende Fernsicht der Kurzsichtigen ebenso wie der Normalsichtigen durch Näherung prinzipiell überwunden werden. Solchen Arten des Nicht-Sehens, die in unseren Einschränkungen des Sehvermögens liegen, steht ein Nicht-Sehen gegenüber, das durch anderes Sichtbares erzeugt wird. Manfred Sommer hat in diesem Sinne zwischen subjektiven und objektiven Einschränkungen des Sehen-Könnens differenziert – vgl. a. a. O., 35 f.: »Ein enges Gesichtsfeld, ein unscharfer Fernblick, ein sprunghaftes Augenmerk: drei Defizite, die abgebaut sein wollen; drei subjektive Einschränkungen unseres Sehenkönnens, die zu reduzieren und zu kompensieren nötig ist, um unsere Suchaktivität sinnvoll zu führen und um das Finden nicht vollends dem Zufall zu überlassen. / Neben den subjektiven Gründen dafür, daß wir suchen können, aber auch müssen, gibt es objektive: solche, die in der ›Natur der Sache‹ liegen. Diese Gründe lassen sich in dem Satz zusammenfassen: Sichtbares macht Sichtbares unsichtbar; genauer: Sichtbares macht, gerade durch seine Sichtbarkeit, anderes Sichtbares unsichtbar, und zwar durch Verdeckung, Verstellung, Verhüllung […]«

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Sehen mitunter auch Sache eines Sehen-Wollens ist. Vom Willen ist dabei im terminologischen Sinne die Rede, der das Wollen vom bloßen Wünschen unterscheidet, insofern es notwendig mit der Ausführung einer entsprechenden Handlung verbunden ist. Die für das geforderte Sehen-Wollen notwendigen Handlungen sind hier zum einen Bewegungshandlungen wie Lokomotionen, aber auch Körperbewegungen wie die Körperdrehung und Wendung des Kopfes, durch die zuvor Verdecktes und Nicht-Sichtbares sichtbar gemacht werden kann. Zum anderen sind hier alle Tätigkeiten zu nennen, in denen etwas gedreht, beiseitegeschafft, freigelegt, enthüllt, gesucht wird usw. Das Sehen-Wollen kann sich, dem zuvor Ausgeführten entsprechend, auch auf solches richten, das zwar im Feld des Sichtbaren liegt und nicht durch andere Objekte verdeckt ist, das wir aber aufgrund unseres individuell oder speziesbedingt begrenzten Sehvermögens nicht sehen können. Wir können dann durch bestimmte Anstrengungen das nicht Sichtbare sichtbar machen, durch Annäherungen etwa, aber auch indem wir technische Mittel wie Brillen, Ferngläser, Teleskope, Mikroskope usw. in Gebrauch nehmen.

3.

Das ›Wie‹ des Sehens

Das Nicht-Sehen von etwas tritt häufig in einer Form auf, in der das nicht Gesehene nicht erst mit Hilfe der erwähnten leiblichen Bewegungen oder technischen Maßnahmen sichtbar gemacht werden kann und ggf. auch soll, sondern Folge einer bestimmten Modalität des Sehens ist. Das in der Modalität des Sehens begründete Nicht-Sehen verweist auf unterschiedliche Weisen der perzeptiven Aufmerksamkeit. Diese führt zur internen Strukturierung des Gesichtsfeldes nach Fokussiertem und Nicht-Fokussiertem, Thematischem und NichtThematischem, Vorder- und Hintergrund. In diesem Sinne sehen wir z. B. unsere Finger einen komplizierten Knoten knüpfen, während wir das, was im Hintergrund geschieht – etwa eine bestimmte an uns gerichtete Geste – nicht sehen oder genauer: nicht bemerken, insofern sie unserer Aufmerksamkeit entgeht. Vom Nicht-Bemerken im engeren Sinne ist das Nicht-Beachten zu unterscheiden. Das Nicht-Bemerken widerfährt uns; in der Aufmerksamkeit auf etwas, bemerken wir anderes einfach nicht, es ist für uns nicht da. Gegenüber der Passivität des Nicht-Bemerkens, setzt 46 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie

das Nicht-Beachten bereits eine Form der Aktivität voraus, eine aktive Einstellung dem Wahrgenommenen gegenüber, die das, was thematisch nicht fokussiert wird, was ggf. die Aufmerksamkeit stört oder zu stören vermag, nicht zur Geltung kommen lässt. Konzentriert auf den komplizierten Knoten mag eine Person die an sie gerichtete Geste im Hintergrund vielleicht bemerken, aber sie beachtet sie nicht, schenkt ihr keine Aufmerksamkeit, sondern ist ganz bei der Sache. Das Nicht-Beachten muss dabei nicht notwendig beabsichtigt sein; ein Akteur muss sich hier nicht willentlich gegen die Ablenkung entscheiden. Es kann vielmehr auch in einer Einstellung begründet sein, aufgrund derer das Ablenkende als solches noch gar nicht thematisch wird. Während allerdings die nicht bemerkte Geste im Hintergrund nur durch eine spätere Änderung der Aufmerksamkeit überhaupt bemerkt und ggf. fokussiert werden kann (in der Regel dann, wenn ein anderer uns darauf hinweist), wird das Nicht-Beachtete bereits mitwahrgenommen. Daher sind wir hier auch im Stande, uns im Nachhinein das zuvor nicht Fokussierte als bereits Mitgesehenes in Erinnerung zu rufen und nachträglich unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken. In solchen Zusammenhängen ist dann häufig vom NichtSehen als einem Übersehen die Rede, d. h. als einem Nicht-Sehen von etwas, das bei anderer Aufmerksamkeitswendung zu sehen (gewesen) wäre – und in gewisser Weise bereits gesehen war und ist. Neben der Rede von einem Übersehen, das mit dem skizzierten Verständnis des Nicht-Beachtens gleichbedeutend ist, kann der Begriff des Übersehens auch verwendet werden, um das Moment einer willentlichen Lenkung ins Spiel zu bringen. Wer auf eine Sache konzentriert ist, hat auch einen Willen, Störendes, das sich aufdrängt, nicht in den Vordergrund treten zu lassen. Die Aufmerksamkeitsrichtung unseres Sehens und ihr Wechsel ist abhängig von unseren perzeptiven Interessen. Zum expliziten Thema unserer Kommunikation wird die Aufmerksamkeit des Sehens daher vor allem dann, wenn etwas mit Blick auf das, woran wir oder andere interessiert sind, schiefläuft, wenn etwas nicht gesehen wird, das hätte gesehen werden müssen oder sollen. In solchen Fällen wird in der Regel von anderen, mitunter aber auch von uns selbst, eine Korrektur der Aufmerksamkeit gefordert, weil das, was außerhalb unseres Aufmerksamkeitsfokus lag oder liegt, als relevant verstanden wird, d. h. als etwas, das wir sehen und fokussieren sollen, was uns zu interessieren hat. Das Nicht-Sehen ist dann die Folge eines in der geforderten Hinsicht unaufmerksamen Sehens, einer 47 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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falsch gelenkten Aufmerksamkeit. – Die hier geforderte Zuwendung und Aufmerksamkeit verweist auf normative Kontexte, die bestimmen, wie wir in bestimmten Situationen zu sehen haben. Sehen wird dementsprechend als ein zurechenbares, willentlich zu steuerndes Tun verstanden, für das wir verantwortlich gemacht werden können. Der Mitarbeiter einer Bank beispielsweise, der im Kundenbereich konzentriert auf den Bildschirm eines Notebooks schaut und den im Hintergrund seines Blickfeldes auftauchenden Bankkunden übersieht, wird von seinen Kolleginnen oder Vorgesetzten angehalten, aufmerksamer zu sein. Neben solchen Formen eines Nicht-Sehens, das Folge der Aufmerksamkeit auf anderes ist, gibt es ein Nicht-Sehen aufgrund einer allgemeinen Unaufmerksamkeit. Solche Unaufmerksamkeit kann in unterschiedlicher Gestalt auftreten. In der Zerstreuung etwa sehen wir nicht, weil wir von jedem beliebigen, sich uns aufdrängenden Reiz attrahiert werden, ohne dass dieser eine die Ausrichtung unseres Sehens oder gar Sehen-Wollens bestimmende Qualität hat. Unsere Aufmerksamkeit wechselt dabei stets ihren Gegenstand und ihren Fokus, da es ihr an Orientierung, erst recht an willentlicher Lenkung fehlt. Ein anderer Fall ist das, was man vielleicht als dösendes oder dumpfes Nicht-Sehen bezeichnen kann, bei dem das Sehen völlig unartikuliert erfolgt, weil nichts im Blickfeld fokussiert wird. Während der Zerstreute sich jedem Reiz gleichermaßen, wenn auch immer nur vorübergehend, zuwendet, ohne daran eigentlich interessiert zu sein, wendet sich der desinteressiert Dösende keinerlei Reiz zu. 9 Eine ähnliche Artikulationslosigkeit des visuellen Feldes kann sich schließlich auch in der Konzentration auf etwas, das gar keine visuelle Qualität hat, einstellen, wenn ihm gegenüber das Sichtbare gleichgültig wird. Begrifflich folge ich mit dem skizzierten Verständnis der Zerstreuung Bernhard Waldenfels (Phänomenologie der Aufmerksamkeit, Frankfurt a. M. 2004, 104: »[…] Zerstreuung, als Distraktion oder Dissipation bekannt [,…] äußert sich darin, daß man ziellos hin- und hergerissen und in verschiedene Richtungen gezogen wird.«) Demgegenüber verstehe ich das sog. Dösen in einem Sinne, der William James’ Beschreibung der ›zerstreuten Aufmerksamkeit (dispersed attention)‹ nahekommt: »die Augen starren ins Leere, die Geräusche der Außenwelt verschmelzen in eine verworrene Einheit, die Aufmerksamkeit ist derart zerstreut, daß der ganze Körper gleichsam auf einmal zum Bewußtsein kommt und im Vordergrund des Bewußtseins steht, wenn überhaupt etwas, eine Art feierlichen Gefühls der Hingabe an den leeren Zeitverlauf«. (William James, Psychologie, Leipzig 1909, 217 [Orig.: Psychology, New York 1948, 218]; vgl. auch ders., The Principles of Psychology, Vol. 1, New York 2007, 404.)

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So können wir z. B. das Interesse am Gesehenen verlieren, wenn wir intensiv einer musikalischen Darbietung zuhören, einem Gespräch folgen oder auch einem uns sehr beschäftigenden Gedanken nachhängen. Die Struktur der zuvor als Nicht-Bemerken, Nicht-Beachten oder Übersehen skizzierten Ausblendungen innerhalb des visuellen Feldes wiederholt sich hier als eine Form der Unaufmerksamkeit dem gesamten visuellen Feld gegenüber. – Wie entsprechende Aufmerksamkeitsforderungen verdeutlichen, sind auch die zuletzt beschriebenen Fälle normativ eingebettet. Zerstreutsein und Dösen, aber auch das angedeutete visuelle Abschalten sind nicht in jedem Fall harmlos; sie können unter bestimmten Umständen vielmehr als Verstoß gegen Normen sozialer, rechtlicher oder gar moralischer Art aufgefasst werden. Die bislang in diesem Abschnitt beschriebenen Fälle des NichtSehens aufgrund nicht realisierter, häufig normativ geforderter Sehweisen können zwar, müssen aber nicht notwendig, mit den im zweiten Abschnitt beschriebenen Bewegungen und Tätigkeiten in ein angemessenes Sehen überführt werden. 10 Häufig reichen aber schon minimale leibliche Kinästhesen innerhalb eines bereits bestehenden Gesichtsfeldes, um die erforderliche Aufmerksamkeitsleistung zu erbringen, etwa die schlichte okulomotorische Akkommodation im Wechsel zwischen Nah- und Fernsicht oder der Wechsel der Blickrichtung innerhalb eines Gesichtsfeldes. Im Unterschied zu den im vorigen Abschnitt erwähnten Typen der Lokomotion, Körper- und Kopfdrehung wird in den genannten Kinästhesen der Akkommodation und des Blickwechsels kein neues Gesichtsfeld gewonnen, sondern lediglich das bereits bestehende Sehfeld neu artikuliert. Schließlich sei noch kurz der Fall des Vorbei- oder Wegsehens als besondere Form eines willentlichen Nicht-Sehens erwähnt. Anders als bei den zuvor erörterten Fällen des Nicht-Sehens aufgrund eines anderen oder eines gänzlich mangelnden Sehinteresses setzt das Vorbeisehen oder Wegsehen das thematische Sehen von etwas voraus. Allerdings will der Sehende das, was er sieht, hier gerade nicht sehen. Die Abwendung des Blicks ist der Versuch, die Konfrontation mit Dies wäre etwa der Fall, wenn eine Person, die spielende Kinder zu beaufsichtigen hat, nicht bemerkt oder sogar nicht beachtet, dass sich eines der Kinder vom Spielplatz entfernt. Die diesem Nicht-Sehen korrektiv entgegen gerichteten Seh- und Aufmerksamkeitsforderungen schließen beispielsweise bestimmte Kopfbewegungen, Körperdrehungen und -wendungen des verfolgenden Blicks, aber auch Lokomotionen wie das Hinterhergehen und ggf. bestimmte Suchtätigkeiten ein.

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dem Gesehenen zu vermeiden – z. B. weil etwas Ekel erregt. Solches Weg- und Vorbeisehen ist nicht selten eine Form der Auseinandersetzung mit einem normativen Kontext – sei es als Erfüllung, sei es als Verletzung normativer Forderungen. Jemand versucht etwa, durch Wegsehen andere vor dem Erblicken einer Peinlichkeit, die sie begehen, zu schützen; aber das Wegsehen kann auch der Versuch sein, einer Situation zu entkommen, die normative Ansprüche stellt – klassisch etwa an eine Hilfeleistung. Im Kontext solcher willentlichen Abwendungen von dem bereits thematisch Erfassten kann auch ein besonderer Fall des Übersehens skizziert werden, der von den zuvor erwähnten Fällen des Übersehens unterschieden werden muss. Denn Übersehenes tritt auch in einer Form auf, in der das bereits Gesehene und thematisch Erfasste als thematisch Gesehenes kaschiert wird. Das wäre ein scheinbares Nicht-Sehen, ein Sehen im Modus des Als-ob-das-Gesehene-nicht-gesehen-wäre. Beispiel: jemand übersieht willentlich eine auf ihn oder sie zulaufende Person, deren Begegnung er oder sie vermeiden möchte. 11 Wiederholen wir immer wieder in ähnlichen Situationen eine bestimmte Art des Sehens, bilden wir einen Sehhabitus, eine visuelle Einstellung oder Disposition des Sehens aus. So gibt es im Bereich des Sehens ebenso den Aufmerksamen und Umsichtigen wie den Zerstreuten und Unaufmerksamen, denjenigen, der Bestimmtes immer übersieht und auf anderes obsessiv fokussiert ist. Die Seheinstellung entscheidet, was relevant ist und was nicht mitzählt. Das prägt den besonderen Charakter eines Menschen einschließlich seiner charakDas wäre dann eine weitere – hier dritte – Nuance des Übersehens. Die Differenzierung von Typen des Übersehens lässt sich mit Hilfe einer Unterscheidung von Graden der willentlichen Lenkung begründen. Eine sich aus der konzentrierten Aufmerksamkeit ergebende Form des sich passiv einstellenden (nicht eigens gewollten) Nicht-Beachtens von Störendem ist von einer willentlichen Anstrengung zu unterscheiden, die bemüht ist, das sich aufdrängende Störende nicht zur Geltung kommen zu lassen. Demgegenüber ist der letzte Fall des Übersehens als eine willentliche Umdeutung des bereits thematisch fokussierten Störenden (und insofern nicht gewollten Sehens) zu charakterisieren. Das gewollte Nicht-Sehen von Gesehenem kontrastiert mit dem nicht-gewollten Sehen von Gesehenem, einem visuellen Attrahiertwerden, das sich geradezu gegen den Willen einer Person durchzusetzen vermag. So erwähnt Platon in der Politeia Leontios, der sich gegen seinen ausdrücklichen Willen und sein Bemühen um ein NichtSehen vom Anblick der vom Scharfrichter Hingerichteten schließlich überwältigen und hinreißen lässt, die Leichname vor der Stadt anzustarren (Platon, Politeia IV 439e–440a). 11

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terlichen Defizite, die in einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft nicht tolerabel sind.

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Das phänomenologische Sehen

Vor dem Hintergrund des Gesagten möchte ich zum Schluss auf ein spezifisch philosophisches Sehen bzw. Nicht-Sehen eingehen. Eines der meist-zitierten Worte der Husserlschen Philosophie findet sich in den sog. Ideen I: »Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.« 12 Die Charakterisierung, mit der Husserl hier den Rekurs auf die Anschauung als »Prinzip aller Prinzipien« der phänomenologischen Philosophie auszeichnet, verdeutlicht den zentralen Wert, der gemäß dem Selbstverständnis der Phänomenologie dem Sehen als Rechtsquelle aller philosophischen Ausweisung zukommt. Die emphatische Formulierung Husserls macht deutlich, dass hier nicht zuletzt philosophische Ansprüche gerechtfertigt und gegenüber konkurrierenden Ansprüchen, die sich ihrerseits eben nicht auf das Kriterium der phänomenologischen Rechtsquelle berufen können, verteidigt werden. Phänomenologische Anschauung und phänomenologisches Sehen werden dementsprechend implizit gegen solches angeführt, was keine Rechtsquelle phänomenologischer Ausweisung ist. Es liegt daher nahe zu fragen, ob die zuvor skizzierten Überlegungen zum Nicht-Sehen auch fruchtbar zu machen sind, um Aspekte des methodischen Selbstverständnisses der Phänomenologie zu beleuchten – bei Husserl selbst oder auch bei denjenigen, die sich in seiner Nachfolge auf das Sehen als Quelle der philosophischen Arbeit berufen. Einer derjenigen, die im Anschluss an Husserl die Phänomenologie als eine philosophische Weise des Sehens besonders deutlich herausgestellt haben, ist Hans Blumenberg. In einem posthum veröffentlichten Text zum »Auffallen und Aufmerken« hat er das GeEdmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (Husserliana III/1), Den Haag 1976, 51.

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schäft der Philosophie – und man kann getrost sagen – der phänomenologischen Philosophie als ein Aufmerksammachen bestimmt. Das, worauf die Philosophie aufmerksam macht, ist nach Blumenberg nicht das Spektakuläre, Überraschende, noch nie Gesehene, sondern das, was uns vertraut und in diesem Sinne von uns bereits gesehen ist. Demnach habe, so Blumenberg, die Philosophie »milde Nachsicht« »zu bewirken« »mit dem, der nichts weiter sagt als das, was man beinahe selbst hätte sagen können, wenn nicht glaubt, schon mal gesagt zu haben«. 13 ›Beinahe‹ – das verweist auf eine Modalität des im philosophischen Sehen begründeten Sprechens, eine besondere Aufmerksamkeit, die das philosophische vom vorphilosophischen Sehen (und Sprechen) unterscheidet, insofern die philosophische Aufmerksamkeit auf das im vorphilosophischen Sehen Übersehene (im hier erläuterten ersten Sinn) als ein im Sinne der Philosophie nicht Gesehenes gerichtet ist. Dementsprechend besteht nach Blumenberg die Aufgabe der Philosophie bzw. Phänomenologie darin, »die Phänomene davor (zu) retten, übersehen und vergessen, verachtet und für irrelevant erklärt zu werden.« 14 Kurz: Phänomenologie ist die Kunst, Nicht-Gesehenes sichtbar zu machen. 15 Als guter Phänomenologe verknüpft Blumenberg dieses Programm mit einem Bekenntnis zur philosophischen Deskription und einer Absage an eine präskriptive Philosophie. So heißt es: »Es wird aufmerksam gemacht auf das, wovon die Vermutung besteht, es sei bis dahin nicht oder nicht deutlich genug gesehen worden. Wer es daraufhin nicht sieht, ist gleichsam dispensiert. Überredung wäre geradezu die nachträgliche Desavouierung der Beschreibung. … Bei der Beschreibung gibt es nicht, was es bei der Überredung immer gibt: daß mehr gesagt als gesehen werden könnte. Wer die einzige Anmeldung von Widerspruch vollzieht zu sagen: Ich sehe es nicht, steht im Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, aus dem Nachlass hg. v. Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2007, 190. 14 Ebd. 15 In dieser Kennzeichnung entspricht das von Blumenberg skizzierte phänomenologische Programm wohl weniger dem Husserl’schen Konzept des voraussetzungslosen und unvoreingenommenen Sichtbarmachens einer Sache als dem von Martin Heidegger in Sein und Zeit skizzierten Verständnis des Sichtbarmachens eines zunächst Verborgenen (vgl. ders., Sein und Zeit, Tübingen 182001, § 7, 27 ff.). So heißt es a. a. O., 35: »Was ist das, was die Phänomenologie ›sehen lassen‹ soll? […] Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist […].« 13

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Gleichgewicht zur Beschreibung. Ihm kann, bis zum nächsten Versuch, nicht geholfen werden – und darf es nicht, denn vielleicht bekommt er recht, beim nächsten Versuch.« 16 In diesem Sinne ist für Blumenberg philosophische Aufmerksamkeit eine »Form von Freiheit«. 17 Mit diesem Verständnis phänomenologischen Philosophierens steht das phänomenologische Aufmerksam-Machen im krassen Gegensatz zum oben skizzierten Aufmerksam-Machen alltäglicher Kommunikation, das mit normativen und korrektiven Ansprüchen verbunden ist. – Dass jedoch auch eine andere Sicht auf das von Phänomenologen betriebene philosophische Aufmerksam-Machen möglich ist, lässt sich mit einem abschließenden Hinweis auf Husserl selbst belegen. Es gibt eine sehr bemerkenswerte Stelle in den Vorlesungen zur Idee der Phänomenologie von 1907, an der Husserl auf das phänomenologische Sehen zu sprechen kommt. Ausdrücklich beschäftigt er sich hier mit demjenigen, der dieses Sehen nicht mitvollzieht und das, was im phänomenologischen Sehen als absolute Gegebenheit erfasst wird, nicht sieht. Husserls Ausführungen münden in einem emphatischen Bekenntnis: »Wer nicht sieht oder nicht sehen mag, wer redet und selbst argumentiert, aber immerfort dabei bleibt, alle Widersprüche auf sich zu nehmen und zugleich alle Widersprüche zu leugnen, mit dem können wir nichts anfangen. Wir können nicht antworten: ›offenbar‹ ist es so, er leugnet, daß es so etwas wie ›offenbar‹ gibt; etwa so, wie wenn ein nicht Sehender das Sehen leugnen wollte; oder noch besser, wenn ein Sehender, daß er selbst sehe und daß es Sehen gibt, leugnen wollte. Wie könnten wir ihn überzeugen, unter der Voraussetzung, daß er keinen anderen Sinn hätte?« 18 – Interpretieren wir eine solche Situation einander entgegenstehender Bekenntnisse des Sehens bzw. Nicht-Sehens mit Hilfe der Bemerkungen von Blumenberg, dann ist derjenige, der das phänomenologische Sehen – und d. h. die Seheinstellung der Phänomenologie – nicht mitvollzieht, ein Gleichberechtigter. Da sieht jemand nicht in der Weise, wie es Phänomenologen tun. Das ist es. Und vielleicht kann er sogar beim nächsten Mal Recht behalten, auch

Blumenberg, a. a. O., 183. »Belehren läßt sich ohne Einbuße an Autonomie keiner, aufmerksam machen jeder.« (Ebd.) 18 Edmund Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen (Husserliana II), Den Haag 1950, 61. 16 17

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wenn es zunächst mit ihm im Kontext der Phänomenologie nicht weitergeht. – Aber Husserl scheint an dieser Stelle nicht so liberal; die Passage hat vielmehr einen deutlichen präskriptiven Unterton. Das »mit dem können wir nichts anfangen« spiegelt das Ende des deskriptiven Geschäftes. Keiner lässt sich zwingen. Ja! Aber die Weise, in der das nicht-erzwingbare Sehen hier thematisch wird, klingt nicht nach einem Bekenntnis zur Freiheit der Philosophie und zur Toleranz demjenigen gegenüber, der nicht sieht, was die Phänomenologen sehen. Der Versuch, die phänomenologische Einstellung zu sichern, scheitert charakteristischerweise nicht am Unvermögen, sondern am Willen des Gegners – er ist wie ein Sehender, der das Sehen leugnet. Darum wird der Abweichler auch nicht dispensiert, sondern exkludiert. Und Exklusion ist eine der drastischsten Formen der Sanktion, die einem Normabweichler widerfahren können. 19 Kurz: Der Verweis auf das phänomenologische Sehen und das Aufmerksammachen auf bislang Nicht-Gesehenes und Übersehenes ist weitaus weniger harmlos, als er zu sein vorgibt. Aber gerade deswegen hat die phänomenologische Seheinstellung – wenn auch etwas widerwillig – zumindest bei Husserl eine strukturelle Gemeinsamkeit mit dem gewöhnlichen Verständnis des Sehens. Das Verständnis des Sehens muss – auch in der Phänomenologie – von der Erfahrung unseres Sehens ausgehen. Sehen ist zu einem entscheidenden Teil Willenssache und kann daher verantwortlich zugeschrieben und ggf. Hier wird auch deutlich, inwiefern Heidegger seinerseits eine Position vertritt, die sowohl vom Verständnis Blumenbergs als auch Husserls abzugrenzen ist. In der Heidegger’schen Phänomenologie der Entbergung wird das anfängliche Nicht-Sehen als faktische Tendenz des Verfallens verstanden, dem die Phänomenologie entgegenarbeitet. Dementsprechend sind Nicht-Sehen und Sehen bzw. nicht-phänomenologisches Sehen und phänomenologisches Sehen normativ einander entgegengesetzt. Ersteres ist daher zu überwinden und kann nicht, wie Blumenberg dies andeutet, möglicherweise im weiteren Verlauf rechtfertigt werden. Das hängt mit Heideggers Begründung des Verhältnisses von dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, und dem, was in phänomenologischer Arbeit aufzuweisen ist, zusammen. Denn Letzteres ist der Grund für Ersteres. Charakteristischerweise heißt es in der Fortsetzung der oben (Anm. 15) zitierten Passage, dass das, »was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, […] zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.« (Heidegger, a. a. O., 35) Anders als Husserl würde Heidegger das Nicht-Sehen im phänomenologischen Sinn aber als ein der Verfallstendenz des Daseins geschuldetes Widerfahrnis, nicht hingegen als Ausdruck eines verstockten Willens, begreifen. Entsprechend ist dem Nicht-Sehen nicht, wie Husserl dies denkt, ein phänomenologisch richtig ausgerichtetes Sehen-Wollen normativ entgegenzusetzen.

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eingefordert werden. In diesem Sinne ist das Sehen stets begleitet vom Nicht-Sehen. Dieses ermöglicht die Akzentuierung des Wahrnehmungsfeldes; aber es verweist zugleich auch immer auf alternative Möglichkeiten des Sehens und nicht selten auf solche, die normativ gefordert sind. 20

Diego D’Angelo und Michela Summa danke ich herzlich für ihre ebenso kritischen wie hilfreichen Bemerkungen zu einer früheren Fassung dieses Textes.

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Verweisungen Sehen – Betrachten – Verstehen

Autoren der philosophischen Anthropologie haben auf die relative Unterentwicklung menschlicher Sinnesorgane hingewiesen: Wir sehen oder hören schlechter als Spezialisten der Tierwelt und wir verfügen auch nicht über die Kampf- oder Fluchtorgane, wie sie manche Tierarten auszeichnen. Was moderne Menschen als homo sapiens qualifiziert, ist u. a. ihre Lernfähigkeit und ihr Gestaltungswille, die Entwicklung ihres Großhirns und der unspezifische Bau des menschlichen Körpers. Die schwächer entwickelten Sinnesorgane des Menschen entfalten ihre Stärke durch einen psychisch-physiologischen Prozess von Sinneseindrücken, kognitiven Verarbeitungen (›Denken‹) und Lernerfahrungen. Es sind die verschiedenen Sinnesorgane – der Seh-, Hör-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn –, mit denen Menschen ihre Welt wahrnehmen und gestalten, (er-)fassen und (er-) kennen; hinzu kommt der »praktische Sinn« (Bourdieu) als ein körperlich gewordener und gesellschaftlich wirksamer Orientierungssinn, der soziale Passungen moderiert. Mit der historischen Umstellung von der Oral- auf die Schriftkultur verschiebt sich die soziale Relevanz der menschlichen Sinne vom Hör- auf den Sehsinn. 1 In der Soziologie ist der Sehsinn bzw. die menschliche Fähigkeit des Sehens von verschiedenen Autoren thematisiert, in den Zusammenhang anderer Wahrnehmungssinne oder in das reziproke Verhältnis von Sehen und Sichtbarkeit gestellt worden. 2 Martin Riedel, Logik und Akroamatik. Vom zweifachen Anfang der Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch Jg. 91 (1984), 225–237. Diese Umstellung steht in Zusammenhang mit der historischen Ausdifferenzierung von Organisationen, die ihre Abläufe und Kommunikationen über das Medium Schrift – der alphabetischen wie der mathematisch-operativen Schrift – organisieren. Ohne dies näher erörtern zu können, gehen wir davon aus, dass die alphabetische und die mathematisch-operative Schrift nicht nur zuhandene Gebrauchsobjekte, sondern auch epistemische Gegenstände der Grammatik- und Schriftentwicklung waren respektive sind. 2 Georg Simmel, Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: Ders., Soziologie. Unter1

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Verweisungen

Der menschliche Sehsinn ist ein gerichteter sozialer Sinn: Er ist gerichtet und damit perspektivisch, da wir unsere Augen auf ein Ereignis ausrichten, das wir in ›Augenschein nehmen‹. Wir folgen einem Theaterstück, einer Oper oder einem Sportereignis, indem wir unsere Augen diesen Geschehnissen zuwenden, um das, was sich uns darbietet, auch optisch erfassen und als Sinneswahrnehmung leiblich integrieren zu können. Diese alltägliche Um-zu-Praxis schließt ein Nicht-Sehen ein, da wir nicht gleichzeitig nach rechts und links, nach vorne und hinten sehen können. Wir schauen auf die Leinwand, um einem Kinofilm folgen zu können, sehen aber nicht, was sich in unserem Rücken abspielt, ergänzen dieses NichtSehen aber u. a. durch unser Wissen und unseren Hörsinn – und ›sehen‹ daher mit unserem inneren Auge, d. h. mit unserer Vorstellung, was sich hinter uns abspielen mag. Wir kommen auf diese Ergänzung zurück. Der Sehsinn ist aber auch ein reziproker sozialer Sinn, da sich Sehen selbst – im Unterschied etwa zum Hören – sichtbar vollzieht und damit das Angesicht des Anderen markiert. 3 Man könne, so Goffman, einem Menschen ansehen, dass »er auch sehen kann, dass gesehen wurde, dass er beim Sehen gesehen wurde.« 4 Das Wissen um diese Sozialität des Sehens wird auch an der Modulation des Sehens – ein Sehen ohne Hinzusehen – und damit an Blickkonventionen deutlich, wenn Menschen also so tun, als würden sie weder hinsehen noch etwas sehend wahrnehmen (so etwa der geübte Blick in großstädtischen U-Bahnen oder in öffentlichen Saunen). Sehen ist ferner an Kategorien gebunden, die uns etwas als etwas erkennen und unterscheiden lassen (etwa die Zugehörigkeit von Menschen zu einem Geschlecht, zu einer Ethnie, zu einer sozialen Gruppe, zu einer Generation etc.). Merkmale von Personen, Dingen, Situationen etc. zu übersehen, ist demnach ein situatives Herunterfahren relevanter Unterscheidungen und damit ein kategoriales Hinsuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1907). Frankfurt a. M. 1992, 722–742; Sophia Prinz, Die Praxis des Sehens. Über das Zusammenspiel von Körpern, Artefakten und visueller Ordnung, Bielefeld 2014; Michel Foucault, Überwachsen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977, 251 ff. 3 Hierzu: Georg Simmel, Soziologie der Sinne, ebd., 724 ff.; Urs Stäheli, Materialität der Sinne. Simmel und der ›New Materialism‹, in: Hartmann Tyrell / Otthein Rammstedt / Ingo Meyer (Hg.), Georg Simmels große »Soziologie«. Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren, Bielefeld, 259–273. 4 Erving Goffman, Verhalten in sozialen Situationen. Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh 1971, 27.

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wegsehen, das beiläufig oder explizit geschehen kann. Wenn es explizit erfolgt, ist es eher ein Wegsehen im Sinne von nicht zur Kenntnis nehmen und Ignorieren. Sehen ist demnach eine soziale Tätigkeit, die wir mal mehr und mal weniger als solche überhaupt zur Kenntnis nehmen – so vollziehen sich im Sehen mitunter auch andere Vorgänge. Sehen ist nie ein ausschließliches oder ›reines‹ Sehen: So bewerten und beurteilen wir die Anderen oder deren Tun nicht zuletzt auch im Vollzug des Sehens; wir setzen uns mitunter gezielt anderen Erfahrungen aus, um anders und anderes zu sehen; wir genießen etwas oder ekeln uns im Sehen vor dem, was unseren Blick für eine Zeit gefangen hält. Aber ›zu sehen‹ als ein geradezu ubiquitäres und selbstverständliches Tun ist doch auch unterbrochen, und zwar beispielsweise durch körperliche Blindheit, 5 durch ein kategoriales Nicht-Wissen im Sinne von etwas nicht erkennen oder lesen können (etwa Kunst) und durch die Flüchtigkeit resp. Beiläufigkeit des Sehens, das uns das (vertraute) Wahrgenommene gar nicht immer bewusst werden lässt. Aber wir sehen auch anders und anderes durch unser ›inneres‹ oder ›geistiges‹ Auge. Wir erinnern beispielsweise bestimmte Orte, Personen oder Ereignisse, die wir – wenngleich diese längst vergangen sind – doch sehen und wieder-erleben können. Etwas erinnernd vor seinem geistigen Auge zu sehen, ist mitunter auch ein emotional geladenes Ereignis, das uns nur partiell loslässt oder uns (wiederkehrend) erfreut oder belastet. Wir können durch unsere Vorstellungskraft auch etwas ›sehen‹, das noch gar nicht leiblich gesehen werden kann (so etwa in der Mathematik). Beispielsweise können durch Kalküloperationen »Zusammenhänge zwischen unsichtbaren theoretischen Entitäten die Gestalt sichtbarer Relationen zwischen formalen Ausdrücken annehmen«. 6 Das heißt, dass die operativ-mathematische Schrift die Gegenstände schafft, die sie berechnet bzw. modelliert und damit visualisierend auch für das körperliche Auge verfügbar macht. Wir kommen hierauf zurück.

Carolin Länger, Im Spiegel von Blindheit. Eine Kultursoziologie des Sehens, Stuttgart 2002. 6 Sybille Krämer, Kann das ›geistige Auge‹ sehen? Visualisierung und die Konstitution epistemischer Gegenstände, in: Bettina Heintz / Jörg Huber (Hg.), Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001, 347–364, hier 360. Krämer kritisiert den »europäischen Okularzentrismus« (349) und plädiert dafür, anzunehmen, dass die wesentlichen Strukturen des modernen Lebens »unsichtbar« sind (ebd.) und sich daher der direkt-leiblichen Beobachtung entziehen. 5

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Im Folgenden gehen wir auf drei Modi als eine Graduierung des Sehens ein: Sehen – Betrachten – Verstehen. Die vorgeschlagene Graduierung des Sehens verstehen wir dabei als eine analytische Differenzierung, die auch heuristisch intendiert ist. So geht es uns in dieser Ausformulierung einer Graduierung des Sehens auch darum, den Begriff des Sehens weitergehend zu öffnen und das Sehen in seinen unterschiedlichen Erfahrungspotenzialen zu umreißen. Wenn wir in diesem Text von Verweisungen sprechen, dann meinen wir damit, dass das Sehen als eine Praxis auf sich selbst und damit auf den Sehenden sowie auf das Sichtbare verweist wie ebenso auf die Modi des Sehens und die mit ihnen verbundenen vielfältigen und flüchtigen, auf Objekte wie auf Menschen gerichteten An-Blicke.

Sehen Das leibliche Sehen des Menschen ist im Sinne einer »perzeptiven Gewohnheit« 7 in seiner Beiläufigkeit geradezu primordial. Es ist aber soziologisch wenig sinnvoll, von einer Omnipräsenz oder Omnirelevanz des Sehens auszugehen, denn immer wieder sehen wir etwas, ohne es zu erkennen, schauen etwas an, ohne es wahrzunehmen oder ohne es anzustarren; manches erblicken wir auch nur en passant und flüchtig, anderes schauen wir an, sehen aber über das, was sich uns darbietet, hinweg. Dieses Sehen ohne Relevanz verweist auf eine Praxis des flüchtigen und zugleich selektiven Relevanzaufbaus. Daher gehen wir von einer sozialen Graduierung des menschlichen Sehsinns und seiner praktischen Relevanz respektive Bedeutung aus: von einem Sehen, das erblickt, erkennt und versteht bis zu einem Sehen, das sieht ohne wahrzunehmen. Die Relevanz des Gesehenen wird somit situativ durch abgestufte Grade des Sehens bedeutsam/ aktualisiert bzw. unbedeutsam/deaktualisiert. 8 Dazwischen liegen verschiedene Grade oder Modi des Sehens: ein gaffendes Hinsehen, ein Sehen ohne zu erkennen und ohne zu wissen sowie ein ignorierendes und indifferentes (Hin-)Wegsehen. Sehen ist demnach – so unsere Annahme – immer in verschiedene Verweisungen eingebunMaurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1974, 182 f. Zu dieser Figur der sozialen Graduierung siehe Stefan Hirschauer, Un/doing Differences. Die doppelte Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 43, H. 3 (2014), 170–191.

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den: Ansehen, Hinsehen, Wegsehen, Übersehen, Zusehen – je nachdem wie wir sehen, zeigen sich die Dinge, die Anderen und die Welt in einer anderen Weise beziehungsweise in einer anderen Verweisung. Sehen ordnet unsere Welt und verortet uns in der Welt, lässt uns die Welt als eine alltägliche erfahren und ermöglicht uns das, was um uns herum sichtbar ist, als selbstverständliche oder auch außeralltägliche Wirklichkeit wahrzunehmen. Sehen ist eine zutiefst soziale Praxis, die eng mit Wissen verbunden ist – Wissen um das eigene Sein in der Welt, das uns aber nicht nur stabil und vertraut, sondern auch fragil und unbehaglich erscheinen kann – so etwa in der Begegnung mit Anderen. Wir sehen die Anderen und sehen, dass die Anderen uns sehen – und sehen, dass die Anderen sehen, dass wir sie sehen. Unsere Körper zeigen sich den Anderen. Sie werden in ihrer Präsenz zur Ressource für Interaktionen, etwa wenn wir darstellen, dass wir souverän auftreten können, indem wir aufrecht stehen und unser Gegenüber selbstbewusst anblicken. Aber unser Körper gibt sich auch in seiner Anfälligkeit zu erkennen und wird zum Risiko unserer Imagepflege – man denke nur an ein tollpatschig wirkendes Stolpern oder ein schamvolles Erröten. Ein erster Gedanke ist daher oftmals: Hat dies jemand gesehen? Insbesondere das alltägliche Sehen von Dingen, die wir durch permanentes Wiedersehen kennen bzw. das fortlaufende Sehen unserer Umgebung, in der wir uns routiniert bewegen, lässt uns das Sehen im praktischen Vollzug geradezu vergessen: Wir sehen, aber sehen auch nicht. Die allzu vertraute und bekannte Umgebung verschwindet in ihren Details und Eigentümlichkeiten, denn unser Blick hat sich an sie gewöhnt – wir sehen nicht hin, sondern unser Sehen ›überfliegt‹ beziehungsweise streift die uns ständig umgebenden Dinge nur noch, von denen wir annehmen und wissen, dass sie schon da sein werden. 9 So wie sie es immer sind. Sehen veralltäglicht und wird dabei selbst veralltäglicht. Ein Beispiel hierfür ist der morgendliche Weg zur Arbeit an immer denselben Häuserzeilen vorbei, bekannte Straßenzüge vor Augen – dieses routinierte Sehen dessen, was wir mit Alltag verbinden, ermöglicht Vertrautheit. Vertrautheit mit der Umgebung gibt uns Sicherheit und Stabilität. Nun lässt sich allerdings fragen, was für ein Sehen dieses Sehen eigentlich ist, das uns alltäglich in der Welt verortet, das uns und unser Handeln gegenüber Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2003, 277.

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Anderen, aber auch im Raum und gegenüber den Dingen orientiert. So sehen wir auf unserem morgendlichen Weg zur Arbeit die uns so vertrauten Straßenzüge – und sehen sie wiederum in diesem Blick des Vertraut-Seins, des Alltäglichen und womöglich der Routine auch wiederum nicht. Wir fahren oder gehen an ihnen vorbei, vielleicht in Gedanken versunken und nur genauer hinsehend, wenn der Weg noch neu ist für uns oder sich etwas auf dem uns so vertrauten Weg gravierend verändert hat – etwa, wenn ein Haus abgerissen wird, welches das Erscheinungsbild eben dieses Straßenzugs doch jahrelang maßgeblich geprägt hat. Erst dann blicken wir auf, sehen wir hin und bedauern oder begrüßen die Veränderung unserer täglichen uns umgebenden Fassaden. In diesem Modus der Alltäglichkeit sehen wir – und sehen doch wiederum nicht in dem Sinne, dass das Sichtbare als solches für uns in all seinen Details hervortritt. Wir übersehen das Besondere und sehen das im Vorfeld Erwartete. In diesem Modus ist das Sichtbare gleichsam zuhanden, es ist in seiner Selbstverständlichkeit ›da‹. 10 So ist dieses alltägliche und in gewisser Weise implizite Sehen ein geradezu mundanes Sehen, das Welt und Wirklichkeit für uns ›in Ordnung‹ hält. Das Sichtbare und uns in seiner Erscheinung alltäglich Begegnende tritt in seiner Vorhandenheit erst hervor, wenn es sich ändert und zwar in der Weise ändert, dass wir dies registrieren und ›merken‹. Sehen wird Hinsehen, begleitet von Fragen und Beurteilung: Was passiert denn hier? Wie sieht das denn aus? Das ist zu groß! Das wirkte vorher viel besser! Unsere Umgebung erscheint sodann in ihren ästhetischen Dimensionen, und zwar in ihren Formen, Proportionen, ihrer Farbigkeit und ihrer Kontingenz. Das, was zuvor selbstverständlich ›da‹ war beziehungsweise zuhanden war, ist nun anders. Wirklichkeit wird zur gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeit. Unser Blick auf Gewohntes ist plötzlich abhandengekommen beziehungsweise unser gewohnter Blick ist uns plötzlich abhandengekommen. Das Alltägliche des Sehens verschwindet und das Sehen wird mehr und mehr eines, das seine sich verändernde beziehungsweise andere Umgebung betrachtet – ein anderer Modus des Sehens deutet sich an.

Wir schließen hier an die Unterscheidung von Zuhandenheit/Vorhandenheit an, wie sie von Martin Heidegger in seiner Daseinsanalyse für die menschliche Praxis mit Dingen vorgeschlagen wurde. Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 2001, 66 ff.

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Betrachten Ein mit Wissen induziertes Hinsehen und Ansehen, Einsehen und Zusehen ist oftmals als Betrachten beschrieben worden. Das Betrachten kann als ein sich dem Sichtbaren zuwendender Modus des Sehens umrissen werden. Beim Betrachten geht es nicht mehr primär um Alltägliches, sondern auch um eine Öffnung des Blicks für Neues und Anderes. Das Betrachten ist mit einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber dem Sichtbaren – dem sich Zeigenden 11 – ausgestattet. Dieses fokussierte, sich zuwendende Sehen erfordert eine konzentrierte Aufmerksamkeit, und es bringt Fragen und Urteile hervor. Ein derartiges Betrachten wird beispielsweise im Bereich der Kunst beziehungsweise der bildenden Kunst relevant, für die das Sehen bis heute oftmals der primäre Zugang zu den Werken ist. Kunstwerke werden in der Regel gezeigt und angeschaut, sie ziehen Blicke an oder stoßen Blicke ab. Im Betrachten von Kunst schließen wir an Gewohntes an – je nach Vertrautheit der betrachtenden Person mit diesem Modus des Sehens und mit den anzuschauenden Werken, die voraussetzungsvoll sind und die entsprechend der Differenzierung des Wissens der Betrachtenden jeweils andere Facetten und andere Urteile das jeweilige Werk betreffend evozieren. 12 Das Betrachten ist kein mundanes Sehen, das uns in unserer Alltagswelt verortet beziehungsweise das Alltagswelt erzeugt. Vielmehr wird es erfahrbar als ein kritisches und fragendes Sehen, in dem beurteilt wird, was möglich und unmöglich ist – wie etwa in der Kunst. Dieses Sehen rückt den sich zeigenden Dingen ›zu Leibe‹ und versucht sie – je nach Intensität und Ausdauer, Vorwissen und Anspruch – zu genießen und zu durchdringen. In einem fokussierten und konzentrierten Ansehen von etwas, das üblicher Weise auch als Betrachten gefasst wird, treten die sich zeigenden Dinge für uns hervor – oder anders formuliert: Sie treten heraus. Sie treten heraus aus ihrem Eingebunden-Sein in den alltäglichen Gebrauch, sie werden sichtbar, sie geben sich in ihren Eigenheiten wie Formen, Farben und Proportionen zu erkennen. Dieses betrachtende Sehen ist empfänglich für Affizierung und zugleich ist es in seiner Zuwendung und Aufmerksamkeit an der Erzeugung von Dieter Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002. Siehe zur sozialstrukturellen Verortung des Blicks Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen, Feldes, Frankfurt a. M. 2001, 490 ff.

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affektiven bis hin zu ästhetischen Erfahrungen beteiligt. Diese bestimmte Weise zu sehen, ist unterschiedlich beschrieben worden: Max Imdahl prägte den Ausdruck des »sehenden Sehens«, mit dem er das Sehen als eines beschreibt, das anderes als Gewohntes und wiederholt Gesehenes zu sehen vermag; 13 Eva Schürmann spricht auch von einem »Anderssehen« beziehungsweise einem »Kunstsehen« als ein Sehen, das »[…] mit den Routinen eines aufs Bescheidwissen und Verfügen zielenden Sehens bricht«. 14 So ist es besonders der Bereich der Kunst, in dem dieses Sehen einerseits gefordert, andererseits ermöglicht wird. Künstlerische Werke treten denjenigen, die sie ›betrachten‹ in ihren Eigenheiten gegenüber und bieten Fragen, Auseinandersetzungen und Erfahrbarkeiten an. Sie entwickeln ihre Präsenz 15 – nicht zuletzt auch, indem sie nicht nur hingestellt, sondern ausgestellt werden. Das Betrachten der ausgestellten Arbeiten ist eingebettet in ein implizites Regelwerk. Dieses speist sich aus dem Wissen, dass ausgestellte Exponate beziehungsweise Kunstwerke in der Regel nicht angetastet werden dürfen. So geht das Betrachten von etwas – etwa einer künstlerischen Arbeit – immer auch mit der Erfahrung von Anerkennung und Wertschätzung des Gezeigten einher. Die Anerkennung, die ausgestellten Arbeiten und Werken durch ihre Betrachter zuteilwird, zeigt sich beispielsweise, indem ein gewisser Abstand zu den Arbeiten und Werken seitens der sie Ansehenden eingehalten wird und die Werke nicht mit den Händen, sondern mit den Blicken berührt werden. Zugleich lässt sich das Betrachten keineswegs auf die Einhaltung von Konventionen und Regeln und auf habitualisiertes Wissen der Ausstellungsbesucher reduzieren. In diesem Modus des Sehens passiert mehr. Folgender Ausschnitt aus einem ethnografischen Protokoll gibt einen Einblick in eine durch Beschreibung angenäherte Erfahrung der Ethnografin beim Betrachten einer künstlerischen Arbeit – einer Rauminstallation, die im März 2019 im Museum for Art, Architecture and Technology in Lissabon ausgestellt wurde:

Max Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen, in: Ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1996, 300– 380, hier 304. 14 Eva Schürmann, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a. M. 2008, 211 ff. 15 Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, 107. 13

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Ich betrete den runden, in weiß gehaltenen Ausstellungsraum unterhalb einer schwarzen mit Strahlern versehenen Decke: Ein Meer aus Plastik tut sich auf – eine Welle aus unzähligen verschiedenen Kunststoffdingen von Kanistern und Flaschen über Netze bis herausragende Kunststoffboote – ergeben zusammen eine riesige Oberfläche, die durch den Raum wogt. Dem Text an der Wand entnehme ich, dass es sich bei dieser Großinstallation um die Arbeit »Over Flow« von Tadashi Kawamata handelt. An der Außenwand einer in den riesig wirkenden Innenraum eingebauten Rotunde wandeln die Besucher – so auch ich – entlang. Beim langsamen Heruntergehen der schneckenförmigen Innenarchitektur richte ich den Blick auf die den Raum überschwemmende ›Plastikflut‹. Diese scheint sich im Vollzug der veränderten Perspektive durch das Herabgehen zu bewegen. Ich gewinne den Eindruck, als würden wir – ich und weitere Besucher – von einer Welle aus Plastikgegenständen überrollt werden und in einen Strudel geraten, als würden wir in ein Meer aus Kunststoffdingen und in eine simulierte Wasseroberfläche eintauchen. Unten angekommen wird klar: Der schneckenförmige Gang endet damit, dass wir unter der Oberfläche aus Kunststoffdingen landen – es entsteht von hier aus der Eindruck, dass kein Auftauchen mehr möglich ist. Zugleich zeigt das Ensemble aus Kunststoffen verschiedene Formen und Farben, begleitet von Schattenwürfen und diffusen Lichtspielen auf dem Boden. Im Sehen und Gehen wird eine Erfahrung – auch ästhetische Erfahrung – freigesetzt, die in der Ausweglosigkeit (ich denke an die Verschmutzung der Meere und Ozeane) und Faszination (ich merke, wie die Arbeit mich in ihren Bann zieht) zusammentreffen.

Die Rauminstallation entwickelt in einem sich auf sie einlassenden betrachtenden Sehen eine Präsenz, die Auseinandersetzungspotenziale und Erfahrbarkeiten bereithält. Die Blicke werden von ihr angezogen, es entsteht eine Erfahrung – hier beschrieben als Zusammentreffen von »Ausweglosigkeit […] und Faszination«, was den Eindruck von Ambivalenz und Komplexität freisetzt. Im Zusammenspiel mit umweltkritischen Assoziationen – das Alltagswissen um die Verschmutzung der Meere und Ozeane mit Plastik – und der Schönheit dieses raumgreifenden Gebildes aus verschiedensten Formen aus farbigem Kunststoff, angestrahlt von Licht, das sodann von unten betrachtet auf dem Boden spielt, wird eine Erfahrung von Konsistenz erzeugt. Diese Art des ästhetischen Erfahrens als ein berührtberührendes Sehen beziehungsweise Betrachten und zugleich Eintauchen in die Arbeit lässt das Sehen verbunden mit dem Durchwandeln des Raumes selbst wahrnehmbar werden. Sehen wird hier auch reflexiv: Die Ethnografin positioniert sich im Raum und nimmt verschiedene Perspektiven ein, um die Arbeit aus verschiedenen Blick64 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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winkeln zu sehen. Aus dem Augenwinkel sieht sie auch die Anderen, wie sie zum Teil andächtig den Gang herunterschreiten und ihre Blicke auf die Arbeit richten. Es herrscht Stille. Unten angekommen, gehen einige Besucher langsam durch den Raum, betrachten aus dieser und jener Perspektive die Installation. Die sich zeigende Arbeit wird im Gehen und besonders im Sehen besondert, wobei die Arbeit in ihrer Präsenz zugleich das Sehen der Ethnografin zu besondern scheint. Sie sieht hin, sieht das wellenartige Kunststoffpanorama aus verschiedenen Perspektiven an, sieht sich in die Arbeit ein. Das situative Erfahren der Arbeit – man kann hier gar von ästhetischem Erfahren sprechen – nähert sich dieser zunächst auch in intuitiven Zugangsweisen an, um die Atmosphäre des Raumes wahrzunehmen. Welche Fragen, Eindrücke und Überlegungen in Anbetracht welcher künstlerischen Arbeiten entstehen, ist dabei immer auch eingebettet in das jeweilige habitualisierte feldspezifische Wissen der Betrachter. Jedoch lässt sich das Betrachten von Werken nicht allein auf ein Dekodieren auf der Grundlage von habitualisiertem (hoch-)kulturellen Kapital reduzieren, wenngleich sie das Betrachten mit praktischem sowie auch theoretischem Wissen im Hinblick auf bestimmte künstlerische Positionen und Arbeitsweisen verbindet. Das Betrachten ist auch eingebettet in ein situiertes Umgehen mit den ausgestellten Arbeiten seitens der Einzelnen und ihren Bezugnahmen. Es ist demnach kontingent und tritt zunächst hervor als ein individualisiert-individualisierendes Sehen, das den Sehenden zunächst vereinzelt und Sichtweisen erzeugt. Daher ist es nicht selten, dass das Bedürfnis bei den Betrachtenden entsteht, sich über das jeweils Betrachtete und Erfahrene auszutauschen, darüber zu sprechen und die eigenen Sichtweisen mit denen der anderen zu teilen sowie auch ihre Erfahrungen in Erfahrung zu bringen. Ein betrachtendes Sehen erzeugt demnach auch Interaktionen und Kommunikationen. Es ist in und mit seinen ästhetischen, kritischen, fragenden, assoziativen und konzeptuellen Facetten immer auch sozial.

Verstehen Ein durchdringendes, sich Fragen zuwendendes Sehen finden wir aber nicht nur im Modus des Betrachtens, das sich ästhetischen Lösungen und Überraschungen, Phänomenen und Formfindungen zuwendet. Wir finden es im Weiteren auch im Modus des Verstehens. Das He65 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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raufordernde des Verstehens materialisiert sich zum Beispiel unter anderem in Schrift, Formeln, Diagrammen und Tabellen. So schauen wir Zeichen, Bilder etc. an und sehen – so wir sie lesen können – erkennbar sinnvolle Zusammenhänge oder eben nur Zeichen ohne Sinn. Dabei ergibt sich die Sinnhaftigkeit der Zeichen (wie etwa der Arithmetik, der (analytischen) Geometrie, der Wahrscheinlichkeitsrechnung etc.) aus unserem (Fach-)Wissen sowie aus der richtigen Stellung der Zeichen in der Folge anderer Zeichen. Wir entscheiden dabei nicht über den Sinn der Zeichen, sondern über die Richtigkeit der Zeichenfolge und damit über die Rechnung. 16 Die im Schulunterricht mit Kreide an die Tafel geschriebenen Zeichen und Formeln, Begriffe und Modelle erzeugen erst dann Sinn, wenn sie von Schülern durch unterrichtendes und wiederholendes Einüben gelernt wurden. Lernen, für das es notwendiger Weise Zeit braucht, 17 heißt hier u. a. etwas sehen und einordnen sowie sinnvoll fortsetzen können: Eine Formel wird plötzlich verstehbar als binomische Formel, f(x) wird verstehbar und damit verwendbar als Funktionswert in der Mathematik. Zeichen und ihr Sinn werden ersichtlich, wenn wir gelernt haben, sie durch unseren lesenden und verwendenden Gebrauch zu verstehen. Oder denken wir an die – für die meisten von uns – eher als Blackbox erscheinende Welt der Devisenhändler, die täglich auf mehreren Bildschirmen Kurven und Indizes verfolgen, um nicht nur zu sehen, was der ›Markt macht‹, sondern um zu erkennen, wohin er sich entwickeln könnte, um – abgestimmt mit diesem sehenden Vorgriff auf die gegenwärtige Zukunft des Marktes – in Bruchteilen von Sekunden Geschäfte zu tätigen und über Erfolgschancen zu urteilen. 18 Diese sehr spezifische ökonomische Welt ist für die Akteure nur durch ihre mediale Visualisierung verfügbar – Bildschirme, auf die sie immerzu starren und die ihre Blicke geradezu sekündlich bannen. Die Appräsentation, die hier vollzogen wird, ist nicht allein eine technische Vermittlung, sondern vor allem ein ergänzendes Sehen Hierzu Sybille Krämer, Kalküle als Repräsentation. Zur Genese des operativen Symbolismus in der Neuzeit, in: Hans-Jörg Rheinberger / Michael Hagner / Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, 111–122. 17 Siehe Andreas Dörpinghaus / Ina Katharina Uphoff, Die Abschaffung der Zeit. Wie man Bildung erfolgreich verhindert, Darmstadt 2012. 18 Hierzu Karin Knorr Cetina / Urs Bruegger, Global Microstructures: The Virtual Societies of Financial Markets, in: American Journal of Sociology Jg. 107, H. 4 (2002), 905–950. 16

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und Verstehen derjenigen Zeichenwelten und ihrer Semantiken, die sich etwa auf Bildschirmen zeigen und welche die Akteure mit ihrem Wissen ergänzen (›mit-vergegenwärtigen‹). 19 Deutlich wird hier, dass die Möglichkeit, etwas sehen zu können, abhängig von der Darbietung dessen ist, was zu sehen sein soll. Wie also tritt ein Text als Text, eine Rechnung als Rechnung, eine Zeichnung als Zeichnung auf? Dasjenige, was sich uns zeigt, ist von der Art und Weise, wie es durch semiotischen Technologien, durch Schriftoder Bildkonventionen zur Darstellung gebracht wird, oft nicht zu lösen. 20 So die Tabelle: Sie organisiert und sie evoziert ein simultanes und synoptisches Sehen und beeinflusst hiermit die Wahrnehmung der Darstellung durch ihr Publikum. Ihre besondere Leistung besteht darin, dass sie Dinge ordnet und kombiniert und hierdurch sowohl Übersichtlichkeit als auch Vergleichbarkeit herstellt, die ansonsten nicht existierten. Sie erreicht diesen Effekt durch eine Kombination von in Reihen und Spalten geordneten Überschriften, Kategorien, Zahlzeichen und Leerräumen. Schaut man auf die tabellarische Ordnung, so findet man etwa eine strenge Form horizontaler und vertikaler Linien und die Individuierung einer jeden Zelle. Das heißt, es existiert ein präzises räumliches Schema, das Lexeme (etwa Kategorien) und Zahlzeichen in immer gleicher Weise räumlich positioniert. Somit sind drei Gestaltungssignaturen zu erkennen, die das Bild der Tabelle prägen: die exakte Positionierung schriftlicher Zeichen in den Zellen, die optischen Achsen der Tabelle durch sichtbare und unsichtbare Linien und die beliebig wiederholbare Struktur. Das heißt: Eine zweidimensionale, logische Struktur ordnet Informationen festgelegten graphischen Sequenzen (Spalten und Reihen) zu, die ihrerseits beliebig iterierbar sind. Sprachwissenschaftlich betrachtet, folgt die Organisation der Felder also einem kognitiven Prinzip der Similarität. 21 So wird ein- und dieselbe Kategorie (»A«) etwa auf verschiedene Zeiträume (»A1«, A2« etc.) bezogen; damit dies funktionieren kann, Herbert Kalthoff, Finanzwirtschaftliche Praxis und Wirtschaftstheorie. Skizze einer Soziologie ökonomischen Wissens, in: Zeitschrift für Soziologie Jg. 33, H. 2 (2004), 154–175. 20 Michael J. Barany / Donald MacKenzie, Chalk. Materials and concepts in mathematics research, in: Catelijne Coopmanns / Michael Lynch / Janet Vertesi / Steve Woolgar (Hg.), New representation in scientific practice, Cambridge 2014, 107–129. 21 Siehe Peter Koch, Graphé. Ihre Entwicklung zur Schrift, zum Kalkül und zur Liste, in: Peter Koch / Sybille Krämer (Hg.), Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen 1997, 43–81. 19

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müssen grafische Sequenzen vorliegen: von a1, a2, a3 … bis zu an sowie weitere Sequenzen (b1, c1 etc.). Es ist gewissermaßen ein minimalistisches Prinzip, dem die Ordnung der Felder folgt. Dabei sind die jeweiligen Einträge nicht voneinander entkoppelt, sondern stehen in einer syntagmatischen Beziehung zueinander, was ihre Vergleichbarkeit konstituiert. Das heißt, dass die einzelnen Merkmale, Kategorien und Zahlenwerte als eine Einheit verständlich sind bzw. werden. Die Performanz einer Tabelle besteht also darin, dass ihre Architektur einen Zusammenhang zur Darstellung bringt und die Wahrnehmung empirischer Gegenstände konstituiert. Wir sehen also nicht nur etwas, sondern das, was wir sehen, wird durch Darstellungsweisen hervorgerufen: Wir sehen dann das, was sichtbar werden soll. Aber auch hier gilt, dass sich die Sinnhaftigkeit der Zeichen durch ein gelerntes und wiederholt eingeübtes Verstehen ergibt – oder das Zeichen bleibt für uns ein kryptisches Gebilde, das ein nicht ohne weiteres zu dechiffrierendes Geheimnis birgt und das uns in gewisser Weise exkludiert: Du kannst mich nicht lesen, du kannst mich nicht verstehen – du gehörst nicht dazu! Sehen in Verbindung mit Verstehen wird damit auch zu einer kognitiven Operation: zur Differenzierung von Sinn und Unsinn, zum Erkennen von Zusammenhängen und Perspektiven auf etwas. Verstehen ermöglicht (etwas) zu sehen – und dieses Sehen ist keineswegs auf eine rein sinnliche Tätigkeit reduzierbar. So ist dieses Sehen vielmehr eines, das auch blind gelingen kann. Das Verstehen in diesem Modus wird beschreibbar als ein Sehen mit dem ›inneren Auge‹. Folgt man diesem Gedanken wird Verstehen auch als ein Sehen von Sinn, als Einsehen und Einsicht in sinnhafte Zusammenhänge beschreibbar. Dieser Zusammenhang von Sehen und Verstehen integriert – wie schon oben angedeutet – weitere Sinne wie Hören und Tasten, Fühlen und Schmecken.

Schlussbemerkung In diesem Text haben wir vorgeschlagen, die verschiedenen Modi, die das leibliche Sehen annehmen kann, graduell zu unterscheiden: erstens das Sehen als alltäglich-flüchtiges Tun (›Sehen‹), zweitens das Sehen in seinen sinnlich-ästhetischen Potenzialen (›Betrachten‹) und drittens das Sehen von Zusammenhängen (›Verstehen‹). Diese Modi sind nicht als voneinander abgeschlossene oder hierarchisch angeord68 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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nete Tätigkeiten oder Praktiken zu verstehen, sondern verweisen aufeinander und gehen ineinander über; sie verweisen zu dem auf die Personen, Objekte oder Ereignisse, die gesehen werden, wobei diese ihr Gesehen-Werden mit bedingen. In diesem Text haben wir uns nicht vom Gegensatz des leiblichen vs. geistigen Auges leiten lassen, sondern das leibliche Sehen, seine Voraussetzungen und Implikationen fokussiert. Dabei ging es uns nicht um den menschlichen Sehsinn als ein Sinnesorgan (das Auge), sondern um die menschliche Fähigkeit des Sehens, für die jenes ›dienlich‹ ist. 22 Es ging uns ferner nicht um die menschliche Fähigkeit des Sehens an sich, sondern um die soziale, thematische und dingliche Rahmung dessen, was diese Fähigkeit sehen, erkennen und verstehen kann. Das heißt: Wir werden zu denen, die wir sind, auch durch das, was wir sehen und wie wir das, was wir sehen, durch unser Wissen und unsere Erfahrung erkennen, es wieder erleben und durchleben.

Hierzu Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1983), Frankfurt a. M. 2004, 319 ff.

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Hören und Sehen Ein Rehabilitationsversuch

I. Das Sehen ist auf dem Rückzug. Es wird zunehmend heftig vom Hören attackiert. Und das Hören steht dabei auf Gewinn, wird mancherorts bereits vorauseilend gefeiert. Jedenfalls muss man das glauben, wenn man den einschlägigen Diskursen folgt, die von so unterschiedlichen Protagonisten wie Wolfgang Welsch 1 oder Peter Sloterdijk 2 bis hin zum hippen Jazzredakteur und New-Age-Metaphysiker Joachim-Ernst Berendt 3 bevölkert wurden und werden. Das Sehen hingegen gilt als suspekt. 4 Es ist allenfalls zweiter Sieger im Seriositäts-Wettstreit der Sinne, da es doch seit längerem schon der Tyrannei verdächtigt wird, die in einem angeblich eingebildeten Privileg von Authentizität gründet. Der Augenzeuge soll diesem Privileg zufolge seit je vertrauenswürdiger sein als der bloße Ohrenzeuge. Aber das gilt als Irrtum und soll sich ändern. Und um es zu ändern, muss man sich nur der Konkurrenz von Auge und Ohr zuwenden, wie sie bereits und vor allem in christlichen Kontexten virulent geworden ist. Schließlich plädiert namentlich der christliche Weg zur Seligkeit für einen Glauben, der seine Kraft auch dadurch beweist, dass er der Bestätigung durch das Zeugnis des Augenscheins eben nicht mehr bedarf. Seit dem Sündenfall sind die tiefsten Geheimnisse der SchöpWolfgang Welsch, Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens?, in: Ders., Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996, 231–259. 2 Vgl. Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt a. M. 1987. 3 Joachim-Ernst Berendt, Nada Brahma. Die Welt ist Klang, Frankfurt a. M. 1983. – Ders., Das Leben – ein Klang, München 1996. 4 Was Ralf Konersmann (in diesem Band 193–219, bes. Abschnitt 3, 119 ff.) in seiner historisch-semantischen Kritik des Sehens für die frühchristliche Tradition diagnostiziert – die Abwehr des Sehens zugunsten des Hörens –, scheint in den letzten Jahren also wieder, mit anderen Motiven, eine Renaissance zu erfahren. 1

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fung dem Blick entzogen. Der ungläubige Thomas, der penetrant das Zeugnis der eigenen Augen einfordert, um zu erkennen, ist seither ein Auslaufmodell. Stattdessen soll man auf Gottes Wort hören. In solchem Hören liegt schließlich der Quell des Gehorsams; ein Gedanke, der bis in die Hermeneutiken Heideggers und Gadamers fortgeschrieben wird, denen ›Verstehen-Können‹ bekanntlich soviel heißt wie ›Hören-Können‹. 5 Nun wird man sich gewiss leicht darauf einigen können, dass derlei schlichte Konkurrenz-Modelle, zumal im Rahmen wahrnehmungstheoretischer Überlegungen, wenig hilfreich sind. Wie Merleau-Ponty richtig sagt, ist doch die synästhetische Situation der Normalfall; von Konkurrenz ist hier nicht die Rede, sondern von Kooperation. Woran liegt es dann aber, dass besagte Opposition allenthalben diskutiert wird? Ich vermute, dass das deshalb so ist, weil es, unbeschadet besagter Kooperation, gute Gründe gibt, das Hören für einen der Vernunft näherstehenden Sinn zu halten als das Sehen. Allerdings nur, wenn man die Vernunft in die Rolle eines Diskretionsinstituts par excellence drängt. Dass das Sehen als Weltzugangsmodus deshalb jedoch auf der Strecke bleiben müsste, ist durchaus nicht einzusehen. Darum sei mein Rehabilitationsversuch hier dem Sehen gewidmet, nicht dem Hören. Vielleicht einer der ersten Zeugen für die Vernunftaffinität des Hörens ist der alexandrinische Bischof Cyrill († 444), der in einer hübschen Fabel die ebenso bekannte wie aufschlussreiche Beobachtung, dass das Ohr, anders als das Auge, keine Lider habe, entschieden wie folgt erklärt: weil eben einzig die Vernunft als seine »Türe« anzusehen sei. 6 Entsprechend vermag sie auch auszuwählen, was des Hörens wert ist und was nicht. Wo sie jedoch Hörenswertes nicht hören will, da verweigert sie sich, da ge-horcht sie nicht. Wer also nicht hört, zumal wenn er auf Gottes Wort nicht hört, zeigt damit weniger seine Souveränität als seine Verweigerungsbereitschaft an, mithin seine Sündhaftigkeit. Das Bild vom ›Türsteher‹ verweist darum auch weniger auf die Vernunft als Vermögen denn als Verpflichtung; Verpflichtung zumal auf einen ›ge-hörigen‹ Umgang mit den Sinnen, an denen sie sich betätigt und solchermaßen sich zeigt. In dieser Tradition findet sich noch manch bekannterer Zeuge; Vgl. z. B. Hans-Georg Gadamer, Ges. Werke 8, 272. Vgl. Max Ackermann (Hg.), Die Kultur des Hörens. Wahrnehmung und Fiktion. Texte vom Beginn des 20. Jahrhunderts, Nürnberg 2003, 378.

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etwa Johann Gottfried Herder. In seiner berühmten ›Abhandlung über den Ursprung der Sprache‹ rückt das Ohr an zentrale Stelle des Vernunftgebrauchs. 7 Um etwas vernehmen zu können, benötigt die Vernunft im Fluss der sinnlichen Gegebenheiten ein stabiles Merkmal, auf das sie immer wieder zurückgreifen kann. Eben dieses Merkmal, so schlägt uns nun Herder vor, sei das gesprochene Wort. Denn das Wort zeichnet aus, dass es das Flüchtige in eine fixe Gestalt bringt; und zwar insbesondere das Flüchtige des Tons, den einer hören kann. Sprechen ist daher merkmalerzeugendes Denken, Hören merkmaldecodierendes Verstehen. Es ist bekanntlich die besondere Pointe dieses Vorschlags, dass er betont, wie die Merkmalbildung der Vernunft sich nicht in einem hypostasierten Medium, sondern notwendig als Verschwisterung von sinnhaftem Überbau und sinnlicher Basis vollziehen muss. Diese Verschwisterung findet sich in der Lautgestalt des Wortes, worin die Sinngestalt der Bedeutung die Naturgestalt des Tones überlagert. Es verwundert daher auch nicht, dass Herder das menschliche Ohr als den ersten Lehrmeister der Sprache bezeichnet. Das Hören ist von den Sinnen der deutlichste und klarste. Denn während das Auge eine solche Menge äußerlicher Daten bereitstellt, »dass die Seele unter der Mannigfaltigkeit erliegt«, 8 vermag das Ohr feinste Differenzen zu identifizieren und nutzbar zu machen. Und erst die Verwobenheit von Ohr und Stimme, von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, macht dann die der Reflexion notwendige »Übersetzung« aller Sinnesempfindungen in eine Sukzession abstraktiver Zeichen möglich. Das Klangmaterial wird dabei maximal sinnhaft überformt. Das Ergebnis dieser Überformung, so später noch Karl Bühler, ist die »abstraktive Relevanz« der kleinsten bedeutungsdistinktiven Lauteinheit, des Phonems. 9 Die Türsteher-Rolle der hörenden Vernunft besteht somit in diesem Diskriminationsauftrag. Töne sind prädestiniertes Material präziser Unterscheidung dessen, was ist. Die kleinstmöglichen bedeutungstragenden phonematischen Einheiten sind für sich selbst Johann Gottfried Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), Stuttgart 1966. – Vgl. dazu: Karl-Heinz Lembeck / Julia Jonas, Wie der Mensch zur Sprache kommt. Kulturphilosophische Überlegungen, in: Weltwunder Sprache. Zehntes Würzburger Symposium der Universität Würzburg, hg. v. Theodor Berchem / Winfried Böhm / Martin Lindauer, Stuttgart 2000, 43–62. 8 Herder, a. a. O., 58. 9 Vgl. Karl Bühler, Sprachtheorie (1934), Neudr. Stuttgart 1982, 224. 7

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maximal diskrete Einheiten – und erfüllen somit besagtes Merkmalskriterium zum Zwecke der Identifikation einer gegenständlichen Welt. Sie sind Medium einer Gegenständlichkeit konstituierenden Vernunft. Und natürlich gehört auch Heideggers Favorisierung des Hörens vor dem Sehen an diese Stelle. Im Rahmen der Kritik an einer Metaphysik der Sichtbarkeit wird der Geschichte des Denkens zugleich eine Art »Hörvergessenheit« 10 attestiert. Dabei gilt auch in Heideggers Lesart doch das Hören seit je als ›theoretischer Sinn‹ schlechthin, 11 obgleich dies prima vista der ursprünglichen Bedeutung von ›theoría‹, die ja auf den theorós als den unbeteiligten Zuschauer verweist, widerspricht. Das Hören ist hier jedoch theoretischer Sinn, weil es elementar in eine intentionale Struktur eingelassen scheint: Man hört immer etwas. Ein vermeintlich ›reines Geräusch‹, so stellt etwa Sein und Zeit fest, könne man gar nicht hören. 12 Heidegger entfaltet das Phänomen des Hörens also konsequent von einem »verstehenden In-der-Welt-sein« aus. 13 Dabei gibt es gewiss Intensitätsgrade, die etwa beiläufiges Hören von aufmerksamen Hinhören unterscheiden lassen. Und wer gar ›aufhorcht‹, hält geradezu inne, um sich den Sachen, die sich da womöglich ankündigen, konzentriert zuzuwenden. Hören als Aufhorchen ist somit bereits bei solchem, das selbst noch gar nicht ist. 14 Solches Horchen ist gespanntes Sich-Hinwenden auf die erwartete Sache, ist demnach elementare Form intentionaler Zuwendung. Heideggers Verständnis des Hörens als theoretischer Sinn scheint also durchaus treffend, zumal es sich gut in das referierte Bild der Vernunft als Türsteher des Hörens einfügt. Aber selbst in dieser Form des Aufhorchens und Hinhörens als Empfangsbereitschaft bleibt das Hören eben ein aktiver Modus, der sich im Medium des Klanges des darin verfügbaren Angebots maximaler Differenzierbarkeit bedient. Und obgleich das Ohr keine Lider hat, unterscheidet es sich gerade darin vom Auge, dass es mit dem Diese Analogbildung zur bekannten »Seinsvergessenheit« findet sich bei David Espinet, Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen 2009, Teil I. 11 Vgl. Martin Heidegger, Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie, GA 18, 44, 110. Vgl. Espinet, a. a. O., 65 f. 12 Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, § 34, 217. 13 Vgl. Espinet, a. a. O., 97 f. 14 »Das Hinhören gibt es sogar dort, […] wo gar nichts verlautet.« Heidegger, Heraklit, GA 55, 245. Vgl. Espinet, a. a. O., 126. 10

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materialen Angebot, das sich ihm unwillkürlich bietet, einen ›ordentlicheren‹ Umgang zu pflegen scheint. Anschaulich wird diese Differenz auch in einem experimentellen Beispiel, das der bereits angesprochene Hobby-Metaphysiker Joachim-Ernst Berendt 15 einmal vorgeschlagen hat, um die Priorität des Hörens vor dem Sehen zu beweisen: Man nehme eine Geigen- oder Gitarrensaite von ca. 80 cm Länge, spanne sie straff auf und versuche nun einen Steg genau in die Mitte der aufgespannten Saite zu platzieren. Dies solle man zuerst mithilfe allein des Auges probieren und besagte Mitte auf diese Weise markieren. Danach versuche man das gleiche noch einmal mit Hilfe des Gehörs, prüfe also (möglichst mit verbundenen Augen) anhand des Klanges der gezupften Saite die Längengleichheit der beiden Hälften. Das Ergebnis soll wie folgt ausfallen: während das Auge sich in der Regel um ca. 5–6 cm verschätzt, wird das Ohr nahezu präzise die Mitte der Saite treffen. Mithin gilt für Berendt: während das Auge offenbar nur schätzen kann, vermag das Ohr zu messen. 16 Was, wenn es denn überhaupt zutrifft, lernen wir daraus aber auch? Nun, die besagte und beworbene »Kultur des Hörens« ist offenbar vorwiegend auf Sinn- und Ordnungsstiftung aus, ist demnach eine vorwiegend theoretische, steht damit exemplarisch für genau jene Kultur, die wir als vernunftbasiert auch in Gestalt von Wissenschaft und Technik kennen – und die doch seit je, nicht zuletzt von Heidegger selbst, mit philosophischer Skepsis bedacht wurde und wird, wo sie sich als allein maß-gebende Weise der Seinsbegegnung inszeniert. Darum kann ein Versuch zur Rehabilitation des Sehens vielleicht nicht schaden, der darauf achtet, ob besagtes Sein sich nicht dem Sehen deutlich selbstständiger präsentiert als dem Hören. Und natürlich möchte ich annehmen, dass solche Rehabilitation am ehesten mit phänomenologischen Mitteln gelingen kann.

Joachim-Ernst Berendt galt in den 60er und 70er Jahren als »Jazz-Papst« in Deutschland. In den 80er Jahren wandte er sich dem sog. »Weltenklang« zu, entdeckte für sich das »dritte Ohr« und trat für das Primat des »Hörens als Weltentdeckung« ein. Seine Neigung zu esoterischen Interpretationen hat jedoch sein Plädoyer für eine »Kultur des Hörens« nicht eben attraktiver gemacht. 16 Berendt, Ich höre – also bin ich. Hör-Übungen, Hör-Gedanken, Freiburg 1989, 158 f. 15

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II. Auffällig war im phänomenologischen Diskurs schon lange, dass etwa dessen »Meister« 17 Husserl sehr wohl die Differenz von Hören und Sehen berücksichtigt, jedoch immer da, wo er die Phänomene von Klang oder Ton einer Analyse unterzieht, mit deskriptiven Metaphern aus der Welt des Sichtbaren arbeitet. Man hat das vielfach kritisiert und als Ausdruck präsenzmetaphysischer Verirrung gedeutet. Aber ist es nicht so, dass wir selbst uns auch nicht anders verhalten, etwa wenn wir unser Sprechen gestisch begleiten? Ist das bloß eine überflüssige Ergänzung, oder nicht vielmehr Versuch einer Anzeige dessen, was wir im Sprechen ›eigentlich‹ meinen? 18 So antworten wir etwa auf die Frage, was in dem Geräusch erklingt, das wir als Glockenton bezeichnen, nicht mit dem lapidaren Wort »eine Glocke«, sondern im günstigsten Fall zeigen wir auf besagtes Ding, das da klingt. Denn wenn einer fragt, was etwas ist, so können wir ihm zwar zumeist auch mit einer theoretischen Erklärung antworten, laufen aber stets Gefahr ihn damit nicht zufrieden zu stellen, weil er uns nicht versteht, da es ihm an anschaulicher Erfahrung mit der betreffenden Sache fehlt. Es empfiehlt sich darum vielmehr, den, der nach etwas fragt, auf die Erscheinung jenes Etwas selbst zu verweisen. Dem liegt bekanntlich eine These der Phänomenologie Wilhelm Schapps und Hans Lipps’ zugrunde, 19 der zufolge man, was etwas an sich selbst sei, nicht einfach wissen könne, sondern es sehen müsse. Wer also nicht weiß, was Farbe ist, dem kann man nur mit Hinweis »auf die farbige Welt [helfen], in der die Dinge sich befinden«. 20 Man muss ihm also jene Welt zu sehen geben, und zwar in der Weise, dass darin die Farbe als solche zur Erscheinung gebracht ist; also ohne, dass sie bloß als Farbe eines Dings verstanden wird, auf das sie ›bedeutend‹ verwiese. Wenn aber analog gilt, dass man einem, der nicht weiß, was ein ›Ton‹ ist, etwas zu hören geben müsse, so wird in diesem Fall darüber hinaus jedoch gefordert, dass ihm zusätzlich gezeigt So bezeichneten ihn seine Göttinger Schüler ja gerne. Man höre – und sehe! – sich nur einmal einen Vortrag von Manfred Sommer an, um zu sehen, wie das funktioniert! 19 Vgl. z. B. Wilhelm Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung (1910), Frankfurt a. M. 42004, und Hans Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis (1927/28) (Werke I), Frankfurt a. M. 1976, sowie ders., Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik (1938) (Werke II), Frankfurt a. M. 41976. 20 Schapp, a. a. O., 16 f. 17 18

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werde, was besagter Ton ›bedeutet‹. Dahinter steht allerdings die These, dass beim Sehen und der Farbe Sein und Bedeutung übereinzustimmen vermögen, während beim Hören und den Tönen eine wesentliche Differenz verbleibt. Es wird also die Voraussetzung gemacht, dass das, was uns im Sehen erscheint, bereits ganz es selbst ist, während das, was uns ein Ton ist, vor allem auf anderes verweist. Oder anders: Ein ›reines‹ Geräusch kann man eben nicht hören, weil man es nicht als reines Ereignis fest-stellen kann, ohne dass man aufwendige ›Arbeit‹ darauf verwenden müsste. 21 – Aber kann man denn eine reine Farbe sehen und gibt sich darin ein reines Sein? Ich komme darauf zurück. Zuvor kann man natürlich noch durchaus bestreiten wollen, dass Heidegger recht hat mit seinem streng intentionalistischen Verständnis des Hörens. Gibt es nicht durchaus doch so etwas wie ein reines Hören? Ist das Summen des Rechners auf unserem Schreibtisch nicht penetrantes Geräusch ohne inhaltliche Verortung? Und was ist das Rauschen der Orgel beim Betreten der Kirche? Aber kann man das schon Hören nennen? 22 Ist Hören ein bloßer Zustand des akustisch Angegangenseins? Und weiß man nicht erst um solches Angegangensein, wenn man beginnt, nach dem Woher dieses Zustandes, und dann erst nach der Quelle des enervierenden Tons daheim, des erhebenden Tons in der Kirche zu suchen? Ist nicht das erst ›Hören‹ und somit ein deutlich intentionaler Akt? Und gilt nicht dasselbe erst recht, wo man sich auf den ›wollüstigen‹ Genuss der Symphonie beruft als gänzlich gegenstandsloses Empfindungsereignis – das aber doch immerhin, sofern überhaupt vorstellbar, einen Gefühlsgehalt hat und dafür auch gefeiert wird? Sowenig solche Beispiele inhaltsfreien Hörens also auf Anhieb überzeugen können, so sehr vermag in dieser Sache aber vielleicht eine andere Auffassung zu beeindrucken, die das reine Hören als Korrelat zum reinen Ton proklamiert. Sie firmiert bekanntlich unter dem Titel einer ›absoluten Musik‹, jenem dem 19. Jahrhundert entstamSo heißt es auch bei Heidegger, wir könnten solche ›Reinheit‹ wohl nur mittels einer (methodischen) Einstellung erreichen, die es uns gewissermaßen erlaubt, »von den Dingen weg[zu]hören, unser Ohr davon ab[zu]ziehen, d. h. abstrakt [zu] hören« (Holzwege, GA 5, S. 11). Aber das wäre gar kein Hören mehr, sondern ein Denken, das womöglich die Aufmerksamkeit auf das Bedingungsgefüge des Hörens als Hören richten lässt, etwa im Wege einer Thematisierung des Rauschens als Rauschen und dergleichen. 22 Vgl. die Fußnote zuvor (Fn. 21). 21

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menden Konzept einer von allen außermusikalischen Einflüssen freien Tonkunst. Für einen der ersten Theoretiker dieser Konzeption, Eduard Hanslick, galt alles inhaltliche, programmatische, gar gefühlsorientierte Beiwerk der Musik als Irrtum. Der alleinige »Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen« lautet seine berühmte Definition. 23 Und doch bleibt ihm solches vom Inhalt befreites »Schauen [sic!]« ausdrücklich »ein Schauen mit Verstand«, und das will genauer sagen: ein »aufmerksames Hören«, das in einem »sukzessiven Betrachten der Tonformen besteht«. 24 Es ist dies gewiss eine andere Form von Aufmerksamkeit als die, die dem Musikstück als Repräsentanten von Bedeutung zu folgen sucht; »denn die Musik spricht nicht bloß durch Töne, sie spricht auch nur Töne«. 25 Es herrscht dabei aber gleichwohl doch Aufmerksamkeit auf diese Töne. Von Gegenstandslosigkeit kann also keineswegs die Rede sein. Das wäre nicht weiter problematisch, wenn der residuale Gegenstand dann eben der Ton selbst wäre. Aber bedeutet besagte Aufmerksamkeit auch schon Aufmerksamkeit auf diesen Ton, nur insofern er Ton ist, also auf die Tonalität des Tonkunstwerks als solche? Und ist, korrelativ dazu, dieses aufmerksame Hören bereits ein Hören auf das Bedingungsgefüge des Hörens selber? Zumindest ist es nicht Absicht der Theorie der absoluten Musik, ihr diesen (quasi transzendentalen) Zweck zu vindizieren. Auch müsste eine absolute Musik sich nicht einmal einem besonderen musikalisch-kompositorischen Engagement verdanken. Es geht also nicht um die Behauptung, nur bestimmte Musikstücke würden all diesen Bedingungen genügen, keinen ihnen transzendenten Inhalt zu haben, sondern diesen allenfalls als ›Thema‹, d. h. als unauflösliches Gemeinsames von Gehalt und Form zu kennen. Hier gilt vielmehr die These: Die Musik generell hat keinen Inhalt außer den der sie tragenden Töne. 26 Wohl wird hier also der Bezug des Tones auf eine ihm transzenEduard Hanslick, Vom musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik als Tonkunst (1854), Leipzig 13–151922, 23. – Darum auch sein Plädoyer: »In reiner Anschauung [!] genießt der Hörer das erklingende Tonstück, jedes stoffliche Interesse muß ihm fern liegen. Ein solches ist aber die Tendenz, Affekte in sich erregen zu lassen. Ausschließliche Betätigung des Verstandes durch das Schöne verhält sich logisch anstatt ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das Gefühl ist noch bedenklicher, nämlich gerade pathologisch.« (Ebd. 7) 24 Ebd., 7 (kursiv v. Verf.). 25 Ebd. 56. 26 Vgl. ebd. 55 ff. 23

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dente Bedeutung zurückgewiesen, und doch trägt er Verweisungscharakter, insofern er das ihm inhärente musikalische »Thema« anzeigt, das sich als Ineins von Form und Gehalt versteht. 27 Darin sollen dann allerdings keine weiteren materialen Inhalte, sondern »tonliche« »Ideen« als »lebendig gewordene Begriffe« dargestellt sein. 28 Deren Auffassung allerdings bleibt ein eminent intentionaler Akt! Wenngleich diese Bemerkungen zum Konzept der absoluten Musik hier gewiss Fragment bleiben müssen, scheinen sie mir doch erste Indizien dafür zu liefern, Einwände gegen die These vom stets inhaltsbezogenen Hören zu entkräften. Insbesondere können sie Anlass sein, die etwa noch bei Helmuth Plessner – wohl nicht nominell aber sachlich – an Hanslicks Begründungen anknüpfende These zu relativieren, es könne unter den Künsten nur der absoluten Musik gelingen, die »Freiheit vom Sujet der dinglichen Welt zu erkämpfen«; zumal Plessner diese Behauptung mit der Bemerkung verknüpft, solches könne jedenfalls der Malerei niemals gelingen. 29 Dass hier aber wohl ein Missverständnis das andere stützt, soll gleich noch näher erläutert werden. Kehren wir nach solchen Ausblicken aufs Hören, die gegenüber dessen Fähigkeiten, der Selbstpräsenz des Seienden ein Fenster zu öffnen, eher skeptisch bleiben, nun zum Sehen zurück. Und diesbeEbd. 58: »Hören wir irgendein Hauptthema, z. B. zu Beethovens B-dur-Symphonie. Was ist dessen Inhalt? Was seine Form? Wo fängt diese an, wo hört jener auf? Daß ein bestimmtes Gefühl nicht Inhalt des Satzes sei, hoffen wir dargetan zu haben, und wird in diesem wie in jedem andern konkreten Fall nur immer einleuchtender erscheinen. Was also will man den Inhalt nennen? Die Töne selbst? Gewiß; allein sie sind eben schon geformt. Was die Form? Wieder die Töne selbst, – sie aber sind schon erfüllte Form.« 28 Ebd. 13, vgl. 25. 29 Helmuth Plessner, Die Einheit der Sinne. Grundlinien der Ästhesiologie des Geistes (1923) (Gesammelte Schriften III), Frankfurt a. M. 1980, 236 f.: »Hat es thematische Sinngebung mit der Einschmelzung von Ideen im puren Material bloßer Empfindungen ohne jede Gegenstandsbezogenheit zu tun, so taugen dazu allein die Gehörsempfindungen […] Durch bloße Gruppierung nach gewissen Abständen erscheinen vertikal und horizontal geordnete Töne im Ablauf als Elemente eines Sinngehalts, während eine bloße Komposition von Farben und Linien sinnlos bleibt, auch wenn sie durch Kontraste und Stimmungen dekorativ wirken … So ist es kein Zufall, sondern in der Beziehung der Sinne zum Stufenbau des Sinnes oder Geistes streng begründet […], daß es keine absolute Malerei, sondern nur absolute Musik gibt und alle revolutionären Versuche […] in den bildenden Künsten jene Freiheit vom Sujet der dinglichen Welt zu erkämpfen, wie sie die absolute Musik besitzt, a priori zur Unmöglichkeit verdammt sind.« 27

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züglich habe ich Thesen zur Selbstpräsenz des Seienden im Erscheinen, die wir schon von den frühen phänomenologischen Schulen kennen, bereits andernorts stark zu machen versucht. 30 Was ist an diesen Thesen attraktiv, was spricht womöglich noch für sie? Wir stellen uns vor: Wir sehen winters einen mächtigen Laubbaum gegen das Licht der tiefstehenden Sonne, obendrein sind wir geblendet vom gleißenden Schnee. Ist der dennoch sich aufdrängende visuelle Eindruck von Festigkeit, Starrheit, Härte des Stammes, der kahlen Äste – eine Täuschung, die uns in Wahrheit bloß durch unser Wissen um die Festigkeit, die Härte vermittelt wird? Ich vermute nicht, da das schiere Phänomen, die Erscheinung des Erscheinenden, eben genau dies leibhaft darbietet, was es eben darbietet. Gelegentlich steht unser Wissen in deutlicher Konkurrenz zur Erscheinung; aber selbst da sind wir seltsam angerührt und nicht ohne weiteres bereit, den Schein dem ›besseren‹ Wissen zu opfern. Zwar zeigt der vermeintlich gebrochene Stab im Wasserglas etwas an, von dem wir wohl wissen, dass es nicht ist, und dennoch ist es eben leibhaftig da. Wie sehr ist dann erst der Umstand, dass wir dem Stein seine Härte, dem Wasser seine Frische, dem Messer seine Schärfe, den Wolken ihre Flüchtigkeit … ansehen – wie sehr ist dann erst diese ursprüngliche Anschaulichkeit der Welt bereits welterschließend und wird durch vermeintliches Wissen um die sachlichen Verhältnisse um nichts gewisser, geschweige denn anders. Was wir bei Wilhelm Schapp lesen können, erfahren wir eben selbst täglich: »Bloß begleitendes Wissen kann aus dem einen Wahrgenommenen nicht das andere machen.« 31 Kurz und knapp könnte man also formulieren: Wie die Dinge erscheinen, so sind sie. Damit ist dann auch einzuräumen: dass die Schwere, die Härte, das Weiche der Dinge nicht etwas ›an‹ ihnen ist, sondern eben ihr Charakter. Es gibt nicht noch zusätzlich einen »Besitzer« solcher Eigenschaften, eine Art materialen Kern, der uns eigentlich verborgen bleibt. 32 Als ob das, was ein Ding von sich zeigt, bloß dazu gut wäre, sein Wesen zu verbergen. Die Rede von einer Art substantiellen Materialität des Dings, dem individualisierend ein paar Akzidentien zukommen, ist darum wohl eher Ausdruck einer am Ding selbst vorbeiVgl. Karl-Heinz Lembeck, Die Selbstdarstellung der Dinge im Museum, in: B. Collenberg-Plotnikov (Hg.), Das Museum als Provokation der Philosophie, Bielefeld 2018, 183–197. 31 Schapp, a. a. O., 19. 32 Wie dies seinerzeit noch Herbart meinte: Johann Friedrich Herbart, Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie, Königsberg 1813, § 97, 88. 30

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schauenden Erfindung der theoretischen Einstellung. 33 In Wahrheit ist das Ding in seiner Erscheinung bereits in seiner ganzen Fülle da. Nicht nur in seiner Gestalt, sondern sogar in seiner Historizität, seinem »Schicksal«, mit all seinen Spuren und Narben, kommt es in der Erscheinung zur Darstellung. Wir sehen im Abdruck des Fußes eben zugleich die Schwere des Leibes, in den Schrammen der Uhr zugleich die Weichheit des Goldes. 34 Während nun unsere ›Meinung‹ von den Dingen, schon indem wir sie nur ›als‹ Dinge meinen, gar nicht direkt auf die Dinge, sondern eben auf jenes ›Als‹ gerichtet ist, also wesentlich in prädikativer Gestalt verharrt, gibt uns die sinnliche, die aisthetische Präsenz des Dinges dieses als es selber und als nichts darüber hinaus; d. h. weder als Substrat einer prädikativen Als-Bestimmung, noch als ›Zeug‹ oder ›Wozu-Ding‹. 35 Es bedarf allerdings einer gewissen Einstellung, die freilich nicht bloß als ›Methode‹, sondern viel eher als eine natürliche, spezifisch passive Form von Rezeptionsbereitschaft verstanden werden darf, damit diese ›ästhetische Zwischenwelt‹ – sit venia verbo – sich in einer Weise zu melden vermag, 36 die nicht immer schon theoretisch überformt oder aber bloß lebenspraktisch verstanden worden ist. Die dinghaft-materiale Welt muss einem eben vorkommen können derart, dass Sein und Schein nicht mehr auseinandertreten; dieser Präsenz gegenüber werden Interpretationen überflüssig. Aber man muss diese Form von »Präsenz« dann auch sehen. 37 Gegenständliches allerdings, das sich allererst einer theoretischen Sinnauslegung, einer prädikativen Als-Bestimmung verdankt, kann man gar nicht sehen; denn wie es bei Hans Lipps so schön heißt: »So etwas wie Gegenständliches sieht überhaupt nicht aus.« 38 Vgl. Schapp, a. a. O., 120–123. Ebd. 117. 35 Vgl. ebd. 132. 36 Vgl. Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis, a. a. O., 84 und 104 f. – Ich habe diese Einstellung früher schon einmal mit der von Peter Handke beschriebenen Attitüde »erzählender Müdigkeit« in Verbindung gebracht: KarlHeinz Lembeck, Einführung in die phänomenologische Philosophie, Darmstadt 22005 (Mottos passim). Vgl. Handke, Versuch über die Müdigkeit, Frankfurt a. M. 1989. 37 Das ist hier im Sinne Gumbrechts gemeint: Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004. 38 Lipps, a. a. O., 80. – Zum Verhältnis von Ding und Gegenstand vgl. auch Karl-Heinz Lembeck, Über Dinge und Gegenstände. Metaphysische Motive in Wissenschaft und Kunst, in: Ralf Becker / Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Religion und Metaphysik als Dimensionen der Kultur, Würzburg 2011, 22–34. 33 34

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III. Nun gälte es also angesichts solcher Thesen, das Hören als ›theoretischen Sinn‹ vom Sehen als ›ästhetischem Sinn‹ in einem weiteren Anlauf zu unterscheiden und dabei ein größeres Gewicht auf letzteren zu legen. Ich weiß und man möge es mir nachsehen: hier wird nun offenbar bloß ein Oxymoron gegen einen Pleonasmus verrechnet. Doch soll das zunächst nur die gesuchten Unterschiede andeuten, die man freilich selbst auch müsste sehen können. Und meine Vermutung ist, dass solches Sehen des Sehens und seines Unterschieds zum Hören zwar phänomenologisch gelernt, paradigmatisch jedoch am ehesten mithilfe der modernen Kunst, durchaus auch mit Blick auf den Unterschied zwischen der Musik und der Malerei, namentlich der konzeptionellen Malerei, eingeübt werden kann. Letztere ist für einen solchen Zugang prädestiniert, denn sie versteht sich ja selbst als eine anschauliche Weise, das Sehen statt auf den Gegenstand vielmehr auf sich selbst aufmerksam zu machen. Man kann sich diesem Ziel vielleicht am einfachsten auf dem Umweg über ein Missverständnis nähern. Dieses Missverständnis wird besonders deutlich in Plessners Ästhesiologie des Geistes, die oben ja bereits ins Spiel gebracht wurde. In Plessners Buch fungiert die Metapher des »Blick- oder Sehstrahls« als Ausdruck für das Proprium des Gesichtssinns. Er rückt das Sehen dergestalt jedoch in unmittelbare Nähe zur Geometrie als Raumwissenschaft sowie in mittelbare Nähe zum technisch-instrumentellen Handeln. 39 Diese Einsicht soll in konsequenter Auslegung des Phänomens des Sehens selbst gewonnen sein, wobei Plessners Phänomenologie der Sinne freilich kulturphilosophisch überformt wird, da sie unter der Voraussetzung operiert, dass die Leistungen der Sinne nur in Gestalt kultureller Objektivationen fassbar sind. Diese in Dilthey-Tradition stehende Voraussetzung ist zwar methodisch attraktiv, birgt aber ebenso viele Gefahren wie Chancen. Und insbesondere die Gefahren liegen hier auf der Hand; denn mit der Bindung des Sehens an die Geometrie droht derart das dem Sehen korrespondierende Sein auf die Gestalt der Linie, der Figur, des Reliefs, der Kontur verkürzt zu werden. Ganz entsprechend diesem Verdacht betont Plessner darum zugleich auch die Unselbstständigkeit der Farben. Sie seien »unfähig, für sich allein und ohne gegenständliche Begründung etwas zu be39

Plessner, a. a. O., 256 ff.

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sagen«. 40 Die Malerei müsse deshalb vom Linienzug der Zeichnung her verstanden werden. Dass aber Plessner auf dieser Basis den zeitgenössischen Versuchen einer »reinen« oder »absoluten Malerei« bei Kandinsky und seinem Kreis ablehnend gegenüberstand, liegt auf der Hand. Doch man kann diese Auffassung natürlich auch bestreiten, 41 indem man sich der kulturphilosophischen Lesart phänomenologischer Analyse zwar bedient, dabei jedoch das Sehen statt an die – mit Cassirer zu sprechen – ›symbolische Form‹ der Wissenschaft nunmehr an die der Kunst selbst bindet. Und ironischerweise ist dazu genau jene von Plessner verschmähte Form der Farbmalerei in der Tradition von Kandinsky über Hölzel, Hofmann, Rothko, de Kooning, bis hin zu einigen Arbeiten Gerhard Richters in den Blick zu nehmen. Ich kann das hier nicht ausführlich tun, sondern allenfalls schlaglichtartig. Inwiefern hat also die Farbe in der Malerei selbstständige Bedeutung, so dass man sie eben in »reiner« Form wahrzunehmen vermag? Solange wir uns auf gegenständliche Malerei beziehen, wirkt Farbe hier als formgebende Qualität, indem sie Kontrastwahrnehmung und damit Abgrenzung der Gegenstände zueinander erwirkt. Sie wirkt jedoch bereits in dieser Weise, ohne dafür eigens Grenzen zu ziehen. Wer die Farbe hingegen von der Grenze her denkt – Farbe als »beharrende« Fülle einer mit gegenständlicher Kontur umrissenen Fläche –, wie Plessner es suggerriert, 42 kann den ihr inhärenten relationalen Charakter nicht verstehen. Doch eben dies scheint der Fall zu sein: Farbe zeigt sich als ein Seiendes, das seine Identität nicht in sich selbst trägt, sondern in ihrem Zusammenhang mit anderen Farben, 43 jedoch ohne dass ein Drittes zwischen ihnen läge – eine Linie, eine Kontur etwa. Insofern können manche Werke der klassischen Moderne mit ihrer überstarken zeichnerischen Konturierung der Figuren wie der Versuch einer ästhetischen Imitation des grenzziehenden und dergestalt gegenstandskonstituierenden Denkens wirken. Ich vermute jedoch, dass dies dann freilich nicht zuletzt dem Zweck dient, das Sehen gerade auf dieses ihm eigentlich Ebd., 251. In besonders lehrreicher Form tut dies Heinz Paetzold, Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1990, bes. 48–52. Ich folge hier weitgehend seiner Kritik an Plessner. 42 Plessner, a. a. O., 250. 43 Vgl. Rudolf Arnheim, Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges, Berlin 32000, 359 f. 40 41

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fremde Schicksal aufmerksam zu machen: nämlich von einem Urteil, das Unterscheidungen trifft, überformt zu werden. Und eben weil dabei die Kontur als Kontur in den Vordergrund gerückt wird, ›befreit‹ sie die Farbe en passant vom Schicksal anonymer ›Einhegung‹ durch die Linie; denn die Farbfläche kann die Kontur ja durchaus auch unterlaufen und gerade deshalb gewissermaßen selbstständig bleiben. 44 Die klassische Moderne – Heckel, Pechstein, Schmidt-Rottluff u. a. – bietet dafür Beispiele genug. Die Malerei in der angesprochenen abstrakten Tradition mag hingegen noch exemplarischer als Gegenbeweis zu Plessners leitender These gelten, Sehen sei stets das Sehen von Dingen, gegenstandsfreie Malerei tauge daher allenfalls zur Dekoration. 45 Plessner versteht offenbar nicht, dass es der nicht-illusionistischen Malerei vor allem darum geht, das Sehen der Strukturen des Sehens selbst zu forcieren, dass es ihr also um eine Einsicht – ›Ein-Sicht‹ in wörtlichem Sinne – in das Sehen selbst geht. Das Sehen soll in die Situation gebracht werden, sich selbst bei der Arbeit zusehen zu können. Mit Paetzold 46 möchte ich daher vermuten, dass namentlich die abstrakte Farbmalerei solche ›transzendentalen‹ Situationen herzustellen vermag, in denen Sichtbarkeit selbst erfahrbar, d. h. sichtbar wird. Ein Beispiel aus dem abstrakten Œuvre Gerhard Richters kann das vielleicht zeigen. Wir sehen hier ein in sehr sparsamen, dunklen Grautönen gehaltenes Bild, das weder Vorder- noch Hintergrund in dem Sinne aufweist, dass man etwa zwischen gegenständlicher Figur und Grund unterscheiden könnte; und doch zeigt es im steten Wechsel des Blicks räumliche Höhen und Tiefen an. Es besteht aus Farbaufträgen, die sich mit unterschiedlicher Intensität voneinander abheben, sei es durch die Textur des Pinselstrichs, sei es durch die Intensität der Farbe selbst. Gegenständlichkeit zeigt sich nirgends, jedoch wird der unterschiedlich substantielle Eindruck der Grautöne als korrelativ zur wechselnden Fokussierung des Auges erlebt. Der Raum, der dabei erscheint, ist in die farbliche Gliederung der Fläche integriert. 47 Auf diesen letzten Gedanken von der ›Befreiung‹ der Farbe durch die Kontur hat mich mein Freund und Kollege Markus Heuft aufmerksam gemacht. 45 Plessner, a. a. O., 251 ff. 46 Vgl. Paetzold, a. a. O., 63 ff. 47 Manch einer sieht im Gelingen oder Misslingen solcher Integration ein maßgebliches Indiz für die Qualität eines Gemäldes. So Jerry Zeniuk, How to paint, München 2017. 44

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Abb. 1: Gerhard Richter, Vermalung (1972)

Im Rahmen hat das Bild eine natürliche Grenze, über die hinaus der Blick aber gar nicht schweifen will. Und obgleich diese Grenze zweifellos eine bemessbare Fläche umschließt, wird der Flächencharakter als solcher nicht aufdringlich. Stattdessen bewegt sich das Auge, durch Kontraste ebenso motiviert wie durch materiale Überlagerungen von Farbschichten, in einer Weise über die Leinwand als wolle es das Bild nachmalen. So ruhig es an der Wand hängt, induziert das Bild aus dem in ihm dokumentierten Duktus des Malgestus heraus schließlich eine rekonstruierende Bewegung – der Augen, des Kopfes, der Hand, des Leibes. Dennoch wird die Suche nach möglichen Sinnzentren oder Konstruktionsschemata des Bildaufbaus notorisch enttäuscht. Wo hier und da trotzdem Formen sich abheben und Aufmerksamkeit binden, da geschieht dies nicht erst als Folge eines Distinktionsakts, sondern solche Formen entspringen aus der Farbmaterie selbst, die im Pinselstrich, im materialen Farbauftrag und in den Intensitäten der Grautöne resp. in deren Kontrasten aufscheint. Im Sehen des Bildes wird demnach über dessen materialen Charakter das Sehen selbst nicht zuletzt auch seiner taktilen Basis inne. Schließlich vermag solche ästhetische Erfahrung, deren Inhalt rein Farbliches ist, zur Ein-Sicht im eben besagten eminenten Sinne zu führen: dass

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Hören und Sehen

nämlich die gesamtleibliche Konstitution Bedingung der Möglichkeit des Sehens als Erfahrung darstellt. 48 Doch möchte ich damit nun auf die Ausgangsfrage zurückkommen. Nicht zuletzt der Umweg über die Plessner’sche Auslegung von Differenz und Nähe zwischen Hören und Sehen hat, so hoffe ich, insgesamt folgendes erbracht: 1. Plessner und andere werben dafür, dem Korrelat des Hörens, dem Ton, eine reine, ungegenständliche Bedeutung zuzubilligen, diese Kompetenz dem Sehen hingegen zu verweigern. Jedoch könnte man bereits mit Heidegger dagegen einwenden, dass Hören stets gegenstandsbezogen ist und das Phänomen eines nicht-gegenständlichen Hörens schwerlich vorstellbar sei. Doch selbst wenn man den reinen Ton für möglich hielte, etwa in der absoluten Musik, so hätte dies kaum Konsequenzen für der Möglichkeit ästhetischer Reflexion, also für eine Reflexion, die im Hören selbst stattfindet. Oder anders: man könnte eben das Hören selbst nicht hören. Anders jedoch im Sehen, das in ästhetische Erfahrung umschlagen kann, indem es Sichtbarkeit selbst, etwa in der Malerei, zu sehen bekommt. Ästhetische Erfahrung, die paradigmatisch sehend gewonnen würde, wäre insofern als transzendentale Erfahrung, 49 also als Erfahrung der Bedingungen der Möglichkeit sinnlicher Wahrnehmung in der sinnlichen Wahrnehmung selbst zu verstehen. Das Sehen vermag dabei eben seiner selbst als transzendentale Bedingung von Sichtbarkeit ansichtig zu werden. (Aber natürlich wäre solche Erfahrung darauf angewiesen, dass sie gemacht wird; keineswegs ist sie etwa durch einen Text über sie, wie beispielsweise diesen Text hier, zu ersetzen.) 2. Wenn Hören stets Etwas hört, so doch zumeist solches, was sich im Ton ankündigt, aber nicht ohne weiteres als es selbst im Ton erscheint. Der Ton wäre demnach nie bei sich selbst, sondern stets nur ein Versprechen auf anderes. Womöglich ist er deshalb auch leichter von den ihm eigenen antizipativen Bezügen zu trennen und zum Der Duktus dieser Analyse der bildnerischen Konzeption lässt sich von Paetzolds gewiss besser gelungenen Beschreibungen vergleichbarer Werke Willem de Koonings leiten: Paetzold, a. a. O., bes. 115–124. 49 Der Begriff der »transzendentalen Erfahrung« entstammt dem phänomenologischen Programm Husserls und wirkt nur auf den ersten Blick wie ein Oxymoron und darum unseriös. In Wahrheit pointiert er den genuin ›erfahrungswissenschaftlichen‹ Charakter der phänomenologischen Philosophie. Vgl. Tobias Trappe, Transzendentale Erfahrung. Vorstudien zu einer transzendentalen Methodenlehre, Basel 1996. 48

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Karl-Heinz Lembeck

Medium einer sinnstiftenden Vernunft umzufunktionieren. Und auch sein Korrespondent, das Hören, insbesondere dort, wo das Hören als Horchen auftritt, ist deshalb wesentlich bei etwas, das noch nicht ist. Sehen hingegen ist immer bei solchem, das sich als es selbst zeigt und insofern in eminentem Sinne ist. 3. Das Hören ist diskret, das Sehen geht aufs Ganze.

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Gernot Böhme

Skulpturen sehen. Über Anfänge der Rezeptionsästhetik am Beispiel von Goethes Schrift Laokoon.

Goethes Text ist im Grunde nicht eine These über die Laokoon-Gruppe, sondern vielmehr eine Anleitung an seine Leser, in Anwesenheit der Laokoon-Gruppe selbst Erfahrungen zu machen. Damit ist die These meines Vortrages schon ausgesprochen. Die Bedeutung von Goethes Aufsatz besteht nicht in einem Beitrag zur Produktionsästhetik oder zur Interpretation der Gruppe – Letzteres vielleicht auch – seine Bedeutung liegt vielmehr darin, dass er einen Anfang von Rezeptionsästhetik überhaupt darstellte. 1 Doch bevor ich zur Darlegung dieser meiner These komme, ist es wohl erlaubt, eine kurzen Geschichte der Laokoon-Gruppe zu geben, als auch eine kurze Geschichte der Laokoon-Debatte im 18. Jahrhundert.

1.

Kurze Geschichte der Laokoon-Gruppe

Laokoon war ein Priester des Apollon oder des Poseidon in Troja. Der ältere griechische Mythos erzählt, dass die todbringenden Schlangen ihm und seinen Söhnen geschickt wurden, weil er und seine Frau einander im Tempel geliebt hatten. Vergil gab in seinem Epos Aeneis der Vorgeschichte im 1. Jh. v. Chr. ein anderes Ansehen. Er erzählt, Laokoon habe dem Pferd, das die Griechen bei ihrer – vorgeblichen – Rückkehr von Troja zu Ehren der Götter zurückgelassen hatten, misstraut und für seine Zerstörung plädiert. Als Erstes schleuderte er seinen Speer gegen das Pferd. Dafür wurde er nun nicht etwa von ApolAm nächsten kommt dieser Auffassung der Aufsatz von Peter Brandes, Marmor in Bewegung – Goethes Medialisierung des Bildbetrachters, in: Bodo Lecke (Hg.), Mediengeschichte, Intermedialität und Literaturdidaktik, Frankfurt a. M. 2008, 189–208. Freilich vergibt sich der Medientheoretiker, dem nun auch noch der Betrachter zu einem Medium wird (für was eigentlich?), die Einsicht, dass Goethe hier seiner klassischen didaktischen Haltung folgend ein Stück Hinleitung zur Kunst vorlegt, also ein Stück »ästhetische Erziehung des Menschen«.

1

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Gernot Böhme

lon oder Poseidon (die ja auf Seiten der Trojaner standen), sondern von Athene, der Schutzgöttin der Griechen bestraft. Sie schickte die Schlangen zu seiner Vernichtung. Die Szene des Kampfes mit den Schlangen, die Vergil schildert, haben dann drei Bildhauer von Rhodos, nämlich Hagesandros, Polydoros und Athenodoros als Sujet ihres Bildwerkes gewählt. Dass wir sie als Autoren der Skulpturengruppe kennen, geht auf Plinius d. Ä. (23–79 n. Chr.) zurück. Er erwähnt nämlich das Bildwerk und die drei Bildhauer in seiner Naturalis historia Nr. 36, und zwar im Stile höchsten Lobes, das Bildwerk zähle zu dem Besten, was es an Bildhauerarbeiten überhaupt gebe. Wirkliche Zweifel daran, dass diese Bildhauer überhaupt die Autoren des Bildwerkes waren, nicht etwa Kopisten einer älteren griechischen Bronze, wurde in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die Entdeckung der Höhle von Sperlonga beseitigt, einer Höhle, die durch den Anstieg des Meeresspiegels lange Zeit unzugänglich war. Dort fanden sich noch mehrere Gruppen, die explizit mit dem Namen dieser drei Bildhauer gezeichnet waren und im Stil dem der LaokoonGruppe sehr nahe kommen. Man konnte diese Bildwerke auf etwa 30 bis 20 v. Chr. datieren. 2 Die Laokoon-Gruppe war dann irgendwann in der späten Antike als Skulptur verloren gegangen – nicht aber aus dem Bewusstsein der Gebildeten verschwunden. 1506, also mitten in der Renaissance, fand Felice de Fredis die Skulptur in seinen Weinfeldern in Nähe San Pietro in Vincoli wieder. Er benachrichtigte den Papst und dieser schickte eine Gruppe von Fachleuten zur Fundstelle – übrigens gehörte auch Michelangelo zu dieser Gruppe. Der Finder wurde reichlich belohnt und die Statuengruppe in den Besitz des Papstes überführt, und sie befindet sich bis heute in den vatikanischen Museen. Dieser Standort wurde nur von 1798–1815 unterbrochen, als Napoleon die Gruppe mit vielen anderen antiken Kunstwerken aufgrund des Vertrages von Tolentino als Kriegsbeute nach Paris bringen ließ. Letztere Tatsache hat auch in Goethes Text, der ja 1798 geschrieben ist, eine Spur hinterlassen. 3 Christian Kunze, Zwischen Pathos und Distanz – die Laokoon-Gruppe im Vatikan und ihr künstlerisches Umfeld, in: Dorothea Gall, Anja Wolkenhain (Hg.): Laokoon in Literatur und Kunst, Berlin 2009, 32–53 3 S. dazu Inka Mülder-Bach, Sichtbarkeit und Lesbarkeit. Goethes Aufsatz über Laokoon, in: Inge Baxmann, Michael Franz / Wolfang Scheffner (Hg): Das Laokoon-Paradigma. Zeichenregime des 18. Jh., Berlin 2000, 465–479. Sie nimmt diese Bemerkungen zum Transport der Skulptur nach Paris zum Anlass, Goethes Laokoon in die 2

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Das Entscheidende an der begeisterten Aufnahme der LaokoonGruppe in der Renaissance-Gesellschaft ist jedoch, dass man dieses Meisterwerk der Antike durch Künstler wieder vervollständigen ließ. Insbesondere fehlte der rechte Arm des Laokoon, wie auch die rechten Arme seiner Söhne. Diese Arme wurden also damals den anatomischen Gegebenheiten und der Bewegungstendenz der ganzen Gruppe entsprechend ersetzt – recht passend würde man noch heute urteilen. Für uns aber ist wichtig festzuhalten, dass Goethe nicht das Original gesehen hat, sondern eine Kopie der auf die genannte Weise restaurierten Skulpturengruppe. Dabei müssen wir bedenken, dass für Goethe wie auch für die meisten seiner Zeitgenossen eine so radikale Differenzierung zwischen dem Original und seiner Reproduktion, wie wir sie heute kennen, nicht existierte. An der Restauration der Gruppe scheint nur Heinrich Meyer aus Zürich gewisse Zweifel geäußert zu haben. 4 In dieser Tradition, die davon ausgeht, dass das vatikanische Exemplar schlicht die Laokoon-Gruppe ist, gab es 1905 einen Bruch, als nämlich der deutsche Archäologe und Kunsthändler Ludwig Pollack den verlorenen Arm des Laokoon wiederfand. Das gab Anlass zu einer Derestauration, bei der Philippi Margi 1960 die angestückten Glieder der Gruppe entfernte und den von Pollack gefundenen Arm dem Laokoon wieder ansetzte. Kein Zweifel, dass dadurch der Eindruck der gesamten Gruppe und ihrer Dynamik verändert wurde. Doch es kommt für uns aus dieser historischen Erfahrung heraus die Frage hinzu, ob die zahlreichen Reproduktionen der Gruppe im 18. Jahrhundert vielleicht auch weitere Modifikationen gegenüber dem Original aufweisen oder gar in kleinen Veränderungen die Laokoon-Debatte des 18. Jahrhunderts spiegeln.

Weltgeschichte einzubetten. Sie überzieht aber ihre Einsicht, indem sie ihren Aufsatz mit folgenden Sätzen enden lässt: »Er [sc. Goethes Aufsatz] bildet zugleich den Auftakt zu jenem Kräftemessen mit der Gestalt Napoleon. Das 10 Jahre später in der legendären Begegnung in Erfurt kulminieren wird.« Das geht sicher in die falsche Richtung, denn Goethe war Universalist, jedenfalls nicht Nationalist – und im Übrigen ein Verehrer Napoleons. Für ihn wäre es egal gewesen, ob die Skulpturengruppe in Rom oder in Paris aufgestellt würde, wenn sie nur der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht worden wäre. 4 S. dazu Heinrich Meyer, Einige Bemerkungen über die Gruppe Laokoons und seiner Söhne, in: Propyläen 1799.

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Gernot Böhme

Abb. 2: Laokoon, Musei Vaticani, Cortile del Belvedere

2.

Die Laokoon-Debatte der Goethe-Zeit

Die Laokoon-Debatte des 18. Jahrhunderts entzündete sich an einer Diskrepanz zwischen dem Text des Vergil, in dem der Kampf des Laokoon mit den Schlangen geschildert wird, und der Statuengruppe der Künstler Hagesandros, Polydoros und Athenodoros. Während nämlich Vergil von einem schrecklichen Schrei berichtet, mit dem Laokoon seinem Schreck und seinem Schmerz Luft macht, ist in der Statuengruppe der Mund des Laokoon fast geschlossen, sodass in keinem Fall eine Situation des Schreis festgehalten sein kann. Hier zunächst ein Zitat aus der Aeneis des Vergil (70–19 v. Chr.):

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»Jener (Laokoon) zugleich mit den Händen versucht, die Umknotung zu lösen – schon ist das Stirnband durchtränkt vom Geifer und schmerzlichem Gifte – und erhebt einen schrecklichen Schrei hinauf zu den Sternen; gleiches Gebrüll ertönt, als nun der verwundete Bulle dem Altar entflieht und den Nacken verfehlendem Schwerte.« 5

Diese Darstellung hielt nun Johann-Joachim Winckelmann für völlig verfehlt. Er glaubte nämlich, mit seiner Formel »edle Einfalt und stille Größe« das Wesen des griechischen Menschen erfasst zu haben und fand dieses Wesen in der Statue des Laokoon vollendet ausgedrückt: »Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meeres alle Zeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele … Der (Laokoon) erhebet kein schreckliches Geschrei, wie Vergil in seinem Laokoon singet: Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, …« 6

Für Winckelmann ist also an diesem Bildwerk nicht entscheidend, dass es den Kampf des Laokoon mit den Schlangen zeigt, sondern vielmehr, dass uns in ihm ein Mensch begegnet, der in höchster Bedrängnis und in Schmerzen sich noch zu beherrschen weiß und sich nicht im Ausdruck seines Schmerzes verliert. Diese Auffassung stellte nun Lessing in seiner Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Malerey und Poesie eine ganz andere entgegen. 7 Lessing rechtfertigt einerseits die Darstellung des schreienden Laokoon bei Vergil und erklärt andererseits, warum der Laokoon der Rhodischen Bildhauer nicht schreit: Es handelt sich um einen Unterschied der Gattung. Diese Unterscheidung gegenüber dem klassischen Diktum ut pictura poiesis zu entwickeln, ist das eigentliche Anliegen von Lessings Buch. Vergil: Aeneis I.2, Tusculum-Ausgabe, Berlin 2015, 199–205. Johann-Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung griechischer Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), Stuttgart 1969, 20. Siehe auch Ders., Geschichte der Kunst des Altertums (1764), Nachdruck Darmstadt 1972, 323–325. 7 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerey und Poesie, Berlin 1766. Ich benutze hier die Ausgabe von Lessings Werken, herausgegeben von Georg Witkowski, Leipzig und Wien, Bibliografisches Institut (ohne Jahr). Diese Ausgabe enthält im 4. Band neben dem Laokoon auch Materialien dazu, wie auch die Stücke 1–25 der Hamburger Dramaturgie. 5 6

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Es sei Sache literarischer Kunstwerke, Geschehen darzustellen, ihr Medium sei also die Zeit; und es sei Sache der bildenden Kunst, das Nebeneinander darzustellen, ihr Medium sei also der Raum. 8 Diese strikte Trennung der Kunstgattungen führt zu dem Problem, wie einerseits der literarische Text ein Nebeneinander darstellen soll und andererseits ein Werk der bildenden Kunst ein Geschehen. Für Ersteres gibt Lessing ein sehr schönes Beispiel aus den Homerischen Gesängen an. Der bildreiche Schild des Achill, der also ein mannigfaltiges Nebeneinander enthält, wird dargestellt, indem die Herstellung dieses Gegenstandes geschildert wird, wobei dann also die einzelnen Elemente nacheinander erscheinen. Für das Problem der Darstellung eines zeitlichen Geschehens im Bildwerk bietet Lessing eine entsprechend raffinierte Lösung an: Man müsse den fruchtbaren oder prägnanten Augenblick wählen. Doch welcher Augenblick ist fruchtbar? Lessing antwortet zunächst ein bisschen unbestimmt: »Dasjenige allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können.« 9 Dann aber zeigt sich, dass, was die Einbildungskraft in ihrem Spiel findet, die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist: Durch ihr Spiel spürt man im Gegenwärtigen, woher es kommt und zugleich wohin es geht. Dieser Gedanke findet sich in mehreren expliziten Formulierungen: »Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen und muss daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.« 10 Diese an sich klare Forderung Lessings ist vielfach bei den Interpreten in Verwirrung geraten, weil Lessing nämlich gleichzeitig die Darstellung des Transitorischen in der bildenden Kunst ablehnt. Damit meint er aber nur ephemere Ereignisse, die also kein Vorher und Nachher haben. Beim prägnanten Augenblick handelt es sich dagegen um eine Bewegungsphase, die Vorher und Nachher zugleich sichtbar werden lässt.

Diese Unterscheidung dürfte auf Leibniz zurückgehen: »Was mich angeht, so habe ich mehr als einmal bemerkt, dass ich den Raum für etwas bloß Relatives halte wie die Zeit; für eine Ordnung des Zusammenexistierenden, so wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinanderkommenden.« G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von C. J. Gerhard (1875 f.), Nachdruck Hildesheim 1965, Bd. VII, 363. 9 Lessing, a. a. O., 35. 10 Lessing, a. a. O., 226, vergleiche die entsprechende Formulierung a. a. O., 119. 8

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Eine Analogie der Lessing’schen Forderung mag das erläutern. Nach Descartes, der mechanisches Geschehen ja durch Druck und Stoß zu erklären suchte, haben Newton und Leibniz den Begriff der Kraft in die Physik eingeführt. Kraft ist das im Augenblick gegebene Potential eines Körpers, in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Bewegung zu vollziehen. Umgekehrt kann die ganze Bewegung des Körpers im Moment durch die Größe der Kraft repräsentiert werden. 11 Für den Laokoon folgt für Lessing aus seiner Grundeinsicht über die Darstellung von Geschehen in der bildenden Kunst, dass er nicht im Moment höchster Verzweiflung oder höchster Schmerzen dargestellt wird, sondern in einem mittleren: »In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben (also des höchsten Grades) … Wenn Laokoon (dagegen) also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen …« 12 Goethe kannte diese Konstellation. Er verehrte Winckelmann und schreibt in Dichtung und Wahrheit, mit welcher Leidenschaft in seiner Studentenzeit Lessing in Leipzig gelesen wurde. Er hat eigentlich kein Interesse, den von Winckelmann und Lessing eröffneten Diskurs fortzusetzen und löst den gordischen Knoten, indem er das Augenmerk auf den Biss der Schlange richtet: Es ist der Augenblick dargestellt, in dem Laokoon gerade von der Schlange gebissen wird, sodass sich sein Unterleib reaktiv zusammenzieht und er nicht schreien kann. Das ist aber für seinen Beitrag nicht das Entscheidende, wenngleich es immerhin interessant ist, zu sehen, wie Goethe von diesem Schlangenbiss her die ganze Dynamik der Gruppe organisiert. Doch diese Entdeckung, wenn man so sagen will, ordnet sich in das viel Entscheidendere ein, nämlich wie Goethe die Laokoon-Gruppe in leiblicher Anwesenheit erfährt. In der Darstellung dessen glauben wir einen ersten Ansatz zu einer Rezeptionsästhetik zu sehen.

11 Leibniz verwendet deshalb, wo wir heute Kraft sagen, häufig den Ausdruck conatus, Versuch, Tendenz. 12 Lessing, a. a. O., 35.

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3.

Rezeptionsästhetik als Didaktik

Goethe hat die Laokoon-Gruppe zum ersten Mal in der Antikensammlung des Mannheimer Schlosses gesehen, und zwar als einen Gipsabguss des restaurierten römischen Originals, also mit Ergänzung der fehlenden rechten Arme aller drei Personen. Diese ausgestreckten Arme geben der ganzen Gruppe eine verstärkte Dynamik von links unten nach rechts oben, wobei die Arme der Knaben eher flehentlich, also gestisch wirken, während der Arm des Laokoon selbst schicksalsergeben wirkt, ganz im Gegensatz zu dem jetzt als Original anerkannten Werk, das nämlich eine sehr kraftvolle Abwehrbewegung zeigt. Diese Differenz könnte sich auch dahingehend auswirken, dass der Mund in der kopierten Gruppe noch ein wenig geschlossener erscheint – geschlossener nämlich als der Mund eines angestrengten Kämpfers. Es wäre denkbar, dass diese Differenz zwischen Original und Gipsabguss bereits als Einfluss von Winckelmanns Deutung angesehen werden muss. Wie schreibt Winckelmann doch: »Laokoon ist eine Natur im höchsten Schmerze, nach dem Bilde eines Mannes gemacht, der die bewusste Stärke des Geistes gegen denselben (also gegen den Schmerz) zu sammeln sucht.« 13 Goethe hat also die Laokoon-Gruppe in sehr jungen und sehr bewegten Jahren kennengelernt – in Leipzig bei seinem Zeichenlehrer Oeser befand sich nur der Abguss des Kopfes des Laokoon. Es handelt sich wohl um zwei Besuche, nämlich 1769 und 1771 auf seiner Reise von Frankfurt nach Straßburg und umgekehrt. Goethes Bericht in Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, bezieht sich auf den zweiten Besuch. 14 Typisch für Goethe ist, dass er seine Anwesenheit im Mannheimer Antikensaal als bedeutsames biografisches Ereignis versteht. Gleich wieder von den mannigfaltigen Absichten seiner Reise gefangen genommen, schreibt er dennoch im Rückblick: »Dieses große und bei mir durchs ganze Leben wirksame frühzeitige Schauen war dennoch für die erste Zeit von geringen Folgen.« 15

J. J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, Darmstadt 2006, 324. J. W. v. Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 2. Buch, (Werke. Hamburger Ausgabe 9), München 1998, 500–503. Es gibt allerdings Goethe-Forscher, die nach dem Kontext dieses Berichtes behaupten, dass Goethe sich hier geirrt habe und eigentlich seinen Besuch 1769 meine. Das lassen wir dahingestellt. 15 A. a. O., 502. 13 14

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Abb. 3: Laokoon (Mannheimer Schloss) (Foto des Verf.)

Entsprechend beschreibt er weniger die Laokoon-Gruppe als solche, als vielmehr die Szenerie, in der er ihr begegnete. Zwar berichtet er, wie ihn im Anblick alles, was er darüber gelesen hatte, bedrängt, sodass er sich auch zugleich die berühmte Frage stellt: »Warum er nicht schreie«. Er habe sie – schon damals – entschieden »dadurch, dass ich mir aussprach, er könne nicht schreien«. 16 Ich hebe drei Bemerkungen über das Wie, in dem Goethe die Bildwerke erscheinen, hervor: »Die Bildwerke waren nicht allein an den Wänden gereiht, sondern auch innerhalb der ganzen Fläche durcheinander aufgestellt; ein Wald von Statuen, durch den man sich durchwinden, eine große ideale Volksgesellschaft, zwischen der man sich durchdrängen musste.« Daraus folgt, dass man damals – im Unterschied zu heute – kaum den richtigen Abstand zu den Statuen einnehmen konnte. Es ist anzunehmen, dass die Laokoon-Gruppe an der Wand gestanden hat, nicht nur wegen ihrer Größe, sondern auch, weil sie im Unterschied zu den meisten griechischen Plastiken gerichtet ist, eine Vorund eine Rückseite hat. 16

Ebd.

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Ferner bemerkte Goethe, dass die Bildwerke nicht auf festen Sockeln standen, sondern auf ihnen, oder wohl besser, mit ihnen drehbar waren. Es ist anzunehmen, dass diese Bemerkung sich nicht auf die Laokoon-Gruppe bezieht. Denn es ist kaum anzunehmen, dass man für diese wirklich sehr große Gruppe ein drehbares Postament hat schaffen können, zumal sie, wie schon erwähnt, gerichtet ist. Aber für die Rezeptionsästhetik ist hieraus indirekt bereits zu entnehmen, dass Goethe für die Erfahrung dieser Skulpturen nicht einfach das Blicknehmen aus einer bestimmten Perspektive für ausreichend hielt, sondern einen Perspektivwechsel erfahren hat, ein Perspektivwechsel, den man notfalls auch durch die eigene Bewegung im Raum zu Wege bringen kann. Schließlich geht Goethe auf das Thema Beleuchtung ein. Der Antikensaal in Mannheim hatte offenbar eine recht günstige, von oben kommende Beleuchtung. Zusätzlich war es aber auch möglich, dass die Skulpturen durch Auf- und Zuziehen der Vorhänge in das vorteilhafteste Licht gestellt werden konnten. 17 Wir entnehmen aus diesen, auf seine erste Begegnung mit der Laokoon-Gruppe rückblickenden Bemerkungen, dass ihm die leibliche Anwesenheit am Ort des Bildwerkes, dessen Struktur und Szenerie, dass ihm ferner Perspektive und Beleuchtung wichtig waren, und dass schließlich die Erfahrung des Betrachters durch Bewegung und Perspektivwechsel bestimmt ist. Die Leiblichkeit des Betrachters einerseits und die Körperlichkeit des Werkes der bildenden Kunst spielen eine wesentliche Rolle. Daran gemessen, nimmt es Wunder, dass einige Autoren wie etwa Lessing sich über die Laokoon-Gruppe ausgelassen haben, wobei ihre Kenntnis dieser Gruppe nur auf Literatur und allenfalls noch auf grafischer Abbildung, d. h. zweidimensional und in fixer Perspektive, beruht. Goethe hat von dieser ersten Erfahrung der Laokoon-Gruppe an seinen Lehrer Oeser in Leipzig einen Bericht geschrieben. Dieser ist verloren gegangen und Goethe hatte ihn auch, als er seinen Text für die Propyläen vorbereitete, nicht zur Hand. Gleichwohl glaubte er aufgrund seiner Materialien diese erste Erfahrung wieder einzuholen. Zwischen ihr und der Niederschrift des Textes im Jahre 1797 müsste Goethe eigentlich das Original auf seiner italienischen Reise in Rom gesehen haben. Viele Forscher, wie auch ich, haben sich gewundert, dass er von dieser Begegnung in Rom nicht berichtet. Die Italienische 17

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Reise enthält stattdessen nur kurze, wenngleich wichtige Bemerkungen in einem Text von Heinrich Meyer, einen Text, den Goethe in seinen Bericht von der italienischen Reise übernommen hat 18 – ich werde darauf zurückkommen. Wenden wir uns nun endlich dem Aufsatz Goethes ›Über Laokoon‹ zu. Dieser Aufsatz hatte als erster Aufsatz in der neu gegründeten Kulturzeitschrift Propyläen natürlich auch strategische, d. h. kunsttheoretische Partien und außerdem ist er auf die Laokoon-Debatte des 18. Jahrhundert bezogen, veranlasst insbesondere durch den kurz vorher erschienenen Artikel von Aloys Hirt und die Antwort von August-Wilhelm Schlegel darauf. 19 Das hindert Goethe aber nicht, in diesem Aufsatz ganz Grundsätzliches darüber zu sagen, wie man sich Kunstwerken nähern soll, um überhaupt an ihnen Erfahrungen zu machen. Dabei kann man Goethes Vorgehen auch hier, wie etwa in seiner Naturwissenschaft, insbesondere seiner Farbenlehre, als phänomenologisch ansehen. Sie steht also unter der Maxime »Man suche nur nicht hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre«. 20 Die erste Konsequenz ist eine systematische Enthaltung von allem, was vorher über diese Statuen gesagt wurde, und auch von dem, was in griechisch-römischer Mythologie hinter dem dargestellten Ereignis stehen mag. Man könnte Goethes Vorschlag hier explizit als eine Epoché bezeichnen. Goethe will den reinen präsenten Eindruck erreichen und dafür ist es eher störend zu wissen, dass Laokoon ein trojanischer Priester war, der in dieser oder jener Weise die Götter gegen sich aufgebracht hat und durch das Erscheinen der Schlangen dafür büßen muss. Da dieses schlichte Vergessen des Diskurses hinter der Skulpturengruppe keineswegs einfach ist, macht Goethe sogar von einem phänomenologischen Trick Gebrauch, der in der Gegenwart vor allem in der Phänomenologie von Hermann Schmitz vorkommt. Um die Hintergrundannahmen aufzuheben, kann man spielerisch andere erfinden. Diese andere Erzählung besteht in Goethes Fiktion, es könnte ja auch so sein, dass Laokoon mit seinen Söhnen J. W. v. Goethe, Italienische Reise. Zweiter römischer Aufenthalt 1787 (Werke. Hamburger Ausgabe 11), München 1998, 439–441. 19 Hirts Aufsatz war durch Schiller in den Horen veröffentlicht worden. Siehe zu dem ganzen Vorgang den Kommentar von Erich Trunz in der Hamburger Ausgabe 12, a. a. O., 586 f. 20 Maximen und Reflexionen Nr. 488, (Werke. Hamburger Ausgabe 12), München 1998, 432. 18

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zur Mittagszeit im Schatten eines Baumes schlief. Da schleichen sich die Schlangen, und zwar ganz natürliche, heran und bringen die drei in größte Bedrängnis. Es spielt sich also nicht ein mythologisches Geschehen ab, sondern, wie Goethe sagt, eine »tragische Idylle«. 21 Damit will Goethe erreichen, dass das Bildwerk als solches erfahren wird und nicht etwa als Darstellung eines – vielleicht mythologisch oder literarisch – dokumentierten Geschehens. So sagt er bereits im Bericht von Dichtung und Wahrheit, dass er fühlte, »dass jedes einzelne dieser großen versammelten Masse faßlich, ein jeder Gegenstand natürlich und in sich selbst bedeutend sei.« 22 Schon diese erste Anleitung Goethes zur Erfahrung von Bildwerken ist gegenüber seiner hochgelehrten humanistischen Zeitgenossenschaft revolutionär, aber ebenso gegenüber dem, was heute die Museumsführer tun, um Bildwerke den Besuchern nahezubringen. Die zweite rezeptionsästhetische Empfehlung Goethes knüpft eng an Lessings Begriff des fruchtbaren Augenblicks an. Goethe möchte durch die folgende Anweisung für den Besucher erfahrbar machen, dass die Skulptur im Augenblick eine Bewegung präsentiert, d. h. also einen Moment darstellt, der spürbar aus der Vergangenheit in die Zukunft führt. Seine Anweisung ist folgende: Man stelle sich »in gehöriger Entfernung mit geschlossenen Augen davor; man öffne sie und schließe sie sogleich wieder. So wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden.« 23 In dieser Anweisung unterstellt Goethe also, dass der momentane Anblick der Einbildungskraft Anlass gibt, diesen nach Herkunft und Zukunft fortzuspinnen. Dies könnte zu der Erwartung führen, beim Wiederöffnen der Augen die erblickten Figuren in einer – zumindest minimal – veränderten Position vorzufinden. Schließlich die dritte Empfehlung, die im Text von 1798 quasi beiläufig vorkommt: »Dieselbe Wirkung entsteht, wenn man die Gruppe nachts bei der Fackel sieht.« Der flackernde Schein der Fackel und deren Bewegung eröffnen dem Betrachter wechselnde Perspektiven und bringen das ganze Geschehen der Gruppe, was durch die

Johann Wolfgang Goethe, Über Laokoon, in: Schriften zur Kunst (Werke. Hamburger Ausgabe 12), München 1998, 56–66, hier 59. 22 Goethe, a. a. O. (Werke. Hamburger Ausgabe 9), 501. 23 A. a. O. (Werke. Hamburger Ausgabe 12), 60. 21

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Wahl des fruchtbaren Augenblicks nach Lessing bereits suggeriert wird, selbst in Bewegung. Diese Erfahrung hat Goethe offenbar bei seinem ersten Besuch in Mannheim noch nicht machen können, deutet allenfalls dergleichen Möglichkeiten an durch den Hinweis, dass die Beleuchtung der Skulpturen durch Auf- und Zuziehen der Gardinen variiert werden könne. Doch sein Gefährte bei der Besichtigung römischer Museen, der Maler Heinrich Meyer aus Zürich, beschreibt das Vorgehen der dabei zu machenden Erfahrungen in seinem von Goethe in die Italienische Reise übernommenem Text genauer. Freilich ist der Text ein bisschen enttäuschend, weil er nämlich hauptsächlich auf die Verbesserung der Beleuchtung schlecht aufgestellter Bildwerke durch die Fackeln abhebt, allenfalls noch darauf, dass Nuancen beim Bildwerk durch die Fackelbeleuchtung besser herauskommen. Der Moment der Bewegtheit sowohl des Lichtes als auch der Monumente fehlt dagegen bei ihm. Wichtig ist allerdings im Rückblick auf Goethes erste Erfahrung, wie sie in Dichtung und Wahrheit berichtet wird, dass durch die Fackelbeleuchtung »jedes Stück nur einzeln, abgeschlossen von allen übrigen betrachtet und die Aufmerksamkeit des Beschauers … lediglich auf dasselbe gerichtet (bleibt).« 24 Das für Goethe so wichtige Moment der Bewegung sowohl des Betrachters als auch des Kunstwerkes dagegen fehlt. Gleichwohl möchte ich hier die Einleitung zu seinem Text zitieren, weil sie zeigt, in welchem Kontext Goethe dieses Spiel mit Fackelbeleuchtung kennenlernte: »Der Gebrauch, die großen römischen Museen, z. B. das Museo Pio Clementino im Vatikan, das Kapitolinische etc., beim Licht von Wachsfackeln zu besehen, scheinet in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts noch ziemlich neu gewesen zu sein, indessen ist mir nicht bekannt, wann er eigentlich seinen Anfang genommen.« 25 Damit bin ich am Ende meines Beitrags angekommen. Er soll zeigen, dass das Besondere, das Goethe über die Laokoon-Gruppe sagen kann, seiner genuin und radikal-phänomenologischen Zugangsweise entspringt. Sein Text ist zugleich eine Anleitung, sich selbst auf die Erfahrung von Kunstwerken einzulassen – und nicht bloß über sie zu räsonieren.

24 25

A. a. O. (Werke. Hamburger Ausgabe 11), 439. Ebd.

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Markus Heuft

Photographie jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹

In dem Roman Mein Name sei Gantenbein (1964) lässt Max Frisch den Ich-Erzähler sein Leben als simulierender Blinder imaginieren. Bei der Frage nach möglichen Berufen nennt der Ich-Erzähler zunächst überraschend den des Reiseführers: »Gantenbein, ausgestattet mit seiner Blindenbrille und mit dem schwarzen Stöcklein, das er klöppeln läßt an den marmornen Stufen der Akropolis, umringt von einer Gruppe, Gantenbein als einziger Mensch unserer Tage, der nicht alles, was die Reisenden sehen, auch schon gesehen hat, nein, nicht einmal in Filmen oder auf Fotos – er sagt den Leuten nicht, was sie jetzt sehen links und rechts, sondern er fragt sie danach, und sie müssen es ihm mit Worten schildern, was sie selbst sehen, von seinen Fragen genötigt. Manchmal setzt er sich und wischt sich den Schweiß von der Stirne; Gantenbein läßt sie nicht merken, was sie alles nicht sehen. Sie knipsen. Gantenbein sieht nicht, was es soviel zu knipsen gibt, und stopft sich seine Pfeife, bis sie ausgeknipst haben. Seine Fragen sind rührend. Ob denn die Säulen des Parthenon allesamt die gleiche Höhe haben? Er will’s nicht glauben; er hat Gründe, die aufhorchen lassen. Ob denn der Abstand zwischen diesen Säulen überall der gleiche sei? Jemand tut ihm den Gefallen und mißt nach. Nein! Gantenbein ist nicht verwundert, die alten Griechen waren ja nicht blind. Manchmal kommt man nicht vom Fleck, soviele Fragen hat Gantenbein, Fragen, die mit der Kamera nicht zu beantworten sind; er sieht den Bus nicht, der wartet, um die Gesellschaft auch noch nach Sunion zu fahren. […] Vor allem ist es sein Mangel an Entzücken, wodurch er die Gesellschaft aufmerksam macht. Es ist ein Jammer, was Gantenbein alles nicht sehen kann! Er hockt auf dem Bruchstück einer Säule, als wäre er nicht auf der Akropolis, beschäftigt nur mit seiner Pfeife, gelangweilt und nicht einmal beseelt von der Hoffnung, daß ihm die Farbfilme später zeigen werden, wo er heute gewesen ist. […] Einzelne empfinden ein solches Erbarmen mit ihm, daß sie, um Worte zu finden, die ihm eine Vorstellung geben von der Weihe des Ortes, selbst zu sehen anfangen. Ihre Worte sind hilflos, aber ihre Augen werden lebendig […].« 1 1

Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein (1964), Frankfurt am Main 101982, 180 f.

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Photographie jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹

Gerade die Unbeholfenheit dieser Beschreibungen, die Abkehr von der emphatischen Phrase bezeugt das Sehen. Und auch Gantenbein profitiert: die gesparten Filmkosten kommen ihm als Trinkgeld zugute. 2 Der eingängige Reiseführerslogan ›Man sieht nur, was man weiß‹ war schon in den 60er Jahren überformt durch ›Man photographiert nur, was man bereits durch Bilder kennt‹. Im Zeitalter von Social Media und Instagram-Reisen scheint es vielen Amateurphotograph*innen 3 darum zu gehen, das Selbe mindestens so gut zu photographieren wie ihre Vorbilder – mit der überraschenden Wendung, dass das unbeholfene Selbstporträt vor dem vielgefragten Motiv zum authentischen Bild wird. Sogar die Museen hat das Selfie inzwischen erreicht: Das schlichte Abphotographieren der Gemälde wird zunehmend abgelöst vom deutlich zeitraubenderen Selfie vor den Kunstwerken 4 – angesichts dieser gleich mehrfachen medialen Verstellung des betrachtenden Blicks wirken die um 1990 entstandenen Museum Photographs I von Thomas Struth mit ihrem aufmerkenden Publikum wie sentimentale Sittengemälde. Auch der Medientheoretiker Rudolf Arnheim beschrieb schon in dem 1950 erschienenen Text Warum knipsen die Leute?, wie das Photographieren nicht nur das ästhetische Erleben behindert, sondern in direkter Konkurrenz zum Sehen steht, indem es die (sich anbahnende, vielleicht beunruhigend schöne) Erfahrung reflexhaft abreagiert: »Die primitivste Reaktion auf Erfahrungen besteht in dem Versuch, nach den Dingen zu greifen und seine Hand auf sie zu legen. Indem wir ein Foto schießen, bringen wir etwas in unseren Besitz, was uns nicht gehört.« 5 Frisch, a. a. O., 182. Hinweis: Während ich bei Pluralbildungen das inzwischen übliche Gendersternchen verwende, werde ich im Singular, falls der Bezug nicht eindeutig ist, zugunsten der Lesbarkeit zwischen der maskulinen und femininen Form frei wechseln – in allen Fällen sollen alle Personen mitbezeichnet sein. 4 Wir haben es beim Knipsen im Museum mit zwei ganz unterschiedlichen Praktiken zu tun. Während der digitale Doppelklick vor Bild und Legende Kunstsinnigen Katalogkosten spart und eher weniger bekannte Werke betrifft, zeigt das Selfie vor den allseits bekannten Kunstwerken gegenüber dem Einfachklick nur eine leichte Verschiebung an: Vom ›DA war ich‹ zum ›Seht, ICH war da auch‹. Diese Verschiebung ist allerdings selbst medial bedingt: Nach der Aufhebung eines generellen Photographieverbots aufgrund der Digitalphotographie ermöglichte erst das Smartphone einfach zu erstellende Selfies. Hinzu kommt die durch die sozialen Medien eröffnete Praxis, diese Bilder sofort zu ›teilen‹. 5 Rudolf Arnheim, Warum knipsen die Leute? (1950), in: Ders., Die Seele in der 2 3

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I.

Das Photographierte und das Gesehene

Bereits die ersten Texte zur Daguerreotypie nennen zahlreiche Eigenschaften dieser neuartigen Form der Bilderzeugung, die für die sich entwickelnde Theorie der Photographie wirkmächtig wurden. 6 So warb der Physiker Dominique François Arago vor der Deputiertenkammer, als er das Patent der Daguerreotypie dem französischen Staat zum Kauf empfahl, mit der Möglichkeit, detailgetreue Abbildungen (z. B. der Hieroglyphen) Gelehrten in aller Welt zugänglich zu machen. Der objektive Blick verweist hier auf das Augenzeugenprinzip, dem wichtigsten Argument für den Realismus der Photographie: Die Photographie zeigt uns genau das, was ein Betrachter an der Stelle der Kamera hätte sehen können 7 – in Gestalt eines noch uninterpretierten Bildes, unabhängig von dem unsicheren Blick und der zitternden Hand des Menschen, wie der Kunstkritiker Jules Janin noch vor Arago formulierte. 8 In der Photographie, so die Überzeugung, bildet sich die Natur selbst ab. Angesichts der mühsamen Einrichtung der Plattenkameras und der sehr langen Belichtungszeiten stellte sich in der Frühzeit der Photographie noch nicht die Frage, ob das photographische Bild vielleicht mehr preisgibt, als der Betrachter

Silberschicht, Frankfurt a. M. 2004, 17–19, 18. Dass das Urlaubsbild nicht nur Erfahrungen beglaubigt, sondern eine Form der Verweigerung von Erfahrung ist, beschreibt ganz ähnlich Susan Sontag 1977 in ihrem ersten bedeutenden Essay über Photographie In Platons Höhle (In: Dies., Über Fotografie, Frankfurt a. M. 142003, 9– 30, 15). Photographie als Realitätssurrogat, darauf hat der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp hingewiesen, wurde allerdings schon 80 Jahre vor Arnheim thematisiert – sehr pointiert vom Zeichner und Photographen John Ruskin: »Gehen Sie und sehen Sie die Landschaft selbst an und halten den Eindruck im Gemüt fest; bilden Sie sich nicht ein, Sie könnten das Gute durch einen schwarzen Abdruck herausziehen und in einem Kasten herumtragen.« (John Ruskin, Der Hauptaberglaube des 19. Jahrhunderts [1870], gek. in: Wolfgang Kemp [1980], Theorie der Fotografie I. 1839–1912, München 1999, 152–154, 153) 6 Da die Daguerreotypie nur Unikate erzeugt, fehlt allerdings der Aspekt der Vervielfältigung. 7 Vgl. zum ›Augenzeugenprinzip‹ als nichtkonventionelle Rechtfertigung der Zentralperspektive, im Anschluss an Ernst H. Gombrich, Gernot Böhme, Theorie des Bildes (1999), München 22004, 114 und Lambert Wiesing, Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt a. M. 22013, Kap. III.3. Wiesing betont in diesem Kapitel den pragmatistischen Ansatz bei Gombrich, also die Frage, was man mit bestimmten Bildern machen kann, und charakterisiert so die Zentralperspektive als »Zeigzeug« (a. a. O., 179). 8 Jules Janin, Der Daguerreotyp (1839), gek. in: Kemp, Theorie I, a. a. O., 46–51, 47.

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vor Ort hätte sehen können. Selbst wenn der Schnappschuss also noch nicht in Reichweite lag – Arago möchte in seiner Rede entsprechenden Illusionen entgegentreten –, kündigen die von Daguerre aufgenommenen Straßenansichten der Rue de Temple bereits an, dass die Photographie auf den Augenblick zielt. Die Faszination dieser Bilder liegt gerade darin, dass sie von demselben Standpunkt und mit derselben Blickrichtung aufgenommen aufgrund der unterschiedlichen Tageszeit zwei gänzlich verschiedene Eindrücke vermitteln. Zwar merkte Henry Fox Talbot bereits in The Pencil of Nature (1844) an, es geschehe häufig, dass der Photograph erst auf dem Abzug winzige Details entdecke, »die ihm zur Zeit der Aufnahme entgangen waren«, und sah darin einen Teil des Charmes der Photographie. 9 Dennoch wird die Frage, ob der Photograph gesehen haben muss, was das Bild später zeigen wird, erst akut, als handliche Kameras, lichtstarke Objektive und vor allem lichtempfindliches Filmmaterial zur Verfügung standen. Wer um die Wende zum 20. Jahrhundert mit einer Kodak-Boxkamera unterwegs war, dürfte bei manchen Abzügen erstaunt darüber gewesen sein, was hier auch noch – oder vielleicht sogar vorrangig – zu sehen war. Doch erst die Ablösung der Großformatkamera Ende der 20er Jahre durch die äußerst beliebte zweiäugige Spiegelreflexkamera mit Rollfilmen ermöglichte den ambitionierten Photograph*innen, den magischen Moment in hoher photographischer Qualität einzufangen. Das Festhalten eines einzigartigen Augenblicks wird ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zur eigentlichen Leistung der Photographie. Schon 1934, also fast 20 Jahre vor Cartier-Bresson, schreibt der Journalist und spätere Politikwissenschaftler Dolf Sternberger: »Die Fotografie ist nicht ›Kunst‹, aber die Kunst der Fotografie besteht darin, mit erschreckender Präzision den ebenso ungeahnten wie selber ahnungslosen Moment zur Erscheinung zu bringen.« 10 Zugleich weist Sternberger auf die fundamentale Bedeutung des Zufalls für diese »Momentfotografie« hin. 11 In dem schon erwähnten Text von Rudolf Arnheim Warum knipsen die Leute? heißt es lakonisch: »Der Fotograf zieht aus, um Momente einzufangen.« 12 PhotoHenry Fox Talbot, Der Stift der Natur (1844), gek. in: Kemp, Theorie I, a. a. O., 60– 63, 63. 10 Dolf Sternberger, Über die Kunst der Fotografie (1934), gek. in: Wolfgang Kemp (1979), Theorie der Fotografie II. 1912–1945, München 1999, 228–240, 240. 11 Sternberger, a. a. O., 238. 12 Rudolf Arnheim, Warum knipsen die Leute?, a. a. O., 17. 9

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graphie und Augenblick scheinen seither wie Zwillinge zusammenzugehören. Sogar Richard Avedon, des Schnappschusses gänzlich unverdächtig, meinte: »Ohne Fotografie ist der Moment für immer verloren, so als ob es ihn nie gegeben hätte.« 13 Auch wenn weiterhin viele Photographien, z. B. Landschafts- und Architekturaufnahmen, nicht diesem Kriterium entsprechen, wird die vollendete Beherrschung des Mediums mit dem genialen Schnappschuss identifiziert – ob vor der Haustür oder in der Fremde, spektakulär in Kriegsgebieten. Die Verbreitung der Photographien durch Magazine trägt dazu bei, dass die berühmtesten Photograph*innen dieser Jahrzehnte solche des Augenblicks sind – und das selbst dann, wenn die Szene zumindest teilweise inszeniert wird wie in der Modephotographie. Die Photographin teilt mit dem Maler den Blick – aber anders als der Maler hat sie eben auch das besondere Gespür für den richtigen Augenblick. Mitte des 20. Jahrhunderts hat dann Henri Cartier-Bresson die berühmte Formel ›the decisive moment‹ bzw. ›le moment décisif‹ geprägt. 14 Doch wieviel Zufall ist in diesem magischen Moment enthalten – Zufall, den die Photograph*innen nicht im Blick hatten? 15 Meines Wissens gibt es keine systematische Analyse der Frage, was Photograph*innen gesehen zu haben behaupten. Wenn allerdings die Photographie sich als Seh- oder Blickschule geriert, 16 müssten die Photograph*innen exemplarische Seher*innen sein. Zumindest einige Richard Avedon, »Alles ist Teil meines Lebens«, Interview mit Ute Thon, in: art. Das Kunstmagazin 12/2001, 42. Avedon wurde berühmt durch seine großformatigen Porträts von Prominenten ebenso wie von Menschen gesellschaftlicher Randgruppen. 14 Henri Cartier-Bresson, Der entscheidende Augenblick (1952), in: Ders., Meisterwerke, München 2004, 5–16. Dieser Text wurde 1952 zunächst in einer englischsprachigen Monographie, die auch seinen Titel The Decisive Moment trägt, veröffentlicht und erst kurz darauf in der französischen Ausgabe Images à la sauvette. 15 Es ist bemerkenswert, dass die Photographin je nach Kameratyp vor und bei der Aufnahme etwas anderes sieht: Bei einer Großformatkamera stellt sie zwar auf die Mattscheibe scharf, blickt aber im Moment der Belichtung direkt auf das Objekt. Während die zweiäugige Spiegelreflexkamera im Sucherschacht dieses Objekt seitenverkehrt und instantan zeigt, ist das bei einer einäugigen Spiegelreflexkamera genau nicht der Fall – auch im Unterschied zur klassischen Sucherkamera, die allerdings meist nur ein recht kleines (Sucher-)Bild liefert. Ahmen heute die elektronischen Sucher die ›Transparenz‹ des optischen Suchers von Spiegelreflexkameras nach, vermitteln Smartphones und Tablets ähnlich wie die Mattscheibe der Großformatkamera stärker den Bildcharakter. 16 Womöglich ein Topos, den die Photographie von der Malerei entliehen hat. Hier nur ein prominenter Beleg von Dorothea Lange: »The camera is an instrument that 13

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Selbstzeugnisse sind hier vorsichtiger: Selbst wenn man die Aussage von Diane Arbus, kein Bild sei so, wie vorher beabsichtigt, 17 als Provokation versteht, findet man oft deutliche Zurückhaltung. Auf Theorieebene bewegt sich die Diskussion entlang zweier Koordinaten: Die eine Achse behauptet die Unverfälschtheit und damit Objektivität der Aufnahme – also das, was Roland Barthes als ›Es-ist-sogewesen‹ kennzeichnen wird. 18 Dieser Realismus steht hier Bildfälschungen, aber eben auch künstlerischen Eingriffen wie der Bearbeitung von Negativen oder Abzügen gegenüber; bis hin zum Qualitätssiegel, immer das gesamte Negativ zu zeigen, dokumentiert durch die Sichtbarkeit des Kamerafilmhalterrahmens auf der Vergrößerung. Die andere Achse hingegen betont die Ingeniosität der Photograph*innen: Gerade die durch die Mechanik der Bildherstellung garantierte Objektivität der Photographien verlangt einen Grund, warum manche Photograph*innen eben besondere Aufnahmen machen. Zumal, anders als in der Malerei, auch den Laien großartige Bilder gelingen können. 19 – Ellen Auerbach spricht anlässlich einer Aufnahme, deren Poesie sie erst beim Entwickeln erkannte, von einem dritten Auge, das manchmal durch sie hindurch photographiere. 20 Dass viele Bilder ohnehin erst auf den Kontaktstreifen und manchmal sogar erst auf den dritten Blick ihre Kraft zeigen können, verstärkt den Verdacht, dass die Photograph*innen häufig eben nicht das gesehen haben, was das Photo auszeichnet. Man kann sicherlich sagen, dass in vielen Fällen das photographische Bild keineswegs nur defizitär gegenüber dem Augenschein ist.

teaches people how to see without a camera.« (Zitiert in: Milton Meltzer, Dorothea Lange: A Photographer’s Life (1978), New York 2000, S. VII) 17 »I never have taken a picture I’ve intended. They’re always better or worse.« (Diane Arbus, Diane Arbus. An Aparture Monograph, New York 1972, 15) 18 Roland Barthes, Die helle Kammer (1980), Frankfurt a. M. 1989, 87. 19 Das führte u. a. zu der These, dass die Tätigkeit in der Dunkelkammer den (künstlerischen) Unterschied macht – vgl. mit Bezug auf Alfred Stieglitz und Robert Demachy Wolfang Kemp in seinem Überblick Theorie der Fotografie 1839–1912 (in: Kemp, Theorie I, a. a. O., 13–45, 23). Für Stieglitz galt als Maß dieser Tätigkeit der subjektive Eindruck während der Aufnahme. 20 Ellen Auerbach, »All die Neuanfänge …«, Köln 2008, 18.

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II.

Jenseits des entscheidenden Augenblicks

Ich will im Folgenden die Frage des Verhältnisses von photographischem Blick und photographischem Bild nicht weiter verfolgen. Stattdessen möchte ich mich einer bestimmten Gruppe solcher Bilder zuwenden, die etwas zeigen, was ein Augenzeuge prinzipiell nicht hätte sehen können. Diese Bilder machen also etwas So-nicht-Sichtbares sichtbar und erweitern damit den Bereich unserer visueller Erfahrungen. Ich beschränke mich hier auf eine der möglichen Dimensionen 21 derartiger Erweiterungen des Visuellen, nämlich auf die der Aufnahmezeit; und auch hier nur auf die Bilder, die etwas (weit) jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹ sichtbar machen wollen. 22 Dabei möchZumindest vier Dimensionen sind in der photographischen Praxis ›geläufig‹ : 1. Ausweitungen unseres Sehspektrums (Infrarotaufnahmen, Röntgenaufnahmen) oder Umkehrungen (Negative) bzw. Falschfarbenbilder und Solarisationen. 2. Überstarke Erweiterung oder Verengung des Sehwinkels, also Panoramabilder und extreme Teleaufnahmen. Bekanntlich sind extreme Ausschnittvergrößerungen nichts anderes als simulierte Teleaufnahmen, nur eben in schlechterer Qualität, was dem Film Blow-Up von Antonioni die Story ermöglicht. 3. Photographische Aufnahmen des mikroskopisch Kleinen oder extrem Entfernten, wobei man hier teilweise noch die Möglichkeit hat, selbst durch das Mikroskop oder das Fernrohr zu schauen – vorausgesetzt, man schaut dabei nicht wiederum auf ein elektronisch erzeugtes Bild und (4.) die Zeitdimension. Diese Aufzählung ist allerdings keineswegs vollständig – bei stereoskopischen Bildern lässt sich beispielsweise der Abstand der beiden ›Augäpfel‹ variieren. So kann man Luftbilder machen, die den Blick eines Riesen simulieren. Eine weitere Dimension bietet die Schärfe: einerseits ›überdetailreiche‹ Bilder, erzeugt beispielsweise durch die Zusammensetzung vieler hochauflösender Photographien oder (traditionell) durch die Verwendung großer Aufnahmeformate und sehr kleiner Blenden, die eine gleiche Schärfe über alle Abbildungsdistanzen ermöglichen, andererseits durchgehend unscharfe Bilder z. B. durch Verschiebung des Fokus jenseits von ›unendlich‹ – eine Technik, die sich Hiroshi Sugimoto für seine Serie Architecture zunutze gemacht hat. Zuletzt sei noch auf die Möglichkeiten hingewiesen, die der (irreguläre) Einsatz von Tilt- und Shift-Objektiven bietet. Vor allem das Shiften ist für den Zusammenhang von Sehen und Bild-Sehen interessant, da es, moderat angewandt, auf dem Abzug genau den Seheindruck vermitteln möchte. Die Enttäuschung angesichts vieler Abzüge bei Aufnahmen hoher Gebäude oder steiler Treppen und Wege rührt daher, dass wir beim Blick nach oben oder unten unserer Kopfbewegung gewahr sind, während die gekippte Filmebene beim fertigen Bild selbst nicht in Erscheinung tritt – ein Hinweis darauf, dass, auch wenn die Kamera die bessere Retina (Talbot) ist, wir eben nicht mit der Retina allein sehen. 22 Photographien diesseits des entscheidenden Augenblicks negieren hingegen gerade nicht den Charakter des Momenthaften, den es zu erwischen gilt, selbst wenn es die Grenzen unserer visuellen Aufmerksamkeit unterschreitet. Kurzzeitbelichtungen wie die von Eadweard Muybridge zum Beweis, dass Pferde beim Galoppieren tatsächlich 21

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te ich Arbeiten von fünf Photographen vorstellen, die systematisch in diesem Bereich tätig waren: Hiroshi Sugimoto, Michael Wesely, Jacob Felländer, Alessandro Morell und David Hockney. Gemeinsam ist ihnen allen, dass jedes ihrer Bilder eine lange Entstehungsgeschichte hat. Sichtbar wird in diesen Bildern aber neben der Zeit selbst noch jeweils etwas anderes. Bei dieser Auswahl geht es mir keineswegs um ein Best-of von Photographien mit längeren Belichtungszeiten: Andreas Feiningers startender Hubschrauber bei Nacht würde sicherlich dazugehören, gerade weil diese Photographie in einem Bild das dynamische ›Wesen‹ des Hubschraubers besonders deutlich macht. Und der berühmte Rennwagen von Jacques-Henri Lartigue (Grand Prix de l’A.C.F, 1912) ist mit seinen (durch den vertikalen Schlitzverschluss bedingten) ovalen Rädern geradezu eine Ikone der Geschwindigkeit. Auch scheint sich, darauf hat Walter Benjamin im Anschluss an Emil Orlik 23 aufmerksam gemacht, die Intensität der frühen Porträts (etwa von Nadar, Julia Margaret Cameron oder David Octavius Hill) den damals unvermeidlich langen Belichtungszeiten zu verdanken. 24 Während diese Photographien durch ihre jeweils relativ langen Belichtungszeiten das Sujet möglicherweise prägnanter erfassen können – wie ja auch Langzeitbelichtungen von Gebäuden, um die Paseinen Moment lang keinen Bodenkontakt haben – eine Frage, die der Maler Ernest Meissonier mit dem unbewaffneten Auge trotz großen Aufwandes nicht hatte beantworten können –, Arthur Worthingtons berühmte Aufnahmen von Milchtropfenkratern und Harold Edgertons Schusswaffenprojektile, die Gegenstände durchstoßen, sind ja genau für diesen Augenblick konzipiert worden. Sehr ausführlich behandelt Peter Geimer in Bilder aus Versehen solche Kurzzeitbelichtungen und damit die Frage, inwieweit diese Bilder tatsächlich das ›Unsichtbare sichtbar machen‹. (Peter Geimer, Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010, 6. Kapitel) 23 Vgl. Emil Orlik, Über Fotografie (1924), gek. in: Kemp, Theorie II, 181–184, 182 f. 24 Vgl. Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: Ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt a. M. 2002, 300–324, 304 f. Eine Belichtungszeit von mehreren Sekunden lässt kein Minenspiel zu, mit zunehmender Aufnahmedauer scheint sich der Blick nach innen zu kehren. Großformatige Tintypes wie die Porträts der US-amerikanischen Photographin Keliy Anderson-Staley erreichen heute noch eine ähnliche Intensität. – Rudolf Arnheim beschreibt dieses Phänomen so: »Die Ausrüstung war viel zu sperrig, um jemanden in einem unbeobachteten Augenblick fotografieren zu können, und die Belichtungszeit war so lang, daß Mimik und Gestik alles Augenblickhafte verloren. So erklärt sich die beneidenswerte Zeitlosigkeit der frühen Photographien. Sie zeugen gleichsam von einer jenseitigen Weisheit, die dadurch entstand, daß die spontanen Gefühlsregungen auf den Metallplatten keinerlei Spuren hinterließen.« (Rudolf Arnheim, Über das Wesen der Photographie (1974), in: Ders., Die Seele in der Silberschicht, a. a. O., 20–35, 21)

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santen ›verschwinden‹ zu lassen –, überschreiten die hier vorgestellten Arbeiten zumindest ein Stück weit das gewöhnliche Konzept Photographie.

a.

Hiroshi Sugimoto, Theaters

Hiroshi Sugimoto gehört spätestens seit einer großen Ausstellung in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20 und anschließend in der Berliner Nationalgalerie (2007/8) auch in Deutschland zu den bekanntesten konzeptionellen Photograph*innen der Gegenwart. Wie bei vielen konzeptionellen Künstler*innen finden wir bei Sugimoto eine intensive Medienreflektion, die sich in seinen Arbeiten widerspiegelt. So machen seine Wachsfigurenporträts und die Dioramenfotografien aus dem New Yorker Naturkundemuseum auf die Transparenz des Mediums Photographie in gleich doppelter Weise aufmerksam: Wir erblicken in seinen Bildern den japanischen Kaiser oder eben Heinrich VIII. – gerade weil Photographie in der Regel nur eine Momentaufnahme ist, kann sie das Unlebendige lebendig machen. Und weil sie zudem als zweidimensionales Medium für den Betrachter die drei Dimensionen des Raums aufscheinen lässt, werden die naturkundlichen Dioramen Abbilder einer realen Naturszene. 25 Sugimotos Kinobilder sind in gewisser Weise eine Umkehrung dieser beiden Serien – doch auch bei ihnen wird der Betrachter zunächst getäuscht. Die Mehrzahl der eher großformatigen Abzüge dieser Serie zeigt das Innere eines auf den ersten Blick unbesetzten Kinosaales, in dem sich die helle Leinwand deutlich abhebt. Die meisten dieser Säle sind überraschend prächtig ausgestattet, es sind Lichtspieltheater. Allenfalls einige unscharfe Kinosesselrücken verraten Zuschauer und eine längere Belichtungszeit. (Bei den Autokinoaufnahmen liefert der Nachthimmel entsprechende Hinweise.) Man könnte meinen, man sähe ein Bild des Kinos vor dem Film, wenn der Saal noch ausgeleuchtet ist. Doch bei genauerem Hinsehen wird die Betrachterin (auch ohne weitere Hinweise auf die Entstehung der Bilder) stutDie Porträts aus dem Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud wurden von Sugimoto 1999 aufgenommen, die Dioramen schon ab Mitte der 70er Jahre. Sugimoto merkt auf seiner Website zu diesen Bildern an: »However fake the subject, once photographed, it’s as good as real.«

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Abb. 4: Hiroshi Sugimoto, Al. Ringling, Baraboo, 1995.

zig, sobald ihr klar wird, dass die einzige Lichtquelle die Leinwand selbst ist. Tatsächlich ist auf ihr ein ganzer Film zu sehen, der zu einem gleichmäßig weißen Bild verschmilzt. Sugimoto porträtiert Kinos mithilfe des Filmlichts, ohne dass die Betrachterin vom Film irgendeinen Eindruck gewinnen kann – der Grund, ins Kino zu gehen, wird bei Sugimoto zum alleinigen Mittel, den Kinosaal selbst sichtbar zu machen.

b.

Michael Wesely

Michael Wesely begann schon früh mit extremen Langzeitbelichtungen zu experimentieren und hat diese Technik in bis dahin unvorstellbare Zeiträume ausgeweitet – dass man ein Negativ nicht nur mehrere Stunden oder Tage, sondern Monate und sogar Jahre belichten kann, sprengt das Vorstellungsvermögen auch professioneller Photograph*innen. Sein erstes größeres Langzeitbelichtungsprojekt waren Aufnahmen von Bahnsteigen – die Belichtungsdauer richtete sich nach der Zeit, die die Zugreise zu seiner Heimatstadt München 109 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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Abb. 5: Michael Wesely, 4. 4. 1997–4. 6. 1999 Potsdamer Platz, Berlin.

benötigte. Wie häufig bei Langzeitbelichtungen verschwinden die Personen völlig; dass nicht einfach nur ein leerer Bahnsteig photographiert wurde, verrät (neben einem vielleicht etwas diffusen Licht) einzig die ›zeigerlose‹ Bahnsteiguhr. 26 Spektakulär sind seine Aufnahmen der Bauarbeiten am Potsdamer Platz in Berlin seit Ende der 90er Jahre, oft mit dem Jahreslauf der Sonne, und die des Erweiterungsbaus des MoMA in New York 2001–2004. Diese Photographien wirken wie Röntgenaufnahmen – hat man sich ein wenig eingesehen, kann man einzelne Bauabschnitte unterscheiden. Doch anders als bei Röntgenaufnahmen gewinnen diese Bilder bei intensiver Erkundung ihre Tiefe zurück. Weselys Farbphotographien blühender und schließlich verwelkender Tulpen 27 zeigen deutlich deren Wachstum noch in der Vase, wie sie sich langsam neigen und schließlich Blütenblätter verlieren. Im Gegensatz zu seinen Architekturaufnahmen haben diese Bilder Gegenüber den wandernden dunklen Zeigern setzt sich das weiße Ziffernblatt durch. 27 Michael Wesely, Stilleben 2001–2007, München 2007 (Ausstellungskatalog der gleichnamigen Ausstellung im Gemeentemuseum Den Haag 31. 3.–8. 7. 2007). 26

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Abb. 6: Michael Wesely, 29. 7. 1996–29. 7. 1997 Office of Helmut Friedel.

eine gewisse Nähe zu Zeitrafferaufnahmen – aufgrund eigener Erfahrungen mit Schnittblumen kann man einen Film imaginieren. Trotzdem haben sie als ›Standbild‹ eine ganz eigentümliche Anmutung. Das Büro von Helmut Friedel, dem damaligen Direktor des Lenbachhauses, wurde über den Zeitraum von genau einem Jahr aufgenommen. Ein Detail macht auf die besonderen Schwierigkeiten solcher Langzeitbelichtungen aufmerksam: Ist einmal auf das Negativ so viel Licht gefallen, dass es dort gänzlich schwarz wird, kann es an dieser Stelle keine weitere visuelle ›Information‹ mehr speichern. Dass sich das Gehäuse des Computerbildschirms so deutlich abhebt und den Verrückungen des Tisches trotzt, ist Folge eines Scheinwerferlichts, das nur für ein Fernsehinterview mit Friedel erforderlich war. 28

Vgl. Sarah Hermanson Meister, Open Shutter, in: Michael Wesely, Open Shutter, New York 2004 (The Museum of Modern Art), 8–19, 13.

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Abb. 7: Jacob Felländer, Los Angeles/Hong Kong/Bombay (Ausschnitt).

c.

Jacob Felländer, I Want to Live Close to You

Bei den Bildern der zwölftägigen photographischen Weltreise I Want to Live Close to You (2011) 29 von Jacob Felländer fällt zuerst das extrem in die Breite gezogene Format auf. Schon allein dieses Format macht das Betrachten des Bildes als Ganzes schwierig und fordert dazu auf, es entlanggehend zu studieren – und eben damit korrespondiert das Sujet. Man erkennt schnell die Wiederholung bestimmter architektonischer Motive; dennoch scheint die Kamera voranzuschreiten, weil sich diese Motive trotz aller Überlappung im ›Fortgang‹ des Bildes ablösen. Während der obere Bildteil meist Himmelsfärbungen aufweist, überwiegen im unteren Teil rötlich-braune Töne. Die chaotische Verteilung der Hauptmotive, bedingt auch durch die häufig nicht senkrechte Ausrichtung der Kamera, und der oft eher düster wirkende untere Teil muten apokalyptisch an. 30 Anders als übliche Mehrfachbelichtungen sind diese Bilder weder Produkte sorgfältig kombinierter (oft kontrastierender) Motive, noch dokumentieren sie von einem Fixpunkt aus die Bewegungsabläufe eines Objekts. Stattdessen scheint der Photograph beim ›Weiterwandern‹ an besonders ein-

Jacob Felländer, I Want to Live Close to You, Stockholm 2011. (Eine Auswahl der Bilder wurde 2011 im Fotografiska in Stockholm gezeigt.) 30 Allerdings sieht Felländer diesen Trend zur Urbanisierung – er selbst weist darauf hin, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen in Städten lebt – keineswegs negativ, wie schon der Titel anzeigt und das Vorwort ausführt. 29

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drücklichen Motiven zu verweilen, und sich dann eben doch den nächsten Motiven und damit der nächsten Stadt zuzuwenden. Felländer benutzte preiswerte Mittelformatkameras, in denen er den Mechanismus entfernt hatte, der das Spannen des Verschlusses mit dem Bildtransport verbindet. So war es ihm möglich, den Film nur ein wenig zu transportieren und dennoch den Verschluss erneut auszulösen. Die maximale Bildbreite ist allein begrenzt durch die Länge eines Rollfilms; im Extremfall ist der ganze Film ein Bild, das sich aus viele Einzelbelichtungen zusammensetzt. Felländer betont die Rolle des Zufalls dabei: Die so entstandenen Photographien sind also keineswegs durchkomponiert, obwohl sie der Gesamtidee folgen, besonders dicht bevölkerte Städte dieser Welt – Stockholm, New York, L.A., Hong Kong, Bombay, Dubai und schließlich wieder Stockholm – idealiter auf ein Negativ zu bannen. Es sind Bilder mit einem hohen Maß an Kontrollverlust; 31 und da mit erheblichem Ausschuss zu rechnen war, hatte Felländer für dieses Projekt 33 Kameras im Einsatz.

d.

Abelardo Morell, Camera obscura

Auf den ersten Blick wirken die Bilder dieser Serie wie unzusammenhängende und zudem noch um 180° verkehrte Doppelbelichtungen – bei manchen dieser Photographien ist die Außenansicht so dominant, dass man spontan das Bedürfnis hat, sie umzudrehen. Blickt man genauer hin, erkennt man, dass hier nicht zwei Bilder übereinanderliegen, sondern dass in einen Raum das Bild einer Gebäudeansicht projiziert wird, weshalb es auf allen nicht vertikalen Flächen zu Verzerrungen kommt. Die Verdeckungen durch im Raum stehende Gegenstände wie Stühle mit entsprechenden Schattenbildungen erhärten diesen Eindruck: als habe der Photograph mittels eines Diaprojektors und eines extrem weitwinkligen Projektionsobjektivs ein (spiegelverkehrtes 32) Bild in einen ansonsten dunklen

Sie unterscheiden sich deshalb trotz ähnlichen Formats grundsätzlich von dem digital zusammengesetzten Zeitbild des japanische Photographen Hiroyuki Masuyama, das einen 42stündigen Flug rund um die Welt visualisieren möchte. 32 Dass diese auf dem Kopf stehenden Bilder wie Daguerreotypien auch seitenverkehrt sind, fällt – anders als bei dem hier ausgewählten Foto – bei den meisten Bildern von Morell nicht (gleich) auf. 31

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Markus Heuft

Abb. 8: Abelardo Morell, Times Square in Hotel Room, New York, NY, 1997.

Raum geworfen und das wiederum abphotographiert. Doch es gab keinen Projektor. Tatsächlich benutzt Morell schlicht das Verfahren der Camera obscura. Die gespiegelten Außenansichten liegen also der hinteren Wand des photographierten Raumes genau gegenüber. Wir sehen – wenn auch punktgespiegelt – das, was jemand beim Blick durch das Fenster hätte sehen können. Dieses Fenster wird von Morell bis auf eine kleine Stelle mit einer lichtundurchlässigen Folie abgedunkelt. Anschließend setzt er in diese noch offene Stelle eine kleine, kreisförmige Blende ein. Um den richtigen Ort für diese Blende zu finden, markiert Morell deren Position am Fenster und kann so, indem er von verschiedenen Punkten des Raums durch diese Markierung auf die ›Außenwelt‹ blickt, genau bestimmen, wie sich die äußere Architektur im Raum abbildet. 33 Durch die kleine Blende wird das Abbild scharf, ist aber gleichzeitig auch sehr lichtschwach. Das eigentliche Der Film Shadow of the House. Photographer Abelardo Morell von Allie Humenuk (2009) dokumentiert diesen Prozess sehr genau.

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Photographie jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹

Bild entsteht nun, indem Morell nachts eine Großformatkamera aufbaut, deren Platte er einen ganzen Tag belichten lässt. Auch diese Bilder sind also – zumindest in dieser Deutlichkeit – für eine Betrachterin vor Ort nicht sichtbar. 34 Der Reiz dieser Photographien besteht für die Betrachterin erst einmal in dem Kontrast einander (eben doch) zugehöriger Außen- und Innenansichten. Indem die Bilder Produkte einer Camera obscura sind, verweisen sie darüber hinaus auf deren Faszinationspotential und reflektieren das Grundprinzip der Photographie. Und schließlich wird der Betrachterin bewusst, dass alles Licht, das in einen Raum fällt, die Summe aller Lichteinfälle ist, die durch ein Wandern der Blende über die gesamte Fensterfläche erzeugt werden könnten. Wie bei Sugimotos weißen Leinwänden in den Kinos ist die Helligkeit unserer Innenräume eine Überlagerung von Bildern.

e.

David Hockneys Joiners

David Hockney ist einer der bedeutendsten britischen Maler der letzten Jahrzehnte. Bekannt sind auch seine zahlreichen Veröffentlichungen zur Kunst- und Bildtheorie. So versucht er in den Büchern Geheimes Wissen: Verlorene Techniken der Alten Meister wieder entdeckt (2001) und Welt der Bilder (2016, mit Martin Gayford), die noch immer unterschätzte Bedeutung der Camera obscura für die Malerei nachzuweisen – demnach gab es das photographische Bild (und damit den photographischen Blick) lange vor der Photographie. Hockney hat sich nur wenige Jahre künstlerisch intensiv mit der Photographie beschäftigt. Dennoch bilden seine Photocollagen einen wichtigen Abschnitt in seinem Werk, da sie Anlass boten, sich noch eingehender mit dem Phänomen der Perspektive und unserer visuellen Wahrnehmung auseinanderzusetzen, und so einen erheblichen Einfluss auf sein malerisches Werk hatten. 35 Hockneys Interesse galt Morell hat mit dieser Serie Anfang der 90er Jahre begonnen. Dank der Verwendung eines Prismas in seinen neueren Camera Obscura Arbeiten steht das Abbild jetzt aufrecht. Der Einsatz einer Linse erhöht noch einmal die Schärfe und mittels Digitaltechnik haben sich auch die Belichtungszeiten erheblich verringert. Diese Arbeiten sind meist Farbphotographien. 35 Diese Einschätzung wird von vielen Interpreten geteilt. Marco Livingstone schreibt anlässlich der in London, Bilbao und Köln gezeigten Hockney-Ausstellung A Bigger Picture: »Insofern diese Collagen den Bildraum neu definieren, sodass der Betrachter 34

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Markus Heuft

Abb. 9: David Hockney, Christopher Isherwood im Gespräch mit Bob Holman, Santa Monica, den 14. März 1983, 1983. 36

nicht dem einzelnen Photo, gerade weil es die Dynamik unserer Wahrnehmung und eben deswegen unsere Wirklichkeit nicht erfassen kann. »Die Photographie ist in Ordnung, wenn es einem nichts ausmacht, die Welt für einen Sekundenbruchteil aus der Perspektive eines gelähmten Zyklopen zu betrachten.« 37 Hockney operierte also von vornherein mit dem Medium Photographie gegen die zentralperspektivische Sicht auf die Welt, die dank dieses Mediums konsolidiert wurde. Mit seinen Collagen hat Hockney das Genre der kubistischen Photographie erfunden. Sie ermöglichen, dass man auf einem Bild etwas gleichzeitig von vorne und hinten sehen kann, oder auch die das Gefühl gewinnt, sich in diesem Raum bewegen zu können, statt ihn lediglich von einem festen Standpunkt aus zu sehen, sind sie als Schlüsselwerke für das gesamte neuere Schaffen Hockneys anzusehen.« (Marco Livingstone, Der weniger begangene Weg, in: David Hockney, A Bigger Picture, München 2012, 36) 36 Hinweis zu den Bildunterschriften bei Hockney: Das Datum zeigt an, wann die Photos gemacht wurden, das hinzugefügte Jahr die Realisierung der Collage. 37 David Hockney, zit. in: Lawrence Weschler, David Hockney. Cameraworks, New York 1984, 9. (Gefunden in dem Essay von Anne Hoy, Hockneys Fotocollagen, in: David Hockney. Eine Retrospektive, hg. von Maurice Tuchman u. Stephanie Barron, Köln 1988, 54–65, 55.)

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Photographie jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹

Abb. 10: David Hockney, Spaziergang im Zen-Garten des Ryoanji-Tempels, Kioto, den 21. Februar 1983, 1983.

rechte und die linke Seite eines quaderförmigen Gegenstands. Während sich auf einigen Collagen noch ein Betrachterstandpunkt imaginieren lässt, wird in anderen der Raum weit aufgefächert. Damit aber gewinnt die zeitliche Dimension bei der Entstehung dieser Bilder an Bedeutung. Hockney ging es tatsächlich in manchen Collagen darum, dem Film Konkurrenz zu machen – mit einem einzigen Bild, zusammengesetzt aus dutzenden, ja teilweise hunderten Einzelaufnahmen. 38 Hier wird das photographische Einzelbild zu einer aspektiven Bildgestaltung genutzt, durchaus unter Bewahrung der von der Photographie vermittelten Realitätsanmutung. Im Bild des Zen-Gartens des Ryoanji-Tempels in Kyoto [Abb. 10] dokumentieren die voranschreitenden Füße am unteren Bildrand die sich verändernde Perspektive und machen damit deutlich, dass uns das zusammengesetzte Bild den Steingarten nicht so zeigt, wie wir ihn von einem Punkt aus sehen könnten. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass die Collage selbst das Rechteck des Gartens wiedergibt. Hockney meint zu diesem Bild aus Vgl. den Dokumentarfilm von Don Featherstone, David Hockney, Joiner Photographs, Halle a. d. Saale/London 1983 (RM Arts / LWT South Bank Show)

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mehr als 160 Einzelaufnahmen, »dass es sich dabei um eine Fotografie ohne Perspektive handelt«. 39

III. Unaufdringliche Bilder Der häufigste Fehler des Photoreporters ist nach Cartier-Bresson, »dass sich das Auge einfach gehen lässt«. 40 Für die hier vorgestellten Photographen gibt es nicht den einen Moment, den das geübte Auge jagen und festhalten könnte. 41 Bei aller Faszination drängen sich ihre Bilder dem Betrachter nicht auf und entziehen sich schon allein durch die Dauer ihrer Entstehung den Bilderfluten. Als Photographien verweisen sie immer noch auf dieses ›Es-ist-so-gewesen‹ – allerdings mit dem Zusatz: So aber hat es niemand sehen können. Diese Unaufdringlichkeit zeichnet die Bilder schon bei der Entstehung aus – selbst da, wo Menschen zu sehen sind, wie in den Porträts von Wesely 42 oder Hockney. Rudolf Arnheim beschreibt den Unterschied zwischen Malerei und Photographie auch als Unterschied, die Grenze des Privaten und Intimen zu respektieren: »Wenn früher ein Maler seine Staffelei an irgendeiner Straßenecke aufstellte, um den Marktplatz zu malen, so galt er als Außenseiter, der mit Neugierde, Ehrfurcht und vielleicht etwas Schmunzeln betrachtet wurde. Es ist das Vorrecht des Fremden, die Dinge zu betrachten, anstatt sie zu gebrauchen. Abgesehen davon, daß er manchmal im Weg stand, störte der Maler David Hockey, Die Welt in meinen Augen (1993), hg. von Nikos Stangos, neu übersetzt von H. Frielinghaus und S. Höbel, Schmieheim 2005, 100 (Die englischsprachige Originalausgabe That’s the Way I See It erschien 1993 in London. Es folgte 1994 eine deutsche Erstausgabe der vgs verlagsgesellschaft in Köln). 40 Cartier-Bresson, a. a. O., 7. 41 In einem Interview mit Sarah Hermanson Meister macht Michael Wesely deutlich, dass sich seine Entscheidung für Langzeitbelichtungen bewusst gegen die in den 80er Jahren immer noch dominante Idee des ›entscheidenden Augenblicks‹ richtete – und damit auch gegen den »Bilderberg« (in: Wesely, Open Shutter, a. a. O., 20–29, 22 f.). 42 Wesely belichtet seine Porträts mehrere Minuten, was zu einer Bewegungsunschärfe führt. Der Theoriehintergrund dieser Porträts wird in dem Interview durch Damian Zimmerman besonders deutlich: »Ich habe den Spieß dann umgedreht, indem ich Porträts gemacht habe mit einer Belichtungszeit von fünf Minuten. Damit habe ich dem entscheidenden Moment eine Absage erteilt und gleichzeitig habe ich der Fotografie diese aggressive Spitze genommen, also dieses Haschen nach diesen angeblich besonderen Momenten.« (»Jeder Fotograf versucht möglichst schön zu scheitern«, Damian Zimmermann im Gespräch mit Michael Wesely, ProfiFoto 4/2019, 38–41, 39.) 39

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Photographie jenseits des ›entscheidenden Augenblicks‹

nicht das private Leben, das sich um ihn herum abspielte. Die Menschen fühlten sich nicht durch seine Blicke belästigt oder auch nur beobachtet – allenfalls wenn sie ruhig auf einer Bank saßen –, denn es war offensichtlich, daß der Maler etwas anderes als die Gegebenheiten eines Augenblicks betrachtete und festhielt. Nur der Augenblick ist privat, und der Maler scherte sich nicht um das Kommen und Gehen der Menschen, sondern fixierte etwas, das gar nicht da war, weil es immer da war. Das Gemälde denunzierte niemanden persönlich.« 43

Noch schärfer als Arnheim hat Susan Sonntag das aggressive Moment der Photographie herausgestellt, das zu einer neuen ›Ethik des Sehens‹ führe: »Indem sie uns einen neuen visuellen Code lehren, verändern und erweitern Fotografien unsere Vorstellung von dem, was anschauenswert ist und was zu beobachten wir ein Recht haben.« 44 Und damit sicherlich auch, was zu photographieren wir ein Recht haben. Im Besucherbuch der Ausstellung [SPACE] Street. Life. Photography. Street Photography aus sieben Jahrzehnten in den Hamburger Deichtorhallen (2018) fand sich der Eintrag: »Warum so viele Bloßstellungen?« Offensichtlich noch weitgehend unbemerkt von Redaktionen, Verlagen und eben auch Kurator*innen scheint es eine wachsende Sensibilität zu geben bezüglich der unautorisierten Verbreitung solch unbemerkter und ungenehmigter Aufnahmen – seitens des Publikums, aber auch vieler Photograph*innen selbst, zumal ja inzwischen jeder Opfer eines derartigen Übergriffs und möglicher Folgen 45 sein kann. Doch auch abgesehen von solchen (ethischen) Überlegungen beginnt die klassische Straßen- und Reportagephotographie obsolet zu werden angesichts permanent gezückter Smartphones und der Möglichkeit, aus digitalen Videoaufnahmen Einzelbilder in hoher Auflösung zu destillieren. 46 Will die künstlerische Photographie darauf reagieren, dass es von allem in allen MoRudolf Arnheim, Über das Wesen der Photographie, a. a. O., 21. Susan Sontag, a. a. O., 9. 45 Gerade gesellschaftspolitisch engagierte Photograph*innen in Krisengebieten reflektieren durchaus, dass jedes Bild, auf dem ein Mensch identifizierbar ist, der Konfliktpartei zuspielen kann. Im Zusammenhang mit fortgeschrittener Gesichtserkennungssoftware geht es heute in der Debatte um Street Photography keineswegs nur um Bloßstellungen. 46 Sontag hat schon sehr früh die Grenzen (auch) der engagierten Photographie aufgezeigt – diese sind keineswegs nur eine Folge von Gewöhnungseffekten. Dass Photographien uns die Welt nicht verstehen lassen und deshalb unsere Ohnmacht verstärken, hat im Anschluss an Sontag Neil Postman (1985) im fünften Kapitel von Wir amüsieren uns zu Tode (Frankfurt a. M. 182008) herausgearbeitet. 43 44

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Markus Heuft

menten Bilder gibt, die für alle verfügbar sind, kann sie entweder mit diesen schon vorhandenen Bildern arbeiten 47 oder eben darauf verzichten, ›Realität‹ unmittelbar ablichten zu wollen. Ein möglicher Weg ist dann die Inszenierung, 48 ein anderer die Überschreitung des entscheidenden Augenblicks.

So bediente sich beispielsweise der US-amerikanische Photograph Doug Rickard für seine Serie A New American Picture Google Street View Bilder, die er von seinem Monitor abphotographierte. 48 Die Leuchtkastenbilder des kanadischen Künstlers Jeff Wall sind vermutlich die bekanntesten Photographien, die ihren inszenierten Charakter offenlegen. 47

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»Sehen lernen!« – Konzeptionen des »Sehens« im Diskursfeld der künstlerischen Erziehung Unsere Augen sind sehender geworden. 1

I. Eine Historiographie des Sehens ist zugleich eine Geschichte visueller Habitualisierungen, kultureller Prägungen, kollektiver Wahrnehmungskonventionen und vielfältiger Formen der Zurichtung und Konditionierung. 2 So ist das Sehen weniger ein genuin subjektiver Vorgang und bloß physiologisches Faktum, als eine historische Praxis, die über kulturelle, soziale und auch wissenschaftliche Selbstverständnisse Auskunft gibt. Der pädagogische Diskurs ist davon nicht unberührt. Mit dem Ansatz einer Disziplinierung der Sinne wartet die Pädagogik spätestens seit der Aufklärung vermehrt auf und erarbeitet mit dem Begriff der Anschauung eine pädagogische Indienstnahme des Auges. 3 Das sehende Auge ist Teil der Erkenntnisbildung und muss geschult werden. Der Anschauungsunterricht ist dafür das Mittel der Wahl. Vielfältige Auseinandersetzungen kreisen um die Schulung des Auges als pädagogisches Programm, das bis hin zu einer »Geometrisierung des Blicks« 4 im Zeichenunterricht führt. Abteilung für Kunstpflege des Leipziger Lehrervereins, Januar 1906. Vgl. u. a. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden und Basel 1996. Ders., Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1976. Robert Jütte, Geschichte der Sinne, München 2000. 3 Vgl. u. a. Philipp J. Lieberkühn, Versuch über die anschauende Erkenntniß. Ein Beitrag zur Theorie des Unterrichts, Züllichau 1782. Johann Stuve, Ueber die Nothwendigkeit Kinder frühzeitig zu anschauender und lebendiger Erkenntniß zu verhelfen und über die Art wie man das anzufangen habe, Braunschweig 1788. Johann Heinrich Pestalozzi, ABC der Anschauung oder Anschauungs-Lehre der Maßverhältnisse, 2 Bde., Zürich u. a. 1803. Die Wurzeln der »Indienstnahme des Auges« werden zumeist bei Johann Amos Comenius und seinem Orbis sensualium pictus, Nürnberg 1698, verortet. 4 Tobias Teutenberg, Die Unterweisung des Blicks, Bielefeld 2019, 90. 1 2

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Ina Katharina Uphoff

Gänzlich neue Impulse setzt Anfang des 20. Jahrhunderts die Kunsterziehung. Das Sehenlernen und die Erziehung des Auges zeigen sich um die Jahrhundertwende als ein Handlungsfeld mit Breitenwirkung. Gerade im Kontext kunsterzieherischer Bestrebungen avanciert das Sehen zu einem gesellschaftsrelevanten Reflexionsfeld mit ethischen, volkserzieherischen, unterrichtlichen, ökonomischen und nationalpolitischen Dimensionen. Das Sehen wird zur Frage nach dem Menschen als Kulturwesen und seiner Beziehung zur Kunst. Im Nachfolgenden soll nun, erstens, der zeitdiagnostische Hintergrund einer kulturkritischen Neubewertung und -justierung des Sehens im Ausgang des 19. Jahrhunderts expliziert werden, um, zweitens, das historische Feld des pädagogischen Diskurses zum Sehenlernen im 20. Jahrhundert abzustecken, Spannungen herauszuarbeiten und normative Elemente zu identifizieren. In einem letzten Schritt wird exemplarisch auf den künstlerischen Schulwandschmuck als einem dezidierten Übungsfeld zum Erlernen des Sehens eingegangen.

II.

Die ästhetische Wende: Kultur des Sehens

Die Entstehung der modernen Industriegesellschaft ist in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit tiefgreifenden Wandlungsprozessen und kulturkritischen Manifestationen verbunden. Angesichts der Dominanz des »technischen Intellekts« 5, der Spezialisierung der Wissenschaften und der Lebensferne der Kultur wird ein allseitig umfassendes Bildungsideal erstrebt, das im Sinne Friedrich Schillers ästhetisch den ganzen Menschen in den Blick nimmt. Der Weg dorthin führt entsprechend über die Kunst, die das schulische Lehren und Lernen ebenso bereichern soll wie das national-kulturelle Selbstverständnis des deutschen Volkes insgesamt. »Wir fühlen, dass das deutsche Leben der Gegenwart mit unerträglicher Einseitigkeit vom Verstandesmässigen, Logischen, Exakten, von materiellen Erwägungen und Interessen beherrscht ist, und dass es ernster Arbeit im Dienste des Aesthetischen, Künstlerischen bedarf, um unsere Kultur einer harmonischen Gestaltung näher zu führen.« 6

Eduard Spranger, Kulturphilosophie und Kulturkritik, hg. von Hans Wenke, Tübingen 1969, 67.

5

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»Sehen lernen!«

Es gilt, eine tiefgreifende ästhetische Wende einzuläuten – in ihr liegt das übergeordnete Ziel der Kunsterziehungsbewegung, die aus künstlerischen, wirtschaftlichen, lebens- und kulturreformerischen Tendenzen gespeist wird. Getragen von einem sozialkritischen Impetus und bestärkt durch eine individualistisch-irrationalistische Kulturkritik 7 wird die Kunsterziehungsbewegung zur treibenden, vielschichtigen Kraft, die eine übergreifende kulturelle Erneuerung anstrebt und die »Läuterung der Gesellschaft im Geiste der Kunst« 8 auf ihre Fahnen schreibt. In diesem Vorhaben ist das Sehen ein zentraler Bezugspunkt, handelt es sich doch beim Sehen um ein Vermögen, das vom »Gegenwartsdeutschen« 9 anscheinend wieder neu gelernt werden muss. »Ja, Augen haben die guten Leute alle mit auf die Welt bekommen […]. Aber zwischen Sehen und Sehen ist ein Unterschied und es wird daher richtig sein zu sagen, sehen können ja die allerwenigsten. Sie laufen vielmehr sehenden Auges blind durch die Welt […].« 10 Es fehlt offenbar ein richtiges Sehen, ein Sehen-können; es mangelt an der Möglichkeit des vertieften Sehens, das nicht nur auf bloße Reize reagiert. Am Sehsinn entzünden sich folgerichtig die Diagnosen der Zeit. Sie werden zu Skizzen einer Nation, die lediglich von Nützlichkeitserwägungen getrieben zu sein scheint und der die Fähigkeit fehlt, sich auf die sichtbaren Erscheinungen der Welt »bewusst« einzulassen. Die vielschichtigen Reaktionen auf den umfassenden Wandel in der Lebens- und Arbeitswelt implizieren einen Umbruch in der Wahrnehmungsweise. »Wir sehen die Dinge daraufhin an, ob wir sie brauchen können, was sie kosten […]. Daß die äußere Erscheinung der Dinge an und für sich eine wesentliche Seite ihrer Existenz bildet, dafür ist das Gefühl fast ganz erstorben […]. Dinge, die wir vor uns haben, sehen wir meist nicht eigentlich, selbst wenn wir sie betrachten.« 11 Der Bezug zur Welt in ihrer sinnlich erfahrbaren Materialität

Die Kunst im Leben des Kindes. Katalog der Ausstellung im Hause der Berliner Secession März 1901, Leipzig und Berlin 1901, 7. 7 Vgl. Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher, Leipzig 77–84 1922. 8 Peter Ulrich Hein, Transformation der Kunst. Ziele und Wirkungen der deutschen Kultur- und Kunsterziehungsbewegung, Köln und Wien 1991, 12. 9 Richard Bürkner, Kunstpflege in Haus und Heimat, Leipzig 1910, 25. 10 Ebd. 11 Ludwig Volkmann, Die Erziehung zum Sehen. Ein Vortrag, in: Ders., Die Erziehung zum Sehen, Leipzig 41912, 20 f. 6

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wird neu befragt. Gefordert wird ein anderer Blick auf die Dinge, der ihrem Eigenwert Rechnung trägt. In seiner »Soziologie der Sinne« stellt Georg Simmel mit Sicht auf die Prozesse der Urbanisierung ein Übergewicht, mitunter auch eine Übermacht des Sehens über das Hören heraus. Die Welt zeigt sich in ihrer zunehmenden Komplexität und der Rasanz der Entwicklungen. Die Beschleunigungen der Wahrnehmungen leisten einer Reizüberflutung Vorschub. Simmel beschreibt »die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, […] die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen« 12. Zugleich ergeben sich aber auch Veränderungen im sozialen Miteinander. So führen etwa die neuen Verkehrsmittel dazu, dass sich Personen »Minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken«, wobei es nicht etwa zur vertieften Begegnung komme, sondern eher zur Vereinsamung inmitten der »nur gesehenen […] Menschen«. 13 Die Lebenswirklichkeit wird zum Angriff auf den Gesichtssinn und erzeugt Oberflächlichkeit – ja gar eine Form der Erschöpfung, wie Nietzsche es kulturkritisch zusammenfasst und damit sein Plädoyer für das Sehenlernen schärft. Es bedürfe der Erziehung zum Denken, Sprechen, Schreiben und zum Sehen: Ich stelle […] sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht. Man hat sehen zu lernen, man hat denken zu lernen, man hat sprechen und schreiben zu lernen: das Ziel in allen dreien ist eine vornehme Kultur. – Sehen lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sichherankommen-lassen angewöhnen; das Urteil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die erste Vorschulung zur Geistigkeit: auf einen Reiz nicht sofort reagieren, sondern die hemmenden, die abschließenden Instinkte in die Hand bekommen. Sehen lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt: das Wesentliche daran ist gerade, nicht ›wollen‹, die Entscheidung aussetzen können. Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man muß reagieren, man folgt jedem Impulse. In vielen Fällen ist ein

Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, in: Ders., Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1995, Bd. 7, 117. 13 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. [Exkurs über die Soziologie der Sinne] (Gesamtausgabe 11), Frankfurt a. M. 1995, 727. 12

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»Sehen lernen!«

solches Müssen bereits Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung […]. 14

Sehenlernen kommt der Willensschulung und einer Form der Verzögerung gleich; ähnlich der phronesis wird das Sehenlernen zur Grundlage des besonnenen Handelns. Dem Sehen wird damit eine Bildungsrelevanz zugesprochen. Der Verfall der Bildung und der Kultur offenbart sich dort, wo das richtige Sehen nicht mehr möglich ist, wo das Verhältnis zur Welt den Lebensbezug verliert, der Mensch nicht mehr weise, sondern nur noch pragmatisch handelt 15: »Wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigen und einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und Natürlichen verdorben.« 16 So wird mit der ästhetischen Wende nicht nur ein neues Sehen eingefordert, sondern gleichsam eine ästhetische Bildung als »Kultur des Sehens«. Diese Kultur des Sehens setzt auf die Kunst als »Stimulans des Lebens« 17 und distanziert sich zugleich von der Zurichtung der Lebens und der »Konditionierung des Auges« 18, die im 19. Jahrhundert durch die fortschreitende Verwissenschaftlichung des Sehens 19 und die technisch forcierte Rationalisierung einen Höhepunkt erreicht hat.

Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Was den Deutschen abgeht (Kritische Studienausgabe 6), München / New York 21999, 108 f. 15 Vgl. Rodion Ebbighausen, Die Genealogie der europäischen Krisis, Würzburg 2010, 207. 16 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen II (Kritische Studienausgabe 1), (Kritische Studienausgabe 6), München / New York 21999, 328. 17 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887–1889 (Kritische Studienausgabe 13), München / New York 21999, 521. 18 Tobias Teutenberg, a. a. O., 17. 19 Das Anfang des 20. Jahrhunderts propagierte »neue« Sehen ist Ausdruck einer gezielten Erweiterung und Neujustierung. Diese vollzieht sich auch vor dem Hintergrund vielschichtiger Entwicklungen, in deren Kontext die menschlichen Sinneswahrnehmungen zum »empirischen Material« der Wissenschaft werden. Während das Auge zuvor einer Apparatur vergleichbar schien, wird im 19. Jahrhundert die leibliche Konstitution des Sehens herausgestellt. Fortan erforscht man das Sehen (natur-) wissenschaftlich über vielfältige Sehexperimente. Ein zentraler Protagonist ist Hermann von Helmholtz, der Mitte des 19. Jahrhunderts die physiologisch fundierte Psychologie befördert und auf die Vorstellungen vom Sehen maßgeblich Einfluss nimmt. Siehe u. a. Hermann von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, Hamburg und Leipzig 21896. Zentrale wissenschaftliche Beiträge werden ab 1890 in der »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane« veröffentlicht. 14

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Eine bedeutende Grundlage der pädagogischen Reformen und der geforderten ästhetischen Wende bildet die »Zurichtung« des Sehens im Zeichenunterricht. Dieser orientiert sich in Anlehnung an Pestalozzis ABC der Anschauung an geometrischen Grundformen und befördert damit eine Distanz zur lebendigen Natur. Es ist eine Art geometrischer Mimesis der Welt, ein Sehen quasi more geometrico, das mit der vermessenen Welt des 19. Jahrhunderts korreliert. Wahrnehmungsformen werden analytisch in ihre Einzelteile zergliedert und schieben sich folgenreich zwischen das sehende Auge und die Empfindung. Was zählt, sind gerade Linien, Rechtecke und Quadrate, die das Sehen bestimmen und den Blick formen. In einen eigenen Fokus der Kritik – auch unter den Zeichenlehrern selbst – gerät die sogenannte Hamburger Methode Adolf Stuhlmanns. Das Zeichnen im Quadrat- und Punktnetz, die Stigmographie, die in den ersten Schuljahren das Zeichnen bestimmen soll, wird für die Augen als schädlich gebrandmarkt. Der Bremer Zeichenlehrer Hermann Gräber holt dazu sogar Gutachten von Augenärzten ein und zieht wirkmächtig gegen die Stigmographie zu Felde. Die Kritik ist zugleich Signum der großen gesellschaftlichen Bedeutung, die dem Sehen beigemessen wird. Es darf in keinem Falle Schaden nehmen. Daran müssen sich jegliche Maßnahmen messen lassen. Ein Abschied von geometrischen Formen und Figuren ist damit aber nicht vollzogen. In den didaktischen und methodischen Beiträgen für den Zeichenunterricht des 19. Jahrhunderts ist das Linear- und Geometriezeichnen vorherrschend. Die entwickelten Lehrgänge sind entsprechend der physiologischen Grundlagen des Sehens und der Wahrnehmungsentwicklung des Kindes aufgebaut. 20 Das Sehen ist hier Dreh- und Angelpunkt, da richtiges Zeichnen Ausdruck eines richtigen Sehens ist, und das Sehen wiederum an die Geistesbildung gebunden wird. Mit anderen Worten: Das Zeichnen bedarf der Hilfe des Verstandes und damit eines Rückgriffs auf Regeln, die zu rechten Urteilen über das Gesehene führen sollen. Es geht nicht um ästhetische Qualitäten, sondern um den Aufbau einer Kenntnis von Welt, die einer strengen Systematik gehorcht und rückgeführt werden kann auf basale Grundformen.

Rainer Grimm, Historische Aspekte des Prinzips ›Sehen lernen‹. Veränderungen eines entscheidenden Fachprinzips im Fach Kunst zwischen 1865 und 1905, Frankfurt a. M. 1985.

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»Sehen lernen!«

Dieser Prämisse folgt z. B. auch Fedor Flinzer, der sich der Formulierung des »bewußtes Sehens« 21 bedient und damit ein mit Bewusstsein vollzogenes Sehen fordert. In seinem »Lehrbuch des Zeichenunterrichts« legt er Entwicklungsschritte dar, die Denkprozesse und Sinnestätigkeit sowie zugleich Erkenntnisse aus Physiologie und Psychologie zusammenführen: »Das denkende Betrachten der sichtbaren Welt, das sinnende Vergleichen und Unterscheiden führt zum Erkennen der Gesetzmäßigkeit in der Erscheinungswelt. Wer zeichnen will, muß sehen können, wer aber richtig sehen lernen will, muß viel sehen, das Charakteristische der gesehenen Objekte erfassen, festhalten und mit anderen vergleichen und davon unterscheiden können.« 22

Flinzers Zeichenschule ist an Erkenntnisdimensionen gebunden. Gebildet werden soll sowohl das direkte Sinnesorgan als auch das geistige Auge. Dieser Prozess geht vom Verstehen aus und vollzieht sich systematisch: »Somit erscheint es unbedingt nötig, daß die Erziehung zum Sehen eine planmäßige sein muß.« 23 Die Planmäßigkeit folgt, nicht nur bei Flinzer, einer klar definierten Struktur. Mit ansteigender Komplexität auf der Basis geometrischer Grundformen geht es um die Perfektionierung der korrekten Wiedergabe des Sichtbaren. Es ist die Negation der auf einem wissenschaftlich-exakten Vorgehen beruhenden »mathematisch-geometrischen Normierung des Sehens« 24, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Auseinandersetzung um das Sehen neu befruchtet. 25 Der Zeichenunterricht des 19. Jahrhundert liefert damit eine zentrale kritische Folie für eine Neudefinition der Schulung des Auges. An die Stelle von Methode, Geometrie und Ornament rücken nun die Begriffe Natur, Genuss und Empfinden: Es kommt »auf das Sehenlernen, das Richtigesehenlernen [an], darauf, dass die Persönlichkeit nicht einem System zum Opfer falle« 26. Das Sehen steht fortan – über den Zeichenunterricht hinaus

Fedor Flinzer, Lehrbuch des Zeichenunterrichts an deutschen Schulen, Bielefeld und Leipzig 1896, 31. 22 Ebd., 6. 23 Ebd., 30. 24 Tobias Teutenberg, a. a. O., 122. 25 Vgl. Rainer Grimm, a. a. O., 123. 26 Otto Feld, Das Kind als Künstler, in: Die Kunst im Leben des Kindes. Katalog zur Ausstellung im Hause der Berliner Secession März 1901, Leipzig und Berlin 1901, 92. 21

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– im Kontext der ästhetischen Erziehung. 27 Die ästhetische Wende fordert eine Kultur des Sehens.

III. Das »neue Sehen« Vom Enthusiasmus einer Neuformation des Sehens sind zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur Pädagogen und Kunsterzieher beflügelt. Es geht gleichsam um eine Nobilitierung des Sehens, die sich über die ästhetische Erziehung vollzieht. Weit über die Pädagogik hinaus vereinen sich Wissenschaftler, Verleger, Kulturschaffende und Künstler im Bestreben, die Augen für das Kunstschöne zu öffnen und »ein Geschlecht von sehenden, anschauend genießenden Menschen« 28 heranzubilden. Über das künstlerische Sehen wird der Einzelne gleichsam in ein neues Verhältnis zur Welt gesetzt. Selbst für die »Arbeiter Jugend« heißt die Parole: »Sehen lernen!« 29 Wer kein »oberflächlicher und unwissender Mensch« 30 sein möchte, muss die Augen als »Tore der Erkenntnis, und […] der Schönheit« 31, an das richtige Sehen gewöhnen. Denn mit oberflächlichen Eindrücken und »halben und falschen Darstellungen läßt sich nicht arbeiten« 32. Das neue Sehen findet sich dabei allerdings im Spannungsfeld einer Befreiung des Sehens durch Kunst bei gleichzeitiger Indienstnahme dieses Sehens durch ökonomische Zwecksetzungen, nationalistische Bestrebungen sowie normative Zurichtungen unterschiedlicher Provenienz. Das Sehen wird populär und bedarf der Übung. Dem »richtigen« Sehen dient vielfach die Natur, aber auch regelrechte Anleitungen zum Sehen erobern den Büchermarkt; ein steigendes Interesse für das Sehen bricht sich Bahn. Für eine breite Leserschaft kommt 1905 Arthur Kiesels Werk »Die Welt des Sichtbaren. Eine Betrachtung

Vgl. hierzu u. a. Konrad Lange, Das Wesen der künstlerischen Erziehung, in: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen des Kunsterziehungstages in Dresden am 28. und 29. September 1901, Leipzig 1902, 30 f. 28 Alfred Lichtwark, Die Kunst in der Schule, in: Ders., Zur Organisation der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1887, 40. 29 Vgl. Jürgen Brand, Sehen lernen! In: Arbeiter-Jugend, Nr. 2, 15. Januar 1916, 9–10. 30 Ebd., 9. 31 Ebd., 10. 32 Ebd., 9. 27

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über die Art und Weise unseres Sehens« 33 auf den Markt, in dem Kiesel wissenschaftliche Erkenntnisse aufbereitet und über u. a. optische Täuschungen, räumliches Sehen, die Anpassungsleistungen des Auges und den Farbensinn Auskunft gibt. Explizit einer Schulung des Sehens« widmet sich der Kunsthistoriker und Leipziger Verleger Ludwig Volkmann in dem Werk »Erziehung zum Sehen« 34. Ausgangspunkt ist die diagnostizierte »künstlerische Unbildung der großen Menge« 35, die zur Forderung nach einer Erziehung zur Kunst überleitet. »Da aber die Kunst eben die Welt der sichtbaren Erscheinungen umfaßt, so ist das erste und wichtigste Mittel hierzu die Ausbildung des Auges, die Erziehung zum Sehen.« 36 Das künstlerische Sehen muss geübt werden; es bedarf einer bewussten Wahrnehmung. Über die »Schulung des Auges«, eine »Art Augen-Gymnastik« 37 ist die Voraussetzung für eine ästhetische Bildung zu schaffen, »um auch im Kunstwerk recht und echt sehen zu lernen« 38. Das neue Sehen steht von Beginn der Reformen an vor allem im Zusammenhang seiner ästhetischen Möglichkeiten. Daher ist es sinnfällig, dass der Zeichenunterricht zum Ort der Austragung divergierender Auffassungen wird. Frühe Akzente hinsichtlich der Schulung des Auges – auch im Kontext der geforderten Reform des Zeichenunterrichts – setzt der Tübinger Kunsthistoriker Konrad Lange. Er mahnt die fehlende »Ausbildung der Sinne« 39 an und stellt seine »sinnlich-ästhetische Erziehung« 40 in einen national-kulturellen Horizont. Langes Streben nach der »Ausbildung eines einheitlichen künstlerischen Empfindens« 41 ist eine schulische wie letztlich volkserzieherische Aufgabe, die bei der Kunsterziehung ansetzt und in die ästhetische Genussfähigkeit 42 überführt wird. Bildung erweitert sich Arthur Kiesel, Die Welt des Sichtbaren: eine Betrachtung über die Art und Weise unseres Sehens, Leipzig 1905. 34 Das Werk geht auf einen gleichnamigen Vortrag aus dem Jahre 1902 zurück. Dieser Vortrag wird mit anderen »Zeitgedanken zur Kunst« als Büchlein herausgebracht und erhält viel Beachtung. 35 Ludwig Volkmann, a. a. O., 7. 36 Ebd., 16. 37 Ebd., 36. 38 Ebd., 38. 39 Konrad Lange, Die künstlerische Erziehung der deutschen Jugend, Darmstadt 1893, 78. 40 Ebd., 79. 41 Ebd., 15. 42 Vgl. Konrad Lange, Das Wesen der künstlerischen Erziehung, a. a. O., 28. 33

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folgerichtig um die ästhetische Dimension und erhält zugleich den übergeordneten Auftrag, im Volke das Bedürfnis nach Kunst zu wecken. So gehören die Förderung des Kunstverständnisses des Volkes ebenso wie die Erziehung gebildeter Dilettanten mit zum Programm der künstlerischen Erziehung, die beim Sehen ihren Ausgangspunkt nimmt. Mit anderen Worten: Die Natur des Kunstgenusses setzt beim Sehen und der »Anleitung zur richtigen Anschauung« 43 an: »Kunst lernt man nicht mit den Ohren, sondern mit den Augen, nicht durch lesen und hören, sondern durch sehen und schaffen.« 44 Mit Bezug zum »schönen Schein« wird die Kunst zum Richtmaß sowie zum höchsten Gut erklärt, und das fehlende Vermögen, Kunst zu genießen, als ein empfindlicher Mangel an Bildung angesehen. Daher muss, in Verbindung mit der Natur und ihrer Schau, in der schulischen Arbeit eine Beziehung zur Kunst hergestellt werden, um »nicht über Kunst [zu] schwatzen, sondern Kunst sehen und genießen [zu] lernen.« 45 Das neue Sehen ist also nicht nur ein vertieftes, ganzheitliches, sondern auch genussvolles Sehen. Die ästhetische Erziehung des Sehens wird pädagogisch ausdekliniert. Die propagierte »Erziehung des Auges« 46 leitet hinüber zur Kunst und letztlich zur Vervollständigung des Daseins. Dafür muss das ästhetische Anschauungsvermögen entwickelt, der Anschauungskreis erweitert und die künstlerische Persönlichkeit gebildet werden: In einer regelrechten Stufenabfolge führt der Weg über die Schulung des Sehens zum hohen Kunstgenuss. Am Ende steht die ethische Dimension, nämlich der sittliche Charakter, der eindringen soll »in die sittlichen Werte […] [der] Zeit« 47. Die ästhetische Erziehung ist insofern auch keine Disziplin, sondern ein tragendes Prinzip allgemeiner Bildung, sie ist »Lebens- und Unterrichtsprinzip« 48 zugleich. Dabei gilt es, schon Kinder »für die durch das Auge vermittelte Schönheit« 49 empfänglich zu machen. Konrad Lange, Die künstlerische Erziehung, a. a. O., 20. Konrad Lange, a. a. O., 86. 45 Konrad Lange, Das Wesen der künstlerischen Erziehung, a. a. O., 29. 46 Die Kunst im Leben des Kindes, Katalog, a. a. O., 9. 47 Fedor Lindemann, Das künstlerisch gestaltete Schulhaus, Leipzig 1904, 90. 48 Otto Schulze, Die Frage der ästhetischen Erziehung eine Lebens- und Existenzfrage für unser Volk und für unsere Jugend, Magdeburg 1902, 24. Siehe auch Heinrich Wolgast, Die Bedeutung der Kunst für die Erziehung, Leipzig 1903, 15. 49 Wilhelm Peper, Über ästhetisches Sehen, in: Deutsche Blätter für den erziehenden Unterricht, 28. Jg. 1901, 261. 43 44

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Das Sehen wird zum Bestandteil und Mittel einer neuen Theorie der Erziehung, die neben der intellektuellen Ausbildung eben auch die »Pflege und Veredlung der Genußfähigkeit, speziell der ästhetischen Fühlfähigkeit« 50 erstrebt, wie es der Pädagoge Aloys Fischer betont. Die Kunst wird aber nicht bloß als ein anzustrebendes Telos dem Erziehungs- und Bildungsgedanken vorangestellt. Vielmehr werden ihre Möglichkeiten selbst als Entwicklung abgebildet. Fischers »Ziele und Grundsätze einer Erziehung des Auges« verdeutlichen in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer psychologisch fundierten Erziehung zur Kunst durch die Kunst. Das zumeist flüchtige Sehen wird sodann selbst zum Gegenstand erzieherischer Reflexionen. Auf der Basis – und das ist neu – der Bedürfnisse der Augen 51 wird nach den Voraussetzungen für eine ästhetische Erziehung gefragt. Die Erziehung zur bildenden Kunst ist für Fischer »eine solche des Auges für die Werte der Erscheinung«. Ihn interessiert vor allem der Weg von der »flüchtig identifizierenden, gegenständlich deutende[n] Wahrnehmung« 52 hin zur Erscheinung selbst. Die Erziehung des Auges mündet dann in das Verstehen der Ausdruckswerte der bildenden Kunst und wird als intendierter Entwicklungsprozess des Heranwachsenden beschrieben. Es ist also nicht wenig, was auf dem Feld des neuen Sehens ausgetragen wird. Auch soziale Differenzen werden durch die Kunst als Ausdruck von Bildung und Kultur nivelliert. Demzufolge dient die ästhetische Erziehung nach Wolgast der Egalisierung sozialer Gegensätze, die ihren sinnfälligen Ausdruck im fehlenden Kunstverständnis des »arbeitenden Menschen« findet. »Der geschmacklose Flitter der Kleidung, der traurige Oeldruck an der Zimmerwand, die Musik des Bierkonzerts und Tingeltangels, das Schauerdrama und der Schauerroman – das alles empfindet die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes als Kunst!« 53 Um dieser Tendenz entgegenzuwirken muss bereits in der Schule ein Fundament gelegt werden – und zwar in der »Sphäre der Sinne« 54. Über die künstlerische Erziehung sind »dem Kinde feinere Augen […]« 55 zu geben. Dafür muss, entgegen der Aloys Fischer, Ziele und Grundsätze einer Erziehung des Auges, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik, 13 Jg. (1912), 398. 51 Vgl. ebd., 402 ff. 52 Ebd., 409. 53 Heinrich Wolgast, a. a. O., 4. 54 Ebd., 6. 55 Ebd. 50

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Dominanz des Intellekts 56, das Anschauungsvermögen in den Vordergrund rücken und dem Kinde echte Kunst geboten werden. Die Kunst beziehungsweise das kunstgerechte Sehen wird zur Vision der Erneuerung von Mensch, Kultur und Gesellschaft. Besonders deutlich wird dieses Anliegen in Alfred Lichtwarks Überlegungen. Sie kreisen um das Ziel, zur hohen Kunst hinzuführen. Sein Bestreben richtet sich »auf die Bildung des Auges und […] des Geschmacks« 57. Er verbindet Kunst- und Volkserziehung miteinander und führt die Kunst zum nationalen Nutzen. Sie dient, wie bei Lange, der Heranbildung kunstverständiger Dilettanten; zugleich erhofft sich Lichtwark über die Geschmacksbildung des »kaufenden Publikums« den heimischen Kunst-Markt zu stärken. Die »sorgfältige künstlerische Erziehung des Auges und der Empfindung« 58 ist auf den späteren ›Kunst-Konsumenten‹ ausgerichtet. Scharfzüngig kritisiert Lichtwark das deutsche Besserwissertum 59 ebenso wie den herrschenden Mangel an Anschauungsvermögen und greift einen Ausspruch Paul Meyerheims auf: »Der Deutsche sieht mit den Ohren.« 60 Anstatt genau hinzusehen, wird bereits Gehörtes, werden Wissensfragmente in einem Reflex der Halbbildung wiedergegeben. Die Schule hat daher die Aufgabe, allererst das fehlende Anschauungsvermögen auszubilden: »Wir müssen dem Schüler Unverlierbares mitgeben, das in ihm weiter arbeitet. Dazu gehört zu allererst die Fähigkeit, anzuschauen, die Freude an dem Einfachen, Gediegenen, Sachgemäßen.« 61 Große Bedeutung erhält für Lichtwark das gemeinsame Betrachten von Kunstwerken, um die Fähigkeit des richtigen Schauens zu entwickeln. 62 Sofern in der Schule die Grundlage für das Kunstempfinden gelegt wird, kann auch der Kunstbezug des deutschen Volkes insgesamt gefördert werden. Diese ökonomische Betrachtung steht dabei keineswegs in einem Widerspruch zur ästhetischen Erziehung. Im Gegenteil: Die Nachfrage eines ästhetisch gebildeten Betrachters befördert die ästhetische Kultur. Im »Versuch Vgl. ebd., 9. Alfred Lichtwark, Die Kunst in der Schule, in: Ders., Zur Organisation der Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1887, 21. 58 Alfred Lichtwark: Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Berlin 1918, 18. 59 Vgl. Alfred Lichtwark, Die Kunst in der Schule, a. a. O., 34. 60 Ebd., 25. 61 Ebd., 32. 62 Siehe hier auch Lichtwarks eigene Kunstbetrachtungen mit Schülern: Alfred Lichtwark, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken, Berlin 1918. 56 57

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einer Kunstökonomie« betont auch Paul Drey die Notwendigkeit des Einwirkens auf den Kunstkonsum. Die Bildung des Kunstbedarfs, die die wirtschaftliche Seite künstlerischen Schaffens betrifft, erfordert eine »Erziehung zum Kunstverständnis im Auge« 63. Der »erwachte oder erweckte Genußtrieb« 64 ist gerade über eine Erziehung des Auges in die erwünschte Richtung zu lenken, und hier ist beim Kinde anzusetzen. Nur die »lebendige Anschauung des Schönen in der Natur wie in der Kunst« ist in der Lage, einer »Verbildung des natürlichen Kunsttriebes« 65 zu verhüten. Wie früh bereits die Kinder adressiert werden sollen, offenbart sich unter anderem im Beitrag »Sehen lernen« in der Zeitschrift »Kinderland« aus dem Jahre 1906. Dittmann bemüht das »Wahre und Gute« und verweist auf eine Ethik der äußeren Form. Im Kampf gegen billige Imitationen und die »schäbigen unwahren Formen« 66 hilft allein das genaue Hinsehen. »Wenn wir das Sehen und Schauen gelernt haben, werden unsere beiden vornehmsten Sinne, Auge und Ohr, für alle Reize empfindlicher geworden sein, besonders das Auge. Beständiges Ueben im Sehen gehört dazu. Nichts darf unserem Auge entgehen […].« 67 Dabei wird nicht das Sehen allein beschrieben, sondern die Verbindung von Sehen und Gefühl, die zum Schauen führt. »Die Wirklichkeit fühlend aufnehmen, das heißt schauen.« 68 Die vielfach geforderte Übung des richtigen Sehens ist zugleich eine Übung im Verweilen. Gegen die Erfahrungen der grassierenden Beschleunigung setzt das Ästhetische im Sehen ein kulturkritisches Gegengewicht. Das Auge erhält einen Zeitraum der Betrachtung – die Oberflächlichkeit und Flüchtigkeit weichen der Hingabe an das Gesehene und der Hinwendung zur Welt der Kunst. Diese verweilende Betrachtung ist jedoch nicht zweckfrei, nicht interesselos gedacht, sondern wird zielgerichtet pädagogisch kanalisiert. Sehen ist also nicht nur einfach sehen, sondern ein Sehenlernen, das seine Zeit in der Entwicklung benötigt und am Ende im Kunstgenuss und der Bildung seine kulturelle Vollendung erfährt. Dieser Gedanke vereint bei aller Heterogenität von Gewichtungen und Interessenslagen das Paul Drey, Die wirtschaftlichen Grundlagen der Malkunst: Versuch einer Kunstökonomie, Stuttgart 1901, 265. 64 Ebd. 65 Ebd., 266. 66 Walter Dittmann, Sehen lernen, in: Kinderland, Mai 1906, 18. 67 Ebd. 68 Ebd. 63

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»neue Sehen«. In diesem Sinne ist auch Volkelts Mahnung zu verstehen: »mit dem bloßen Hinschauen und Immer-wieder-Hinschauen [ist es] nicht getan; sondern die Schüler müssen doch erst sehen lernen, sich im Sehen üben. Und genauer: nicht bloß das Sehen muss gelernt und geübt werden, sondern auch das damit zu verschmelzende Fühlen und Vorstellen. Sonst bliebe ja das Sehen blind und leer.« 69 Zu einem konkreten Übungsfeld des Sehenlernens wird der künstlerische Wandschmuck, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Empfänglichkeit für das Schöne heranbilden soll. Er markiert das Feld, mit dem ästhetische Vermittlungsprozesse konstitutiv schulisch und damit kulturell verankert werden sollten.

IV. Erfahrungsfelder des Sehens: Der künstlerischer Schulwandschmuck »Auch dem Auge muß echte und große Kunst gezeigt werden, und das Kind muß auch einen Schatz guter Bilder verstorbener und lebender Meister in sein Gedächtnis und sein Herz aufnehmen, und zwar in der Weise, daß es dadurch lernt, echte Kunst zu sehen und zu genießen.« 70 Geleitet von dieser Zielsetzung beginnen viele Schulen ihre Klassenzimmer mit künstlerischem Wandschmuck auszustatten. 71 Die zuvor nur spärlichen Bezüge zur Kunst im Klassenraum sollen durch eine wahre Bilderschau von Reproduktionen etablierter Kunstwerke aus der Geschichte der Malerei und Lithographien von zeitgenössischen Künstlern ausgeglichen werden. Der Wandschmuck steht im Dienst der harmonischen Ausbildung der Schüler – die Wandschmuckbilder erhalten die Aufgabe, dem Schulraum eine künstlerische Atmosphäre zu verleihen, den Kunstsinn zu wecken und das Sehen zu befördern. Neben den dekorativen Zweck tritt eine implizite Form der »Imprägnierung« mit Kunst, die von dem Gedanken geleitet ist, dass eine Präsentation »guter« Kunst in den Schulräumen ohne direkt vollzogene erzieherische Akte den Schüler »am besten vor hohler und Johannes Volkelt, Kunst und Volkserziehung, München 1911, 54 f. B. Breull, Kunstpflege in der Schule, Dresden 1901, 7. 71 Näheres zur Wandschmuckbewegung: Ina Katharina Uphoff, Der künstlerische Schulwandschmuck im Spannungsfeld von Kunst und Pädagogik, Berlin 2003. 69 70

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Abb. 11 (links): Julius Bergmann, An der Tränke; Abb. 12 (rechts): Helmuth Eichrodt, Droben stehet die Kapelle.

nichtiger Scheinkunst« 72 bewahren könne. »Wird das Auge an gute Farbenharmonien gewöhnt und an originelle Farbtöne, so wird es von selbst allem Hässlichen und Trivialen gegenüber sich ablehnend verhalten.« 73 Die Bilder, die für die Ausschmückung der Klassenzimmer hergestellt werden, sind durch ihr ästhetisches Element definiert, das unter der Maxime »Kunst ins Volk, Kunst in die Schule« 74 um 1900 einen hohen Stellenwert erhält. Über die Schule hinaus gilt der Wandschmuck als übergreifendes Mittel, die Kunst dem Volke näherzubringen. Das Ziel wird im »genußfreudigen Augenmenschen« 75 erblickt. »Nicht, was sie zeigen, sondern wie sie es zeigen, ist die Haupt-

Max Spanier, Künstlerischer Bilderschmuck für Schulen, Leipzig 31902, 32. Fritz Stahl, Künstlerischer Wandschmuck für die Schule und im Hause, in: Die Kunst im Leben des Kindes, Katalog der Ausstellung im Hause der Berliner Secession März 1901, Leipzig und Berlin 1901, 28. 74 Handbüchlein des Schulwandschmucks, Leipzig o. J., 4a. 75 Alfred Lehmann, Vom künstlerischen Wandschmuck und seiner Betrachtung, in: Das Schulzimmer, 4. Jg. (1906), 50. 72 73

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sache, nicht das Detail, sondern die Gesamterscheinung, nicht das Wissenschaftliche, sondern das Künstlerische.« 76 Anfang des 20. Jahrhundert bringen unterschiedliche Verlagshäuser künstlerischen Wandschmuck »für Schule und Haus« auf den Markt. Die Aktivitäten werden angeregt und forciert durch den ersten Kunsterziehungstag im Jahre 1901, auf dem der Frage nach dem Schulwandschmuck ein eigener Tagesordnungspunkt gewidmet wird. Dadurch erhalten die Schmuckbilder nicht nur ihre Legitimation, sie werden auch zum Gegenstand einer breiten pädagogischdidaktischen Diskussion, die sich in vielfältigen Publikationen niederschlägt. 77 In Abgrenzung zum minderwertigen, trivialen Bildmaterial und dem vielfach beklagten Hang zur Imitation 78 wird vor allem der künstlerische Eigenwert des Wandschmucks betont. Herausgestellt werden insbesondere die sogenannten Künstlersteinzeichnungen, denen der Status des »Originalen« 79 zugesprochen wird. Vor allem zwei Leipziger Verlage nehmen eine Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Künstlersteinzeichnung ein: der B. G. Teubner Verlag sowie der R. Voigtländer’s Verlag. Die in diesen Verlagshäusern seit 1901 herausgegebenen Steindrucke stehen in engem Zusammenhang mit dem 1896 gegründeten »Karlsruher Künstlerbund«, der seine Bildwerke bereits 1900 in einem ersten Katalog zusammenfasst und auf

Fritz Stahl, Künstlerischer Wandschmuck in Schule und Haus, in: Lili Droescher, Otto Feld u. a. (Hg.), Die Kunst im Leben des Kindes. Ein Handbuch für Eltern und Erzieher, Berlin 1902, 72. 77 Siehe u. a. Max Spanier, a. a. O. Ders., Künstlerischer Bilderschmuck für Schulen, in: Vierteljahresschrift für pädagogische Reform, 1. Jg. (1904), 49–52. Max Semrau, Künstlerische Anschauungsbilder, in: Die Lehrmittel der Deutschen Schule, 4. Jg. (1904), 38–39. Anton Herget, Das Betrachten künstlerischer Bilder in der Schule, Leipzig u. a. 1916. Franz Hertel, Wandschmuck und Anschauungsbilder, in: Pädagogische Studien, 24. Jg. (1903), 218 f. Fr. Frenzel, Bilderschmuck im Schulzimmer, in: Das Schulzimmer, 1. Jg. (1903), 95–106. 78 Der Hang zur Nachahmung erstreckt sich vom bronzierten Gips über Öldrucke bis hin zur Imitation von Marmorplatten durch einen entsprechenden Wandanstrich. Siehe hier z. B.: Richard Goeßler, Erziehung zur Kunst, Wismar/M. 1906, 15, oder Wilhelm Kotzde, Kunstblätter, in: Pädagogische Zeitung, 33. Jg. (1904), 978. Vgl. auch Helmut G. Schütz, Anfänge der originalen Kunstbetrachtung im Unterricht, in: Johannes Kirchenmann (Hg.), Ikonologie und Didaktik, Weimar 1999, 240 f. 79 Vgl. Die farbige Künstlerlithographie und ihre Bedeutung für die künstlerische Kultur, Leipzig o. J., S. III. 76

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Abb. 13 (oben): Walter Strich-Chapell, Lieb Heimatland ade; Abb. 14 (unten): Walter Strich-Chapell, Der Türmer.

verschiedenen Ausstellungen sowie im September 1901 auf dem ersten Kunsterziehungstag der Öffentlichkeit vorgestellt. 80 Die Künstlerlithographien zeichnen sich durch eine anschauliche Formensprache aus, die mit der Volkstümlichkeit der Bildinhalte korrespondiert. Aus zeitgenössischer Sicht liefern diese Werke »ein

Angesichts der Anerkennung, die die Steinzeichnungen in kürzester Zeit bei Pädagogen und Kunstverständigen fanden, integrierten auch andere Verlagshäuser die Künstlerlithographien in ihr Verkaufsprogramm. Als Beispiel dafür kann der Leipziger Wandschmuck-Verlag Merfeld & Donner angesehen werden. Siehe dazu auch: Winfried Müller, Originallithographien als Wandschmuck um 1900. Die Künstlersteinzeichnungen des Leipziger Verlages Merfeld & Donner, in: Christa Pieske / Konrad Vanja / Detlef Lorenz / Sigrid Nagy (Hg.), Arbeitskreis Bild Druck Papier. Tagungsband Dresden 2005, Münster u. a. 2006, 13–31.

80

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Stück echter Heimatkunst« 81, und die Verlage sehen ihre Arbeit als wesentlichen Beitrag zur Stärkung der künstlerischen Kultur in Deutschland. 82 Sie formulieren das Ziel, die »Zeit ungesunder, oberflächlicher verkrampfter Kunstschöpfungen einer Treibhauskultur« 83 zu überwinden und demgegenüber wieder »echte Kunst« zu fördern. Diese Kunst soll über das Sehen in ihrem Wert erfasst und empfunden werden können und dazu bedarf es – gerade »bei den stumpfäugigen Stadtkindern« 84 – einer »Gewöhnung des Auges, sich tief in die Bilder hineinzusehen« 85, wie es Kaethe Kautzsch in ihrer Anleitung zur Betrachtung der Künstlerlithographien betont. Die Gewöhnung würde den Kindern schließlich auch für ihre Lebenswelt die Augen öffnen. So wird über den künstlerischen Wandschmuck eine »Übung im genauen Sehen« angestrebt, die Kinder sollen an ihnen lernen »die Zeichensprache des Künstlers mit dem Auge [zu] beherrschen« 86. »Das unserer Generation so vollständig abhanden gekommen[e]« Vermögen, »des Sehens von Bildern« 87 steht mit dem künstlerischen Wandschmuck im Fokus des kunsterzieherischen Strebens. Passend dazu werden Bildbesprechungen auf den Markt gebracht, die das Sehenlernen unterstützen und zum künstlerischen Genießen führen sollen. 88 Zugleich werden wissenschaftliche Unter-

Künstlerische Steinzeichnungen als Wandschmuck für Schule und Haus, in: Pädagogische Studien, 23. Jg. (1902), 194. 82 Vgl. Handbüchlein des Schulwandschmucks, 4 a. 83 Künstler-Steinzeichnungen, Federzeichnungen, Schattenbilder: Katalog des Verlages B. G. Teubner, Leipzig/Berlin o. J., 1. An dem Projekt »Künstlerischer Wandschmuck für Schule und Haus« der Verlage Teubner und Voigtländer sind namhafte Künstler beteiligt, wie z. B. Friedrich Kallmorgen (1856–1924), Gustav Kampmann (1859–1917), Karl Biese (1863–1926), Arthur Kampf (1864–1950), Walter Georgi (1871–1924), Walter Strich-Chapell (1877–1960) oder Michael Zeno Diemer (1867– 1939). Das Angebot der Verlage besteht aus Bildern mit religiösen Motiven, geschichtlich orientierten Darstellungen, Stadtansichten, Dorfszenen oder Portraits sowie aus Werken, die eine Real- oder Ideallandschaft künstlerisch präsentieren. Die Künstlerlithographien zeichnen sich durch eine anschauliche Formensprache aus, die mit der Volkstümlichkeit der Bildinhalte korrespondiert. 84 Kaethe Kautzsch, Versuche in der Betrachtung farbiger Wandbilder mit Kindern, Leipzig 1903, 4. 85 Ebd., 4 f. 86 Ebd., 4. 87 Leipziger Lehrerverein (Hg.), Bildbetrachtungen. Arbeiten aus der Abteilung für Kunstpflege des Leipziger Lehrervereins, Leipzig 1906, 2. 88 Siehe neben den Bildbetrachtungen des Leipziger Lehrervereins und den Versuchen in der Betrachtung farbiger Wandbilder mit Kindern von Kaethe Kautzsch 81

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suchungen zur ästhetischen Wahrnehmung und Urteilskraft des Kindes forciert. Pädagogen und Kunsterzieher greifen interessiert auf die Ergebnisse der Psychologie, insbesondere der um die Jahrhundertwende aufblühenden experimentellen Pädagogik Ernst Meumanns zurück. 89 Das Sehen soll durch den künstlerischen Wandschmuck mitunter zu einer ästhetischen Erfahrung werden, die den Sinn für das Schöne wecken und eine ästhetische Subjektivität »anrufen« soll. Über das Ästhetische hinaus, ist das intendierte Sehenlernen hier aber zugleich eine Praxis der Erziehung des Blicks, die das Verständnis von Bildern insgesamt öffnen und den Blick für die Kunst normierend gestalten soll. 90

V.

Schluss

»Unsere Augen sind sehender geworden«, heißt es 1906 im Vorwort zu den »Bildbetrachtungen« von der Abteilung für Kunstpflege des Leipziger Lehrervereins. Sehender im Hinblick auf die – diagnostizierten – Belange der Zeit, die Notwendigkeit des kunsterzieherischen Auftrags und der Wirkmacht der Kunst. Das Sehen hat sich Anfang des 20. Jahrhunderts quasi selbst »in den Blick« genommen und den Menschen als Sehenden neu in der Welt verortet. Entgegen der industriellen Zurichtung, der Flüchtigkeit der Bilder und der Optimierung der Augen als physiologisches Organ in Arbeitsprozessen, wird das Sehen gleichsam neu definiert. Dabei ist es nicht die Selbstzweckhaftigkeit, sondern das erzieherische Moment, das den Diskurs bestimmt. Das Spektrum der Ziele reicht von der sittlichen Veredelung bis hin zur Steigerung des Ansehens der deutschen Nation, um auf diesem Wege dem Lichtwark’schen Ideal vom »Deutschen der auch z. B. Anton Herget, Das Betrachten künstlerischer Bilder in der Schule, Leipzig u. a. 1916. 89 Nur beispielhaft soll hier genannt werden: O. Hasserodt, Bilderunterricht, in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik, 14. Jg. (1913), 210–222 und 276–290; Ernst Meumann, Ästhetische Versuche mit Schulkindern, in: Wilhelm August Lay, Ernst Meumann (Hg.), Die experimentelle Pädagogik, 3. Bd., Leipzig 1906, 74–88; siehe auch Gustav Dehning, Bilderunterricht. Versuche mit Kindern und Erwachsenen über die Erziehung des ästhetischen Urteils, Leipzig 1912. Rudolf Schulze, Die Mimik der Kinder beim künstlerischen Genießen, Leipzig 1906. 90 Vgl. Ina Katharina Uphoff, a. a. O., 141 ff.

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Zukunft« 91 näher zu kommen. Und so bleibt auch die zu präsentierende Kunst als Objekt für den Sehenden nicht der Willkür überlassen, sondern leistet einem normierenden Kunstverständnis Vorschub.92 Und dennoch ist die Forderung des Sehenslernens mehr als eine pädagogische Zurichtung, sie ist Ausdruck einer widersprüchlichen Moderne, die sich selbst im Sehen zwischen Modernisierung und Restauration neu bestimmt.

Vgl. den Vortrag Lichtwarks auf dem ersten Kunsterziehungstag: Alfred Lichtwark, Der Deutsche der Zukunft, in: Kunsterziehung. Ergebnisse und Anregungen, a. a. O., 39–57. 92 Vgl. Ina Katharina Uphoff, a. a. O., 163 ff. 91

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Sehstörungen und Sehhilfen. Eine Miszelle zur Philosophie des Sehens

I. Sehstörungen wie Sehhilfen gibt es in großer Vielgestaltigkeit: Sehstörungen können sowohl vorübergehender als auch dauerhafter Natur sein, sie können das Scharfsehen ebenso betreffen wie das Farbsehen oder das Sehen überhaupt, und sie können sich in äußerst vielfältiger Weise manifestieren – beispielsweise in hoher Licht- oder Blendungsempfindlichkeit, in Doppelsehen, Gesichtsfeldausfällen oder Astigmatismus, in der Wahrnehmung von Blitzen, die nur sieht, wer an einem Netzhautdefekt leidet, oder in den unterschiedlichsten Formen von Sehschwäche und Fehlsichtigkeit. Zu den Sehhilfen zählen nicht nur Brillen, Lupen, Monokel und Kontaktlinsen, sondern auch Teleskope, Mikroskope, Ferngläser und Nachtsichtgeräte und – je nachdem, wie weit man den Begriff fasst – ggf. sogar Spiegel und Magnetresonanztomographen. Ophthalmologen vermeiden meist die für ihre Zwecke zu allgemeine Rede von Sehstörungen – oder verwenden den Ausdruck »Sehstörung« allenfalls in einem ganz spezifischen Kontext. 1 Ihre Lehrbücher differenzieren viel subtiler, als es für die hiesigen Zwecke angezeigt ist, und ordnen die Vielzahl von Dysfunktionen, die das Sehen beeinträchtigen können, zumeist nach den jeweils betroffenen Organen. 2 Innerhalb der Vielzahl diagnostizierbarer visueller Eindrücke jenseits des gewöhnlichen Sehens werden mitunter auch bloß temporale Sehstörungen unterschieden etwa von Fehlsichtigkeit, wie sie insbesondere bei einer Ametropie, also einem optisch nichtidealen

So z. B. Franz Grehn (Augenheilkunde, Berlin/Heidelberg 312019, 378–380), der den Begriff der Sehstörung insbesondere für psychogene Dysfunktionen benutzt. 2 Vgl. z. B. Grehn, a. a. O.; Gerhard K. Lang, Augenheilkunde, Stuttgart/New York 62019; Georg Mehrle, Augenheilkunde für Pflege- und Gesundheitsfachberufe, München 82010. 1

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Auge, vorliegt, und von Sehschwäche, die sich beispielsweise in Gestalt von Farbsinnstörungen, Blindheit, Nachtblindheit oder Diplopie (dem zumeist durch Schielen bedingten Doppelsehen) zeigen kann. Ich werde von Sehstörungen demgegenüber in einem sehr allgemeinen Sinn sprechen und alle gemeinhin als defizitär empfundenen visuellen Eindrücke jenseits des gewöhnlichen Sehens gleichermaßen unter diesen Begriff subsumieren – wie immer die Augenheilkunde sie kategorisiert und ausdifferenziert. Sehstörungen in einem derart allgemeinen und umfassenden Sinn können Krankheitswert haben oder sogar eine Behinderung darstellen 3 – sie müssen dies aber nicht. Denn es kann sich bei einer Sehstörung auch um eine nur einmalig oder nur zeitweise auftretende, vorübergehende Abweichung vom gewöhnlichen Sehen handeln. Eine Sehstörung kann beispielsweise auch durch eine Blendung durch das Fernlicht eines entgegenkommenden Kraftfahrzeugs verursacht sein, die nur einen Moment lang andauert. Manche Sehstörungen – aber nicht alle – lassen sich durch eine Sehhilfe beheben oder kompensieren; 4 und manche Sehhilfen – aber nicht alle – dienen der Behebung oder der Kompensation einer Sehstörung. Einige Sehstörungen – Blindheit zum Beispiel – sind jedoch weder beheb- noch kompensierbar. 5 Andere lassen sich durch bestimmte Verhaltensweisen ganz oder teilweise kompensieren, die Blendung durch ein entgegenkommendes Fahrzeug zum Beispiel durch das Zusammenkneifen der Augen. Wieder andere lassen sich Als Behinderungen lassen sich solche irreversiblen Krankheiten begreifen, die sich über die gesamte verbleibende Lebenszeit des Betroffenen erstrecken; vgl. Martin Hoffmann, ›Unbefristet gültig‹ : Krankheit, Behinderung und Lebenszeit, in: Zeit – eine normative Ressource?, hg. v. Frank Dietrich / Johannes Müller-Salo / Reinold Schmücker, Frankfurt a. M. 2018, 187–200. 4 Wenn eine Sehstörung, wie zum Beispiel bei einer Kataraktoperation durch den Austausch der körpereigenen Linse, kausal so therapiert wird, dass sie hernach nicht mehr besteht, spreche ich von der Behebung einer Sehstörung. Kompensiert, aber nicht behoben ist eine Sehstörung demgegenüber dann, wenn (annähernde) Normalsichtigkeit nur besteht, solange eine geeignete Sehhilfe zum Einsatz kommt. In solchen Fällen ist das Sehen immer dann aktual gestört, wenn die zur Kompensation erforderliche Sehhilfe nicht benutzt wird, beispielsweise also eine Brille oder Kontaktlinsen nicht getragen werden. 5 Ein Blindenstock kann Blinden eine Hilfe sein, die es ihnen erlaubt, einige Auswirkungen von Blindheit – etwa die Schwierigkeit, sich im Raum zu orientieren und sicher und kollisionsfrei zu bewegen – zu kompensieren. Kompensiert werden in einem solchen Fall aber bestimmte Auswirkungen einer Sehstörung, nicht diese als solche. 3

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ganz oder teilweise mit Hilfe von Apparaten beheben oder kompensieren. Solche Apparate können körperextern zum Einsatz gelangen wie eine Brille oder eine Sonnenblende, die etwa im Auto heruntergeklappt wird, oder körperintern wie die Intraokularlinse, die bei einer Kataraktoperation als Ersatz für die getrübte körpereigene Linse eingesetzt wird. Einen Grenzfall stellen Kontaktlinsen dar, die äußerlich dem Körper hinzugefügt werden. Auf alle Gegenstände, die geeignet sind, die Funktion solcher Apparate zu übernehmen, lässt sich mit dem Begriff der Sehhilfe Bezug nehmen. Man mag an dieser Stelle einwenden, ein Begriffsverständnis, das den Begriff der Sehhilfe auf Apparate zur Kompensation oder Therapie von Sehstörungen beschränkt, sei zu eng. Denn wir sprechen beispielsweise auch davon, dass eine Kunstwissenschaftlerin, die uns die Pointe einer Lithographie von A. Paul Weber zu sehen hilft, Sehhilfe leiste, und man könnte den oralen oder schriftlichen Sprechakt, vermittels dessen uns solche Sehhilfe zuteilwird, auch als so etwas wie einen unser Sehen unterstützenden Apparat ansehen. Wer das tut und – wie es im Folgenden geschieht – den Begriff der Sehhilfe so weit fasst, dass er auch auf Hilfen dieser Art zutrifft, wird jedoch zweierlei konstatieren müssen. Erstens: Es gibt offenbar Sehhilfen unterschiedlichen Typs. Zum einen gibt es nämlich Sehhilfen, die Schwierigkeiten kompensieren, die wir beim Sehen als solchem haben. Andere Sehhilfen hingegen helfen uns bei der Überwindung von Schwierigkeiten, die sich auf das Einnehmen einer bestimmten Perspektive oder Sichtweise beziehen. Beispiele für Sehhilfen des ersten Typs sind Brillen und Kontaktlinsen, Intraokularlinsen und dergleichen mehr, aber auch Sonnenbrillen und die eben erwähnte Sonnenblende im Auto. Ich nenne solche sehenverbessernden Sehhilfen meliorativ – im Unterschied zu deiktischen Sehhilfen, die uns – wie die Erläuterungen der Kunstwissenschaftlerin – zum Beispiel in einem Bild etwas ganz Bestimmtes sehen lassen, das wir ohne sie nicht oder nicht in gleicher Deutlichkeit sehen würden. Im Unterschied zu meliorativen Sehhilfen kompensieren solche deiktischen Sehhilfen Schwierigkeiten, die sich auf das Einnehmen einer bestimmten Sichtweise auf Gesehenes beziehen: Die Unterstützung, die sie gewähren, betrifft die Bedeutung, Deutung, Interpretation – kurz: das Verständnis des Wahrnehmungsinhalts. Ist es aber wirklich sinnvoll, den Begriff des Sehens so zu verstehen, dass er auch das Einnehmen einer bestimmten Sichtweise 143 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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oder das Erlangen eines bestimmten Verständnisses einschließt? Tatsächlich geht es beim Sehen insofern stets um ein Etwas-Sehen, als wir offenbar nur dann überhaupt sehen, wenn wir etwas sehen 6 – insofern hängen das Dass des Sehens und das Was des Sehens offenkundig miteinander zusammen. Dieser Umstand erklärt, warum wir uns häufig meliorativer Sehhilfen bedienen, die uns kontrastreicher sehen lassen oder die uns Farben richtig – d. h. hier: so, wie das Gros der Sehenden sie sieht – und die Konturen von Dingen scharf sehen lassen: All dies sind insofern Verbesserungen des Sehens, als sie es uns erleichtern, visuelle Reize als irgendetwas Bestimmtes zu perzipieren und so gewissermaßen im Vollsinn zu sehen. 7 Wenn aber Sehen als solches immer schon Etwas-Sehen, d. h. identifizierendes Wahrnehmen 8 ist, dann liegt es nahe, das Erlangen eines bestimmten Verständnisses eines relativ komplexen Wahrnehmungsinhalts – eines Kunstwerks zum Beispiel – nicht als etwas zu begreifen, was kategorial verschieden ist vom identifizierenden Wahrnehmen bestimmter Formationen visueller Reize als ein A oder ein B, ein R oder ein S, sondern es als eine spezifische Form identifizierenden Wahrnehmens aufzufassen, die durch die hohe Komplexität bestimmter Wahrnehmungsinhalte bedingt und ihr angemessen ist. 9

Vgl. Karl Mertens, Nicht-Sehen. Eine kleine Typologie, in diesem Band, 40. Jenes bestimmte Etwas, das wir auf diese Weise sehen, ist allerdings immer nur eine Konstellation von Aspekten der Wirklichkeit, nicht das Ganze eines Dinges: »Die ›gesehenen‹ Dinge sind immer schon mehr als was wir von ihnen ›wirklich und eigentlich‹ sehen.« (Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, in: ders., Cartesianische Meditationen / Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [= Gesammelte Schriften, hg. v. Elisabeth Ströker, Bd. 8], Hamburg 1992, [separat paginiert:] 51) 8 Zur Abgrenzung der identifizierenden Wahrnehmung von anderen basalen Weisen des Wahrnehmens vgl. Verf., Was ist Kunst? Eine Grundlegung (1998), Frankfurt a. M. 2014, 52 ff. 9 Für einen noch weiter gefassten Begriff des Sehens siehe zum Beispiel Edmund Husserl (Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Nachwort [1930] [= Gesammelte Schriften, hg. v. Elisabeth Ströker, Bd. 5], Hamburg 1992), der zum »unmittelbare[n] ›Sehen‹« »nicht bloß das sinnliche, erfahrende Sehen« rechnet, »sondern das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein welcher Art immer« (ebd., 43) und solches »›assertorische‹ Sehen […] unterscheidet von einem ›apodiktischen‹ Sehen, vom Einsehen eines Wesens oder Wesensverhaltes« (ebd., 317 f.). 6 7

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Sehstörungen und Sehhilfen

Das, was wir derart dank einer Sehhilfe – oder als Normalsichtige auch ohne sie – sehen, ist zwar etwas Bestimmtes, aber in aller Regel kein abgeschlossenes Ganzes. Denn Sehen ist, wie Husserl hervorgehoben hat, »ein kontinuierlicher Prozeß«, in dessen Verlauf immer »neue Unterschiede […] sehr mannigfaltig auftreten«: […] jede Phase ist selbst schon ein Sehen, aber eigentlich ist in jeder das Gesehene ein Anderes. Ich drücke das etwa so aus: das reine Sehding, das Sichtbare ›vom‹ Ding, ist zunächst seine Oberfläche, und diese sehe ich im Wandel des Sehens einmal von dieser ›Seite‹ und einmal von jener, kontinuierlich wahrnehmend in immer wieder anderen Seiten. Aber in ihnen stellt sich für mich in einer kontinuierlichen Synthese die Oberfläche dar, jede ist bewusstseinsmäßig eine Darstellungsweise von ihr. […] Jede Seite gibt mir etwas vom Sehding. Im kontinuierlichen Wandel des Sehens hört eben die gesehene Seite zwar auf, wirklich noch gesehen zu sein, aber sie wird ›behalten‹ und mit den von früher fortbehaltenen ›zusammengenommen‹, und so ›lerne‹ ich das Ding ›kennen‹. […] ›Das‹ Ding selbst ist eigentlich das, was niemand als wirklich gesehenes hat […]. 10

Im Übrigen ist das, was wir – ob mit oder ohne Sehhilfe – sehen, nicht notwendigerweise ein Ding, das sich an einer bestimmten Raumzeitstelle befindet: »Wir sehen nicht nur Hände, sondern auch Handbewegungen, nicht nur Verkehrsampeln, sondern auch Verkehrsunfälle. Das Objekt des Sehens ist also manchmal ein Ereignis, etwas, das irgendwann irgendwo stattfindet.« 11 Und wir können nicht nur ein Geschehen wie das Hellwerden am Morgen, wenn wir nach dem nächtlichen Schlaf die Augen aufschlagen, sehen, sondern auch einen Zustand oder Sachverhalt wie zum Beispiel das Hellsein zu einer bestimmten Tageszeit. 12 Zweitens: Auch ein Begriff der Sehhilfe, der meliorative und deiktische Sehhilfen umfasst, ist offensichtlich noch nicht weit genug. Denn als Sehhilfen dienen uns im Alltag auch solche Apparate, die weder der Behebung noch der Kompensation von Sehstörungen dienen noch uns eine bestimmte Sichtweise auf einen Wahrnehmungsinhalt eröffnen, sondern uns vielmehr Seherlebnisse ermöglichen, die auch Normalsichtige ohne apparative Unterstützung nicht

Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, a. a. O., 160 u. 167. 11 Wolfgang Künne, Sehen, in: Logos N.F. 2 (1995), 103–121, 107. 12 Darauf hat Gernot Böhme auf dem Würzburger Symposion eindrücklich hingewiesen. 10

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zu haben vermöchten. Solche Sehhilfen, die den Bereich des Sichtbaren auch für Normalsichtige erweitern, bezeichne ich als dilatativ. Man mag hier zum Beispiel an ein Rasterelektronenmikroskop 13 denken; aber auch eine nicht zur Kompensation extremer Schwachsichtigkeit dienende Lupe, ein Röntgenapparat oder ein Magnetresonanztomograph gehören zu den dilatativen Sehhilfen. Indem sie visuelle Eindrücke ermöglichen, die außerhalb des Bereichs der ohne ihre Unterstützung möglichen visuellen Eindrücke liegen und uns womöglich sogar eine augmented reality erschließen, die wir ohne sie nicht zu sehen vermöchten, 14 erweitern sie das Spektrum dessen, was wir sehen können. Und indem sie uns visuelle Eindrücke auf eine neuartige oder ungewöhnliche Weise verschaffen, eröffnen uns dilatative Sehhilfen außergewöhnliche Möglichkeiten des Sehens – modal wie inhaltlich.

II. Eines haben alle Sehhilfen, welchem Typ auch immer sie zuordenbar sein mögen, gemeinsam: Sie lassen uns besser sehen, als wir ohne sie zu sehen vermöchten, oder mehr sehen, als wir ohne sie zu sehen vermöchten – oder beides. Was es heißt, dass sie uns besser sehen lassen, als wir ohne sie zu sehen vermöchten, liegt auf der Hand. Besser sehen lässt ein Apparat uns dann, wenn er uns Seherlebnisse ermöglicht, die den SeherlebDas Sehen, das uns ein Rasterelektronenmikroskop eröffnet, ist freilich ein geradezu paradigmatisches Beispiel für ein stark ›theoriebeladenes‹ Sehen, als das man seit Hanson und Kuhn auch alltägliches Sehen hat begreifen wollen: »There is a sense […] in which seeing is a ›theory-laden‹ undertaking. Observation of x is shaped by prior knowledge of x.« (Norwood Russell Hanson, Patterns of Discovery. An Enquiry into the Conceptual Foundations of Science, Cambridge 1958, 19; zur Debatte über die Theoriebeladenheit des Sehens siehe Matthias Adam, Theoriebeladenheit und Objektivität. Zur Rolle von Beobachtungen in den Naturwissenschaften, Frankfurt a. M./ London 2003, 51 ff.) Macht man sich diesen Umstand bewusst und vergegenwärtigt man sich, dass theoriebeladenes und sichtweisenabhängiges Sehen zumindest in manchen Fällen womöglich nur ein schmaler Grat trennt, wird deutlich, dass sich zwischen deiktischen und dilatatorischen Sehhilfen nicht in jedem Fall eine scharfe Trennlinie ziehen lässt. 14 Paul Milgram u. a., Augmented Reality: A Class of Displays on the Reality-Virtuality Continuum, in: Proceedings of SPIE [Society of Photo-Optical Instrumentation Engineers], Bd. 2351: Telemanipulator and Telepresence Technologies (1994), 21. Dezember 1995, 282–292; doi: 10.1117/12.197321. 13

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nissen Normalsichtiger, die ihn nicht benutzen, ähnlicher sind, als unsere Seherlebnisse es ohne seine Benutzung wären. 15 Alle Apparate, die Sehstörungen beheben oder kompensieren, sind Beispiele für Sehhilfen, die uns in diesem Sinn besser sehen lassen. Eine Brille, die eine Sehstörung erzeugt, weil wir durch sie weniger scharf oder weniger klar sehen als ohne sie, ist hingegen – jedenfalls für denjenigen, für den das gilt – keine Sehhilfe. Hier wird deutlich, dass die Annahme, dass es auch deiktische Sehhilfen gibt, weil auch das Einnehmen einer bestimmten Sichtweise auf einen Wahrnehmungsinhalt als ein Sehen aufgefasst werden kann, zur Konsequenz hat, dass der Begriff der Normalsichtigkeit unter Umständen auch die normative Auszeichnung bestimmter Sichtweisen auf Wahrnehmungsinhalte bzw. bestimmter Verständnisse von Wahrnehmungsinhalten als richtig impliziert. Stellen wir uns vor, dass ein übelmeinender oder im Irrtum befindlicher Beifahrer dem Fahrer eines Kraftfahrzeugs ansinnt, ein »Vorfahrt-beachten!«-Schild an der Einmündung einer untergeordneten Straße in eine Vorfahrtsstraße als ein Kunstwerk zu sehen, dem keine verkehrsregelnde Bedeutung zukommt, so dass er als von rechts Kommender vorfahrtberechtigt sei. Die entsprechende Äußerung des Beifahrers werden wir selbst dann, wenn sie nicht zu einem Verkehrsunfall führt, nicht als Sehhilfe auffassen – jedenfalls dann, wenn wir in einem sehr weit gefassten Sinn normalsichtig sind –, weil wir wissen, dass die Äußerung des Beifahrers ein falsches Verständnis des in Rede stehenden Wahrnehmungsinhalts nahelegt. Wer den Begriff der Normalsichtigkeit auch von schwach normativen derartigen Konnotationen freihalten will, muss deshalb, wie mir scheint, auf die Subsumtion des Einnehmens von Sichtweisen und des Auffassens-als unter den Begriff des Sehens verzichten. Ein solcher Verzicht ist jedoch mit der Annahme, dass menschliches Sehen immer auch identifizierendes Wahrnehmen ist, nicht leicht zu vereinbaren. Mehr sehen lassen uns Apparate hingegen dann, wenn sie uns visuelle Eindrücke ermöglichen, die auch ein Normalsichtiger ohne sie nicht zu erlangen vermöchte. Das ist beispielsweise beim (Rasterelektronen-)Mikroskop oder bei einem Magnetresonanztomogra-

Diese Charakterisierung des Besser-Sehens lässt die Möglichkeit außer Betracht, dass uns ein Apparat zu Seherlebnissen befähigen kann, die außerhalb des Spektrums derjenigen Seherlebnisse liegen, zu denen Normalsichtige befähigt sind. Diese Möglichkeit findet im Folgenden als die Möglichkeit, dass uns ein Apparat mehr sehen lässt, Berücksichtigung. 15

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phen der Fall. Aber auch eine Milchglasscheibe und ein Kaleidoskop ermöglichen uns visuelle Eindrücke, die auch ein Normalsichtiger ohne sie nicht zu erlangen vermöchte. Dennoch erachten wir sie ebenso wenig als Sehhilfen, wie wir eine Brille als Sehhilfe gelten lassen würden, die uns die Welt buchstäblich rosarot erscheinen ließe – so verführerisch es womöglich wäre, sich ihrer zu bedienen. Die soeben gegebene Charakterisierung bedarf deshalb einer Ergänzung, die sie präzisiert: Ein Apparat, der uns visuelle Eindrücke ermöglicht, die auch ein Normalsichtiger ohne ihn nicht zu erlangen vermöchte, kann nur dann Anspruch auf den Titel einer Sehhilfe erheben, wenn er uns visuelle Eindrücke der Wirklichkeit ermöglicht, die auch ein Normalsichtiger ohne ihn nicht zu erlangen vermöchte. Der Begriff der Sehhilfe impliziert insofern die Unterstellbarkeit einer Realität, die von niemandes Sehen abhängig ist und als Maßstab dafür in Anspruch genommen werden kann, ob ein Apparat, der uns visuelle Eindrücke ermöglicht, die auch ein Normalsichtiger ohne ihn nicht zu erlangen vermöchte, eine Sehhilfe ist oder nicht. Wenn im Folgenden von Sehhilfen die Rede ist, die uns mehr sehen lassen, als wir ohne sie sehen würden, sind deshalb stets Apparate gemeint, die uns visuelle Eindrücke von Aspekten der Wirklichkeit ermöglichen, die auch ein Normalsichtiger ohne sie nicht zu erlangen vermöchte.

III. Sehhilfen lassen uns, wenn das bisher Gesagte einzuleuchten vermag, besser sehen, als wir ohne sie sehen würden, oder uns Aspekte der Wirklichkeit sehen, die wir ohne sie nicht sehen würden – oder beides. Das ist in meinen Augen ein zentraler, aber eben auch nur ein zentraler Aspekt dessen, was für Sehhilfen konstitutiv ist. Mindestens ein weiterer kommt, so scheint mir, hinzu: Das, was überhaupt erst zu sehen oder aber besser zu sehen Sehhilfen uns verstatten, kann grundsätzlich auch von anderen Sehern gesehen werden, auch von solchen, die keine Sehhilfe benötigen oder sich einer anderen Sehhilfe bedienen. Es kann sein, dass es nicht jedem Sehenden möglich ist, es zu sehen, und es kann auch sein, dass nicht jede Sehhilfe es zu sehen ermöglicht, es muss aber doch auch von anderen und auch mit anderen Sehhilfen gesehen werden können, wenn das Instrument, das es uns zu sehen ermöglicht, mit Fug und Recht eine Sehhilfe soll genannt werden können. Das ist eine durchaus folgenreiche 148 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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Feststellung. Wenn sie zutrifft, sind nämlich Sehhilfen weder Instrumente, die Gesehenes als solches allererst konstituieren, noch sind sie Instrumente, die es jemandem ermöglichen, sehend etwas zu konstituieren, was von anderen nicht gesehen werden kann. Das schließt nicht aus, dass die sehenanleitenden Hinweise einer Kunstwissenschaftlerin oder die mir von meiner Augenärztin verordnete sehenverbessernde Brille Sehhilfen sind, die sich in ganz spezifischer Weise für eine ganz bestimmte Person eignen und nicht jeder anderen ebenso dienlich wären wie ihr. Es schließt aber aus – und das scheint mir auch im Einklang mit unserem Alltagsverständnis einer Sehhilfe zu stehen –, dass wir solche sehenanleitenden Hinweise einer Kunstwissenschaftlerin als eine Sehhilfe ansehen, die eine Sehweise insinuieren, die kein Dritter, der das fragliche Kunstwerk betrachtet, nachzuvollziehen vermag. Sehen ist insofern nicht nur ein wirklichkeitsbezogenes Geschehen, sondern auch ein soziales Geschehen, das ohne ein gewisses Maß an Übereinstimmung des von unterschiedlichen Sehern und mit unterschiedlichen Mitteln Gesehenen nicht das wäre, was es ist.

IV. Dass Sehhilfen weder Instrumente sind, die Wahrnehmungsinhalte als solche allererst konstituieren, noch Instrumente, die es jemandem ermöglichen, sehend etwas zu konstituieren, was von anderen nicht gesehen werden kann, scheint mir eine für die Philosophie des Sehens wichtige Einsicht zu sein. Denn sie legt nahe, nur mit äußerster Vorsicht davon zu sprechen, dass Sehen eine Praxis des Erzeugens sei. Und sie legt darüber hinaus, wie mir scheint, nahe, dieselbe Vorsicht auch auf die allgemeinere Annahme auszudehnen, dass Sehen eine Praxis sei – jedenfalls dann, wenn wir vereinbaren, den Begriff der Praxis dahingehend zu verstehen, dass er auf menschliches Handeln verweist. Nehmen wir zum Schluss noch einmal solche Sehstörungen in den Blick, die jemanden nicht nur temporär im Sehen behindern, durch die Benutzung einer Sehhilfe jedoch kompensiert werden können. Wer an solchen Sehstörungen leidet und deshalb auf eine meliorative Sehhilfe angewiesen ist, verfügt gegenüber einem Normalsichtigen, der solcher Hilfe nicht bedarf, über einen in sehsystematischer Hinsicht interessanten Vorteil: Er kann (sein) Sehen als eine Hand149 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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lung erfahren. Denn es liegt, wenn die Sehstörung nur gravierend genug ist, an ihm, ob er sieht oder nicht – liegt es doch an ihm, ob er zur Brille greift, sich geeignete Kontaktlinsen einsetzt, sich einer Kataraktoperation unterzieht oder auf alles Derartige verzichtet. Wer keine hinreichend massive Sehstörung hat (und sich, das sei vorausgesetzt, im Modus des Wachseins befindet), muss sich hingegen dem Sehen als solchem durch das Ergreifen besonderer Maßnahmen gezielt verweigern, um nicht zu sehen. 16 Er muss zumindest den Blick abwenden, die Augen niederschlagen oder schließen, um jemanden oder etwas nicht zu sehen. Oder aber er muss sich geeigneter Apparate bedienen, um das bei ihm ohne solche Maßnahmen ansonsten unwillkürlich sich einstellende Sehen zu verhindern, das sich bei dem, der an einer hinreichend schweren Sehstörung leidet, nur dann einstellt, wenn er handelt: nämlich im buchstäblichen oder übertragenen Sinn zu einer geeigneten meliorativen Sehhilfe greift. Vorwerfbar ist Nichtsehen deshalb nur dem, der als Sehbehinderter eine ihm mögliche sehenermöglichende Handlung unterlässt oder als Normalsichtiger eine Handlung vornimmt, die verhindert, dass er sieht. 17 Dass die Feststellung, jemand habe jemanden übersehen, immer schon einen zumindest leichten Vorwurf impliziert, hat vermutlich darin seinen Grund: Weil wir wissen, dass es zum Sehen im Normalfall keines besonderen Zutuns bedarf, unterstellen wir dem, der jemanden übersieht, ebenso eine entsprechende Absicht wie dem, von dem wir mit einem Ausdruck, der unmittelbar auf ein absichtliches Tun verweist, sagen, er habe weggesehen. Man mag argwöhnen, dass ein Begriff des Sehens, der Sehen nicht als Handlung fasst, nicht zu erklären vermag, warum Sehen erlernt werden muss. Der Verdacht lässt sich entkräften, wenn wir uns einen entscheidenden Unterschied vergegenwärtigen zwischen Sehen als solchem und dem Einnehmen einer bestimmten Sichtweise auf einen Wahrnehmungsinhalt, das sich auch als ein Sehen aufDieser Umstand mag ein Grund dafür sein, dass Augenzeugen gemeinhin besonders großes Vertrauen entgegengebracht wird. 17 Anders als Nichthören oder Schlechthören ist Nicht- oder Schlechtsehen zudem auch schwerlich Dritten vorwerfbar; denn bessere Sichtbarkeit lässt sich nicht in ähnlicher Weise wie bessere Hörbarkeit durch absichtsvolles Tun wie zum Beispiel lauteres Sprechen oder das Erzeugen lauterer Geräusche oder Klänge hervorbringen. Wer schlecht sieht, kann deshalb dafür in der Regel keinen Dritten, insbesondere keinen Interaktionspartner verantwortlich machen. Vermutlich ist das ein Grund dafür, dass meliorative Sehhilfen weitaus größere Akzeptanz finden als Hörgeräte. 16

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fassen lässt: Das Einnehmen einer bestimmten Sichtweise kann (und muss wahrscheinlich auch) erlernt werden. Sehen als solches hingegen ist nichts, was allererst erlernt werden müsste oder sich auch nur erlernen ließe. Sehen als solches ist keine Handlung, sondern ein Geschehnis, das uns im Normalfall 18 unwillkürlich widerfährt 19 – freilich nicht in der Art eines Ereignisses, das uns in einem bestimmten Moment überkommt, sondern in der Art eines ständigen Begleitens, als das es uns vor allem dann ins Bewusstsein tritt, wenn wir eine Sehstörung bemerken. 20 Das gilt auch für den, der zur Kompensation einer Sehstörung eine Sehhilfe benutzt. Hat er sich nämlich erst einmal die Brille auf- oder die Kontaktlinsen eingesetzt, kann er sich – nicht anders als der Normalsichtige – der Zudringlichkeit visueller Eindrücke nur durch eine Handlung entziehen: Er muss die Brille wieder absetzen, die Kontaktlinsen wieder herausnehmen oder die Augen durch eine Augenklappe abdecken oder sich in anderer Weise am Sehen hindern, um nicht mehr zu sehen. Sehen lässt sich insofern als eine Erfahrung begreifen, die wir im Normalfall be-

Mit dem Begriff des Normalfalls verbinde ich nur die Voraussetzungen der Normalsichtigkeit des Sehenden und des Nichtvorliegens temporärer Sehstörungen. 19 Dass Sehen sich im Normalfall unwillkürlich einstellt, heißt nicht, dass der Wahrnehmungsinhalt ein bloßer Abdruck einer extrakorporalen Realität wäre, wie etwa die von Descartes für die sinnliche Wahrnehmung verwendete Wachsmetapher es nahelegt (vgl. René Descartes, Regulae ad directionem ingenii, in: ders., Regulae ad directionem ingenii / Cogitationes privatae. Lateinisch – Deutsch, übers. u. hg. v. Christian Wohlers, Hamburg 2011, 1–187, 93 [Reg. XII]). Mit dieser Feststellung ist also keine Festlegung auf eine bestimmte Theorie des Sehens verbunden. – Für einen informativen Überblick über Theorien des Sehens, die sich im Verlauf der abendländischen Geistesgeschichte herausgebildet haben und zum Teil bis heute miteinander konkurrieren, vgl. Astrid von der Lühe, [Art.] Sehen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer u. Gottfried Gabriel, Bd. 9, Basel/Darmstadt 1995, Sp. 121–161. 20 Karl Mertens hat vorgeschlagen, Sehen als eine »sensorische Disposition« aufzufassen (a. a. O., in diesem Band, 42). Diese Charakterisierung ist meines Erachtens nur dann plausibel, wenn man annimmt, dass die Aktualisierung der Disposition insofern nicht in unserer Hand liegt, als es dazu keiner entsprechenden Handlung bedarf. Andernfalls kann die Deutung des Sehens als einer Disposition nämlich weder die Unwillkürlichkeit des Sehens normalsichtiger Menschen noch das dem Sehen eigentümliche Moment eines ständigen Begleitens aller Lebensvollzüge einsichtig machen. Plausibilisieren ließe sie sich dann allenfalls im Hinblick auf Menschen, die aufgrund von Sehstörungen auf meliorative Sehhilfen angewiesen sind. Denn nur für sie gilt, dass sie ihr Vermögen zu sehen durch den »Griff« zur Sehhilfe gleichsam aktivieren müssen, um zu sehen. 18

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Reinold Schmücker

ständig und kontinuierlich machen, ohne es zu beabsichtigen. 21 Sehstörungen, die uns auf Sehhilfen angewiesen sein lassen, helfen uns, das zu sehen. 22

Das sogenannte Blindsehen (blindsight) lässt sich vor diesem Hintergrund ohne Weiteres als eine Form von Sehen verstehen, die allerdings insofern defizitär ist, als es ihr an der Möglichkeit fehlt, das Sehen ins Bewusstsein treten zu lassen. 22 Ich danke den Teilnehmern des interdisziplinären Symposions Sehen als Erfahrung (Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 28.–29. September 2018), insbesondere Christian Bermes, Gernot Böhme, Karl-Heinz Lembeck, Karl Mertens und Eva Schürmann, für ihre vielfältigen Hinweise auf Dimensionen des Sehens und Aspekte des Umgangs mit Sehstörungen und Sehhilfen, die mir zunächst entgangen waren und die ich im vorliegenden Beitrag aufgegriffen habe. 21

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Christian Bermes

Opakes Sehen. Eine ästhetische Kritik der Transparenz

I. Wenn Sehen als Erfahrung zum Problem wird, dann werden auch die Ansprüche zum Thema, die aus dem Sehen bzw. einer Deutung des Sehens an die vielfältigen Erfahrungsmöglichkeiten gestellt werden. Menschliche Erfahrungen sind nicht unabhängig von Visualisierungsoptionen, die an die Erfahrung herangetragen werden bzw. von Verpflichtungen, die das wie auch immer interpretierte Sehen an die menschliche Erfahrung stellt. Erfahrungen können ›hell‹, ›deutlich‹, ›konturiert‹, ›trübe‹, vielleicht auch ›bunt‹, ›blass‹ bzw. ›farblos‹ sein – oder nicht sein. Erfahrungen stehen somit im Horizont von Visualisierungsoptionen. Mit Transparenz wird vielleicht kein gänzlich neuer Visualisierungsanspruch an die menschliche Erfahrung herangetragen, aber ein in der Gegenwart zumindest überaus wirkmächtiger. 1 Transparenz bezeichnet dabei keinen bestimmten Fall des Sehens, der als ein in und durch Medien gebrochenes Tiefensehen verständlich werden kann, Transparenz ist in einem aufklärerisch übertragenen Sinne auch nicht einfach als die Forderung nach Publizität zu verstehen – Transparenz ist vielmehr und geradezu im Wortsinne zu einer umfassenden Weltanschauung visueller Präsenz geworden. Grenzenlosigkeit und Anspruch einer solchen Weltanschauung zeigen sich beispielsweise darin, dass man nicht einfach gegen Transparenz argumentieren kann, ohne dabei auf Unverständnis zu stoßen. Das Transparenzgebot hat sich der Kritik entzogen. Rechtfertigen muss sich

Vgl. zur Historie und zur aktuellen Diskussion u. a.: Manfred Schneider, Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche, Berlin 2013; Emmanuel Alloa / Dieter Thomä (Hg.), Transparency, Society and Subjectivity. Critical Perspectives, Basingstoke 2018.

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Christian Bermes

einzig dasjenige, was sich der Transparenz entgegenstellt, und derjenige, der die Grenzen der Transparenz auslotet. In einem ersten nachfolgenden Teil wird dieses Weltbild exemplarisch illustriert. Bereits hier wird deutlich, dass die Forderung nach Transparenz letztlich die Aufhebung des Sinns von Transparenz bedeutet. An die Stelle einer in und durch Medien gebrochenen Tiefenwahrnehmung (als visuell erfahrbare Transparenz) tritt eine Oberflächenwahrnehmung (als visuelle Präsenz). Pointiert könnte man sagen, dass das Transparenzgebot der Gegenwart nicht Durchsichtigkeit und damit Tiefe zum Ziel hat, auch hat es nichts mit einem erlebten Umgang mit Opakem, das als in Medien gebrochen erscheint, zu tun. Transparenz meint nunmehr das allseits Präsente und die Oberfläche. Möglicherweise Verstelltes und Verdecktes soll an einer neutralen Oberfläche von allen Seiten zugänglich werden. Bereits diese Verschiebung aber würde einen Kategorienfehler in der Grammatik unserer Wahrnehmungsbegriffe anzeigen, den beispielsweise Wittgenstein in seinen Analysen zur Logik der Farbbegriffe mehrmals diskutiert, indem er die Grammatik der Wahrnehmung des Weißen von der Grammatik der Wahrnehmung des Durchsichtigen unterscheidet: »Ja, es kann auch ein in Wirklichkeit durchsichtiger Körper uns weiß erscheinen; aber er kann uns nicht als weiß und durchsichtig erscheinen.« 2 In einem zweiten Abschnitt stehen Merleau-Ponty und seine Ausführungen in Das Auge und der Geist im Mittelpunkt. Der Titel »Opakes Sehen. Eine ästhetische Kritik der Transparenz« lässt sich als eine Verdichtung der Überlegungen Merleau-Pontys lesen. MerleauPonty hat in seinem Traktat eine selbstgenügsame Transparenz der Wissenschaften im Blick, die er durch die erlebte Erfahrung des Sehens relativieren und damit auch in ihren Sinnressourcen verständlich machen möchte. Im Anschluss an diese Ausführungen kann das Transparenzgebot der Gegenwart in dem Sinne relativiert werden, dass es als eine Autosuggestion erscheint, die der sinnlichen Erfahrung widerstreitet. Der Transparenzoptimismus scheitert im Rückgang auf seine Grundlagen weniger an der Überzeugungskraft (denn als Weltanschauung muss er nicht mehr begründet werden); die sinnliche Erfahrung, das erlebte Sehen, begrenzt ihn vielmehr. Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Farben (Werkausgabe 8), Frankfurt a. M. 112008, § 146; vgl. § 153: »Von etwas, was durchsichtig ausschaut, sagen wir nicht, es schaue weiß aus.« 2

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Opakes Sehen

Der Weltanschauung der Transparenz fehlt letztlich genau das, auf das sie eigentlich setzt und das sie voraussetzt: die erlebte Erfahrung des Sehens. Einige kurze Überlegungen zum Konzept der Öffentlichkeit schließen den Gedankengang ab. Im Gegensatz zur Transparenz, die in nicht wenigen aktuellen Kontexten das maßgebliche Leitmotiv zum Verständnis von Öffentlichkeit darstellt, wird von Sichtbarkeit gesprochen. Denn öffentlich wird etwas, wenn es sichtbar wird. Sichtbares muss jedoch nicht notwendig transparent sein: Das Sichtbare verweist auf Horizonte, Schatten oder Noch-nicht-Sichtbares, die sichtbar werden können (während anderes wieder als abgeschattet mit wahrgenommen wird). Man könnte vielleicht sogar die zugespitzte These wagen, dass eine Öffentlichkeit, die allein auf Transparenz gegründet ist, sich selbst in Frage stellt. Denn im gänzlich Durchsichtigen fehlen diejenigen, die sich konstitutiv der vollständigen Transparenz entziehen: leiblich verfasste und handelnde Menschen. Diese sind auf Sichtbarkeit hin angelegt und Öffentlichkeit kann als ein Medium verstanden werden, Sichtbarkeit zu erzeugen oder zu begrenzen. Auf jeden Fall wird man in der Öffentlichkeit mit der Sichtbarkeit umgehen müssen.

II. Zuerst einige und nur wenige Beispiele aus dem Repertoire des aktuellen politischen und gesellschaftlichen Begriffsgebrauchs, die allesamt vertraut sind. Rheinland-Pfalz besitzt seit 2015 ein ›Transparenzgesetz‹. Die meisten anderen Bundesländer erließen sozusagen nur ›Informationsfreiheitsgesetze‹, Rheinland-Pfalz hingegen besitzt wie Hamburg ein ›Transparenzgesetz‹. 1993 wurde der eingetragene Verein Transparency International gegründet, dessen Anspruch wenig bescheiden ist: Die Vereinsarbeit »zielt auf mehr Transparenz und Integrität in allen öffentlichen Angelegenheiten sowie in Wirtschaft und Gesellschaft.« Neben der Politik findet sich auch in der Wirtschaft eine gesetzlich kodifizierte Transparenz. 1998 wurde das ›Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich‹ (KonTraG) vom Deutschen Bundestag beschlossen. ›Transparenz‹ und ›Kontrolle‹ sind nicht nur hier verschwistert, insofern die Herstellung von Transparenz nicht selten als Mittel formuliert wird, um Kontrolle zu ermöglichen. 155 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Christian Bermes

Das Landestransparenzgesetz von Rheinland-Pfalz klärt über die Absichten des Vorhabens auf: »Zweck dieses Gesetzes ist es, den Zugang zu amtlichen Informationen und zu Umweltinformationen zu gewähren, um damit die Transparenz und Offenheit der Verwaltung zu vergrößern. (2) Auf diese Weise sollen die demokratische Meinungs- und Willensbildung in der Gesellschaft gefördert, die Möglichkeit der Kontrolle staatlichen Handelns durch die Bürgerinnen und Bürger verbessert, die Nachvollziehbarkeit von politischen Entscheidungen erhöht, Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe gefördert sowie die Möglichkeiten des Internets für einen digitalen Dialog zwischen Staat und Gesellschaft genutzt werden.« 3 In Parenthese und am Rande sei nur auf Folgendes verwiesen. Es ist nicht neu, dass öffentliche Verwaltungen in demokratischen Gesellschaften auskunftspflichtig sind. Jetzt allerdings gestattet das Landestransparenzgesetz explizit in § 24, dass jede Behörde eine Gebühr für die Auskunft verlangen darf. Doch unabhängig von diesem Seitenblick zeigt sich die aktuelle Rhetorik durch und durch gebunden an ein spezifisches Konzept des Sehens. Erkennbar wird dies, wenn die Transparenz-Plattform, die ebenfalls im Zuge des Landestransparenzgesetzes eingerichtet wurde, werbewirksam mit dem Slogan ›EinKLICK – EinBLICK‹ beworben und die klassische Form der Einsicht auf die Einsichtnahme – nämlich die Einsichtnahme von Akten, freilich digitalisierten Akten – reduziert wird. Doch Durchsichtigkeit wird nicht nur in den Bereichen der Politik und der Wirtschaft gefordert, Transparenz ist einer der »Schlüsselbegriffe der Moderne«. So formulieren es die Herausgeber des 2010 erschienenen Bandes Transparenz. Multidisziplinäre Durchsichten durch Phänomene und Theorien des Undurchsichtigen. 4 Zu Recht machen sie darauf aufmerksam, dass sich die Forderung nach Transparenz »in so disparaten Zusammenhängen wie in der Geldpolitik, den Unternehmen, den Medien, der Sicherheit, der Gesundheit, den Menschenrechten, in der demokratischen Staatsführung oder der Umweltproblematik« 5 finde. Doch schon der Versuch der analytischen Durchdringung dieser komplexen Formen der Transparenz

Landestransparenzgesetz Rheinland-Pfalz (LTranspG) vom 27. 11. 2015, § 1. Stephan A. Jansen / Eckhard Schröder / Nico Stehr (Hg.), Transparenz. Multidisziplinäre Durchsichten durch Phänomene und Theorien des Undurchsichtigen, Wiesbaden 2010, 9. 5 Ebd. 3 4

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führt zu einer Überbietung der Transparenz: »Worauf es ankommt ist, die Ergebnisse der Transparenz durchsichtig zu machen.« 6 Es ist das Spiel der Transparenz mit sich selbst. Man könnte zwar auch erwarten, dass die Ergebnisse der Transparenz wahr oder falsch, überzeugend oder nicht überzeugend, sinnvoll oder unsinnig sind – nein, sie müssen durchsichtig sein. Byung-Chul Han und vor ihm Jean Baudrillard haben 2012 bzw. 1991 die hyperbolische Figur der Transparenz zum Gegenstand ihrer Betrachtung gemacht. Han versucht unter anderem zu zeigen, dass die gegenwärtige Transparenzidee ohne Transzendenz auszukommen sucht: »Die Transparenzgesellschaft ist durchsichtig ohne Licht«. 7 Unterscheidungen und Abstufungen, die von einer externen Lichtquelle deutlich gemacht werden könnten, werden, so eine der Thesen, in einer lichtlosen Transparenz eingeebnet. Die ebene Fläche ist das Ideal der Transparenz, nicht die Hierarchie und die Abstufung. Einige Jahre zuvor widmete sich Jean Baudrillard in seinem Essay Transparenz des Bösen. Ein Essay über Extreme Phänomene ebenfalls der Transparenz. Die schattenlosen Menschen (im Gefolge von Adalbert von Chamissos Peter Schlemihls wunderbare Geschichte) der Gegenwart sind, so die Diagnose, »durch alle Lichtquellen gnadenlos überbelichtet«; sie werden »allseits von der Technik, den Bildern, der Information beleuchtet, ohne dieses Licht brechen zu können«, sie »sind einer weißen Aktivität ausgeliefert, einer weißen Sozialität, einer Weißwäsche der Körper wie des Geldes, des Gehirns und des Gedächtnisses bis zur totalen Asepsis« 8 Man mag solche Deutungen und gelegentlich auch rhetorischen Eskapaden unterschiedlich einschätzen. Was sich aber in den sozialen und kulturellen Transparenzutopien der Gegenwart zeigt, ist etwas, was auch Merleau-Ponty im Blick hat. Es handelt sich letztlich um den Versuch eines umfassenden Verfügbar-Machens und VerfügenWollens – und zwar mit Blick auf soziale und kulturelle Praktiken. Im Namen der Transparenz wird für eine Öffentlichkeit der vollständigen Präsenz plädiert. Dafür müssen opake Erfahrungen aus der Tiefe an die Oberfläche gebracht und dort ausgebreitet und zugänglich gemacht werden. Die Hoffnung besteht dann u. a. darin, dass Ebd., 17. Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2012, 66. 8 Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über Extreme Phänomene, übersetzt von Michaela Ott, Berlin 1992, 53. 6 7

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auf dieser Oberfläche die Strukturen und Prozesse zur Gänze überschaubar sind, so dass auf sie zugegriffen werden kann. Doch von welchem Standpunkt aus ist dies möglich, wer kann einen solchen Blick oder Zugriff beanspruchen? Genau solche Überlegungen hat auch Merleau-Ponty vor Augen, wenn er die Transparenz einer selbstgenügsamen Wissenschaft kritisiert: Denn »Denken heißt jetzt, Versuche machen, Operieren und Transformieren unter dem alleinigen Vorbehalt einer experimentellen Kontrolle.« 9

III. Merleau-Ponty variiert in seinen späten Überlegungen virtuos das Husserl’sche Programm der Krisis-Schrift, um einer wissenschaftlichen Aneignung des Sehens wieder die erlebte Erfahrung des Sehens gegenüberzustellen. Dem wissenschaftlichen Denken, das als »ein Denken im Überflug« bezeichnet wird, stellt er eine Erfahrung gegenüber, die als primordial aufzufassen ist und durch die Epoché wieder freigelegt werden müsse: Es wird darauf hingewirkt, sich wieder, »in ein vorausgehendes ›Es gibt‹ zurück[zu]versetzen, in die Landschaft und auf den Boden der wahrnehmbaren Welt und der ausgestalteten Welt, wie sie in unserem Leben, für unseren Leib da sind, nicht für jenen möglichen Körper, den man – wenn man will – als eine Informationsmaschine betrachten kann, sondern für diesen gegenwärtigen Leib den ich den meinen nenne, diesen Wachtposten, der stillschweigend hinter meinen Worten und meinen Handlungen steht.« 10 Dem utopischen Denken des Sehens, das auf eine umfassende Präsenz setzt, wird die erlebte Erfahrung des Sehens als Umgang mit Sichtbarkeit gegenübergestellt. Während das gedachte Sehen von der Transparenz geleitet ist, hat es die erlebte Erfahrung des Sehens grundsätzlich mit etwas Undurchdringlichem, etwas Opakem zu tun: dem Sehenden in seiner sinnlich-leiblichen Konstitution. Wird nämlich der Leib als ein sehendes und zugleich sichtbares Ding thema-

Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. von Christian Bermes, Hamburg 2003, 275–317, hier: 275. Zum Überblick vgl. Christian Bermes, Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, Hamburg 32012. 10 Ebd., 277. 9

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tisch, das sich aus dem Wahrnehmen heraus konstituiert, in diesem Wahrnehmen aber nie ganz gegeben sein kann, so relativiert er jede Transparenz: »Das Rätsel liegt darin, dass mein Leib zugleich sehend und sichtbar ist. Er, der alle Dinge betrachtet, kann sich zugleich auch selbst betrachten und in dem, was er dann sieht, ›die andere Seite‹ seines Sehvermögens erkennen. … Es ist ein Selbst, das nicht vermittels einer Transparenz wie das Denken alles nur Erdenkliche in sich selbst aufnimmt, es als Denken konstituiert, in Denken verwandelt, sondern ein ›Selbst‹ durch eine Verwechslung, einen Narzismus, eine Verknüpfung von dem, der sieht, mit dem, was er sieht, und von dem, der berührt, mit dem, was er berührt, von Empfindendem und Empfundenem – ein ›Selbst‹ also, das zwischen die Dinge gerät, das eine Vorder- und eine Rückseite, eine Vergangenheit und eine Zukunft hat.« 11 Gemäß dem Transparenzversprechen liegt das Transparente vor uns, die erlebte Erfahrung des Sehens zeigt jedoch, dass wir nicht einfach als Sehende vor etwas stehen, sondern wir selbst als SehendSichtbares zwischen den Dingen platziert sind. Als leiblich nie ganz überschaubare Wesen erscheint das Sehen und die sinnliche Wahrnehmung dann als ein Mittel, mit dem Opaken umzugehen – die Wahrnehmung eliminiert nicht das Opake, im Wahrnehmen gehen wir mit ihm um. Das Opake ist dann kein Makel, sondern es zeichnet das erlebte Sehen selbst aus. Oder mit den Worten Blumenbergs ausgedrückt: »Der Leib verhindert nicht nur, dass wir unsichtbar sind, sondern auch, dass wir durchsichtig werden müssen. Opazität ist das Korrelat der Visibilität.« 12

IV. Simmel bemerkt in der Soziologie, dass wir »nun einmal so eingerichtet« sind, »dass wir nicht nur« »einer bestimmten Proportion von Wahrheit und Irrtum als Basis unseres Lebens bedürfen, sondern auch einer solchen von Deutlichkeit und Undeutlichkeit im Bilde un-

Ebd., 279. Hans Blumenberg, Die Beschreibung des Menschen, aus dem Nachlass hg. von Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2014, 789.

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serer Lebenselemente.« 13 Wenn Simmel darauf hinweist, dass wir nun einmal so eingerichtet sind, so könnte man auch sagen, dass das erlebte Sehen diese Erfahrung lehrt. Merleau-Ponty bemerkt in diesem Sinne in der Phänomenologie der Wahrnehmung gegen das Bestimmtheitspostulat der Sinnlichkeit in einzelnen Theorien der Psychologie folgendes: »Wir müssen uns entschließen, die Unbestimmtheit als positives Phänomen anzuerkennen. Nur im Bereich dieses Phänomens begegnen uns Qualitäten.« 14 Dies lässt sich nun variieren: Die Erfahrung des erlebten Sehens kann lehren, dass das Sehen durchaus verstanden werden kann als eine Form des Umgangs mit dem Undurchsichtigen, das wir als zugleich Sehende und Sichtbare sind. Ein solcher Umgang mit dem Undurchsichtigen bedeutet nicht die Eliminierung desselben; es bedeutet vielmehr, sich auf die Erfahrung des Sehens einzulassen. Die Qualitäten, von denen Merleau-Ponty spricht, sind dann genau dort zu suchen – in den Praktiken des Sehens. Es ist vielleicht allein die Erfahrung des erlebten Sehens, die dies zeigen kann; und es ist diese Erfahrung, die dem allumfassenden Transparenzgebot Einhalt gebietet. Vielleicht hatte dies auch schon Simmel im Blick: »Das Geheimnis, … das durch negative oder positive Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten, ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit; gegenüber dem kindischen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird, jedes Unternehmen allen Blicken zugänglich ist, wird durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht.« 15 Mit Simmel ist der Weg in die Soziologie bereits eröffnet und das Konzept der Öffentlichkeit zumindest im Ansatz in Anspruch genommen worden. Hier ist nicht der Ort, die Komplexität des Begriffs der Öffentlichkeit zu diskutieren – besonders, wenn auch die aktuellen Entwicklungen der digitalen Kommunikation in Rechnung gestellt werden. 16 Allerdings kann auf einen tragenden Pfeiler des Begriffs der Öffentlichkeit hingewiesen werden. Öffentlichkeit in Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Gesamtausgabe 11), Frankfurt a. M. 1992, 404. 14 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, 25 15 Simmel, Soziologie, a. a. O., 406. 16 Vgl. hierzu Christian Bermes, Wandel der Sprach- und Debattenkultur. Verbindlichkeit – Artikulation – Meinung, Berlin 2019. Zum Verhältnis von Öffentlichkeit und Sichtbarkeit vgl. insbesondere Volker Gerhardt, Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012, 512–542. 13

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einem prägnanten Sinne kann es nur dann geben, wenn nicht alles präsent ist. Eine gesellschaftliche Ordnung der vollständigen Präsenz wird man sich schnell ausmalen können, die daraus resultierenden politischen Konsequenzen werden die wenigsten wollen können. Öffentlichkeit gestaltet sich demgegenüber als eine Ordnung von Sichtbarkeit, die dem Umstand Rechnung trägt, dass vieles in dieser Ordnung durchaus einsichtig, aber nicht alles durchsichtig werden kann, wozu nicht zuletzt die leiblich verfassten Teilnehmer der Öffentlichkeit selbst gehören. Die Tugenden, in einer solchen Öffentlichkeit zu agieren, sind u. a. Takt und Klugheit, worauf bereits Plessner angesichts der technischen Entwicklungen seiner Zeit hingewiesen hat: »Die Weisheit des Taktes: Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen, ist der Rechtsgrund – so paradox es klingt – für die grundlosen Zwischenspiele unseres gesellschaftlichen Lebens, für das absolut Überflüssige, mit dem wir das bloß Erträgliche angenehm, spannend und reich gestalten«. 17 Die zur Tugend des Taktes gehörende Tugend des erlebten Sehens ist die Umsicht – Takt und Umsicht sind Mittel, sowohl mit dem Opaken umgehen zu können als auch Öffentlichkeit zu gestalten.

Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (Gesammelte Schriften V), Frankfurt a. M. 1981, 109.

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Andreas Dörpinghaus

Die Erziehung des Blicks – Technologien des Sehens Zur Genealogie visueller Subjektivität

Das Sehen und der Blick gehören seit jeher zu den wirkmächtigen Determinanten von Subjektivität. Es ist keineswegs marginal, als was wir unser Sehen auffassen, welche Bedeutung wir der Sichtbarkeit und dem Sichtbarmachen zuschreiben. Wir können festhalten, dass bis zum 18. Jahrhundert den visuellen Prozessen grosso modo nur eine randständige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Weitgehend wird das Sehen als eine materielle oder immaterielle Wiederholung der Welt begriffen. Noch bis in das 19. Jahrhundert hinein kommt dem Prozess des Sehens, sowie den Wahrnehmungsleistungen in ihrem Verhältnis zum Bewusstsein insgesamt, in der Regel lediglich eine dienstbare Rolle zu. Diese Verhältnisse ändern sich im Umbruch zum 19. Jahrhundert. Zunehmend rücken nicht nur die Leistungen ästhetischer Erfahrungen in den Vordergrund, sondern gleichsam im Verbund das Interesse für Anthropologie und die physiologischen Grundlagen von Wahrnehmungsprozessen. Das Sehen wird zu dem Feld, auf dem sich die Frage nach Subjektivität sowie ihrer leiblichen Fundierung verändert stellen wird. Eine transformierte Auffassung vom Sehen inspiriert in der Folge eine Vielzahl an Experimenten und Forschungen, die zu einer vermehrt quantifizierten Vorstellung des Sehvorganges und zudem zu einer Ökonomie der Sinne führen. Das Feld des Sehens wird im Zuge seiner Umschrift zu einem Dispositiv der Sichtbarkeit ausgebaut, das als stiller Erzieher des Blicks fungiert. Ich sehe nicht nur, sondern ich bin das, was ich sehe. Das Sehen wird zu einem Symptom, die Subjektivität eine Folge unserer Wahrnehmung. 1 Vgl. Andreas Dörpinghaus, Bildung der Wahrnehmung. Die Wechselwirkung zwischen Mich und Welt, in: Birgit Engel / Tobias Loemke / Katja Böhme / Evi Agostini / Agnes Bube (Hg.), Im Wahrnehmen Beziehungs- und Erkenntnisräume öffnen. Ästhetische Wahrnehmung in Kunst, Bildung, Forschung, Münster, München 2020, 65– 78; vgl. auch Lambert Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt a. M. 2009. Vgl. zudem Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Auf-

1

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Die Erziehung des Blicks – Technologien des Sehens

Die nachfolgenden Untersuchungen verfolgen zunächst in genealogischer Absicht das Interesse aufzuzeigen, wie diese Transformationen des Sehens zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehen konnten und schließlich in die Vorstellung einer visuellen Subjektivität münden. Die Genealogie bezieht sich auf Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe sowie Arthur Schopenhauer unter Rückgriff auf die Formierung der Ästhetik und der Anthropologie als je eigenständige wissenschaftliche Zugriffe etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts (I.). Verständlich werden die vielen Neuorientierungen und Experimente zum Sehen, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich prägen, allerdings erst auf der Grundlage einer visuellen Subjektivität, die sichtbar ist und sichtbar macht. In der Folge des neuen Deutungsmusters werden nicht nur die Wissenschaften, die sich mit dem Sehen befassen, experimentell modelliert und humanwissenschaftlich ausgerichtet, sondern auch die Körper werden andersartig angeordnet. Die Impulse dieser Wendung finden sich bereits im Ausgang des 18. Jahrhunderts, ihre Protagonisten jedoch, allen voran Hermann von Helmholtz, im 19. Jahrhundert. Der Konzeption des unbewussten Schlusses kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Das Sehen wird parzelliert, experimentell quantifiziert und schließlich als Psychotechnik in eine Ökonomie der Sinne überführt (II.). Das Visuelle hat eine nur ihm eigene Sichtbarkeit, die selbst das Resultat von Technologien und einer adressierten Erziehung des Blicks ist. Die Sichtbarkeit ist, dem selbstverständlichen Sprachgebrauch gegenläufig, keine Eigenschaft von Objekten, also von Entitäten. Ihnen, die als Objekte potentiell sichtbar sind, kommt Sichtbarkeit zu, weil sie gesehen werden können. Bis in das 19. Jahrhundert war es selbstverständlich, dass Objekten Sichtbarkeit zukommt, dass Sichtbares die Eigenschaft der Sichtbarkeit hat – sie könnten aber eben auch ertastet werden. Unauffällig bleibt die Sichtbarkeit, weil es ein Urvertrauen zwischen Sehen und Gesehenem gibt. In dem Augenblick, als sich das Sehen allerdings von der Notwendigkeit seines Bezugs zur sichtbaren Welt löst, wird Sichtbarkeit zu einer eigenen Entität, die adressiert werden kann, ohne gegenständliche Bindung, ein Produkt des Sehens, nicht verursacht durch gesehene Gegenstände. Das heißt, die Sichtbarkeit kann als ihr eigenes Objekt der Untersuchung erst historisch unter der Voraussetzung klärung. Philosophische Fragmente (Gesammelte Schriften 3), Frankfurt a. M. 2003, 214.

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einer spezifischen Lesart des Weltverlustes entstehen. Eine Erziehung des Blicks kann sich als Technologie des Sehens im Kontext eines Dispositivs der Sichtbarkeit sowohl auf die Ergebnisse der Psychotechnik und ihren visuellen Anpassungsleistungen berufen als auch auf Bildtechnologien eines Blickregimes beziehen (III.). Die Schlussbemerkungen schließlich thematisieren eine Ethik des Blicks, insofern die Auffassung von der Unschuld des Sehens verabschiedet werden muss, weil es stets im Kontext eines machtstrukturierten Geschehens steht. Es gibt keinen unschuldigen Blick.

I.

Genealogie einer visuellen Subjektivität

Ohne Zweifel sind das Sehen und der Blick stets und selbstverständlich vor dem 19. Jahrhundert immer wieder Gegenstand sehr unterschiedlicher Reflexionen. Bereits die Antike hat außerordentlich differenzierte Theorien des Sehens oder auch Vorstellungen des Blicks entwickelt, die dem Versuch geschuldet sind, eine plausible Erklärung für die Erfahrung des Sehens zu finden. Das Sehen wird allerdings in der Antike keineswegs primär zurückgebunden an eine Subjektivität, sondern bleibt auf die Frage verwiesen, wie die Dinge der Welt überhaupt sehend erkennbar sind. Die Angewiesenheit auf die materielle Welt und ihre Formen steht außer Frage. Die Vorbehalte gegenüber dem Sehen für das Erkennen sind dabei spätestens seit Platon fester Bestandteil der Kulturgeschichte. 2 Gleichwohl es historisch-genealogisch ein scheinbares Privileg des Gesichtssinns gibt, das sich auf die vielfältige Erkenntnisleistung des Sehens bezieht, genießt der Tastsinn dennoch im Rahmen der Ontologie bis in die Moderne stillschweigend ein Primat. Im Gefüge der Wahrnehmungen hingegen hat das Visuelle größeres Gewicht. 3 Vermutlich wird ihm nicht nur besondere Beachtung geschenkt, weil es für die Evolution und die Prozesse soziokultureller Entwicklungen 4 so bedeutend ist, 5 sondern möglicherweise auch, da man ihm die größte Täuschung und zugleich Vgl. auch den Beitrag von Ralph Konersmann in diesem Band. Solche »Gewichtungen« der Sinne sind kulturspezifisch und historisch kontingent. Die wechselseitige Verstrickung der Sinne in der Erfahrung ist unhintergehbar, sodass jede Hierarchie oder Gewichtung der Sinne bereits ein Deutungsmuster der Wahrnehmung ist. 4 Vgl. für die Bedeutung des Sehens als soziale Struktur vor allem Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1974, insbesondere Kap. XI, 2 3

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Macht zuschrieb. Vor allem aber gibt es gute Gründe, dem Sehen spätestens seit dem 19. Jahrhundert einen besonderen Status einzuräumen: Wir selbst sind sichtbarer Leib. 6 Als einschneidend für das Verständnis des Sehens kann seine ästhetische Verbindung zur Subjektivität gelten. Sie findet sich frühestens in der Renaissance. Die Zentralperspektive, aber auch die Entdeckung der Landschaft 7 sind eindrucksvolle Zeugnisse des Beginns einer ersten visuellen Subjektivität. 8 Norbert Elias unterstreicht in seinen Frühschriften die Anbindung des Sehens an die Perspektive des Subjektes. Das Subjekt verlässt den Kosmos, tritt aus der Natur und steht ihr mit ästhetischem Blick gegenüber. 9 Die historischen Vorboten der Ästhetik in der Renaissance binden zudem die Vorstellungen des Sehens zugleich an die Bildhaftigkeit des Gesehenen. Wir sehen Bilder so wie ein Künstler der Renaissance. 10 Die camera obscura schreibt als Modell für das Sehen diese Bildhaftigkeit bis in das 19. Jahrhundert fort. 11 In einem abgedunkelten Raum erscheinen ihr durch eine kleine Öffnung hindurch an der gegenüberliegenden Wand die Objekte der Welt. Das Sehen wird in Analogie zu diesem Modell als Sehen eines Bildes verstanden, das das Auge als widergespiegelte Repräsentation der Welt dem Bewusst-

518 ff. Wir lernen einen Blick für die Performanz einer sozialen Praxis. Das Sehen ist eine Praxis, mit der wir unsere Selbst-, Welt und Sozialbezüge deuten. 5 Vgl. auch Hans Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2007. 6 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 16. 7 Vgl. Joachim Ritter, Landschaft, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a. M. 1974, 141–190. Vgl. auch Karl Helmer, Der Blick des Menschen schafft Räume. Perspektiven des Erkennens in der Renaissance, in: Pädagogische Rundschau (2016), 45–50. 8 Vgl. hierzu Ritter (ebd.); ferner Norbert Elias, Frühschriften, Amsterdam 2002. 9 Vgl. Elias 2002, 11. 10 Das Bild ist seit der Renaissance die oft unhinterfragte und selbstverständliche Verbindung von Blick und Darstellung. Doch was wir faktisch sehen, entspricht nicht dem Bildhaften. Unser Blick ist beim Sehen beständig in Bewegung, das Sichtbare muss sich so permanent erneuern. Auch verläuft sich das Sehen an den Rändern. Das, was also gesehen wird, ist kein inneres Bild (vgl. auch Wittgenstein 1974, 523). Zugleich steckt aber in dieser Annahme die grundsätzliche Möglichkeit, das Gesehene und die Dinge mit Bildern zu verwechseln, so dass sich die Dinge in Bilder verwandeln können (vgl. Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden und Basel 1996, 40). 11 Erst die Fotografie und der Film brechen diesen allzu selbstverständlichen Zusammenhang auf.

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sein darbietet. Die »Apparatur« des Auges vermag Welt als Objekt zu spiegeln und eine Anschauung bereitzustellen. 12 Die camera obscura steht aber nicht nur für ein Modell des Sehens, sondern immer auch für ein erkennendes Bewusstseins, das auf seine Weise »sieht«, was das Auge als Apparatur lediglich bereit hält. Sie ist also insgesamt ein Modell visueller Subjektivität, sie steht für ein Sehen, allerdings ohne gesehen zu werden. Eine Emanzipation des Sehens vom Bewusstsein und Erkennen ist mit der camera obscura ausgeschlossen. Das Sehen gilt nicht als eine eigenständige emanzipierte Fähigkeit, der ein Eigenwert beizumessen wäre, sondern ist im Gegenteil stets peripherer Vermittler zwischen Welt und Bewusstsein. Das Sehen ist passiv, erleidend – eine Art Bildwurf auf die Seelen-Leinwand. 13 Die camera obscura klärt auf ihre Weise die Leerstellen des Sehens, d. i. das Verhältnis des Bewusstseins zum Sinnlichen sowie das des wahrnehmenden Subjekts zur Welt. Sie steht für die Möglichkeit eines sich selbst setzenden Bewusstseins, einsam und körperlos bei sich, einer Welt als Objekt gegenüberstehend. Eine infinite Folge autopoetischer Reflexionsstufen des Bewusstseins benötigt nur das Material der Wahrnehmung, nicht die Wahrnehmung selbst. 14 Und dennoch: Das Sehen und der Blick sind bis in das frühe 19. Jahrhundert auf einen referentiellen Weltbezug angewiesen. Die camera obscura macht die Welt für einen quasi nicht leiblichen Beobachter sichtbar. Mit der Renaissance zeichnet sich am Horizont die Frage der Moderne ab, wie der Mensch jenseits der Kosmologie überhaupt eine Welt »haben« kann, wie das Subjekt zur Welt kommt. Der endgültige Bruch mit der camera obscura im 19. Jahrhundert ist demnach nicht nur ein Bruch mit einem Sehmodell, sondern der mit einer epistemischen Grundeinstellung. Diese Transformation des Sehens unter der Gestalt eines repräsentierenden Modells der camera obscura hin zu einer fundamentalen visuellen Subjektivität vollzieht sich schließlich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert: Im Wesentlichen Vgl. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, 2 Bde. Hamburg 41981, Bd. 1, 184 f. 13 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, 2 Bde. (Philosophische Schriften, Bd. 3.1), herausgegeben und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz, Frankfurt a. M. 1996, 181 f. 14 Stets bedürfte es eines Bewusstseins, das sieht, was das Bewusstsein sieht, ein im Grunde genommen unendliches Bewusstsein: Die transzendentale Subjektivität steht darin der visuellen unversöhnlich gegenüber. 12

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wird die leibliche Fundierung der Subjektivität für das Sehen von Bedeutung; das leibliche Bewusstsein ist weder sich selbst setzend noch etwa »rein« in einem transzendentalen Sinne. Aufschlussreich und von großer Wirkung für die Veränderung der Auslegung des Sehens in dieser Anbindung sind die Entstehung und Entwicklung der Anthropologie sowie der Physiologie und in etwa zur gleichen Zeit der Ästhetik. Während die Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts die Totalität der Subjektivität sucht, verliert die aus der Anthropologie hervorgehende Einzeldisziplin der Physiologie im 19. Jahrhundert zunehmend den intelligiblen Überbau der Anthropologie. Die Anthropologie im 18. Jahrhundert entsteht als ein Projekt, den Menschen in seiner leiblich-vernünftigen Dimension zu begreifen; sie ist in nuce eine philosophische Physiologie. Insbesondere Ernst Platners Anthropologie für Aerzte und Weltweise aus dem Jahre 1772 erweist sich als bedeutsam für eine leiblich fundierte Subjektivität. Platner sucht den ganzen Menschen zu erfassen, und zwar in der Verschränkung von Geistes- und Naturwissenschaften, respektive Philosophie und Physiologie. Das medizinische, physiologische Wissen seiner Zeit wird auf die philosophischen Begriffe und Prozesse zur Deutung des Menschen appliziert. Wenige Jahre später in den Jahren 1784 und 1785 entwirft Johann Karl Wezel im Anschluss an Platner seinen Versuch über die Kenntnis des Menschen die neue Wissenschaft der Anthropologie geradezu als Projekt – ganz in dem konzeptionellen Sinne der ästhetischen Erziehung Friedrich Schillers. Bereits Wezel beklagt und kritisiert die Zergliederung des Menschen in und durch Einzelwissenschaften. 15 Schiller bindet die Ästhetik an die Anthropologie und das Sehen an die Bildung einer sinnlich-vernünftigen Subjektivität. Es gehe darum, mit dem »Auge zu genießen«, sehend das Gesehene zu erzeugen. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts ist von einem epistemologischen Eigenwert der visuellen Wahrnehmung geprägt, der mit der Einbildungskraft zudem ein eigenes Vermögen zukommt. Mit ihr rückt die anthropologische Frage nach der Möglichkeit und Totalität des Menschen in den Mittelpunkt; sie fragt nach dem anthropologischen Wert der Sinnlichkeit, die Anthropologie nach ihrer aisthetisch-ästhetischen Fundierung. Keineswegs führen Ästhetik und Anthropologie bereits zu Vgl. Johann Karl Wezel, Versuch über die Kenntnis der Menschen (1784–85), Frankfurt a. M. 1971, 6–13. Eine Entwicklung, die durch die Physiologie und die Parzellierung des Körpers ihren Fortgang im 19. Jahrhundert findet.

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einer neuen Vorstellung von Sehen. Sie destruieren vielmehr unmerklich das überkommene Modell einer camera obscura und betonen stattdessen die produktive Eigenleistung des Körpers, insbesondere der Wahrnehmung. Ästhetik und Anthropologie des 18. Jahrhunderts weisen der Vorstellung vom Sehen einen neuen Weg, ohne ihn selbst gegangen zu sein. Für die Entstehung einer visuellen Subjektivität und den Vollzug einer Verwandlung des Sehens sind für das 19. Jahrhundert zwei Autoren von großer Bedeutung: Johann Wolfgang von Goethe und Arthur Schopenhauer. Die Farbenlehre Goethes aus dem Jahre 1810 kann als der erste Schritt gelten, dem Sehen eine von der Optik der Naturwissenschaften abzugrenzende Reflexion über den Menschen und seiner Erkenntnisstruktur zu widmen. Ohne Zweifel, und das ist hier von vorrangigem Interesse, ist Goethes Farbenlehre zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Zeichen der Hochschätzung, die dem Sehen, und zwar gerade an der Schnittstelle zu den noch jungen Disziplinen der Anthropologie, Ästhetik sowie den Naturwissenschaften, zukommt. Goethes Farbenlehre nimmt ihren eigentlichen Ausgang an seinem Interesse an der Ästhetik, genauer an der Malerei, das auf das Erlebnis des Sehens insgesamt in seiner Farbenlehre geweitet wird. 16 Er wendet sich vor allem gegen die erfahrungsferne Zergliederung des Lichts und der Farben, die doch im aisthetischen Erleben nur als ein Phänomen, als ein Bild erscheinen. 17 Das Sehen ist ihm als Erfahrung das Primäre, nicht die naturwissenschaftliche Sezierung, und nur als eine leibliche Bezogenheit des Menschen in der Welt verständlich – wäre das Auge nicht sonnenhaft. Farben gibt es nur in der Erfahrung des Sehens. In der Verschränkung physiologischer und philosophischer Reflexionen allerdings kann das Phänomen der Farbe verstehbar werden. Sicherlich verbleibt die Vorstellung Goethes auch pantheistisch inspiriert; dennoch macht er den ersten Schritt hin zu einer Deutung der Farben als Kraft des Auges. Goethe hat mit seiner Farbenlehre, seinem Wissenschaftsansatz und seiner Morphologie die Physiologie des 19. Jahrhunderts eindrücklich geprägt. Noch Johannes Müller, der berühmte Physiologe und akademischer Lehrer Hermann von Helmholtz’, sowie, gleichermaßen einflussreich, Jan Evangelista Purkyně fühlen Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, München 81981, Bd. 14, 256. 17 Vgl. ebd., Bd. 13, 23 ff. 16

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sich der Denkweise Goethes verpflichtet. 18 Goethe verdeutlicht aber auch Weiteres: Es wird von nun an nicht mehr die Physik, insbesondere die Newtons und die Lehre von der Optik bzw. dem Licht sein, die wichtige Impulse für das Sehen liefert, sondern die auch im Zuge der kopernikanischen Wende Kants forcierte Anthropologie bzw. Physiologie sowie das Feld der Ästhetik und der sinnlichen Anschauung. Deutlicher kann die Veränderung des Sehens nicht sichtbar sein als in dieser disziplinären Verschiebung von der Optik hin zur Anthropologie i. w. S. Die Umschrift des Sehens an der Schnittstelle von Philosophie und Physiologie wird in sehr vielschichtiger Weise durch Schopenhauer schließlich zu Ende gedacht und folgenreich für seine empirische Ausarbeitung. Schopenhauer knüpft nicht nur an Kant, sondern auch unmittelbar an Goethe an, mit dem er hinsichtlich der Farbenlehre, dem quasi historischen Ernstfall des Sehens, in engem Kontakt steht. Seine eigene Farbenlehre, auch eine Korrektur Goethes und eine Kritik an Newton, erscheint im Jahre 1817 unter dem Titel Über das Sehn und die Farben. Mit Schopenhauer wird eine markante Veränderung der Subjektivität zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzogen, die sich historisch anbahnt und Effekte auf das Sehen hat. Ein verändertes Verständnis von Sehen setzt also die Neugestaltung von Subjektivität voraus. Er legt sie in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung aus. Schopenhauer stellt eine physiologische Anthropologie bereit und unterstreicht die enge Verschränkung von Philosophie und Physiologie, die sich in seiner Philosophie des Leibes extrapoliert. Damit ändern sich aber auch die Beschreibungen des Menschen grundsätzlich. Sie gehen nunmehr vom Leib des Menschen auf der Grundlage physiologischer Prozesse aus. Reize, Empfindungen und Nervenbahnen, Hirntätigkeiten, Rückenmark, zerebrales Nervensystem, Spinalnerven oder physiochemische Prozesse sind nunmehr leibliche Determinanten, die dem menschlichen Subjekt innewohnen. 19 Das Sehen ist ganz in diesem Sinne zunächst eine Übertragung von Nervenreizen. Es wird also von ihm physiologisch begründet. Damit verabschiedet Schopenhauer jede Ontologie des gesehenen Objekts als Vgl. Karl Eduard Rothschuh, Geschichte der Physiologie, in: Trendelenburg / Schütz (Hg.), Lehrbuch der Physiologie. In zusammenhängenden Einzeldarstellungen, Berlin / Göttingen / Heidelberg 1953, 90. 19 Vgl. auch Crary 1996, 90. 18

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Ding an sich und betont hingegen die leibliche Konstitution des Sehens. Diese physiologische Konversion der Anthropologie ist wirkungsgeschichtlich kaum zu überschätzen und wirkt noch sehr deutlich und unmittelbar bis Friedrich Nietzsche sowie über ihn hinaus. Eine der zentralsten Schriften Nietzsches Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne stammt aus diesem Geiste: Seine Kritik an der menschlichen Illusion von Wahrheit ist physiologisch grundiert und beruht auf der Konzeption sogenannter unbewusster Schlüsse im Sinne Schopenhauers. Wie kommt der Mensch, so seine Frage, als leibliches Wesen darauf, an der Illusion von Wahrheit festzuhalten, ist doch der kürzeste Weg von der Wahrnehmung zur Welt durch den Leib »verbaut«? Schopenhauer skizziert eine Subjektivität für das 19. Jahrhundert, die nicht gekennzeichnet ist von einer umgreifenden Vernunft, die allein die Synthesis des Menschen bindet. Bereits mit Schiller ist diese Totalitätsgarantie obsolet. Vielmehr ist der Mensch seiner Zerstreuung, der Zeit und seinen Begierden ausgeliefert. Mit anderen Worten: Das Unbewusste, vorreflexiv Leibliche erhält mit Schopenhauer Einzug in die Begründung von Subjektivität – sie wird sichtbar und erkennt anschauend. Der Wille dieses Subjekts ist blind, rastlos und prinzipiell nicht zu stillen, bedürfnishungernd und begehrend. Die Einheit des Subjekts verbürgt nur noch seine leibliche Verfasstheit, der Leib wird, wie es Nietzsche späterhin ausdrückt, die »große Vernunft«. Mit Schopenhauer wird die Subjektivität zum allerersten Mal in dieser radikalen Weise leiblich-sinnlich fundiert. Der Mensch ist Leib und hat Leib, er ist gleichermaßen Wille und Vorstellung. Er sieht und wird gesehen. Diese Vorstellung einer visuellen Subjektivität wird wegweisend. Das Sehen wird eingedenk der eigenen Sichtbarkeit thematisch. Ich werde sichtbar, weil ich sehe. Die Sichtbarkeit schreibt sich als Vollzug des Sehens dem Subjekt förmlich leiblich ein. Sie ist kein Äußeres mehr, sondern fungierender Bestandteil der visuellen Subjektivität, und zwar in der Ambiguität, Sichtbarkeit einerseits selbst durch das Sehen herzustellen sowie andererseits Sichtbarkeit zu sein, also gesehen zu werden. Kurzum: Gerade weil der Wille blind ist, erhalten das Sehen und eine Erziehung des Blicks eine herausragende Bedeutung. Schopenhauer verweist auf die leiblichen, physiologischen Grundlagen der Subjektivität und stellt die Trennung von Intellekt und Körper gänzlich in Frage. Er führt so die Einsätze der Anthropologie und der Ästhetik in eine neue Philosophie des Leibes. Während die Anthropo170 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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logie die leibliche Totalität des Menschen fordert, betont die Ästhetik die Produktivität unserer Wahrnehmungen. Das Sehen transformiert sich historisch im Umbruch zum 19. Jahrhundert und in der Folge als Ausdruck einer visuellen Subjektivität, eines Leibes, der sieht und gesehen wird. Es erhält den Index des Unbewussten, Präreflexiven, aber auch Produktiven. Zugleich wird eine Physiognomie eines nicht zu stillenden Bedürfnissubjekts gezeichnet, das den Begriff der Aufmerksamkeit als eine Art Kausalität der Sichtbarkeit nach sich zieht. Die Gegenständlichkeit des Sehens wird durch den Intellekt, das Begehren durch den primordialen Willen hervorgebracht, das heißt, das Gesehene wird zur unbewussten Projektion. Die Subjektivität sieht, wie sie gesehen wird. Unsere Wahrnehmungen spiegeln nicht länger unsere Welt wie noch die camera obscura, sondern sie ist unsere Vorstellung und unbewusste Projektion. 20

II.

Der unbewusste Schluss und die Parzellierung der Sinne

Die Vorstellungen Kants, Goethes und vor allem Schopenhauers mündeten im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine Vielzahl von naturwissenschaftlichen Hypothesen zum Sehen, sie materialisierten sich in Sehexperimenten und Konzeptionen von Sehapparaten und führten zu einer naturwissenschaftlichen Separierung der Sinne. Eine besondere Rolle allerdings kommt Schopenhauer zu, der mit seiner Theorie sogenannter unbewusster Schlüsse wegweisend für das Verständnis des Sehens wird. Dieser Hintergrund ist von Bedeutung, um zu unterstreichen, dass die unbewussten Schlüsse, die experimentell folgenhaft werden, aus der Anbindung an eine visuelle leibliche Subjektivität entstehen und gerade nicht aus einer separierten experimentellen naturwissenschaftlichen Forschung oder gar Setzung. Schopenhauer entwickelt die unbewussten Schlüsse dezidiert im Rahmen seiner Wahrnehmungstheorie und legt somit einen Grund für die radikale Transformation des Sehens. Kern dieser Vorstellung vom Sehen ist sowohl seine Intellektualität als auch seine leibliche Subjektivität als Wille. Er schreibt dem Auge zunächst eine Intellektualität und eine Beteiligung des Gehirns Vgl. zur Projektion: Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Band 2, in: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben der letzten Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus, Zürich 1994, 102.

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ein. Seinen Ausgang nimmt die Ausarbeitung des Sehens bereits in seiner Dissertation Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde aus dem Jahre 1813. In ihr kritisiert er den Kantischen Begriff von Kausalität und weist ihm eine gänzlich veränderte Deutung zu. Für Schopenhauer vollziehen sich im Sehvorgang sogenannte unbewusste Schlüsse, das heißt, das Sehen wird kausal auf eine der Vorstellung zugrundeliegende Objektwelt bezogen. Die Empfindung des Auges projiziert einen Gegenstand, der die Wirkung auslöst. Diese Projektion des Sehens auf die Vorstellung einer Welt geschieht unbewusst und vorreflexiv. Damit kann Schopenhauer zugleich die wesentlichen Kernprobleme des Sehens auflösen. Gleichwohl wir das Bild eines Gegenstandes im Auge verkehrt herum sehen, erscheint es uns durch die Tätigkeit des Gehirns realitätsentsprechend. Gleiches gilt für die binokulare Sichtweise, die durch den Intellekt zu einem Gegenstandsbild zusammengeführt wird. Und schließlich die räumliche Konstruktion des Sehens, die durch das Gehirn geschaffen ist, obwohl die Netzhaut nur zweidimensional abzubilden in der Lage ist. Die unbewussten Schlüsse konstituieren also unter Anwendung der Kausalität das reale Objekt der Vorstellung. Schopenhauer markiert einen entscheidenden Wendepunkt für die Lesart des Sehens. Er führt einerseits wichtige – auch kulturkritische Strömungen seiner Zeit – zu einer Philosophie visueller Subjektivität zusammen und bildet andererseits in der Folge ein neues Fundament für das »Sehen«. Den entscheidenden Punkt Schopenhauers trifft Otto Liebmann: Wahrnehmungen sind Projektionen des Subjekts. »Beim Sehen schaut der Verstand seine Sensation hinaus. […] Genug, wir werden beim Sehen unser eignes Werk gewahr, ohne zu wissen, daß es unser Werk ist. ›Äußere Objekte sehen‹ heißt nichts andres, als ›Sich seiner unbewusst hinausverlegten Gesichtsempfindungen bewußt werden, wenn sie schon draußen sind‹.« 21 Und Liebmann weiter: Die gegebene Beantwortung der ersten Frage sagt uns, daß der intellectuelle Factor eine Projection der Gesichtsempfindungen vornimmt […].« 22 Der Intellekt versetze den Inhalt der Wahrnehmungen kausal in den Außenraum, in dem der Gegenstand erblickt wird. Und weil dieser Akt des Hinausversetzens kein Gegenstand des Bewusstseins sein könne, werde er »unbewusst« vollzogen. Für Schopenhauer ist das 21 22

Vgl. Otto Liebmann, Ueber den objectiven Anblick, Stuttgart 1869, 72. Ebd., 73.

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Gesetz der Kausalität die Verbindung der vor allem visuellen Sinneseindrücke mit einem Objekt der Vorstellung. Der Verstand schließt also von den Sinnesempfindungen auf ein Objekt der Welt. Durch das Gesetz der Kausalität und die unbewussten Schlüsse wird das Sehen intellektuell. Es ist ohne Intellektualität nicht zu haben. Erst die Kausalwirkung des Intellekts vermittelt dem Menschen den Eindruck, das Gesehene sei überhaupt außer ihm, und zwar so, wie er es anschaut, also als ein Objekt außerhalb und unabhängig vom sehenden Subjekt existierend. Für Schopenhauer ist das Sehen produktiv im menschlichen Erkenntnisapparat verankert. Es erhält eine Dimension, die die Subjektivität konstitutiv mit einschließt. 23 Schopenhauer geht aber über diese bloße kausale intellektuelle Objektkonstitution in den unbewussten Schlüssen hinaus. Er betont mit der leiblichen Fundierung der Intellektualität des Sehens die große Bedeutung unbewusster Projektion, ja bis hin zum triebhaften Begehren des Sehens. Der Wille ist immer schon Teil der Wahrnehmung, das Sehen eine Art Begehren. Die Objektkonstitution ist stets durch die unbewusste Willensstruktur ausgerichtet und gestaltet. Mit anderen Worten: Sehen ist in hohem Maße als unbewusster Schluss unsere Projektion, und zwar, erstens, in der kausalen Objektkonstitution als auch, zweitens, als Wahrnehmung unter Einbezug eines fungierenden Unbewussten, eines leiblich vorreflexiven unbewussten Willens. In den unbewussten Schlüssen wird die Unverfügbarkeit der eigenen Subjektivität virulent. Das Sehen ist grundiert durch Unverfügbares. Die Vernunft ist nicht Herr im Hause der Subjektivität, sondern eben der blinde Wille eines Bedürfnissubjekts, das Unbewusste, das Begehren. Der Wille macht den Intellekt letztlich zu seinem Diener. Mit Schopenhauer hält also das Unbewusste Einzug in die Subjektivität, die wesentlich durch einen primordialen Willen bestimmt ist. »Unsere besten, sinnreichsten, und tiefsten Gedanken treten plötzlich ins Bewusstsein, wie eine Inspiration. Offenbar aber sind sie Resultate langer, unbewusster Meditation. Beinahe möchte man es wagen, die physiologische Hypothese aufzustellen, dass das bewusste Denken auf der Oberfläche des Gehirns, das unbewusste im Gleichwohl schafft für Schopenhauer die Produktivität des Auges aber auch die Möglichkeit einer aisthetischen, reflexiven Erkenntnis, die sich nicht auf eine passive Widerspiegelung der Welt reduzieren lässt, sondern sie wahrnehmend auslegt. Die anschauliche Erkenntnis bleibt für ihn die Grundlage jeder vernünftigen Reflexion.

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Inneren seiner Marksubstanz vor sich gehe.« 24 Und Freud betont folgerichtig: »Die wenigsten Menschen dürften sich klar gemacht haben, einen wie folgenschweren Schritt die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge für Wissenschaft und Leben bedeuten würde. Beeilen wir uns aber hinzuzufügen, daß nicht die Psychoanalyse diesen Schritt zuerst gemacht hat. Es sind namhafte Philosophen anzuführen, vor allem der große Denker Schopenhauer, dessen unbewußter Wille den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist.« 25 Das Sehen, so also die Vorstellung, erzeugt durch den Intellekt allererst seine Gegenständlichkeit, 26 es gleicht darin einer Projektion, die das Vorreflexive als faktisches Apriori umdeutet. Diese Vorstellung von Sehen wendet sich gegen das mechanische Sehen. Der Leib wird zum organischen Fundament des Erkennens, das Unbewusste zur Projektion, die die Wahrnehmung notwendig reflexiv machen muss. Es gibt das unbewusste Bedürfnis und Begehren des Subjekts nach einer visuellen Ordnung und einer Gegenständlichkeit. 27 Das Subjekt und seine physiologische Struktur sind aufgrund dieses Bedürfnisses in hohem Maße anpassungsbereit und projektiv, um Gegenständlichkeit zu objektivieren und Ordnungen aufrechtzuhalten. Die Überlegungen Schopenhauers fließen ungenannt und ungebrochen in die Sehexperimente des 19. Jahrhunderts ein. Mit ihm öffnet sich das Untersuchungsfeld des Sehens mit gänzlich neuen Anordnungen und Experimenten. Vor allem entsteht mit den unbewussten Schlüssen und der Intellektualität des Sehens ein gänzlich neuer Deutungs- und Forschungszugang. Die wegweisenden Überlegungen Schopenhauers werden von Hermann von Helmholtz aufgegriffen, experimentell erprobt und fortgeführt. Man hat Helmholtz bereits zu seinen Lebzeiten des Plagiats bezichtigt. 28 Selbst seinem Arthur Schopenhauer, a. a. O. 1994, 58 f. Sigmund Freud, Über Arthur Schopenhauer, hg. von Gerd Haffmans, Zürich 31981, 219. 26 Liebmann, a. a. O., 1869, 70 f., 73. 27 Zöllner appliziert die unbewussten Schlüsse auf das sittliche Verhalten. Vgl. Martin Liebscher, Nietzsche und die Psychologie, in: Handbuch Nietzsche und die Wissenschaften, Berlin / Boston 2014, 366. 28 Sehr deutlich noch im Nachgang: Ferruccio Zambonini, Schopenhauer und die moderne Naturwissenschaft, in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 22 (1935), 44– 91. Vgl. auch Herbert Hörz, A. Schopenhauer und H. Helmholtz. Bemerkungen zu einer alten Kontroverse zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, Berlin 1994, 1– 36. Ferner: Johann Nepomuk Czermak, Über Schopenhauers Theorie der Farben, in: Sitzungsberichte der mathematisch-naturwissenschaftliche Classe der kaiserlichen 24 25

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Vater hatte er Rede und Antwort zu stehen, und noch Nietzsche weiß davon zu berichten. Das Aufsehen war seinerzeit tatsächlich nicht gering. »Die Lehre von der Intellektualität der Anschauung ist in der Tat erst 1855 von Helmholtz in seinem Königsberger Vortrag Über das Sehen des Menschen wieder entwickelt worden, fast mit denselben Worten, die 39 Jahre vorher Schopenhauer verwandt hatte; und in seinem Handbuch der physiologischen Optik von 1867 hat er auch seine Darlegung der Apriorität des Kausalgesetzes gegeben, die man identisch mit der ganze 54 Jahre zuvor von Schopenhauer in seiner Inauguraldissertation veröffentlichten nennen kann.« 29 Helmholtz nennt Schopenhauer nicht ein einziges Mal, beruft sich hingegen in der vermeintlichen Interpretation auf Kant, der allerdings gerade eine andere von Schopenhauer kritisierte Bestimmung von Kausalität vertritt. 30 Für seine Physiologie ist dieser unbewusste Schluss Schopenhauers von konstitutiver Bedeutung. Nur durch ihn kann innerhalb der physiologischen Konfiguration verständlich werden, wie aus Empfindungen und Nervenreizen überhaupt Wahrnehmungen werden können. 31 Ohne ihn blieben das Sehen und die Gegenständlichkeit ein Torso. Die Vorstellungen von Helmholtz bewegen sich ausschließlich im Bereich einer empirisch physiologischen Welt. Nur mittels des unbewussten Schlusses überhaupt kann die Physiologie ein Objekt der Wahrnehmung setzen. Zudem wird durch die Auslegung der Kausalität durch Schopenhauer deutlich, wie die Brüche von der Empfindung hin zur Wahrnehmung durch den Intellekt bzw. das Gehirn (Schopenhauer denkt als einer der ersten Philosophen den Intellekt physiologisch) überbrückbar werden. So betrachtet, sind die unbewussten Schlüsse eine Grammatik der Wahrnehmung, eine vorreflexive (auch emotional und willensgetriebene), interpretative Leistung des Auges. Es geht aber nun mitnichten um die Frage des Plagiats durch Helmholtz. Vielmehr unterschlägt er den Überbau der Subjektivität, die Triebstruktur des Willens und des Unbewussten sowie die kulturAkademie der Wissenschaften (Wien), Bd. LXII, Teil 2, Mp. 6–10. Dazu auch: Liebscher, a. a. O., 2014, 362–378. Nietzsche bezeichnet die Einlassung Czermaks als einen großen Triumph (vgl. Liebscher, a. a. O., 2014, 365 f.; vgl. auch den Brief Nietzsches an von Gersdorff vom 12. Dezember 1870). 29 Liebmann, a. a. O., 1869, 56 f. 30 Ebd., 58. 31 Vgl. Hermann von Helmholtz, Über das Sehen des Menschen, Leipzig 1855, 99 f., 116.

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kritischen Implikationen der Anpassungsleistung des Subjekts. Die produktive Projektionsleistung des Sehens und die Reflexivität anschaulicher, phänomenbezogener Erkenntnis bleiben außen vor. Stattdessen separiert Helmholtz – in der Abkehr von einem anthropologischen Projekt des Menschen – die Sinne, parzelliert sie physiologisch, löst die unbewussten Schlüsse von einer visuellen leiblichen Subjektivität und weist sie nur noch experimentell induktiv aus. Helmholtz wird der Protagonist einer experimentell gestützten Ausdifferenzierung des Sehens, die sich auf die physiologischen Bedingungen der Visualität spezialisiert. Mit ihm beginnt oder wird zum Teil auch verändert fortgeführt eine Reihe von bahnbrechenden Sehexperimenten für das 19. Jahrhundert. Ohne Zweifel wurden vordem Sehexperimente durchgeführt, aber erst vor dem historischen Hintergrund des Umbruchs vom 18. zum 19. Jahrhundert bekommen diese Experimente eine physiologisch-psychologische Ausarbeitung. Das Sehen wird physiologisch radikal zu einem innerleiblichen Prozess. Gestützt werden die experimentellen Applikationen vor allem durch die Ergebnisse des berühmten Physiologen (und akademischen Lehrers u. a. von Helmholtz und Rudolf Virchow) Johannes Müller. 32 Helmholtz widmet sich experimentell unter anderem den dem Sehen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten, den physiologischen Grundlagen des Auges und Fragen nach der Entstehung der Farben. Kern seiner Forschungen sind Verfahren, die eine Separierung des Sehens einerseits von anderen Sinnen, andererseits aber auch von der Welt zur Bearbeitung notwendig machen. Die unbewussten Schlüsse unterliegen in den Anfängen noch der unbefragten Annahme einer geometrischen Raumkonstellation. Doch die Anpassungsleistungen des Intellekts können den projizierten Raum selbst auch als eine empirische Angewohnheit der Betrachtung auffassen, also als historisch und auch kulturell kodiert. Der Weg zu einer kulturellen Kodierung menschlicher Wahrnehmung, wie ihn dann Ernst Cassirer entschieden geht, wird mit Helmholtz experimentell gewiesen. 33 Helmholtz muss sich als empirisch-experimenteller Naturwissenschaftler von der Apriorizität des Raumes lö-

Johannes Müller spielt auch für Arthur Schopenhauer eine bedeutende Rolle, die Schopenhauer immer wieder herausstellt. Auch hat er in Berlin Vorlesungen von Müller zur Physiologie gehört. 33 Vgl. Alois Riehl, Hermann von Helmholtz in seinem Verhältnis zu Kant, Berlin 1904, 36. 32

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sen, er räumt ein, dass die Form der Anschauung gegeben sei, aber nicht die Inhalte dieser Form. Sie sind eben im Kern kontingent und werden durch Gewohnheit und Übung geprägt. 34 Mit anderen Worten: Das Feld der unbewussten Schlüsse wird mehr und mehr zum Spielraum von Determinanten der Wahrnehmung unterschiedlicher Provenienz. Zunehmend finden sich im Anschluss Deutungen, die solche Projektionen kulturell verorten, späterhin psychoanalytisch oder auch gesellschaftlich-sozial. In jedem Fall entledigt sich die Wahrnehmung ihrer Passivität der camera obscura, und sie wird in dem Augenblick zu einem Dispositiv der Sichtbarkeit als man experimentell nicht nur ihre mögliche Modellierung und Steuerung gewahr wird, sondern vor allem ihre grundlegende Verwicklung in Prozesse des Begehrens und ihre Zugänglichkeit für das unbewusst Präreflexive. Das Seh-Modell einer camera obscura war am Ende eine Auslegung des Sehens, die einem rastlosen und blinden Willen nicht die notwendige Dynamik und Beweglichkeit zu geben vermochte. Anders: Wahrnehmungen sind nunmehr nicht so unumstößlich, wie sie erscheinen, vielmehr sind sie selbst formbar. Es geht also nicht mehr um eine veränderte Deutung der Wahrnehmung durch das Bewusstsein, sondern um die Modellierung der Wahrnehmung selbst. Das ist für das 19. Jahrhundert ein gänzlich neuer Befund. Sie wird zu einer Macht, die den Willen und seine möglichen Bedürfnisse, das Begehren der Menschen zu lenken in der Lage ist. Kommen wir zurück zu Helmholtz, der auch exemplarisch für den experimentell induktiven Zugang zum Sehen für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts steht. Die experimentelle Ausgangslage erlaubt nunmehr eine ganze Reihe von Versuchsanordnungen, die den kognitiven, vorreflexiv-unbewussten und reaktiven Beitrag zum Sehen untersuchen. Ungeachtet der experimentellen Settings, die spezifische Leistungen und Forschungsergebnisse aufzeigen, ist ihnen, erstens, eine Parzellierung der Sinne eigen und, zweitens, ebenfalls grundlegend die Loslösung des Sehens von seinem Erfahrungsgegenstand. Mit anderen Worten, die Experimente interessieren weniger in dem, was sie untersuchen, als in dem, was sie als Bedingungen ihrer Möglichkeit aufweisen. Mit Schopenhauer wurde das wichtigste historische Apriori bereits sichtbar.

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Vgl. auch Riehl, a. a. O., 1904, 30.

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Die Separierung der Sinne, insbesondere des Sehens, führt zu einer Neukodierung visueller Erfahrungsbestände durch ihre Übersetzung in »Zahlen«. Das Sehen wird in allen Dimensionen quantifiziert und skaliert. Der Körper wird vermessen. Die Sinne werden Einzeluntersuchungen unterzogen. Aufschließend sind die Publikationen der »Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane« seit dem Jahre 1902. Eine inhaltliche Analyse der Zeitschrift zeigt bezeichnend insbesondere die Forschungsfelder Ästhetik, Wahrnehmung, Farben, Anatomie des Sehens (z. B. zur Netzhaut, Hornhaut, Sehnerven), Pathologien des Sehens (Blindheit, Sehschwäche), Augenheilkunde, Bewegungen des Auges, Leistungsfähigkeit des Auges, Vermögen und Unvermögen des Auges (z. B. Sehschärfe), Reflexe des Auges (z. B. Reaktionszeiten), Entwicklungen des Auges (z. B. kindliches Sehen), Sehen bei Tieren oder auch Beiträge zur Geschichte und Lehre des Sehens. Die Quantifizierung durch Experimente, also die Übersetzung der Erfahrung, ein sehendes Wesen zu sein, in quantifizierbare naturwissenschaftliche Settings, führt notwendigerweise auch zu der zweiten generalisierbaren Bedingung. Das Sehen muss indifferent sein, denn es zählt nur der veranlasste Reiz in seiner Bindung an die Reaktion, der keine inhaltlichen Präferenzen kennt. Die Schopenhauersche Verbindung von Sehen und Denken in einem Raum der Erfahrung bleibt der physiologischen Legitimation des Sehens fremd. Das Auge, so noch Friedrich Nietzsche, sei Dichter und Logiker zugleich. 35 Und Nietzsche weiter, in Anspielung auf Helmholtz: »Je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer und bedeutungsloser wird sie für uns«. 36 Experimentell-wissenschaftlich legitimiert wird ein indifferentes Sehen »eingeübt«, das lernt, dass die Welt nicht der Grund von Sichtbarkeit ist. Das Sichtbare und die Sichtbarkeit gehen getrennte Wege. Diese Selbstreferentialität des Sehens verdeutlicht, dass die Ursache von Sichtbarkeit lediglich die Nervenreizung ist, die aber auch künstlich, eben ohne sichtbare Weltobjekte, erzeugt werden kann. Wenn das Sehen ein Reizgeschehen ist, verliert es faktisch jede inhaltliche, sinnbezogene Anbindung oder Legitimation. So

Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York 1999, KSA 9, 636 f.; bei Nietzsche stets unter den Bedingungen leiblich verfasster Optik gedacht. 36 Ebd., KSA 8, 458 f. 35

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werden sehr generalisierte Fähigkeiten des Sehens experimentellen Prüfungen unterzogen, eben Fähigkeiten des Sehens, nicht die des Sehens von Etwas, das jenseits des reaktiv messbaren Verhaltens eine Handlungsbedeutung besäße. Die populäre Faszination optischer Täuschungen hat in dieser Indifferenz ihre Wurzeln. Die Indifferenz wird gesellschaftliche Praxis, vor allem durch die Konjunktur und die Begeisterung von und für Sehapparaturen sowie der kurzweiligen Zerstreuung durch optische Täuschungen. Das 19. Jahrhundert entdeckt in der Folge unzählige Sehapparate, von denen das Stereoskop, dessen Ursprünge in das 18. Jahrhundert zurückreichen, gewissermaßen die erste Form der Virtualität und Sichtbarkeit, das berühmteste werden sollte. Das Stereoskop kann daher als ein Symbol für eine Sichtbarkeit gelten, die keines sichtbaren Objektes bedarf. Sehapparaturen erschaffen ein Blickregime, das sich von der erhabenen Allmacht des Panoramablicks des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zur filmischen Beweglichkeit der Bilder erstreckt. Sowohl Walter Benjamin als auch Siegfried Kracauer betonen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie mediale Formen der Sichtbarkeit das Sehen grundlegend bestimmen. Die Kritik an der Kulturindustrie durch Theodor W. Adorno ist in nuce auch eine Kritik an der Determination des Sehens durch technische und mediale Modellierungen des Sehens. Besonders Jonathan Crary hat in seinen Ausführungen zu den Techniken des Betrachters die Verstrickungen dieser unterschiedlichen Sehapparate und medialen Vermittlungen in die Einübung eines veränderten Sehens eindrucksvoll aufgezeigt. 37 Die Experimente verändern nicht nur die Auffassung vom Sehen, sondern das Sehen selbst. Sie schaffen Untersuchungsserien von Sehvorgängen, die die Differenz von Normalität und Pathologie mit sich bringen. Die Separierung der Sinne erlaubt allererst die Untersuchung ihrer Anomalitäten. Der Mensch wird zu einer experimentellen Maschine, die das Sehen auf physisch-chemische Prozesse weitgehend reduziert. Am Ende der Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts stehen eine Vielzahl von Experimenten und Publikationen aus den Naturwissenschaften, die über die Sehapparate eben auch eine breite Öffentlichkeit erreichen. Stereoskope, Fotografie, Film, mediale Bilderwelten und virtuelle Welten sind am Ende Seh-

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Vgl. Crary, a. a. O., 1996.

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apparaturen geschuldet, die Weisen der indifferenten Sichtbarkeit und Praxen der adressierten Aufmerksamkeit etablieren. Die experimentellen Untersuchungen sehr unterschiedlicher Form, die vor allem mit Helmholtz ihre Impulse erhalten, bilden den Raum einer »Normalisierung« des Sehens, der abgesteckt wird durch Grenzen und Fähigkeiten des Auges. Es ist zudem auffällig, dass viele Experimente eine konstitutive Beziehung zur Zeit haben. Die naturwissenschaftliche, physiologische Ausdifferenzierung der Sinne parzelliert den Körper und optimiert jeweils ihren Gegenstand. Kurzum: Das Sehen wird zum Dispositiv, in dem sich das Wissen aus der Physiologie, der neu entstehenden Psychologie, den Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie, aber auch gesellschaftliche Steuerungs- und Selektionsanforderungen sowie ökonomische Verhaltensmuster vereinen und mit der Sichtbarkeit eine neue Rationalitätsform ausbilden. Es geht zunehmend nicht mehr darum, nur das Sehen zu erforschen, sondern es über Normalisierungen einer Ökonomie des Körpers einzuverleiben. Das Dispositiv schiebt unterschiedliche Erkenntnisse, Wissensformen und Strategien zur zweckgeleiteten Bearbeitung oder Modellierung des Sehens ineinander. Das Subjekt des Sehens wird experimentelles Objekt des Sehens. Das Dispositiv entfaltet sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, indem die Frage, was gesehen wird, sich zu der Problemstellung verschiebt, wie der Mensch sieht. Spätestens die Psychotechnik des frühen 20. Jahrhunderts macht sich die Ergebnisse zunutze, und zwar vor allem zunächst in den Bereichen des Militärs, der Ökonomie und der Schule, späterhin in nahezu allen medial vermittelten Bereichen. Die Psychotechnik fragt dezidiert nach der nützlichen Anwendung experimenteller Wissensbestände und der deutlichen Anweisung zur Optimierung von Feldern. Sie befragt nicht die visuellen Ordnungen, in denen sich das Sehen bewegt. Das sehende Subjektobjekt ist ab dem 19. Jahrhundert vor große Herausforderungen gestellt. Das Wachsen der Städte, Prozesse der Industrialisierung, die Disziplinierung der Körper in den Institutionen, inkohärente, fragmentarische Erfahrungen, neue Technologien und eine Erfahrung der Beschleunigung der Zeit bedürfen einer anpassenden Modellierung des Sehens, die zugemutet wird. Die neue Frequenz und Permanenz des Sehens verhindert jede Form des ruhenden Blicks. Sehen findet nur noch sein Maß in der Anpassung an die Lebensbedingungen seiner Umwelt, nicht in der Anschauung von Mensch und Welt. Wie Helmholtz herausstellt, können sich die Sinne 180 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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an Raum und Zeit anpassen, durch Übung und Gewohnheit, es ist ihnen zumutbar. Die apriorischen Wurzeln des unbewussten Schlusses werden experimentell empirisch nach Maßgabe von Anpassungsverhalten umgedeutet. Sehen, so das Ergebnis der Umbrüche im 19. Jahrhundert, wird zu einer Technologie.

III. Technologien des Sehens Wenn Michel Foucault das Gesehenwerden in den Kontext der Überwachung stellt, erörtert er den Blick und das Sehen als ein verobjektivierendes, kontrollierend disziplinierendes, inkorporiertes Machtgeschehen. Das Gesehenwerdenkönnen wird ihm zum Modus einer neuen Machtstrategie, die den sichtbaren Körper vom Akt der faktischen Betrachtung löst. Gleichwohl muss an dieser Stelle die Frage aufgeworfen werden, ob das Sehen und der Blick des Menschen selbst nicht – und zwar in weitaus fundamentalerer Weise – Bestandteil der Konfiguration eines Feldes sind, auf dem unterschiedliche Entwicklungen, Kräfte und Effekte zu einer Veränderung dessen führen, was unter dem Sehen und unter Subjektivität zu verstehen ist. 38 Die Herstellung von Sichtbarkeit durch das Sehen ist bereits vermittelt. Foucault hingegen thematisiert also weniger diese Konfiguration des Blickes, weniger die Frage, wie ich einen Blick lerne und welche Sichtbarkeit ich durch das Sehen herstelle, als vielmehr die Auswirkungen der Überwachung des sichtbaren Körpers durch ein Gesehenwerden. Die Erziehung des Blicks wird auf dieser Grundlage zum Kern von Subjektivationen, von Anrufungen, in einer bestimmten Weise wahrzunehmen. Die Vorstellung wird leitend, die vorreflexiven Fähigkeiten des Auges können einer Verbesserung, Steuerung und Normalisierung, die Projektionen einer Modellierung zugeführt werden. 39 Einer Erziehung des Blicks kommt bis zur Mitte des 19. Jhs. keine herausragende Rolle zu. Auch in pädagogischen Feldern der Erziehung wird zwar seit jeher der Anschaulichkeit eine große, vor allem didaktische Bedeutung beigemessen, nicht aber dem Sehen oder dem Blick. Die Deutung des Wahrgenommenen steht im Vordergrund erzieherischer Einflussnahme, nicht das Sehen. Die BlickVgl. hierzu auch Crary, a. a. O., 1996. Die Frage ist zentral; wie die Erkenntnisse und Reflexionen über das Sehen zugleich das Subjekt effektiver in Machtstrukturen einzubinden vermag.

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erziehung als ein umfassendes, soziokulturelles Machtgeschehen muss voraussetzen, dass eine Einflussnahme auf das Sehen überhaupt möglich ist. Eine solche Voraussetzung liegt, wie gezeigt, ab dem 19. Jahrhundert vor. Für sie werden Technologien des Sehens konstitutiv, also Herstellungsweisen eines Produkts, der Sichtbarkeit. Sie wird möglich durch die Erkenntnisse von der Produktivität des Auges, das nicht auf Objekte bezogen sein muss, um Sichtbarkeit herzustellen, und Wahrnehmungen projiziert. Die Sichtbarkeit des 19. Jahrhunderts ist keine Qualität oder Eigenschaft eines Gegenstandes, der sichtbar ist. Die Voraussetzung des Sehens ist nicht mehr die Gegenständlichkeit von Welt, die eine Widerspiegelung durch das Sehen erfährt. Die Sichtbarkeit wird eine eigenständige Entität und Qualität, der, losgelöst von den sichtbaren Dingen der Welt, Bedeutung zukommt. Das Verständnis virtueller Welten mag vielleicht am deutlichsten diese Veränderung in ihrer Fortführung sinnfällig und verständlich machen. Sie inkludiert eine Sichtbarkeit ohne Bindung an ein sichtbares Objekt. Der Sichtbarkeit muss im Grunde genommen auch kein Sachverhalt entsprechen. Sie ist per se Selbstzweck, ersetzt quasi das Sein, ist paradoxerweise eine virtuelle Ontologie. Sichtbarkeit zu haben, heißt Sein zu besitzen oder zu erwerben. Diese Qualität von Sichtbarkeit ist allein ein Effekt der Transformationen im 19. Jahrhundert sowie dem Wissen von der separierten Produktivität des Auges. Sie kann eben nur visuell erfahren werden, separiert, sie kann nicht ertastet, gehört oder gar gerochen werden. So schiebt sich mit der Sichtbarkeit im Sehen eine Ebene ein, die jenseits sichtbarer Objekte, die auch ertastet werden könnten, es selbst zum Objekt machen kann. Mit anderen Worten: Das Subjekt wird zum erzieherischen Objekt, indem es sieht. Das Subjektobjekt der Moderne wird seit dem 19. Jahrhunderts auf ein Sehen verpflichtet, das sich der Zerstreuung der Aufmerksamkeit entgegenstellt, sich der erhöhten Frequenz der Lebensbezüge sowie Prozessen der Beschleunigung anpasst, flexible Raumkonstellationen umsetzt und den Steuerungsintentionen der Ökonomie strukturell entspricht. Natur und Landschaften werden nach Art von Bildern konfiguriert, Bauwerke und Denkmäler sind Pfeiler der Sehgewohnheit, um die herum räumliche Veränderungen vermessen und rationalisiert werden können. Hingegen verschafft sich der Markt auf seine Weise Aufmerksamkeit, gleichförmig, effizient und nicht von langer Dauer. Technologien der Aufmerksamkeit forcieren eine Sichtbarkeit, die punktuell ist, sich permanent erneuert, getrieben von den 182 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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Anreizen der Darbietung. Die Ökonomie des Sehens wird stillschweigend sensibilisiert für die warenhafte Verdinglichung der Welt. 40 Das voluntaristische Bedürfnissubjekt wird psychotechnisch zum Konsumenten figuriert. 41 Ein ganzes Geflecht von Technologien modelliert die Wahrnehmung und stellt eine ihr eigene Sichtbarkeit her. Die visuelle Subjektivität, die sieht und gesehen wird, konstituiert sich als Objekt von Sichtbarkeitstechnologien, Wahrnehmungspraktiken und Adressierungen, kurzum als Gegenstand eines Blickregimes. Solche Technologien und Praktiken reichen von der Herstellung visueller Normalisierungen, Praktiken der Aufmerksamkeit, Ökonomien des Körpers, Technologien medialer Bildwelten, Praxen der Objektivität und sozial-politisch determinierte Aufteilungen des Sinnlichen, bis hin zu reaktiven Steigerungen in Raum- und Zeitabfolgen. Die Adressierungen verfolgen das Ziel, ein Subjekt anzurufen, das sieht, wie es sehen soll. Die Bearbeitung des Sehens erfolgt durch seine Separierung, durch die Schaffung einer »Nur-Sichtbarkeit«. 42 Die »unbewussten Schlüsse« werden zur Metapher für die präreflexiven Determinationen und modellierenden Formen des Sehens unter der Blick-Gestalt einer vorgängigen Ordnung. Das Sehen wird zu einem Austragungsort einer veränderten Subjektivität, die zugleich ein experimenteller Körper ist. Die referentielle Gegenständlichkeit der Frage danach, was gesehen wird oder werden kann, verschiebt sich zur physiologischen Frage, wie das Subjekt sieht. Auf dem Feld des Sehens können so reaktive Effekte und Projektionen eingeschrieben werden. Im Zentrum einer Herstellung von Sichtbarkeit als Produkt einer Erziehung des Blicks stehen Prozesse der Anpassung, der Gewöhnung oder auch Einübung sowie der Inkorporation normativer Auffassungen und wahrnehmungsdeterminierender Projektionen. Vor allem Aspekte der »Nur-Sichtbarkeit« bilden die Technologiefelder des Sehens als Modus der Erziehung des Blicks. Sie betreffen zum einen bis heute, erstens, das experimentelle Feld der Physiologie und Psychotechnik, zum anderen, zweitens, das der adressierten BildVgl. hierzu Theodor W. Adorno, Versuch über Wagner (Gesammelte Schriften 13), Frankfurt a. M. 1985. 41 Vgl. Crary, a. a. O., 1996, 26; Crary fokussiert auf den Betrachter als neue Form der Subjektivität. 42 Ohne Zweifel gibt es komplexe soziokulturelle Einflüsse auf das Sehen, wie vor allem Ludwig Wittgenstein differenziert darlegt, neu ist eine eigene Technologie des Sehens als Blickregime. 40

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technologien bzw. der Anrufung durch Bilder als »Nur-Sichtbarkeiten«. 43 Die Psychotechnik angewandter Psychologie nimmt das Reaktiv-Vorreflexive, die »Normalisierungen« des Auges oder auch Untersuchungen zur Herstellung von Aufmerksamkeit bzw. Vermeidung von Unaufmerksamkeit auf, während der Einsatz von Bildern hingegen die Normalisierung des Blicks durch intendierte Sehgewohnheiten sowie vor allem die adressierte Anrufung des Subjekts betrifft. Beide Formen separieren und bearbeiten das Sehen auf ihre Weise durch »Nur-Sichtbarkeit«. Die »Erfindung« der Sichtbarkeit als Qualität und Produkt des Sehens – und nicht der Dinge – findet vermehrt auf dem Feld der Physiologie, späterhin der Psychologie und Psychotechnik ihren Halt. Die experimentellen Anwendungsfelder betreffen die Ökonomie, das Militär und zunehmend auch die Schule. Im Zeichen der experimentellen Psychologie und der sich anbahnenden Psychotechnik verstehen sich die Akteure dieses Feldes als »Leistungsingenieure«, so eine Formulierung Robert Musils. Sehexperimente und Studien vielfältiger Art werden auf Eignungsfelder bezogen, um die Subjekte in bestmöglicher Eignung zu platzieren. Sie sollen ertragreich verteilt werden. Es geht in solchen Experimenten um Fragen der Ermüdung des Auges, den Grenzen und Möglichkeiten von Aufmerksamkeitsspannen oder auch visuellen Reaktionszeiten. Hinzu kommen Untersuchungen über Sehleistungen, Pathologien und Anomalitäten und Schwächen. Von Bedeutung sind hier weniger die Details der Experimente und deren jeweilige Zwecksetzung als vielmehr die Tatsache, dass sie dem Sehen allesamt eine wichtige Schlüsselstelle in dynamischen Anpassungsverhältnissen zuschreiben. Die Grenzen und Möglichkeiten der Anpassungsleistungen werden ausgelotet, Eignungen erwogen. Experimente zum ästhetischen Empfinden finden sich genauso wie die zu Aufmerksamkeitsleistungen. Die Experimente betreffen zumeist generalisierte Leistungen des Sehens, Bilder sind »Zeigzeug« und als Handlungsmodelle Anrufungen, die einen bestimmten Blick evozieren. Das Sichtbare der Bilder geht selbst aus bestehenden Ordnungen hervor, so dass das Sehen eine Sichtweise festhält, ohne aber den Blick zu explizieren. In dieser Lesart stehen die Bilder in der Funktion der Blickerziehung durch eine bildliche, nahezu unmittelbare Anrufung und Adressierung an das sehende Subjekt (vgl. im Anschluss an Judith Butler, Die Psyche der Macht, Frankfurt a. M. 2001). Sie zielen auf die Erzeugung von i. w. S. ästhetischen Wirkungen, die nicht nur die Wahrnehmung bzw. die Semantik des Gesehenen, sondern die Modalität des Sehens betreffen. Ich habe also keinen Blick, ich bin mein Blick.

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sie sind also indifferent gegenüber Kontexten und losgelöst von sichtbaren Gegenständen. Die visuelle Aufmerksamkeit wird in der Folge zur Schnittstelle von Reizauslösung und Willenshaltung. Sie wird zur Kausalität der Sichtbarkeit und zunehmend zu einem wichtigen Feld der Psychotechnik und der Erziehung des Blicks. Ihre Bedeutung ist in pädagogischen Kontexten unbestritten und wird vor dem 19. Jahrhundert durch die Disziplinierung des Blicks in der Raumanordnung von Bänken und Sitzhaltung konfiguriert, nicht als Bestandteil der Herstellung von Sichtbarkeit. 44 Gerade weil die Zerstreuung durch Reize das Subjekt in seiner Mannigfaltigkeit trifft, wird die Aufmerksamkeit zum Feld der Synthesis des Mannigfaltigen durch Konzentration und gelenkter Aufmerksamkeit. 45 Mit anderen Worten: Die Erziehung des Blicks findet über den Begriff der Leistung und der Aufmerksamkeit einen ersten psychotechnischen Fokus. 46 Diese Befunde finden auf unterschiedlichen Feldern ihre Anwendung und Umsetzung. Als Steuerung des Verhaltens der Subjekte spielt gerade der mit ihnen verbundene vorreflexive Zugang zum Sehen eine große Rolle. Er führt dem Willen quasi einen Reiz zu, der bedürfnis- und damit handlungsleitend wird. Die Erziehung des Blicks ist Bestandteil einer modernen Gesellschaftsform, deren steter Wandel in hohem Maße Anpassungsleistungen und Eingewöhnungen an neue Raum-Zeitkonstellationen erwartet. Nicht nur die bewegten Bilder, Fließbandarbeit oder auch schlichtweg die Beschleunigung von Fortbewegungs- und Kommunikationsmöglichkeiten gelten als Herausforderung für eine Ökonomie des Körpers, sondern Entfremdungsprozesse durch Urbanisierungen oder etwa die seinerzeit flächendeckende Einrichtung künstlicher Beleuchtung. Der Blick lernt Flüchtigkeit, Flexibilität, Mobilität und Wandelhaftigkeit aller Verhältnisse. Das Subjekt »begnügt sich, Reize zu empfangen« 47. Diese so entstehende Indifferenz der Anpassung wird die Voraussetzung jeder warenhaften Struktur der Wirklichkeit, Vgl. auch insgesamt die Studien Foucaults (insbesondere Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1976). 45 Vgl. zur Aufmerksamkeit auch Jonathan Crary, Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main 2002. 46 Eingeübt wurde diese Steuerung der Aufmerksamkeit im Übrigen auch über den Zeichenunterricht, der zugleich das genaue, konzentrierte Beobachten fördern sollte. Vgl. auch den Beitrag von Ina Uphoff in diesem Band. 47 Nietzsche 1999, KSA 1, 876. 44

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die Grundlage für den ökonomischen Blick eines Bedürfnissubjekts ist. Die Sichtbarkeit wird eine eigene Währung im Handel mit Wirklichkeiten. Das Sehen sei eingewöhnt, so konstatiert Adorno im Jahre 1937/1938, die Dinge der Welt als Waren zu sehen. 48 Neben der Logik der Psychotechnik, insbesondere der Untersuchung generalisierter visueller Anpassungsleistungen, sind vor allem die Bildtechnologie und die Bildpolitik exponiert. Während die Psychotechnik in ihren Ausgestaltungen das Beschreibungsvokabular für visuelle Anpassungsleistungen bereitstellt, modellieren Bildtechnologien und Bildpolitiken die Grammatik der Sichtbarkeit und der normativen Blickkonfiguration. Die Erziehung des Blicks betrifft ein sehr komplexes, vielschichtiges Feld, in dem Bilder als »Zeigzeug« 49 Konjunktur haben. Bilder finden aufgrund vielfältiger, auch technischer, Voraussetzungen im 19. Jahrhundert eine weite Verbreitung. Vor allem die Fotografie, selbst Ausdruck und Effekt eines vorgängig veränderten Sehverständnisses, sowie vordem die Lithografie erlauben eine Verbreitung des Bildes, die das visuelle Subjekt vor eine neue Herausforderung stellt. Technische Erneuerungen auf dem Feld der Bildproduktion folgen allerdings dem großen Bedürfnis nach Bildern. Bemerkenswert an der Bildpolitik ab dem späten 19. Jahrhundert ist, dass von nun an die Adressierung sowie die normativen Anrufungen im Vordergrund stehen und zunehmend das unbewusste Begehren aufgegriffen wird. Dieser Tatbestand gilt insbesondere für die Werbung, die politische Propaganda und für den schulischen Bildeinsatz. 50 Neben dieser Aufnahme des Sehens in die Bildgestaltung ist zudem die serielle Produktion herauszustellen, also schlichtweg die Tatsache, dass Bilder Teil eines visuellen seriellen Netzwerkes werden, z. B. der Propaganda oder der Werbung. Sie schaffen so in einer Massenhaftigkeit oder Serialität einen Raum des Normalen (inklusive statistischer o. ä. Darstellungen). Zugleich wird eine spezifische Sehleistung des Betrachters bzw. der Betrachterin gefordert. Er bzw.

Vgl. Adorno, a. a. O., 1985, 94. Lambert Wiesing, Sehen lassen, Frankfurt a. M. 2013, hier (in Anlehnung an M. Heidegger) 14. 50 Vgl. Ina Katharina Uphoff, Schulwandbilder – historische Bild- und Bildungsmedien für den Literaturunterricht. Visualisierte Literatur zwischen Nationalbildung, Sprachschulung und ästhetischem Genuss, in: Dieter Wrobel / Astrid Müller (Hg.), Bildungsmedien für den Deutschunterricht. Vielfalt – Entwicklungen – Herausforderungen, Bad Heilbrunn 2014, 40–54. 48 49

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sie muss die Sichtweise allererst in ein Verhältnis zum Normalen bringen und unter dem Gesichtspunkt des Normalen prüfen. 51 Bilder werden – was alles sie auch sein mögen – in der Transformation des Sehens zu »Sichtbarkeitsgebilden« 52, wie Konrad Fiedler sie bezeichnet. Fiedler plädiert für die Isolierung des Sehens von anderen Formen der Wahrnehmung. Und das Bild leiste genau die Isolierung zur Untersuchung des Sehens, indem es die Sichtbarkeit vom Gegenstand zu trennen vermag. 53 In dem Sichtbarkeitsgebilde wird das Sehen, nicht etwa die Darstellung von Objekten, thematisch. Bilder zeigen das Sehen und sind darin Sichtbarkeitsgebilde. Vor allem ist das Unbewusste in nuce an dieser Sichtbarkeit beteiligt. So schaffen Sehkonventionen, Ordnungen und Projektionen »unbewusst« ihren Ausdruck. Die unbewusste Intellektualität und Konventionalität der visuellen Ordnungen sind immer schon Teil der Wahrnehmung. Fiedler – und das ist hier von historischem Interesse – bündelt die Konzeptionen des Sehens in eine gänzlich neue Bildtheorie. Mit ihm lassen sich die Auswirkungen des Sehens in ihrem Verhältnis zu den Darstellungen der Bilder exemplarisch aufweisen. Die Kunst soll nunmehr das Sehen als ein spezifisches Zur-Welt-sein auf ihre darstellerische Art untersuchen, die visuelle Hinwendung in der eigenen Sprache der Wahrnehmung verstehen, um den Sehprozess am Ende zu bilden. 54 Die Sprache der Bilder bildet, und zwar nicht nur in der Kunst, sondern als eine Grammatik der Wahrnehmung sui generis, als Ausdruck der Gesetze und Formeln des Sehens. 55 Bilder als Sichtbarkeitsgebilde aufzufassen, also als Ausdruck des Sehens und nicht der Objekte, macht sie zugleich, denkt man Fiedler schließlich konsequent zu Ende, zu Adressierungsgebilden. Sie rufen die Betrachter und Betrachterinnen an, auf diese Weise zu sehen. Das Bild blickt quasi an (Didi Huberman), adressiert und fordert eine Positionierung. Es ist nur durch das Sehen und das Gesehenwerden. Interessant ist, dass die Kunst genau dieses Verhältnis umkehrt. Vgl. zum veränderten Blick durch Bildserien in der Wissenschaft die Untersuchung von Lorraine Daston / Peter Galison, Objektivität, Berlin 2013. 52 Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst, 2 Bde., hg. von Gottfried Boehm, München 21991, Bd. 1, 192. 53 Vgl. Fiedler, a. a. O., 1991, Bd. 1, 157, 191. Vgl. auch Lambert Wiesing, Konrad Fiedler, in: Stefan Majetschak (Hg.), Klassiker der Kunstphilosophie, München 2005, 179–198. 54 Vgl. Fiedler, a. a. O., 1991, Bd. 1, 168. Vgl. auch Wiesing 2005, 189 f. 55 Vgl. Fiedler, a. a. O., 1991, Bd. 2, 157. 51

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Bilder sind Technologien einer Erziehung des Blicks. Sie zeigen nicht etwa, wie die Dinge sind, sondern wie sie gesehen werden sollen. Sie sind eine Anrufung, unter welcher Gestalt das Sehen erscheinen möge. Bilder verweisen im Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht auf die Realität, sondern am Ende auf das Sehen. Ihre Sichtbarkeit sind Ausprägungen und Prägungen visueller Auffassungen. Die leibliche Wahrnehmung, das Sehen, bestimmt dabei die Subjektivität, und nicht etwa umgekehrt. Der Blick ist gegenüber der Subjektivität primordial. Es geht nicht darum zu behaupten, dass Bilder nicht auch etwas sichtbar machen. Vielmehr soll herausgestellt werden, dass mit der Transformation des Sehens Sichtbarkeit zu einer eigenen Qualität der Bilder wird, sie erhält eine eigene bildliche Existenz, die unabhängig von jeglicher Gegenständlichkeit, also von etwas Sichtbarem gedacht wird. Bilder werden seit dem 19. Jahrhundert auf ein sehendes Subjekt bezogen und nicht mehr auf die Welt; sie sind adressiert und umschließen in der Sichtbarkeit auch das Nichtsichtbare, das Unbewusste, die Projektion oder das Konventionelle. Die Perspektive der Darstellung ist die des adressierten Betrachters bzw. der Betrachterin. Wie gesehen werden soll, mit welchen Affekten und Emotionen, mit welchen Projektionen und unter welchen Ordnungen, mit welchem Begehren und welchen Bedürfnissen, welchen Haltungen und Einstellungen, modelliert die Räume der Sichtbarkeit. Auch wurden zunehmend Bilder hergestellt, die zeigen, was selbst gar nicht sichtbar ist: Diagramme, Statistiken, Infografiken, Tabellen, Simulationen, technische Bilder u. v. m. Das Bild ersetzt nicht etwa die Realität, es wird ein Teil ihrer als Sichtbarkeit. Eine eigene Entität. Das Sichtbare löst sich vom Objekt und bezieht sich stattdessen auf ein semantisches Netz des Sehens, auf ein Netz von Bildern, die aufeinander verweisen. Die Kunst schließlich reflektiert die Grammatiken der Wahrnehmung, sie differenziert die visuelle Sprache aus. Am Ende kommt ihr darin eine Art Aufklärungsfunktion zu, gewissermaßen, in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein, bei ihrem Kampf gegen die Verhexung unserer Wahrnehmung mit den Mitteln der Bilder. Sehr deutlich wird die Umschrift des Sehens durch Bildtechnologien im schulischen Bereich. Hier werden Bilder konstitutiv erzieherisch als Anrufungen eingesetzt. Auch die Konzeption und Herstellung von umfangreichen Bild-Serien üben in ein neues Sehen ein, das den Spielraum des Normalen weitläufig absteckt und die Regeln sowie Formen des Sehens vermittelt. Die Bilder, die in den Schulen als 188 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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eines der wichtigsten Medien eingesetzt werden, sind die Anrufung visueller Auffassungen an das sehende Subjekt. Sie zielen auf eine »Ordnung des Blicks«, unter der das Bild gesehen wird. Die Schulwandbilder, die in der Adressierung oft noch alters- und geschlechtsspezifisch differenziert wurden, bilden ein gänzlich eigenes Genre des Bildregimes. Eine Erziehung des Blicks als Modellierung der Sichtbarkeit setzt, wie begründet wurde, voraus, dass Sichtbarkeit als Produkt der Erziehung herstellbar ist. Dieser Bruch in der Bedeutung des schulischen Bildes wird durch den künstlerischen Wandschmuck virulent, der an der Wende zum 20. Jahrhundert den Bildeinsatz in Schulen flankiert. 56 Mit ihm wird sichtbar, dass nicht die Darstellung eines Objekts, in dem Falle eines künstlerischen, interessiert, sondern nur noch die Weise des Sehens, also ästhetisch sehen zu können, mit den Augen eines Künstlers. Aber auch der Blick für die Heimat, den Führer, das Volk, den Fortschritt und das Wachstum, Hygiene und Gesundheit u. v. m. unterliegen den Technologien des Sehens und dem Blickregime. Die Blicke, die Sichtbarkeiten schreiben sich der Wahrnehmung ein, sie machen sichtbar und übersehen. Die Sichtbarkeitsgebilde rufen das Sehen an und adressieren den Blick.

IV. Statt eines Schlusses: Ethik des Blicks Insofern das Sehen indifferent gegenüber dem Gesehenen wird, erscheint es umso dringlicher, das Sehen auch einer ethischen Perspektive, also einer kritisch-reflexiven Selbstsorge zu unterziehen. Unter einer Ethik des Blicks kann dann die Kritik verstanden werden, nicht dermaßen wahrnehmen zu müssen. Mit der »Erfindung« der Sichtbarkeit entstehen die Macht, sehen zu müssen, und die Adressierung dessen, was nur ist, indem es gesehen wird. Das ist die ontologische Neurose der Sichtbarkeit, die Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und in den sozialen Medien gegenwärtig existentiell wird. Sein hat nur, was Sichtbarkeit hat, also tatsächlich gesehen wird. Die Steigerung der Aufmerksamkeit kennt in diesem Kontext keine Grenze, keine Dignität des Gegenstandes oder des Menschen. Bloße Sichtbarkeit hat keine Referenz. Vgl. Ina Katharina Uphoff, Der künstlerische Schulwandschmuck im Spannungsfeld von Kunst und Pädagogik. Eine Rekonstruktion und kritische Analyse der deutschen Bilderschmuckbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, Berlin 2003.

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In der Folge des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein entsteht eine exponentielle Zunahme von Sichtbarkeit. Die Herstellung von Bildern erreicht ungeahnte Dimensionen, als Sichtbarkeitsgebilde machen sie das Gesehenwerden zum Objekt. Das Resultat dieser Zunahme ist aber zugleich die visuelle Belanglosigkeit und Unverbindlichkeit. Auch die im 20. Jahrhundert einsetzenden vermehrten Überlegungen zur leiblichen Sichtbarkeit 57 bis hin zur Frage nach dem Problem der Verobjektivierung des Selbst durch seine Sichtbarkeit im Blick des Anderen (Jean-Paul Satre) sind zunächst kritische Befunde und Symptome des historischen Faktums einer veränderten Hinsicht auf das Sehen. Vor allem entsteht mit der Sichtbarkeit, die nur noch einen Bezug zum Gesehenwerden, nicht mehr zu Objekten kennt, eine zweite »Welt« einer gänzlich unschuldigen Indifferenz als Matrix der Blickerziehung. Die adressierte Sichtbarkeit erschafft nicht nur neue (gegenwärtig durch sogenannte filter bubbles personifizierte) Welten, sondern erlaubt, sie ebenfalls auch, z. B. warenförmig oder auch ideologisch zu konfigurieren. Die Folge der Wahrnehmung ist das bereits durch Schopenhauer grundgelegte voluntative Bedürfnissubjekt des Begehrens und der Projektion einer Welt als Wille und Vorstellung. 58 Die heuristische Unterscheidung zwischen Sichtbarem und Sichtbarkeit wurzelt in der Möglichkeit der Unterbrechung ihres allzu selbstverständlichen Zusammenhangs. Nicht alles, was potentiell sichtbar ist, muss Sichtbarkeit erlangen. Es gibt eben auch Sichtbares ohne Sichtbarkeit (das ist nach Jacques Rancière der Einsatz der Politik), und es gibt Sichtbarkeit ohne Sichtbares (das ist der Einsatz von z. B. Fake News, Bildregimen, Ideologien und insgesamt – nach Rancière – polizeilichen Ordnungen). In einer Welt, in der unter dem Titel der Transparenz möglichst alles sichtbar gemacht werden soll, stellt sich, erstens, die Frage, ob alles, was sichtbar ist, auch eine Sichtbarkeit als Gesehenes erlangen sollte, und, zweitens, ob der Sichtbarkeit der Transparenz überhaupt ein Sichtbares korreliert oder entspricht. Die kritische Diskretion der Wahrnehmung ist die Gegenkraft zur universellen Transparenz. Sie zerstört zugleich die Warenförmigkeit, sei es die ökonomische oder ideologische, die auf die Sichtbarkeit angewieVgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg 1967, 16. Neue Technologien wie augmented reality, sind, ähnlich der Fotografie, lediglich Fortsetzungen technischer Entwicklungen vor dem Hintergrund einer historischen Transformation des Verständnisses von Wahrnehmung und Sehen im 19. Jahrhundert. 57 58

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sen ist. Mit anderen Worten: Sichtbarkeit kann auch verweigert werden. Es gibt nicht mehr die Unschuld des Sehens, wenn es sie je gab, die das Sehen als eine Widerspiegelung des Sichtbaren begreift. Sehen ist ein Handeln, das Sichtbarkeit herstellt, und für das eine Art Verantwortung übernommen werden muss. Eine Ethik des Blicks hat in dieser komplexen Lage (a) sichtbar zu machen, also Sichtbarkeit herzustellen, (b) Sichtbarkeit zu verweigern sowie (c) zu verändern. (a) Sichtbar zu machen betrifft genuin die Aufteilung des Sinnlichen. 59 Sichtbarkeiten als Technologien des Sehens unterliegen visuellen Machtverhältnissen. Aufmerksamkeiten steuern Salienzen, Begriffe formen die Wahrnehmungen, Ordnungen machen unsichtbar und gewährleisten Sichtbarkeit. Nur, wenn etwas gesehen wird, hat es Sichtbarkeit und ist. Damit wird das Sehen selbst zu einem machtvollen Geschehen. Foucault hat das Ordnungsgeschehen besonders für den ärztlichen Blick beschrieben, der sich als kalkulierbarer, reiner Blick dem »Mythos des sprechenden Auges« 60 und einer Ordnung des Sichtbaren verschreibt. So wie Worte Lärm bleiben, solange sie nicht gehört werden, bleiben im Grunde sichtbare Verhältnisse unsichtbar, solange sie nicht gesehen werden. Verhältnisse sichtbar zu machen ist ein aisthetischer Prozess, der die bestehende Sichtbarkeitsordnung unterwandert. Während das Wesen der Bilder in der Kunst ist, tatsächlich sichtbar zu machen, was nicht gesehen würde, sind sie medial funktional selbst nur noch Sichtbarkeiten, die keinem Gesehenen, sondern nur noch dem Adressieren entstammen. Sichtbarkeit wird als eine Eigenschaft des Sehens erzeugt, die nicht mehr in dem aisthetisch-reflexiven Blick des Künstlers wurzelt, sondern den Betrachter adressiert. Kurzum: Es ginge stattdessen darum, die Sichtbarkeit, die sichtbar macht, sichtbar zu machen. (b) Eine Ethik des Blicks steht in einer langen Tradition der custodia oculorum, der Augenzucht, dem »Auf-die-Augen-achten«. Bei der custodia geht es um eine asketische Praxis der Augenlust, also um die Disziplinierung der Augen, nicht zu sehen. Welche Art der Sichtbarkeit entsteht durch das Sehen und was ist die möglicherweise rechte Sichtbarkeit? Muss alles, was materiell sichtbar ist, auch Sichtbarkeit haben, also gesehen werden? Der Gedanke der custodia geVgl. Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008. 60 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a. M. / Berlin / Wien 1976, 128. 59

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Andreas Dörpinghaus

hört sicherlich in eine asketische Praxis, die sich im Kontext der Hinwendung zu Gott begreift; sie ist aber dessen ungeachtet im Kern zunächst eine Form der Askese, die sich auf das Sehen bezieht. Ihre Sorge zielt darauf, dass die Sichtbarkeit die Seele affiziert, darin auch irrleitet. Bestimmtes soll eben – das die Idee – gar nicht erst sichtbar gemacht und gesehen werden. Gleichwohl lässt sich dieser Gedanke wenden. Der ungemäße Blick erzeugt zugleich Scham, beschämt, verobjektiviert. Die Askese der Augenzucht richtete sich somit auf ein Sehen, das gerade nicht beschämt, nicht verobjektiviert und darin nicht verletzt. Der Verlust eines schamvollen Sehens ist nichts anderes als der Verzicht auf eine Askese der Sichtbarkeit, auf eine Art der custodia oculorum. Der eigene Körper, aber auch die Körper anderer gerieren zur bloßen Sichtbarkeit, sind kein Signum eines sichtbaren Anderen. In diesem Sinne heißt Sehen auch eine Einübung in eine neue Askese visueller Bedürfnisse. Oder wie es Hans Blumenberg formuliert, sollten nicht die Reize permanent gesteigert werden, sondern die Aufmerksamkeit kontrafaktisch verfeinert werden. 61 (c) Sehen-lernen als Teil einer Ethik des Blicks heißt, das Wahrnehmen rückbeziehen zu können auf seine eigenen Möglichkeiten, um so Sichtbarkeit auch zu verändern. Möglichkeiten zu sehen heißt anders und Anderes zu sehen. Folgen wir Wittgenstein, 62 so wäre das Ziel des Sehens, gerade die Vielfalt der Sichtbarkeiten zu verstehen, also ein Anderssehen zu erlernen. Die Erziehung des Blicks ist stets die Abrichtung hin zu einer visuellen Auffassung und Ordnung. Eine Ethik des Blicks in ihrer kritischen Reflexivität wäre eine Art Emanzipation des Sehens von der Reduzierung des Sehens auf die bloße Empfindung als Mythos der Unmittelbarkeit. 63 Das Sehen ist eine Technologie des Selbst, auch um Welt reflexiv zu begreifen. Darin trifft zu, was Wittgenstein betont: Ethik und Ästhetik sind eins. Vgl. Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück, aus dem Nachlaß hg. von Manfred Sommer, Frankfurt a. M. 2002, 184. 62 Für Wittgenstein hat das sogenannte Aspektsehen eine große Bedeutung. Mit diesem Begriff meint Wittgenstein in erster Linie im engeren Sinne ein Seherlebnis oder eine Erfahrung des Sehens, bei dem plötzlich etwas, also ein Aspekt, beispielsweise eines Bildes, sichtbar wird, der vorher nicht sichtbar war und der das gesamte Bild in der Sichtweise verändert. Etwas wird also sichtbar, was auf diese Weise bislang noch nicht gesehen wurde. Er spielt diese Möglichkeiten des Aspektsehens am Vexierbild durch. 63 Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, 109. 61

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Ralf Konersmann

Die Augen der Philosophen Zur historischen Semantik und Kritik des Sehens

Die abendländische Kultur ist eine Kultur des Sehens. Der Blick durchdringt und überschaut, er forscht und prüft, er verbindet und trennt, und er ist selbst da noch gegenwärtig, wo es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt. Die Eule der Minerva, konnte der Philosoph Hegel erklären, beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug.

1.

Hegels Traum

Die Geschichte des Sehens ist lang, und sie ist reich verzweigt. Weit davon entfernt, einer einzigen, klar vorgezeichneten Bahn zu folgen, umfasst diese Geschichte zahllose, nicht selten rivalisierende Einstellungen und Positionen. Deren Abfolge wiederum weist eine Reihe bedeutungsgeschichtlicher Einschnitte auf. Die Deklaration Hegels bezeichnet einen solchen Punkt – für die Geschichte des Sehens ebenso wie für die Geschichte des Denkens: Jenes mit dem Datum des 25. Juni 1820 unterzeichnete Theoriestück, mit dem Hegel seine Grundlinien der Philosophie des Rechts eröffnet, kann als Aufruf zur Mäßigung gelesen werden. Was noch kurz zuvor die Aufklärer – von den bildungsbeflissenen Popularphilosophen bis zu den tatendurstigen Jakobinern – als Einheit hatten erfassen wollen, wird nun mit beherztem Schnitt getrennt: Sinnlichkeit und Sinn, Leben und Wissen. Hegel beschränkt sich auf eine metaphorische Konfiguration, der die Begründung oder, sagen wir vorsichtiger: die Illustration des Gedankens überlassen bleibt. Diese Metaphern sind optischer Natur. Die Farblosigkeit, das »Grau in Grau« der Philosophie, kontrastiert mit der »bunten Rinde« des beiseite gestellten Lebens. Hegel begnügt sich keineswegs damit, auf den Zeitverzug und die Nachträglichkeit des Wissens hinzuweisen. Er tut einen zusätzlichen Schritt und überhöht die Differenz von Leben und Wissen durch den Hintergrundkontrast 193 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Ralf Konersmann

von bunt und grau, licht und dunkel. Das theoretische Begreifen soll vor überzogenen Erwartungen bewahrt werden, vor unbilligen Unterstellungen und vor dem Spott der enttäuschten Verehrer. »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, / Und grün des Lebens goldner Baum« – selten dürfte Hegel sein Anliegen so genau erfasst gefunden haben wie in diesen Verszeilen der »absoluten philosophischen Tragödie«. 1 Die Eule der Minerva ist das Sinnbild einer Verzichtserklärung. Sie verabschiedet die Hoffnungen des lebensunmittelbaren Theoretisierens, wie es Aufklärern und Frühromantikern vorgeschwebt hatte. Die Rede vom Licht, mit dem die Vernunft voranschreite, von der Einsicht, die es zu gewinnen, und von den Augen, die es zu öffnen gelte, war für diese Vorgänger mehr gewesen als eine Façon de parler. In seinem Nouvel Essai sur l’Art Dramatique von 1773 hatte Louis Sébastien Mercier exemplarisch Position bezogen und seinerseits »diesen ganzen scholastischen Haufen« attackiert, der nur durch den Mund der Toten zu reden wisse, der also die Welt verfehle, indem er sich immer wieder nur auf Bekanntes und Hergebrachtes zurückziehe. All diese Leute, schreibt Mercier, »die Freunde der Gräber und der Dunkelheit, die am längst Vollbrachten festhalten und gegen das, was heute geschieht und was morgen geschehen wird, einen zähen Krieg führen, haben die Optik der Eule, die sich beim geringsten Lichtstrahl schmerzlich verengt«. 2 Der nur aufs Denken bezogene, unsinnliche Gedanke soll belanglos sein, bar jeder Aktualität. Die vorrevolutionären Metaphern sprechen eine deutliche Sprache. Verglichen mit dieser selbstsicher und zukunftsgewiss vorgetragenen Polemik erscheint die nachrevolutionäre Eule der Minerva als Widerruf. Wo eben noch der philosophische Lichtbringer und Weltbeobachter das Modell der »Okularität« 3 verfocht, ergreift nun der »Freund der Gräber und der Dunkelheit« das Wort. Die Konsequenzen sind weitreichend, und sie erfassen den ganzen Weltbezug des Wissens. Nicht die außerordentliche Qualität ihrer Optik, die Helligkeit ihrer Einsichten soll die Vernunft fortan auszeichnen, sondern die Fähigkeit, vom unmittelbar zutage Liegenden, vom Sichtbaren Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1835) (Theorie Werkausgabe 15), Frankfurt a. M. 1970, 557; vgl. Goethes Faust, Vers 2038 f. 2 Louis Sébastien Mercier, Du théâtre ou Nouvel Essai sur l’Art Dramatique, Amsterdam 1773, S. XI. 3 Vgl. Paul Yorck von Wartenburg, Bewußtseinsstellung und Geschichte. Ein Fragment aus dem philosophischen Nachlaß [1897], hg. von Iring Fetscher, Hamburg 2 1991, 13. 1

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und Offensichtlichen abzusehen. Hegels Traum ist der Traum der Vernunft, deren Schlüsse den Eindruck des Augenscheins überwunden haben und solcher Bestätigung nicht weiter bedürfen. Als zerstreuende und »abstrakteste« Attraktion ist das Sehen der konkreten, sich durch ihre Synthesen entfaltenden Vernunft entgegengesetzt und daher überhaupt suspekt. Das »Auge des Begriffs« ist blind, blind jedenfalls für das Schaugepränge der Oberfläche und »das bunte Gewühl der Begebenheiten«. Wer es im philosophischen Denken zu etwas bringen will, dem muss »zuerst das Sehen und Hören vergehen«, er muss »in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden«. 4 Hegel wendet Mühe und Leidenschaft daran, die Weltdistanz des philosophischen Gedankens als zeitgemäß verständlich zu machen. Als einer ihrer konsequentesten Vertreter findet er am Beginn der Moderne ein zentrales, vielleicht das zentrale Motiv des abendländischen Intellektualismus wieder, das die Lichtmetaphysik der Tradition endgültig in die Schranken des bloß Metaphorischen, des Vorbegrifflichen und Unbegriffenen weist. Das Urteil der Vernunft erwächst aus der Kritik des Sehens.

2.

Ansprüche der Kritik

Kritik ist ein mehrdeutiger Begriff, und für die Formel »Kritik des Sehens« gilt Entsprechendes. Kritik üben heißt unterscheiden, es heißt entscheiden und, nicht zuletzt, beurteilen. Der Anspruch der Kritik umfasst die Würdigung und Prüfung des Gegenstandes, die auf einen »Richterspruch« der Vernunft hinausläuft. Philosophisch ist diese Variante besonders interessant. Indem sich nämlich das Denken in der Praxis der Kritik seines wahren Potentials versichert, wird es reflexiv, schöpferisch und, wie Friedrich Schlegel sagt, »historisch konstruktiv«. Im Verlauf dieses Prozesses verändert sich die Erwartungslage, aber auch der Gegenstandsbezug. Die Kritik löst sich von der bloß aburteilenden Polemik und rückt den Gegenstand in den ZuGeorg Wilhelm Friedrich Hegel, Über den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien (1812) (Theorie Werkausgabe 4), a. a. O., 403–416, hier 413; s. a. ders., Die philosophische Weltgeschichte [zweiter Entwurf 1830], in: Ders., Die Vernunft in der Geschichte, hg. von Johannes Hoffmeister, Berlin 1966, 23–183, hier 32. – Die späte Polemik unterstreicht Hegels Gegnerschaft zu Rankes skopophilem Historismus; s. u., Abschnitt 4.

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sammenhang seiner Genealogie: die Genealogie der sprachlichen Ausformungen und ihres Gebrauchs, aber auch die Genealogie der institutionellen Verstrickungen und ihres weitverzweigten gedanklichen Wurzelwerks. Die Formel »Kritik des Sehens« resümiert dieses Pensum historischer Konstruktion. Dementsprechend geben die folgenden Bemerkungen einen gedrängten Überblick über die Welt des Auges, über die Konventionen des Zuspruchs und der Zurückweisung. Es versteht sich, dass diese Bestände weder vollständig erschlossen noch erschöpfend interpretiert werden können. Die Verwurzelung zahlreicher Begriffe der Erkenntnis und des Wissens im Bereich der verba videndi ist tief und erklärt die Allgegenwart des Motivs. Die Begriffe Reflexion und Spekulation, die Idole, Visionen und Evidenzen, ja selbst die Theorie, die Skepsis, die Idee und das Ereignis, das Lessing und selbst Kant noch als »Eräugnis« gegenwärtig ist, entstammen sprachgeschichtlich den Sphären des Sehens. Freilich bleibt, was mit diesen etymologischen Befunden gesagt ist, bedeutungsgeschichtlich zu prüfen. Diese einführenden Bemerkungen tragen Leitlinien zu einer solchen, am Spektrum der kulturwissenschaftlichen Fächer orientierten Bedeutungsgeschichte des Sehens vor – keineswegs aber diese Geschichte selbst. Obwohl bereits Schiller das Sehen als einen epochenübergreifenden Bildungsprozess und »selbständigen Werth« beschrieb, in dem der Mensch lernen könne, »ästhetisch frey« 5 zu sein, ist die Geschichte des Sehens bis heute über Einzelkapitel und Unterabschnitte nicht hinaus gediehen. Wohl aber können und sollen die folgenden Überlegungen untermauern, dass sich, wie Walter Benjamin schrieb, innerhalb großer Zeiträume mit der gesamten Daseinsweise der Menschen die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung ändere, 6 dass also – These eins Friedrich Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung der Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) (Werke. Nationalausgabe 20), Weimar 1962, 309–412, 400. 6 Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Gesammelte Schriften 1), Frankfurt a. M. 1980, 471–508, hier 478; s. a. Gesammelte Schriften 7, 354; s. a. L’œuvre d’art à l’époque de sa reproduction mécanisée, in: Zeitschrift für Sozialforschung 5 (1936), 40–68, hier 43. – Die Geschichte des Sehens und der Wahrnehmung gehört zu den unvollendeten ouvrages à faire Benjamins und überhaupt der Kritischen Theorie. Die Tatsachen, schrieb Max Horkheimer an gleicher Stelle, »welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs«. Hintergrundannahme ist die kulturelle und soziale Disziplinierung der Sinne: »Der phy5

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– das Sehen eine Geschichte hat. Im Vollzug dieser Rekonstruktion zeichnet sich zudem ein semantisches Muster ab, das offenbar für diese ganze Entwicklung charakteristisch ist: die duale Struktur des Sehens. Die Zweideutigkeit der Befunde zeigt nun, dass diese Dualität keineswegs als Alternative zu lesen ist. Im Gegenteil: Es besteht – These zwei – ein konstitutiver Zusammenhang zwischen den geschichtlichen Veränderungen des Sehens und seiner Kritik. Wer erfahren will, was Sehen heißt und welche Erwartungen und Erfahrungen unter diesem Begriffstitel zusammengefasst sind, der wird bei seinen Nachforschungen mehrfache Ortswechsel in den Ordnungen des Denkens und des Wissens zu verarbeiten haben. Der Fragehorizont übergreift unterschiedliche Perspektiven und Interessenlagen, in denen Wahrnehmungsmuster erst nachträglich etablierter Wissenschaften Gestalt gewonnen haben. Die physikalische Optik ist hier ebenso beteiligt wie die Physiologie des Auges, die mathematische Rekonstruktion des Wahrnehmungsraumes ebenso wie die philosophische Reflexion des Wissens und der Erkenntnis, das weite Feld des Ästhetischen einschließlich der aisthesis materialis ebenso wie die psychologische Rekonstruktion des Wahrnehmens und Empfindens. Die Aufstellung lässt sich mühelos erweitern, aber selbst als Skizze dürfte sie eines deutlich machen: Die Rekonstruktion des semantischen Feldes, wie es in den Texten und in den Sehwelten dokumentiert ist, steht vor der Herausforderung einer für die gesamte Geschichte des Augensinns charakteristischen Weitläufigkeit der Bedeutungen. Hinzu kommt, dass die fachdisziplinären und, sofern sie überhaupt vorliegen, allesamt bruchstückhaften Geschichten vom Sehen verschiedene Erzählversionen vortragen. So stellt das Erscheinen der optischen Lehrwerke, mit denen um das Jahr 1000 der islamische Aristotelismus und, als einer seiner prominenten Kompilatoren, Hunain b. Ishāq hervortritt, für die Physik- und die Medizingeschichte den wissenschaftshistorisch entscheidenden Einschnitt dar. Der damit vorbereitete Paradigmenwechsel von der Sendetheorie zur Empfangstheorie, den schließlich Kepler vollendet, revolutioniert die bis dahin gültigen Grundannahmen der Optik. Gleichwohl ist er für die Kunst- und Architekturgeschichte kaum der Erwähnung wert. Diese siologische Sinnesapparat des Menschen arbeitet selbst schon längst weitgehend in der Richtung physikalischer Versuche.« (Traditionelle und kritische Theorie [1937], Gesammelte Schriften 6, 245–294, hier 255 f.)

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Fächer interessieren sich mehr für die Verbreitung der Raumperspektive, wie sie Leonardo schon voraussetzen kann, und damit für das 15. Jahrhundert. Der metaphysische Einschlag der damit erfolgten Umstellung der Raum- und Bildbegriffe ist schließlich Anhaltspunkt theologischer und philosophischer Betrachtungen über die visio Dei, von der an der Schwelle zur Neuzeit bereits Cusanus gesprochen hatte, als er die Grundzüge eines metaphysisch, mathematisch und ästhetisch gegliederten Perspektivismus entfaltete. Noch George Berkeley wird diesen Hintergrund voraussetzen, wenn er dazu auffordert, das Sichtbare als Sprache Gottes aufzufassen und auf seine besondere Weise zu entziffern. 7 Es ist dieser über den historischen Anlass weit hinausgreifende Aspekt seines Interesses an der Eigengesetzlichkeit der sinnlichen Wahrnehmung, der Berkeley heute den Ruf einträgt, eine Medientheorie avant la lettre entwickelt zu haben. Die historisch-semantische Kritik thematisiert jene Vorlieben des Fachinteresses, doch sie reproduziert sie nicht. Nur wer derlei Normierungen und Wahrnehmungsgewohnheiten zurückstellt, wird das Problemfeld des Sehens in seiner ganzen Ausdehnung ermessen können. Erst diesseits der Alternative von Kritik und Antikritik wird in der spätantiken Analogisierung von Auge und Sonne oder in den aus heutiger Sicht kaum weniger verblüffenden Widerständen gegen optisches Gerät und Sehhilfen – sagen wir: in der traditionalistischen Verweigerung des von Galilei spektakulär geforderten Fernrohrblicks – etwas anderes erkennbar als ein Treppenwitz der Geistesgeschichte. Herkömmlich pflegen Problemlagen dieser Art nicht gelöst, sondern vergessen zu werden, indem die Kontexte verlorengehen, vor deren Hintergrund sie einmal plausibel waren. Um diese Kontexte und damit den Bedeutungshof des Sehens erschließen zu können, wird die historisch-semantische Kritik auf die Normierung genealogischer Endstufen verzichten. Anzugeben, Sehen sei das, was die Netzhaut an Lichtwellen aufnehme und dem Gehirn weiterleite, klingt überzeugend und ist pragmatisch in bezug auf das Verständnis physio»Unendlich verschieden«, erläutert Berkeley 1733 in seiner Verteidigungsschrift, »sind die Modifikationen von Licht und Laut. Daher ist jedes von diesen beiden imstande, eine endlose Mannigfaltigkeit von Zeichen zu liefern, und jedes wurde dazu benutzt, Sprache zu bilden: einerseits aufgrund der willkürlichen Festsetzung durch die Menschen, andererseits aufgrund der Festsetzung durch Gott selbst.« (George Berkeley, Die Theorie des Sehens … verteidigt und erklärt, in: Ders., Versuch über eine neue Theorie des Sehens, hg. von Wolfgang Breidert, Hamburg 1987, 101–135, hier 121.)

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logischer Abläufe und die Behebung akuter Behinderungen. Doch auch hier darf gefragt werden, ob es das ist, was wir als Antwort verdient haben, seit wir zu fragen begonnen haben, was das Sehen sei.

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Genese des Intellektualismus

Schon die ältesten Zeugnisse explizieren den Weltbezug des Einzelnen, aber auch die Eigenart seiner Grenzerfahrung als ein Sehen. Der von der spekulativen Erfahrung der Unsagbarkeit getragene Vorgriff des Visionären kann einen Zustand eschatologischer Endgültigkeit ebenso meinen wie die »augenblickliche« Berührung von Sinnlichem und Übersinnlichem. In anderen Bezügen stellt der Kontrast von Sichtbarem und Unsichtbarem einen ontologischen Gegensatz heraus, in dem Welt und Überwelt einander unvermittelt gegenüberstehen. Dementsprechend verlangt der christliche Weg der Seligkeit einen Glauben, der seine Kraft dadurch beweist, dass er der Bestätigung durch das Zeugnis des Augenscheins nicht bedarf. »Selig sind, die nicht sehen und doch glauben«, heißt es. »Deshalb rede ich zu ihnen in Gleichnissen, weil sie sehen und doch nicht sehen, weil sie hören und doch nicht hören und nichts verstehen.« 8 Schon hier und schon so früh stößt das Sehen auf eine Kritik, vor deren Wertewelt es nicht bestehen kann. Bezeichnenderweise darf gerade der tief Blickende blind sein. Die Strafe der Blendung, von der der Mythos erzählt, ist spätestens mit Ciceros Erinnerung an die Verstümmelung des Demokrit, an die Blindheit Homers und an die Bestrafung des nachmaligen Auguren Teiresias als Geschenk deutbar gewesen, das eine grenzenlose Unendlichkeit erschließt und den Betreffenden gegen die heilsferne und zerstreuende Wirkung der Sinnenreize abschirmt. Das christliche Denken greift das Motiv auf und Joh. 20,29 und Matth. 13,13. – Ebenso Matth. 24,35: »Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.« Jene Forderung Hegels, dass dem philosophischen Neuling »zuerst das Sehen und Hören vergehen« müsse, schließt hier an. Sein Schüler und Kritiker Feuerbach erkennt darin die charakteristisch spekulative Überforderung, die aus anthropologischer Sicht zurückgenommen werden und einer Ökologie des Sichtbaren weichen soll: »Die objektiven Empfindungen, besonders des Auges, Ohres, sind […] an ein gewisses Maß des Objektes gebunden; wird dieses überschritten, so vergeht einem Sehen und Hören.« (Ludwig Feuerbach, Geschichte der neuern Philosophie. Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie [1837] [Gesammelte Werke 3], Berlin 1969, 288.)

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stellt seine ethischen Qualitäten in den Vordergrund. Mehr als bloß Kompensation, gestattet das durch die Blindheit aufgewertete innere Auge dem »Seher« (theorós) die Annäherung an Geheimnisse, die dem sinnlichen Sehen gerade durch den Andrang der Schaulust, durch die vitia videndi und ihre Sensationen, verstellt ist. Der Motivzusammenhang ist deutlich: Die Geschichte des Sehens umfasst von Beginn an eine Kritik des Sehens. Verstärkt wurde die Abwehrtendenz durch die wirksame Konkurrenz des Hörens. Vorbereitet durch die althebräische Tradition, die das Bilderverbot sanktioniert und dem Sehen allenfalls Aufgaben der Bestätigung überlässt, hält diese Überlieferung den »Gehorsam« und das Vernehmen jenes Wortes in gedanklicher Reichweite, in dem der Prolog des Johannesevangeliums alles Geschaffene gegründet sein lässt: »Im Anfang war das Wort.« Wie hier beispielhaft geschehen, ist das Zutrauen in den Augenschein seither immer wieder als Abweichung vom rechten Weg verworfen worden. Der entscheidende Einwand besagt, dass wahres Erkennen den Augen des Geistes vorbehalten sei. Es komme deshalb darauf an, das leibliche Auge abzuwenden oder rechtzeitig zu schließen. Luther trägt diesen Vorbehalt über die Schwelle zur Neuzeit, wenn er in seiner Merseburger Predigt vom 6. August 1545 lehrt, das Reich Christi sei »ein hör Reich, nicht ein sehe Reich. Denn die augen leiten und füren uns nicht dahin, da wir Christum finden und kennen lernen, sondern die ohren müssen das thun.« Luthers Theologie rechnet die Bilder zu den Entbehrlichkeiten, deren Leistungsbereich auf Hilfsdienste eingeschränkt bleibt. Die damit verschärfte Konkurrenz der Sinne festigte die Geltung des dualistischen Schemas, das an dieser Gabelungsstelle der Bedeutungsgeschichte besonders plastisch hervortritt. Das Unsichtbare ließ sich nun einmal zum Abwesenden radikalisieren, über das im Raum des Sichtbaren keine positive Auskunft zu bekommen ist (das ist, kurz gesagt, der Weg des konsequenten Idealismus, einschließlich der negativen Theologie), oder aber zum potentiell Sichtbaren entschärfen, von dem zu erwarten ist, dass es sich über kurz oder lang enthüllen werde (das ist der Weg des neuzeitlichen Empirismus, einschließlich seiner sensualistischen und materialistischen Spielarten). Tatsächlich ist dieses Schwanken zwischen Negativität und Positivität nicht nur theologisch brisant. Es macht sich darin ein auf die platonische Philosophie zurückreichendes Misstrauen gegenüber den natürlichen Fähigkeiten des Gesichtssinns und seiner ganzen Sphäre geltend, das von Beginn an auch die darstellenden Künste einbezog. 200 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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Die platonistisch-aristotelische Tradition des Intellektualismus nimmt das Sichtbare nicht als das Fraglose hin, sondern unterwirft es dem Logos und ordnet es ihm nach. Die umgebende Welt soll gerade nicht als das anerkannt werden, was sie sichtbar, also dem oberflächlichen Eindruck und dem Vermeinen nach zu sein scheint. Die Prinzipienlehre verwirklicht ihr Bemühen um Allgemeinaussagen nicht als Hinsehen, sondern als Absehen, als Abstraktion. Unter theoría fasst Platon neben Erkenntnis und Einsicht auch Betrachtung und Schau im bevorzugten Verständnis der unbetroffenen Zuschauerschaft. Die Maßstäbe des Begreifens besitzt diese Erkenntnis an den überweltlichen Ideen. Die damit gewonnene Orientierung auf Überweltliches hat einen zeitlichen Index, der dem Erkennen die Unterscheidung zwischen dem Zufälligen und Unbeständigen hier und dem zeitlos Gültigen dort nahelegt, und er macht dem Wahrheitssucher die Distanz gegenüber der sinnlich erfahrbaren Welt zur Pflicht. Die wortgeschichtliche Verwandtschaft von Idee (idéa) und Sehen (eidénai) gibt freilich ebenso zu erkennen, dass das Sehen beispielhaft bleibt. An der Maßgeblichkeit der Okularität für das philosophische Denken hält Platon jederzeit fest. Ausdrücklich hebt er hervor, wie bedachtsam die Götter einst vorgingen, als sie den Menschen als Augenwesen schufen. Ebenfalls im Timaios erzählt Platon vom Ursprung der Philosophie und führt sie geradewegs auf das Sehen zurück: auf den Himmelsanblick und das, was er aufmerksamen und ausdauernden Betrachtern zu verstehen gibt. Platons Bekenntnis verdient, nicht übergangen zu werden. Wie alle Aufklärung will auch die Ideenlehre ›zur Einsicht bewegen‹ und die ›Augen öffnen‹ für das, was eigentlich und was essentiell ist. Das Erkennen begreift sie deshalb analog zum Sichtbarmachen. Das Wesentliche ist als Unsichtbares gedacht und der Wissenserwerb vor die Aufgabe gestellt, durch die Verbergungen hindurch zum Ideenschauplatz vorzudringen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die gedankliche Zumutung des platonischen Intellektualismus. Sie ergibt sich aus der elementaren Vorstellung, dass die Theorie zur Distanzierung vom Geltungsbereich des Sichtbaren bewegen und das bloße Sinnesdatum überwinden müsse. Das Ergebnis dieser durch die Rezeptionen und Bearbeitungen der nachfolgenden Platonismen noch vereindeutigten Aufforderung ist jene duale Struktur von Schauen und Sehen, die für die Geschichte und die Kritik des Sehens richtungweisend geworden ist. 201 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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Das Schauen ist ein metaphorisches und damit das Sehen zugleich überbietendes Sehen, ein »Blick des Denkens« 9. Im Charmenides erwägt Platon zum ersten Mal überhaupt, 10 ob neben dem gewöhnlichen Sehen, dem Sehen der Farben, nicht noch eine höhere Art des Sehens anzusetzen sei, ein Sehen des Sehens selbst. Das Höhlengleichnis motiviert diese Wendung durch den Verdacht, dass der Sehende als ein im Sehen und seinen undurchschauten Grenzen Gefangener außerstande sein könnte, über die Realitätsangemessenheit und Wahrheit seiner Wahrnehmung zuverlässig zu befinden. Der platonische Sokrates erläutert die Lehre seines Gleichnisses selbst: »Die durch das Gesicht uns erscheinende Region« müsse man mit »der Wohnung im Gefängnisse gleichsetzen«, das geistige Schauen hingegen, das Schauen der Wahrheit, werde allein demjenigen zuteil, der die »Umwendung der Seele« vollzogen hat. Dieses neue, das sehende und erkennende Sehen ist ganz anders als jenes einfache, bloß sinnliche Sehen der Gefangenen in der Höhle. Es schließt den Zweifel an der Aufschlusskraft des sinnlichen Sehens und des zu sehen Gegebenen ein. Wer die Wahrheit erkennen will, misstraut dem Augenschein; er sieht mit dem inneren Auge, mit dem Auge des Geistes und der Seele. Platons Begriff des Sehens erschöpfte sich jedoch nicht in physikalischen, in metaphysischen oder auch augenheilkundlichen Erwägungen. Der im Schauen geltend gemachte Anspruch reicht weiter. Es bewegt zur Besinnung auf den Prozess des Wiedererkennens, es fördert den Aufschwung der Seele und geleitet zum Wahren und Guten. Auf diese Weise hält es Wissen und Moral beisammen. Die Figuren des Schauens, wie sie hier entfaltet werden, durchdringen die ganze kulturelle Sphäre und rücken sie zurecht, denn das Streben der theoría schließt die Kritik des Sehens und des Augenscheinlichen als einer unziemlichen Beschränkung ein. Es bestätigt sich hier, dass eine historisch-semantische Rekonstruktion des Sehens auf interdisziplinäre Ausgriffe nicht verzichten kann. Das durch die lichtmetaphysische Einbettung angereicherte Aussagepotential des platonistischen Begriffsfeldes sprengt den Rahmen der von Fachinteressen und Deutungskonventionen gezogenen Zuständigkeitsgrenzen. Das »theoSymp. 219 a. Vgl. Wilhelm Luther, Wahrheit, Licht, Sehen und Erkennen im Sonnengleichnis von Platons Politeia. Ein Ausschnitt aus der Lichtmetaphysik der Griechen, in: Studium Generale 18 (1965), 479–496, hier 489.

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retische« Wissen ist Distanzwissen, das um seiner selbst und nicht um des Nutzens oder der Anwendung willen gesucht wird. Es ist wahrhaft interesselos, ein Zusammentragen ungetrübter Einsicht und Erkenntnis. Gerade deshalb aber gerät die Malerei unter Verdacht, da sie die Sinnenwelt, statt von dort aus den Weg zum Seienden und zum Sein zu suchen, ganz und gar auf den momentanen Eindruck des unmittelbar Sichtbaren zurücknimmt. Beide ursprünglich am Sehen orientiert, beschreiten der Bildermacher (eidolopoiós) und der Theoretiker (theorós) dennoch entgegengesetzte Wege, und es ist unstreitig, wem der Philosoph seine Sympathien schenkt. Die Fruchtbarkeit dieser Kritik besteht jedoch nicht so sehr in der Absage, als deren Rezeptionsprodukt die intellektualistische Zurückweisung des sinnlichen Sehens überhaupt verstanden werden muss. Sie ergibt sich vielmehr aus der Sensibilisierung der philosophischen Reflexion für Fragen der Angemessenheit ihrer Formen und Mittel. Platons Höhlengleichnis ist nicht nur ein erkenntnistheoretisches Traktat, es ist auch eine Betrachtung über die Eigenart und die Einkleidungen des philosophischen Gedankens. Der von Platon geltend gemachte Vorbehalt gegenüber dem Sehen, und das heißt genauer: gegenüber dem Anschein seiner Natürlichkeit, macht den philosophischen Zugang zur Wahrheit und die Aufschlusskraft des Sinnlichen überhaupt zum Problem. Das Höhlengleichnis lässt beide, Philosophie und Kritik, mit dem Verlust jener Fraglosigkeit beginnen, für die das naive Sehen der Höhlenbewohner beispielgebend ist. Es ist ein Irritationsversuch und zugleich eine Einladung zum Philosophieren. Tatsächlich bedarf es nur einer geringfügigen Verschiebung der Aufmerksamkeit, um die platonische Kritik direkt auf das Sehen selbst zu beziehen. Derart modifiziert, gehört noch Maurice Merleau-Ponty der von Platon ausgehenden Traditionslinie zu, wenn er gelegentlich bemerkt, nichts sei weniger selbstverständlich als das Sehen.

4.

Rehabilitation des Augensinns

Das Resultat dieser Entwicklungen ist die nachhaltige Kritik und Infragestellung des Sehens. Das Sichtbare ist das Unrechte und Unwahre, so resümiert Franz von Baader zu Zeiten Hegels die intellektualistische Negation, da es »dem Geiste unmöglich« sei, »dieses unwahre Sichtbare für ein reines Zeugniss und Product des wahren Unsicht203 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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baren zu erkennen«. 11 Einmal mehr unterstreicht dieses Fazit die duale Struktur der westlichen Sehkultur: Obwohl das platonistisch-biblische Denken den Logos visualisiert hat, konnte die Geschichte des Augensinns keine Triumphgeschichte sein. Durchgängig ist die Forderung des Intellektualismus, die Anerkennung dessen zu verweigern, was die Welt zu sein scheint. Es entspricht dieser Zweideutigkeit, dass die kontemplative Grundierung des Schauens zu keiner Zeit unangefochten galt. Schon Diogenes soll über die Augen der Philosophen gespottet und erklärt haben, der berühmte Sokrates sei außerstande zu bemerken, was ihm vor den Füßen und vor Augen liegt. 12 Angesichts seiner entwaffnenden Schlichtheit und Evidenz konnte der kynische Protest an diesem Einwand nicht vorbeigehen. In seiner moralistischen Abgeklärtheit nimmt er jenes Pathos des Weltbeobachters und observateur de l’homme vorweg, der sich auch vom fintenreichsten Gegner keinen Sand in die Augen streuen lässt. Dieses Selbstbewusstsein hat er mit einer anderen Gegenfigur des Theoretikers gemeinsam, dem hístor, der in seiner älteren Wortbedeutung beansprucht, das Vorfindliche selbst erkundet und in Augenschein genommen zu haben. 13 Der hístor versteht sich als ein Wissender und Augenzeuge, und was er zusammenträgt und erzählend ordnet, ist vornehmlich Gesehenes: historia. Der empirische Bezugspunkt dessen, was der Historiker zu sagen weiß, ist das, was er selbst oder sein Zeuge gesehen hat. Nichts lag deshalb dem Historismus näher als das Pathos des ungetrübten Sehens, in dem das Gewesene möglichst unverzerrt zur Ansicht kommt und das es erlaubt, aus der Warte des Nachgeborenen zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen«. 14 Die Okularität der historischen Erkenntnis Franz von Baader, Brief vom 3. Januar 1798 an Friedrich Heinrich Jacobi, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Franz Hoffmann und Julius Hamberger, Leipzig 1857, Bd. 15, 177; Baader nimmt hier eine Formulierung Jacobis auf, deren Sprachgestalt die Herkunft des Gedankens gegenwärtig hält: »Du sollst nicht versuchen, sichtbar zu machen das Unsichtbare« (vgl. ebd., 202). 12 Diog. Laert. VI 28 und 54. 13 Vgl. Émile Benveniste, Le vocabulaire des institutions indo-européennes, Paris 1969, Bd. 2, 174 f., und Bruno Snell, Der Weg zum Denken und zur Wahrheit. Studien zur frühgriechischen Sprache, Göttingen 1978, 36 ff. 14 Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494–1514 (1824) (Sämmtliche Werke 33 und 34), Leipzig 1874, S. VII. – Noch Friedrich Gundolf, der die rhetorische Qualität des Darstellungsideals klar herausstellt, empfiehlt Autopsie als Maßstab für historische »Merknis und Sagekraft« (Anfänge 11

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versteht sich als Konsequenz aus der Unableitbarkeit des Einzelnen und Individuellen, das sich nur schildern, aber nicht unter Prinzipien bringen lässt. Dieses Darstellungsideal des ante oculos ponere hat die Etablierung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie ebenso überlebt wie die Verzeitlichung des Historischen. Die Wertschätzung des Sehens, wie sie dieses Jahrhundert mit dem ethnologischen Ideal des »aktiven Augenzeugen« (Bronislaw Malinowski) und der phänomenologischen Formel vom »Adel des Sehens« (Hans Jonas) noch einmal bekräftigt hat, gibt dem Vorbehalt Ausdruck, dass der Weg über die konstruktiven Leistungen der Theorie niemals mehr sein dürfe als ein Mittel zum Zweck. Das Sehen verspricht die Gewährung außerordentlicher Aufschlusskraft. Verglichen mit den Übermittlungsqualitäten des gesprochenen oder des geschriebenen Wortes, verbürgt Visualität erhöhte Präsenz, größtmögliche Tatsachentreue, Authentizität und gesteigerte Eindrücklichkeit. Nicht zuletzt auf derlei Erwartungen hatte bereits Leonardo seine Idee einer Malerei als Wissenschaft gegründet. Was demnach die menschliche Welt auszeichnen und sie als Einheit fasslich machen sollte, war ihre Sichtbarkeit. Über alle Differenzen hinweg, die gar nicht geleugnet werden, sind die Dinge durch ihre Eigenschaft verbunden, für den menschlichen Betrachter sichtbar zu sein. Nicht einmal das Neue Testament hat auf diese Beglaubigung verzichten mögen. Es stützt die apostolische Botschaft auf die Gewissheit, dass den Jüngern – als den Augenzeugen 15 – in Jesus Christus der unsichtbare Gott sichtbar geworden sei. Für das Verständnis der Kritik des Sehens und ihrer Geschichte ist nicht unerheblich, dass das entscheidende Datum, das der Neuzeit zu ihrem epochalen Selbstbewusstsein verhalf, in einer der Optik aufgeschlossenen Wissenschaft gesetzt wurde: in der Astronomie. Die Reihe der Kopernikusbewunderer, man weiß es, reicht von Giordano Bruno, der mit Kopernikus den Zerstörer der alten Weltordnung und deutscher Geschichtsschreibung von Tschudi bis Winckelmann [1938], Frankfurt a. M. 1992, 48 u. passim). 15 Vgl. Markus Barth, Der Augenzeuge. Eine Untersuchung über die Wahrnehmung des Gottessohnes durch die Apostel, Zürich 1946, 59 ff. – Ludwig Feuerbach entnimmt diesem Zugeständnis die wahre Theogonie des christlichen Gottes: »Solange uns ein Wesen nicht von Angesicht zu Angesicht bekannt ist, sind wir doch immer noch im Zweifel, ob es wohl ist und so ist, wie wir es vorstellen; erst im Sehen liegt die letzte Zuversicht, die vollständige Beruhigung.« (Das Wesen des Christentums [1841] [Gesammelte Werke 5], 256.)

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den Künder des neuen Lichtes pries, bis jedenfalls zu Kant, der sich gleichfalls auf Kopernikus berief, als er die transzendentale Neubegründung des menschlichen Weltverhältnisses vornahm. Die Bewunderung galt dem kopernikanischen Anspruch, eine durchgehend rationale, und das sollte heißen: eine die irdische und himmlische Weltregion nach ein und demselben Prinzip erfassende Kosmologie vorgelegt zu haben. Die Welt schien nicht nur geordnet – dies hätte der herkömmlichen Vorstellung durchaus entsprochen; sie war für Kopernikus auch ganz und gar auf den Menschen hin angelegt und darum von ihm her erschließbar. Entscheidend für die weitere Geschichte des Sehens und seiner kritischen Rehabilitierung ist nun, dass die Fehldeutungen der älteren Astronomie, von denen Kopernikus abgerückt war, nicht länger von der Unzulänglichkeit und Endlichkeit des menschlichen Verstandes zeugten. In der Wahrnehmung des Kopernikanismus zeugten sie vielmehr vom Missbrauch, das heißt von einem sträflichen Vertrauen in die erhobenen Sinnesdaten. Damit ist klar, worin der Beitrag der kopernikanischen Reform zur philosophischen Geschichte des Sehens besteht. Die Wahrheit war nun nichts mehr, was sich zeigt, sondern ein Resultat, das gesucht und gefunden sein will. Der Mensch, darin besteht seine kreatürliche Auszeichnung, ist zur Wahrheitsfindung in der Lage, aber nicht als Sinnenwesen (denn als solches ist er, wie sich gezeigt hatte, sehr leicht zu täuschen), sondern als Vernunftwesen, das sein Empfinden kontrolliert und seine Wahrnehmungsfähigkeit vervollkommnet. Genau diese Umstellung wird Galilei an der kopernikanischen Leistung hervorheben, wenn er der Schar der Kopernikaner für ihren Scharfsinn und Mut seine Bewunderung ausspricht, »den eigenen Sinnen Gewalt angetan« zu haben. 16 Die universalisierte Rationalität bestreitet die Aufschlusskraft und Zuverlässigkeit eines Sehens, das die Menschen seit Urzeiten in dem irrigen Glauben ließ, sie bewohnten, wie Ptolemaios in seinem Almagest gefolgert hatte, den durch die Regelmäßigkeit der Tageswechsel in seiner kosmischen Ordnung bestätigten Mittelpunkt der Welt. Mit der Wahl des Kopernikus zu ihrer Symbolgestalt hat die Neuzeit die weitere Geschichte des Sehens erneut und dauerhaft als Geschichte seiner Kritik konzipiert. Von nun an musste die StandGalileo Galilei, Dialog über die Weltsysteme (1632), in: Ders., Sidereus Nuncius. Nachricht von neuen Sternen, hg. von Hans Blumenberg, Frankfurt a. M. 1980, 133– 230, hier 210.

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punktverwiesenheit des Wahrnehmens und Erkennens in Rechnung gestellt und im Gegenzug das Recht des Scheins bestritten werden. Es liegt auf dieser Linie, dass Nietzsche in Kopernikus »den grössten und siegreichsten Gegner des Augenscheins« 17 erkennen konnte. Der Superlativ kommt nicht von ungefähr. Jene Schule der Kritik, die das Gesehene anzweifelte, um zur Schau der Weisheit zu finden, wird neuzeitlich umformuliert zu einer »Schule des Misstrauens«, die nichts Sichtbares mehr anerkennt. Selbst Descartes, der in den dreißiger Jahren des 17. Jahrhunderts ausgedehnte optische Experimente anstellt und seine Ergebnisse in einer Dioptrique und einem Traité de la lumière festhält, nimmt in die zweite seiner Meditationen das offensive Bekenntnis auf, er wolle annehmen, dass alles, was er sehe, falsch ist. 18 Die prüfende Instanz des cogito, auf das der Rationalismus die Wahrheitssuche konzentriert, ist allein aus dem Denken gewonnen. Dieses Ich leistet seine Selbstvergewisserung ohne Sinne, da es doch immer wieder hat erfahren müssen, wie leicht die Wahrnehmung zu täuschen ist und wie leicht sie denjenigen täuscht, der ihrem Zeugnis vertraut. Aus cartesianischer Sicht gründet sich der Stand des Philosophen auf den Zweifel, der zunächst und vor allem ein Zweifel an der Aufschlusskraft der Sinne ist. Was demnach den kritischen Denker auszeichnet, ist die Bereitschaft, zu suchen und zu zweifeln, sowie das Vermögen, am Ende unerschütterbaren Grund zu finden. Von dort aus kontrolliert er seinen Weltbezug, entscheidet und trifft seine Wahl. Die damit begründete neuzeitliche Ordnung des Wissens spiegelt sich in einer neuen Ordnung der Welt. Was der Himmelsanblick von jetzt an zeigt, ist nicht Abglanz eines wirklichen, wirklicheren Urbildes, sondern Projektion eines irdischen Standpunkts. Aus Sicht des Kopernikanismus hatte jene Befangenheit der Geozentriker nur deshalb so lange verborgen bleiben können, weil sie dem Betrachter seine Position anwies und ihn darin festhielt. Die neue Kosmologie hingegen widerspricht nicht nur dem Schein, sie demonstriert auch, Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886) (Kritische Studienausgabe 5), 9–243, hier 26 (Nr. 12). 18 »Suppono igitur omnia quæ video falsa esse; […] nullos plane habeo sensus; corpus, figura, extensio, motus, locusque sunt chimeræ.« (René Descartes, Meditationes de prima philosophia [1641/42] [Œuvres 7], Paris 1904, 24.) – Offenbar hatte Descartes das Treiben Galileis und die Reaktionen der kirchlichen Autorität aufmerksam verfolgt und sich unter dem Eindruck der Verurteilung Galileis im Sommer 1633 entschlossen, seine Schriften zur Optik zurückzuhalten. 17

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wie seine Wirkung sich entfalten konnte. Aus dieser Kritik ist die Emphase der kopernikanischen Wendung hervorgegangen. Die Erklärung und näherhin das Dass der Erklärbarkeit beansprucht, den Verlust der topographischen Weltmitte durch die Einnahme der ideellen Weltmitte auszugleichen, und eben dieser Konsequenz folgt noch die von Kant in Anspruch genommene »Revolution der Denkart«: Transzendental soll zurückgewonnen werden, was kosmologisch nicht länger zu halten ist.

5.

Zweideutigkeit des Zuspruchs

Längst ist bezweifelt worden, ob Kopernikus oder sein Bewunderer Galilei sich der Tragweite ihrer Interventionen bewusst gewesen sind. Die Zäsur, in deren Wirksamkeit die »kopernikanische Revolution« sich erwies, ist offenkundig ein Rezeptionsprodukt. Um so mehr ist zu beachten, dass und mit welcher Emphase Galilei selbst sich bei seiner Revision auf das Zeugnis des Sehens beruft. Tatsächlich riskiert der Mondbetrachter einen doppelten Konflikt: einmal die Auseinandersetzung mit der Vertrautheit der durch Augenschein stabilisierten geozentrischen Perspektive, zum anderen den Streit mit jenen, die den Fernrohrblick verweigern und sich lieber auf Schrift und Buchgelehrsamkeit stützen – jene also, die »die Philosophie für ein Buch« halten, wie Galilei in seinem Brief vom 19. August 1690 gegenüber Kepler spottet, und die »glauben, dass die Wahrheit nicht in der Welt und in der Natur, sondern in der Vergleichung der Texte (wie sie es ausdrücken) gesucht werden müsse«. 19 Die griffige Polemik gegen das schon hier – lange vor der Kulturkritik Rousseaus und der Erfindung des »Elfenbeinturms« – als lebensfern diskreditierte Buchwissen überspielt die Vorbehalte, um die es den Verweigerern des Fernrohrblicks tatsächlich ging. Mit Blick auf den Humanisten Cesare Cremonini erläutert Hans Blumenberg: »Ohne restaurative Konsequenzen ernstzunehmen, kann man den Verzicht begreifen, der in der Preisgabe des endlichen, geschlossenen und klar geordneten mittelalterlichen Weltbildes lag. In dieser alten kosmischen Topographie hatte der Mensch seinen zentralen Platz, und damit ein durch den festen Weltbestand gewährleistetes Bewußtsein von seiner Stellung in der Schöpfung. Sich dem neuen kopernikanischen Weltsystem auszusetzen, bedeutete ja nicht, ein dem alten an Konsistenz und Bezugsfähigkeit irgend vergleichbares neues ›Weltbild‹ zu übernehmen oder nur einen kosmischen Platz gegen einen anderen einzutauschen, sondern es eröffnete einen ganz ungewissen, schon als unendlich angekündigten Raum, in dem die Aufgabe der Orientierung schier unlösbar sein mußte, mit einer Endlosigkeit aufbrechender Proble-

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Der neue Glaubwürdigkeitserweis beruht, in Galileis eigener Formulierung, auf »sinnlicher Gewissheit«: »ex quo … sensata certitudine quispiam intelligat«. Angesichts des kopernikanischen Gedankenzusammenhangs scheidet die Möglichkeit, diese Erläuterung als sensualistisches Bekenntnis zu nehmen, von vornherein aus. Tatsächlich ist das Geflecht der von Galilei gezogenen Konfliktlinien in hohem Grade zweideutig, und es ist diese Zweideutigkeit, aus der die Wissenschaftsgeschichte seither den Stoff für immer neue »Galilei-Affären« gewonnen hat. Exemplarisch stellt Fontenelle in seinen Nouveaux Dialogues des Morts von 1683 die Doppeldeutigkeit der von Galilei geleisteten Rehabilitierung heraus, wenn er das philosophische Sehen aus dem Rahmen des üblichen, vor allem des gewöhnlichen Sehens, heraushebt. Als Antwort auf die Frage seines Gegenübers, welche schwachen Augen es denn seien, denen seine Gläser zu Hilfe kommen sollen, legt Fontenelle seinem Galilei die Worte in den Mund: »Es sind die Augen der Philosophen.« Und er lässt ihn hinzufügen: »Die Menschen brauchen nichts, und die Philosophen brauchen alles.« 20 Angesichts der Vorgeschichte ist der Spott, der in der Rede von den »Augen der Philosophen« anklingt, kaum zu überhören. Der Stolz des theorós bestand ja darin, gelernt zu haben, die Augen rechtzeitig zu schließen. Ebenso offenkundig ist jedoch, dass mehr darin steckt als eine polemische Erwiderung. Tatsächlich sind in diesem Rezeptionsbefund Kritik und Rehabilitierung des Sehens zusammengefasst, ja sie sind eins geworden. Fontenelles literarischer Galilei lässt keinen Zweifel daran, dass der Augenscheinlichkeitserweis des anthropozentrischen Weltbildes durch den technisch aufgerüsteten Augenschein des Fernrohrblicks widerlegt sei. Das Sehen des Teleskopikers Galilei soll neu sein, ein wahres Sehen und zugleich ein Sehen des Wahren. So sind seine Gläser das probate Mittel, die Zweime. Mochte der Humanist die Konsequenzen ahnen oder nicht, als er den Blick durch das Fernrohr ausschlug – noch einmal versucht er den Konflikt zwischen scientia und sapientia, Wissenschaft und Weisheit, zugunsten der Weisheit zu entscheiden, die ein Kriterium zu besitzen glaubt für die Wahrheiten, deren der Mensch bedarf, und die, die er auf sich beruhen lassen sollte.« (Hans Blumenberg, Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen. Eine Studie zum Zusammenhang von Naturwissenschaft und Geistesgeschichte, in: Studium Generale 8 [1955], 637–648, hier 637.) 20 Bernard de Fontenelle, Totengespräche (1683), hg. von Hans-Horst Henschen, Frankfurt a. M. 1991, 206.

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Abb. 15: Jan Saenredam nach Hendrick Goltzius: Allegorie des Gesichts (1616).

fel des Intellektualismus Gewissheit werden zu lassen. Sie sind aber zugleich das Mittel, die Exklusivität der theoretischen Fixierung zu überwinden. Die entscheidende Neuerung ist das neue Instrument, das nun die neue Wertschätzung eines neuen Sehens erlaubt. Es ist das Hilfsmittel derer, die um der Wahrheit willen nicht bescheiden sein dürfen und daher »alles brauchen«, mit einem Wort: Es ist die willkommene »Organergänzung« für die so lange geschlossenen und nun endlich aufgeschlagenen Augen der Philosophen. Galileis Kunstgriff erlaubt es, die Kritik des Sehens mit einer neuen Emphase zu verbinden. Wie sehr er damit einem zeitgenössischen Bedürfnis entgegenkam, zeigt die Allegorie des Gesichts, die 210 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

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Jan Saenredam Anfang des 17. Jahrhunderts nach Hendrick Goltzius gestochen hat (Abb. S. 31). 21 Das Bild ist eine Selbstthematisierung des Sehens, und seine Motive bilden eine einzige Ansammlung von Zweideutigkeiten: Als gelte es, die Zuverlässigkeit des Gesichtssinns im Medium dieses Sinnes selbst anzuzweifeln, trägt der Maler eine Brille; als gelte es, die Flüchtigkeit des Sichtbaren und der Augenreize zu vergegenwärtigen, betrachtet sich das nackte Modell – offenbar eine allegorische Anspielung auf die Hauptsünde der Superbia – in einem Spiegel; als gelte es, die klare Differenz von Bild und Gegenstand, Subjekt und Objekt zu erschüttern, überwinden die Augenpaare des mythischen Amor und der Katze – beides Allegorien der Verführung und der Wollust – die Schwelle, um sich direkt auf den Betrachter zu richten; und als gelte es schließlich, die Vergeblichkeit allen Sinnens und Trachtens zu unterstreichen, stellt die Komposition den drei Forschern mit Astrolabium, Uringlas und Zirkel einen Adler zur Seite, während im Hintergrund der gestürzte Ikarus die Kühnheit solchen Aufschwungs sogleich widerruft. Saenredam unterstreicht diese Ambivalenzen in seiner Bildunterschrift, derzufolge der Gesichtssinn Schaden anrichten, aber auch Nutzen bringen könne. Derlei Selbstkritik ist nicht nur inhaltlich, sondern auch funktional zweideutig. Indem das Bild thematisch auf seine Qualitäten als Medium zurückverweist, beerbt es das Reflexionspotential der Theorie und kann sich gegenüber dem Geltungsanspruch des Buchwissens auch »theoretisch« behaupten. Wie Galilei beruft sich auch Saenredam nicht länger auf literarische Autoritäten; die Neugierde bezieht sich ganz unmittelbar auf die sichtbare Welt, deren Aufschlusswert zu prüfen bleibt. Solchermaßen gestärkt durch Zugeständnisse an die Kritik, konnte die Emanzipation des Augensinns nun zügig voranschreiten. Für Galileis Generationsgenossen Francis Bacon steht und fällt die Aussagekraft der historia naturalis mit der chancenreichen Selbstbeschränkung, dass man sein Auge niemals von den Dingen selbst abwende und ihre Bilder so einfach wahrnimmt, wie sie sind. Die kopernikanische Vorgeschichte des Gedankens erregt freilich den Verdacht, dass die baconianische Zuspruchsbekundung illegitim oder Vgl. Justus Müller Hofstede, ›Non Saturatur Oculus Visu‹ – Zur »Allegorie des Gesichts« von Peter Paul Rubens und Jan Brueghel d. Ä., in: Wort und Bild in der niederländischen Kunst und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. von Herman Vekeman und Justus Müller Hofstede, Erftstadt 1984, 243–289.

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genauer: dass sie rhetorischer Natur gewesen sein müsse. Und genauso ist es. Tatsächlich ist Bacon weit davon entfernt, die natürliche Sinnesausstattung des Menschen als solche zu bestätigen. Die Zweideutigkeit auch seiner Einstellung ergibt sich aus dem Nebeneinander von Zuspruch und Überbietungsgebot. Einerseits gilt es, das Recht des Augensinns gegenüber dem in Voreingenommenheit und Sterilität befangenen Buchwissen zu stärken – und in dieser Hinsicht rehabilitiert Bacon das Sehen. Andererseits macht der Einsatz der Instrumente den Rückstand des Organs nur zu deutlich. Es ist nicht leistungsfähig genug, um auf sich selbst gestellt alles Sichtbare und Sehenswerte zu erfassen. Hatte schon Galilei das Fernrohr als den überlegenen und besseren Sinn gepriesen, der den natürlichen Sinn und den Gemeinsinn übertreffe, so macht sich Bacon noch zu Lebzeiten Galileis und genau zehn Jahre, nachdem dieser sein Fernrohr auf den Jupiter gerichtet hatte, an die Aufgabe, den Gebrauch optischer Instrumente in den Wissenschaften zu enttabuisieren. 22 Die damit freigesetzte Dynamik und die Zweideutigkeit, mit der Anerkennung und Widerruf des Augenscheins fortan nebeneinander bestehen, prägen die wissenschaftliche Neugier wenigstens bis zu Kant. Das Unsichtbare kann nun als der dunkle und fernerhin aufzuklärende Raumvorrat einer endlichen und in diesem Sinne ausschreitbaren Welt gelten, der durch die zunehmende Ausbreitung des natürlichen Lichts verkleinert und früher oder später vollständig ausgeleuchtet sein wird. Der Wissenserwerb wird damit als ein Prozess der unablässigen Verschiebung von Sichtbarkeitsgrenzen fassbar. Die verbesserten Sichtbedingungen locken mit einer bis an die Grenzen des Wirklichen getriebenen Erweiterung der Empirie. Indem das Mikroskop ungeahnte Einblicke in die »zweite Schatzkammer der Natur« (Constantijn Huygens) gewährte und das Fernrohr für unüberwindlich gehaltene Distanzen zu »neuen Himmeln« (Joseph Glanvill) im Nu überbrückte, erschlossen beide neue Welten. Wenn die zeitgenössischen Einsprüche gegen diese Entwicklung letztlich nichts auszurichten vermochten, so dürfte das auch an dem überwältigenden Eindruck gelegen haben, dass das aktuelle Sehen die hypothetische Summe des überhaupt jemals Sichtbaren noch keineswegs erschlossen habe. Für die Aussicht auf Steigerung und Überbietung wurde der Vgl. Ralf Konersmann, Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik, Frankfurt a. M. 1994, 56 ff.

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Bruch mit den herkömmlichen Sehweisen und ihren Disziplinierungen bereitwillig in Kauf genommen. So steckt in den frühesten Erfahrungen mit dem optischen Gerät bereits der Keim des Bewusstseins für die Geschichtlichkeit des Sehens, dessen Welten sich mit der instrumentellen Manipulation der Horizonte veränderten und verändern sollten. Daneben provoziert der Instrumenteneinsatz aber auch – und für die hier zu verhandelnde Fragestellung kaum weniger brisant – ein schon früh geäußertes und über den Mikroskopverächter Goethe bis in die Kulturkritik unserer Tage weitergereichtes Bedenken. Es besagt, dass die von der baconianischen Rhetorik geweckte Erwartung: wer zuletzt sieht, sieht am besten, mit Gewissheit enttäuscht werden würde. Wie eng Erwartung und Vorbehalt hier beieinanderliegen, bezeugt eine Erwägung Lessings aus dem Jahr 1769. »Wir sehen mehr, als die Alten; und doch dürften vielleicht unsere Augen schlechter sein, als die Augen der Alten: die Alten sahen weniger, wie wir; aber ihre Augen, überhaupt zu reden, möchten leicht schärfer gewesen sein, als unsere.« 23 Weder die Leistungssteigerung des Geräts noch die Erhöhung des Gesichtspunktes garantieren, dass man besser sehe – diese Besorgnis verdient, nicht übergangen zu werden. Die allmählich zutage getretene Verschiedenheit der epochalen Sehkonzeptionen erregt den Verdacht, sie könnten jede für sich eine eigene und als solche beschreibbare, nicht aber überbietbare Exklusivität der Prägnanz beanspruchen.

6.

Zweideutigkeit der Kritik

Für die bemerkenswerte Resistenz des Augensinns ist die von Bacon bereits auf kopernikanischem Boden eingeleitete Rehabilitation richtungweisend. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wird Bacons Sensualimus das neben dem Fall Galilei prominenteste Beispiel dafür geben, wie man Forcierungen des Intellektualismus erfolgreich zurückweist. Erstaunlich und doch bezeichnend ist die ohne solche Attraktionen gar nicht erklärliche Bereitschaft, die frühneuzeitlich erschütterte Stabilität des Glaubens über die Unbezweifelbarkeit des Gesehenen wiederherzustellen. Comenius beruft sich wiederholt und Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, antiquarischen Inhalts (1768) (Werke 6), München 1974, 189–399, hier 348 (45. Brief).

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ausdrücklich auf Bacon, wenn er in seiner während der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts entstandenen Didactica magna versichert, eine unvorgreifliche Harmonie gewährleiste die Offenbarung des Unsichtbaren durch das Sichtbare, so dass auch in den Wissenschaften das Zeugnis der Gesichtswahrnehmung anzuerkennen sei: »Mit den Augen sehen taugt als Beweis.« 24 Von der gleichen Erwartung lassen sich noch die Bacon-Bewunderer d’Alembert und Diderot leiten, wenn sie in der Encyclopédie den Versuch machen, die Welt der Begriffe und die Welt der Bilder, Text und Illustration, nach dem Muster des comenianischen Orbis pictus zu ordnen und symmetrisch aufeinander zu beziehen. Nach der Intervention Bacons fiel die Begründung dieser Erwartung erstaunlich leicht, und es ist nur eine Bestätigung dieser Widerstandslosigkeit, dass die Neuzeit sich weder in den Wissenschaften noch in den Künsten von der nach ihren eigenen Begriffen unzeitgemäßen, da vorkopernikanischen Hypothek einer sich in ihren Erscheinungen kundgebenden Welt befreit hat. Die Philosophen der frühen Neuzeit machen da keine Ausnahme: Von Bacon über Spinoza und Descartes bis zu Leibniz empfanden sie die Optik als eminente intellektuelle Herausforderung. Die Sonne, schreibt Diderot am 11. Juni 1749 an Voltaire, »geht auf nur für die, die sehen«. Die Emphase dieses Satzes findet ihr Echo in Diderots Kommentaren zu Chardin. Sie sind der Virtuosität eines Sehens auf der Spur, das eben dabei ist, in der Ausschließlichkeit seiner eigenen Ordnung den bis dahin kanonischen Unterschied zwischen »hässlich« und »schön« trivial werden zu lassen. So bleiben die Attraktionen der Sehwelt weiterhin allenthalben spürbar. Mit dem Sehen kommt eine Konkurrenz zum literarisch verbürgten Wissen auf, das diesem Wissen an Reichweite und Mannigfaltigkeit überlegen ist. Um dies zu verdeutlichen, genügt der Hinweis darauf, dass stets mehr und anderes zu sehen ist, als sich wissen oder sagen lässt. Ist dies aber erst einmal zugestanden, so wird die kopernikanische Sinnlichkeitskritik ihrerseits als Beschränktheit fassbar. Die notorische Forderung, dass das Sichtbare am begrifflich Ausweisbaren zu messen und diesem als dem exklusiven Kriterium der Erkenntnis strikt zu unterstellen sei, kann fortan als Selbstmissverständnis einer Theorie zurückgewiesen werden, die angesichts der Johann Amos Comenius, Große Didaktik [1657], hg. von Andreas Flitner, Stuttgart 1992, 138.

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Uneinholbarkeit des Sichtbaren ihre Definität überschätzt und den ungehinderten Zugang zur Ansichtigkeit der Phänomene verstellt. Lichtenberg hat das nachkopernikanische Auseinandertreten von Visualität und Reflexivität, das durch die zeitgleich aufkommende Erkenntnistheorie noch einmal aufgefangen werden sollte, auf eine Formel gebracht, die Fachkritik und Resignation schlagend zusammenbringt. Der in den Sudelbüchern unter E 368 geführte Eintrag lautet: »Philosophieren können sie alle, sehen keiner.« Von den Zeitgenossen, aber auch den nachfolgenden Generationen ist Lichtenbergs Bemerkung als ein Desiderat aufgenommen worden, nicht als Alternative. Goethe, Feuerbach und Schopenhauer haben, je auf eigene Weise, der nun rasch aufkommenden und zügig verbreiteten Hypothese der visuellen Eigenkraft und Irreduzibilität des Sehens den Weg bereitet. »Das Prinzip der Kunst«, kann Benedetto Croce im Blick auf diese Entwicklung und namentlich auf ihren Protagonisten Konrad Fiedler resümieren, sei »weder die Schönheit, noch der Begriff, noch die Nachahmung, nicht einmal das Gefühl, sondern die Sichtbarkeit. Deren Organ ist das Auge, das im Sehen konzentrierte Künstlerauge, das sich vom Auge des gewöhnlichen Menschen nicht deshalb unterscheidet, weil es anders oder mehr sähe, sondern weil es in produktiver Weise sieht und sich das im Ernst zu eigen machen will, was ihm die Natur zugleich darzubieten und zu entziehen scheint.« 25 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzieht sich eine Autonomisierung des Sehens, in der die Kunst exoterisch wird, eine Schule des Sehens. 26 In Übereinstimmung mit dieser Tendenz will das Konzept des »sehenden Sehens« jene Befangenheiten überwinden, wie sie für das »wiedererkennende« Sehen bezeichnend gewesen waren. Es begreift sich als spontan und produktiv, als ein VorBenedetto Croce, Die Theorie der Kunst als reiner Sichtbarkeit (1911), in: Ders., Kleine Schriften zur Ästhetik, hg. von Julius von Schlosser, Tübingen 1929, Bd. 2, 191–212, hier 194. 26 Angesichts der Rezeptionsbedingungen moderner Kunst mag diese Wendung überraschen. Der avantgardistische Schwenk ins Schwierige hat die Werke hermetisch und »kommentarbedürftig« gemacht. Darüber mag leicht vergessen werden, dass die erste Künstlergeneration der Moderne genau gegenteilige Absichten verfolgte, indem sie prinzipiell elementarisierte und vereinfachte. Gauguin berief sich auf Naivität und Instinkt; Matisse forderte die Reinheit der Mittel und die Klarheit des Ausdrucks; und Cézanne zitierte Bacon, als er im Namen »einer rein malerischen Wahrheit der Dinge« an eine Wahrnehmung appellierte, die unbefangen an die Natur herantritt: »man sollte sehen können wie ein Neugeborener« (vgl. Walter Hess, Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei, Reinbek 1956, 17). 25

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gang, in dem Sehen und Deuten in einem bezughaften Sehen, dem schließlich von Ludwig Wittgenstein so genannten »Aspektsehen« oder »Sehen-als« 27 zusammenfinden. Diese Wendung markiert einen weiteren Einschnitt in der an Zäsuren reichen Bedeutungsgeschichte des Sehens. Wo das Nachahmungsgebot sein Ideal in der Aussicht des Fensterblicks gefunden hatte, zeigt sich nun das »Gegenständliche« in der Multiperspektivik seiner Ansichten. Damit verändert sich das Sehen. Es ist nicht mehr nur das Medium, das dem Wissen zu einer sichtbaren Wirklichkeit hinverhilft, sondern es wird nun selbst ein Herstellen und Tun. Ebenso das Sichtbare. Statt, wie ehedem, eine Welt vorzustellen, die sich als sichtbare zeigt, deutet es auf das Sehen selbst zurück. Dass beobachten heiße, das Wirkliche zu erschaffen, diese Bemerkung von Paul Valéry 28 ist ganz im Geist dieses bedeutungsgeschichtlichen Einschnitts gesprochen. Die neue Würdigung des Sehens, die sich darin bemerkbar macht, hat von Beginn an Abwehrreaktionen hervorgerufen. Hegels Protest gegen die Ansprüche der Okularität ist keineswegs ein Einzelfall. Schon zu seiner Zeit entdeckt die Kritik den despotism of the eye 29 und verhilft damit einem Topos der Kulturkritik zum Durchbruch, der durch die im Laufe des 19. Jahrhunderts verstärkte Technisierung des Bildes, vor allem durch die Verbreitung der Photographie, des Films, des Fernsehens und schließlich durch die Allgegenwart von Terminals und Monitorwänden fortlaufend Bestätigung findet. Die Motive des Bedenkens ähneln denen der Religionskritik. Wie die Religion, so soll auch das Bild ein Narkotikum sein, »Opium des Volks«. Aus der von neuen, apparategestützten Bildproduktionen abhängigen Welt, heißt es, würden Wirklichkeit und Wahrheit ausgespart. Der »Panoptismus« und »Okulozentrismus« des Westens, so ist weiter zu hören, verdränge das direkte Sehen durch künstliches Sehen, durch den »photo-logischen«, den voyeuristischen oder auch industrialisierten Blick, in dem voir (Sehen), savoir (Wissen) und pouvoir (Können/Macht) zur Deckung Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1971, 313. »Observer, c’est créer le réel« (Paul Valéry, Cahiers I, Paris 1958, 185). 29 Samuel Taylor Coleridge, Biographia Literaria (1817) (The Collected Works 7), London/New York 1967 ff., 107. – Zu den Tendenzen des »anti-okularen Diskurses« vgl. Martin Jay, Im Reich des Blicks. Foucault und die Diffamierung des Sehens im Französischen Denken des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Leviathan 19 (1991), 130– 156; kritisch dazu Michel Foucault / Walter Seitter, Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim o. J. (1996), 84 ff. 27 28

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gebracht sind. Was sich spätestens seit der Wende zum 19. Jahrhundert und mittlerweile mit wachsender Beschleunigung vollziehe, sei eine Art stiller, doch totaler Kulturrevolution: die auf offener Bühne vollzogene Ablösung des Homo sapiens durch den Homo videns. Bild und Religion trifft derselbe Verdacht. Die Drogenmetapher lässt beide als illegitim erscheinen, als betörend, gleisnerisch und irreführend. Befürchtet wird, dass die für gewöhnlich unterhalb der Artikulationsschwelle vollzogene Ausweitung der Sehräume voranschreite, ohne dass eine reelle Besinnungschance bestünde. Tatsächlich ist die Idee des reinen und unschuldigen Sehens ebenso eine Illusion 30 wie die Vorstellung, die visuelle Expansion werde folgenlos bleiben. Zu Recht betont die Kritik die Kontexte und Prägnanzen des Sehens. Das Sehen ist nicht voraussetzungslos, es ist nicht natürlich oder spontan, sondern kulturell und historisch variabel. Wenn wir vom Sehen sprechen, dann meinen wir damit einen jederzeit selektiven Deutungsvorgang, an dem Erkenntnis und kulturelle Umgebung unmittelbar beteiligt sind. Der Untermalung der Theorie durch die verba videndi entspricht eine theoretische Grundierung des Sehens selbst durch Begriffe und Vorbegriffe, die beeinflussen, was gesehen wird und was nicht. Offenkundig sehen nicht alle Zeiten dasselbe, und selbst an ein und derselben Stelle werden verschiedene Beobachter auch Verschiedenes sehen. 31 Die Formel von der »Unschuld des Auges« (innocence of the eye), die offenbar auf John Ruskin zurückgeht (The Elements of Drawing [1857] [Works 15], London 1904, 5–231, hier 27), hat Ernst H. Gombrich überzeugend abgewiesen (vgl. ders., Kunst und Illusion. Eine Studie über die Psychologie von Abbild und Wirklichkeit in der Kunst [1956], Stuttgart 1978, 335). 31 Mit der Beschreibung dieser Erfahrung eröffnet Heinrich Wölfflin seine einmal als »allgemeine Seh- und Darstellungsgeschichte« geplanten Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe: »Ludwig Richter erzählt in seinen Lebenserinnerungen, wie er in Tivoli einmal als junger Mensch, zusammen mit drei Kameraden, einen Ausschnitt der Landschaft zu malen unternahm, er und die andern fest entschlossen, von der Natur dabei nicht um Haaresbreite abzuweichen. Und obwohl nun das Vorbild das gleiche gewesen war und jeder mit gutem Talent an das sich gehalten hatte, was seine Augen sahen, kamen doch vier ganz verschiedene Bilder heraus, so verschieden unter sich, wie eben die Persönlichkeiten der vier Maler.« Wölfflin schränkt den Willkürverdacht ein, ohne auf das Motiv der Variabilität zu verzichten: »Jeder Künstler findet bestimmte ›optische‹ Möglichkeiten vor, an die er gebunden ist. Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich hat seine Geschichte, und die Aufdeckung dieser ›optischen Schichten‹ muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden.« (Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915], Dresden 1983, 11 und 18.) – Wie manch andere Anekdote 30

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Sehen, so demonstriert bereits der cusanische Perspektivismus, ist stets ein endliches Sehen, ist ein Sehen in Horizonten und keineswegs »Allsehen«. Das Recht der Kritik am Sehen besteht in der Geltendmachung dieser Richtungsanweisungen und Voraussetzungen, die das Sehen variabel machen, und im Verweis auf seine Verflochtenheit mit den wechselnden Wissenstypen und Vorstellungswelten der Kultur. Im Sehen selbst – und nicht nur im sinnenfernen Ideal der theoría – steckt ein Zug zur Abstraktion. Es ist unverkennbar, dass die von der posthegelianischen Kritik beklagte Faszination des Sehens zu den Hinterlassenschaften einer Wissenstradition gehört, die einst mit der Anzweiflung des Sichtbaren begann und sich seither ihrer Vorbehalte immer neu versichert hat. Dass diese Kultur des Intellektualismus im Zuge ihrer Entwicklung Sprach- und Textwissenschaften hervorgebracht hat, war ebenso folgerichtig wie die Tatsache, dass ihr – trotz der notorischen Visualisierung des Logos – eine ebenbürtige Bildwissenschaft, eine ausformulierte Philosophie des Sehens, nie gelang. Es hieße, diese Defizite fortzuführen, würde man auf die historisch beispiellose Entgrenzung des Visuellen in der Moderne mit Ächtung und Verbot reagieren. Der Vorwitz der Ideologiekritik ignoriert, wie vielgestaltig die Konzepte des Sehens sind, und sie lenkt davon ab, was hier in Zukunft zu leisten bleibt: das Sehen zu verstehen und vor allem, es zu lernen. Angesichts der Versäumnisse dürfte das Ausmaß dieses Pensums beträchtlich sein. Nicht einmal umrisshaft ist erkennbar, was visuelle Mündigkeit sein und wie sie erreicht werden könnte. Am Anfang dürfte die Einsicht stehen, dass alles mitgebrachte Wissen vor dem Bild, wenn es seinen Namen verdient, in Frage gestellt wird. Das Sichtbare konnte und kann als Gefährdung ja nur deshalb empfunden werden, weil es den Appell mitumfasst, die Anstrengung der Objektivation immer wieder neu zu leisten. Im Bereich des Sehens, wo es nicht nur um Deduktionen aus Prinzipien, sondern immer auch um die Signifikanz besonderer An- und Hinsichten geht, stößt das Leistungsvermögen extrahierter Modelle rasch an Grenzen. Vollkommen zu Recht nimmt der Theoretiker deshalb das Sehen als Herausforderung wahr; denn in jedem Augenblick bewahrt der Typ des scheint auch diese zwischen Tatsachenbericht und literarischem Zitat zu schwanken. Das Maler-Quartett findet seine erstaunliche Entsprechung in den vier Arten des Betrachters, die bereits Gabriele Paleotti im 5. und 20. Kapitel seiner Schrift De imaginibus sacris et profanis (Ingolstadt 1594) unterscheidet.

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Wissens, der sich im Sehen zeigt, den Bezug zur Sinnlichkeit seiner Präsenz. Im Sehen liegt eine Form des Weltbezuges vor, der in zeiträumlicher Unmittelbarkeit auf seine Erfahrungswurzeln verwiesen bleibt. Zu seiner Analyse und Kritik empfehlen sich daher Begriffe, die Produktions- und Leistungsaspekte besonders betonen. Nicht nur das Machen und das Herstellen von Sichtbarkeiten, auch das Sehen selbst ist eine Aktivität.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1, S. 84: Gerhard Richter, Vermalung, 1972, Öl auf Leinwand, 27 � 40 cm, Werkverzeichnis 325–65. Abb. 2, S. 90: Laokoon-Gruppe, Musei Vaticani, Cortile del Belvedere (wikicommons). Abb. 3, S. 95: Laokoon-Gruppe, Schloss Mannheim, Antikensaal (vom Verf. erstellte Photographie). Abb. 4, S. 109: Hiroshi Sugimoto, Al. Ringling, Baraboo, 1995 (Hiroshi Sugimoto, Ostfildern 2007 [Ausstellungskatalog der K20 Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen], 81). Abb. 5, S. 110: Michael Wesely, 4. 4. 1997–4. 6. 1999 Potsdamer Platz, Berlin (Michael Wesely, Open Shutter, New York 2004 [The Museum of Modern Art], 55). Abb. 6, S. 111: Michael Wesely, 29. 7. 1996–29. 7. 1997 Office of Helmut Friedel (a. a. O., 12). Abb. 7, S. 112: Jacob Felländer, Los Angeles/Hong Kong/Bombay (Jacob Felländer, I Want to Live Close to You, Stockholm 2011, 1). Abb. 8, S. 114: Abelardo Morell, Times Square in Hotel Room, New York, NY, 1997 (Abelardo Morell, Camera obscura, New York 2004, 45). Abb. 9, S. 116: David Hockney, Christopher Isherwood im Gespräch mit Bob Holman, Santa Monica, den 14. März 1983, 1983 (David Hockney. Eine Retrospektive, hg. von Maurice Tuchman u. Stephanie Barron, Köln 1988 [Ausstellungskatalog: Stationen d. Ausstellung Los Angeles Country Museum of Art, The Metropolitan Museum of Art, Tate Gallery] 223). Abb. 10, S. 117: David Hockney, Spaziergang im Zen-Garten des Ryoanji-Tempels, Kioto, den 21. Februar 1983, 1983 (a. a. O., 241). Abb. 11, S. 135: An der Tränke – R. Voigtländers Verlag, Leipzig um 1905, Julius Bergmann, Künstler-Steinzeichnungen, 139

221 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .

Abbildungsverzeichnis

(Sammlung Forschungsstelle Historische Bildmedien, FHBW/ KW006). Abb. 12, S. 135: Droben stehet die Kapelle – B. G. Teubner, Leipzig um 1905, Helmuth Eichrodt, Künstlerischer Wandschmuck für Schule und Haus, 9 (Sammlung Forschungsstelle Historische Bildmedien, FHBW/KW005). Abb. 13, S. 137: Lieb Heimatland ade, B. G. Teubner, Leipzig um 1901, Walter Strich-Chapell, Künstlerischer Wandschmuck für Schule und Haus. Deutsche Künstler-Steinzeichnung, 38 (Sammlung Forschungsstelle Historische Bildmedien, FHBW/KW001). Abb. 14, S. 137: Der Türmer, R. Voigtländers Verlag, Leipzig um 1905, Walter Strich-Chapell, Künstler-Steinzeichnungen, 405 (Sammlung Forschungsstelle Historische Bildmedien, FHBW/ KW004). Abb. 15, S. 210: Jan Saenredam nach Hendrick Goltzius: Allegorie des Gesichts (1616), Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

222 https://doi.org/10.5771/9783495823729 .